Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 3.2.2012 wird aufgehoben. Das Klageverfahren des Klägers S 13 KR 1110/11 ist fortzuführen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen die gerichtliche Feststellung der Klagerücknahme (Rücknahmefiktion).
Der (1957 geborene) Kläger, Mitglied der Beklagten, begehrt in der Sache die Gewährung eines den einschlägigen Festbetrag übersteigenden (mehrkostenpflichtigen) Hörgeräts. Nach erfolglosem Verwaltungsverfahren (Ablehnungsbescheid vom 11.11.2009, Widerspruchsbescheid vom 4.11.2010) erhob er am 5.11.2010 Klage beim Sozialgericht Ulm (Verfahren S 13 KR 1110/11); außerdem beantragte er Prozesskostenhilfe. In der (per Fax) übersandten Klageschrift führte er aus, die Begründung erfolge nach Akteneinsicht.
Das Sozialgericht gab die Klageschrift zunächst an die Beklagte zurück, weil der Kläger die Klageschrift in deren Betreff als „Widerspruch“ bezeichnet hatte. Mit Schreiben vom 1.2.2011 sandte die Beklagte die Klageschrift an das Sozialgericht zurück; diese sei als Klage und nicht als Widerspruch zu werten.
Mit Verfügung vom 4.5.2011 bat das Sozialgericht den Kläger um Mitteilung binnen dreier Wochen, ob er sich ein Hörgerät angeschafft habe; ggf. möge er die Rechnung vorlegen. Dem Schreiben war offenbar das Formular zur Entbindung der Ärzte von der Schweigepflicht (Schweigepflichtentbindungserklärung) beigefügt. Mit Verfügung vom 21.7.2011 erinnerte das Sozialgericht den Kläger an die Beantwortung der Anfrage vom 4.5.2011. Hierfür wurde eine Frist bis 15.8.2011 gesetzt. Am 22.7.2011 teilte der Kläger dem Sozialgericht telefonisch mit, ihm liege das Schreiben des Gerichts vom 4.5.2011 nicht vor. Mit Verfügung vom 2.8.2011 übersandte das Sozialgericht dem Kläger eine Mehrfertigung der Verfügung vom 4.5.2011 und bat um Stellungnahme bis 15.8.2011.
Am 1.9.2011 ging beim Sozialgericht ein Fax des Klägers ein. Dieses enthält eine unvollständige Kopie der Schweigepflichtentbindungserklärung. Angegeben ist ein Arzt (Dr. M.); die Unterschrift des Klägers fehlt.
Mit Verfügung vom 2.9.2011 teilte das Sozialgericht dem Kläger mit, er habe die Schweigepflichtentbindungserklärung nur unvollständig übersandt, insbesondere ohne Unterschrift. Damit habe er keine rechtsgültige Erklärung abgegeben. Es werde gebeten, dies binnen drei Monaten nach Erhalt dieses Schreibens nachzuholen. Außerdem fehle die Antwort auf die Anfrage vom 4.5.2011 und ggf. Übersendung der Rechnung. Ohne diese Angaben und Nachweise könne der Rechtsstreit nicht entschieden werden. Der Verfügung ist abschließend folgender Hinweis beigefügt: Wenn Sie sich innerhalb der Frist nicht äußern und meine Fragen vollständig beantworten und die Entbindungserklärung sowie ggf. die Rechnung in Kopie übersenden, gehe ich davon aus, dass Sie kein Interesse an der Fortführung des Rechtsstreits haben und die Klage damit gemäß § 102 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als zurückgenommen gilt. Die Verfügung ist von der zuständigen Richterin handschriftlich verfasst und mit deren (vollständigen) Nachnamen unterschrieben. Die Verfügung wurde dem Kläger mit Postzustellungsurkunde am 3.9.2011 zugestellt.
Mit Beschluss vom 12.12.2011 lehnte das Sozialgericht den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers ab. Zur Begründung führte es aus, das Klageverfahren sei bereits durch fiktive Klagerücknahme beendet. Nach Abschluss des Verfahrens könne Prozesskostenhilfe grundsätzlich nicht mehr bewilligt werden. Das Gericht habe die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag nicht verzögert. Entscheidungsreife sei mangels Glaubhaftmachung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers nicht eingetreten.
Mit Verfügung vom 13.12.2011 wurde dem Kläger der im Prozesskostenhilfeverfahren ergangene Beschluss vom 12.12.2011 übersandt. In der Verfügung ist außerdem ausgeführt: Nachdem Sie der Aufforderung vom 2.9.2011, das Verfahren binnen drei Monaten weiterzubetreiben, nicht gefolgt sind, gilt die Klage gemäß § 102 SGG als zurückgenommen. Damit ist der Rechtsstreit erledigt. Die Verfügung trägt den Vermerk „auf richterliche Anordnung“ und den Namen des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle. Dieser hat die Verfügung auch mit seiner Paraphe abgezeichnet. Eine der Verfügung vom 13.12.2011 zu Grunde liegende richterliche Verfügung ist in der Gerichtsakte nicht vorhanden.
Mit am 15.12.2011 beim Sozialgericht eingegangenem (Fax-)Schreiben suchte der Kläger erneut um Rechtsschutz nach (Verfahren S 13 KR 4255/11). In dem unter Angabe des Aktenzeichens S 13 KR 1110/11 an das „SG Ulm“ adressierten Schreiben heißt es, es werde Beschwerde und Widerspruch eingelegt. Die Begründung erfolge nach Akteneinsicht. Außerdem werde Prozesskostenhilfe beantragt.
10 
Mit Verfügung vom 10.1.2012 teilte das Sozialgericht dem Kläger mit, das Schreiben vom 15.12.2011 werde als Antrag auf Fortsetzung des Klageverfahrens S 13 KR 1110/11 angesehen. Gründe für eine Fortsetzung des Verfahrens seien jedoch weder ersichtlich noch geltend gemacht. Es sei beabsichtigt, ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 SGG zu entscheiden. Es bestehe Gelegenheit zur Stellungnahme bis 31.1.2012.
11 
Mit Gerichtsbescheid vom 3.12.2012 stellte das Sozialgericht fest, dass der Rechtsstreit S 13 KR 1110/11 in der Hauptsache durch Rücknahme der Klage erledigt ist. Zur Begründung führte es aus, der Rechtsstreit S 13 KR 1110/11 sei durch Rücknahme der Klage erledigt, weshalb eine Sachentscheidung über das Begehren des Klägers, das dieser immer noch nicht konkretisiert habe, nicht mehr getroffen werden könne. Gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG gelte die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibe. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien erfüllt. Der Kläger sei aufgefordert worden, das Verfahren zu betreiben. Ihm sei mit der ihm am 3.9.2011 zugestellten Verfügung aufgegeben worden, die Schweigepflichtentbindungserklärung vollständig und unterzeichnet vorzulegen, und zu erklären, ob er ein Hörgerät angeschafft habe; ggf. solle er die Rechnung vorlegen. Er sei auch auf die Rechtsfolgen des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG (Rücknahmefiktion) hingewiesen worden. Der Kläger habe sich innerhalb der Dreimonatsfrist nicht geäußert, weshalb von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen sei (BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 -). Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestünden, da der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten verletzt habe, indem er weder eine Schweigepflichtentbindungserklärung vorgelegt noch sich auf die gerichtliche Anfrage vom 4.5.2011 geäußert oder die Klage begründet habe.
12 
Mit Beschluss (ebenfalls) vom 3.2.2012 lehnte das Sozialgericht (auch) den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers ab. Zur Begründung wiederholte es die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheids vom gleichen Tag.
13 
Auf den ihm am 7.2.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger mit (Fax-)Schreiben vom 8.2.2012 Berufung (als „Widerspruch“ bezeichnet) eingelegt. Das Berufungsschreiben, in dem das Aktenzeichen S 13 KR 4255/11 angegeben ist, ist beim Sozialgericht am 8.2.2012 eingegangen.
14 
Am 6.3.2012 ging beim Sozialgericht (erneut) eine unvollständige Kopie der Schweigepflichtentbindungserklärung des Klägers ein.
15 
Mit Beschluss vom 28.6.2012 ist dem Kläger für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt K., O. (zu den Bedingungen eines im Bezirk des Landessozialgerichts ansässigen Rechtsanwalts) gewährt worden. Der Kläger hat trotz mehrfacher Nachfrage bislang nicht mitgeteilt, ob er Rechtsanwalt K. mit der Prozessvertretung beauftragt hat. Auch eine Berufungsbegründung ist nicht vorgelegt worden.
16 
Der Kläger beantragt,
17 
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 3.2.2012 aufzuheben und das Klageverfahren S 13 KR 1110/11 fortzusetzen.
18 
Die Beklagte beantragt,
19 
die Berufung zurückzuweisen.
20 
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und das Klageverfahren S 13 KR 1110/11 für beendet.
21 
Mit an das Sozialgericht gerichtetem Schreiben vom 21.5.2012 erhob der Kläger erneut Klage mit dem Begehren, das Klageverfahren S 13 KR 1110/11 fortzusetzen, und stellte die Erfüllung der Mitwirkungspflicht in Aussicht (Verfahren S 8 KR 1648/12). Mit Urteil vom 9.1.2013 wies das Sozialgericht die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, die Klage sei wegen anderweitiger Rechtshängigkeit des Streitgegenstands unzulässig. Die Fortführung des Klageverfahrens S 13 KR 1110/11 sei Gegenstand des beim Senat anhängigen Berufungsverfahrens (L 5 KR 605/02).
22 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
I.
23 
Die Berufung des Klägers ist gem. §§ 143, 144 SGG ohne Zulassung durch das Sozialgericht statthaft. Der Senat kann offen lassen, ob der Beschwerdewert des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG (750 EUR) überschritten ist; der Kläger begehrt in der Sache offenbar die Gewährung eines mehrkostenpflichtigen Hörgeräts (als Sachleistung) bzw. die Übernahme der den einschlägigen Festbetrag übersteigenden Kosten eines solchen Hörgeräts (als Geldleistung). § 144 SGG ist vorliegend nicht anwendbar. Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist allein die im angefochtenen Gerichtsbescheid getroffene Feststellung, dass das Klageverfahren S 13 KR 1110/11 beendet ist, und nicht die vom Kläger letztendlich begehrte Sach- oder Geldleistung (vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 30.8.2012, - L 2 AS 132/12 -). Eine vermögensrechtliche Streitigkeit (von geringem Wert) - bei der die Berufung auch im Fall der Untätigkeitsklage nach Maßgabe des § 144 SGG zulassungspflichtig wäre (BSG, Beschl. v. 6.10.2011, - B 9 SB 45/11 B -) liegt daher nicht vor (LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.8.2012, - L 3 AS 133/12 -).
II.
24 
Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Die Voraussetzungen des § 102 Abs.2 Satz 1 SGG unter denen die Klage als zurückgenommen gilt, sind nicht erfüllt. Der angefochtene Gerichtsbescheid ist daher aufzuheben. Das Sozialgericht wird das bei ihm anhängig gebliebene Klageverfahren S 13 KR 1110/11 fortzuführen haben.
1.)
25 
Gem. § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt. In der Betreibens-aufforderung ist der Kläger auf die sich aus § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG und ggf. aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 155 Abs. 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG unterliegt formellen, materiellen und inhaltlichen Anforderungen, ohne deren Erfüllung sie nicht Grundlage der Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG sein kann.
a.)
26 
In formeller Hinsicht muss wegen der einschneidenden Folgen der Rücknahmefiktion sichergestellt sein, dass es sich bei der Betreibensaufforderung nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Richter nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deswegen muss die Betreibensaufforderung nach der Rechtsprechung des BSG vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht. Auch die gem. § 63 Abs. 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift der Betreibensaufforderung muss diesen Umstand erkennen lassen, d. h. durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R -).
b.)
27 
In materieller Hinsicht setzt das Ergehen einer Betreibensaufforderung als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG voraus, dass sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers vorliegen.
28 
Die Regelung des § 102 SGG über die Fiktion der Klagrücknahme hat die entsprechenden Vorschriften in § 81 AsylVfG und § 92 Abs. 2 VwGO (vgl. zum Berufungsverfahren § 126 Abs. 2 VwGO bzw. § 156 Abs. 2 SGG) zum Vorbild. Diese Vorschriften regeln die Fiktion der Klagerücknahme für das Verfahrensrecht des Asylprozesses bzw. des allgemeinen Verwaltungsprozesses. Das Gesetz unterstellt, dass das Rechtsschutzinteresse an der Klage weggefallen ist, wenn der Kläger über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.
29 
Die Fiktion der Klagrücknahme greift in das (Prozess-)Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. in die entsprechenden Verfahrensgehalte der im Einzelfall betroffenen materiellen Grundrechte ein. Das ist grundsätzlich zulässig. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. etwa Beschl. v. 27.10.1998, - 2 BvR 2662/95 - zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs. 2 VwGO; auch Beschl. v. 17.9.2012, - 1 BvR 2254/11 -) darf ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Die hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Das BVerfG hat zugleich aber entschieden, dass Vorschriften über die Fiktion der Klagerücknahme Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG, a. a. O.; auch BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R - m. w. N.). Demzufolge ist in den einschlägigen Gesetzesmaterialien auch ausgeführt, dass „die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen“ darf (BT-Drs. 16/7716 S. 19 zu Nummer 17 <§ 102>). Die Anwendung der Rücknahmefiktion kommt nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht (vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 19.5.1993, - 2 BvR 1972/92 -; BSG, 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R -; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.8.2012, - L 3 AS 133/12 -). Angesichts der gravierenden, den Rechtsschutz jedenfalls im konkreten Verfahren ohne Sachprüfung abschneidenden Wirkung der Rücknahmefiktion gebietet Art. 19 Abs. 4 GG eine strenge Prüfung der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung der entsprechenden Vorschriften durch das BVerfG (BVerfG, Beschl. v. 17.9.2012, - 1 BvR 2254/11 - zu § 92 Abs. 2 VwGO).
30 
Sachlich begründbare Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses können sich insbesondere aus der Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten des Klägers ergeben. Insoweit ist aber zu beachten, dass die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG keine Sanktion für prozessuales Fehlverhalten darstellt (vgl. etwa BVerfG Beschl. v. 17.9.2012, - 1 BvR 2254/11 -). Außerdem gilt (auch) für den Sozialgerichtsprozess nicht der Beibringungs-, sondern der Untersuchungsgrundsatz (Amtsermittlungsgrundsatz). Gem. § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; es hat dabei die Beteiligten heranzuziehen. Die Mitwirkungspflicht (bzw. Mitwirkungsobliegenheit) der Beteiligten, auch des Klägers, ist danach Teil der gerichtlichen Sacherforschungspflicht (NK-VwGO/Rixen, § 86 Rdnr. 63) und durch diese auch begrenzt. Insbesondere kann auf das Fehlen eines Rechtsschutzbedürfnisses nicht schon (allein) deshalb geschlossen werden, weil der Kläger eine Klagebegründung nicht vorlegt, zumal er dazu gem. § 92 Abs. 1 Satz 4 SGG nicht verpflichtet ist, sondern die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel nur angeben „soll“ (vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 30.8.2011, - L 9 AS 61/10 -). Allerdings muss das Gericht Ermittlungen auch nicht „ins Blaue“ anstellen (so BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R - zum Fehlen von Widerspruchs, Klage- und Berufungsbegründung). Prozessuale Folgerungen aus einer Verletzung der Mitwirkungspflicht unterliegen schließlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Deshalb muss das Gericht ggf. zunächst von den Befugnissen nach § 106a SGG Gebrauch machen und etwa dem Kläger eine Frist zum Vortrag von Tatsachen oder zur Vorlage von Urkunden setzen und verspätetes Vorbringen von Erklärungen oder Beweismitteln unter den Voraussetzungen des § 106a Abs. 3 SGG zurückweisen, gleichwohl aber eine Sachentscheidung treffen; insoweit gilt der Grundsatz „Fristsetzung“ (nach § 106a SGG) vor Betreibensaufforderung“ (NK-VwGO/Schmid § 92, Rdnr. 31). Das Gericht kann je nach Fallgestaltung auch auf die Grundsätze der objektiven Beweislast und der Beweisvereitelung (dazu etwa MünchKomm-ZPO/Prütting § 286 Rdnr. 80 ff. m. w. N.) hinweisen oder nach diesen Grundsätzen eine Sachentscheidung treffen. Eine Betreibensaufforderung, die ergeht, ohne dass zuvor die nach Lage der Dinge vorrangigen prozessualen Handlungsmittel angewendet worden sind, oder die sich nicht auf hinreichend begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Interesses des Klägers an einer gerichtlichen Sachentscheidung stützen kann, ist unzulässig; sie kann nicht Grundlage der in § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG vorgesehenen Rücknahmefiktion sein.
c.)
31 
In inhaltlicher Hinsicht muss die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG einen bestimmten Inhalt haben. Dem Kläger muss klar und unzweifelhaft deutlich gemacht werden, welche Verfahrenshandlung er vornehmen muss, um die Fiktion der Rücknahme seiner Klage abzuwenden. Die Handlungen zum (hinreichenden) Betreiben des Verfahrens müssen - abhängig vom Stand des Verfahrens - möglichst konkret bezeichnet werden; allgemeine Aufforderungen zum Tätigwerden genügen grundsätzlich nicht (vgl. Meyer/Ladewig, SGG § 102 Rdnr. 8c; NK-VwGO/Schmid § 92 Rdnr. 33; LSG Baden-Württemberg Urt. v. 12.7.2011 - L 11 KR 1429/11 -).
2.)
32 
Davon ausgehend kann der angefochtene Gerichtsbescheid keinen Bestand haben. Die - im Verfahren S 13 KR 1110/11 erhobene - Klage des Klägers gilt nicht als zurückgenommen. Die in diesem Verfahren ergangene Betreibensaufforderung vom 2.9.2011 gibt dafür keine Grundlage, da sie zu Unrecht ergangen ist. Hinreichende Anhaltspunkte für den Wegfall des Interesses des Klägers an gerichtlichem Rechtsschutz lagen nicht vor. Außerdem hätte das Sozialgericht nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor Erlass einer Betreibensaufforderung zunächst andere (mildere) prozessuale Handlungsmittel ergreifen und auch über den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers entscheiden müssen.
33 
Der Kläger hat zwar eine Klagebegründung nicht vorgelegt. Dazu war er aber gem. § 92 Abs. 1 Satz 4 SGG auch nicht verpflichtet. Außerdem ist sein Begehren ohne Weiteres den vom Sozialgericht beigezogenen Verwaltungsakten, namentlich dem Widerspruchsbescheid vom 4.11.2010, zu entnehmen. Der Kläger hat die Vorlage einer Klagebegründung nach der in der Klageschrift zugleich beantragten Akteneinsicht angekündigt. Akteneinsicht ist dem Kläger allerdings nicht gewährt worden, obwohl er gem. § 120 SGG darauf Anspruch hat, etwa durch Einsichtnahme in die Akten auf der Geschäftsstelle des Sozialgerichts. Dies ist ihm auch nicht angeboten worden. Das Ausbleiben einer Klagebegründung rechtfertigt die Annahme, der Kläger habe kein Interesse an einer Sachentscheidung mehr, daher nicht. Der Kläger hat außerdem die Frage des Sozialgerichts nach einer etwaigen (Selbst-)Beschaffung eines Hörgeräts nicht beantwortet. Auch deswegen hat eine Betreibensaufforderung aber nicht ergehen dürfen. Geht es, wie hier, um die Angabe bestimmter Tatsachen, ist regelmäßig zunächst eine Frist nach § 106a SGG zu setzen. Erst nach fruchtloser Anwendung dieses Handlungsmittels kommt ggf. eine Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG in Frage, wobei freilich zu bedenken ist, dass die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG nicht der Sanktionierung nachlässiger Prozessführung oder unzureichender Mitwirkung an der Erforschung des Sachverhalts dient, sondern nur in Betracht kommt, wenn das Prozessverhalten insgesamt zu der Annahme berechtigt, der Kläger habe das Interesse an einer Sachentscheidung des Gerichts verloren. Das Sozialgericht hat den Kläger schließlich zur Erforschung des Sachverhalts gem. § 103 SGG herangezogen, indem es ihm aufgegeben hat, eine Schweigepflichtentbindungserklärung abzugeben, damit behandelnde Ärzte, etwa zur Erforderlichkeit eines (bestimmten) Hörgeräts, befragt werden können. Der Kläger ist dem nur unzureichend nachgekommen, indem er dem Sozialgericht nur eine unvollständige Kopie der Schweigepflichtentbindungserklärung hat zukommen lassen. Die Weigerung des Klägers, in zumutbarer Weise an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken, bspw. die Befragung behandelnder Ärzte zu ermöglichen oder sich einer Begutachtung zu unterziehen, gibt aber regelmäßig Veranlassung - zunächst - auf die objektive Beweislast des Klägers für die tatsächlichen Voraussetzungen eines geltend gemachten Leistungsanspruchs und die Möglichkeit einer ihm nachteiligen Beweislastentscheidung hinzuweisen. Außerdem kann die Weigerung eines Klägers zur Mitwirkung an der medizinischen Sachaufklärung unterschiedliche, und sei es auch meist nicht berechtigte, Gründe haben; diese müssen nicht darin bestehen, dass ein Interesse an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht (mehr) besteht.
34 
Schließlich hat der Kläger mit der Klageerhebung zugleich Prozesskostenhilfe beantragt, und damit erreichen wollen, dass ihm der Rechtsschutz durch das Sozialgericht und damit das Betreiben eines sozialgerichtlichen Verfahrens zugänglich gemacht wird (BVerfG, Beschl. v. 7.11.2011, - 1 BvR 1403/09 -); das lässt sein Interesse an einer Sachentscheidung des Gerichts zusätzlich hervortreten. Über den Prozesskostenhilfeantrag hat das Sozialgericht erst entschieden, als - nach seiner unzutreffenden Rechtsauffassung - die in der Hauptsache erhobene Klage schon als zurückgenommen galt. Im Hinblick auf die vom BVerfG betonte Funktion der Prozesskostenhilfe, den rechtsstaatlich gebotenen Rechtsschutz zugänglich zu machen, ist es aber grundsätzlich nicht zulässig, das Hauptsacheverfahren abzuschließen, ohne zuvor über einen (entscheidungsreifen) Prozesskostenhilfeantrag zu befinden (vgl. Senatsbeschluss vom 18.2.2013, - L 5 KR 2366/12 B -). Das gilt auch für die Anwendung der Vorschriften über die Fiktion der Klagerücknahme. Ist der Prozesskostenhilfeantrag noch nicht entscheidungsreif, muss ggf. zuerst Frist nach § 118 Abs. 2 Satz 4 ZPO (i. V. m. 73a Abs. 1 Satz 1 SGG) gesetzt werden zur Glaubhaftmachung der Angaben über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse oder zur Beantwortung bestimmter Fragen des Gerichts; bei fruchtlosem Verstreichen der Frist ist der Prozesskostenhilfeantrag abzulehnen. Vor der Entscheidung über einen Prozesskostenhilfeantrag kann dem Kläger, der sich ohne die Hilfe eines beigeordneten Rechtsanwalts (zur Anwaltsbeiordnung als alleinigem Antragsziel in gerichtskostenfreien Verfahren Meyer/Ladewig, SGG § 73a Rdnr. 9) offenbar zur Rechtsverfolgung vor Gericht außerstande sieht, das Betreiben des Gerichtsverfahrens nicht aufgegeben werden.
35 
Insgesamt durfte das Sozialgericht daher eine Betreibensaufforderung (noch) nicht erlassen. Die gleichwohl mit Verfügung vom 2.9.2011 ergangene Betreibensaufforderung kann die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht auslösen.
III.
36 
Da das Sozialgericht zu Unrecht festgestellt hat, dass die im Verfahren S 13 KR 1110/13 erhobene Klage des Klägers als zurückgenommen gilt, ist sein Gerichtsbescheid auf die Berufung des Klägers aufzuheben. Der Senat braucht die Sache nicht gem. § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Sie ist dort nach wie vor anhängig und beim Landessozialgericht durch die Berufung des Klägers nicht anhängig geworden. Das Sozialgericht wird das Klageverfahren daher fortzuführen haben (so auch LSG Bayern, Urt. v. 12.7.2011, - L 11 AS 582/ 10 -; anders etwa LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 12.07.2011, - L 11 KR 1429/11 -, LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 10.7.2012, - L 7 AS 776/11 -; LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 16.6.2010, - L 5 AS 217/10 -: Zurückverweisung der Sache).
37 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
38 
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).

Gründe

 
I.
23 
Die Berufung des Klägers ist gem. §§ 143, 144 SGG ohne Zulassung durch das Sozialgericht statthaft. Der Senat kann offen lassen, ob der Beschwerdewert des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG (750 EUR) überschritten ist; der Kläger begehrt in der Sache offenbar die Gewährung eines mehrkostenpflichtigen Hörgeräts (als Sachleistung) bzw. die Übernahme der den einschlägigen Festbetrag übersteigenden Kosten eines solchen Hörgeräts (als Geldleistung). § 144 SGG ist vorliegend nicht anwendbar. Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist allein die im angefochtenen Gerichtsbescheid getroffene Feststellung, dass das Klageverfahren S 13 KR 1110/11 beendet ist, und nicht die vom Kläger letztendlich begehrte Sach- oder Geldleistung (vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 30.8.2012, - L 2 AS 132/12 -). Eine vermögensrechtliche Streitigkeit (von geringem Wert) - bei der die Berufung auch im Fall der Untätigkeitsklage nach Maßgabe des § 144 SGG zulassungspflichtig wäre (BSG, Beschl. v. 6.10.2011, - B 9 SB 45/11 B -) liegt daher nicht vor (LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.8.2012, - L 3 AS 133/12 -).
II.
24 
Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Die Voraussetzungen des § 102 Abs.2 Satz 1 SGG unter denen die Klage als zurückgenommen gilt, sind nicht erfüllt. Der angefochtene Gerichtsbescheid ist daher aufzuheben. Das Sozialgericht wird das bei ihm anhängig gebliebene Klageverfahren S 13 KR 1110/11 fortzuführen haben.
1.)
25 
Gem. § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt. In der Betreibens-aufforderung ist der Kläger auf die sich aus § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG und ggf. aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 155 Abs. 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG unterliegt formellen, materiellen und inhaltlichen Anforderungen, ohne deren Erfüllung sie nicht Grundlage der Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG sein kann.
a.)
26 
In formeller Hinsicht muss wegen der einschneidenden Folgen der Rücknahmefiktion sichergestellt sein, dass es sich bei der Betreibensaufforderung nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Richter nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deswegen muss die Betreibensaufforderung nach der Rechtsprechung des BSG vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht. Auch die gem. § 63 Abs. 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift der Betreibensaufforderung muss diesen Umstand erkennen lassen, d. h. durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R -).
b.)
27 
In materieller Hinsicht setzt das Ergehen einer Betreibensaufforderung als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG voraus, dass sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers vorliegen.
28 
Die Regelung des § 102 SGG über die Fiktion der Klagrücknahme hat die entsprechenden Vorschriften in § 81 AsylVfG und § 92 Abs. 2 VwGO (vgl. zum Berufungsverfahren § 126 Abs. 2 VwGO bzw. § 156 Abs. 2 SGG) zum Vorbild. Diese Vorschriften regeln die Fiktion der Klagerücknahme für das Verfahrensrecht des Asylprozesses bzw. des allgemeinen Verwaltungsprozesses. Das Gesetz unterstellt, dass das Rechtsschutzinteresse an der Klage weggefallen ist, wenn der Kläger über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.
29 
Die Fiktion der Klagrücknahme greift in das (Prozess-)Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. in die entsprechenden Verfahrensgehalte der im Einzelfall betroffenen materiellen Grundrechte ein. Das ist grundsätzlich zulässig. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. etwa Beschl. v. 27.10.1998, - 2 BvR 2662/95 - zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs. 2 VwGO; auch Beschl. v. 17.9.2012, - 1 BvR 2254/11 -) darf ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Die hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Das BVerfG hat zugleich aber entschieden, dass Vorschriften über die Fiktion der Klagerücknahme Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG, a. a. O.; auch BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R - m. w. N.). Demzufolge ist in den einschlägigen Gesetzesmaterialien auch ausgeführt, dass „die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen“ darf (BT-Drs. 16/7716 S. 19 zu Nummer 17 <§ 102>). Die Anwendung der Rücknahmefiktion kommt nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht (vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 19.5.1993, - 2 BvR 1972/92 -; BSG, 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R -; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.8.2012, - L 3 AS 133/12 -). Angesichts der gravierenden, den Rechtsschutz jedenfalls im konkreten Verfahren ohne Sachprüfung abschneidenden Wirkung der Rücknahmefiktion gebietet Art. 19 Abs. 4 GG eine strenge Prüfung der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung der entsprechenden Vorschriften durch das BVerfG (BVerfG, Beschl. v. 17.9.2012, - 1 BvR 2254/11 - zu § 92 Abs. 2 VwGO).
30 
Sachlich begründbare Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses können sich insbesondere aus der Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten des Klägers ergeben. Insoweit ist aber zu beachten, dass die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG keine Sanktion für prozessuales Fehlverhalten darstellt (vgl. etwa BVerfG Beschl. v. 17.9.2012, - 1 BvR 2254/11 -). Außerdem gilt (auch) für den Sozialgerichtsprozess nicht der Beibringungs-, sondern der Untersuchungsgrundsatz (Amtsermittlungsgrundsatz). Gem. § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; es hat dabei die Beteiligten heranzuziehen. Die Mitwirkungspflicht (bzw. Mitwirkungsobliegenheit) der Beteiligten, auch des Klägers, ist danach Teil der gerichtlichen Sacherforschungspflicht (NK-VwGO/Rixen, § 86 Rdnr. 63) und durch diese auch begrenzt. Insbesondere kann auf das Fehlen eines Rechtsschutzbedürfnisses nicht schon (allein) deshalb geschlossen werden, weil der Kläger eine Klagebegründung nicht vorlegt, zumal er dazu gem. § 92 Abs. 1 Satz 4 SGG nicht verpflichtet ist, sondern die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel nur angeben „soll“ (vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 30.8.2011, - L 9 AS 61/10 -). Allerdings muss das Gericht Ermittlungen auch nicht „ins Blaue“ anstellen (so BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R - zum Fehlen von Widerspruchs, Klage- und Berufungsbegründung). Prozessuale Folgerungen aus einer Verletzung der Mitwirkungspflicht unterliegen schließlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Deshalb muss das Gericht ggf. zunächst von den Befugnissen nach § 106a SGG Gebrauch machen und etwa dem Kläger eine Frist zum Vortrag von Tatsachen oder zur Vorlage von Urkunden setzen und verspätetes Vorbringen von Erklärungen oder Beweismitteln unter den Voraussetzungen des § 106a Abs. 3 SGG zurückweisen, gleichwohl aber eine Sachentscheidung treffen; insoweit gilt der Grundsatz „Fristsetzung“ (nach § 106a SGG) vor Betreibensaufforderung“ (NK-VwGO/Schmid § 92, Rdnr. 31). Das Gericht kann je nach Fallgestaltung auch auf die Grundsätze der objektiven Beweislast und der Beweisvereitelung (dazu etwa MünchKomm-ZPO/Prütting § 286 Rdnr. 80 ff. m. w. N.) hinweisen oder nach diesen Grundsätzen eine Sachentscheidung treffen. Eine Betreibensaufforderung, die ergeht, ohne dass zuvor die nach Lage der Dinge vorrangigen prozessualen Handlungsmittel angewendet worden sind, oder die sich nicht auf hinreichend begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Interesses des Klägers an einer gerichtlichen Sachentscheidung stützen kann, ist unzulässig; sie kann nicht Grundlage der in § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG vorgesehenen Rücknahmefiktion sein.
c.)
31 
In inhaltlicher Hinsicht muss die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG einen bestimmten Inhalt haben. Dem Kläger muss klar und unzweifelhaft deutlich gemacht werden, welche Verfahrenshandlung er vornehmen muss, um die Fiktion der Rücknahme seiner Klage abzuwenden. Die Handlungen zum (hinreichenden) Betreiben des Verfahrens müssen - abhängig vom Stand des Verfahrens - möglichst konkret bezeichnet werden; allgemeine Aufforderungen zum Tätigwerden genügen grundsätzlich nicht (vgl. Meyer/Ladewig, SGG § 102 Rdnr. 8c; NK-VwGO/Schmid § 92 Rdnr. 33; LSG Baden-Württemberg Urt. v. 12.7.2011 - L 11 KR 1429/11 -).
2.)
32 
Davon ausgehend kann der angefochtene Gerichtsbescheid keinen Bestand haben. Die - im Verfahren S 13 KR 1110/11 erhobene - Klage des Klägers gilt nicht als zurückgenommen. Die in diesem Verfahren ergangene Betreibensaufforderung vom 2.9.2011 gibt dafür keine Grundlage, da sie zu Unrecht ergangen ist. Hinreichende Anhaltspunkte für den Wegfall des Interesses des Klägers an gerichtlichem Rechtsschutz lagen nicht vor. Außerdem hätte das Sozialgericht nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor Erlass einer Betreibensaufforderung zunächst andere (mildere) prozessuale Handlungsmittel ergreifen und auch über den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers entscheiden müssen.
33 
Der Kläger hat zwar eine Klagebegründung nicht vorgelegt. Dazu war er aber gem. § 92 Abs. 1 Satz 4 SGG auch nicht verpflichtet. Außerdem ist sein Begehren ohne Weiteres den vom Sozialgericht beigezogenen Verwaltungsakten, namentlich dem Widerspruchsbescheid vom 4.11.2010, zu entnehmen. Der Kläger hat die Vorlage einer Klagebegründung nach der in der Klageschrift zugleich beantragten Akteneinsicht angekündigt. Akteneinsicht ist dem Kläger allerdings nicht gewährt worden, obwohl er gem. § 120 SGG darauf Anspruch hat, etwa durch Einsichtnahme in die Akten auf der Geschäftsstelle des Sozialgerichts. Dies ist ihm auch nicht angeboten worden. Das Ausbleiben einer Klagebegründung rechtfertigt die Annahme, der Kläger habe kein Interesse an einer Sachentscheidung mehr, daher nicht. Der Kläger hat außerdem die Frage des Sozialgerichts nach einer etwaigen (Selbst-)Beschaffung eines Hörgeräts nicht beantwortet. Auch deswegen hat eine Betreibensaufforderung aber nicht ergehen dürfen. Geht es, wie hier, um die Angabe bestimmter Tatsachen, ist regelmäßig zunächst eine Frist nach § 106a SGG zu setzen. Erst nach fruchtloser Anwendung dieses Handlungsmittels kommt ggf. eine Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG in Frage, wobei freilich zu bedenken ist, dass die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG nicht der Sanktionierung nachlässiger Prozessführung oder unzureichender Mitwirkung an der Erforschung des Sachverhalts dient, sondern nur in Betracht kommt, wenn das Prozessverhalten insgesamt zu der Annahme berechtigt, der Kläger habe das Interesse an einer Sachentscheidung des Gerichts verloren. Das Sozialgericht hat den Kläger schließlich zur Erforschung des Sachverhalts gem. § 103 SGG herangezogen, indem es ihm aufgegeben hat, eine Schweigepflichtentbindungserklärung abzugeben, damit behandelnde Ärzte, etwa zur Erforderlichkeit eines (bestimmten) Hörgeräts, befragt werden können. Der Kläger ist dem nur unzureichend nachgekommen, indem er dem Sozialgericht nur eine unvollständige Kopie der Schweigepflichtentbindungserklärung hat zukommen lassen. Die Weigerung des Klägers, in zumutbarer Weise an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken, bspw. die Befragung behandelnder Ärzte zu ermöglichen oder sich einer Begutachtung zu unterziehen, gibt aber regelmäßig Veranlassung - zunächst - auf die objektive Beweislast des Klägers für die tatsächlichen Voraussetzungen eines geltend gemachten Leistungsanspruchs und die Möglichkeit einer ihm nachteiligen Beweislastentscheidung hinzuweisen. Außerdem kann die Weigerung eines Klägers zur Mitwirkung an der medizinischen Sachaufklärung unterschiedliche, und sei es auch meist nicht berechtigte, Gründe haben; diese müssen nicht darin bestehen, dass ein Interesse an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht (mehr) besteht.
34 
Schließlich hat der Kläger mit der Klageerhebung zugleich Prozesskostenhilfe beantragt, und damit erreichen wollen, dass ihm der Rechtsschutz durch das Sozialgericht und damit das Betreiben eines sozialgerichtlichen Verfahrens zugänglich gemacht wird (BVerfG, Beschl. v. 7.11.2011, - 1 BvR 1403/09 -); das lässt sein Interesse an einer Sachentscheidung des Gerichts zusätzlich hervortreten. Über den Prozesskostenhilfeantrag hat das Sozialgericht erst entschieden, als - nach seiner unzutreffenden Rechtsauffassung - die in der Hauptsache erhobene Klage schon als zurückgenommen galt. Im Hinblick auf die vom BVerfG betonte Funktion der Prozesskostenhilfe, den rechtsstaatlich gebotenen Rechtsschutz zugänglich zu machen, ist es aber grundsätzlich nicht zulässig, das Hauptsacheverfahren abzuschließen, ohne zuvor über einen (entscheidungsreifen) Prozesskostenhilfeantrag zu befinden (vgl. Senatsbeschluss vom 18.2.2013, - L 5 KR 2366/12 B -). Das gilt auch für die Anwendung der Vorschriften über die Fiktion der Klagerücknahme. Ist der Prozesskostenhilfeantrag noch nicht entscheidungsreif, muss ggf. zuerst Frist nach § 118 Abs. 2 Satz 4 ZPO (i. V. m. 73a Abs. 1 Satz 1 SGG) gesetzt werden zur Glaubhaftmachung der Angaben über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse oder zur Beantwortung bestimmter Fragen des Gerichts; bei fruchtlosem Verstreichen der Frist ist der Prozesskostenhilfeantrag abzulehnen. Vor der Entscheidung über einen Prozesskostenhilfeantrag kann dem Kläger, der sich ohne die Hilfe eines beigeordneten Rechtsanwalts (zur Anwaltsbeiordnung als alleinigem Antragsziel in gerichtskostenfreien Verfahren Meyer/Ladewig, SGG § 73a Rdnr. 9) offenbar zur Rechtsverfolgung vor Gericht außerstande sieht, das Betreiben des Gerichtsverfahrens nicht aufgegeben werden.
35 
Insgesamt durfte das Sozialgericht daher eine Betreibensaufforderung (noch) nicht erlassen. Die gleichwohl mit Verfügung vom 2.9.2011 ergangene Betreibensaufforderung kann die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht auslösen.
III.
36 
Da das Sozialgericht zu Unrecht festgestellt hat, dass die im Verfahren S 13 KR 1110/13 erhobene Klage des Klägers als zurückgenommen gilt, ist sein Gerichtsbescheid auf die Berufung des Klägers aufzuheben. Der Senat braucht die Sache nicht gem. § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Sie ist dort nach wie vor anhängig und beim Landessozialgericht durch die Berufung des Klägers nicht anhängig geworden. Das Sozialgericht wird das Klageverfahren daher fortzuführen haben (so auch LSG Bayern, Urt. v. 12.7.2011, - L 11 AS 582/ 10 -; anders etwa LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 12.07.2011, - L 11 KR 1429/11 -, LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 10.7.2012, - L 7 AS 776/11 -; LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 16.6.2010, - L 5 AS 217/10 -: Zurückverweisung der Sache).
37 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
38 
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).

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Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 19


(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 155


(1) Wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt, so sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen. Sind die Kosten gegeneinander aufgehoben, so fallen die Gerichtskosten jedem Teil zur Hälfte zur Last. Einem Beteili

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 144


(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 1. bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hier

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 197a


(1) Gehört in einem Rechtszug weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 genannten Personen oder handelt es sich um ein Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2), werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskosten

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 92


(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der münd

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 143


Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 73a


(1) Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Prozeßkostenhilfe mit Ausnahme des § 127 Absatz 2 Satz 2 der Zivilprozeßordnung gelten entsprechend. Macht der Beteiligte, dem Prozeßkostenhilfe bewilligt ist, von seinem Recht, einen Rechtsanwalt

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 103


Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

Zivilprozessordnung - ZPO | § 118 Bewilligungsverfahren


(1) Dem Gegner ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, ob er die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für gegeben hält, soweit dies aus besonderen Gründen nicht unzweckmäßig erscheint. Die Stellungnahme kann vor der Geschäft

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 105


(1) Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind vorher zu hören. Die

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 63


(1) Anordnungen und Entscheidungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird, sind den Beteiligten zuzustellen, bei Verkündung jedoch nur, wenn es ausdrücklich vorgeschrieben ist. Terminbestimmungen und Ladungen sind bekannt zu geben. (2) Zugest

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 159


(1) Das Landessozialgericht kann durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn 1. dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden,2. das Verfahren an einem wesent

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 102


(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache. (2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länge

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 92


(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde. Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertr

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 126


(1) Die Berufung kann bis zur Rechtskraft des Urteils zurückgenommen werden. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündl

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 106a


(1) Der Vorsitzende kann dem Kläger eine Frist setzen zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühlt. (2) Der Vorsitzende kann einem Beteiligten unter Fristsetzung

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 120


(1) Die Beteiligten haben das Recht der Einsicht in die Akten, soweit die übermittelnde Behörde dieses nicht ausschließt. Beteiligte können sich auf ihre Kosten durch die Geschäftsstelle Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen las

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 156


(1) Die Berufung kann bis zur Rechtskraft des Urteils oder des nach § 153 Abs. 4 oder § 158 Satz 2 ergangenen Beschlusses zurückgenommen werden. Die Zurücknahme nach Schluss der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Berufungsbeklagten vor

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Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 17. Apr. 2013 - L 5 KR 605/12 zitiert oder wird zitiert von 17 Urteil(en).

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(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind vorher zu hören. Die Vorschriften über Urteile gelten entsprechend.

(2) Die Beteiligten können innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids das Rechtsmittel einlegen, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Ist die Berufung nicht gegeben, kann mündliche Verhandlung beantragt werden. Wird sowohl ein Rechtsmittel eingelegt als auch mündliche Verhandlung beantragt, findet mündliche Verhandlung statt.

(3) Der Gerichtsbescheid wirkt als Urteil; wird rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt, gilt er als nicht ergangen.

(4) Wird mündliche Verhandlung beantragt, kann das Gericht in dem Urteil von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe absehen, soweit es der Begründung des Gerichtsbescheids folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 17. Januar 2012 wird aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass das erstinstanzliche Klageverfahren nicht durch eine fiktive Klagerücknahme erledigt und das Verfahren beim Sozialgericht Halle fortzuführen ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht bei Verfahrensabschluss vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Kläger wenden sich gegen die Feststellung, dass von ihnen beim Sozialgericht Halle (SG) betriebene Klageverfahren sei beendet, weil die Klage nach § 102 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als zurückgenommen gelte.

2

Die anwaltlich vertretenen Kläger haben am 14. Juli 2010 Klage beim SG erhoben (Aktenzeichen: S 3 AS 4019/10) und als Klagegegenstand angegeben: "Endgültige Festsetzung des Leistungsanspruches nach SGB II; Leistungszeitraum 07 bis 12/2006". Als Antrag haben sie angekündigt: "1. den Bescheid vom 24.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.06.2010, zugegangen am 17.06.2010, aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Klägern Leistungen nach SGB II in gesetzlicher Höhe zu zahlen." Unter der Überschrift "Begründung" waren die in Kopie der Klageschrift beigefügten Bescheide aufgeführt und es wurde ausgeführt, die Begründung bleibe einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 20. August 2010 den Antrag angekündigt, die Klage abzuweisen und ausgeführt, neue rechtserhebliche Gesichtspunkte seien nicht vorgetragen worden.

3

Mit Schreiben vom 5. Oktober 2010 hat der Kammervorsitzende beim SG die Prozessbevollmächtigte der Kläger an die Übersendung einer Klagebegründung erinnert. In einem weiteren gerichtlichen Schreiben vom 25. Januar 2011 an die Prozessbevollmächtigte der Kläger hat der Kammervorsitzende dann ausgeführt: " ... habe Sie trotz mehrfacher Aufforderung bzw. Erinnerungen bis heute die Klage nicht begründet. Dies lässt den Schluss zu, dass an der Fortführung des Rechtsstreits kein Interesse besteht. Ferner führt dieses Nichtbetreiben des Verfahrens nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.03.2008, BGBl. I Seite 444, dazu, dass die Klage als zurückgenommen gilt. Sollte innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Zustellung dieser Aufforderung keine weitere Äußerung von Ihnen hier eingehen, wird das Verfahren daher abgeschlossen. Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass ein Antrag auf Fristverlängerung nicht als Betreiben des Verfahrens gilt." Am Ende des Schreibens befindet sich unter der Grußformel die Unterschriftszeile "gez. I. - Richter am Sozialgericht". Ausweislich des zur Akte gelangten Empfangsbekenntnisses ist dieses Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Kläger am 20. Februar 2011 zugegangen.

4

Mit einem am 22. März 2011 beim SG eingegangenen Schreiben hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger mitgeteilt: Ein weiterer bisher neben ihr in der Kanzlei tätiger Rechtsanwalt, der fast ausschließlich die sozialrechtlichen Angelegenheiten bearbeitet habe, sei ausgeschieden. Sie müsse nun mit erheblichem zeitlichem Aufwand diese Mandate bearbeiten. Unter Beachtung dieser Situation bitte Sie, die gesetzte Frist bis zum 31. Mai 2011 zu verlängern. Mit Schreiben vom 30. Mai 2011 hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger dann den Antrag gestellt, die Frist noch einmal bis zum 30. Juni 2011 zu verlängern: Es habe sich die Notwendigkeit herausgestellt, mit den Klägern zu sprechen. Dies sei wegen totaler Arbeitsüberlastung noch nicht möglich gewesen.

5

Mit einer Verfügung vom 8. Juni 2011 hat der Kammervorsitzende beim SG dann die Erledigung des Verfahrens durch Rücknahme festgestellt und dies den Beteiligten mit Schreiben vom 21. Juni 2011 mitteilen lassen. Hiergegen hat sich für die Kläger deren Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 5. Juli 2011 gewandt und ausgeführt: Sie habe nach der Betreibensaufforderung unter Hinweis auf die besondere Situation ihrer Kanzlei und die extreme Arbeitsbelastung um Verlängerung der Frist für die Begründung der Klage gebeten. Ein Rechtsverlust für die Kläger, wie er bei fingierter Rücknahme eintreten würde, sei hier unverhältnismäßig.

6

Das SG hat daraufhin das Verfahren unter neuen Aktenzeichen (S 3 AS 3771/11 WA) wiederaufgenommen und nach mündlicher Verhandlung mit Urteil vom 17. Januar 2012 festgestellt, der Rechtsstreit sei durch Klagerücknahme am 21. Mai 2011 beendet worden. In den Gründen hat das SG ausgeführt, die nach der Betreibensaufforderung durch das Gericht in der Dreimonatsfrist erfolgten Verlängerungsanträge hätten kein Betreiben des Rechtsstreits dargestellt.

7

Gegen das ihr am 10. März 2012 zugestellte Urteil hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger am 22. März 2012 Berufung eingelegt und vorgetragen: Seitens des erstinstanzlichen Gerichts sei keine konkrete Aufforderung, z. B. bestimmte Unterlagen beizubringen, erfolgt. Es sei auch von ihr nach der Betreibensaufforderung dargelegt worden, dass ein Interesse der Kläger an der Fortführung des Verfahrens bestehe. Das SG habe den Ausnahmecharakter der Regelung in § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG verkannt.

8

Die Kläger beantragen sinngemäß,

9

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 17. Januar 2012 aufzuheben und festzustellen, dass das Klageverfahren nicht infolge einer nach § 102 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz anzunehmenden Klagerücknahme beendet ist.

10

Der Beklagte hat sich in diesem Verfahren nicht inhaltlich geäußert.

11

Die Beteiligten haben sich jeweils mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

12

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

13

Der Senat konnte nach den §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Die Berufung der Kläger hat Erfolg.

14

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig. Insbesondere ist sie auch nach § 143 SGG statthaft. Die Berufung betrifft nicht eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt. Auch wenn das Begehren der Kläger letztlich auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) gerichtet ist, ist Gegenstand dieses Verfahrens ausschließlich die Frage, ob das Klageverfahren beendet ist. Deshalb greift die mögliche Beschränkung der Zulässigkeit nach § 144 Abs. 1 SGG nicht ein.

15

Die Berufung ist begründet, denn anders als vom SG angenommen, liegen die Voraussetzungen für die Fiktion einer Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht vor. Nach dieser mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I 444) mit Wirkung vom 1. April 2008 in das SGG eingefügten Norm gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz einer Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Greift die Rücknahmefiktion ein, ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt (§ 102 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 SGG).

16

Voraussetzung für die Rücknahmefiktion ist zunächst eine Betreibensaufforderung durch das Gericht. Zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung muss - als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal - nach dem prozessualen Verhalten des klagenden Beteiligten hinreichend Anlass bestehen, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen. Denn bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Unterfall des Wegfalls des Rechtsinteresses (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 1. Juli 2010, B 13 R 58/09 R, zitiert nach juris, Rdnr. 15 und 46 mit weiteren Hinweisen).

17

Der Senat geht mit dem SG davon aus, dass zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses für die Klage auszugehen. Denn ausreichend sind hinreichend konkrete, auf sachlich begründeten Anhaltspunkten beruhende Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzbedürfnisses. Diese können sich aus dem fallbezogenen Verhalten der Kläger, aber auch aus der Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten ergeben (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 30. August 2011, L 9 AS 61/10, zitiert nach juris, Rdnr. 28f.). Ein sicherer, über begründete Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses hinausgehender Schluss ist nicht erforderlich (vgl. Beschluss des Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) vom 7. Juli 2005, 10 BN 1/05, zur vergleichbaren Regelung in § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), zitiert nach juris, Rdnr. 4). Aus der Klageschrift, mit der die Klage am 14. Juli 2010 erhoben wurde, ging zwar hervor, dass Klagegegenstand wohl der Anspruch auf (höhere) Leistungen nach dem SGB II sein sollte. In welchem Umfang und mit welcher Begründung höhere Leistungen begehrt wurden, war aber nicht erkennbar. Insofern wurde nicht deutlich, welche Interessen genau mit der Klage verfolgt werden sollten. Trotz der Aufforderung zur Klagebegründung Anfang Oktober 2010 war dann bis zu der mit Schreiben von 25. Januar 2011 ergangenen Betreibensaufforderung keine Reaktion der Prozessbevollmächtigen des Klägers erfolgt. Dies war geeignet, ein mangelndes Interesse der Kläger an der Fortführung des Klageverfahrens zu indizieren.

18

Letztlich kann aber hier offen bleiben, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die mit einer wirksamen Fristsetzung (zu den Formerfordernissen siehe das oben zitierte Urteil des BSG vom 1. Juli 2010, Rdnr. 48f.) verbundene Betreibensaufforderung vorlagen. Denn innerhalb der ab Zugang der Betreibensaufforderung bei der Prozessbevollmächtigen der Kläger am 20. Februar 2011 in Gang gesetzten Dreimonatsfrist haben die Kläger das Verfahren betrieben, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht erfüllt werden konnten.

19

Das SGG enthält keine Definition des Begriffs des Betreibens. Von der Wortbedeutung und dem Zusammenhang her liegt es nahe, unter einem Betreiben ein aktives Handeln zu verstehen, dass grundsätzlich geeignet ist, das Verfahren im Sinn auf eine Entscheidungsreife hin zu fördern. Allerdings muss die Auslegung des Begriffs auch dem besonderen Ausnahmecharakter der Rücknahmefiktion gerecht werden, die bei ihrer Auslegung und Anwendung zu beachten ist (siehe dazu das oben zitierte Urteil des BSG vom 1. Juli 2010, Rdnr. 42 mit weiteren Nachweisen). Die Betreibensaufforderung hat den Sinn, die Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses innerhalb der gesetzten Frist zu klären. Ein Betreiben innerhalb der durch die Betreibensaufforderung in Gang gesetzten Frist liegt deshalb auch dann vor, wenn substantiiert dargetan wird, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (vgl. Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19. Mai 1993, 2 BvR 1972/92, zur Auslegung des Begriffs des Betreibens in der vergleichbaren Regelung in § 33 Asylverfahrensgesetzes (AsylVfg) a. F., zitiert nach juris, Rdnr. 14 u. 16). Dies wurde auch vom Gesetzgeber bei der Schaffung des § 102 SGG so gesehen. In der Begründung des Gesetzesentwurfs wird ausgeführt, ein Nichtbetreiben im Sinne des Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift liege dann vor, wenn sich der Kläger auf die Aufforderung des Gerichts nicht oder nur unzureichend innerhalb der drei Monate äußere, sodass nicht oder nur unzureichend dargelegt sei, dass das Rechtsschutzinteresse ungeachtet der vorliegenden Indizien fortbesteht (BT-DRs. 16/7716, S. 19 zu Nummer 17 (§ 102)). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es im Sinne der Vorschrift für ein Betreiben ausreicht, mit hinreichender Deutlichkeit darzulegen, dass ein Rechtsschutzinteresse trotz der zur Betreibensaufforderung führenden Umstände weiter besteht. Vor diesem Hintergrund werden für ein Betreiben ein unbegründeter Fristverlängerungsantrag oder die einfache Mitteilung, das Verfahren solle fortgeführt werden, nicht ausreichen. Ausreichend ist aber die Darlegung, warum aus den für die Betreibensaufforderung maßgeblichen Umständen im konkreten Fall nicht auf ein fehlendes Interesse an der Fortführung des Rechtsstreits geschlossen werden kann. Welche Anforderungen dabei an die Substantiierung der Darlegung zu stellen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.

20

Im konkreten Fall liegt jedenfalls eine ausreichend substantiierte Darlegung im oben bezeichneten Sinne vor. Aus dem am 22. März 2011 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Kläger ergab sich eindeutig, dass ein Interesse der Kläger an der Fortführung des Verfahrens weiter bestand und eine inhaltliche Berufungsbegründung bisher nur aufgrund der hohen Arbeitsbelastung der Prozessbevollmächtigten der Kläger unterblieben war. Die hohe Arbeitsbelastung wurde nachvollziehbar mit der besonderen Situation der Kanzlei nach dem Ausscheiden des bisher die sozialrechtlichen Mandate betreuenden Rechtsanwalts begründet. Der Eingang dieses Schreibens lag auch innerhalb der am 20. Februar 2011 in Gang gesetzten Dreimonatsfrist.

21

Die Kostenentscheidung bleibt der erstinstanzlichen Entscheidung vorbehalten.

22

Gesetzliche Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.


(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 11. April 2011 abgeändert.

Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 13. Dezember 2010 wird als unzulässig verworfen.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten für das Berufungs- und das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Zulässigkeit einer Untätigkeitsklage.

2

Nachdem das Sozialgericht Hildesheim (SG) mit Beschluss vom 19.6.2009 die Erinnerung gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss zurückgewiesen hatte, beantragten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 1.7.2009 beim beklagten Land, die Gebühren für ihre Tätigkeit im Erinnerungsverfahren auf 124,95 Euro festzusetzen. Dieses teilte daraufhin mit Schreiben vom 4.8.2009 den Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit, dass es nicht bereit sei, Gebühren für das Erinnerungsverfahren zu erstatten. Das SG habe mit Beschluss vom 19.6.2009 entschieden, dass im Erinnerungsverfahren keine Kostenentscheidung ergehe und insofern auch kein Kostenerstattungsanspruch bestehe. Hiergegen legten die Prozessbevollmächtigten am 13.8.2009 Widerspruch ein.

3

Nachdem der Beklagte daraufhin mit Schreiben vom 19.8.2009 und 3.12.2009 die Auffassung geäußert hatte, bei dem Schreiben vom 4.8.2009 habe es sich nicht um einen Bescheid, sondern nur um eine Mitteilung gehandelt, sodass der Erlass eines Widerspruchsbescheids nicht in Betracht komme, erhoben die Prozessbevollmächtigten am 11.12.2009 (Untätigkeits-)Klage zum SG mit dem Ziel, den Beklagten zur Bescheidung des Widerspruchs zu verpflichten. Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 13.12.2010 der Klage stattgegeben und den Beklagten verpflichtet, den Widerspruch zu bescheiden. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) mit Urteil vom 11.4.2011 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die (Untätigkeits-)Klage abgewiesen, weil diese unzulässig sei.

4

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegt, die sie mit grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG),dem Vorliegen einer Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG)sowie eines Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG)begründet. Das LSG hätte im Hinblick auf den Gegenstandswert des Verfahrens die Berufung des beklagten Landes als unzulässig verwerfen müssen.

5

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG ist unter Verstoß gegen Verfahrensrecht ergangen. Das LSG hätte die Berufung als unzulässig verwerfen müssen. Der von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel führt entsprechend § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Abänderung des Urteils des LSG und zur Verwerfung der Berufung des Beklagten.

6

Die Klägerin hat den als Zulassungsgrund geltend gemachten Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG)formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG)gerügt. Mit ihrer Rüge, das LSG hätte im Hinblick auf den Gegenstandswert des Verfahrens die Berufung des Beklagten als unzulässig verwerfen müssen, macht die Klägerin sinngemäß geltend, dass statt der Entscheidung in der Sache ein Prozessurteil hätte ergehen müssen. Damit hat sie einen Verfahrensmangel bezeichnet (vgl BSGE 34, 236, 237 = SozR Nr 57 zu § 51 SGG; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 6 RdNr 16; BSG SozR 4-1750 § 174 Nr 1 RdNr 4).

7

Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt auch vor, denn das LSG hat zu Unrecht in der Sache entschieden. Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 13.12.2010 war nicht zulässig, sie hätte gemäß § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG der Zulassung bedurft.

8

Nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG(in der hier anwendbaren Fassung des Art 1 Nr 24 Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008 - BGBl I 444) bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des SG oder auf Beschwerde durch Beschluss des LSG, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt.

9

Verschiedene Senate der Landessozialgerichte (vgl etwa LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 8.11.2007 - L 15 B 174/07 SO NZB - RdNr 2; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 15.9.2009 - L 5 AS 925/09 NZB - RdNr 8; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 22.9.2010 - L 10 AS 886/10 - RdNr 23, 27; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 18.11.2010 - L 7 SO 2708/10 - RdNr 15) sind zwar der Auffassung, dass die Wertgrenze des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG nicht für Untätigkeitsklagen gelte, weil mit diesen nur der Erlass eines beantragten, aber bisher nicht ergangenen Verwaltungsakts oder die Bescheidung eines Widerspruchs begehrt werden könne; eine Untätigkeitsklage sei demnach nicht auf eine Geld- oder Sachleistung gerichtet. Diese Auffassung übersieht jedoch, dass der Wortlaut des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG zwei Alternativen enthält, zum einen Klagen, "die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung" betreffen (1. Alt), zum anderen Klagen, die "einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt" betreffen (2. Alt).

10

Von der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 2. Alt SGG werden auch Untätigkeitsklagen erfasst, denn diese sind entweder auf die Vornahme eines beantragten, aber ohne zureichenden Grund innerhalb von sechs Monaten nicht erlassenen Verwaltungsakts gerichtet (§ 88 Abs 1 SGG), oder sie haben den Erlass eines Widerspruchsbescheides zum Gegenstand, wenn ohne zureichenden Grund innerhalb von drei Monaten über einen Widerspruch nicht entschieden worden ist (§ 88 Abs 2 SGG). Betreffen die zu erlassenden Verwaltungsakte Geld-, Dienst- oder Sachleistungen, die einen Wert von 750 Euro nicht übersteigen, unterliegt auch die Untätigkeitsklage der Berufungsbeschränkung.

11

Diese sich aus dem Wortlaut des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 2. Alt SGG ergebende Auslegung wird auch vom Sinn und Zweck der durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993 (BGBl I 50) eingeführten Regelung gestützt. Danach sollen die Berufungsgerichte von vermögensrechtlichen Streitsachen von geringem Wert (sog Bagatellfälle) entlastet werden (vgl BT-Drucks 12/1217, S 52, 71; BT-Drucks 16/7716, S 21; BSG SozR 3-1500 § 144 Nr 16 S 45; BSG SozR 3-2500 § 81 Nr 8 S 40). Die gewählte Klageart ist mithin für die Anwendung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG bedeutungslos(so bereits Kummer, NZS 1993, 285, 288; vgl auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 144 RdNr 8). Entscheidend ist, dass die Berufung einen Rechtsstreit von geringem Wert betrifft. Demnach kann auch eine Untätigkeitsklage der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG unterliegen, etwa wenn die Untätigkeit der Verwaltung darin besteht, dass sie über einen geltend gemachten Leistungsanspruch von geringem Wert nicht entscheidet oder einen Widerspruch, der einen sog Bagatellfall betrifft, nicht bescheidet(im Ergebnis ebenso LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 5.9.2008 - L 1 KR 13/08 NZB - RdNr 11; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 29.4.2010 - L 12 AL 5449/09 - Breith 2010, 877, 879 = NZS 2011, 77, 78). So liegt der Fall hier.

12

Die Klägerin hat, nachdem der Beklagte mit Schreiben vom 4.8.2009 mitgeteilt hatte, es bestehe kein Kostenerstattungsanspruch (in Höhe der von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin geltend gemachten 124,95 Euro), Widerspruch eingelegt und, nachdem dieser nach Ablauf von drei Monaten nicht beschieden worden war, Untätigkeitsklage nach § 88 Abs 2 SGG erhoben. Die Berufung des Beklagten gegen den der Untätigkeitsklage stattgebenden Gerichtsbescheid hätte mithin im Hinblick auf den Rechtsmittelstreitwert von 124,95 Euro nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG der Zulassung im Gerichtsbescheid des SG oder auf Beschwerde durch Beschluss des LSG bedurft. Eine solche Zulassung liegt nicht vor. Eine Entscheidung über die Zulassung ist weder dem Tenor noch den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Gerichtsbescheides zu entnehmen. Das SG hat dem Gerichtsbescheid lediglich die bei zulässiger Berufung übliche Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt. Diese genügt jedoch nicht den Anforderungen an eine positive Entscheidung über die Zulassung der Berufung (vgl etwa BSGE 5, 92, 95; BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 1 S 5; BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 3 S 13). Das LSG hätte deshalb die Berufung des Beklagten nach § 158 SGG als unzulässig verwerfen müssen. Zugleich hätte es diesen darauf hinweisen können, dass innerhalb der noch offenen Jahresfrist des § 66 Abs 2 SGG eine Nichtzulassungsbeschwerde(§ 145 SGG) eingelegt werden kann.

13

Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit insoweit Gebrauch, als er das in der Sache entscheidende Urteil des LSG abändert. Von einer Zurückverweisung sieht er deshalb ab, weil das LSG - wie ausgeführt - die Berufung nur als unzulässig verwerfen könnte. Unter diesen Umständen kann der Senat die gebotene Entscheidung auch selbst treffen (zum ausnahmsweise zulässigen Durchentscheiden bei unzulässiger Klage: BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 6 RdNr 22 f; BSG Beschluss vom 30.11.2006 - B 9a VJ 7/05 B - RdNr 18).

14

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

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Tenor

1. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 06.02.2012 wird aufgehoben.

2. Es wird festgestellt, dass das Verfahren S 14 AS 1884/11 vor dem Sozialgericht Speyer fortzuführen ist.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob das Verfahren in der ersten Instanz durch Klagerücknahmefiktion nach § 102 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erledigt ist.

2

Mit Bescheid vom 03.11.2010 hob der Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom 01.03.2009 bis 20.04.2009 teilweise in Höhe von 452,80 EUR auf und forderte diese von der Klägerin zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, sie habe während des genannten Zeitraums Einkommen aus einer Beschäftigung in einem Café erzielt und sei daher nicht in bisher festgestellter Höhe hilfebedürftig i. S. d. § 9 SGB II.

3

Der Beklagte stützte sich insoweit auf eine Meldebescheinigung zur Sozialversicherung vom 27.04.2009 des Arbeitgebers J K , wonach die Klägerin vom 11.03. bis 30.04.2009 bei ihm beschäftigt gewesen sei und dafür 699,00 EUR erhalten habe, sowie auf eine weitere Auskunft von diesem, nach der die Klägerin im Café V gearbeitet und dafür im März 300,00 EUR und im April 399,00 EUR bekommen habe.

4

Die Klägerin erhob dagegen Widerspruch. Bei einer persönlichen Vorsprache am 08.11.2010 gab sie gegenüber dem Beklagten an, sie habe nur im März 2009 in dem Café gearbeitet; im April nicht mehr. Im März habe sie ca 200,00 EUR bekommen, die ihr bar abends nach der Schicht ausgezahlt worden seien. Ab dem 20.04.2009 habe sie in Vollzeit eine Meisterschule besucht und in dem Café nicht mehr arbeiten können.

5

Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 11.11.2010 mit der Begründung zurückgewiesen, die Beschäftigung der Klägerin sei durch einen Datenabgleich mit dem Rentenversicherungsträger bekannt geworden. Der Beklagte habe das von der Firma gemeldete Arbeitsentgelt zugrunde gelegt.

6

Am 27.12.2010 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Speyer erhoben und nochmals darauf hingewiesen, dass sie im April 2009 nicht mehr gearbeitet habe. Durch gerichtliches Schreiben vom 22.02.2011 ist die Klägerin aufgefordert worden, bis zum 30.03.2011 zu belegen, dass sie im Monat April 2010 kein Arbeitsentgelt bezogen habe. Mit Schreiben vom 13.04.2011 ist sie nochmals daran erinnert worden. Mit Schreiben vom 17.05.2011 hat die Vorsitzende der 14. Kammer des Sozialgerichts Speyer letztmals aufgefordert, auf das Schreiben zu antworten. Die Klage gelte gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen, wenn das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betrieben werde. Dieses Schreiben ist der Klägerin am 19.05.2011 zugestellt worden.

7

Am 01.09.2011 hat die Vorsitzende eine Verfügung unterzeichnet, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme am 22.08.2011 erledigt sei. Mit gerichtlichem Schreiben vom 01.09.2011 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden.

8

Am 28.09.2011 hat die Klägerin gegen den "Beschluss des Sozialgerichts Speyer vom 01.09.2011" Beschwerde eingelegt. Zur Begründung ist vorgetragen worden, die Klagerücknahmefiktion könne nicht greifen, nachdem die Auflage des Gerichtes, den Kontoauszug für April vorzulegen, am 17.03.2011 erfüllt worden sei. Der erkennende Senat des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz hat die Beschwerde durch Beschluss vom 10.11.2011 wegen Fehlens einer beschwerdefähigen Entscheidung des Sozialgerichts als unzulässig verworfen.

9

Mit Schreiben vom 21.12.2011 hat die Klägerin beim Sozialgericht Speyer den Antrag gestellt, das Verfahren fortzuführen.

10

Nach Anhörung zur geplanten Entscheidung durch Gerichtsbescheid hat das Sozialgericht Speyer durch Gerichtsbescheid am 06.02.2012 festgestellt, dass die Klage zurückgenommen worden ist. Die am 27.12.2010 erhobene Klage habe sich durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG erledigt. Danach gelte die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibe. Ein Nichtbetreiben liege vor, wenn sich der Kläger auf die Aufforderung innerhalb von 3 Monaten nicht oder nur unzureichend geäußert habe. Vorliegend sei die Klägerin aufgefordert gewesen zu belegen, dass sie im April 2010 kein Arbeitsentgelt bezogen habe. Entgegen der Behauptung des Prozessbevollmächtigten sei der Kontoauszug für April 2010 nicht eingegangen. Das Hinweisschreiben gemäß § 102 Abs. 2 SGG sei dem Prozessbevollmächtigten am 19.05.2011 zugestellt worden, sodass die Klagerücknahmefiktion mit Ablauf des 19.08.2011 eingetreten sei.

11

Gegen den ihr am 14.02.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 10.03.2012 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, das Verfahren hätte fortgeführt werden müssen.

12

Mit Schreiben vom 01.06.2012 ist der Prozessbevollmächtigte darauf hingewiesen worden, dass Zweifel an der Zulässigkeit der Berufung bestünden, da es in der Sache um einen Verwaltungsakt gehe, durch den Leistungen in Höhe von 452,80 EUR aufgehoben wurden. Es ist Gelegenheit gegeben worden, bis zum 01.07.2012 dazu Stellung zu nehmen sowie die Tatsache zu belegen, dass der erbetene Kontoauszug dem Sozialgericht vorgelegt worden sei. Am 06.06.2012 ist unter Bezugnahme auf den Hinweis der Antrag gestellt worden, die Berufung zuzulassen. Die Nichtzulassungsbeschwerde wird unter dem Aktenzeichen L 3 AS 278/12 NZB geführt.

13

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

14

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 06.02.2012 aufzuheben und festzustellen, dass das Verfahren S 14 AS 1884/11 vor dem Sozialgericht Speyer fortzuführen ist.

15

Der Beklagte beantragt,

16

die Berufung zurückzuweisen.

17

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

18

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der vorliegenden Prozessakte verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

19

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

20

Die Regelung § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG steht der Zulässigkeit der Berufung nicht entgegen. Danach bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Hier betrifft die von der Klägerin im Verfahren vor dem Sozialgericht verfolgte Klage zwar einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt im Sinne dieser Vorschrift, nämlich den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 03.11.2012. Streitgegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist aber nicht dieser Bescheid, sondern die Frage, ob das Sozialgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass die gegen diesen Bescheid erhobene Klage durch die Rücknahmefiktion nach § 102 SGG erledigt ist. Nur über diese Frage hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Gerichtsbescheid entschieden.

21

In einem solchen Fall greift § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht. Soweit das Bundessozialgericht (BSG) für den Fall der Untätigkeitsklage entschieden hat, dass auch diese im Sinne von § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG auf den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtet ist (Beschluss vom 06.10.2011, B 9 SB 45/11 B, in juris), lassen sich diese Ausführungen nicht auf den vorliegenden Fall übertragen. Das BSG hat insoweit auf den Sinn und Zweck der Regelung verwiesen, wonach die Berufungsgerichte von vermögensrechtlichen Streitsachen von geringem Wert (sogenannten Bagatellfällen) entlastet werden sollen. Die gewählte Klageart sei für die Anwendung der Vorschrift bedeutungslos, entscheidend sei, dass die Berufung einen Rechtsstreit von geringem Wert betreffe.

22

Im vorliegenden Berufungsverfahren wird aber gerade nicht über einen vermögensrechtlichen Streit entschieden, sondern über die Vorfrage, ob das diesbezüglich angestrengte Klageverfahren durch Rücknahme erledigt ist. In dem anhängigen Verfahren stehen also Verfahrensrechte im Streit, die eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand erst eröffnen. Da damit der Schutzbereich des Grundrechtes auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes berührt ist, ist eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG über seinen Wortlaut hinaus auf Fälle der vorliegenden Art nicht gerechtfertigt. Dass eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand, also über die Rechtmäßigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides selbst, nicht mit der Berufung anfechtbar wäre, stellt im Hinblick auf die Bedeutung des Rechtes auf Gewährung gerichtliche Rechtsschutzes keinen Widerspruch dazu dar.

23

Die Berufung ist auch begründet. Die Klage gilt nicht gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen. Deshalb ist das Klageverfahren noch anhängig und daher vom Sozialgericht Speyer fortzuführen. Das Sozialgericht wird in diesem Verfahren auch zu prüfen haben, ob die Klage zulässig, insbesondere fristgemäß erhoben ist.

24

Nach § 102 Abs. 2 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt; in der Aufforderung ist der Kläger auf die sich ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Unter Beachtung der Rechtsprechung zur entsprechenden Regelung in § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bzw. § 81 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) kommt eine Rücknahmefiktion nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, in denen sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Klägers vorliegen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 19.05.1993, 2 BvR 1972/92 in NVwZ 94, 62).

25

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt nach der Rechtsprechung des BSG Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht. Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift muss diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (Urteil vom 01.07.2010, B 13 R 58/09 R). Ob diese Voraussetzungen hier erfüllt sind, ist den Akten nicht mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen. Das Schreiben vom 22.02.2011, durch das die Klägerin aufgefordert worden ist zu belegen, dass sie kein Arbeitentgelt bezogen hat, ist in dem in der Akte befindlichen Original lediglich mit einer Namensparaphe und nicht mit einer vollen Unterschrift versehen. Das erste Erinnerungsschreiben vom 13.04.2011 ist nicht von der Vorsitzenden, sondern mit dem Vermerk "Auf Anordnung" von einer Justizbeschäftigten unterschrieben. Das Schreiben vom 17.05.2011, in dem die Klägerin erstmals auf die Folgen des Nichtbefolgens dieser Aufforderung hingewiesen worden ist, weist in der Gerichtsakte wiederum nur eine Paraphe der Vorsitzenden auf.

26

Nähere Ermittlungen dazu, ob das versandte Schreiben die Originalunterschrift enthält, sind aber nicht erforderlich. Abgesehen von diesen formellen Voraussetzungen ist die Aufforderung auch ihrem Inhalt nach nicht geeignet, die Folgen des § 102 Abs. 2 SGG auszulösen.

27

Die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG muss klar und konkret sein und dem Kläger deutlich machen, was von ihm erwartet wird. Daran fehlt es hier. Die Klägerin ist aufgefordert worden zu belegen, dass sie im Monat April 2010 kein Arbeitsentgelt erhalten hat. Unabhängig davon, dass hier wohl der April 2009 gemeint war, ist diese Aufforderung schon deshalb unklar, weil die Klägerin zum Beleg einer negativen Tatsache aufgefordert worden ist, ohne dass näher angeführt wird, welche Beweismittel das Gericht als ausreichend ansehen würde. Die Klägerin konnte der Aufforderung damit gerade nicht entnehmen, was genau von ihr verlangt wird. Sie hatte im Widerspruchsverfahren bereits vorgetragen, dass sie nur im März gearbeitet hat und dafür in bar entlohnt worden ist. Wie sie bei dieser Sachlage belegen sollte, im April nichts erhalten zu haben, erschließt sich nicht unmittelbar. Dass die Klägerin der Aufforderung nicht nachgekommen ist, lässt von daher keine Zweifel am Rechtsschutzinteresse aufkommen, was aber Voraussetzung für den Eintritt der Rücknahmefiktion ist.

28

Insoweit ist auch in den Blick zu nehmen, dass im sozialgerichtlichen Verfahren der Grundsatz der Amtsermittlung nach § 103 SGG gilt. Die Klägerin hatte, wie oben dargelegt, bereits im Widerspruchsverfahren nähere Ausführungen zu ihrer Behauptung gemacht, im April 2009 kein Einkommen mehr gehabt zu haben. Dem sich daraus ergebenden Widerspruch zu den Angaben des Arbeitsgebers hätte das Sozialgericht näher nachgehen können, zB. durch Einholung einer weiteren Auskunft beim Arbeitgeber oder auch durch konkrete Fragen bei der Klägerin. Dass diese auf die unbestimmte und pauschale Aufforderung, die nicht erfolgte Zahlung zu belegen, nicht reagiert hat, lässt bei dieser Sachlage jedenfalls nicht darauf schließen, dass sie an der Durchführung des Verfahrens kein Interesse mehr hatte. Die Aufforderung war damit auch nicht geeignet, die Folgen des § 102 Abs.2 SGG auszulösen.

29

Die Kostentscheidung folgt aus § 193 SGG.

30

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Gehört in einem Rechtszug weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 genannten Personen oder handelt es sich um ein Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2), werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes erhoben; die §§ 184 bis 195 finden keine Anwendung; die §§ 154 bis 162 der Verwaltungsgerichtsordnung sind entsprechend anzuwenden. Wird die Klage zurückgenommen, findet § 161 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung keine Anwendung.

(2) Dem Beigeladenen werden die Kosten außer in den Fällen des § 154 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung auch auferlegt, soweit er verurteilt wird (§ 75 Abs. 5). Ist eine der in § 183 genannten Personen beigeladen, können dieser Kosten nur unter den Voraussetzungen von § 192 auferlegt werden. Aufwendungen des Beigeladenen werden unter den Voraussetzungen des § 191 vergütet; sie gehören nicht zu den Gerichtskosten.

(3) Die Absätze 1 und 2 gelten auch für Träger der Sozialhilfe einschließlich der Leistungen nach Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch, soweit sie an Erstattungsstreitigkeiten mit anderen Trägern beteiligt sind.

(1) Wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt, so sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen. Sind die Kosten gegeneinander aufgehoben, so fallen die Gerichtskosten jedem Teil zur Hälfte zur Last. Einem Beteiligten können die Kosten ganz auferlegt werden, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.

(2) Wer einen Antrag, eine Klage, ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf zurücknimmt, hat die Kosten zu tragen.

(3) Kosten, die durch einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entstehen, fallen dem Antragsteller zur Last.

(4) Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, können diesem auferlegt werden.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Anordnungen und Entscheidungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird, sind den Beteiligten zuzustellen, bei Verkündung jedoch nur, wenn es ausdrücklich vorgeschrieben ist. Terminbestimmungen und Ladungen sind bekannt zu geben.

(2) Zugestellt wird von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung. §§ 173, 175 und 178 Abs. 1 Nr. 2 der Zivilprozessordnung sind entsprechend anzuwenden auf die nach § 73 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 9 zur Prozessvertretung zugelassenen Personen.

(3) Wer nicht im Inland wohnt, hat auf Verlangen einen Zustellungsbevollmächtigten zu bestellen.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landes-sozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Vormerkung rentenrechtlicher Zeiten. Mit der Revision wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Berufungsrücknahme.

2

Mit Bescheid vom 4.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs 5 SGB VI die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen Daten für den Zeitraum bis zum 31.12.1996 verbindlich fest.

3

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.6.2007 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger weder seinen Widerspruch noch die Klage begründet habe. Mangels Begründung sei nicht ersichtlich, inwieweit die Feststellung der Daten im Versicherungskonto rechtswidrig sein solle.

4

Im Berufungsverfahren hat das LSG den Kläger mehrmals vergeblich an die Vorlage der Berufungsbegründung erinnert. Die Geschäftsstelle des LSG-Senats hat mit Schreiben vom 19.8.2008, das auf einer durch den Berichterstatter unterschriebenen Verfügung vom selben Tage beruhte und mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnet war, den Kläger aufgefordert, (unter Hinweis auf § 153 Abs 1, § 106a SGG: bis zum 19.9.2008) die Tatsachen anzugeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühle. Des Weiteren hat sie ihn darauf hingewiesen, dass die Berufung nach § 102 Abs 2 Satz 1, § 153 Abs 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn er das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate (gerechnet ab Zugang dieser Verfügung) nicht betreibe, dh die Berufung nicht begründe. Auf das ihm am 21.8.2008 zugestellte Schreiben hat sich der Kläger nicht zur Sache geäußert.

5

Am 16.12.2008 hat das LSG den Beteiligten mitgeteilt, dass die Berufung als zurückgenommen gelte. Hiergegen hat sich der Kläger mit Schriftsatz vom 21.12.2008 gewandt; er habe seine Berufung keinesfalls zurückgenommen, sondern warte auf einen Gerichtstermin. In der mündlichen Verhandlung vom 18.3.2009 hat er erklärt, der Versicherungsverlauf sei fehlerhaft, da dort (im Einzelnen bezeichnete) Zeiten der Arbeitslosigkeit und eines Rentenbezugs nicht angegeben seien.

6

Mit Urteil vom selben Tage hat das LSG festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Berufungsrücknahme erledigt sei. Die Vorschrift des § 102 Abs 2 SGG gelte gemäß § 153 Abs 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" iS von § 153 Abs 1 SGG. Nicht zu folgen sei der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme enthalte. Offenbar habe der Gesetzgeber übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung. Es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei.

7

Die Voraussetzungen für eine Fiktion der Berufungsrücknahme seien erfüllt. Der Kläger habe innerhalb der ihm gesetzten Frist keine das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Nur mit entsprechender Mitwirkung des Versicherten durch Angaben zu den streitigen Zeiten seien weitere Ermittlungen des Versicherungsträgers ohne Beschränkung auf zugängliche Daten möglich. Entsprechendes gelte für eine sinnvolle gerichtliche Überprüfung des Vormerkungsbescheids. Trotz entsprechender Aufforderung habe der Kläger innerhalb der gesetzten Frist das Verfahren nicht durch Begründung der Berufung betrieben.

8

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 156, § 153 Abs 1 und § 102 Abs 2 SGG. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG sei nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG auf das Berufungsverfahren entsprechend anwendbar. In das SGG sei keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme aufgenommen worden. Die Berufungsrücknahme sei im sozialgerichtlichem Verfahren in § 156 SGG speziell und abschließend geregelt, was die Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ausschließe. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den nach § 102 Abs 2 SGG vorausgesetzten Wegfall des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung habe das LSG nicht festgestellt.

9

           

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des LSG Hamburg vom 18.3.2009 und den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 4.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 zu verpflichten, für die Zeiten vom 12.2.1993 bis 21.6.1994 eine Anrechnungszeit wegen Rentenbezugs nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB VI vorzumerken;
hilfsweise, das Urteil des LSG vom 18.3.2009 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

10

           

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die zulässige Revision des Klägers hat iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Berufung erledigt sei. Denn dafür fehlt es im SGG an einer gesetzlichen Grundlage (1.). Auch eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG (Klagerücknahmefiktion) kommt iS einer Fiktion der Rücknahme der Berufung bei Nichtbetreiben nicht in Betracht (2.). Überdies wären die Voraussetzungen für den Eintritt einer - unterstelltermaßen entsprechend § 102 Abs 2 Satz 1 SGG möglichen - Rücknahmefiktion nicht gegeben (3.).

15

           

1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444) wurde mit Wirkung vom 1.4.2008 in Abs 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet:
"Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen."
Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG). Eine Regelung zur Fiktion der Berufungsrücknahme hat der Gesetzgeber im SGG hingegen nicht getroffen.

16

2. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG ist nicht iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden.

17

Nach § 153 Abs 1 SGG gelten für das Verfahren vor den Landessozialgerichten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 SGG entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt (= Erster Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Bestimmungen über die Berufung in den §§ 143 bis 159 SGG umfasst) nichts anderes ergibt. Bei den in Bezug genommenen "Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" handelt es sich um die im Vierten Unterabschnitt des Ersten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG aufgeführten Vorschriften der §§ 87 bis 122 SGG(BSG Urteil vom 5.7.1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2 S 2). Danach ist zwar auch § 102 SGG grundsätzlich nicht von der Anordnung der entsprechenden Geltung im Berufungsverfahren ausgenommen. Die Vorschrift über die Fiktion der Klagerücknahme in § 102 Abs 2 SGG ist jedoch nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG im LSG-Verfahren iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme entsprechend anwendbar.

18

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes (a), der Entstehungsgeschichte der Norm (b), dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO (c), einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut (d) und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion (e).

19

a) Schon der Wortlaut des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, wonach die "Klage" und nicht die "Berufung" als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, steht einer gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechenden Anwendung dieser Regelung auf die Berufung entgegen.

20

Über § 153 Abs 1 SGG kann nicht das Wort "Berufung" in § 102 Abs 2 SGG hineingelesen werden(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463). Denn auch andere Vorschriften über "das Verfahren im ersten Rechtszug", deren entsprechende Geltung § 153 Abs 1 SGG bestimmt und die Regelungen über die "Klage" enthalten, sind im Berufungsverfahren nicht derart erweiternd anzuwenden. Die entsprechende Geltung dieser Vorschriften (zB Klageänderung nach § 99 SGG oder Widerklage nach § 100 SGG) gemäß § 153 Abs 1 SGG umfasst keine Ersetzung des Begriffs "Klage" durch "Berufung". Ein Grund für eine unterschiedliche Auslegung je nachdem, welche Norm in Bezug genommen wird, ist nicht ersichtlich.

21

Überdies findet sich im Ersten Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Vorschriften für das Verfahren der Berufung umfasst, für die Berufung in § 156 SGG eine spezielle Regelung über ihre "Zurücknahme". Eine § 102 Abs 2 SGG entsprechende Bestimmung für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben enthält die Norm aber nicht. Schon von daher trifft die Ansicht des LSG nicht zu, aus den entsprechenden Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich "nichts anderes" iS des § 153 Abs 1 SGG(aA auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - Juris RdNr 32, ohne eigenständige Begründung unter Hinweis auf das hier angefochtene LSG-Urteil).

22

b) Aus den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren ergeben sich keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 102 Abs 2 SGG in entsprechender Anwendung gemäß § 153 Abs 1 SGG auf die Berufungsrücknahme ausdehnen wollte.

23

Ziel des SGGArbGGÄndG war es, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Dies sollte durch eine Vielzahl von Maßnahmen geschehen. Die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion zur Entlastung der Landessozialgerichte war aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13 f); insoweit sah dieser zur Entlastung der Sozialgerichte und Straffung des dortigen Verfahrens lediglich die Fiktion einer Klagerücknahme vor (BT-Drucks 16/7716 S 13). Eine fiktive Berufungsrücknahme wurde auch - soweit ersichtlich - im gesamten Gesetzgebungsverfahren weder im Bundesrat noch in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestags erörtert.

24

           

In der Einleitung der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG, der in seinem Satz 1 mit der späteren Gesetzesfassung übereinstimmt, wie folgt(BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>):

 "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen …"

25

           

Die Begründung schließt mit dem Hinweis (aaO, S 20):

 "… Die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme gelten auch im einstweiligen Rechtsschutz."

26

Demnach sollen zwar die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung finden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rücknahmefiktion - unabhängig davon, ob eine solche dort überhaupt praktische Relevanz haben kann (vgl hierzu Bienert, NZS 2009, 554, 559; Leopold, SGb 2009, 458, 462, ua mit dem Hinweis, dass das gerichtliche Abwarten der in § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genannten Dreimonatsfrist nicht zum Eilcharakter des Verfahrens "passt") - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG zulässig ist(bejahend Bienert, aaO; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 102 RdNr 8; verneinend Leopold, aaO). Jedenfalls findet sich kein Hinweis dafür, dass § 102 Abs 2 SGG iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar sein soll. Vielmehr wird dort nur verlautbart, dass in § 102 Abs 2 SGG die "Fiktion einer Klagerücknahme … eingeführt" wird und diese "angelehnt" ist an § 92 Abs 2 VwGO; ersichtlich sollte somit der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs 2 VwGO in das SGG "übernommen" werden. Die "Fiktion einer Berufungsrücknahme" wird nicht erwähnt; ebenso wird an keiner Stelle ein Bezug zur Regelung der Berufungsrücknahmefiktion in § 126 Abs 2 VwGO hergestellt. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen Materialien zum SGGArbGGÄndG (Stellungnahme des Bundesrats Drucks 16/7716 s 29 f>; Gegenäußerung der Bundesregierung ; zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag vom 17.1.2008, Plenarprotokoll 16/136 S 14417 - 14422 (Anlage 6); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 20.2.2008 ). Auch sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass nach dem "Willen" des Gesetzgebers eine "fiktive Berufungsrücknahme" in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ermöglicht werden sollte.

27

c) Der Vergleich mit den in der VwGO normierten Rücknahmefiktionen spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fiktion der Berufungsrücknahme im SGG ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung.

28

Die Klagerücknahmefiktion in § 92 Abs 2 VwGO wurde durch das Sechste Gesetz zur Änderung der VwGO und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) mit Wirkung vom 1.1.1997 in Anlehnung an den bereits seit 1.7.1992 geltenden § 81 AsylVfG in die VwGO eingefügt(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 12 zu Nummer 10 <§ 92 VwGO>). Nach § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren länger als zwei Monate (in Verfahren nach dem AsylVfG gemäß § 81 Satz 1 AsylVfG länger als einen Monat) nicht betreibt.

29

Gleichzeitig wurde durch das 6. VwGOÄndG für die Berufung eine "gesetzliche Rücknahmefiktion" in § 126 Abs 2 VwGO aufgenommen und die Regelung in § 92 Abs 2 VwGO insoweit "ergänzt"(Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 13 zu Nummer 17 <§ 126 VwGO>). Nach Satz 1 dieser Bestimmung gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

30

Die eigenständige gesetzliche Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme in § 126 Abs 2 VwGO macht deutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeine Verweisung in § 125 Abs 1 VwGO auf die Vorschriften des Verfahrens im ersten Rechtszug der VwGO, zu denen auch § 92 Abs 2 VwGO gehört, als nicht ausreichend angesehen hat (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 156 RdNr 16; Leopold, SGb 2009, 458, 463). Vielmehr hat er für die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion einen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungsbedarf angenommen.

31

Der Verzicht des SGGArbGGÄndG auf eine Ergänzung des § 156 SGG um eine Rücknahmefiktion für die Berufung in Kenntnis des Umstands, dass eine solche in der Parallelvorschrift der VwGO zu § 156 SGG, nämlich in § 126 VwGO, ausdrücklich geregelt worden ist, bestätigt die Annahme, dass diese "Unvollständigkeit" beabsichtigt war und der Gesetzgeber im SGG lediglich die Möglichkeit einer Fiktion der Klagerücknahme eröffnen wollte, entgegen der Ansicht des LSG also gerade keine "planwidrige Regelungslücke" vorliegt. Hätte er die Berufungsrücknahmefiktion "gewollt", wäre gerade wegen der weitgehenden Parallelität zur VwGO eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen(vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16).

32

Sollte der Gesetzgeber gleichwohl - anders als in der VwGO - eine ausdrückliche Regelung im SGG für entbehrlich gehalten haben, hätte es zumindest eines deutlichen Hinweises bedurft. Dieser fehlt jedoch. Keinesfalls kann daraus jedoch, wie das LSG offenbar meint, ein "Wille" des Gesetzgebers für eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben hergeleitet werden. Vielmehr dürfte das "Schweigen" sowohl in § 156 SGG als auch in den Materialien zum SGGArbGGÄndG schon eher als "beredtes Schweigen" zu werten sein(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463).

33

Dem Gesetzgeber war im Übrigen der Regelungszusammenhang zwischen erst- und zweitinstanzlichem Verfahren durchaus bewusst; dies belegt die mit dem SGGArbGGÄndG erfolgte Einfügung des § 157a SGG für das Berufungsverfahren gleichzeitig mit der ebenfalls durch dieses Gesetz für das erstinstanzliche Verfahren eingeführten Bestimmung des § 106a SGG zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens (vgl auch Leopold, SGb 2009, 458, 463). Ausdrücklich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 16/7716 S 22 zu Nummer 27 <§ 157a>): "Folgeänderung wegen der Einführung der Präklusionsvorschrift in § 106a im erstinstanzlichen Verfahren. Dies zieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorschrift im Rechtsmittelverfahren nach sich …".

34

d) Dass der Gesetzgeber auf die Regelung einer Fiktion der Berufungsrücknahme verzichtet hat, mag möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass nach dem SGG eine Klagerücknahme ohne Zustimmung der/des Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgen kann (so Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 16). Auf dieser Grundlage hält die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum auch eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren für zulässig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b und § 156 RdNr 1b; Roller, aaO; Eschner in Jansen, SGG, 3. Aufl 2008, § 102 RdNr 4; Hauck in Zeihe, SGG, Stand 2009, § 102 RdNr 12; Bienert, NZS 2009, 554, 558; kritisch Leopold, SGb 2009, 458, 463; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118).

35

Der Senat kann offen lassen, ob er sich dieser Rechtsansicht anschließt; denn das LSG hat nicht festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist. Er neigt jedoch dazu, ihr jedenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Denn § 102 Abs 2 Satz 1 SGG wird nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, sofern die Rücknahmefiktion in der zweiten Instanz die Klage betrifft. Der Übernahme einer § 126 Abs 2 Satz 1 VwGO entsprechenden Regelung bedurfte es insoweit nicht(Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12).

36

Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) klargestellt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. SGGÄndG, BT-Drucks 14/5943 S 26 zu Nummer 38 <§ 102>), entsprach aber auch schon der Rechtsprechung des BSG zur früheren Fassung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach der Kläger die Klage "bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung" zurücknehmen konnte(s hierzu BSG Beschluss vom 27.9.1983 - 8 BK 16/82 - SozR 1500 § 102 Nr 5 S 10). Der Kläger kann daher auch noch im Berufungsverfahren die Klage ganz oder - wenn der Streitgegenstand teilbar ist - teilweise (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 4; Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 4)zurücknehmen mit der Folge, dass die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 202 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 ZPO ganz oder - bei teilweiser Klagerücknahme - teilweise wirkungslos wird.

37

Ist aber eine Klagerücknahme nach § 102 Abs 1 Satz 1 SGG im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § 102 Abs 2 Satz 2 SGG für die Klagerücknahmefiktion, dass Abs 1 entsprechend gilt, ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb die Fiktion der Rücknahme der Klage bei ganz oder teilweisem Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht (grundsätzlich) auch im Berufungsverfahren in Betracht kommen kann. Denn auch im Rechtsmittelverfahren muss das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der von ihm in erster Instanz erhobenen Klage stets fortbestehen.

38

Allerdings dürfte nach Einlegung einer Berufung gegen ein klageabweisendes erstinstanzliches Urteil ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, also ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen sein (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b; Leopold, SGb 2009, 458, 463; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12, mit dem Hinweis, dass im Rechtsmittelverfahren "eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen" seien; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118). Dies gilt vor allem dann, wenn der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren teilweise Erfolg hatte, entzöge die Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren doch dem zusprechenden Teil des erstinstanzlichen Urteils die Rechtswirkung. Die Annahme, dass ein Kläger, der ein Berufungsverfahren trotz Aufforderung nicht betreibt, durch das Nichtbetreiben auch die für ihn positiven Folgen der erstinstanzlichen Entscheidung zum Wegfall bringen und damit so gestellt werden möchte, als ob er die Klage nie erhoben hätte, dürfte nur schwerlich zu begründen sein (vgl Schafhausen, aaO; Leopold, aaO). In Betracht käme in diesen Fällen freilich eine Fiktion der teilweisen Klagerücknahme bezogen auf den klageabweisenden Teil der SG-Entscheidung.

39

e) Schließlich berücksichtigt nur die Rechtsauffassung, dass § 102 Abs 2 SGG nicht iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar ist, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG für die Auslegung und Anwendung von gesetzlichen Regelungen über die Beendigung eines Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Vorschriften dieser Art haben nämlich strengen Ausnahmecharakter. Da sie einschneidende Rechtsfolgen für die betroffenen Beteiligten nach sich ziehen, bedürfen sie in besonderem Maße der Rechtsklarheit.

40

Das BVerfG (Kammer) hat in seinem Beschluss vom 27.10.1998 (2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167) darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art 19 Abs 4 GG jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat es festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist.

41

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 81 AsylVfG, § 92 Abs 2 VwGO, § 126 Abs 2 VwGO und in § 102 Abs 2 SGG gefunden. Denn diese Bestimmungen, die eine Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren zur Folge haben, unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.

42

Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass hiervon ausgehende Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art 19 Abs 4 GG vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl bereits BVerfG Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BVerfG Beschluss vom 15.8.1984 - 2 BvR 357/84 - DVBl 1984, 1005; BVerfG Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Auch in der Literatur besteht über den Ausnahmecharakter und ein von Verfassungs wegen gebotenes enges Verständnis gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen Einigkeit (vgl zu § 102 Abs 2 SGG: Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 17; Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16; Berchtold in Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 5 RdNr 586; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8a; Leitherer, NJW 2008, 1258, 1260; Hauck in Hennig, SGG, Stand: 2010, § 102 RdNr 29; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VII RdNr 170a; Schafhausen, ASR 2010, 112, 115; Leopold, SGb 2009, 458, 459; Bienert, NZS 2009, 554, 555; Becker, SGb 2009, 267, 269; Tabbara, NZS 2008, 8, 10; Francke, ASR 2008, 127, 128; vgl zu § 92 Abs 2 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 92 RdNr 18; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2009, § 92 RdNr 39).

43

Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG(Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>).

44

Ist dies aber der Fall, verbietet es sich, § 102 Abs 2 SGG als Sonder- und Ausnahmeregelung über seinen ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich hinaus erweiternd auszulegen und anzuwenden. Vielmehr ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geradezu geboten, wollte man auch im SGG eine Fiktion der Rücknahme der Berufung wegen Nichtbetreibens ermöglichen, hierfür - wie in der VwGO durch Einfügung des § 126 Abs 2 VwGO geschehen - eine eigenständige gesetzliche Grundlage zu schaffen.

45

3. Nach dem Vorstehenden braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob - wie vom LSG entschieden - die Voraussetzungen einer Fiktion einer Berufungsrücknahme bei unterstellter entsprechender Anwendbarkeit des § 102 SGG vorliegen. Gleichwohl weist der Senat darauf hin, dass, selbst wenn man der generellen Rechtsansicht des LSG folgen würde, die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch das LSG im Falle des Klägers zu Unrecht erfolgt wäre.

46

a) Zwar ist im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung das vom BVerfG für eine Rechtsmittelrücknahmefiktion geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt gewesen, dass nach dem prozessualen Verhalten des Klägers hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; vgl ebenso Senatsurteil vom heutigen Tage - B 13 R 74/09 R).

47

Denn bei Erlass der Betreibensaufforderung am 19.8.2008 waren die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Vormerkungsbescheids vom 4.11.2003 begehrte, mangels dessen Mitwirkung für das LSG nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher Aufforderung war nämlich die Berufung auch ein Jahr nach ihrer Einlegung nicht begründet worden, ebenso wenig wie der Widerspruch gegen den Vormerkungsbescheid vom 4.11.2003 oder die Klage. Das SGG enthält zwar für die Begründung der Klage und der Berufung, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften (§ 92 Abs 1 Satz 4, § 151 Abs 3 SGG: "sollen" bzw "soll"). Das Gericht hat die Beteiligten aber insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 Halbs 2 SGG ergibt. Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung ("ins Blaue hinein") zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 103 RdNr 16).

48

b) Allerdings setzt eine Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend aber nicht erfolgt. Denn jedenfalls vermag ein - wie hier - lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold SGb 2009, 458, 460; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, aaO, § 102 RdNr 11, mit dem Hinweis, die Betreibensaufforderung müsse "wenigstens die Form eines Richterbriefs" haben; s auch BGH Urteil vom 13.3.1980 - VII ZR 147/79 - BGHZ 76, 236, 241 - zur Frist gemäß § 273 Abs 2 Nr 1, § 275 Abs 1, § 296 ZPO).

49

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt im Übrigen Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 63 RdNr 3)diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.

50

4. Da der Senat über die vom Kläger geltend gemachten rentenrechtlichen Zeiten mangels entsprechender Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG nicht entscheiden konnte, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus. Die Einwilligung gilt als erteilt, wenn der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Rücknahme enthaltenden Schriftsatzes widersprochen wird; das Gericht hat auf diese Folge hinzuweisen.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Klage als zurückgenommen gilt.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluß ein und spricht die sich nach diesem Gesetz ergebenden Rechtsfolgen der Zurücknahme aus. Der Beschluß ist unanfechtbar.

(1) Die Berufung kann bis zur Rechtskraft des Urteils zurückgenommen werden. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus.

(2) Die Berufung gilt als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 gilt entsprechend. Der Berufungskläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Berufung als zurückgenommen gilt.

(3) Die Zurücknahme bewirkt den Verlust des eingelegten Rechtsmittels. Das Gericht entscheidet durch Beschluß über die Kostenfolge.

(1) Die Berufung kann bis zur Rechtskraft des Urteils oder des nach § 153 Abs. 4 oder § 158 Satz 2 ergangenen Beschlusses zurückgenommen werden. Die Zurücknahme nach Schluss der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Berufungsbeklagten voraus.

(2) Die Berufung gilt als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Der Berufungskläger ist in der Aufforderung auf die Rechtsfolgen hinzuweisen, die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Absatz 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Absatz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergeben. Das Gericht stellt durch Beschluss fest, dass die Berufung als zurückgenommen gilt.

(3) Die Zurücknahme bewirkt den Verlust des Rechtsmittels. Über die Kosten entscheidet das Gericht auf Antrag durch Beschluß.

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.

(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

(3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.

(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus. Die Einwilligung gilt als erteilt, wenn der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Rücknahme enthaltenden Schriftsatzes widersprochen wird; das Gericht hat auf diese Folge hinzuweisen.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Klage als zurückgenommen gilt.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluß ein und spricht die sich nach diesem Gesetz ergebenden Rechtsfolgen der Zurücknahme aus. Der Beschluß ist unanfechtbar.

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 16. Dezember 2010 - 5 A 1349/07 - und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 1. Juni 2011 - 3 L 44/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil und der Beschluss werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Greifswald zurückverwiesen.

Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 20. Juli 2011 - 3 L 44/11 - gegenstandslos.

...

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Antrags auf Fortsetzung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, nachdem dieses wegen Nichtbetreibens durch den Kläger mit einem Beschluss gemäß § 92 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 VwGO eingestellt worden ist.

I.

2

1. a) Der Beschwerdeführer erwarb im Jahr 1992 von der Bundesrepublik Deutschland das Eigentum an einem Grundstück auf der Insel H … . Zuvor war das Grundstück durch einen öffentlich bestellten Vermessungsingenieur abgemarkt worden.

3

Im Zusammenhang mit der beabsichtigten Veräußerung eines an das Grundstück des Beschwerdeführers angrenzenden Grundstücks führte der öffentlich bestellte Vermessungsingenieur U., der Beklagte des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Beklagter), Vermessungen zur Bestimmung der Flurstücksgrenze durch. Diese ergaben eine Grenzfeststellung, die nach Auffassung des Beschwerdeführers nicht mit derjenigen von 1992, durch einen Grenzstein dokumentierten, übereinstimmt.

4

Gegen die Grenzfeststellung erhob der Beschwerdeführer Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. September 2007 zurückwies. Die im Grenzfeststellungs- und Abmarkungsverfahren bekannt gegebenen Vermessungsergebnisse seien rechtmäßig erlassen, weil ein Vergleich der Ist-Lage der vorgefundenen und wiederhergestellten Abmarkungen der Grenzpunkte Übereinstimmung mit der Soll-Lage des Katasternachweises ergeben habe und weil der vom Beschwerdeführer angezeigte Granitgrenzstein in seiner Lage tatsächlich nicht mit dem Katasternachweis übereinstimme und keine unterirdische Vermarkung habe.

5

b) Der Beschwerdeführer erhob beim Verwaltungsgericht Klage gegen die Entscheidungen des Beklagten und begründete diese im Wesentlichen damit, die im Jahr 1992 festgestellte Grenze sei bindend. In einem Schriftsatz vom 16. Juni 2008 benannte er unter anderem seinen Vater als Zeugen für seine Behauptung, der strittige Grenzstein sei der 1992 gesetzte. Hierauf erwiderte der Beklagte mit Schriftsatz vom 3. Juli 2008; er legte dar, weshalb es sich bei dem strittigen Grenzstein nicht um den 1992 gesetzten handeln könne. Bitten des Verwaltungsgerichts an den Beschwerdeführer um Stellungnahme hierzu blieben unbeantwortet. Daraufhin erließ das Verwaltungsgericht eine Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 VwGO, die dem damaligen Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 16. Januar 2009 zugestellt wurde. Am 16. März 2009 übermittelte der Prozessbevollmächtigte einen Schriftsatz, in der zur Betreibensaufforderung wie folgt Stellung genommen wurde:

6

"Der Kläger hat seine Klage begründet und hält daran fest.

7

Der Beklagte tritt der Klage entgegen.

8

Dessen ungeachtet regen wir namens des Klägers an, in der Sache eine gerichtsnahe Mediation durchzuführen.

9

Es hat sich zur Kenntnis des Unterzeichneten erwiesen, dass das Angebot u.a. des Verwaltungsgerichts Greifswald insoweit mitunter zu Erfolgen führt."

10

c) Mit Beschluss vom 18. März 2009 entschied das Verwaltungsgericht, dass die Klage als zurückgenommen gilt, und stellte das Verfahren ein. Die Klage gelte nach § 92 Abs. 2 VwGO als zurückgenommen, da der Beschwerdeführer das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate seit Zustellung der Aufforderung nicht im Sinne dieser Aufforderung, wonach zum Vortrag des Beklagten vom 3. Juli 2008 Stellung genommen werden sollte, betrieben habe.

11

d) Mit Schreiben eines neu bestellten Prozessbevollmächtigten vom 3. Februar 2010 stellte der Beschwerdeführer den Antrag, das Verfahren fortzusetzen.

12

2. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil vom 16. Dezember 2010 bestätigte das Verwaltungsgericht den Eintritt der Rücknahmefiktion nach § 92 Abs. 2 VwGO. Der Beschwerdeführer habe das Verfahren trotz Aufforderung mehr als zwei Monate nicht im Sinne der Verfügung betrieben.

13

Die Betreibensaufforderung habe am 14. Januar 2009 an den Beschwerdeführer ergehen dürfen. Im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hätten konkrete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers bestanden.

14

Innerhalb der zweimonatigen Betreibensfrist habe sich der Beschwerdeführer lediglich mit dem am 16. März 2009 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz geäußert. Ein Betreiben im Sinne des § 92 Abs. 2 VwGO bedeute dieser Schriftsatz nicht. Soweit der damalige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 16. März 2009 mitgeteilt habe, dass der Beschwerdeführer an seiner Klage festhalte, habe diese Erklärung keinen substantiellen Aussagewert. Die gerichtliche Verfügung vom 14. Januar 2009 habe erkennbar darauf abgezielt, dass der Beschwerdeführer zu den vom Beklagten im Schreiben vom 3. Juli 2008 vorgebrachten verschiedenen Tatsachen, die den vom Beschwerdeführer als maßgeblich angesehenen Granitgrenzstein betroffen hätten, Stellung nehmen sollte. Hierzu enthalte der Schriftsatz vom 16. März 2009 aber keine Aussage. Vor dem prozessualen Hintergrund dieser Aufforderung könne der Schriftsatz letztlich nur als ein Nichtbetreiben gewertet werden.

15

3. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 1. Juni 2011 lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil ab. Die Berufung sei nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zuzulassen.

16

Das Verwaltungsgericht habe an den Beschwerdeführer eine Betreibensaufforderung richten dürfen, denn im Zeitpunkt der Aufforderung am 5. Januar 2009 hätten sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestanden. Da am 8. Juli 2008 eine sechswöchige Frist für die erbetene Stellungnahme gesetzt worden sei, an deren Erledigung durch Verfügungen vom 20. Oktober und 21. November 2008 erinnert worden sei, habe der Beschwerdeführer mit dem Unterlassen jeglicher Antwort über einen Zeitraum von circa sechs Monaten seit der Aufforderung zur Stellungnahme seine prozessuale Mitwirkungspflicht in einer Weise verletzt, die geeignet gewesen sei, die durch Stellungnahme des Beklagten zur Sache ausgelösten Zweifel an einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse zu verfestigen. Es sei nicht ersichtlich, warum es dem Beschwerdeführer in dem genannten Zeitraum nicht hätte möglich sein sollen, zu antworten. Zumindest aber habe von ihm eine Mitteilung erwartet werden können, aus welchen Gründen eine Antwort nicht möglich sei. Sein völliges Verschweigen habe deshalb den Rückschluss auf ein Desinteresse am weiteren Verfahren zugelassen.

17

Die weiteren Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO seien ebenfalls erfüllt gewesen. Um der Aufforderung zu entsprechen, hätte sich der Beschwerdeführer so substantiiert äußern müssen, dass Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses beseitigt worden wären und der äußere Anschein einer Vernachlässigung prozessualer Mitwirkungspflichten entfallen wäre. Der Anforderung an ein substantielles Vorbringen genüge es jedenfalls nicht, wenn ein Kläger auf eine konkrete Aufforderung hin lediglich mitteile, er wolle das Verfahren weiter betreiben. Im Übrigen habe der Beschwerdeführer die erbetenen Verfahrenshandlungen auch deswegen nicht vorgenommen, weil das Gericht eine inhaltliche Stellungnahme zu dem Vortrag des Beklagten mit Schriftsatz vom 3. Juli 2008 erbeten gehabt habe. Die Erklärung vom 16. März 2009 habe für ein substantielles Betreiben umso weniger ausgereicht, als dem Antwortschreiben nicht zu entnehmen gewesen sei, welche Gründe den Beschwerdeführer gehindert haben sollten und noch hinderten, sich inhaltlich zu erklären.

18

4. Die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wies das Oberveraltungsgericht mit dem schließlich auch mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 20. Juli 2011 zurück.

II.

19

1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen eine Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht seien zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 VwGO und zwar sowohl hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Betreibensaufforderung als auch hinsichtlich der Annahme des Nichtbetreibens vorgelegen hätten.

20

2. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens und das Land Mecklenburg-Vorpommern hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des gerichtlichen Ausgangsverfahrens wurden beigezogen.

21

3. Der 4. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts äußert sich in seiner Stellungnahme dahingehend, dem Verwaltungsgericht dürfte die Einstellung des Verfahrens nach § 92 Abs. 2 VwGO verwehrt gewesen sein, nachdem der Beschwerdeführer deutlich gemacht habe, dass er an seiner Klage festhalte. Der Beschwerdeführer habe hier seine Klage substantiiert und unter Beweisantritt begründet. Sein Interesse an einer weiteren Rechtsverfolgung habe er hinreichend dargetan. Es sei Sache des Gerichts, das unterschiedliche Vorbringen der Beteiligten zu bewerten.

III.

22

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme ist zur Durchsetzung eines in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechts des Beschwerdeführers angezeigt (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden, die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

23

Das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 16. Dezember 2010 und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2011 verletzen die Garantie wirksamen Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (dazu 1.). Ob sie darüber hinaus auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzen, kann offen bleiben (dazu 2.). Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts über die Anhörungsrüge gegenstandslos.

24

1. Das Verwaltungsgericht hat durch die Ablehnung des Antrags des Beschwerdeführers auf Fortsetzung des Verfahrens gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoßen; das Oberverwaltungsgericht durfte die ablehnende Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht bestätigen.

25

a) aa) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfachgesetzlichen Prozessordnungen. Der Weg zu den Gerichten, insbesondere auch zur inhaltlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung, darf von der Erfüllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden (vgl. BVerfGE 9, 194 <199 f.>; 10, 264 <267 f.>; 27, 297 <310>; 35, 65 <72 f.>). Die dem Gesetzgeber obliegende normative Ausgestaltung des Rechtswegs muss aber das Ziel dieser Rechtsgewährleistung, nämlich den wirkungsvollen Rechtsschutz, auch tatsächlich verfolgen und ermöglichen (vgl. BVerfGE 110, 77 <85>). Sie muss im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>). Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 78, 88 <99>; 110, 77 <85>; stRspr). Dieser Grundsatz gilt auch innerhalb des jeweils eingeleiteten Verfahrens selbst, soweit es darum geht, sich dort effektiv Gehör verschaffen zu können, und nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht selbst (BVerfGE 81, 123 <129>). Der gerichtlichen Durchsetzung des materiellen Anspruchs dürfen auch hier nicht unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse in den Weg gelegt werden (BVerfGE 53, 115 <127 f.>).

26

bb) Im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG setzt jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraus (vgl. BVerfGE 61, 126 <135>; 96, 27 <39 f.>; 110, 77 <85>). Nur derjenige, der mit dem von ihm angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, hat einen Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung; fehlt es daran, so ist das prozessuale Begehren als unzulässig abzuweisen.

27

Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens entfallen. Vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzinteresses kann ein Gericht im Einzelfall auch dann ausgehen, wenn das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung mangels Sachbescheidungsinteresses nicht mehr gelegen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 -, juris Rn. 17).

28

cc) Eine Regelung über eine Verfahrensbeendigung wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses ist grundsätzlich von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 <63>). Allerdings führt die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO zur Beendigung des Rechtsschutzverfahrens mit möglicherweise irreversiblen Folgen, insbesondere wenn behördliche Ausgangsentscheidungen dadurch in Bestandskraft erwachsen, ohne dass der Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hätte. Die Handhabung eines solch scharfen prozessualen Instruments muss daher im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Kläger oder Antragsteller das von ihm eingeleitete Verfahren auch durchführen will. Namentlich darf § 92 Abs. 2 VwGO nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eines Beteiligten gedeutet oder eingesetzt werden. Hierfür ist die Rücknahmefiktion nicht konzipiert. Sie soll vielmehr nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. zu § 81 AsylVfG, auf den § 92 Abs. 2 VwGO zurückgeht [BTDrucks 13/3993, S. 12], BTDrucks 12/2062, S. 42: vereinfachte Beendigung eines Verfahrens, "an dessen Fortführung der Kläger erkennbar kein Interesse mehr hat"; ferner Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 92 Rn. 3 und 46 [Stand: Januar 2012], Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 92 Rn. 18).

29

Zwar gilt auch für die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO, dass nicht jede fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts einen Verfassungsverstoß darstellt. Angesichts der gravierenden, den Rechtsschutz jedenfalls im konkreten Verfahren ohne Sachprüfung abschneidenden Wirkung dieser Vorschrift gebietet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG jedoch eine strenge Prüfung der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung des § 92 Abs. 2 VwGO durch das Bundesverfassungsgericht. Insbesondere hat es zu kontrollieren, ob die von den Verwaltungsgerichten mit Rücksicht auf die Rechtsschutzgarantie herausgearbeiteten Anforderungen an eine zulässige Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 Satz 1 und 3 VwGO gewahrt und die Voraussetzungen für die Annahme eines Nichtbetreibens nicht verfehlt, insbesondere der Vorschrift hierbei keine falsche Zielrichtung gegeben wurden. Hiernach müssen zum einen zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. Solche Anhaltspunkte sind insbesondere dann gegeben, wenn der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 -, NVwZ 2000, S. 1297 <1298>; Beschluss vom 12. April 2001 - BVerwG 8 B 2.01 -, NVwZ 2001, S. 918; Beschluss vom 7. Juli 2005 - BVerwG 10 BN 1.05 -, juris Rn. 4). Zum anderen hat ein Kläger das Verfahren nur dann nicht mehr im Sinne von § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO betrieben, wenn er innerhalb der Zwei-Monatsfrist nicht substantiiert dargetan hat, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 - BVerwG 10 BN 1.05 -, juris Rn. 7).

30

b) Hieran gemessen ist die Auffassung der Ausgangsgerichte, dass die Voraussetzungen für den Erlass einer Betreibensaufforderung gemäß § 92 Abs. 2 VwGO im Januar 2009 vorlagen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden

31

Im Schriftsatz vom 16. Juni 2008 führt der damalige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers aus, dessen Vater sei bei der seinerzeitigen Abmarkung anwesend gewesen und habe mit eigenen Augen gesehen, wie Mitarbeiter des Vermessungsingenieurs hinsichtlich des strittigen Grenzpunkts einen Aushub von circa 1 Meter vorgenommen, dort eine Flasche hineingelegt und diese zerstoßen hätten. Die Scherben der damals zerstoßenen Flasche würden sich an Ort und Stelle finden lassen.

32

In seiner Erwiderung vom 3. Juli 2008 hierauf trägt der Beklagte im Wesentlichen vor, ein Zerstoßen der Flasche sei in der Niederschrift von 1992 nicht vermerkt und wäre aus fachlicher Hinsicht auch nicht nachvollziehbar. Im August 2007 sei in Anwesenheit des Beschwerdeführers der Granitgrenzstein freigelegt worden; eine Flasche als Unterlage sei nicht vorgefunden worden. Hiervon hätten sich die Beteiligten vor Ort durch Betrachtung des Loches überzeugen können. Es müsse davon ausgegangen werden, dass dieser Granitgrenzstein nicht identisch sei mit dem 1992 verhandelten Grenzpunkt.

33

Angesichts dessen, dass der Beklagte auch unter Hinweis auf einen Ortstermin, an dem der Beschwerdeführer selbst teilnahm, die Richtigkeit einer zentralen Behauptung im Vorbringen des Beschwerdeführers in Frage stellte, lag es nahe, dass der Beschwerdeführer sich zu den Ausführungen des Beklagten äußerte. Dass er sich hierzu trotz entsprechender Bitte des Verwaltungsgerichts vom 8. Juli 2008 und zweimaliger Erinnerung (vom 20. Oktober und 21. November 2008) hieran nicht veranlasst sah, durfte das Verwaltungsgericht zum Anlass nehmen, am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers ernsthaft zu zweifeln.

34

c) Nicht mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar ist hingegen die Annahme, der Beschwerdeführer habe das Verfahren entgegen der darauf ergangenen Aufforderung des Verwaltungsgerichts nicht betrieben. Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht haben damit ein unangemessen hohes Hindernis bei der gerichtlichen Verfolgung des geltend gemachten Anspruchs errichtet.

35

Die Ausgangsgerichte haben sich bei ihren Ausführungen nicht vom Zweck des § 92 Abs. 2 VwGO leiten lassen. Dieser besteht nicht darin, den Kläger zu einer Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern in der Klärung der aufgekommenen Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 <63>).

36

Dass der Beschwerdeführer an der Verfolgung seines Rechtsschutzziels festhalten wollte, ergibt sich eindeutig aus seinem Schriftsatz vom 16. März 2009. Die Motivation des Beschwerdeführers hierfür liegt auch auf der Hand, geht es ihm im Ausgangsverfahren doch um die Klärung der Größe seines Grundstücks, die nach den Feststellungen des Beklagten um circa 1.900 Quadratmeter kleiner sein soll als von ihm angenommen.

37

Der Beschwerdeführer war angesichts der Umstände des Falles nicht verpflichtet, über den Hinweis, dass er an seiner Klage festhalte, hinausgehende Ausführungen zu machen, um den Eintritt der Rücknahmefiktion zu verhindern. Der Beschwerdeführer hatte seine Klage bereits begründet und zum Beweis der von ihm vorgebrachten Tatsachenbehauptungen seinen Vater und den im Jahr 1992 tätig gewordenen Vermessungsingenieur als Zeugen angeboten. Der Beklagte hatte die Richtigkeit der tatsächlichen Behauptungen bestritten. In einer solchen Situation ist es Aufgabe des - im Übrigen zur Amtsermittlung verpflichteten - Verwaltungsgerichts, den Sachverhalt, soweit es ihn für entscheidungserheblich hält, durch eine Beweisaufnahme aufzuklären und danach zu entscheiden. Der Weg, aufgrund einer vorweggenommenen Beweiswürdigung auf einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers zu schließen und auf diese Weise das Verfahren ohne mündlichen Verhandlung und gegebenenfalls ohne Beweisaufnahme zu beendigen, ist dem Gericht hingegen verwehrt.

38

d) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Da die Verwaltungsgerichte bisher noch nicht in der Sache entschieden und auch den Sachverhalt, soweit entscheidungserheblich, nicht aufgeklärt haben, ist nicht erkennbar, dass die Entscheidung in der Sache mit Sicherheit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausfällt.

39

e) Das Urteil des Verwaltungsgerichts und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2011 sind aufzuheben; der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 20. Juli 2011 wird dadurch gegenstandslos. Die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

40

2. Da das Verwaltungsgericht aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert war, den Eintritt der Erledigungsfiktion anzunehmen, kommt es auf die Frage, ob die Ausgangsgerichte bei ihren Entscheidungen auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt haben, nicht mehr an.

41

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts erfolgt nach § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

42

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landes-sozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Vormerkung rentenrechtlicher Zeiten. Mit der Revision wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Berufungsrücknahme.

2

Mit Bescheid vom 4.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs 5 SGB VI die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen Daten für den Zeitraum bis zum 31.12.1996 verbindlich fest.

3

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.6.2007 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger weder seinen Widerspruch noch die Klage begründet habe. Mangels Begründung sei nicht ersichtlich, inwieweit die Feststellung der Daten im Versicherungskonto rechtswidrig sein solle.

4

Im Berufungsverfahren hat das LSG den Kläger mehrmals vergeblich an die Vorlage der Berufungsbegründung erinnert. Die Geschäftsstelle des LSG-Senats hat mit Schreiben vom 19.8.2008, das auf einer durch den Berichterstatter unterschriebenen Verfügung vom selben Tage beruhte und mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnet war, den Kläger aufgefordert, (unter Hinweis auf § 153 Abs 1, § 106a SGG: bis zum 19.9.2008) die Tatsachen anzugeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühle. Des Weiteren hat sie ihn darauf hingewiesen, dass die Berufung nach § 102 Abs 2 Satz 1, § 153 Abs 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn er das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate (gerechnet ab Zugang dieser Verfügung) nicht betreibe, dh die Berufung nicht begründe. Auf das ihm am 21.8.2008 zugestellte Schreiben hat sich der Kläger nicht zur Sache geäußert.

5

Am 16.12.2008 hat das LSG den Beteiligten mitgeteilt, dass die Berufung als zurückgenommen gelte. Hiergegen hat sich der Kläger mit Schriftsatz vom 21.12.2008 gewandt; er habe seine Berufung keinesfalls zurückgenommen, sondern warte auf einen Gerichtstermin. In der mündlichen Verhandlung vom 18.3.2009 hat er erklärt, der Versicherungsverlauf sei fehlerhaft, da dort (im Einzelnen bezeichnete) Zeiten der Arbeitslosigkeit und eines Rentenbezugs nicht angegeben seien.

6

Mit Urteil vom selben Tage hat das LSG festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Berufungsrücknahme erledigt sei. Die Vorschrift des § 102 Abs 2 SGG gelte gemäß § 153 Abs 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" iS von § 153 Abs 1 SGG. Nicht zu folgen sei der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme enthalte. Offenbar habe der Gesetzgeber übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung. Es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei.

7

Die Voraussetzungen für eine Fiktion der Berufungsrücknahme seien erfüllt. Der Kläger habe innerhalb der ihm gesetzten Frist keine das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Nur mit entsprechender Mitwirkung des Versicherten durch Angaben zu den streitigen Zeiten seien weitere Ermittlungen des Versicherungsträgers ohne Beschränkung auf zugängliche Daten möglich. Entsprechendes gelte für eine sinnvolle gerichtliche Überprüfung des Vormerkungsbescheids. Trotz entsprechender Aufforderung habe der Kläger innerhalb der gesetzten Frist das Verfahren nicht durch Begründung der Berufung betrieben.

8

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 156, § 153 Abs 1 und § 102 Abs 2 SGG. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG sei nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG auf das Berufungsverfahren entsprechend anwendbar. In das SGG sei keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme aufgenommen worden. Die Berufungsrücknahme sei im sozialgerichtlichem Verfahren in § 156 SGG speziell und abschließend geregelt, was die Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ausschließe. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den nach § 102 Abs 2 SGG vorausgesetzten Wegfall des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung habe das LSG nicht festgestellt.

9

           

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des LSG Hamburg vom 18.3.2009 und den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 4.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 zu verpflichten, für die Zeiten vom 12.2.1993 bis 21.6.1994 eine Anrechnungszeit wegen Rentenbezugs nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB VI vorzumerken;
hilfsweise, das Urteil des LSG vom 18.3.2009 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

10

           

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die zulässige Revision des Klägers hat iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Berufung erledigt sei. Denn dafür fehlt es im SGG an einer gesetzlichen Grundlage (1.). Auch eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG (Klagerücknahmefiktion) kommt iS einer Fiktion der Rücknahme der Berufung bei Nichtbetreiben nicht in Betracht (2.). Überdies wären die Voraussetzungen für den Eintritt einer - unterstelltermaßen entsprechend § 102 Abs 2 Satz 1 SGG möglichen - Rücknahmefiktion nicht gegeben (3.).

15

           

1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444) wurde mit Wirkung vom 1.4.2008 in Abs 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet:
"Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen."
Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG). Eine Regelung zur Fiktion der Berufungsrücknahme hat der Gesetzgeber im SGG hingegen nicht getroffen.

16

2. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG ist nicht iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden.

17

Nach § 153 Abs 1 SGG gelten für das Verfahren vor den Landessozialgerichten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 SGG entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt (= Erster Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Bestimmungen über die Berufung in den §§ 143 bis 159 SGG umfasst) nichts anderes ergibt. Bei den in Bezug genommenen "Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" handelt es sich um die im Vierten Unterabschnitt des Ersten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG aufgeführten Vorschriften der §§ 87 bis 122 SGG(BSG Urteil vom 5.7.1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2 S 2). Danach ist zwar auch § 102 SGG grundsätzlich nicht von der Anordnung der entsprechenden Geltung im Berufungsverfahren ausgenommen. Die Vorschrift über die Fiktion der Klagerücknahme in § 102 Abs 2 SGG ist jedoch nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG im LSG-Verfahren iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme entsprechend anwendbar.

18

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes (a), der Entstehungsgeschichte der Norm (b), dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO (c), einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut (d) und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion (e).

19

a) Schon der Wortlaut des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, wonach die "Klage" und nicht die "Berufung" als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, steht einer gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechenden Anwendung dieser Regelung auf die Berufung entgegen.

20

Über § 153 Abs 1 SGG kann nicht das Wort "Berufung" in § 102 Abs 2 SGG hineingelesen werden(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463). Denn auch andere Vorschriften über "das Verfahren im ersten Rechtszug", deren entsprechende Geltung § 153 Abs 1 SGG bestimmt und die Regelungen über die "Klage" enthalten, sind im Berufungsverfahren nicht derart erweiternd anzuwenden. Die entsprechende Geltung dieser Vorschriften (zB Klageänderung nach § 99 SGG oder Widerklage nach § 100 SGG) gemäß § 153 Abs 1 SGG umfasst keine Ersetzung des Begriffs "Klage" durch "Berufung". Ein Grund für eine unterschiedliche Auslegung je nachdem, welche Norm in Bezug genommen wird, ist nicht ersichtlich.

21

Überdies findet sich im Ersten Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Vorschriften für das Verfahren der Berufung umfasst, für die Berufung in § 156 SGG eine spezielle Regelung über ihre "Zurücknahme". Eine § 102 Abs 2 SGG entsprechende Bestimmung für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben enthält die Norm aber nicht. Schon von daher trifft die Ansicht des LSG nicht zu, aus den entsprechenden Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich "nichts anderes" iS des § 153 Abs 1 SGG(aA auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - Juris RdNr 32, ohne eigenständige Begründung unter Hinweis auf das hier angefochtene LSG-Urteil).

22

b) Aus den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren ergeben sich keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 102 Abs 2 SGG in entsprechender Anwendung gemäß § 153 Abs 1 SGG auf die Berufungsrücknahme ausdehnen wollte.

23

Ziel des SGGArbGGÄndG war es, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Dies sollte durch eine Vielzahl von Maßnahmen geschehen. Die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion zur Entlastung der Landessozialgerichte war aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13 f); insoweit sah dieser zur Entlastung der Sozialgerichte und Straffung des dortigen Verfahrens lediglich die Fiktion einer Klagerücknahme vor (BT-Drucks 16/7716 S 13). Eine fiktive Berufungsrücknahme wurde auch - soweit ersichtlich - im gesamten Gesetzgebungsverfahren weder im Bundesrat noch in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestags erörtert.

24

           

In der Einleitung der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG, der in seinem Satz 1 mit der späteren Gesetzesfassung übereinstimmt, wie folgt(BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>):

 "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen …"

25

           

Die Begründung schließt mit dem Hinweis (aaO, S 20):

 "… Die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme gelten auch im einstweiligen Rechtsschutz."

26

Demnach sollen zwar die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung finden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rücknahmefiktion - unabhängig davon, ob eine solche dort überhaupt praktische Relevanz haben kann (vgl hierzu Bienert, NZS 2009, 554, 559; Leopold, SGb 2009, 458, 462, ua mit dem Hinweis, dass das gerichtliche Abwarten der in § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genannten Dreimonatsfrist nicht zum Eilcharakter des Verfahrens "passt") - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG zulässig ist(bejahend Bienert, aaO; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 102 RdNr 8; verneinend Leopold, aaO). Jedenfalls findet sich kein Hinweis dafür, dass § 102 Abs 2 SGG iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar sein soll. Vielmehr wird dort nur verlautbart, dass in § 102 Abs 2 SGG die "Fiktion einer Klagerücknahme … eingeführt" wird und diese "angelehnt" ist an § 92 Abs 2 VwGO; ersichtlich sollte somit der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs 2 VwGO in das SGG "übernommen" werden. Die "Fiktion einer Berufungsrücknahme" wird nicht erwähnt; ebenso wird an keiner Stelle ein Bezug zur Regelung der Berufungsrücknahmefiktion in § 126 Abs 2 VwGO hergestellt. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen Materialien zum SGGArbGGÄndG (Stellungnahme des Bundesrats Drucks 16/7716 s 29 f>; Gegenäußerung der Bundesregierung ; zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag vom 17.1.2008, Plenarprotokoll 16/136 S 14417 - 14422 (Anlage 6); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 20.2.2008 ). Auch sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass nach dem "Willen" des Gesetzgebers eine "fiktive Berufungsrücknahme" in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ermöglicht werden sollte.

27

c) Der Vergleich mit den in der VwGO normierten Rücknahmefiktionen spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fiktion der Berufungsrücknahme im SGG ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung.

28

Die Klagerücknahmefiktion in § 92 Abs 2 VwGO wurde durch das Sechste Gesetz zur Änderung der VwGO und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) mit Wirkung vom 1.1.1997 in Anlehnung an den bereits seit 1.7.1992 geltenden § 81 AsylVfG in die VwGO eingefügt(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 12 zu Nummer 10 <§ 92 VwGO>). Nach § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren länger als zwei Monate (in Verfahren nach dem AsylVfG gemäß § 81 Satz 1 AsylVfG länger als einen Monat) nicht betreibt.

29

Gleichzeitig wurde durch das 6. VwGOÄndG für die Berufung eine "gesetzliche Rücknahmefiktion" in § 126 Abs 2 VwGO aufgenommen und die Regelung in § 92 Abs 2 VwGO insoweit "ergänzt"(Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 13 zu Nummer 17 <§ 126 VwGO>). Nach Satz 1 dieser Bestimmung gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

30

Die eigenständige gesetzliche Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme in § 126 Abs 2 VwGO macht deutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeine Verweisung in § 125 Abs 1 VwGO auf die Vorschriften des Verfahrens im ersten Rechtszug der VwGO, zu denen auch § 92 Abs 2 VwGO gehört, als nicht ausreichend angesehen hat (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 156 RdNr 16; Leopold, SGb 2009, 458, 463). Vielmehr hat er für die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion einen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungsbedarf angenommen.

31

Der Verzicht des SGGArbGGÄndG auf eine Ergänzung des § 156 SGG um eine Rücknahmefiktion für die Berufung in Kenntnis des Umstands, dass eine solche in der Parallelvorschrift der VwGO zu § 156 SGG, nämlich in § 126 VwGO, ausdrücklich geregelt worden ist, bestätigt die Annahme, dass diese "Unvollständigkeit" beabsichtigt war und der Gesetzgeber im SGG lediglich die Möglichkeit einer Fiktion der Klagerücknahme eröffnen wollte, entgegen der Ansicht des LSG also gerade keine "planwidrige Regelungslücke" vorliegt. Hätte er die Berufungsrücknahmefiktion "gewollt", wäre gerade wegen der weitgehenden Parallelität zur VwGO eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen(vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16).

32

Sollte der Gesetzgeber gleichwohl - anders als in der VwGO - eine ausdrückliche Regelung im SGG für entbehrlich gehalten haben, hätte es zumindest eines deutlichen Hinweises bedurft. Dieser fehlt jedoch. Keinesfalls kann daraus jedoch, wie das LSG offenbar meint, ein "Wille" des Gesetzgebers für eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben hergeleitet werden. Vielmehr dürfte das "Schweigen" sowohl in § 156 SGG als auch in den Materialien zum SGGArbGGÄndG schon eher als "beredtes Schweigen" zu werten sein(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463).

33

Dem Gesetzgeber war im Übrigen der Regelungszusammenhang zwischen erst- und zweitinstanzlichem Verfahren durchaus bewusst; dies belegt die mit dem SGGArbGGÄndG erfolgte Einfügung des § 157a SGG für das Berufungsverfahren gleichzeitig mit der ebenfalls durch dieses Gesetz für das erstinstanzliche Verfahren eingeführten Bestimmung des § 106a SGG zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens (vgl auch Leopold, SGb 2009, 458, 463). Ausdrücklich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 16/7716 S 22 zu Nummer 27 <§ 157a>): "Folgeänderung wegen der Einführung der Präklusionsvorschrift in § 106a im erstinstanzlichen Verfahren. Dies zieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorschrift im Rechtsmittelverfahren nach sich …".

34

d) Dass der Gesetzgeber auf die Regelung einer Fiktion der Berufungsrücknahme verzichtet hat, mag möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass nach dem SGG eine Klagerücknahme ohne Zustimmung der/des Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgen kann (so Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 16). Auf dieser Grundlage hält die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum auch eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren für zulässig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b und § 156 RdNr 1b; Roller, aaO; Eschner in Jansen, SGG, 3. Aufl 2008, § 102 RdNr 4; Hauck in Zeihe, SGG, Stand 2009, § 102 RdNr 12; Bienert, NZS 2009, 554, 558; kritisch Leopold, SGb 2009, 458, 463; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118).

35

Der Senat kann offen lassen, ob er sich dieser Rechtsansicht anschließt; denn das LSG hat nicht festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist. Er neigt jedoch dazu, ihr jedenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Denn § 102 Abs 2 Satz 1 SGG wird nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, sofern die Rücknahmefiktion in der zweiten Instanz die Klage betrifft. Der Übernahme einer § 126 Abs 2 Satz 1 VwGO entsprechenden Regelung bedurfte es insoweit nicht(Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12).

36

Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) klargestellt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. SGGÄndG, BT-Drucks 14/5943 S 26 zu Nummer 38 <§ 102>), entsprach aber auch schon der Rechtsprechung des BSG zur früheren Fassung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach der Kläger die Klage "bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung" zurücknehmen konnte(s hierzu BSG Beschluss vom 27.9.1983 - 8 BK 16/82 - SozR 1500 § 102 Nr 5 S 10). Der Kläger kann daher auch noch im Berufungsverfahren die Klage ganz oder - wenn der Streitgegenstand teilbar ist - teilweise (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 4; Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 4)zurücknehmen mit der Folge, dass die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 202 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 ZPO ganz oder - bei teilweiser Klagerücknahme - teilweise wirkungslos wird.

37

Ist aber eine Klagerücknahme nach § 102 Abs 1 Satz 1 SGG im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § 102 Abs 2 Satz 2 SGG für die Klagerücknahmefiktion, dass Abs 1 entsprechend gilt, ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb die Fiktion der Rücknahme der Klage bei ganz oder teilweisem Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht (grundsätzlich) auch im Berufungsverfahren in Betracht kommen kann. Denn auch im Rechtsmittelverfahren muss das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der von ihm in erster Instanz erhobenen Klage stets fortbestehen.

38

Allerdings dürfte nach Einlegung einer Berufung gegen ein klageabweisendes erstinstanzliches Urteil ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, also ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen sein (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b; Leopold, SGb 2009, 458, 463; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12, mit dem Hinweis, dass im Rechtsmittelverfahren "eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen" seien; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118). Dies gilt vor allem dann, wenn der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren teilweise Erfolg hatte, entzöge die Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren doch dem zusprechenden Teil des erstinstanzlichen Urteils die Rechtswirkung. Die Annahme, dass ein Kläger, der ein Berufungsverfahren trotz Aufforderung nicht betreibt, durch das Nichtbetreiben auch die für ihn positiven Folgen der erstinstanzlichen Entscheidung zum Wegfall bringen und damit so gestellt werden möchte, als ob er die Klage nie erhoben hätte, dürfte nur schwerlich zu begründen sein (vgl Schafhausen, aaO; Leopold, aaO). In Betracht käme in diesen Fällen freilich eine Fiktion der teilweisen Klagerücknahme bezogen auf den klageabweisenden Teil der SG-Entscheidung.

39

e) Schließlich berücksichtigt nur die Rechtsauffassung, dass § 102 Abs 2 SGG nicht iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar ist, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG für die Auslegung und Anwendung von gesetzlichen Regelungen über die Beendigung eines Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Vorschriften dieser Art haben nämlich strengen Ausnahmecharakter. Da sie einschneidende Rechtsfolgen für die betroffenen Beteiligten nach sich ziehen, bedürfen sie in besonderem Maße der Rechtsklarheit.

40

Das BVerfG (Kammer) hat in seinem Beschluss vom 27.10.1998 (2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167) darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art 19 Abs 4 GG jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat es festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist.

41

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 81 AsylVfG, § 92 Abs 2 VwGO, § 126 Abs 2 VwGO und in § 102 Abs 2 SGG gefunden. Denn diese Bestimmungen, die eine Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren zur Folge haben, unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.

42

Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass hiervon ausgehende Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art 19 Abs 4 GG vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl bereits BVerfG Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BVerfG Beschluss vom 15.8.1984 - 2 BvR 357/84 - DVBl 1984, 1005; BVerfG Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Auch in der Literatur besteht über den Ausnahmecharakter und ein von Verfassungs wegen gebotenes enges Verständnis gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen Einigkeit (vgl zu § 102 Abs 2 SGG: Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 17; Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16; Berchtold in Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 5 RdNr 586; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8a; Leitherer, NJW 2008, 1258, 1260; Hauck in Hennig, SGG, Stand: 2010, § 102 RdNr 29; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VII RdNr 170a; Schafhausen, ASR 2010, 112, 115; Leopold, SGb 2009, 458, 459; Bienert, NZS 2009, 554, 555; Becker, SGb 2009, 267, 269; Tabbara, NZS 2008, 8, 10; Francke, ASR 2008, 127, 128; vgl zu § 92 Abs 2 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 92 RdNr 18; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2009, § 92 RdNr 39).

43

Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG(Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>).

44

Ist dies aber der Fall, verbietet es sich, § 102 Abs 2 SGG als Sonder- und Ausnahmeregelung über seinen ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich hinaus erweiternd auszulegen und anzuwenden. Vielmehr ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geradezu geboten, wollte man auch im SGG eine Fiktion der Rücknahme der Berufung wegen Nichtbetreibens ermöglichen, hierfür - wie in der VwGO durch Einfügung des § 126 Abs 2 VwGO geschehen - eine eigenständige gesetzliche Grundlage zu schaffen.

45

3. Nach dem Vorstehenden braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob - wie vom LSG entschieden - die Voraussetzungen einer Fiktion einer Berufungsrücknahme bei unterstellter entsprechender Anwendbarkeit des § 102 SGG vorliegen. Gleichwohl weist der Senat darauf hin, dass, selbst wenn man der generellen Rechtsansicht des LSG folgen würde, die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch das LSG im Falle des Klägers zu Unrecht erfolgt wäre.

46

a) Zwar ist im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung das vom BVerfG für eine Rechtsmittelrücknahmefiktion geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt gewesen, dass nach dem prozessualen Verhalten des Klägers hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; vgl ebenso Senatsurteil vom heutigen Tage - B 13 R 74/09 R).

47

Denn bei Erlass der Betreibensaufforderung am 19.8.2008 waren die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Vormerkungsbescheids vom 4.11.2003 begehrte, mangels dessen Mitwirkung für das LSG nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher Aufforderung war nämlich die Berufung auch ein Jahr nach ihrer Einlegung nicht begründet worden, ebenso wenig wie der Widerspruch gegen den Vormerkungsbescheid vom 4.11.2003 oder die Klage. Das SGG enthält zwar für die Begründung der Klage und der Berufung, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften (§ 92 Abs 1 Satz 4, § 151 Abs 3 SGG: "sollen" bzw "soll"). Das Gericht hat die Beteiligten aber insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 Halbs 2 SGG ergibt. Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung ("ins Blaue hinein") zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 103 RdNr 16).

48

b) Allerdings setzt eine Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend aber nicht erfolgt. Denn jedenfalls vermag ein - wie hier - lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold SGb 2009, 458, 460; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, aaO, § 102 RdNr 11, mit dem Hinweis, die Betreibensaufforderung müsse "wenigstens die Form eines Richterbriefs" haben; s auch BGH Urteil vom 13.3.1980 - VII ZR 147/79 - BGHZ 76, 236, 241 - zur Frist gemäß § 273 Abs 2 Nr 1, § 275 Abs 1, § 296 ZPO).

49

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt im Übrigen Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 63 RdNr 3)diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.

50

4. Da der Senat über die vom Kläger geltend gemachten rentenrechtlichen Zeiten mangels entsprechender Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG nicht entscheiden konnte, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

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Tenor

1. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 06.02.2012 wird aufgehoben.

2. Es wird festgestellt, dass das Verfahren S 14 AS 1884/11 vor dem Sozialgericht Speyer fortzuführen ist.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob das Verfahren in der ersten Instanz durch Klagerücknahmefiktion nach § 102 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erledigt ist.

2

Mit Bescheid vom 03.11.2010 hob der Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom 01.03.2009 bis 20.04.2009 teilweise in Höhe von 452,80 EUR auf und forderte diese von der Klägerin zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, sie habe während des genannten Zeitraums Einkommen aus einer Beschäftigung in einem Café erzielt und sei daher nicht in bisher festgestellter Höhe hilfebedürftig i. S. d. § 9 SGB II.

3

Der Beklagte stützte sich insoweit auf eine Meldebescheinigung zur Sozialversicherung vom 27.04.2009 des Arbeitgebers J K , wonach die Klägerin vom 11.03. bis 30.04.2009 bei ihm beschäftigt gewesen sei und dafür 699,00 EUR erhalten habe, sowie auf eine weitere Auskunft von diesem, nach der die Klägerin im Café V gearbeitet und dafür im März 300,00 EUR und im April 399,00 EUR bekommen habe.

4

Die Klägerin erhob dagegen Widerspruch. Bei einer persönlichen Vorsprache am 08.11.2010 gab sie gegenüber dem Beklagten an, sie habe nur im März 2009 in dem Café gearbeitet; im April nicht mehr. Im März habe sie ca 200,00 EUR bekommen, die ihr bar abends nach der Schicht ausgezahlt worden seien. Ab dem 20.04.2009 habe sie in Vollzeit eine Meisterschule besucht und in dem Café nicht mehr arbeiten können.

5

Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 11.11.2010 mit der Begründung zurückgewiesen, die Beschäftigung der Klägerin sei durch einen Datenabgleich mit dem Rentenversicherungsträger bekannt geworden. Der Beklagte habe das von der Firma gemeldete Arbeitsentgelt zugrunde gelegt.

6

Am 27.12.2010 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Speyer erhoben und nochmals darauf hingewiesen, dass sie im April 2009 nicht mehr gearbeitet habe. Durch gerichtliches Schreiben vom 22.02.2011 ist die Klägerin aufgefordert worden, bis zum 30.03.2011 zu belegen, dass sie im Monat April 2010 kein Arbeitsentgelt bezogen habe. Mit Schreiben vom 13.04.2011 ist sie nochmals daran erinnert worden. Mit Schreiben vom 17.05.2011 hat die Vorsitzende der 14. Kammer des Sozialgerichts Speyer letztmals aufgefordert, auf das Schreiben zu antworten. Die Klage gelte gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen, wenn das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betrieben werde. Dieses Schreiben ist der Klägerin am 19.05.2011 zugestellt worden.

7

Am 01.09.2011 hat die Vorsitzende eine Verfügung unterzeichnet, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme am 22.08.2011 erledigt sei. Mit gerichtlichem Schreiben vom 01.09.2011 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden.

8

Am 28.09.2011 hat die Klägerin gegen den "Beschluss des Sozialgerichts Speyer vom 01.09.2011" Beschwerde eingelegt. Zur Begründung ist vorgetragen worden, die Klagerücknahmefiktion könne nicht greifen, nachdem die Auflage des Gerichtes, den Kontoauszug für April vorzulegen, am 17.03.2011 erfüllt worden sei. Der erkennende Senat des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz hat die Beschwerde durch Beschluss vom 10.11.2011 wegen Fehlens einer beschwerdefähigen Entscheidung des Sozialgerichts als unzulässig verworfen.

9

Mit Schreiben vom 21.12.2011 hat die Klägerin beim Sozialgericht Speyer den Antrag gestellt, das Verfahren fortzuführen.

10

Nach Anhörung zur geplanten Entscheidung durch Gerichtsbescheid hat das Sozialgericht Speyer durch Gerichtsbescheid am 06.02.2012 festgestellt, dass die Klage zurückgenommen worden ist. Die am 27.12.2010 erhobene Klage habe sich durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG erledigt. Danach gelte die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibe. Ein Nichtbetreiben liege vor, wenn sich der Kläger auf die Aufforderung innerhalb von 3 Monaten nicht oder nur unzureichend geäußert habe. Vorliegend sei die Klägerin aufgefordert gewesen zu belegen, dass sie im April 2010 kein Arbeitsentgelt bezogen habe. Entgegen der Behauptung des Prozessbevollmächtigten sei der Kontoauszug für April 2010 nicht eingegangen. Das Hinweisschreiben gemäß § 102 Abs. 2 SGG sei dem Prozessbevollmächtigten am 19.05.2011 zugestellt worden, sodass die Klagerücknahmefiktion mit Ablauf des 19.08.2011 eingetreten sei.

11

Gegen den ihr am 14.02.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 10.03.2012 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, das Verfahren hätte fortgeführt werden müssen.

12

Mit Schreiben vom 01.06.2012 ist der Prozessbevollmächtigte darauf hingewiesen worden, dass Zweifel an der Zulässigkeit der Berufung bestünden, da es in der Sache um einen Verwaltungsakt gehe, durch den Leistungen in Höhe von 452,80 EUR aufgehoben wurden. Es ist Gelegenheit gegeben worden, bis zum 01.07.2012 dazu Stellung zu nehmen sowie die Tatsache zu belegen, dass der erbetene Kontoauszug dem Sozialgericht vorgelegt worden sei. Am 06.06.2012 ist unter Bezugnahme auf den Hinweis der Antrag gestellt worden, die Berufung zuzulassen. Die Nichtzulassungsbeschwerde wird unter dem Aktenzeichen L 3 AS 278/12 NZB geführt.

13

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

14

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 06.02.2012 aufzuheben und festzustellen, dass das Verfahren S 14 AS 1884/11 vor dem Sozialgericht Speyer fortzuführen ist.

15

Der Beklagte beantragt,

16

die Berufung zurückzuweisen.

17

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

18

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der vorliegenden Prozessakte verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

19

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

20

Die Regelung § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG steht der Zulässigkeit der Berufung nicht entgegen. Danach bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Hier betrifft die von der Klägerin im Verfahren vor dem Sozialgericht verfolgte Klage zwar einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt im Sinne dieser Vorschrift, nämlich den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 03.11.2012. Streitgegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist aber nicht dieser Bescheid, sondern die Frage, ob das Sozialgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass die gegen diesen Bescheid erhobene Klage durch die Rücknahmefiktion nach § 102 SGG erledigt ist. Nur über diese Frage hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Gerichtsbescheid entschieden.

21

In einem solchen Fall greift § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht. Soweit das Bundessozialgericht (BSG) für den Fall der Untätigkeitsklage entschieden hat, dass auch diese im Sinne von § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG auf den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtet ist (Beschluss vom 06.10.2011, B 9 SB 45/11 B, in juris), lassen sich diese Ausführungen nicht auf den vorliegenden Fall übertragen. Das BSG hat insoweit auf den Sinn und Zweck der Regelung verwiesen, wonach die Berufungsgerichte von vermögensrechtlichen Streitsachen von geringem Wert (sogenannten Bagatellfällen) entlastet werden sollen. Die gewählte Klageart sei für die Anwendung der Vorschrift bedeutungslos, entscheidend sei, dass die Berufung einen Rechtsstreit von geringem Wert betreffe.

22

Im vorliegenden Berufungsverfahren wird aber gerade nicht über einen vermögensrechtlichen Streit entschieden, sondern über die Vorfrage, ob das diesbezüglich angestrengte Klageverfahren durch Rücknahme erledigt ist. In dem anhängigen Verfahren stehen also Verfahrensrechte im Streit, die eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand erst eröffnen. Da damit der Schutzbereich des Grundrechtes auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes berührt ist, ist eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG über seinen Wortlaut hinaus auf Fälle der vorliegenden Art nicht gerechtfertigt. Dass eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand, also über die Rechtmäßigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides selbst, nicht mit der Berufung anfechtbar wäre, stellt im Hinblick auf die Bedeutung des Rechtes auf Gewährung gerichtliche Rechtsschutzes keinen Widerspruch dazu dar.

23

Die Berufung ist auch begründet. Die Klage gilt nicht gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen. Deshalb ist das Klageverfahren noch anhängig und daher vom Sozialgericht Speyer fortzuführen. Das Sozialgericht wird in diesem Verfahren auch zu prüfen haben, ob die Klage zulässig, insbesondere fristgemäß erhoben ist.

24

Nach § 102 Abs. 2 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt; in der Aufforderung ist der Kläger auf die sich ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Unter Beachtung der Rechtsprechung zur entsprechenden Regelung in § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bzw. § 81 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) kommt eine Rücknahmefiktion nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, in denen sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Klägers vorliegen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 19.05.1993, 2 BvR 1972/92 in NVwZ 94, 62).

25

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt nach der Rechtsprechung des BSG Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht. Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift muss diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (Urteil vom 01.07.2010, B 13 R 58/09 R). Ob diese Voraussetzungen hier erfüllt sind, ist den Akten nicht mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen. Das Schreiben vom 22.02.2011, durch das die Klägerin aufgefordert worden ist zu belegen, dass sie kein Arbeitentgelt bezogen hat, ist in dem in der Akte befindlichen Original lediglich mit einer Namensparaphe und nicht mit einer vollen Unterschrift versehen. Das erste Erinnerungsschreiben vom 13.04.2011 ist nicht von der Vorsitzenden, sondern mit dem Vermerk "Auf Anordnung" von einer Justizbeschäftigten unterschrieben. Das Schreiben vom 17.05.2011, in dem die Klägerin erstmals auf die Folgen des Nichtbefolgens dieser Aufforderung hingewiesen worden ist, weist in der Gerichtsakte wiederum nur eine Paraphe der Vorsitzenden auf.

26

Nähere Ermittlungen dazu, ob das versandte Schreiben die Originalunterschrift enthält, sind aber nicht erforderlich. Abgesehen von diesen formellen Voraussetzungen ist die Aufforderung auch ihrem Inhalt nach nicht geeignet, die Folgen des § 102 Abs. 2 SGG auszulösen.

27

Die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG muss klar und konkret sein und dem Kläger deutlich machen, was von ihm erwartet wird. Daran fehlt es hier. Die Klägerin ist aufgefordert worden zu belegen, dass sie im Monat April 2010 kein Arbeitsentgelt erhalten hat. Unabhängig davon, dass hier wohl der April 2009 gemeint war, ist diese Aufforderung schon deshalb unklar, weil die Klägerin zum Beleg einer negativen Tatsache aufgefordert worden ist, ohne dass näher angeführt wird, welche Beweismittel das Gericht als ausreichend ansehen würde. Die Klägerin konnte der Aufforderung damit gerade nicht entnehmen, was genau von ihr verlangt wird. Sie hatte im Widerspruchsverfahren bereits vorgetragen, dass sie nur im März gearbeitet hat und dafür in bar entlohnt worden ist. Wie sie bei dieser Sachlage belegen sollte, im April nichts erhalten zu haben, erschließt sich nicht unmittelbar. Dass die Klägerin der Aufforderung nicht nachgekommen ist, lässt von daher keine Zweifel am Rechtsschutzinteresse aufkommen, was aber Voraussetzung für den Eintritt der Rücknahmefiktion ist.

28

Insoweit ist auch in den Blick zu nehmen, dass im sozialgerichtlichen Verfahren der Grundsatz der Amtsermittlung nach § 103 SGG gilt. Die Klägerin hatte, wie oben dargelegt, bereits im Widerspruchsverfahren nähere Ausführungen zu ihrer Behauptung gemacht, im April 2009 kein Einkommen mehr gehabt zu haben. Dem sich daraus ergebenden Widerspruch zu den Angaben des Arbeitsgebers hätte das Sozialgericht näher nachgehen können, zB. durch Einholung einer weiteren Auskunft beim Arbeitgeber oder auch durch konkrete Fragen bei der Klägerin. Dass diese auf die unbestimmte und pauschale Aufforderung, die nicht erfolgte Zahlung zu belegen, nicht reagiert hat, lässt bei dieser Sachlage jedenfalls nicht darauf schließen, dass sie an der Durchführung des Verfahrens kein Interesse mehr hatte. Die Aufforderung war damit auch nicht geeignet, die Folgen des § 102 Abs.2 SGG auszulösen.

29

Die Kostentscheidung folgt aus § 193 SGG.

30

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.

(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

(3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.

(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 16. Dezember 2010 - 5 A 1349/07 - und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 1. Juni 2011 - 3 L 44/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil und der Beschluss werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Greifswald zurückverwiesen.

Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 20. Juli 2011 - 3 L 44/11 - gegenstandslos.

...

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Antrags auf Fortsetzung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, nachdem dieses wegen Nichtbetreibens durch den Kläger mit einem Beschluss gemäß § 92 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 VwGO eingestellt worden ist.

I.

2

1. a) Der Beschwerdeführer erwarb im Jahr 1992 von der Bundesrepublik Deutschland das Eigentum an einem Grundstück auf der Insel H … . Zuvor war das Grundstück durch einen öffentlich bestellten Vermessungsingenieur abgemarkt worden.

3

Im Zusammenhang mit der beabsichtigten Veräußerung eines an das Grundstück des Beschwerdeführers angrenzenden Grundstücks führte der öffentlich bestellte Vermessungsingenieur U., der Beklagte des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Beklagter), Vermessungen zur Bestimmung der Flurstücksgrenze durch. Diese ergaben eine Grenzfeststellung, die nach Auffassung des Beschwerdeführers nicht mit derjenigen von 1992, durch einen Grenzstein dokumentierten, übereinstimmt.

4

Gegen die Grenzfeststellung erhob der Beschwerdeführer Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. September 2007 zurückwies. Die im Grenzfeststellungs- und Abmarkungsverfahren bekannt gegebenen Vermessungsergebnisse seien rechtmäßig erlassen, weil ein Vergleich der Ist-Lage der vorgefundenen und wiederhergestellten Abmarkungen der Grenzpunkte Übereinstimmung mit der Soll-Lage des Katasternachweises ergeben habe und weil der vom Beschwerdeführer angezeigte Granitgrenzstein in seiner Lage tatsächlich nicht mit dem Katasternachweis übereinstimme und keine unterirdische Vermarkung habe.

5

b) Der Beschwerdeführer erhob beim Verwaltungsgericht Klage gegen die Entscheidungen des Beklagten und begründete diese im Wesentlichen damit, die im Jahr 1992 festgestellte Grenze sei bindend. In einem Schriftsatz vom 16. Juni 2008 benannte er unter anderem seinen Vater als Zeugen für seine Behauptung, der strittige Grenzstein sei der 1992 gesetzte. Hierauf erwiderte der Beklagte mit Schriftsatz vom 3. Juli 2008; er legte dar, weshalb es sich bei dem strittigen Grenzstein nicht um den 1992 gesetzten handeln könne. Bitten des Verwaltungsgerichts an den Beschwerdeführer um Stellungnahme hierzu blieben unbeantwortet. Daraufhin erließ das Verwaltungsgericht eine Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 VwGO, die dem damaligen Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 16. Januar 2009 zugestellt wurde. Am 16. März 2009 übermittelte der Prozessbevollmächtigte einen Schriftsatz, in der zur Betreibensaufforderung wie folgt Stellung genommen wurde:

6

"Der Kläger hat seine Klage begründet und hält daran fest.

7

Der Beklagte tritt der Klage entgegen.

8

Dessen ungeachtet regen wir namens des Klägers an, in der Sache eine gerichtsnahe Mediation durchzuführen.

9

Es hat sich zur Kenntnis des Unterzeichneten erwiesen, dass das Angebot u.a. des Verwaltungsgerichts Greifswald insoweit mitunter zu Erfolgen führt."

10

c) Mit Beschluss vom 18. März 2009 entschied das Verwaltungsgericht, dass die Klage als zurückgenommen gilt, und stellte das Verfahren ein. Die Klage gelte nach § 92 Abs. 2 VwGO als zurückgenommen, da der Beschwerdeführer das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate seit Zustellung der Aufforderung nicht im Sinne dieser Aufforderung, wonach zum Vortrag des Beklagten vom 3. Juli 2008 Stellung genommen werden sollte, betrieben habe.

11

d) Mit Schreiben eines neu bestellten Prozessbevollmächtigten vom 3. Februar 2010 stellte der Beschwerdeführer den Antrag, das Verfahren fortzusetzen.

12

2. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil vom 16. Dezember 2010 bestätigte das Verwaltungsgericht den Eintritt der Rücknahmefiktion nach § 92 Abs. 2 VwGO. Der Beschwerdeführer habe das Verfahren trotz Aufforderung mehr als zwei Monate nicht im Sinne der Verfügung betrieben.

13

Die Betreibensaufforderung habe am 14. Januar 2009 an den Beschwerdeführer ergehen dürfen. Im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hätten konkrete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers bestanden.

14

Innerhalb der zweimonatigen Betreibensfrist habe sich der Beschwerdeführer lediglich mit dem am 16. März 2009 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz geäußert. Ein Betreiben im Sinne des § 92 Abs. 2 VwGO bedeute dieser Schriftsatz nicht. Soweit der damalige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 16. März 2009 mitgeteilt habe, dass der Beschwerdeführer an seiner Klage festhalte, habe diese Erklärung keinen substantiellen Aussagewert. Die gerichtliche Verfügung vom 14. Januar 2009 habe erkennbar darauf abgezielt, dass der Beschwerdeführer zu den vom Beklagten im Schreiben vom 3. Juli 2008 vorgebrachten verschiedenen Tatsachen, die den vom Beschwerdeführer als maßgeblich angesehenen Granitgrenzstein betroffen hätten, Stellung nehmen sollte. Hierzu enthalte der Schriftsatz vom 16. März 2009 aber keine Aussage. Vor dem prozessualen Hintergrund dieser Aufforderung könne der Schriftsatz letztlich nur als ein Nichtbetreiben gewertet werden.

15

3. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 1. Juni 2011 lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil ab. Die Berufung sei nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zuzulassen.

16

Das Verwaltungsgericht habe an den Beschwerdeführer eine Betreibensaufforderung richten dürfen, denn im Zeitpunkt der Aufforderung am 5. Januar 2009 hätten sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestanden. Da am 8. Juli 2008 eine sechswöchige Frist für die erbetene Stellungnahme gesetzt worden sei, an deren Erledigung durch Verfügungen vom 20. Oktober und 21. November 2008 erinnert worden sei, habe der Beschwerdeführer mit dem Unterlassen jeglicher Antwort über einen Zeitraum von circa sechs Monaten seit der Aufforderung zur Stellungnahme seine prozessuale Mitwirkungspflicht in einer Weise verletzt, die geeignet gewesen sei, die durch Stellungnahme des Beklagten zur Sache ausgelösten Zweifel an einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse zu verfestigen. Es sei nicht ersichtlich, warum es dem Beschwerdeführer in dem genannten Zeitraum nicht hätte möglich sein sollen, zu antworten. Zumindest aber habe von ihm eine Mitteilung erwartet werden können, aus welchen Gründen eine Antwort nicht möglich sei. Sein völliges Verschweigen habe deshalb den Rückschluss auf ein Desinteresse am weiteren Verfahren zugelassen.

17

Die weiteren Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO seien ebenfalls erfüllt gewesen. Um der Aufforderung zu entsprechen, hätte sich der Beschwerdeführer so substantiiert äußern müssen, dass Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses beseitigt worden wären und der äußere Anschein einer Vernachlässigung prozessualer Mitwirkungspflichten entfallen wäre. Der Anforderung an ein substantielles Vorbringen genüge es jedenfalls nicht, wenn ein Kläger auf eine konkrete Aufforderung hin lediglich mitteile, er wolle das Verfahren weiter betreiben. Im Übrigen habe der Beschwerdeführer die erbetenen Verfahrenshandlungen auch deswegen nicht vorgenommen, weil das Gericht eine inhaltliche Stellungnahme zu dem Vortrag des Beklagten mit Schriftsatz vom 3. Juli 2008 erbeten gehabt habe. Die Erklärung vom 16. März 2009 habe für ein substantielles Betreiben umso weniger ausgereicht, als dem Antwortschreiben nicht zu entnehmen gewesen sei, welche Gründe den Beschwerdeführer gehindert haben sollten und noch hinderten, sich inhaltlich zu erklären.

18

4. Die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wies das Oberveraltungsgericht mit dem schließlich auch mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 20. Juli 2011 zurück.

II.

19

1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen eine Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht seien zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 VwGO und zwar sowohl hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Betreibensaufforderung als auch hinsichtlich der Annahme des Nichtbetreibens vorgelegen hätten.

20

2. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens und das Land Mecklenburg-Vorpommern hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des gerichtlichen Ausgangsverfahrens wurden beigezogen.

21

3. Der 4. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts äußert sich in seiner Stellungnahme dahingehend, dem Verwaltungsgericht dürfte die Einstellung des Verfahrens nach § 92 Abs. 2 VwGO verwehrt gewesen sein, nachdem der Beschwerdeführer deutlich gemacht habe, dass er an seiner Klage festhalte. Der Beschwerdeführer habe hier seine Klage substantiiert und unter Beweisantritt begründet. Sein Interesse an einer weiteren Rechtsverfolgung habe er hinreichend dargetan. Es sei Sache des Gerichts, das unterschiedliche Vorbringen der Beteiligten zu bewerten.

III.

22

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme ist zur Durchsetzung eines in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechts des Beschwerdeführers angezeigt (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden, die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

23

Das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 16. Dezember 2010 und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2011 verletzen die Garantie wirksamen Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (dazu 1.). Ob sie darüber hinaus auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzen, kann offen bleiben (dazu 2.). Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts über die Anhörungsrüge gegenstandslos.

24

1. Das Verwaltungsgericht hat durch die Ablehnung des Antrags des Beschwerdeführers auf Fortsetzung des Verfahrens gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoßen; das Oberverwaltungsgericht durfte die ablehnende Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht bestätigen.

25

a) aa) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfachgesetzlichen Prozessordnungen. Der Weg zu den Gerichten, insbesondere auch zur inhaltlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung, darf von der Erfüllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden (vgl. BVerfGE 9, 194 <199 f.>; 10, 264 <267 f.>; 27, 297 <310>; 35, 65 <72 f.>). Die dem Gesetzgeber obliegende normative Ausgestaltung des Rechtswegs muss aber das Ziel dieser Rechtsgewährleistung, nämlich den wirkungsvollen Rechtsschutz, auch tatsächlich verfolgen und ermöglichen (vgl. BVerfGE 110, 77 <85>). Sie muss im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>). Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 78, 88 <99>; 110, 77 <85>; stRspr). Dieser Grundsatz gilt auch innerhalb des jeweils eingeleiteten Verfahrens selbst, soweit es darum geht, sich dort effektiv Gehör verschaffen zu können, und nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht selbst (BVerfGE 81, 123 <129>). Der gerichtlichen Durchsetzung des materiellen Anspruchs dürfen auch hier nicht unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse in den Weg gelegt werden (BVerfGE 53, 115 <127 f.>).

26

bb) Im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG setzt jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraus (vgl. BVerfGE 61, 126 <135>; 96, 27 <39 f.>; 110, 77 <85>). Nur derjenige, der mit dem von ihm angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, hat einen Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung; fehlt es daran, so ist das prozessuale Begehren als unzulässig abzuweisen.

27

Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens entfallen. Vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzinteresses kann ein Gericht im Einzelfall auch dann ausgehen, wenn das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung mangels Sachbescheidungsinteresses nicht mehr gelegen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 -, juris Rn. 17).

28

cc) Eine Regelung über eine Verfahrensbeendigung wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses ist grundsätzlich von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 <63>). Allerdings führt die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO zur Beendigung des Rechtsschutzverfahrens mit möglicherweise irreversiblen Folgen, insbesondere wenn behördliche Ausgangsentscheidungen dadurch in Bestandskraft erwachsen, ohne dass der Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hätte. Die Handhabung eines solch scharfen prozessualen Instruments muss daher im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Kläger oder Antragsteller das von ihm eingeleitete Verfahren auch durchführen will. Namentlich darf § 92 Abs. 2 VwGO nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eines Beteiligten gedeutet oder eingesetzt werden. Hierfür ist die Rücknahmefiktion nicht konzipiert. Sie soll vielmehr nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. zu § 81 AsylVfG, auf den § 92 Abs. 2 VwGO zurückgeht [BTDrucks 13/3993, S. 12], BTDrucks 12/2062, S. 42: vereinfachte Beendigung eines Verfahrens, "an dessen Fortführung der Kläger erkennbar kein Interesse mehr hat"; ferner Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 92 Rn. 3 und 46 [Stand: Januar 2012], Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 92 Rn. 18).

29

Zwar gilt auch für die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO, dass nicht jede fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts einen Verfassungsverstoß darstellt. Angesichts der gravierenden, den Rechtsschutz jedenfalls im konkreten Verfahren ohne Sachprüfung abschneidenden Wirkung dieser Vorschrift gebietet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG jedoch eine strenge Prüfung der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung des § 92 Abs. 2 VwGO durch das Bundesverfassungsgericht. Insbesondere hat es zu kontrollieren, ob die von den Verwaltungsgerichten mit Rücksicht auf die Rechtsschutzgarantie herausgearbeiteten Anforderungen an eine zulässige Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 Satz 1 und 3 VwGO gewahrt und die Voraussetzungen für die Annahme eines Nichtbetreibens nicht verfehlt, insbesondere der Vorschrift hierbei keine falsche Zielrichtung gegeben wurden. Hiernach müssen zum einen zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. Solche Anhaltspunkte sind insbesondere dann gegeben, wenn der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 -, NVwZ 2000, S. 1297 <1298>; Beschluss vom 12. April 2001 - BVerwG 8 B 2.01 -, NVwZ 2001, S. 918; Beschluss vom 7. Juli 2005 - BVerwG 10 BN 1.05 -, juris Rn. 4). Zum anderen hat ein Kläger das Verfahren nur dann nicht mehr im Sinne von § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO betrieben, wenn er innerhalb der Zwei-Monatsfrist nicht substantiiert dargetan hat, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 - BVerwG 10 BN 1.05 -, juris Rn. 7).

30

b) Hieran gemessen ist die Auffassung der Ausgangsgerichte, dass die Voraussetzungen für den Erlass einer Betreibensaufforderung gemäß § 92 Abs. 2 VwGO im Januar 2009 vorlagen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden

31

Im Schriftsatz vom 16. Juni 2008 führt der damalige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers aus, dessen Vater sei bei der seinerzeitigen Abmarkung anwesend gewesen und habe mit eigenen Augen gesehen, wie Mitarbeiter des Vermessungsingenieurs hinsichtlich des strittigen Grenzpunkts einen Aushub von circa 1 Meter vorgenommen, dort eine Flasche hineingelegt und diese zerstoßen hätten. Die Scherben der damals zerstoßenen Flasche würden sich an Ort und Stelle finden lassen.

32

In seiner Erwiderung vom 3. Juli 2008 hierauf trägt der Beklagte im Wesentlichen vor, ein Zerstoßen der Flasche sei in der Niederschrift von 1992 nicht vermerkt und wäre aus fachlicher Hinsicht auch nicht nachvollziehbar. Im August 2007 sei in Anwesenheit des Beschwerdeführers der Granitgrenzstein freigelegt worden; eine Flasche als Unterlage sei nicht vorgefunden worden. Hiervon hätten sich die Beteiligten vor Ort durch Betrachtung des Loches überzeugen können. Es müsse davon ausgegangen werden, dass dieser Granitgrenzstein nicht identisch sei mit dem 1992 verhandelten Grenzpunkt.

33

Angesichts dessen, dass der Beklagte auch unter Hinweis auf einen Ortstermin, an dem der Beschwerdeführer selbst teilnahm, die Richtigkeit einer zentralen Behauptung im Vorbringen des Beschwerdeführers in Frage stellte, lag es nahe, dass der Beschwerdeführer sich zu den Ausführungen des Beklagten äußerte. Dass er sich hierzu trotz entsprechender Bitte des Verwaltungsgerichts vom 8. Juli 2008 und zweimaliger Erinnerung (vom 20. Oktober und 21. November 2008) hieran nicht veranlasst sah, durfte das Verwaltungsgericht zum Anlass nehmen, am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers ernsthaft zu zweifeln.

34

c) Nicht mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar ist hingegen die Annahme, der Beschwerdeführer habe das Verfahren entgegen der darauf ergangenen Aufforderung des Verwaltungsgerichts nicht betrieben. Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht haben damit ein unangemessen hohes Hindernis bei der gerichtlichen Verfolgung des geltend gemachten Anspruchs errichtet.

35

Die Ausgangsgerichte haben sich bei ihren Ausführungen nicht vom Zweck des § 92 Abs. 2 VwGO leiten lassen. Dieser besteht nicht darin, den Kläger zu einer Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern in der Klärung der aufgekommenen Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 <63>).

36

Dass der Beschwerdeführer an der Verfolgung seines Rechtsschutzziels festhalten wollte, ergibt sich eindeutig aus seinem Schriftsatz vom 16. März 2009. Die Motivation des Beschwerdeführers hierfür liegt auch auf der Hand, geht es ihm im Ausgangsverfahren doch um die Klärung der Größe seines Grundstücks, die nach den Feststellungen des Beklagten um circa 1.900 Quadratmeter kleiner sein soll als von ihm angenommen.

37

Der Beschwerdeführer war angesichts der Umstände des Falles nicht verpflichtet, über den Hinweis, dass er an seiner Klage festhalte, hinausgehende Ausführungen zu machen, um den Eintritt der Rücknahmefiktion zu verhindern. Der Beschwerdeführer hatte seine Klage bereits begründet und zum Beweis der von ihm vorgebrachten Tatsachenbehauptungen seinen Vater und den im Jahr 1992 tätig gewordenen Vermessungsingenieur als Zeugen angeboten. Der Beklagte hatte die Richtigkeit der tatsächlichen Behauptungen bestritten. In einer solchen Situation ist es Aufgabe des - im Übrigen zur Amtsermittlung verpflichteten - Verwaltungsgerichts, den Sachverhalt, soweit es ihn für entscheidungserheblich hält, durch eine Beweisaufnahme aufzuklären und danach zu entscheiden. Der Weg, aufgrund einer vorweggenommenen Beweiswürdigung auf einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers zu schließen und auf diese Weise das Verfahren ohne mündlichen Verhandlung und gegebenenfalls ohne Beweisaufnahme zu beendigen, ist dem Gericht hingegen verwehrt.

38

d) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Da die Verwaltungsgerichte bisher noch nicht in der Sache entschieden und auch den Sachverhalt, soweit entscheidungserheblich, nicht aufgeklärt haben, ist nicht erkennbar, dass die Entscheidung in der Sache mit Sicherheit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausfällt.

39

e) Das Urteil des Verwaltungsgerichts und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2011 sind aufzuheben; der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 20. Juli 2011 wird dadurch gegenstandslos. Die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

40

2. Da das Verwaltungsgericht aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert war, den Eintritt der Erledigungsfiktion anzunehmen, kommt es auf die Frage, ob die Ausgangsgerichte bei ihren Entscheidungen auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt haben, nicht mehr an.

41

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts erfolgt nach § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

42

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus. Die Einwilligung gilt als erteilt, wenn der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Rücknahme enthaltenden Schriftsatzes widersprochen wird; das Gericht hat auf diese Folge hinzuweisen.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Klage als zurückgenommen gilt.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluß ein und spricht die sich nach diesem Gesetz ergebenden Rechtsfolgen der Zurücknahme aus. Der Beschluß ist unanfechtbar.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 16. Dezember 2010 - 5 A 1349/07 - und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 1. Juni 2011 - 3 L 44/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil und der Beschluss werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Greifswald zurückverwiesen.

Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 20. Juli 2011 - 3 L 44/11 - gegenstandslos.

...

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Antrags auf Fortsetzung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, nachdem dieses wegen Nichtbetreibens durch den Kläger mit einem Beschluss gemäß § 92 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 VwGO eingestellt worden ist.

I.

2

1. a) Der Beschwerdeführer erwarb im Jahr 1992 von der Bundesrepublik Deutschland das Eigentum an einem Grundstück auf der Insel H … . Zuvor war das Grundstück durch einen öffentlich bestellten Vermessungsingenieur abgemarkt worden.

3

Im Zusammenhang mit der beabsichtigten Veräußerung eines an das Grundstück des Beschwerdeführers angrenzenden Grundstücks führte der öffentlich bestellte Vermessungsingenieur U., der Beklagte des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Beklagter), Vermessungen zur Bestimmung der Flurstücksgrenze durch. Diese ergaben eine Grenzfeststellung, die nach Auffassung des Beschwerdeführers nicht mit derjenigen von 1992, durch einen Grenzstein dokumentierten, übereinstimmt.

4

Gegen die Grenzfeststellung erhob der Beschwerdeführer Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. September 2007 zurückwies. Die im Grenzfeststellungs- und Abmarkungsverfahren bekannt gegebenen Vermessungsergebnisse seien rechtmäßig erlassen, weil ein Vergleich der Ist-Lage der vorgefundenen und wiederhergestellten Abmarkungen der Grenzpunkte Übereinstimmung mit der Soll-Lage des Katasternachweises ergeben habe und weil der vom Beschwerdeführer angezeigte Granitgrenzstein in seiner Lage tatsächlich nicht mit dem Katasternachweis übereinstimme und keine unterirdische Vermarkung habe.

5

b) Der Beschwerdeführer erhob beim Verwaltungsgericht Klage gegen die Entscheidungen des Beklagten und begründete diese im Wesentlichen damit, die im Jahr 1992 festgestellte Grenze sei bindend. In einem Schriftsatz vom 16. Juni 2008 benannte er unter anderem seinen Vater als Zeugen für seine Behauptung, der strittige Grenzstein sei der 1992 gesetzte. Hierauf erwiderte der Beklagte mit Schriftsatz vom 3. Juli 2008; er legte dar, weshalb es sich bei dem strittigen Grenzstein nicht um den 1992 gesetzten handeln könne. Bitten des Verwaltungsgerichts an den Beschwerdeführer um Stellungnahme hierzu blieben unbeantwortet. Daraufhin erließ das Verwaltungsgericht eine Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 VwGO, die dem damaligen Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 16. Januar 2009 zugestellt wurde. Am 16. März 2009 übermittelte der Prozessbevollmächtigte einen Schriftsatz, in der zur Betreibensaufforderung wie folgt Stellung genommen wurde:

6

"Der Kläger hat seine Klage begründet und hält daran fest.

7

Der Beklagte tritt der Klage entgegen.

8

Dessen ungeachtet regen wir namens des Klägers an, in der Sache eine gerichtsnahe Mediation durchzuführen.

9

Es hat sich zur Kenntnis des Unterzeichneten erwiesen, dass das Angebot u.a. des Verwaltungsgerichts Greifswald insoweit mitunter zu Erfolgen führt."

10

c) Mit Beschluss vom 18. März 2009 entschied das Verwaltungsgericht, dass die Klage als zurückgenommen gilt, und stellte das Verfahren ein. Die Klage gelte nach § 92 Abs. 2 VwGO als zurückgenommen, da der Beschwerdeführer das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate seit Zustellung der Aufforderung nicht im Sinne dieser Aufforderung, wonach zum Vortrag des Beklagten vom 3. Juli 2008 Stellung genommen werden sollte, betrieben habe.

11

d) Mit Schreiben eines neu bestellten Prozessbevollmächtigten vom 3. Februar 2010 stellte der Beschwerdeführer den Antrag, das Verfahren fortzusetzen.

12

2. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil vom 16. Dezember 2010 bestätigte das Verwaltungsgericht den Eintritt der Rücknahmefiktion nach § 92 Abs. 2 VwGO. Der Beschwerdeführer habe das Verfahren trotz Aufforderung mehr als zwei Monate nicht im Sinne der Verfügung betrieben.

13

Die Betreibensaufforderung habe am 14. Januar 2009 an den Beschwerdeführer ergehen dürfen. Im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hätten konkrete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers bestanden.

14

Innerhalb der zweimonatigen Betreibensfrist habe sich der Beschwerdeführer lediglich mit dem am 16. März 2009 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz geäußert. Ein Betreiben im Sinne des § 92 Abs. 2 VwGO bedeute dieser Schriftsatz nicht. Soweit der damalige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 16. März 2009 mitgeteilt habe, dass der Beschwerdeführer an seiner Klage festhalte, habe diese Erklärung keinen substantiellen Aussagewert. Die gerichtliche Verfügung vom 14. Januar 2009 habe erkennbar darauf abgezielt, dass der Beschwerdeführer zu den vom Beklagten im Schreiben vom 3. Juli 2008 vorgebrachten verschiedenen Tatsachen, die den vom Beschwerdeführer als maßgeblich angesehenen Granitgrenzstein betroffen hätten, Stellung nehmen sollte. Hierzu enthalte der Schriftsatz vom 16. März 2009 aber keine Aussage. Vor dem prozessualen Hintergrund dieser Aufforderung könne der Schriftsatz letztlich nur als ein Nichtbetreiben gewertet werden.

15

3. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 1. Juni 2011 lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil ab. Die Berufung sei nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zuzulassen.

16

Das Verwaltungsgericht habe an den Beschwerdeführer eine Betreibensaufforderung richten dürfen, denn im Zeitpunkt der Aufforderung am 5. Januar 2009 hätten sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestanden. Da am 8. Juli 2008 eine sechswöchige Frist für die erbetene Stellungnahme gesetzt worden sei, an deren Erledigung durch Verfügungen vom 20. Oktober und 21. November 2008 erinnert worden sei, habe der Beschwerdeführer mit dem Unterlassen jeglicher Antwort über einen Zeitraum von circa sechs Monaten seit der Aufforderung zur Stellungnahme seine prozessuale Mitwirkungspflicht in einer Weise verletzt, die geeignet gewesen sei, die durch Stellungnahme des Beklagten zur Sache ausgelösten Zweifel an einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse zu verfestigen. Es sei nicht ersichtlich, warum es dem Beschwerdeführer in dem genannten Zeitraum nicht hätte möglich sein sollen, zu antworten. Zumindest aber habe von ihm eine Mitteilung erwartet werden können, aus welchen Gründen eine Antwort nicht möglich sei. Sein völliges Verschweigen habe deshalb den Rückschluss auf ein Desinteresse am weiteren Verfahren zugelassen.

17

Die weiteren Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO seien ebenfalls erfüllt gewesen. Um der Aufforderung zu entsprechen, hätte sich der Beschwerdeführer so substantiiert äußern müssen, dass Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses beseitigt worden wären und der äußere Anschein einer Vernachlässigung prozessualer Mitwirkungspflichten entfallen wäre. Der Anforderung an ein substantielles Vorbringen genüge es jedenfalls nicht, wenn ein Kläger auf eine konkrete Aufforderung hin lediglich mitteile, er wolle das Verfahren weiter betreiben. Im Übrigen habe der Beschwerdeführer die erbetenen Verfahrenshandlungen auch deswegen nicht vorgenommen, weil das Gericht eine inhaltliche Stellungnahme zu dem Vortrag des Beklagten mit Schriftsatz vom 3. Juli 2008 erbeten gehabt habe. Die Erklärung vom 16. März 2009 habe für ein substantielles Betreiben umso weniger ausgereicht, als dem Antwortschreiben nicht zu entnehmen gewesen sei, welche Gründe den Beschwerdeführer gehindert haben sollten und noch hinderten, sich inhaltlich zu erklären.

18

4. Die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wies das Oberveraltungsgericht mit dem schließlich auch mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 20. Juli 2011 zurück.

II.

19

1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen eine Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht seien zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 VwGO und zwar sowohl hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Betreibensaufforderung als auch hinsichtlich der Annahme des Nichtbetreibens vorgelegen hätten.

20

2. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens und das Land Mecklenburg-Vorpommern hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des gerichtlichen Ausgangsverfahrens wurden beigezogen.

21

3. Der 4. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts äußert sich in seiner Stellungnahme dahingehend, dem Verwaltungsgericht dürfte die Einstellung des Verfahrens nach § 92 Abs. 2 VwGO verwehrt gewesen sein, nachdem der Beschwerdeführer deutlich gemacht habe, dass er an seiner Klage festhalte. Der Beschwerdeführer habe hier seine Klage substantiiert und unter Beweisantritt begründet. Sein Interesse an einer weiteren Rechtsverfolgung habe er hinreichend dargetan. Es sei Sache des Gerichts, das unterschiedliche Vorbringen der Beteiligten zu bewerten.

III.

22

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme ist zur Durchsetzung eines in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechts des Beschwerdeführers angezeigt (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden, die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

23

Das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 16. Dezember 2010 und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2011 verletzen die Garantie wirksamen Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (dazu 1.). Ob sie darüber hinaus auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzen, kann offen bleiben (dazu 2.). Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts über die Anhörungsrüge gegenstandslos.

24

1. Das Verwaltungsgericht hat durch die Ablehnung des Antrags des Beschwerdeführers auf Fortsetzung des Verfahrens gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoßen; das Oberverwaltungsgericht durfte die ablehnende Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht bestätigen.

25

a) aa) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfachgesetzlichen Prozessordnungen. Der Weg zu den Gerichten, insbesondere auch zur inhaltlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung, darf von der Erfüllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden (vgl. BVerfGE 9, 194 <199 f.>; 10, 264 <267 f.>; 27, 297 <310>; 35, 65 <72 f.>). Die dem Gesetzgeber obliegende normative Ausgestaltung des Rechtswegs muss aber das Ziel dieser Rechtsgewährleistung, nämlich den wirkungsvollen Rechtsschutz, auch tatsächlich verfolgen und ermöglichen (vgl. BVerfGE 110, 77 <85>). Sie muss im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>). Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 78, 88 <99>; 110, 77 <85>; stRspr). Dieser Grundsatz gilt auch innerhalb des jeweils eingeleiteten Verfahrens selbst, soweit es darum geht, sich dort effektiv Gehör verschaffen zu können, und nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht selbst (BVerfGE 81, 123 <129>). Der gerichtlichen Durchsetzung des materiellen Anspruchs dürfen auch hier nicht unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse in den Weg gelegt werden (BVerfGE 53, 115 <127 f.>).

26

bb) Im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG setzt jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraus (vgl. BVerfGE 61, 126 <135>; 96, 27 <39 f.>; 110, 77 <85>). Nur derjenige, der mit dem von ihm angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, hat einen Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung; fehlt es daran, so ist das prozessuale Begehren als unzulässig abzuweisen.

27

Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens entfallen. Vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzinteresses kann ein Gericht im Einzelfall auch dann ausgehen, wenn das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung mangels Sachbescheidungsinteresses nicht mehr gelegen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 -, juris Rn. 17).

28

cc) Eine Regelung über eine Verfahrensbeendigung wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses ist grundsätzlich von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 <63>). Allerdings führt die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO zur Beendigung des Rechtsschutzverfahrens mit möglicherweise irreversiblen Folgen, insbesondere wenn behördliche Ausgangsentscheidungen dadurch in Bestandskraft erwachsen, ohne dass der Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hätte. Die Handhabung eines solch scharfen prozessualen Instruments muss daher im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Kläger oder Antragsteller das von ihm eingeleitete Verfahren auch durchführen will. Namentlich darf § 92 Abs. 2 VwGO nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eines Beteiligten gedeutet oder eingesetzt werden. Hierfür ist die Rücknahmefiktion nicht konzipiert. Sie soll vielmehr nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. zu § 81 AsylVfG, auf den § 92 Abs. 2 VwGO zurückgeht [BTDrucks 13/3993, S. 12], BTDrucks 12/2062, S. 42: vereinfachte Beendigung eines Verfahrens, "an dessen Fortführung der Kläger erkennbar kein Interesse mehr hat"; ferner Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 92 Rn. 3 und 46 [Stand: Januar 2012], Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 92 Rn. 18).

29

Zwar gilt auch für die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO, dass nicht jede fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts einen Verfassungsverstoß darstellt. Angesichts der gravierenden, den Rechtsschutz jedenfalls im konkreten Verfahren ohne Sachprüfung abschneidenden Wirkung dieser Vorschrift gebietet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG jedoch eine strenge Prüfung der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung des § 92 Abs. 2 VwGO durch das Bundesverfassungsgericht. Insbesondere hat es zu kontrollieren, ob die von den Verwaltungsgerichten mit Rücksicht auf die Rechtsschutzgarantie herausgearbeiteten Anforderungen an eine zulässige Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 Satz 1 und 3 VwGO gewahrt und die Voraussetzungen für die Annahme eines Nichtbetreibens nicht verfehlt, insbesondere der Vorschrift hierbei keine falsche Zielrichtung gegeben wurden. Hiernach müssen zum einen zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. Solche Anhaltspunkte sind insbesondere dann gegeben, wenn der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 -, NVwZ 2000, S. 1297 <1298>; Beschluss vom 12. April 2001 - BVerwG 8 B 2.01 -, NVwZ 2001, S. 918; Beschluss vom 7. Juli 2005 - BVerwG 10 BN 1.05 -, juris Rn. 4). Zum anderen hat ein Kläger das Verfahren nur dann nicht mehr im Sinne von § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO betrieben, wenn er innerhalb der Zwei-Monatsfrist nicht substantiiert dargetan hat, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 - BVerwG 10 BN 1.05 -, juris Rn. 7).

30

b) Hieran gemessen ist die Auffassung der Ausgangsgerichte, dass die Voraussetzungen für den Erlass einer Betreibensaufforderung gemäß § 92 Abs. 2 VwGO im Januar 2009 vorlagen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden

31

Im Schriftsatz vom 16. Juni 2008 führt der damalige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers aus, dessen Vater sei bei der seinerzeitigen Abmarkung anwesend gewesen und habe mit eigenen Augen gesehen, wie Mitarbeiter des Vermessungsingenieurs hinsichtlich des strittigen Grenzpunkts einen Aushub von circa 1 Meter vorgenommen, dort eine Flasche hineingelegt und diese zerstoßen hätten. Die Scherben der damals zerstoßenen Flasche würden sich an Ort und Stelle finden lassen.

32

In seiner Erwiderung vom 3. Juli 2008 hierauf trägt der Beklagte im Wesentlichen vor, ein Zerstoßen der Flasche sei in der Niederschrift von 1992 nicht vermerkt und wäre aus fachlicher Hinsicht auch nicht nachvollziehbar. Im August 2007 sei in Anwesenheit des Beschwerdeführers der Granitgrenzstein freigelegt worden; eine Flasche als Unterlage sei nicht vorgefunden worden. Hiervon hätten sich die Beteiligten vor Ort durch Betrachtung des Loches überzeugen können. Es müsse davon ausgegangen werden, dass dieser Granitgrenzstein nicht identisch sei mit dem 1992 verhandelten Grenzpunkt.

33

Angesichts dessen, dass der Beklagte auch unter Hinweis auf einen Ortstermin, an dem der Beschwerdeführer selbst teilnahm, die Richtigkeit einer zentralen Behauptung im Vorbringen des Beschwerdeführers in Frage stellte, lag es nahe, dass der Beschwerdeführer sich zu den Ausführungen des Beklagten äußerte. Dass er sich hierzu trotz entsprechender Bitte des Verwaltungsgerichts vom 8. Juli 2008 und zweimaliger Erinnerung (vom 20. Oktober und 21. November 2008) hieran nicht veranlasst sah, durfte das Verwaltungsgericht zum Anlass nehmen, am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers ernsthaft zu zweifeln.

34

c) Nicht mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar ist hingegen die Annahme, der Beschwerdeführer habe das Verfahren entgegen der darauf ergangenen Aufforderung des Verwaltungsgerichts nicht betrieben. Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht haben damit ein unangemessen hohes Hindernis bei der gerichtlichen Verfolgung des geltend gemachten Anspruchs errichtet.

35

Die Ausgangsgerichte haben sich bei ihren Ausführungen nicht vom Zweck des § 92 Abs. 2 VwGO leiten lassen. Dieser besteht nicht darin, den Kläger zu einer Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern in der Klärung der aufgekommenen Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 <63>).

36

Dass der Beschwerdeführer an der Verfolgung seines Rechtsschutzziels festhalten wollte, ergibt sich eindeutig aus seinem Schriftsatz vom 16. März 2009. Die Motivation des Beschwerdeführers hierfür liegt auch auf der Hand, geht es ihm im Ausgangsverfahren doch um die Klärung der Größe seines Grundstücks, die nach den Feststellungen des Beklagten um circa 1.900 Quadratmeter kleiner sein soll als von ihm angenommen.

37

Der Beschwerdeführer war angesichts der Umstände des Falles nicht verpflichtet, über den Hinweis, dass er an seiner Klage festhalte, hinausgehende Ausführungen zu machen, um den Eintritt der Rücknahmefiktion zu verhindern. Der Beschwerdeführer hatte seine Klage bereits begründet und zum Beweis der von ihm vorgebrachten Tatsachenbehauptungen seinen Vater und den im Jahr 1992 tätig gewordenen Vermessungsingenieur als Zeugen angeboten. Der Beklagte hatte die Richtigkeit der tatsächlichen Behauptungen bestritten. In einer solchen Situation ist es Aufgabe des - im Übrigen zur Amtsermittlung verpflichteten - Verwaltungsgerichts, den Sachverhalt, soweit es ihn für entscheidungserheblich hält, durch eine Beweisaufnahme aufzuklären und danach zu entscheiden. Der Weg, aufgrund einer vorweggenommenen Beweiswürdigung auf einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers zu schließen und auf diese Weise das Verfahren ohne mündlichen Verhandlung und gegebenenfalls ohne Beweisaufnahme zu beendigen, ist dem Gericht hingegen verwehrt.

38

d) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Da die Verwaltungsgerichte bisher noch nicht in der Sache entschieden und auch den Sachverhalt, soweit entscheidungserheblich, nicht aufgeklärt haben, ist nicht erkennbar, dass die Entscheidung in der Sache mit Sicherheit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausfällt.

39

e) Das Urteil des Verwaltungsgerichts und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2011 sind aufzuheben; der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 20. Juli 2011 wird dadurch gegenstandslos. Die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

40

2. Da das Verwaltungsgericht aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert war, den Eintritt der Erledigungsfiktion anzunehmen, kommt es auf die Frage, ob die Ausgangsgerichte bei ihren Entscheidungen auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt haben, nicht mehr an.

41

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts erfolgt nach § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

42

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde. Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertretung befugten Person mit Orts- und Zeitangabe unterzeichnet sein. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben, die angefochtene Verfügung und der Widerspruchsbescheid sollen in Abschrift beigefügt werden.

(2) Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern. Er kann dem Kläger für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, wenn es an einem der in Absatz 1 Satz 1 genannten Erfordernisse fehlt. Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gilt § 67 entsprechend.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landes-sozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Vormerkung rentenrechtlicher Zeiten. Mit der Revision wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Berufungsrücknahme.

2

Mit Bescheid vom 4.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs 5 SGB VI die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen Daten für den Zeitraum bis zum 31.12.1996 verbindlich fest.

3

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.6.2007 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger weder seinen Widerspruch noch die Klage begründet habe. Mangels Begründung sei nicht ersichtlich, inwieweit die Feststellung der Daten im Versicherungskonto rechtswidrig sein solle.

4

Im Berufungsverfahren hat das LSG den Kläger mehrmals vergeblich an die Vorlage der Berufungsbegründung erinnert. Die Geschäftsstelle des LSG-Senats hat mit Schreiben vom 19.8.2008, das auf einer durch den Berichterstatter unterschriebenen Verfügung vom selben Tage beruhte und mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnet war, den Kläger aufgefordert, (unter Hinweis auf § 153 Abs 1, § 106a SGG: bis zum 19.9.2008) die Tatsachen anzugeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühle. Des Weiteren hat sie ihn darauf hingewiesen, dass die Berufung nach § 102 Abs 2 Satz 1, § 153 Abs 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn er das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate (gerechnet ab Zugang dieser Verfügung) nicht betreibe, dh die Berufung nicht begründe. Auf das ihm am 21.8.2008 zugestellte Schreiben hat sich der Kläger nicht zur Sache geäußert.

5

Am 16.12.2008 hat das LSG den Beteiligten mitgeteilt, dass die Berufung als zurückgenommen gelte. Hiergegen hat sich der Kläger mit Schriftsatz vom 21.12.2008 gewandt; er habe seine Berufung keinesfalls zurückgenommen, sondern warte auf einen Gerichtstermin. In der mündlichen Verhandlung vom 18.3.2009 hat er erklärt, der Versicherungsverlauf sei fehlerhaft, da dort (im Einzelnen bezeichnete) Zeiten der Arbeitslosigkeit und eines Rentenbezugs nicht angegeben seien.

6

Mit Urteil vom selben Tage hat das LSG festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Berufungsrücknahme erledigt sei. Die Vorschrift des § 102 Abs 2 SGG gelte gemäß § 153 Abs 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" iS von § 153 Abs 1 SGG. Nicht zu folgen sei der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme enthalte. Offenbar habe der Gesetzgeber übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung. Es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei.

7

Die Voraussetzungen für eine Fiktion der Berufungsrücknahme seien erfüllt. Der Kläger habe innerhalb der ihm gesetzten Frist keine das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Nur mit entsprechender Mitwirkung des Versicherten durch Angaben zu den streitigen Zeiten seien weitere Ermittlungen des Versicherungsträgers ohne Beschränkung auf zugängliche Daten möglich. Entsprechendes gelte für eine sinnvolle gerichtliche Überprüfung des Vormerkungsbescheids. Trotz entsprechender Aufforderung habe der Kläger innerhalb der gesetzten Frist das Verfahren nicht durch Begründung der Berufung betrieben.

8

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 156, § 153 Abs 1 und § 102 Abs 2 SGG. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG sei nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG auf das Berufungsverfahren entsprechend anwendbar. In das SGG sei keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme aufgenommen worden. Die Berufungsrücknahme sei im sozialgerichtlichem Verfahren in § 156 SGG speziell und abschließend geregelt, was die Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ausschließe. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den nach § 102 Abs 2 SGG vorausgesetzten Wegfall des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung habe das LSG nicht festgestellt.

9

           

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des LSG Hamburg vom 18.3.2009 und den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 4.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 zu verpflichten, für die Zeiten vom 12.2.1993 bis 21.6.1994 eine Anrechnungszeit wegen Rentenbezugs nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB VI vorzumerken;
hilfsweise, das Urteil des LSG vom 18.3.2009 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

10

           

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die zulässige Revision des Klägers hat iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Berufung erledigt sei. Denn dafür fehlt es im SGG an einer gesetzlichen Grundlage (1.). Auch eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG (Klagerücknahmefiktion) kommt iS einer Fiktion der Rücknahme der Berufung bei Nichtbetreiben nicht in Betracht (2.). Überdies wären die Voraussetzungen für den Eintritt einer - unterstelltermaßen entsprechend § 102 Abs 2 Satz 1 SGG möglichen - Rücknahmefiktion nicht gegeben (3.).

15

           

1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444) wurde mit Wirkung vom 1.4.2008 in Abs 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet:
"Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen."
Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG). Eine Regelung zur Fiktion der Berufungsrücknahme hat der Gesetzgeber im SGG hingegen nicht getroffen.

16

2. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG ist nicht iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden.

17

Nach § 153 Abs 1 SGG gelten für das Verfahren vor den Landessozialgerichten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 SGG entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt (= Erster Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Bestimmungen über die Berufung in den §§ 143 bis 159 SGG umfasst) nichts anderes ergibt. Bei den in Bezug genommenen "Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" handelt es sich um die im Vierten Unterabschnitt des Ersten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG aufgeführten Vorschriften der §§ 87 bis 122 SGG(BSG Urteil vom 5.7.1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2 S 2). Danach ist zwar auch § 102 SGG grundsätzlich nicht von der Anordnung der entsprechenden Geltung im Berufungsverfahren ausgenommen. Die Vorschrift über die Fiktion der Klagerücknahme in § 102 Abs 2 SGG ist jedoch nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG im LSG-Verfahren iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme entsprechend anwendbar.

18

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes (a), der Entstehungsgeschichte der Norm (b), dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO (c), einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut (d) und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion (e).

19

a) Schon der Wortlaut des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, wonach die "Klage" und nicht die "Berufung" als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, steht einer gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechenden Anwendung dieser Regelung auf die Berufung entgegen.

20

Über § 153 Abs 1 SGG kann nicht das Wort "Berufung" in § 102 Abs 2 SGG hineingelesen werden(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463). Denn auch andere Vorschriften über "das Verfahren im ersten Rechtszug", deren entsprechende Geltung § 153 Abs 1 SGG bestimmt und die Regelungen über die "Klage" enthalten, sind im Berufungsverfahren nicht derart erweiternd anzuwenden. Die entsprechende Geltung dieser Vorschriften (zB Klageänderung nach § 99 SGG oder Widerklage nach § 100 SGG) gemäß § 153 Abs 1 SGG umfasst keine Ersetzung des Begriffs "Klage" durch "Berufung". Ein Grund für eine unterschiedliche Auslegung je nachdem, welche Norm in Bezug genommen wird, ist nicht ersichtlich.

21

Überdies findet sich im Ersten Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Vorschriften für das Verfahren der Berufung umfasst, für die Berufung in § 156 SGG eine spezielle Regelung über ihre "Zurücknahme". Eine § 102 Abs 2 SGG entsprechende Bestimmung für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben enthält die Norm aber nicht. Schon von daher trifft die Ansicht des LSG nicht zu, aus den entsprechenden Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich "nichts anderes" iS des § 153 Abs 1 SGG(aA auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - Juris RdNr 32, ohne eigenständige Begründung unter Hinweis auf das hier angefochtene LSG-Urteil).

22

b) Aus den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren ergeben sich keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 102 Abs 2 SGG in entsprechender Anwendung gemäß § 153 Abs 1 SGG auf die Berufungsrücknahme ausdehnen wollte.

23

Ziel des SGGArbGGÄndG war es, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Dies sollte durch eine Vielzahl von Maßnahmen geschehen. Die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion zur Entlastung der Landessozialgerichte war aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13 f); insoweit sah dieser zur Entlastung der Sozialgerichte und Straffung des dortigen Verfahrens lediglich die Fiktion einer Klagerücknahme vor (BT-Drucks 16/7716 S 13). Eine fiktive Berufungsrücknahme wurde auch - soweit ersichtlich - im gesamten Gesetzgebungsverfahren weder im Bundesrat noch in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestags erörtert.

24

           

In der Einleitung der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG, der in seinem Satz 1 mit der späteren Gesetzesfassung übereinstimmt, wie folgt(BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>):

 "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen …"

25

           

Die Begründung schließt mit dem Hinweis (aaO, S 20):

 "… Die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme gelten auch im einstweiligen Rechtsschutz."

26

Demnach sollen zwar die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung finden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rücknahmefiktion - unabhängig davon, ob eine solche dort überhaupt praktische Relevanz haben kann (vgl hierzu Bienert, NZS 2009, 554, 559; Leopold, SGb 2009, 458, 462, ua mit dem Hinweis, dass das gerichtliche Abwarten der in § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genannten Dreimonatsfrist nicht zum Eilcharakter des Verfahrens "passt") - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG zulässig ist(bejahend Bienert, aaO; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 102 RdNr 8; verneinend Leopold, aaO). Jedenfalls findet sich kein Hinweis dafür, dass § 102 Abs 2 SGG iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar sein soll. Vielmehr wird dort nur verlautbart, dass in § 102 Abs 2 SGG die "Fiktion einer Klagerücknahme … eingeführt" wird und diese "angelehnt" ist an § 92 Abs 2 VwGO; ersichtlich sollte somit der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs 2 VwGO in das SGG "übernommen" werden. Die "Fiktion einer Berufungsrücknahme" wird nicht erwähnt; ebenso wird an keiner Stelle ein Bezug zur Regelung der Berufungsrücknahmefiktion in § 126 Abs 2 VwGO hergestellt. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen Materialien zum SGGArbGGÄndG (Stellungnahme des Bundesrats Drucks 16/7716 s 29 f>; Gegenäußerung der Bundesregierung ; zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag vom 17.1.2008, Plenarprotokoll 16/136 S 14417 - 14422 (Anlage 6); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 20.2.2008 ). Auch sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass nach dem "Willen" des Gesetzgebers eine "fiktive Berufungsrücknahme" in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ermöglicht werden sollte.

27

c) Der Vergleich mit den in der VwGO normierten Rücknahmefiktionen spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fiktion der Berufungsrücknahme im SGG ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung.

28

Die Klagerücknahmefiktion in § 92 Abs 2 VwGO wurde durch das Sechste Gesetz zur Änderung der VwGO und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) mit Wirkung vom 1.1.1997 in Anlehnung an den bereits seit 1.7.1992 geltenden § 81 AsylVfG in die VwGO eingefügt(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 12 zu Nummer 10 <§ 92 VwGO>). Nach § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren länger als zwei Monate (in Verfahren nach dem AsylVfG gemäß § 81 Satz 1 AsylVfG länger als einen Monat) nicht betreibt.

29

Gleichzeitig wurde durch das 6. VwGOÄndG für die Berufung eine "gesetzliche Rücknahmefiktion" in § 126 Abs 2 VwGO aufgenommen und die Regelung in § 92 Abs 2 VwGO insoweit "ergänzt"(Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 13 zu Nummer 17 <§ 126 VwGO>). Nach Satz 1 dieser Bestimmung gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

30

Die eigenständige gesetzliche Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme in § 126 Abs 2 VwGO macht deutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeine Verweisung in § 125 Abs 1 VwGO auf die Vorschriften des Verfahrens im ersten Rechtszug der VwGO, zu denen auch § 92 Abs 2 VwGO gehört, als nicht ausreichend angesehen hat (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 156 RdNr 16; Leopold, SGb 2009, 458, 463). Vielmehr hat er für die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion einen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungsbedarf angenommen.

31

Der Verzicht des SGGArbGGÄndG auf eine Ergänzung des § 156 SGG um eine Rücknahmefiktion für die Berufung in Kenntnis des Umstands, dass eine solche in der Parallelvorschrift der VwGO zu § 156 SGG, nämlich in § 126 VwGO, ausdrücklich geregelt worden ist, bestätigt die Annahme, dass diese "Unvollständigkeit" beabsichtigt war und der Gesetzgeber im SGG lediglich die Möglichkeit einer Fiktion der Klagerücknahme eröffnen wollte, entgegen der Ansicht des LSG also gerade keine "planwidrige Regelungslücke" vorliegt. Hätte er die Berufungsrücknahmefiktion "gewollt", wäre gerade wegen der weitgehenden Parallelität zur VwGO eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen(vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16).

32

Sollte der Gesetzgeber gleichwohl - anders als in der VwGO - eine ausdrückliche Regelung im SGG für entbehrlich gehalten haben, hätte es zumindest eines deutlichen Hinweises bedurft. Dieser fehlt jedoch. Keinesfalls kann daraus jedoch, wie das LSG offenbar meint, ein "Wille" des Gesetzgebers für eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben hergeleitet werden. Vielmehr dürfte das "Schweigen" sowohl in § 156 SGG als auch in den Materialien zum SGGArbGGÄndG schon eher als "beredtes Schweigen" zu werten sein(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463).

33

Dem Gesetzgeber war im Übrigen der Regelungszusammenhang zwischen erst- und zweitinstanzlichem Verfahren durchaus bewusst; dies belegt die mit dem SGGArbGGÄndG erfolgte Einfügung des § 157a SGG für das Berufungsverfahren gleichzeitig mit der ebenfalls durch dieses Gesetz für das erstinstanzliche Verfahren eingeführten Bestimmung des § 106a SGG zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens (vgl auch Leopold, SGb 2009, 458, 463). Ausdrücklich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 16/7716 S 22 zu Nummer 27 <§ 157a>): "Folgeänderung wegen der Einführung der Präklusionsvorschrift in § 106a im erstinstanzlichen Verfahren. Dies zieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorschrift im Rechtsmittelverfahren nach sich …".

34

d) Dass der Gesetzgeber auf die Regelung einer Fiktion der Berufungsrücknahme verzichtet hat, mag möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass nach dem SGG eine Klagerücknahme ohne Zustimmung der/des Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgen kann (so Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 16). Auf dieser Grundlage hält die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum auch eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren für zulässig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b und § 156 RdNr 1b; Roller, aaO; Eschner in Jansen, SGG, 3. Aufl 2008, § 102 RdNr 4; Hauck in Zeihe, SGG, Stand 2009, § 102 RdNr 12; Bienert, NZS 2009, 554, 558; kritisch Leopold, SGb 2009, 458, 463; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118).

35

Der Senat kann offen lassen, ob er sich dieser Rechtsansicht anschließt; denn das LSG hat nicht festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist. Er neigt jedoch dazu, ihr jedenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Denn § 102 Abs 2 Satz 1 SGG wird nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, sofern die Rücknahmefiktion in der zweiten Instanz die Klage betrifft. Der Übernahme einer § 126 Abs 2 Satz 1 VwGO entsprechenden Regelung bedurfte es insoweit nicht(Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12).

36

Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) klargestellt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. SGGÄndG, BT-Drucks 14/5943 S 26 zu Nummer 38 <§ 102>), entsprach aber auch schon der Rechtsprechung des BSG zur früheren Fassung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach der Kläger die Klage "bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung" zurücknehmen konnte(s hierzu BSG Beschluss vom 27.9.1983 - 8 BK 16/82 - SozR 1500 § 102 Nr 5 S 10). Der Kläger kann daher auch noch im Berufungsverfahren die Klage ganz oder - wenn der Streitgegenstand teilbar ist - teilweise (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 4; Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 4)zurücknehmen mit der Folge, dass die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 202 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 ZPO ganz oder - bei teilweiser Klagerücknahme - teilweise wirkungslos wird.

37

Ist aber eine Klagerücknahme nach § 102 Abs 1 Satz 1 SGG im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § 102 Abs 2 Satz 2 SGG für die Klagerücknahmefiktion, dass Abs 1 entsprechend gilt, ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb die Fiktion der Rücknahme der Klage bei ganz oder teilweisem Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht (grundsätzlich) auch im Berufungsverfahren in Betracht kommen kann. Denn auch im Rechtsmittelverfahren muss das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der von ihm in erster Instanz erhobenen Klage stets fortbestehen.

38

Allerdings dürfte nach Einlegung einer Berufung gegen ein klageabweisendes erstinstanzliches Urteil ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, also ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen sein (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b; Leopold, SGb 2009, 458, 463; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12, mit dem Hinweis, dass im Rechtsmittelverfahren "eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen" seien; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118). Dies gilt vor allem dann, wenn der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren teilweise Erfolg hatte, entzöge die Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren doch dem zusprechenden Teil des erstinstanzlichen Urteils die Rechtswirkung. Die Annahme, dass ein Kläger, der ein Berufungsverfahren trotz Aufforderung nicht betreibt, durch das Nichtbetreiben auch die für ihn positiven Folgen der erstinstanzlichen Entscheidung zum Wegfall bringen und damit so gestellt werden möchte, als ob er die Klage nie erhoben hätte, dürfte nur schwerlich zu begründen sein (vgl Schafhausen, aaO; Leopold, aaO). In Betracht käme in diesen Fällen freilich eine Fiktion der teilweisen Klagerücknahme bezogen auf den klageabweisenden Teil der SG-Entscheidung.

39

e) Schließlich berücksichtigt nur die Rechtsauffassung, dass § 102 Abs 2 SGG nicht iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar ist, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG für die Auslegung und Anwendung von gesetzlichen Regelungen über die Beendigung eines Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Vorschriften dieser Art haben nämlich strengen Ausnahmecharakter. Da sie einschneidende Rechtsfolgen für die betroffenen Beteiligten nach sich ziehen, bedürfen sie in besonderem Maße der Rechtsklarheit.

40

Das BVerfG (Kammer) hat in seinem Beschluss vom 27.10.1998 (2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167) darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art 19 Abs 4 GG jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat es festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist.

41

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 81 AsylVfG, § 92 Abs 2 VwGO, § 126 Abs 2 VwGO und in § 102 Abs 2 SGG gefunden. Denn diese Bestimmungen, die eine Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren zur Folge haben, unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.

42

Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass hiervon ausgehende Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art 19 Abs 4 GG vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl bereits BVerfG Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BVerfG Beschluss vom 15.8.1984 - 2 BvR 357/84 - DVBl 1984, 1005; BVerfG Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Auch in der Literatur besteht über den Ausnahmecharakter und ein von Verfassungs wegen gebotenes enges Verständnis gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen Einigkeit (vgl zu § 102 Abs 2 SGG: Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 17; Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16; Berchtold in Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 5 RdNr 586; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8a; Leitherer, NJW 2008, 1258, 1260; Hauck in Hennig, SGG, Stand: 2010, § 102 RdNr 29; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VII RdNr 170a; Schafhausen, ASR 2010, 112, 115; Leopold, SGb 2009, 458, 459; Bienert, NZS 2009, 554, 555; Becker, SGb 2009, 267, 269; Tabbara, NZS 2008, 8, 10; Francke, ASR 2008, 127, 128; vgl zu § 92 Abs 2 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 92 RdNr 18; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2009, § 92 RdNr 39).

43

Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG(Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>).

44

Ist dies aber der Fall, verbietet es sich, § 102 Abs 2 SGG als Sonder- und Ausnahmeregelung über seinen ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich hinaus erweiternd auszulegen und anzuwenden. Vielmehr ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geradezu geboten, wollte man auch im SGG eine Fiktion der Rücknahme der Berufung wegen Nichtbetreibens ermöglichen, hierfür - wie in der VwGO durch Einfügung des § 126 Abs 2 VwGO geschehen - eine eigenständige gesetzliche Grundlage zu schaffen.

45

3. Nach dem Vorstehenden braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob - wie vom LSG entschieden - die Voraussetzungen einer Fiktion einer Berufungsrücknahme bei unterstellter entsprechender Anwendbarkeit des § 102 SGG vorliegen. Gleichwohl weist der Senat darauf hin, dass, selbst wenn man der generellen Rechtsansicht des LSG folgen würde, die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch das LSG im Falle des Klägers zu Unrecht erfolgt wäre.

46

a) Zwar ist im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung das vom BVerfG für eine Rechtsmittelrücknahmefiktion geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt gewesen, dass nach dem prozessualen Verhalten des Klägers hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; vgl ebenso Senatsurteil vom heutigen Tage - B 13 R 74/09 R).

47

Denn bei Erlass der Betreibensaufforderung am 19.8.2008 waren die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Vormerkungsbescheids vom 4.11.2003 begehrte, mangels dessen Mitwirkung für das LSG nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher Aufforderung war nämlich die Berufung auch ein Jahr nach ihrer Einlegung nicht begründet worden, ebenso wenig wie der Widerspruch gegen den Vormerkungsbescheid vom 4.11.2003 oder die Klage. Das SGG enthält zwar für die Begründung der Klage und der Berufung, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften (§ 92 Abs 1 Satz 4, § 151 Abs 3 SGG: "sollen" bzw "soll"). Das Gericht hat die Beteiligten aber insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 Halbs 2 SGG ergibt. Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung ("ins Blaue hinein") zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 103 RdNr 16).

48

b) Allerdings setzt eine Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend aber nicht erfolgt. Denn jedenfalls vermag ein - wie hier - lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold SGb 2009, 458, 460; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, aaO, § 102 RdNr 11, mit dem Hinweis, die Betreibensaufforderung müsse "wenigstens die Form eines Richterbriefs" haben; s auch BGH Urteil vom 13.3.1980 - VII ZR 147/79 - BGHZ 76, 236, 241 - zur Frist gemäß § 273 Abs 2 Nr 1, § 275 Abs 1, § 296 ZPO).

49

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt im Übrigen Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 63 RdNr 3)diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.

50

4. Da der Senat über die vom Kläger geltend gemachten rentenrechtlichen Zeiten mangels entsprechender Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG nicht entscheiden konnte, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

(1) Der Vorsitzende kann dem Kläger eine Frist setzen zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühlt.

(2) Der Vorsitzende kann einem Beteiligten unter Fristsetzung aufgeben, zu bestimmten Vorgängen

1.
Tatsachen anzugeben oder Beweismittel zu bezeichnen,
2.
Urkunden oder andere bewegliche Sachen vorzulegen sowie elektronische Dokumente zu übermitteln, soweit der Beteiligte dazu verpflichtet ist.

(3) Das Gericht kann Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer nach den Absätzen 1 und 2 gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn

1.
ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und
2.
der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt und
3.
der Beteiligte über die Folgen einer Fristversäumung belehrt worden ist.
Der Entschuldigungsgrund ist auf Verlangen des Gerichts glaubhaft zu machen. Satz 1 gilt nicht, wenn es mit geringem Aufwand möglich ist, den Sachverhalt auch ohne Mitwirkung des Beteiligten zu ermitteln.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde. Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertretung befugten Person mit Orts- und Zeitangabe unterzeichnet sein. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben, die angefochtene Verfügung und der Widerspruchsbescheid sollen in Abschrift beigefügt werden.

(2) Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern. Er kann dem Kläger für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, wenn es an einem der in Absatz 1 Satz 1 genannten Erfordernisse fehlt. Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gilt § 67 entsprechend.

(1) Die Beteiligten haben das Recht der Einsicht in die Akten, soweit die übermittelnde Behörde dieses nicht ausschließt. Beteiligte können sich auf ihre Kosten durch die Geschäftsstelle Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen. Für die Versendung von Akten, die Übermittlung elektronischer Dokumente und die Gewährung des elektronischen Zugriffs auf Akten werden Kosten nicht erhoben, sofern nicht nach § 197a das Gerichtskostengesetz gilt.

(2) Werden die Prozessakten elektronisch geführt, wird Akteneinsicht durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf oder durch Übermittlung des Inhalts der Akten auf einem sicheren Übermittlungsweg gewährt. Auf besonderen Antrag wird Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt. Ein Aktenausdruck oder ein Datenträger mit dem Inhalt der Akten wird auf besonders zu begründenden Antrag nur übermittelt, wenn der Antragsteller hieran ein berechtigtes Interesse darlegt. Stehen der Akteneinsicht in der nach Satz 1 vorgesehenen Form wichtige Gründe entgegen, kann die Akteneinsicht in der nach den Sätzen 2 und 3 vorgesehenen Form auch ohne Antrag gewährt werden. Über einen Antrag nach Satz 3 entscheidet der Vorsitzende; die Entscheidung ist unanfechtbar. § 155 Absatz 4 gilt entsprechend.

(3) Werden die Prozessakten in Papierform geführt, wird Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt. Die Akteneinsicht kann, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf oder durch Übermittlung des Inhalts der Akten auf einem sicheren Übermittlungsweg gewährt werden. Nach dem Ermessen des Vorsitzenden kann einem Bevollmächtigten, der zu den in § 73 Absatz 2 Satz 1 und 2 Nummer 3 bis 9 bezeichneten natürlichen Personen gehört, die Mitnahme der Akten in die Wohnung oder Geschäftsräume gestattet werden. § 155 Absatz 4 gilt entsprechend.

(4) Der Vorsitzende kann aus besonderen Gründen die Einsicht in die Akten oder in Aktenteile sowie die Fertigung oder Erteilung von Auszügen und Abschriften versagen oder beschränken. Gegen die Versagung oder die Beschränkung der Akteneinsicht kann das Gericht angerufen werden; es entscheidet endgültig.

(5) Die Entwürfe zu Urteilen, Beschlüssen und Verfügungen, die zu ihrer Vorbereitung angefertigten Arbeiten sowie die Dokumente, welche Abstimmungen betreffen, werden weder vorgelegt noch abschriftlich mitgeteilt.

(1) Der Vorsitzende kann dem Kläger eine Frist setzen zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühlt.

(2) Der Vorsitzende kann einem Beteiligten unter Fristsetzung aufgeben, zu bestimmten Vorgängen

1.
Tatsachen anzugeben oder Beweismittel zu bezeichnen,
2.
Urkunden oder andere bewegliche Sachen vorzulegen sowie elektronische Dokumente zu übermitteln, soweit der Beteiligte dazu verpflichtet ist.

(3) Das Gericht kann Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer nach den Absätzen 1 und 2 gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn

1.
ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und
2.
der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt und
3.
der Beteiligte über die Folgen einer Fristversäumung belehrt worden ist.
Der Entschuldigungsgrund ist auf Verlangen des Gerichts glaubhaft zu machen. Satz 1 gilt nicht, wenn es mit geringem Aufwand möglich ist, den Sachverhalt auch ohne Mitwirkung des Beteiligten zu ermitteln.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

Tenor

Der Beschluss des Landgerichts Duisburg vom 30. Januar 2009 - 8 O 382/08 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 17. April 2009 - I-18 W 23/09 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes und werden aufgehoben.

Die Sache wird zur Entscheidung an das Landgericht Duisburg zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

...

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zurückweisung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Amtshaftungsklage gegen das Bundesland Nordrhein-Westfalen wegen menschenunwürdiger Unterbringung in Untersuchungshaft und damit eine vergleichbare Konstellation, wie sie einer Entscheidung der Kammer vom 22. Februar 2011 zugrunde lag (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 409/09 -, NJW-RR 2011, S. 1043 ff.).

2

1. Mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2008 stellte der Beschwerdeführer Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe beim Landgericht Duisburg und überreichte unter Beweisangebot seines Vorbringens den Entwurf einer Amtshaftungsklage gegen das Land Nordrhein-Westfalen wegen menschenunwürdiger Unterbringung als Untersuchungshäftling in der Justizvollzugsanstalt D. über einen Zeitraum von 234 Tagen hinweg.

3

Er sei im Zeitraum vom 11. Januar 2006 bis 20. März 2006 im Haftraum 343 der Justizvollzugsanstalt untergebracht gewesen. Dieser habe, belegt mit vier Gefangenen, lediglich eine Grundfläche von 16 m 2 , eine Höhe von 3 m und zwei Fenster zu je ca. 80 cm x 80 cm aufgewiesen. In den Hafträumen habe sich - neben der Grundausstattung - eine Toilette befunden, die nur durch eine verstellbare Holzwand (Schamwand) mit einer oben und unten zur Zelle hin geöffneten Sichtschutzfläche vom übrigen Raum abgetrennt gewesen sei. Über eine gesonderte Belüftungsanlage habe der Haftraum nicht verfügt. Die Belüftung der Toilette sei über die Zellenluft erfolgt.

4

Im Zeitraum vom 20. März 2006 bis 1. September 2006 sei er in den Hafträumen 330 und 336 der Justizvollzugsanstalt mit jeweils einem Mitgefangenen untergebracht gewesen. Beide Hafträume hätten jeweils über eine Grundfläche von 8 m 2 bei einer Raumhöhe von 3 m verfügt. In diesen Hafträumen habe sich jeweils - neben der Grundausstattung - eine Toilette befunden, die nur durch eine verstellbare Holzwand (Schamwand) mit einer kleinen Sichtschutzfläche von 1,50 m x 0,80 m vom übrigen Raum abgetrennt gewesen sei. Über eine gesonderte Belüftungsanlage haben die Hafträume nicht verfügt. Die Belüftung der Toiletten sei jeweils über die Zellenluft erfolgt.

5

Zum damit bedingten Verlust jeglicher Privatsphäre hinzu gekommen sei, dass sowohl der Beschwerdeführer als auch sämtliche Mitgefangene starke Raucher gewesen seien, was in den kleinen Hafträumen zu einem unerträglichen Gemisch aus Rauch, Körperausdünstungen und Toilettengerüchen geführt habe. Der Beschwerdeführer habe wie auch die Mitgefangenen keine Arbeit gehabt und sei unter diesen Bedingungen dreiundzwanzig Stunden täglich zusammen mit den Mitgefangenen im jeweiligen Haftraum untergebracht gewesen. Duschmöglichkeiten seien für nicht arbeitende Gefangene nur zweimal wöchentlich vorhanden gewesen. Eine Lüftung des Raumes habe nur bei Einverständnis sämtlicher dort Gefangener erfolgen können.

6

Er, der Beschwerdeführer, habe bereits unmittelbar nach Verlegung in den Haftraum beantragt, ihn in einen Einzelhaftraum zu verlegen. Seitens der angesprochenen Beamten sei ihm jedoch mitgeteilt worden, dass keine Einzelhafträume frei seien, er deshalb auch nicht verlegt werden könne und auf eine Warteliste gesetzt würde.

7

Zu berücksichtigen sei, dass die Einzelunterbringung während der Untersuchungshaft gemäß § 119 Abs. 1 StPO (in der für das Verfahren maßgeblichen Fassung vom 7. April 1987, BGBl I S. 1074 <1095>, gültig bis zum 31. Dezember 2009, geändert durch Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009, BGBl I S. 2274 <2275>; im Folgenden: a.F.) in Verbindung mit Nr. 23 UVollzO gesetzlich angeordnet sei, es sei denn, der Gefangene stimme einer Gemeinschaftsunterbringung zu. Hierauf sei der Beschwerdeführer aber nicht hingewiesen worden. Einfachgesetzliche Regelungen wie § 18 Abs. 2 Satz 2 StVollzG oder § 201 StVollzG könnten an dieser rechtlichen Einordnung sowie am Anspruch eines Strafgefangenen auf Achtung seiner Menschenwürde nichts ändern. Die sogenannte Junktim-Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 4. November 2004 - III ZR 361/03 -, NJW 2005, S. 58) nach der eine menschenunwürdige Unterbringung nicht in jedem Fall auch eine Geldentschädigung zur Folge haben müsse, habe eine Haftdauer von lediglich zwei Tagen betroffen. Dagegen sei der Beschwerdeführer viel länger menschenunwürdig untergebracht worden.

8

2. Mit Schreiben vom 13. November 2008 beantragte das Land, den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe zurückzuweisen.

9

Dabei widersprach es der seitens des Beschwerdeführers behaupteten räumlichen Ausgestaltung der Hafträume nicht. Es machte jedoch - im Hinblick auf die Unterbringungsdauer in widersprüchlicher Weise - geltend, dass die Dauer der Unterbringung nur "vom 12.08. bis zum 31.08.2006" bestanden habe und dass der Beschwerdeführer mit der genannten Unterbringung einverstanden gewesen sei, da er keinen Antrag auf anderweitige Unterbringung gestellt habe. Diesem hätte aber jederzeit entsprochen werden können, da während des gesamten Zeitraums Einzelhafträume frei gewesen wären. Insbesondere im Haftraum 343 sei eine Gemeinschaftsunterbringung in der Regel wegen des dort befindlichen anstaltseigenen Fernsehgeräts auch gewünscht. So habe sich auch im Zeitraum vom "12.01. bis zum 15.03.2006" dort ein Fernsehgerät befunden. Der Anspruch des Beschwerdeführers scheitere daher bereits an § 839 Abs. 3 BGB.

10

Wie die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zeige, bestehe zwischen einer Menschenwürdeverletzung und einem Anspruch auf Geldentschädigung auch kein zwingendes Junktim. Der Beschwerdeführer sei selbst Raucher, konkrete haftbedingte, gesundheitliche Beeinträchtigungen seien nicht erkennbar. Schließlich sei - eine rechtswidrige, menschenunwürdige Unterbringung unterstellt - ein Verschulden des Landes nicht gegeben, da sich dieses seit Jahren um Schaffung neuer Haftplätze bemühe.

11

3. Mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2008 erwiderte der Beschwerdeführer hierzu unter nochmaliger Benennung von Zeugen, dass er insgesamt sogar vom 11. Januar 2006 bis 10. Oktober 2006 ununterbrochen in der Justizvollzugsanstalt D. inhaftiert gewesen sei. Er habe zu keinem Zeitpunkt schriftlich eine Gemeinschaftsunterbringung beantragt. Nur bei entsprechendem schriftlichen Antrag könne aber nach § 119 Abs. 1 StPO a.F. in Verbindung mit Nr. 23 UVollzO von der Einzelunterbringung abgesehen werden. Die Gemeinschaftsunterbringung habe auch nicht seinem Willen entsprochen. Im Gegenteil habe er mehrfach bei einer Mitarbeiterin der Justizvollzugsanstalt um einen Einzelhaftraum nachgefragt. Diesen habe er - wie dort üblich - mit Beginn seiner Tätigkeit als Koch (entsprechend seinen Anträgen) zum 1. September 2006 erhalten.

12

Dass im fraglichen Zeitraum in der Justizvollzugsanstalt D. Einzelhaftplätze zur Verfügung gestanden haben, werde mit Nichtwissen bestritten.

13

Im Übrigen würden die Häftlinge über ihren Anspruch auf Einzelhaft und den ihnen insoweit zustehenden Rechtsbehelfen entgegen Part. II.30.1 EPR (European Prison Rules) auch nicht informiert.

14

Ob auf eine gerichtliche Entscheidung hin der Beschwerdeführer sofort in eine Einzelzelle verlegt worden wäre, stehe ferner nicht fest. Das Land ignoriere mangels räumlicher Kapazitäten kontinuierlich gerichtliche Entscheidungen. In der Vergangenheit hätten die Anstaltsleitungen gerichtliche Entscheidungen auch nach Monaten nicht umgesetzt. Dem Beschwerdeführer seien insofern mehrere Fälle aus der Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen namentlich bekannt.

15

Dass die Hafträume im konkreten Fall menschenunwürdig seien, sei dem Land auch bekannt gewesen und von ihm billigend in Kauf genommen worden. Dazu zitierte der Beschwerdeführer aus der Strafvollzugsstatistik für Mehrfachbelegung in den Justizvollzugsanstalten des Landes.

16

4. Mit angegriffenem Beschluss vom 30. Januar 2009 verweigerte das Landgericht dem Beschwerdeführer die nachgesuchte Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussicht der Klage.

17

Zum einen sei auf § 201 Nr. 3 Satz 1 StVollzG zu verweisen, der bei Altbauten, um die es sich hier handele, eine gemeinschaftliche Unterbringung in Vier- beziehungsweise Zweipersonenzellen gestatte.

18

Zum anderen sei für eine Geldentschädigung das Mindestmaß an Schwere nicht erreicht. Der geltend gemachte körperliche Kontakt ergebe sich von selbst aus der gemeinschaftlichen Unterbringung. Die Toilette habe über eine Schamwand verfügt, der Beschwerdeführer sei selbst Raucher gewesen.

19

Hinzu komme, dass der Beschwerdeführer keinen formellen Antrag auf Verlegung gestellt habe. Hieraus dürfe gefolgert werden, dass er seine Situation nicht als so belastend empfunden habe.

20

Schließlich treffe das Land aufgrund deren Bemühungen um eine Verbesserung der Haftunterbringung kein vorwerfbares Verschulden.

21

5. Mit Schriftsatz vom 4. März 2009 legte der Beschwerdeführer hiergegen sofortige Beschwerde ein und trug zu den bisherigen Schriftsätzen noch ergänzend vor, dass ein wesentlicher Unterschied darin bestehe, ob eine Person als Raucher entscheide, wann sie rauche und lüfte, oder ob mehrere Personen rauchen, der Haftraum dadurch permanent mit Rauch belastet sei und auch eine Lüftung des Raumes nur bei entsprechender Gemeinschaftsentscheidung erfolge. Der Beschwerdeführer habe einen Antrag bei Gericht auf Verlegung in einen Einzelhaftraum schlicht in Unkenntnis der Rechtsschutzmöglichkeiten nicht gestellt. Die behaupteten Bemühungen des Landes Nordrhein-Westfalen bezögen sich auf einen der Unterbringung des Beschwerdeführers zeitlich nachfolgenden Zeitraum. Für das Land habe zum Zeitpunkt der Unterbringung des Beschwerdeführers auch keine Notsituation vorgelegen. Das Land bestimme sowohl Anzahl der Hafträume als auch Anzahl der Häftlinge, die zum Haftantritt geladen werden. Gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sei daher Prozesskostenhilfe zwingend zu bewilligen gewesen, da ansonsten vor Durchführung der Beweisaufnahme das summarische Verfahren an Stelle des Hauptsacheverfahrens trete. Insbesondere schwierige und ungelöste Rechts- und Tatfragen dürften nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden. Dass von einer ungeklärten Rechtsfrage auszugehen sei, ergebe sich allein schon aufgrund der divergierenden Rechtsprechung im Land Nordrhein-Westfalen. So habe das Oberlandesgericht Hamm unter anderem mit Beschluss vom 13. Juni 2008 - 11 W 78/08 - in einem gleichgelagerten Fall Prozesskostenhilfe bewilligt.

22

6. Mit angegriffenem Beschluss vom 17. April 2009 wies das Oberlandesgericht die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers zurück.

23

Bei § 119 Abs. 1 Nr. 1 StPO a.F. handele es sich um eine Bestimmung des einfachen Rechts. Dass für Untersuchungshäftlinge andere Maßstäbe als für Strafgefangene bei Bewertung der Fragen der Verletzung des Persönlichkeitsrechts, der Menschenwürde und der Erheblichkeitsschwelle, ab der eine Entschädigung in Betracht komme, gelten, folge daraus nicht.

24

Die Erheblichkeitsschwelle sei hier jedoch nicht überschritten. Der Antragsteller habe lediglich bei Vollzugsbeamten um einen Einzelhaftraum gebeten. Wer sich aber in seinen Anträgen auf diese einfachste Hierarchieebene beschränke, mit deren Antworten zufrieden gebe, nicht einmal einen förmlichen Antrag bei der Anstaltsleitung stelle, und über weitere Rechtsschutzmöglichkeiten nicht erkundige, habe die Situation aber offenbar selbst nicht als unerträglich empfunden. Dies mache bereits den angestrebten Anspruch unschlüssig und sei keine Frage des Ausschlusses der Ersatzpflicht nach § 839 Abs. 3 BGB.

25

Die Voraussetzungen, unter denen Verletzungen des Art. 1 Abs. 1 GG zu einem Entschädigungsanspruch führen, seien durch das sogenannte Junktim-Urteil auch höchstrichterlich geklärt. Dass diese Grundsätze im Einzelfall zu unterschiedlichen Ergebnissen führten, liege in der Natur der Sache. Der vom Beschwerdeführer genannten Entscheidung des Oberlandesgericht Hamm vom 13. Juni 2008 - 11 W 78/08 - liege insofern ein anderer Sachverhalt zugrunde, als dort zumindest ein Antrag bei der Anstaltsleitung gestellt worden sei und der Toilettenvorhang keinen hinreichenden Sichtschutz geboten habe, während hier undurchscheinende Materialien benutzt worden seien.

26

7. Mit seiner am 13. Mai 2009 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer - unter anderem - eine Verletzung seines Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

27

8. Nach Ergehen eingangs zitierter Entscheidung der Kammer vom 22. Februar 2011 zu einem vergleichbaren Sachverhalt (BVerfG, a.a.O.) beantragte der Beschwerdeführer auf schriftlichen Hinweis des Bundesverfassungsgerichts in vorliegender Angelegenheit erneut die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, nachdem mangels materieller Rechtskraft einer - wenngleich im Übrigen unanfechtbaren - Versagung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe einer bedürftigen Partei eine nochmalige Antragstellung nicht verwehrt ist und das Gericht bei Prüfung der Erfolgsaussicht und Bedürftigkeit auch nicht an seine frühere Beurteilung gebunden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2004 - IV ZB 43/03 -, NJW 2004, S. 1805 <1806>). Das Landgericht Duisburg wies mit Beschluss vom 27. April 2011 diesen Antrag als rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig zurück. Betreffend die Erfolgsaussichten hielt es daran fest, dass sich an den Entscheidungsgrundlagen der angegriffenen Beschlüsse nichts geändert habe.

28

9. Dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. In seiner Stellungnahme erklärte es unter anderem, dass nach Abschluss der laufenden Neu- und Erweiterungsbaumaßnahmen im Justizvollzug Ende 2011 / Anfang 2012 das Land Nordrhein-Westfalen über rund 1.000 zusätzliche Haftplätze verfügen werde, die zu einer deutlichen Entspannung der Belegungssituation führen würden. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

II.

29

Die Verfassungsbeschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung anzunehmen, da dies insoweit zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist.

30

1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen zu Inhalt und Reichweite des aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit bereits geklärt (vgl. BVerfGE 81, 347 <356 ff.>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. Mai 1997 - 1 BvR 296/94 -, NJW 1997, S. 2745 <2746>; vom 14. April 2003 - 1 BvR 1998/02 -, NJW 2003, S. 2976 <2977>; vom 1. Juli 2009 - 1 BvR 560/08 -, juris, Rn. 13; vom 5. Februar 2003 - 1 BvR 1526/02 -, NJW 2003, S. 1857 <1858>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. November 2004 - 1 BvR 2095/04 -, NJW-RR 2005, S. 500 <501>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. Mai 2006 - 1 BvR 430/03 -, juris, Rn. 17). Insbesondere hat es diese Fragen auch bereits weitgehend für die vorliegende Konstellation geklärt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 409/09 -, NJW-RR 2011, S. 1043 <1044>).

31

2. Soweit der Beschwerdeführer durch die Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts eine Verletzung seines Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG rügt, ist die Verfassungsbeschwerde zulässig.

32

3. In dem vorgenannten Umfang ist sie auch im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzten den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

33

a) Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll allerdings nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (vgl. BVerfGE 81, 347 <356 f.>).

34

Es läuft dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, wenn ein Fachgericht § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass auch schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfeverfahren "durchentschieden" werden können (vgl. BVerfGE 81, 347 <359>). Dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit widerstrebt es daher, wenn ein Fachgericht § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass es eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage - obwohl dies erheblichen Zweifeln begegnet - als einfach oder geklärt ansieht und sie deswegen bereits im Verfahren der Prozesskostenhilfe zum Nachteil des Unbemittelten beantwortet (vgl. BVerfGE 81, 347 <359 f.>). Ein solcher Verstoß ist erst recht anzunehmen, wenn das Fachgericht bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Auffassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Literatur abweicht (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 5. Februar 2003 - 1 BvR 1526/02 -, NJW 2003, S. 1857 <1858>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. November 2004 - 1 BvR 2095/04 -, NJW-RR 2005, S. 500 <501>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. Mai 2006 - 1 BvR 430/03 -, juris, Rn. 17).

35

b) Gemessen an diesen Grundsätzen halten die angegriffenen, Prozesskostenhilfe vollumfänglich versagenden Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts einer Überprüfung anhand von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG nicht stand.

36

aa) Sowohl Landgericht als auch Oberlandesgericht haben die Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Amtshaftungsklage ausschließlich in Bezug auf die anspruchsbegründenden Voraussetzungen der Menschenwürdeverletzung und der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorgenommen und diese abweichend von der verfassungs- und obergerichtlichen Rechtsprechung verneint.

37

(1) Bei Belegung und Ausgestaltung der Hafträume sind dem insoweit grundsätzlich bestehenden Ermessen der Justizvollzugsanstalt durch das Recht des Gefangenen auf Achtung seiner Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG Grenzen gesetzt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2002 - 2 BvR 553/01 -, NJW 2002, S. 2699 <2700>). Die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen müssen auch dann erhalten bleiben, wenn der Grundrechtsberechtigte seiner freiheitlichen Verantwortung nicht gerecht wird und die Gemeinschaft ihm wegen begangener Straftaten die Freiheit entzieht. Aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip folgt die Verpflichtung des Staates, den Strafvollzug menschenwürdig auszugestalten, mithin das Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht (vgl. BVerfGE 45, 187 <228>; 109, 133 <150>; BVerfGK 7, 120 <122 f.>). Die Menschenwürde ist unantastbar und kann deshalb auch nicht auf Grund einer gesetzlichen Bestimmung eingeschränkt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2002 - 2 BvR 553/01 -, NJW 2002, S. 2699 <2700>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 409/09 -, NJW-RR 2011, S. 1043 <1044>).

38

Als Faktoren, die eine aus den räumlichen Haftbedingungen resultierende Verletzung der Menschenwürde indizieren, kommen in erster Linie die Bodenfläche pro Gefangenen und die Situation der sanitären Anlagen, namentlich die Abtrennung und Belüftung der Toilette, in Betracht, wobei als ein die Haftsituation abmildernder Faktor die Verkürzung der täglichen Einschlusszeiten berücksichtigt werden kann.

39

So wird nach der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte die Unterbringung in einem mehrfach belegten Haftraum ohne das Hinzutreten weiterer Umstände als Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen, wenn eine Mindestfläche von 6 m 2 und 7 m 2 pro Gefangenen nicht eingehalten wird und die Toilette nicht abgetrennt beziehungsweise nicht gesondert entlüftet ist (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 18. Juli 2003 - 3 Ws 578/03 -, NJW 2003, S. 2843 <2845>; OLG Naumburg, Beschluss vom 3. August 2004 - 4 W 20/04 -, NJW 2005, S. 514; OLG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juli 2005 - 12 U 300/04 -, NJW-RR 2005, S. 1267; OLG Hamburg, Urteil vom 14. Januar 2005 - 1 U 43/04 -, juris, Rn. 49; OLG Koblenz, Urteil vom 15. März 2006 - 1 U 1286/05 -, juris, Rn. 11 ff.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Januar 2006 - 1 Ws 147/05 -, juris, Rn. 2; OLG Hamm, Beschluss vom 13. Juni 2008 - 11 W 78/07 -, juris, Rn. 20 ff.; OLG Hamm, Urteil vom 18. Februar 2009 - 11 U 88/08 -, juris, Rn. 48). Der Bundesgerichtshof ließ die rechtliche Würdigung der Instanzgerichte unbeanstandet, nach der die Unterbringung von fünf Gefangenen in einem 16 m 2 großen Haftraum mit integrierter Toilette ohne räumliche Abtrennung menschenunwürdig sei (vgl. BGH, Urteil vom 4. November 2004 - III ZR 361/03 -, NJW 2005, S. 58 <59>). In einer weiteren Entscheidung erkannte der Bundesgerichtshof als einen die Haftsituation abmildernden Faktor die Verkürzung der täglichen Einschlusszeit an (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September 2006 - III ZB 89/05 -, NJW 2006, S. 3572). Ähnlich erachtete der Berliner Verfassungsgerichtshof in einer Entscheidung die Unterbringung eines Gefangenen in einer Einzelzelle mit einer Grundfläche von 5,25 m 2 ohne räumliche Abtrennung der in die Zelle integrierten, nicht gesondert gelüfteten Toilette über drei Monate hinweg als Verstoß gegen die Menschenwürde (vgl. VerfGH Berlin, Beschluss vom 3. November 2009 - 184/07 -, juris, Rn. 2, Rn. 22 ff.). Schließlich hat auch das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen die Unterbringung von Gefangenen bei Nichteinhaltung der genannten Mindestflächen ohne räumliche Abtrennung der in die Zelle integrierten Toilette als Verstoß gegen die Menschenwürde qualifiziert (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2002 - 2 BvR 553/01 -, NJW 2002, S. 2699 <2700>; vom 13. März 2002 - 2 BvR 261/01 -, NJW 2002, S. 2700 <2701>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2007 - 2 BvR 2201/05 -, juris, Rn. 16 f.).

40

(2) Landgericht und Oberlandesgericht sind bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Amtshaftungsklage in Bezug auf die anspruchsbegründende Voraussetzung der Menschenwürdeverletzung von der geschilderten fach- und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen.

41

Denn die vom Landgericht und Oberlandesgericht als gegeben unterstellten räumlichen Haftbedingungen erfüllen die oben genannten Kriterien für eine Menschenwürdeverletzung, da in den vom Beschwerdeführer bewohnten Hafträumen die üblicherweise veranschlagten Mindestflächen pro Gefangenen unterschritten wurden und die jeweils in die Zelle integrierte Toilette nicht räumlich abgetrennt und belüftet war. Allein der Umstand, dass durch eine verstellbare, nicht durchscheinende Holzwand wenigstens eine Sichtschutzmöglichkeit bei Verrichtung der Notdurft zur Verfügung gestellt worden war, lässt nach obigen Maßstäben eine Menschenwürdeverletzung nicht entfallen. Das Grundrecht der Menschenwürde gebietet insofern auch keine Unterscheidung zwischen Strafhaft und Untersuchungshaft. Ebenso wenig von Belang ist, dass der Beschwerdeführer - wie seine Mitgefangenen auch - Raucher war. Dies mag zwar möglicherweise für die Frage eines Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit Bedeutung erlangen, nicht jedoch für die Frage eines Eingriffs in die Menschenwürde nach den aufgezeigten Maßstäben.

42

Landgericht und Oberlandesgericht durften die Erfolgsaussichten des Rechtsschutzbegehrens auch nicht mit der Begründung scheitern lassen, der Beschwerdeführer könne subjektiv nicht erheblich betroffen gewesen sein, weil er keinen förmlichen Verlegungsantrag bei der Anstaltsleitung auf Verlegung gestellt habe, sondern lediglich bei den Vollzugsbeamten um einen Einzelhaftraum gebeten habe. Zunächst einmal lässt allein der Umstand, keinen förmlichen Antrag auf Änderung eines Zustandes gestellt zu haben, keinen zwingenden Rückschluss auf den Zustand selbst zu, der die Durchführung einer Beweisaufnahme in einem Hauptverfahren entbehrlich machte. Vor dem Hintergrund der geschilderten, die Menschenwürde berührenden, unstreitigen Haftbedingungen widerspricht diese Argumentation ferner dem hohen Schutzgehalt der Menschenwürde. In letzter Konsequenz hieße dies nämlich, einen Eingriff in die Menschenwürde durch einen staatlichen Hoheitsakt von vornherein auszuschließen, wenn gegen diesen kein förmlicher Rechtsbehelf eingelegt wird. Deutet man die Ausführungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts aber dahin, dass der Beschwerdeführer konkludent in die räumlichen Haftbedingungen eingewilligt habe und mithin auf sein Grundrecht auf Menschenwürde verzichtet habe, ist dies ebenfalls nicht tragfähig. Zum einen haben Landgericht und Oberlandesgericht nicht geprüft, ob die Annahme einer konkludenten Einwilligung des Beschwerdeführers in seiner Eigenschaft als Untersuchungsgefangener schon einfachrechtlich durch § 119 Abs. 2 Satz 1 StPO a.F. verstellt war beziehungsweise ob die von der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an eine konkludente Einwilligung des Beschwerdeführers in seiner Eigenschaft als Strafgefangener erfüllt waren (vgl. OLG Celle, Urteil vom 2. Dezember 2003 - 16 U 116/03 -, NJW-RR 2004, S. 380 <381>; OLG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juli 2005 - 12 U 300/04 -, NJW-RR 2005, S. 1267 <1268>). Zum anderen haben Landgericht und Oberlandesgericht nicht geprüft, ob die Menschenwürde überhaupt ein disponibles Grundrecht ist, das einen Grundrechtsverzicht zulässt (vgl. ablehnend: BVerwG,  Urteil vom 17. Oktober 2000- BVerwG 2 WD 12/00, 13/00 -, NJW 2001, S. 2343 <2344>; BSG, Urteil vom 6. Mai 2009 - B 11 AL 11/08 -, juris, Rn. 25). Auch diese Rechtsfragen können nicht als hinreichend - zu Lasten des Beschwerdeführers - geklärt im Sinne des oben erörterten Maßstabes der Rechtsschutzgleichheit für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe angesehen werden.

43

Das Landgericht verkennt darüber hinaus noch, dass die Menschenwürde nicht aufgrund gesetzlicher Bestimmungen eingeschränkt werden kann und folglich § 201 Nr. 3 Satz 1 StVollzG nicht als gesetzliche Rechtfertigungsgrundlage herangezogen werden kann. Ferner wird es den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht gerecht, indem es - entgegen grundsätzlich anderslautender obergerichtlicher Rechtsprechung (vgl. BGH, Urteil vom 4. November 2004 - III ZR 361/03 -, NJW 2005, S. 58 <59>; OLG Celle, Urteil vom 2. Dezember 2003 - 16 U 116/03 -, NJW-RR 2004, S. 380 <381>; OLG Hamm, Beschluss vom 13. Juni 2008 - 11 W 54/08 -, juris, Rn. 42 u. 65) - ein Verschulden des Antragsgegners, bezogen auf die konkrete, möglicherweise menschenunwürdige Unterbringung des Beschwerdeführers, allein durch pauschale Verweisung auf dessen Vortrag über seine Bemühungen zur Verbesserung der allgemeinen Haftsituation im Land ohne nähere Prüfung im Hauptverfahren bereits im Prozesskostenhilfeverfahren verneint.

44

bb) Indem Landgericht und Oberlandesgericht von vornherein der beabsichtigten Amtshaftungsklage jegliche Erfolgsaussicht abgesprochen haben, haben sie mithin den Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit verletzt.

45

c) Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auch auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass Landgericht und Oberlandesgericht bei der erforderlichen Beachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe in der Sache zumindest teilweise zu einer anderen Entscheidung gelangt wären.

46

4. Weiterhin steht auch nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit fest, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben würde (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>), weil er es möglicherweise gemäß § 839 Abs. 3 BGB vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden.

47

a) Denn zum einen kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Schadensersatzpflicht gemäß § 839 Abs. 3 BGB nur dann vollumfänglich verneint werden, wenn die Einlegung eines gebotenen Rechtsbehelfs den Eintritt des Schadens gänzlich verhindert hätte. Wenn die Einlegung eines Rechtsbehelfs erst von einem bestimmten Zeitpunkt an weitere Schäden verhindert hätte, entfällt der Schadensersatzanspruch nur für diesen späteren Schäden, bleibt jedoch für die bereits vorher entstandenen Schäden bestehen (vgl. BGH, Urteil vom 16. Januar 1986 - III ZR 77/84 -, NJW 1986, S. 1924; speziell für eine Amtshaftungsklage wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen: OLG München, Beschluss vom 10. August 2006 - 1 W 1314/06 -, NJW 2007, S. 1986).

48

b) Zum anderen ist für die Kausalität zwischen der Nichteinlegung des Rechtsbehelfs und dem Schadenseintritt der Schädiger beweispflichtig (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 2003 - III ZR 342/02 -, NJW 2004, S. 1241 <1242>; Urteil vom 11. März 2010 - III ZR 124/09 -, NJW-RR 2010, S. 1465) und bei der Frage, welchen Verlauf die Sache genommen hätte, wenn der Rechtsbehelf eingelegt worden wäre, ist grundsätzlich auch zu berücksichtigen, wie nach der wirklichen Rechtspraxis entschieden worden wäre (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 2003 - III ZR 342/02 -, NJW 2004, S. 1241 <1242>). Vorliegend hat der Beschwerdeführer aber ausdrücklich bestritten, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs den Schaden sofort und damit gänzlich verhindert hätte, und, obwohl ihm diesbezüglich nicht die Darlegungslast zufiel, auch konkrete tatsächliche Anhaltspunkte hierfür aufgezeigt, namentlich aus der Strafvollzugsstatistik zur Mehrfachbelegung in den Justizvollzugsanstalten des Landes zitiert, Beispielsfälle von Strafgefangenen aus einem benachbarten Oberlandesgerichtsbezirk des Landes benannt sowie auf eine Reihe von Beschlüssen des benachbarten Oberlandesgerichts verwiesen, die ein entsprechendes Vollzugsdefizit der Justizvollzugsanstalten mangels räumlicher Kapazitäten konstatierten (vgl. OLG Hamm, Beschlüsse vom 13. Juni 2008 - 11 W 54/08, 11 W 86/07, 11 W 77/07, 11 W 78/07, 11 W 85/07 -, juris). Danach wäre es an dem Land gewesen substantiiert darzulegen, aus welchen Gründen und - hierbei allerdings unter Berücksichtigung des einstweiligen Rechtsschutzes - ab welchem Zeitpunkt diese im Hinblick auf die Haftbedingungen des Beschwerdeführers praktische Wirkung entfaltet hätten.

49

c) Schließlich gelangt man auch nicht zu einer anderen Prognose, wenn man die jüngere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur hypothetischen Kausalität im Rahmen des § 839 Abs. 3 BGB bei Amtshaftungsklagen wegen menschenunwürdiger Haftunterbringung berücksichtigt, in der der Bundesgerichtshof an die aus dem Gebot der Achtung der Menschenwürde folgende rechtliche Erwägung anknüpft, dass die Strafvollstreckung notfalls zu unterbrechen sei, wenn und solange eine weitere Unterbringung nur unter menschenunwürdigen Bedingungen in Betracht komme, und er hieraus folgert, dass vor diesem Hintergrund die Feststellung, dass ein Rechtsmittel an der Haftsituation nichts ändern könne, rechtsfehlerhaft sei (vgl. BGH, Urteil vom 11. März 2010 - III ZR 124/09 -, NJW-RR 2010, S. 1465 <1466>). Denn wie das Bundesverfassungsgericht insofern bereits festgestellt hat, geht mit dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht zwingend einher, dass ein Rechtsbehelf zum maßgeblichen Zeitpunkt in der Rechtspraxis auch effektiv umgesetzt worden wäre und damit das Ergreifen der Rechtsschutzmöglichkeiten möglich, zumutbar und erfolgversprechend gewesen wäre (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 409/09 -, NJW-RR 2011, S. 1043 <1046 f.>).

50

d) Ob ein Rechtsbehelf in der vorliegenden Konstellation möglich, zumutbar und erfolgversprechend gewesen wäre und ob und inwieweit die Nichteinlegung eines Rechtsbehelfs bereits in der Vergangenheit entstandene Ansprüche aus § 839 BGB tangiert, wird sich mithin nur mithilfe der Durchführung eines Hauptsacheverfahrens klären lassen.

51

e) Hieran ändert auch die vom Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen im Verfassungsbeschwerdeverfahren nach Ende der Stellungnahmefrist erstmals vorgelegte Kopie der "Anlage zur Aufnahmeverhandlung" nichts, ausweislich welcher der Beschwerdeführer am 12. Januar 2006 unter anderem eine Einverständniserklärung mit der gemeinsamen Unterbringung mit anderen Gefangenen unterzeichnet haben soll. Denn diese war zum Zeitpunkt der angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen nicht Verfahrensgegenstand. Ob und inwieweit der Sachvortrag insofern im Ausgangsverfahren noch ergänzt wird, ist Sache der Antragsgegner. Den Fachgerichten obläge es dann zu prüfen, inwieweit diese Einverständniserklärung zur gemeinsamen Unterbringung oder die Nichtrücknahme der Einverständniserklärung nach Kenntnisnahme der konkreten Haftbedingungen gemäß § 119 Abs. 2 Satz 2 StPO a.F. - etwa im Rahmen des § 839 Abs. 3 BGB oder des § 254 BGB - Auswirkungen auf die Erfolgsaussichten des geltend gemachten Amtshaftungsanspruches haben können.

52

5. Im Hinblick auf die Rügen der Verletzung weiterer Grundrechte wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

53

6. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 3 BVerfGG.

54

7. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

(1) Dem Gegner ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, ob er die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für gegeben hält, soweit dies aus besonderen Gründen nicht unzweckmäßig erscheint. Die Stellungnahme kann vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt werden. Das Gericht kann die Parteien zur mündlichen Erörterung laden, wenn eine Einigung zu erwarten ist; ein Vergleich ist zu gerichtlichem Protokoll zu nehmen. Dem Gegner entstandene Kosten werden nicht erstattet. Die durch die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen nach Absatz 2 Satz 3 entstandenen Auslagen sind als Gerichtskosten von der Partei zu tragen, der die Kosten des Rechtsstreits auferlegt sind.

(2) Das Gericht kann verlangen, dass der Antragsteller seine tatsächlichen Angaben glaubhaft macht, es kann insbesondere auch die Abgabe einer Versicherung an Eides statt fordern. Es kann Erhebungen anstellen, insbesondere die Vorlegung von Urkunden anordnen und Auskünfte einholen. Zeugen und Sachverständige werden nicht vernommen, es sei denn, dass auf andere Weise nicht geklärt werden kann, ob die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint; eine Beeidigung findet nicht statt. Hat der Antragsteller innerhalb einer von dem Gericht gesetzten Frist Angaben über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht glaubhaft gemacht oder bestimmte Fragen nicht oder ungenügend beantwortet, so lehnt das Gericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe insoweit ab.

(3) Die in Absatz 1, 2 bezeichneten Maßnahmen werden von dem Vorsitzenden oder einem von ihm beauftragten Mitglied des Gerichts durchgeführt.

(1) Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Prozeßkostenhilfe mit Ausnahme des § 127 Absatz 2 Satz 2 der Zivilprozeßordnung gelten entsprechend. Macht der Beteiligte, dem Prozeßkostenhilfe bewilligt ist, von seinem Recht, einen Rechtsanwalt zu wählen, nicht Gebrauch, wird auf Antrag des Beteiligten der beizuordnende Rechtsanwalt vom Gericht ausgewählt. Einem Beteiligten, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann auch ein Steuerberater, Steuerbevollmächtigter, Wirtschaftsprüfer, vereidigter Buchprüfer oder Rentenberater beigeordnet werden. Die Vergütung richtet sich nach den für den beigeordneten Rechtsanwalt geltenden Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes.

(2) Prozeßkostenhilfe wird nicht bewilligt, wenn der Beteiligte durch einen Bevollmächtigten im Sinne des § 73 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 bis 9 vertreten ist.

(3) § 109 Abs. 1 Satz 2 bleibt unberührt.

(4) Die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach den §§ 114 bis 116 der Zivilprozessordnung einschließlich der in § 118 Absatz 2 der Zivilprozessordnung bezeichneten Maßnahmen, der Beurkundung von Vergleichen nach § 118 Absatz 1 Satz 3 der Zivilprozessordnung und der Entscheidungen nach § 118 Absatz 2 Satz 4 der Zivilprozessordnung obliegt dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des jeweiligen Rechtszugs, wenn der Vorsitzende ihm das Verfahren insoweit überträgt. Liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe hiernach nicht vor, erlässt der Urkundsbeamte die den Antrag ablehnende Entscheidung; anderenfalls vermerkt der Urkundsbeamte in den Prozessakten, dass dem Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Prozesskostenhilfe gewährt werden kann und in welcher Höhe gegebenenfalls Monatsraten oder Beträge aus dem Vermögen zu zahlen sind.

(5) Dem Urkundsbeamten obliegen im Verfahren über die Prozesskostenhilfe ferner die Bestimmung des Zeitpunkts für die Einstellung und eine Wiederaufnahme der Zahlungen nach § 120 Absatz 3 der Zivilprozessordnung sowie die Änderung und die Aufhebung der Bewilligung der Prozesskostenhilfe nach den §§ 120a und 124 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 der Zivilprozessordnung.

(6) Der Vorsitzende kann Aufgaben nach den Absätzen 4 und 5 zu jedem Zeitpunkt an sich ziehen. § 5 Absatz 1 Nummer 1, die §§ 6, 7, 8 Absatz 1 bis 4 und § 9 des Rechtspflegergesetzes gelten entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Rechtspflegers der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle tritt.

(7) § 155 Absatz 4 gilt entsprechend.

(8) Gegen Entscheidungen des Urkundsbeamten nach den Absätzen 4 und 5 kann binnen eines Monats nach Bekanntgabe das Gericht angerufen werden, das endgültig entscheidet.

(9) Durch Landesgesetz kann bestimmt werden, dass die Absätze 4 bis 8 für die Gerichte des jeweiligen Landes nicht anzuwenden sind.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Das Landessozialgericht kann durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn

1.
dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden,
2.
das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

(2) Das Sozialgericht hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 7. April 2010 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit S 11 AS 956/07 nicht durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG beendet worden ist.

Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Dessau-Roßlau zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

Der Kläger wendet sich gegen einen Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau, in dem dieses seine Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Fiktion einer nach § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingetretenen Klagerücknahme zurückgewiesen hat. In der Sache begehrt der Kläger von der Beklagten u.a. die Übernahme der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung i.H.v. 800,00 EUR monatlich seit Antragstellung (25. Oktober 2004) sowie die Gewährung eines Fahrtkostenzuschusses für den Besuch bei seinen Kindern. Gegen den Leistungsbescheid vom 11. August 2006, mit dem die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 1. September bis 30. November 2006 u.a. Kosten der Unterkunft und Heizung i.H.v. 258,93 EUR bewilligte, legte er erfolglos Widerspruch ein. Am 29. Mai 2007 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Dessau-Roßlau erhoben (S 11 AS 956/07) und sein Begehren weiterverfolgt.

2

Das Sozialgericht hat am 22. Oktober 2008 einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage durchgeführt, zu dem der Kläger persönlich erschienen ist. Er ist beauflagt worden, die Adresse seines Sohnes K. (Vermieter der vom Kläger angemieteten Wohnung) mitzuteilen, Verdienstbescheinigungen für das gesamte Kalenderjahr 2006 sowie alle Kontoauszüge zum Nachweis der Mietzahlungen im Jahr 2006 einzureichen. Er hat daraufhin geäußert, die Mietzahlungen seien nicht klassisch auf ein Konto überwiesen worden. Vielmehr sei die Zahlung dadurch erfolgt, dass er für den Vermieter Baurechnungen und andere Rechnungen beglichen habe. Unter dem 8. Januar 2009 hat das Sozialgericht den Kläger an die Übersendung der angeforderten Unterlagen erinnert und angefragt, ob eine Begründung der Klage erfolgen werde.

3

Mit Schreiben vom 23. März 2009 hat das Sozialgericht an die Beantwortung und Erledigung des gerichtlichen Schreibens vom 8. Januar 2009 erinnert. Es hat eine Frist von vier Wochen bestimmt und vorsorglich auf die Regelung des § 102 Abs. 2 SGG hingewiesen. Unter dem 5. Mai 2009 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers um die Gewährung einer Fristverlängerung gebeten. Der Kläger sei ortsabwesend und könne daher die Unterlagen nicht beibringen. Mit Schreiben vom selben Tag hat er im Nachgang die Anschrift des Sohnes des Klägers K. mitgeteilt; mit Schreiben vom 25. Mai 2009 hat er um erneute Fristverlängerung bis 15. Juni 2009 gebeten. In seiner Kanzlei sei die Neuinstallation des Computersystems erforderlich geworden. Innerhalb dieser Frist ging kein Schriftsatz des Klägers ein. Unter dem 23. Juni 2009 hat das Sozialgericht den Kläger darauf hingewiesen, dass nach § 102 Abs. 2 SGG die Klage als zurückgenommen gelte, wenn er das gerichtliche Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate nicht betreibe. Gleichzeitig hat es den Kläger nochmals aufgefordert, innerhalb von drei Monaten das Verfahren weiter zu betreiben und die gerichtliche Verfügung vom 8. Januar 2009 zu erledigen. Dabei gehe es nicht nur um die Einreichung einer Klagebegründung, sondern vor allem um die Einreichung der im Erörterungstermin angeforderten Unterlagen (Gehaltsnachweise, Nachweise über tatsächliche Mietzahlungen). Sollte dies nicht fristgerecht geschehen, träten die vorstehend genannten Folgen ein. Das Schreiben ist dem Kläger am 7. Juli 2009 zugestellt worden.

4

Der Kläger hat daraufhin die Klage mit Schriftsatz vom 28. August 2009, der per Fax beim Sozialgericht eingegangen ist, begründet und auf die sich in der Anlage befindlichen Unterlagen verwiesen. Anlagen hat der Kläger jedoch per Fax nicht übersandt. Einen Originalschriftsatz hat er trotz zweier Hinweise des Sozialgerichts vom 9. September und 26. Oktober 2009 nicht zu den Akten gereicht. Im letztgenannten Schreiben des Sozialgerichts, das dem Kläger am 4. November 2009 zugestellt worden ist, hat es ihm zudem eine Nachfrist bis 30. November 2009 gesetzt. Sollte diese Frist nicht eingehalten werden, gelte die Klage als zurückgenommen.

5

Nachdem der Kläger auch auf diese Schreiben nicht reagiert hat, hat das Sozialgericht am 1. Dezember 2009 das Verfahren nach § 102 Abs. 2 SGG eingestellt und dies dem Kläger mit Schreiben vom selben Tag mitgeteilt. Am 7. Dezember 2009 ist beim Sozialgericht ein auf den 19. November 2009 datierter Schriftsatz des Klägers eingegangen. Er hat die Prozesskostenhilfeunterlagen und Belege zu den Verrechnungen der Mietzahlungen eingereicht. Daraufhin hat das Sozialgericht mit Schreiben vom 9. Dezember 2009 darauf hingewiesen, dass das Verfahren bereits am 1. Oktober 2009 als erledigt erfasst worden sei. Da die genau bezeichneten Unterlagen nicht innerhalb der gesetzten Frist eingereicht worden seien, gelte die Klage als zurückgenommen.

6

Der Kläger hat am 28. Dezember 2009 die Fortführung des Verfahrens beantragt. Die Hinweise des Gerichts hätten das Verfahren nicht beendet. Er habe sich am 28. August 2009 geäußert. Eine erneute Aufforderung sei Ende Oktober 2009 erfolgt. Damit sei die Frist erneut in Gang gesetzt worden. Er hätte mit dem Kurierdienst ein Zustellungsproblem gehabt, nicht zuletzt möglicherweise durch den Umzug des Gerichts. Das Übersenden einer Auflage, dessen Erfüllung der Kläger im Übrigen für nicht gerechtfertigt halte, könne nicht zur Fiktion eine Klagerücknahme führen. Er habe eine Rechtsfrage zur Entscheidung gestellt und alle erforderlichen Angaben gemacht. Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 7. April 2010 die Klage auf Feststellung, dass das Verfahren S 11 AS 956/07 nicht durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG beendet wurde, zurückgewiesen. Der Kläger sei der ausreichend bestimmten und konkreten Aufforderung des Gerichts vom 23. Juni 2009 nur unzureichend nachgekommen.

7

Trotz mehrmaliger gerichtlicher Erinnerungen seien die geforderten Unterlagen nicht beigebracht worden. Allein die Ankündigung, diese zu übersenden, reiche nicht aus. Nur die Erfüllung der verlangten Mitwirkungshandlung hätte die Annahme des Nichtbetreibens ausschließen können. Auch die nochmalige Fristsetzung des Gerichts nach Eintritt der Rücknahmefiktion ändere nichts an deren Wirksamkeit. Das gerichtliche Schreiben vom 26. Oktober 2009 stelle keine erneute Betreibensaufforderung dar. Es habe den Kläger lediglich erinnern und ihm die Möglichkeit geben wollen, die bereits angekündigten Rechtsfolgen durch Betreiben noch abzuwenden.

8

Gegen den ihm am 12. April 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 12. Mai 2010 Berufung eingelegt. Es hätten zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung keine hinreichenden konkreten Zweifel bestanden, dass sein Rechtsschutzinteresse entfallen sei. Er habe - wenn auch mit wenigen Worten - die Klage begründet und durch die Fristverlängerungsanträge deutlich gemacht, dass ihm am Fortgang des Verfahrens gelegen war. Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 7. April 2010 aufzuheben und festzustellen, dass der Rechtsstreit S 11 AS 956/07 nicht durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG beendet worden ist. Die Beklagte hat Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten, jedoch keinen eigenen Antrag gestellt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte ergänzend verwiesen.Entscheidungsgründe:

9

A. Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft im Sinne von § 144 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 SGG in der ab 1. April 2008 gültigen Fassung. Danach bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die Geld-, Dienst- oder Sachleistungen oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Dabei kommt es für die Anwendung der Verfahrensvorschrift nicht auf die Klageart, sondern das sachliche Ziel des Klagebegehrens an (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Beschluss vom 4. Februar 1976, 9 BV 342/75, juris, Rn. 3). Der Berufungswert ist vorliegend überschritten. Streitgegenstand im vorliegenden Verfahren ist die Feststellung der Unwirksamkeit der vom Sozialgericht festgestellten Klagerücknahmefiktion.

10

Dem rechtlichen Interesse an dieser Feststellung liegt das wirtschaftliche Interesse zugrunde, das sozialgerichtliche Verfahren in der Sache fortführen zu können. In diesem begehrt der Kläger höhere Grundsicherungsleistungen ab 1. Januar 2005. Allein unter Berücksichtigung der beanspruchten Mehrleistung bei den KdU i.H.v. 541,97 EUR/Monat liegt der Streitwert des Verfahrens über 750,00 EUR. B. Die Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht festgestellt, dass das Verfahren S 11 AS 956/07 durch die Fiktion der Klagerücknahme beendet war. Es wird von ihm nach Zurückverweisung fortzuführen sein. Nach § 102 Abs. 2 SGG wird eine Klagerücknahme fingiert, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Gemäß § 102 Abs. 2 Satz 3 SGG ist der Kläger auf die eintretenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

11

Die Fiktion einer Klagerücknahme ist für die Fälle eingeführt worden, in denen Anhaltspunkte für ein Desinteresse der klägerischen Partei an der Fortführung des Rechtsstreits bestehen. Nichtbetreiben liegt vor, wenn die klägerische Partei sich gar nicht oder nur unzureichend innerhalb von drei Monaten äußert, sodass nicht oder nur unzureichend dargelegt ist, dass das Rechtsschutzbedürfnis im konkreten Fall ungeachtet der vorliegenden Indizien fort besteht. Diese Indizwirkung kann die Partei widerlegen, indem sie binnen der Drei-Monats-Frist substantiiert darlegt, dass und warum das Rechtsschutzinteresse trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (Bundesverwaltungsgericht (BVerfG), Kammerbeschluss vom 19. Mai 1993, 2 BvR 1972/92, Rn. 14, juris).

12

Nur wenn beide Voraussetzungen vorliegen, kann von einer willkürfreien, durch Sachgründe gerechtfertigten Beschränkung des Zugangs zum weiteren Verfahren gesprochen werden. Die Regelung des § 102 SGG ist an § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I 1996, 1626) eingefügt wurde und § 81 Asylverfahrensgesetz (AslyVfgG) nachgebildet ist (vgl. BR-Drs. 820/07, S. 23). Auf die hierzu ergangene Rechtsprechung kann folglich zurückgegriffen werden.

13

Die Betreibensaufforderung muss sich hinreichend konkret auf bestimmte verfahrensfördernde Handlungen beziehen, die der Kläger vorzunehmen hat (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 8. Dezember 2009, L 5 R 884/09, Rn 14, juris). Zum Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung müssen weiterhin sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 1985, 9 C 48/84, Rn. 22, juris; Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 27. Oktober 1998, 2 BvR 2662/95, Rn. 18, juris unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerwG zu § 81 AsylVfG (zuvor: § 33 AsylVfG 1982) und § 92 Abs. 2 VwGO). Dies rechtfertigt sich aus dem Ausnahmecharakter der Norm und aus Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG).

14

Eine Verletzung der sich aus § 103 SGG ergebenden prozessualen Mitwirkungspflichten des Klägers kann zwar solche Anhaltspunkte liefern und tut dies in der Regel dann, wenn das Gericht konkrete Auflagen verfügt hat. Stets muss sich daraus aber auch der Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, also auf ein Desinteresse des Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens ableiten lassen können (BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000, 8 B 119/00, Rn. 3, juris). § 102 Abs. 2 SGG ist kein Hilfsmittel zur "bequemen Erledigung lästiger Verfahren" oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen (vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13. Oktober 2005, 1 L 40/05, Rn. 24, juris zu § 92 VwGO m.w.N.).

15

Es bestand entgegen der Ansicht des Sozialgerichts vorliegend bei Erlass der Betreibensaufforderung vom 23. Juni 2009 kein derartig konkreter Anhaltspunkt, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers auszugehen. Im Unterschied zu den Streitigkeiten nach dem AsylVfG, bei denen häufig schon zweifelhaft ist, ob sich ein Kläger überhaupt noch im Bundesgebiet aufhält, lässt sich im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende nur ausnahmsweise auf ein zwischenzeitlich entfallenes Rechtsschutzinteresse des jeweiligen Klägers schließen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. April 2001, 8 B 2/01, Rn. 6, juris für vermögensrechtliche Streitigkeiten). Vorliegend sind existenzsichernde Leistungen im Streit. Der Kläger hat zwar die im Erörterungstermin vom 22. Oktober 2008 an ihn herangetragenen Mitwirkungspflichten nicht vollständig und nicht zeitnah erfüllt. Das Sozialgericht hat jedoch u.a. Mitwirkungshandlungen verlangt, die der Kläger bereits erfüllt hatte bzw. nicht erfüllen konnte.

16

Nach zwei Erinnerungen unter dem 8. Januar und 23. März 2009 hat der Kläger unter dem 5. Mai 2009 die Adresse seines Sohnes Karl mitgeteilt und damit einen Teil der Auflagen aus dem Erörterungstermin erfüllt. Weiterhin hatte er bereits im Erörterungstermin angegeben, über Kontoauszüge zum Beweis der Mietzahlungen nicht zu verfügen, da er die Miete in Form der Übernahme von Rechnungen gezahlt habe. Schließlich sieht § 92 SGG eine Klagebegründung nicht zwingend vor.

17

Auch die von seinem Prozessbevollmächtigten beantragten, substantiiert begründeten Fristverlängerungen (Ortabwesenheit des Klägers, Erneuerungsbedürftigkeit des Computersystems in der Kanzlei seines Prozessbevollmächtigten) lassen hier nicht auf einen Wegfall seines Rechtsschutzinteresses schließen. Der Kläger hat damit hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er weiterhin gewillt ist, das sozialgerichtliche Verfahren weiter zu betreiben.

18

Allein die Nichtvorlage der Verdienstbescheinigungen hat hier nicht die Annahme eines Wegfalls seines Rechtsschutzinteresses gerechtfertigt. Das Gericht hatte zudem die Möglichkeit, den Kläger unter Fristsetzung nach § 106a SGG aufzufordern, die Unterlagen einzureichen. Die Amtsermittlungspflicht des Gerichts verringert sich, wenn die Partei ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen ist. Weigert sich ein Beteiligter, der aus einem bestimmten Sachverhalt für ihn günstige Rechtsfolgen herleitet, dem Gericht nähere Angaben zu machen, obwohl er es könnte und ihm dies nicht unzumutbar ist, verletzt das Gericht seine Amtsermittlungspflicht nicht, wenn es keine weiteren Ermittlungen mehr anstellt (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008, B 1 KN 3/08 KR R, Rn. 24, 25, juris). Der Kläger bliebe im vorliegenden Fall für die Voraussetzungen einer Hilfebedürftigkeit darlegungs- und beweisfällig.

19

Nach alledem konnte das Sozialgericht am 23. Juni 2009 bei Erlass der Betreibensaufforderung nicht annehmen, der Kläger sei offenbar an der weiteren Verfolgung seines Begehrens nicht mehr interessiert und sein Rechtsschutzinteresse deshalb vermutlich entfallen. Weiterhin hat der Kläger nach der Betreibensaufforderung des Sozialgerichts unter dem 28. August 2009 die Klage wenigstens im Ansatz näher begründet und eine Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung angeregt. Das Sozialgericht hätte dieses Vorgehen wenigstens als "Teilerfüllung" seiner Auflagen werten müssen, die es ausschloss, weiterhin anzunehmen, das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage sei entfallen (OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12. Juni 2001, Rn. 19, juris).

20

Die gesetzlich bestimmte Rücknahmefiktion war damit nicht eingetreten. Da das sozialgerichtliche Verfahren somit an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG leidet und das Sozialgericht wegen der zu Unrecht angenommenen Wirksamkeit der Klagerücknahme in der Sache nicht entschieden hat, hält der Senat eine Zurückverweisung für sachdienlich.

21

Eine Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten, da der Rechtsstreit S 11 AS 956/07 in erster Instanz noch nicht beendet ist.

22

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Senat weicht nicht von der ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung ab. Eine Entscheidung über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung hat der Senat nicht getroffen.


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 17. Januar 2012 wird aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass das erstinstanzliche Klageverfahren nicht durch eine fiktive Klagerücknahme erledigt und das Verfahren beim Sozialgericht Halle fortzuführen ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht bei Verfahrensabschluss vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Kläger wenden sich gegen die Feststellung, dass von ihnen beim Sozialgericht Halle (SG) betriebene Klageverfahren sei beendet, weil die Klage nach § 102 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als zurückgenommen gelte.

2

Die anwaltlich vertretenen Kläger haben am 14. Juli 2010 Klage beim SG erhoben (Aktenzeichen: S 3 AS 4019/10) und als Klagegegenstand angegeben: "Endgültige Festsetzung des Leistungsanspruches nach SGB II; Leistungszeitraum 07 bis 12/2006". Als Antrag haben sie angekündigt: "1. den Bescheid vom 24.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.06.2010, zugegangen am 17.06.2010, aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Klägern Leistungen nach SGB II in gesetzlicher Höhe zu zahlen." Unter der Überschrift "Begründung" waren die in Kopie der Klageschrift beigefügten Bescheide aufgeführt und es wurde ausgeführt, die Begründung bleibe einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 20. August 2010 den Antrag angekündigt, die Klage abzuweisen und ausgeführt, neue rechtserhebliche Gesichtspunkte seien nicht vorgetragen worden.

3

Mit Schreiben vom 5. Oktober 2010 hat der Kammervorsitzende beim SG die Prozessbevollmächtigte der Kläger an die Übersendung einer Klagebegründung erinnert. In einem weiteren gerichtlichen Schreiben vom 25. Januar 2011 an die Prozessbevollmächtigte der Kläger hat der Kammervorsitzende dann ausgeführt: " ... habe Sie trotz mehrfacher Aufforderung bzw. Erinnerungen bis heute die Klage nicht begründet. Dies lässt den Schluss zu, dass an der Fortführung des Rechtsstreits kein Interesse besteht. Ferner führt dieses Nichtbetreiben des Verfahrens nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.03.2008, BGBl. I Seite 444, dazu, dass die Klage als zurückgenommen gilt. Sollte innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Zustellung dieser Aufforderung keine weitere Äußerung von Ihnen hier eingehen, wird das Verfahren daher abgeschlossen. Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass ein Antrag auf Fristverlängerung nicht als Betreiben des Verfahrens gilt." Am Ende des Schreibens befindet sich unter der Grußformel die Unterschriftszeile "gez. I. - Richter am Sozialgericht". Ausweislich des zur Akte gelangten Empfangsbekenntnisses ist dieses Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Kläger am 20. Februar 2011 zugegangen.

4

Mit einem am 22. März 2011 beim SG eingegangenen Schreiben hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger mitgeteilt: Ein weiterer bisher neben ihr in der Kanzlei tätiger Rechtsanwalt, der fast ausschließlich die sozialrechtlichen Angelegenheiten bearbeitet habe, sei ausgeschieden. Sie müsse nun mit erheblichem zeitlichem Aufwand diese Mandate bearbeiten. Unter Beachtung dieser Situation bitte Sie, die gesetzte Frist bis zum 31. Mai 2011 zu verlängern. Mit Schreiben vom 30. Mai 2011 hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger dann den Antrag gestellt, die Frist noch einmal bis zum 30. Juni 2011 zu verlängern: Es habe sich die Notwendigkeit herausgestellt, mit den Klägern zu sprechen. Dies sei wegen totaler Arbeitsüberlastung noch nicht möglich gewesen.

5

Mit einer Verfügung vom 8. Juni 2011 hat der Kammervorsitzende beim SG dann die Erledigung des Verfahrens durch Rücknahme festgestellt und dies den Beteiligten mit Schreiben vom 21. Juni 2011 mitteilen lassen. Hiergegen hat sich für die Kläger deren Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 5. Juli 2011 gewandt und ausgeführt: Sie habe nach der Betreibensaufforderung unter Hinweis auf die besondere Situation ihrer Kanzlei und die extreme Arbeitsbelastung um Verlängerung der Frist für die Begründung der Klage gebeten. Ein Rechtsverlust für die Kläger, wie er bei fingierter Rücknahme eintreten würde, sei hier unverhältnismäßig.

6

Das SG hat daraufhin das Verfahren unter neuen Aktenzeichen (S 3 AS 3771/11 WA) wiederaufgenommen und nach mündlicher Verhandlung mit Urteil vom 17. Januar 2012 festgestellt, der Rechtsstreit sei durch Klagerücknahme am 21. Mai 2011 beendet worden. In den Gründen hat das SG ausgeführt, die nach der Betreibensaufforderung durch das Gericht in der Dreimonatsfrist erfolgten Verlängerungsanträge hätten kein Betreiben des Rechtsstreits dargestellt.

7

Gegen das ihr am 10. März 2012 zugestellte Urteil hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger am 22. März 2012 Berufung eingelegt und vorgetragen: Seitens des erstinstanzlichen Gerichts sei keine konkrete Aufforderung, z. B. bestimmte Unterlagen beizubringen, erfolgt. Es sei auch von ihr nach der Betreibensaufforderung dargelegt worden, dass ein Interesse der Kläger an der Fortführung des Verfahrens bestehe. Das SG habe den Ausnahmecharakter der Regelung in § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG verkannt.

8

Die Kläger beantragen sinngemäß,

9

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 17. Januar 2012 aufzuheben und festzustellen, dass das Klageverfahren nicht infolge einer nach § 102 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz anzunehmenden Klagerücknahme beendet ist.

10

Der Beklagte hat sich in diesem Verfahren nicht inhaltlich geäußert.

11

Die Beteiligten haben sich jeweils mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

12

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

13

Der Senat konnte nach den §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Die Berufung der Kläger hat Erfolg.

14

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig. Insbesondere ist sie auch nach § 143 SGG statthaft. Die Berufung betrifft nicht eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt. Auch wenn das Begehren der Kläger letztlich auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) gerichtet ist, ist Gegenstand dieses Verfahrens ausschließlich die Frage, ob das Klageverfahren beendet ist. Deshalb greift die mögliche Beschränkung der Zulässigkeit nach § 144 Abs. 1 SGG nicht ein.

15

Die Berufung ist begründet, denn anders als vom SG angenommen, liegen die Voraussetzungen für die Fiktion einer Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht vor. Nach dieser mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I 444) mit Wirkung vom 1. April 2008 in das SGG eingefügten Norm gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz einer Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Greift die Rücknahmefiktion ein, ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt (§ 102 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 SGG).

16

Voraussetzung für die Rücknahmefiktion ist zunächst eine Betreibensaufforderung durch das Gericht. Zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung muss - als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal - nach dem prozessualen Verhalten des klagenden Beteiligten hinreichend Anlass bestehen, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen. Denn bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Unterfall des Wegfalls des Rechtsinteresses (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 1. Juli 2010, B 13 R 58/09 R, zitiert nach juris, Rdnr. 15 und 46 mit weiteren Hinweisen).

17

Der Senat geht mit dem SG davon aus, dass zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses für die Klage auszugehen. Denn ausreichend sind hinreichend konkrete, auf sachlich begründeten Anhaltspunkten beruhende Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzbedürfnisses. Diese können sich aus dem fallbezogenen Verhalten der Kläger, aber auch aus der Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten ergeben (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 30. August 2011, L 9 AS 61/10, zitiert nach juris, Rdnr. 28f.). Ein sicherer, über begründete Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses hinausgehender Schluss ist nicht erforderlich (vgl. Beschluss des Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) vom 7. Juli 2005, 10 BN 1/05, zur vergleichbaren Regelung in § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), zitiert nach juris, Rdnr. 4). Aus der Klageschrift, mit der die Klage am 14. Juli 2010 erhoben wurde, ging zwar hervor, dass Klagegegenstand wohl der Anspruch auf (höhere) Leistungen nach dem SGB II sein sollte. In welchem Umfang und mit welcher Begründung höhere Leistungen begehrt wurden, war aber nicht erkennbar. Insofern wurde nicht deutlich, welche Interessen genau mit der Klage verfolgt werden sollten. Trotz der Aufforderung zur Klagebegründung Anfang Oktober 2010 war dann bis zu der mit Schreiben von 25. Januar 2011 ergangenen Betreibensaufforderung keine Reaktion der Prozessbevollmächtigen des Klägers erfolgt. Dies war geeignet, ein mangelndes Interesse der Kläger an der Fortführung des Klageverfahrens zu indizieren.

18

Letztlich kann aber hier offen bleiben, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die mit einer wirksamen Fristsetzung (zu den Formerfordernissen siehe das oben zitierte Urteil des BSG vom 1. Juli 2010, Rdnr. 48f.) verbundene Betreibensaufforderung vorlagen. Denn innerhalb der ab Zugang der Betreibensaufforderung bei der Prozessbevollmächtigen der Kläger am 20. Februar 2011 in Gang gesetzten Dreimonatsfrist haben die Kläger das Verfahren betrieben, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht erfüllt werden konnten.

19

Das SGG enthält keine Definition des Begriffs des Betreibens. Von der Wortbedeutung und dem Zusammenhang her liegt es nahe, unter einem Betreiben ein aktives Handeln zu verstehen, dass grundsätzlich geeignet ist, das Verfahren im Sinn auf eine Entscheidungsreife hin zu fördern. Allerdings muss die Auslegung des Begriffs auch dem besonderen Ausnahmecharakter der Rücknahmefiktion gerecht werden, die bei ihrer Auslegung und Anwendung zu beachten ist (siehe dazu das oben zitierte Urteil des BSG vom 1. Juli 2010, Rdnr. 42 mit weiteren Nachweisen). Die Betreibensaufforderung hat den Sinn, die Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses innerhalb der gesetzten Frist zu klären. Ein Betreiben innerhalb der durch die Betreibensaufforderung in Gang gesetzten Frist liegt deshalb auch dann vor, wenn substantiiert dargetan wird, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (vgl. Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19. Mai 1993, 2 BvR 1972/92, zur Auslegung des Begriffs des Betreibens in der vergleichbaren Regelung in § 33 Asylverfahrensgesetzes (AsylVfg) a. F., zitiert nach juris, Rdnr. 14 u. 16). Dies wurde auch vom Gesetzgeber bei der Schaffung des § 102 SGG so gesehen. In der Begründung des Gesetzesentwurfs wird ausgeführt, ein Nichtbetreiben im Sinne des Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift liege dann vor, wenn sich der Kläger auf die Aufforderung des Gerichts nicht oder nur unzureichend innerhalb der drei Monate äußere, sodass nicht oder nur unzureichend dargelegt sei, dass das Rechtsschutzinteresse ungeachtet der vorliegenden Indizien fortbesteht (BT-DRs. 16/7716, S. 19 zu Nummer 17 (§ 102)). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es im Sinne der Vorschrift für ein Betreiben ausreicht, mit hinreichender Deutlichkeit darzulegen, dass ein Rechtsschutzinteresse trotz der zur Betreibensaufforderung führenden Umstände weiter besteht. Vor diesem Hintergrund werden für ein Betreiben ein unbegründeter Fristverlängerungsantrag oder die einfache Mitteilung, das Verfahren solle fortgeführt werden, nicht ausreichen. Ausreichend ist aber die Darlegung, warum aus den für die Betreibensaufforderung maßgeblichen Umständen im konkreten Fall nicht auf ein fehlendes Interesse an der Fortführung des Rechtsstreits geschlossen werden kann. Welche Anforderungen dabei an die Substantiierung der Darlegung zu stellen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.

20

Im konkreten Fall liegt jedenfalls eine ausreichend substantiierte Darlegung im oben bezeichneten Sinne vor. Aus dem am 22. März 2011 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Kläger ergab sich eindeutig, dass ein Interesse der Kläger an der Fortführung des Verfahrens weiter bestand und eine inhaltliche Berufungsbegründung bisher nur aufgrund der hohen Arbeitsbelastung der Prozessbevollmächtigten der Kläger unterblieben war. Die hohe Arbeitsbelastung wurde nachvollziehbar mit der besonderen Situation der Kanzlei nach dem Ausscheiden des bisher die sozialrechtlichen Mandate betreuenden Rechtsanwalts begründet. Der Eingang dieses Schreibens lag auch innerhalb der am 20. Februar 2011 in Gang gesetzten Dreimonatsfrist.

21

Die Kostenentscheidung bleibt der erstinstanzlichen Entscheidung vorbehalten.

22

Gesetzliche Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.


(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 11. April 2011 abgeändert.

Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 13. Dezember 2010 wird als unzulässig verworfen.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten für das Berufungs- und das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Zulässigkeit einer Untätigkeitsklage.

2

Nachdem das Sozialgericht Hildesheim (SG) mit Beschluss vom 19.6.2009 die Erinnerung gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss zurückgewiesen hatte, beantragten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 1.7.2009 beim beklagten Land, die Gebühren für ihre Tätigkeit im Erinnerungsverfahren auf 124,95 Euro festzusetzen. Dieses teilte daraufhin mit Schreiben vom 4.8.2009 den Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit, dass es nicht bereit sei, Gebühren für das Erinnerungsverfahren zu erstatten. Das SG habe mit Beschluss vom 19.6.2009 entschieden, dass im Erinnerungsverfahren keine Kostenentscheidung ergehe und insofern auch kein Kostenerstattungsanspruch bestehe. Hiergegen legten die Prozessbevollmächtigten am 13.8.2009 Widerspruch ein.

3

Nachdem der Beklagte daraufhin mit Schreiben vom 19.8.2009 und 3.12.2009 die Auffassung geäußert hatte, bei dem Schreiben vom 4.8.2009 habe es sich nicht um einen Bescheid, sondern nur um eine Mitteilung gehandelt, sodass der Erlass eines Widerspruchsbescheids nicht in Betracht komme, erhoben die Prozessbevollmächtigten am 11.12.2009 (Untätigkeits-)Klage zum SG mit dem Ziel, den Beklagten zur Bescheidung des Widerspruchs zu verpflichten. Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 13.12.2010 der Klage stattgegeben und den Beklagten verpflichtet, den Widerspruch zu bescheiden. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) mit Urteil vom 11.4.2011 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die (Untätigkeits-)Klage abgewiesen, weil diese unzulässig sei.

4

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegt, die sie mit grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG),dem Vorliegen einer Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG)sowie eines Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG)begründet. Das LSG hätte im Hinblick auf den Gegenstandswert des Verfahrens die Berufung des beklagten Landes als unzulässig verwerfen müssen.

5

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG ist unter Verstoß gegen Verfahrensrecht ergangen. Das LSG hätte die Berufung als unzulässig verwerfen müssen. Der von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel führt entsprechend § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Abänderung des Urteils des LSG und zur Verwerfung der Berufung des Beklagten.

6

Die Klägerin hat den als Zulassungsgrund geltend gemachten Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG)formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG)gerügt. Mit ihrer Rüge, das LSG hätte im Hinblick auf den Gegenstandswert des Verfahrens die Berufung des Beklagten als unzulässig verwerfen müssen, macht die Klägerin sinngemäß geltend, dass statt der Entscheidung in der Sache ein Prozessurteil hätte ergehen müssen. Damit hat sie einen Verfahrensmangel bezeichnet (vgl BSGE 34, 236, 237 = SozR Nr 57 zu § 51 SGG; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 6 RdNr 16; BSG SozR 4-1750 § 174 Nr 1 RdNr 4).

7

Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt auch vor, denn das LSG hat zu Unrecht in der Sache entschieden. Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 13.12.2010 war nicht zulässig, sie hätte gemäß § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG der Zulassung bedurft.

8

Nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG(in der hier anwendbaren Fassung des Art 1 Nr 24 Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008 - BGBl I 444) bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des SG oder auf Beschwerde durch Beschluss des LSG, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt.

9

Verschiedene Senate der Landessozialgerichte (vgl etwa LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 8.11.2007 - L 15 B 174/07 SO NZB - RdNr 2; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 15.9.2009 - L 5 AS 925/09 NZB - RdNr 8; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 22.9.2010 - L 10 AS 886/10 - RdNr 23, 27; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 18.11.2010 - L 7 SO 2708/10 - RdNr 15) sind zwar der Auffassung, dass die Wertgrenze des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG nicht für Untätigkeitsklagen gelte, weil mit diesen nur der Erlass eines beantragten, aber bisher nicht ergangenen Verwaltungsakts oder die Bescheidung eines Widerspruchs begehrt werden könne; eine Untätigkeitsklage sei demnach nicht auf eine Geld- oder Sachleistung gerichtet. Diese Auffassung übersieht jedoch, dass der Wortlaut des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG zwei Alternativen enthält, zum einen Klagen, "die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung" betreffen (1. Alt), zum anderen Klagen, die "einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt" betreffen (2. Alt).

10

Von der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 2. Alt SGG werden auch Untätigkeitsklagen erfasst, denn diese sind entweder auf die Vornahme eines beantragten, aber ohne zureichenden Grund innerhalb von sechs Monaten nicht erlassenen Verwaltungsakts gerichtet (§ 88 Abs 1 SGG), oder sie haben den Erlass eines Widerspruchsbescheides zum Gegenstand, wenn ohne zureichenden Grund innerhalb von drei Monaten über einen Widerspruch nicht entschieden worden ist (§ 88 Abs 2 SGG). Betreffen die zu erlassenden Verwaltungsakte Geld-, Dienst- oder Sachleistungen, die einen Wert von 750 Euro nicht übersteigen, unterliegt auch die Untätigkeitsklage der Berufungsbeschränkung.

11

Diese sich aus dem Wortlaut des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 2. Alt SGG ergebende Auslegung wird auch vom Sinn und Zweck der durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993 (BGBl I 50) eingeführten Regelung gestützt. Danach sollen die Berufungsgerichte von vermögensrechtlichen Streitsachen von geringem Wert (sog Bagatellfälle) entlastet werden (vgl BT-Drucks 12/1217, S 52, 71; BT-Drucks 16/7716, S 21; BSG SozR 3-1500 § 144 Nr 16 S 45; BSG SozR 3-2500 § 81 Nr 8 S 40). Die gewählte Klageart ist mithin für die Anwendung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG bedeutungslos(so bereits Kummer, NZS 1993, 285, 288; vgl auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 144 RdNr 8). Entscheidend ist, dass die Berufung einen Rechtsstreit von geringem Wert betrifft. Demnach kann auch eine Untätigkeitsklage der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG unterliegen, etwa wenn die Untätigkeit der Verwaltung darin besteht, dass sie über einen geltend gemachten Leistungsanspruch von geringem Wert nicht entscheidet oder einen Widerspruch, der einen sog Bagatellfall betrifft, nicht bescheidet(im Ergebnis ebenso LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 5.9.2008 - L 1 KR 13/08 NZB - RdNr 11; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 29.4.2010 - L 12 AL 5449/09 - Breith 2010, 877, 879 = NZS 2011, 77, 78). So liegt der Fall hier.

12

Die Klägerin hat, nachdem der Beklagte mit Schreiben vom 4.8.2009 mitgeteilt hatte, es bestehe kein Kostenerstattungsanspruch (in Höhe der von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin geltend gemachten 124,95 Euro), Widerspruch eingelegt und, nachdem dieser nach Ablauf von drei Monaten nicht beschieden worden war, Untätigkeitsklage nach § 88 Abs 2 SGG erhoben. Die Berufung des Beklagten gegen den der Untätigkeitsklage stattgebenden Gerichtsbescheid hätte mithin im Hinblick auf den Rechtsmittelstreitwert von 124,95 Euro nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG der Zulassung im Gerichtsbescheid des SG oder auf Beschwerde durch Beschluss des LSG bedurft. Eine solche Zulassung liegt nicht vor. Eine Entscheidung über die Zulassung ist weder dem Tenor noch den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Gerichtsbescheides zu entnehmen. Das SG hat dem Gerichtsbescheid lediglich die bei zulässiger Berufung übliche Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt. Diese genügt jedoch nicht den Anforderungen an eine positive Entscheidung über die Zulassung der Berufung (vgl etwa BSGE 5, 92, 95; BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 1 S 5; BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 3 S 13). Das LSG hätte deshalb die Berufung des Beklagten nach § 158 SGG als unzulässig verwerfen müssen. Zugleich hätte es diesen darauf hinweisen können, dass innerhalb der noch offenen Jahresfrist des § 66 Abs 2 SGG eine Nichtzulassungsbeschwerde(§ 145 SGG) eingelegt werden kann.

13

Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit insoweit Gebrauch, als er das in der Sache entscheidende Urteil des LSG abändert. Von einer Zurückverweisung sieht er deshalb ab, weil das LSG - wie ausgeführt - die Berufung nur als unzulässig verwerfen könnte. Unter diesen Umständen kann der Senat die gebotene Entscheidung auch selbst treffen (zum ausnahmsweise zulässigen Durchentscheiden bei unzulässiger Klage: BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 6 RdNr 22 f; BSG Beschluss vom 30.11.2006 - B 9a VJ 7/05 B - RdNr 18).

14

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

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Tenor

1. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 06.02.2012 wird aufgehoben.

2. Es wird festgestellt, dass das Verfahren S 14 AS 1884/11 vor dem Sozialgericht Speyer fortzuführen ist.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob das Verfahren in der ersten Instanz durch Klagerücknahmefiktion nach § 102 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erledigt ist.

2

Mit Bescheid vom 03.11.2010 hob der Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom 01.03.2009 bis 20.04.2009 teilweise in Höhe von 452,80 EUR auf und forderte diese von der Klägerin zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, sie habe während des genannten Zeitraums Einkommen aus einer Beschäftigung in einem Café erzielt und sei daher nicht in bisher festgestellter Höhe hilfebedürftig i. S. d. § 9 SGB II.

3

Der Beklagte stützte sich insoweit auf eine Meldebescheinigung zur Sozialversicherung vom 27.04.2009 des Arbeitgebers J K , wonach die Klägerin vom 11.03. bis 30.04.2009 bei ihm beschäftigt gewesen sei und dafür 699,00 EUR erhalten habe, sowie auf eine weitere Auskunft von diesem, nach der die Klägerin im Café V gearbeitet und dafür im März 300,00 EUR und im April 399,00 EUR bekommen habe.

4

Die Klägerin erhob dagegen Widerspruch. Bei einer persönlichen Vorsprache am 08.11.2010 gab sie gegenüber dem Beklagten an, sie habe nur im März 2009 in dem Café gearbeitet; im April nicht mehr. Im März habe sie ca 200,00 EUR bekommen, die ihr bar abends nach der Schicht ausgezahlt worden seien. Ab dem 20.04.2009 habe sie in Vollzeit eine Meisterschule besucht und in dem Café nicht mehr arbeiten können.

5

Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 11.11.2010 mit der Begründung zurückgewiesen, die Beschäftigung der Klägerin sei durch einen Datenabgleich mit dem Rentenversicherungsträger bekannt geworden. Der Beklagte habe das von der Firma gemeldete Arbeitsentgelt zugrunde gelegt.

6

Am 27.12.2010 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Speyer erhoben und nochmals darauf hingewiesen, dass sie im April 2009 nicht mehr gearbeitet habe. Durch gerichtliches Schreiben vom 22.02.2011 ist die Klägerin aufgefordert worden, bis zum 30.03.2011 zu belegen, dass sie im Monat April 2010 kein Arbeitsentgelt bezogen habe. Mit Schreiben vom 13.04.2011 ist sie nochmals daran erinnert worden. Mit Schreiben vom 17.05.2011 hat die Vorsitzende der 14. Kammer des Sozialgerichts Speyer letztmals aufgefordert, auf das Schreiben zu antworten. Die Klage gelte gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen, wenn das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betrieben werde. Dieses Schreiben ist der Klägerin am 19.05.2011 zugestellt worden.

7

Am 01.09.2011 hat die Vorsitzende eine Verfügung unterzeichnet, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme am 22.08.2011 erledigt sei. Mit gerichtlichem Schreiben vom 01.09.2011 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden.

8

Am 28.09.2011 hat die Klägerin gegen den "Beschluss des Sozialgerichts Speyer vom 01.09.2011" Beschwerde eingelegt. Zur Begründung ist vorgetragen worden, die Klagerücknahmefiktion könne nicht greifen, nachdem die Auflage des Gerichtes, den Kontoauszug für April vorzulegen, am 17.03.2011 erfüllt worden sei. Der erkennende Senat des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz hat die Beschwerde durch Beschluss vom 10.11.2011 wegen Fehlens einer beschwerdefähigen Entscheidung des Sozialgerichts als unzulässig verworfen.

9

Mit Schreiben vom 21.12.2011 hat die Klägerin beim Sozialgericht Speyer den Antrag gestellt, das Verfahren fortzuführen.

10

Nach Anhörung zur geplanten Entscheidung durch Gerichtsbescheid hat das Sozialgericht Speyer durch Gerichtsbescheid am 06.02.2012 festgestellt, dass die Klage zurückgenommen worden ist. Die am 27.12.2010 erhobene Klage habe sich durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG erledigt. Danach gelte die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibe. Ein Nichtbetreiben liege vor, wenn sich der Kläger auf die Aufforderung innerhalb von 3 Monaten nicht oder nur unzureichend geäußert habe. Vorliegend sei die Klägerin aufgefordert gewesen zu belegen, dass sie im April 2010 kein Arbeitsentgelt bezogen habe. Entgegen der Behauptung des Prozessbevollmächtigten sei der Kontoauszug für April 2010 nicht eingegangen. Das Hinweisschreiben gemäß § 102 Abs. 2 SGG sei dem Prozessbevollmächtigten am 19.05.2011 zugestellt worden, sodass die Klagerücknahmefiktion mit Ablauf des 19.08.2011 eingetreten sei.

11

Gegen den ihr am 14.02.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 10.03.2012 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, das Verfahren hätte fortgeführt werden müssen.

12

Mit Schreiben vom 01.06.2012 ist der Prozessbevollmächtigte darauf hingewiesen worden, dass Zweifel an der Zulässigkeit der Berufung bestünden, da es in der Sache um einen Verwaltungsakt gehe, durch den Leistungen in Höhe von 452,80 EUR aufgehoben wurden. Es ist Gelegenheit gegeben worden, bis zum 01.07.2012 dazu Stellung zu nehmen sowie die Tatsache zu belegen, dass der erbetene Kontoauszug dem Sozialgericht vorgelegt worden sei. Am 06.06.2012 ist unter Bezugnahme auf den Hinweis der Antrag gestellt worden, die Berufung zuzulassen. Die Nichtzulassungsbeschwerde wird unter dem Aktenzeichen L 3 AS 278/12 NZB geführt.

13

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

14

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 06.02.2012 aufzuheben und festzustellen, dass das Verfahren S 14 AS 1884/11 vor dem Sozialgericht Speyer fortzuführen ist.

15

Der Beklagte beantragt,

16

die Berufung zurückzuweisen.

17

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

18

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der vorliegenden Prozessakte verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

19

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

20

Die Regelung § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG steht der Zulässigkeit der Berufung nicht entgegen. Danach bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Hier betrifft die von der Klägerin im Verfahren vor dem Sozialgericht verfolgte Klage zwar einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt im Sinne dieser Vorschrift, nämlich den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 03.11.2012. Streitgegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist aber nicht dieser Bescheid, sondern die Frage, ob das Sozialgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass die gegen diesen Bescheid erhobene Klage durch die Rücknahmefiktion nach § 102 SGG erledigt ist. Nur über diese Frage hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Gerichtsbescheid entschieden.

21

In einem solchen Fall greift § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht. Soweit das Bundessozialgericht (BSG) für den Fall der Untätigkeitsklage entschieden hat, dass auch diese im Sinne von § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG auf den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtet ist (Beschluss vom 06.10.2011, B 9 SB 45/11 B, in juris), lassen sich diese Ausführungen nicht auf den vorliegenden Fall übertragen. Das BSG hat insoweit auf den Sinn und Zweck der Regelung verwiesen, wonach die Berufungsgerichte von vermögensrechtlichen Streitsachen von geringem Wert (sogenannten Bagatellfällen) entlastet werden sollen. Die gewählte Klageart sei für die Anwendung der Vorschrift bedeutungslos, entscheidend sei, dass die Berufung einen Rechtsstreit von geringem Wert betreffe.

22

Im vorliegenden Berufungsverfahren wird aber gerade nicht über einen vermögensrechtlichen Streit entschieden, sondern über die Vorfrage, ob das diesbezüglich angestrengte Klageverfahren durch Rücknahme erledigt ist. In dem anhängigen Verfahren stehen also Verfahrensrechte im Streit, die eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand erst eröffnen. Da damit der Schutzbereich des Grundrechtes auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes berührt ist, ist eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG über seinen Wortlaut hinaus auf Fälle der vorliegenden Art nicht gerechtfertigt. Dass eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand, also über die Rechtmäßigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides selbst, nicht mit der Berufung anfechtbar wäre, stellt im Hinblick auf die Bedeutung des Rechtes auf Gewährung gerichtliche Rechtsschutzes keinen Widerspruch dazu dar.

23

Die Berufung ist auch begründet. Die Klage gilt nicht gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen. Deshalb ist das Klageverfahren noch anhängig und daher vom Sozialgericht Speyer fortzuführen. Das Sozialgericht wird in diesem Verfahren auch zu prüfen haben, ob die Klage zulässig, insbesondere fristgemäß erhoben ist.

24

Nach § 102 Abs. 2 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt; in der Aufforderung ist der Kläger auf die sich ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Unter Beachtung der Rechtsprechung zur entsprechenden Regelung in § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bzw. § 81 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) kommt eine Rücknahmefiktion nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, in denen sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Klägers vorliegen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 19.05.1993, 2 BvR 1972/92 in NVwZ 94, 62).

25

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt nach der Rechtsprechung des BSG Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht. Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift muss diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (Urteil vom 01.07.2010, B 13 R 58/09 R). Ob diese Voraussetzungen hier erfüllt sind, ist den Akten nicht mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen. Das Schreiben vom 22.02.2011, durch das die Klägerin aufgefordert worden ist zu belegen, dass sie kein Arbeitentgelt bezogen hat, ist in dem in der Akte befindlichen Original lediglich mit einer Namensparaphe und nicht mit einer vollen Unterschrift versehen. Das erste Erinnerungsschreiben vom 13.04.2011 ist nicht von der Vorsitzenden, sondern mit dem Vermerk "Auf Anordnung" von einer Justizbeschäftigten unterschrieben. Das Schreiben vom 17.05.2011, in dem die Klägerin erstmals auf die Folgen des Nichtbefolgens dieser Aufforderung hingewiesen worden ist, weist in der Gerichtsakte wiederum nur eine Paraphe der Vorsitzenden auf.

26

Nähere Ermittlungen dazu, ob das versandte Schreiben die Originalunterschrift enthält, sind aber nicht erforderlich. Abgesehen von diesen formellen Voraussetzungen ist die Aufforderung auch ihrem Inhalt nach nicht geeignet, die Folgen des § 102 Abs. 2 SGG auszulösen.

27

Die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG muss klar und konkret sein und dem Kläger deutlich machen, was von ihm erwartet wird. Daran fehlt es hier. Die Klägerin ist aufgefordert worden zu belegen, dass sie im Monat April 2010 kein Arbeitsentgelt erhalten hat. Unabhängig davon, dass hier wohl der April 2009 gemeint war, ist diese Aufforderung schon deshalb unklar, weil die Klägerin zum Beleg einer negativen Tatsache aufgefordert worden ist, ohne dass näher angeführt wird, welche Beweismittel das Gericht als ausreichend ansehen würde. Die Klägerin konnte der Aufforderung damit gerade nicht entnehmen, was genau von ihr verlangt wird. Sie hatte im Widerspruchsverfahren bereits vorgetragen, dass sie nur im März gearbeitet hat und dafür in bar entlohnt worden ist. Wie sie bei dieser Sachlage belegen sollte, im April nichts erhalten zu haben, erschließt sich nicht unmittelbar. Dass die Klägerin der Aufforderung nicht nachgekommen ist, lässt von daher keine Zweifel am Rechtsschutzinteresse aufkommen, was aber Voraussetzung für den Eintritt der Rücknahmefiktion ist.

28

Insoweit ist auch in den Blick zu nehmen, dass im sozialgerichtlichen Verfahren der Grundsatz der Amtsermittlung nach § 103 SGG gilt. Die Klägerin hatte, wie oben dargelegt, bereits im Widerspruchsverfahren nähere Ausführungen zu ihrer Behauptung gemacht, im April 2009 kein Einkommen mehr gehabt zu haben. Dem sich daraus ergebenden Widerspruch zu den Angaben des Arbeitsgebers hätte das Sozialgericht näher nachgehen können, zB. durch Einholung einer weiteren Auskunft beim Arbeitgeber oder auch durch konkrete Fragen bei der Klägerin. Dass diese auf die unbestimmte und pauschale Aufforderung, die nicht erfolgte Zahlung zu belegen, nicht reagiert hat, lässt bei dieser Sachlage jedenfalls nicht darauf schließen, dass sie an der Durchführung des Verfahrens kein Interesse mehr hatte. Die Aufforderung war damit auch nicht geeignet, die Folgen des § 102 Abs.2 SGG auszulösen.

29

Die Kostentscheidung folgt aus § 193 SGG.

30

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Gehört in einem Rechtszug weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 genannten Personen oder handelt es sich um ein Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2), werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes erhoben; die §§ 184 bis 195 finden keine Anwendung; die §§ 154 bis 162 der Verwaltungsgerichtsordnung sind entsprechend anzuwenden. Wird die Klage zurückgenommen, findet § 161 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung keine Anwendung.

(2) Dem Beigeladenen werden die Kosten außer in den Fällen des § 154 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung auch auferlegt, soweit er verurteilt wird (§ 75 Abs. 5). Ist eine der in § 183 genannten Personen beigeladen, können dieser Kosten nur unter den Voraussetzungen von § 192 auferlegt werden. Aufwendungen des Beigeladenen werden unter den Voraussetzungen des § 191 vergütet; sie gehören nicht zu den Gerichtskosten.

(3) Die Absätze 1 und 2 gelten auch für Träger der Sozialhilfe einschließlich der Leistungen nach Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch, soweit sie an Erstattungsstreitigkeiten mit anderen Trägern beteiligt sind.

(1) Wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt, so sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen. Sind die Kosten gegeneinander aufgehoben, so fallen die Gerichtskosten jedem Teil zur Hälfte zur Last. Einem Beteiligten können die Kosten ganz auferlegt werden, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.

(2) Wer einen Antrag, eine Klage, ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf zurücknimmt, hat die Kosten zu tragen.

(3) Kosten, die durch einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entstehen, fallen dem Antragsteller zur Last.

(4) Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, können diesem auferlegt werden.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Anordnungen und Entscheidungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird, sind den Beteiligten zuzustellen, bei Verkündung jedoch nur, wenn es ausdrücklich vorgeschrieben ist. Terminbestimmungen und Ladungen sind bekannt zu geben.

(2) Zugestellt wird von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung. §§ 173, 175 und 178 Abs. 1 Nr. 2 der Zivilprozessordnung sind entsprechend anzuwenden auf die nach § 73 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 9 zur Prozessvertretung zugelassenen Personen.

(3) Wer nicht im Inland wohnt, hat auf Verlangen einen Zustellungsbevollmächtigten zu bestellen.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landes-sozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Vormerkung rentenrechtlicher Zeiten. Mit der Revision wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Berufungsrücknahme.

2

Mit Bescheid vom 4.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs 5 SGB VI die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen Daten für den Zeitraum bis zum 31.12.1996 verbindlich fest.

3

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.6.2007 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger weder seinen Widerspruch noch die Klage begründet habe. Mangels Begründung sei nicht ersichtlich, inwieweit die Feststellung der Daten im Versicherungskonto rechtswidrig sein solle.

4

Im Berufungsverfahren hat das LSG den Kläger mehrmals vergeblich an die Vorlage der Berufungsbegründung erinnert. Die Geschäftsstelle des LSG-Senats hat mit Schreiben vom 19.8.2008, das auf einer durch den Berichterstatter unterschriebenen Verfügung vom selben Tage beruhte und mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnet war, den Kläger aufgefordert, (unter Hinweis auf § 153 Abs 1, § 106a SGG: bis zum 19.9.2008) die Tatsachen anzugeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühle. Des Weiteren hat sie ihn darauf hingewiesen, dass die Berufung nach § 102 Abs 2 Satz 1, § 153 Abs 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn er das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate (gerechnet ab Zugang dieser Verfügung) nicht betreibe, dh die Berufung nicht begründe. Auf das ihm am 21.8.2008 zugestellte Schreiben hat sich der Kläger nicht zur Sache geäußert.

5

Am 16.12.2008 hat das LSG den Beteiligten mitgeteilt, dass die Berufung als zurückgenommen gelte. Hiergegen hat sich der Kläger mit Schriftsatz vom 21.12.2008 gewandt; er habe seine Berufung keinesfalls zurückgenommen, sondern warte auf einen Gerichtstermin. In der mündlichen Verhandlung vom 18.3.2009 hat er erklärt, der Versicherungsverlauf sei fehlerhaft, da dort (im Einzelnen bezeichnete) Zeiten der Arbeitslosigkeit und eines Rentenbezugs nicht angegeben seien.

6

Mit Urteil vom selben Tage hat das LSG festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Berufungsrücknahme erledigt sei. Die Vorschrift des § 102 Abs 2 SGG gelte gemäß § 153 Abs 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" iS von § 153 Abs 1 SGG. Nicht zu folgen sei der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme enthalte. Offenbar habe der Gesetzgeber übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung. Es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei.

7

Die Voraussetzungen für eine Fiktion der Berufungsrücknahme seien erfüllt. Der Kläger habe innerhalb der ihm gesetzten Frist keine das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Nur mit entsprechender Mitwirkung des Versicherten durch Angaben zu den streitigen Zeiten seien weitere Ermittlungen des Versicherungsträgers ohne Beschränkung auf zugängliche Daten möglich. Entsprechendes gelte für eine sinnvolle gerichtliche Überprüfung des Vormerkungsbescheids. Trotz entsprechender Aufforderung habe der Kläger innerhalb der gesetzten Frist das Verfahren nicht durch Begründung der Berufung betrieben.

8

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 156, § 153 Abs 1 und § 102 Abs 2 SGG. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG sei nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG auf das Berufungsverfahren entsprechend anwendbar. In das SGG sei keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme aufgenommen worden. Die Berufungsrücknahme sei im sozialgerichtlichem Verfahren in § 156 SGG speziell und abschließend geregelt, was die Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ausschließe. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den nach § 102 Abs 2 SGG vorausgesetzten Wegfall des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung habe das LSG nicht festgestellt.

9

           

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des LSG Hamburg vom 18.3.2009 und den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 4.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 zu verpflichten, für die Zeiten vom 12.2.1993 bis 21.6.1994 eine Anrechnungszeit wegen Rentenbezugs nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB VI vorzumerken;
hilfsweise, das Urteil des LSG vom 18.3.2009 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

10

           

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die zulässige Revision des Klägers hat iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Berufung erledigt sei. Denn dafür fehlt es im SGG an einer gesetzlichen Grundlage (1.). Auch eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG (Klagerücknahmefiktion) kommt iS einer Fiktion der Rücknahme der Berufung bei Nichtbetreiben nicht in Betracht (2.). Überdies wären die Voraussetzungen für den Eintritt einer - unterstelltermaßen entsprechend § 102 Abs 2 Satz 1 SGG möglichen - Rücknahmefiktion nicht gegeben (3.).

15

           

1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444) wurde mit Wirkung vom 1.4.2008 in Abs 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet:
"Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen."
Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG). Eine Regelung zur Fiktion der Berufungsrücknahme hat der Gesetzgeber im SGG hingegen nicht getroffen.

16

2. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG ist nicht iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden.

17

Nach § 153 Abs 1 SGG gelten für das Verfahren vor den Landessozialgerichten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 SGG entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt (= Erster Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Bestimmungen über die Berufung in den §§ 143 bis 159 SGG umfasst) nichts anderes ergibt. Bei den in Bezug genommenen "Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" handelt es sich um die im Vierten Unterabschnitt des Ersten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG aufgeführten Vorschriften der §§ 87 bis 122 SGG(BSG Urteil vom 5.7.1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2 S 2). Danach ist zwar auch § 102 SGG grundsätzlich nicht von der Anordnung der entsprechenden Geltung im Berufungsverfahren ausgenommen. Die Vorschrift über die Fiktion der Klagerücknahme in § 102 Abs 2 SGG ist jedoch nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG im LSG-Verfahren iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme entsprechend anwendbar.

18

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes (a), der Entstehungsgeschichte der Norm (b), dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO (c), einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut (d) und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion (e).

19

a) Schon der Wortlaut des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, wonach die "Klage" und nicht die "Berufung" als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, steht einer gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechenden Anwendung dieser Regelung auf die Berufung entgegen.

20

Über § 153 Abs 1 SGG kann nicht das Wort "Berufung" in § 102 Abs 2 SGG hineingelesen werden(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463). Denn auch andere Vorschriften über "das Verfahren im ersten Rechtszug", deren entsprechende Geltung § 153 Abs 1 SGG bestimmt und die Regelungen über die "Klage" enthalten, sind im Berufungsverfahren nicht derart erweiternd anzuwenden. Die entsprechende Geltung dieser Vorschriften (zB Klageänderung nach § 99 SGG oder Widerklage nach § 100 SGG) gemäß § 153 Abs 1 SGG umfasst keine Ersetzung des Begriffs "Klage" durch "Berufung". Ein Grund für eine unterschiedliche Auslegung je nachdem, welche Norm in Bezug genommen wird, ist nicht ersichtlich.

21

Überdies findet sich im Ersten Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Vorschriften für das Verfahren der Berufung umfasst, für die Berufung in § 156 SGG eine spezielle Regelung über ihre "Zurücknahme". Eine § 102 Abs 2 SGG entsprechende Bestimmung für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben enthält die Norm aber nicht. Schon von daher trifft die Ansicht des LSG nicht zu, aus den entsprechenden Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich "nichts anderes" iS des § 153 Abs 1 SGG(aA auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - Juris RdNr 32, ohne eigenständige Begründung unter Hinweis auf das hier angefochtene LSG-Urteil).

22

b) Aus den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren ergeben sich keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 102 Abs 2 SGG in entsprechender Anwendung gemäß § 153 Abs 1 SGG auf die Berufungsrücknahme ausdehnen wollte.

23

Ziel des SGGArbGGÄndG war es, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Dies sollte durch eine Vielzahl von Maßnahmen geschehen. Die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion zur Entlastung der Landessozialgerichte war aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13 f); insoweit sah dieser zur Entlastung der Sozialgerichte und Straffung des dortigen Verfahrens lediglich die Fiktion einer Klagerücknahme vor (BT-Drucks 16/7716 S 13). Eine fiktive Berufungsrücknahme wurde auch - soweit ersichtlich - im gesamten Gesetzgebungsverfahren weder im Bundesrat noch in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestags erörtert.

24

           

In der Einleitung der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG, der in seinem Satz 1 mit der späteren Gesetzesfassung übereinstimmt, wie folgt(BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>):

 "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen …"

25

           

Die Begründung schließt mit dem Hinweis (aaO, S 20):

 "… Die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme gelten auch im einstweiligen Rechtsschutz."

26

Demnach sollen zwar die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung finden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rücknahmefiktion - unabhängig davon, ob eine solche dort überhaupt praktische Relevanz haben kann (vgl hierzu Bienert, NZS 2009, 554, 559; Leopold, SGb 2009, 458, 462, ua mit dem Hinweis, dass das gerichtliche Abwarten der in § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genannten Dreimonatsfrist nicht zum Eilcharakter des Verfahrens "passt") - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG zulässig ist(bejahend Bienert, aaO; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 102 RdNr 8; verneinend Leopold, aaO). Jedenfalls findet sich kein Hinweis dafür, dass § 102 Abs 2 SGG iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar sein soll. Vielmehr wird dort nur verlautbart, dass in § 102 Abs 2 SGG die "Fiktion einer Klagerücknahme … eingeführt" wird und diese "angelehnt" ist an § 92 Abs 2 VwGO; ersichtlich sollte somit der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs 2 VwGO in das SGG "übernommen" werden. Die "Fiktion einer Berufungsrücknahme" wird nicht erwähnt; ebenso wird an keiner Stelle ein Bezug zur Regelung der Berufungsrücknahmefiktion in § 126 Abs 2 VwGO hergestellt. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen Materialien zum SGGArbGGÄndG (Stellungnahme des Bundesrats Drucks 16/7716 s 29 f>; Gegenäußerung der Bundesregierung ; zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag vom 17.1.2008, Plenarprotokoll 16/136 S 14417 - 14422 (Anlage 6); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 20.2.2008 ). Auch sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass nach dem "Willen" des Gesetzgebers eine "fiktive Berufungsrücknahme" in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ermöglicht werden sollte.

27

c) Der Vergleich mit den in der VwGO normierten Rücknahmefiktionen spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fiktion der Berufungsrücknahme im SGG ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung.

28

Die Klagerücknahmefiktion in § 92 Abs 2 VwGO wurde durch das Sechste Gesetz zur Änderung der VwGO und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) mit Wirkung vom 1.1.1997 in Anlehnung an den bereits seit 1.7.1992 geltenden § 81 AsylVfG in die VwGO eingefügt(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 12 zu Nummer 10 <§ 92 VwGO>). Nach § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren länger als zwei Monate (in Verfahren nach dem AsylVfG gemäß § 81 Satz 1 AsylVfG länger als einen Monat) nicht betreibt.

29

Gleichzeitig wurde durch das 6. VwGOÄndG für die Berufung eine "gesetzliche Rücknahmefiktion" in § 126 Abs 2 VwGO aufgenommen und die Regelung in § 92 Abs 2 VwGO insoweit "ergänzt"(Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 13 zu Nummer 17 <§ 126 VwGO>). Nach Satz 1 dieser Bestimmung gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

30

Die eigenständige gesetzliche Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme in § 126 Abs 2 VwGO macht deutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeine Verweisung in § 125 Abs 1 VwGO auf die Vorschriften des Verfahrens im ersten Rechtszug der VwGO, zu denen auch § 92 Abs 2 VwGO gehört, als nicht ausreichend angesehen hat (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 156 RdNr 16; Leopold, SGb 2009, 458, 463). Vielmehr hat er für die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion einen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungsbedarf angenommen.

31

Der Verzicht des SGGArbGGÄndG auf eine Ergänzung des § 156 SGG um eine Rücknahmefiktion für die Berufung in Kenntnis des Umstands, dass eine solche in der Parallelvorschrift der VwGO zu § 156 SGG, nämlich in § 126 VwGO, ausdrücklich geregelt worden ist, bestätigt die Annahme, dass diese "Unvollständigkeit" beabsichtigt war und der Gesetzgeber im SGG lediglich die Möglichkeit einer Fiktion der Klagerücknahme eröffnen wollte, entgegen der Ansicht des LSG also gerade keine "planwidrige Regelungslücke" vorliegt. Hätte er die Berufungsrücknahmefiktion "gewollt", wäre gerade wegen der weitgehenden Parallelität zur VwGO eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen(vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16).

32

Sollte der Gesetzgeber gleichwohl - anders als in der VwGO - eine ausdrückliche Regelung im SGG für entbehrlich gehalten haben, hätte es zumindest eines deutlichen Hinweises bedurft. Dieser fehlt jedoch. Keinesfalls kann daraus jedoch, wie das LSG offenbar meint, ein "Wille" des Gesetzgebers für eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben hergeleitet werden. Vielmehr dürfte das "Schweigen" sowohl in § 156 SGG als auch in den Materialien zum SGGArbGGÄndG schon eher als "beredtes Schweigen" zu werten sein(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463).

33

Dem Gesetzgeber war im Übrigen der Regelungszusammenhang zwischen erst- und zweitinstanzlichem Verfahren durchaus bewusst; dies belegt die mit dem SGGArbGGÄndG erfolgte Einfügung des § 157a SGG für das Berufungsverfahren gleichzeitig mit der ebenfalls durch dieses Gesetz für das erstinstanzliche Verfahren eingeführten Bestimmung des § 106a SGG zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens (vgl auch Leopold, SGb 2009, 458, 463). Ausdrücklich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 16/7716 S 22 zu Nummer 27 <§ 157a>): "Folgeänderung wegen der Einführung der Präklusionsvorschrift in § 106a im erstinstanzlichen Verfahren. Dies zieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorschrift im Rechtsmittelverfahren nach sich …".

34

d) Dass der Gesetzgeber auf die Regelung einer Fiktion der Berufungsrücknahme verzichtet hat, mag möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass nach dem SGG eine Klagerücknahme ohne Zustimmung der/des Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgen kann (so Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 16). Auf dieser Grundlage hält die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum auch eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren für zulässig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b und § 156 RdNr 1b; Roller, aaO; Eschner in Jansen, SGG, 3. Aufl 2008, § 102 RdNr 4; Hauck in Zeihe, SGG, Stand 2009, § 102 RdNr 12; Bienert, NZS 2009, 554, 558; kritisch Leopold, SGb 2009, 458, 463; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118).

35

Der Senat kann offen lassen, ob er sich dieser Rechtsansicht anschließt; denn das LSG hat nicht festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist. Er neigt jedoch dazu, ihr jedenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Denn § 102 Abs 2 Satz 1 SGG wird nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, sofern die Rücknahmefiktion in der zweiten Instanz die Klage betrifft. Der Übernahme einer § 126 Abs 2 Satz 1 VwGO entsprechenden Regelung bedurfte es insoweit nicht(Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12).

36

Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) klargestellt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. SGGÄndG, BT-Drucks 14/5943 S 26 zu Nummer 38 <§ 102>), entsprach aber auch schon der Rechtsprechung des BSG zur früheren Fassung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach der Kläger die Klage "bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung" zurücknehmen konnte(s hierzu BSG Beschluss vom 27.9.1983 - 8 BK 16/82 - SozR 1500 § 102 Nr 5 S 10). Der Kläger kann daher auch noch im Berufungsverfahren die Klage ganz oder - wenn der Streitgegenstand teilbar ist - teilweise (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 4; Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 4)zurücknehmen mit der Folge, dass die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 202 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 ZPO ganz oder - bei teilweiser Klagerücknahme - teilweise wirkungslos wird.

37

Ist aber eine Klagerücknahme nach § 102 Abs 1 Satz 1 SGG im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § 102 Abs 2 Satz 2 SGG für die Klagerücknahmefiktion, dass Abs 1 entsprechend gilt, ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb die Fiktion der Rücknahme der Klage bei ganz oder teilweisem Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht (grundsätzlich) auch im Berufungsverfahren in Betracht kommen kann. Denn auch im Rechtsmittelverfahren muss das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der von ihm in erster Instanz erhobenen Klage stets fortbestehen.

38

Allerdings dürfte nach Einlegung einer Berufung gegen ein klageabweisendes erstinstanzliches Urteil ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, also ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen sein (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b; Leopold, SGb 2009, 458, 463; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12, mit dem Hinweis, dass im Rechtsmittelverfahren "eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen" seien; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118). Dies gilt vor allem dann, wenn der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren teilweise Erfolg hatte, entzöge die Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren doch dem zusprechenden Teil des erstinstanzlichen Urteils die Rechtswirkung. Die Annahme, dass ein Kläger, der ein Berufungsverfahren trotz Aufforderung nicht betreibt, durch das Nichtbetreiben auch die für ihn positiven Folgen der erstinstanzlichen Entscheidung zum Wegfall bringen und damit so gestellt werden möchte, als ob er die Klage nie erhoben hätte, dürfte nur schwerlich zu begründen sein (vgl Schafhausen, aaO; Leopold, aaO). In Betracht käme in diesen Fällen freilich eine Fiktion der teilweisen Klagerücknahme bezogen auf den klageabweisenden Teil der SG-Entscheidung.

39

e) Schließlich berücksichtigt nur die Rechtsauffassung, dass § 102 Abs 2 SGG nicht iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar ist, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG für die Auslegung und Anwendung von gesetzlichen Regelungen über die Beendigung eines Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Vorschriften dieser Art haben nämlich strengen Ausnahmecharakter. Da sie einschneidende Rechtsfolgen für die betroffenen Beteiligten nach sich ziehen, bedürfen sie in besonderem Maße der Rechtsklarheit.

40

Das BVerfG (Kammer) hat in seinem Beschluss vom 27.10.1998 (2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167) darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art 19 Abs 4 GG jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat es festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist.

41

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 81 AsylVfG, § 92 Abs 2 VwGO, § 126 Abs 2 VwGO und in § 102 Abs 2 SGG gefunden. Denn diese Bestimmungen, die eine Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren zur Folge haben, unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.

42

Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass hiervon ausgehende Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art 19 Abs 4 GG vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl bereits BVerfG Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BVerfG Beschluss vom 15.8.1984 - 2 BvR 357/84 - DVBl 1984, 1005; BVerfG Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Auch in der Literatur besteht über den Ausnahmecharakter und ein von Verfassungs wegen gebotenes enges Verständnis gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen Einigkeit (vgl zu § 102 Abs 2 SGG: Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 17; Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16; Berchtold in Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 5 RdNr 586; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8a; Leitherer, NJW 2008, 1258, 1260; Hauck in Hennig, SGG, Stand: 2010, § 102 RdNr 29; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VII RdNr 170a; Schafhausen, ASR 2010, 112, 115; Leopold, SGb 2009, 458, 459; Bienert, NZS 2009, 554, 555; Becker, SGb 2009, 267, 269; Tabbara, NZS 2008, 8, 10; Francke, ASR 2008, 127, 128; vgl zu § 92 Abs 2 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 92 RdNr 18; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2009, § 92 RdNr 39).

43

Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG(Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>).

44

Ist dies aber der Fall, verbietet es sich, § 102 Abs 2 SGG als Sonder- und Ausnahmeregelung über seinen ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich hinaus erweiternd auszulegen und anzuwenden. Vielmehr ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geradezu geboten, wollte man auch im SGG eine Fiktion der Rücknahme der Berufung wegen Nichtbetreibens ermöglichen, hierfür - wie in der VwGO durch Einfügung des § 126 Abs 2 VwGO geschehen - eine eigenständige gesetzliche Grundlage zu schaffen.

45

3. Nach dem Vorstehenden braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob - wie vom LSG entschieden - die Voraussetzungen einer Fiktion einer Berufungsrücknahme bei unterstellter entsprechender Anwendbarkeit des § 102 SGG vorliegen. Gleichwohl weist der Senat darauf hin, dass, selbst wenn man der generellen Rechtsansicht des LSG folgen würde, die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch das LSG im Falle des Klägers zu Unrecht erfolgt wäre.

46

a) Zwar ist im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung das vom BVerfG für eine Rechtsmittelrücknahmefiktion geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt gewesen, dass nach dem prozessualen Verhalten des Klägers hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; vgl ebenso Senatsurteil vom heutigen Tage - B 13 R 74/09 R).

47

Denn bei Erlass der Betreibensaufforderung am 19.8.2008 waren die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Vormerkungsbescheids vom 4.11.2003 begehrte, mangels dessen Mitwirkung für das LSG nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher Aufforderung war nämlich die Berufung auch ein Jahr nach ihrer Einlegung nicht begründet worden, ebenso wenig wie der Widerspruch gegen den Vormerkungsbescheid vom 4.11.2003 oder die Klage. Das SGG enthält zwar für die Begründung der Klage und der Berufung, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften (§ 92 Abs 1 Satz 4, § 151 Abs 3 SGG: "sollen" bzw "soll"). Das Gericht hat die Beteiligten aber insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 Halbs 2 SGG ergibt. Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung ("ins Blaue hinein") zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 103 RdNr 16).

48

b) Allerdings setzt eine Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend aber nicht erfolgt. Denn jedenfalls vermag ein - wie hier - lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold SGb 2009, 458, 460; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, aaO, § 102 RdNr 11, mit dem Hinweis, die Betreibensaufforderung müsse "wenigstens die Form eines Richterbriefs" haben; s auch BGH Urteil vom 13.3.1980 - VII ZR 147/79 - BGHZ 76, 236, 241 - zur Frist gemäß § 273 Abs 2 Nr 1, § 275 Abs 1, § 296 ZPO).

49

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt im Übrigen Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 63 RdNr 3)diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.

50

4. Da der Senat über die vom Kläger geltend gemachten rentenrechtlichen Zeiten mangels entsprechender Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG nicht entscheiden konnte, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus. Die Einwilligung gilt als erteilt, wenn der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Rücknahme enthaltenden Schriftsatzes widersprochen wird; das Gericht hat auf diese Folge hinzuweisen.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Klage als zurückgenommen gilt.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluß ein und spricht die sich nach diesem Gesetz ergebenden Rechtsfolgen der Zurücknahme aus. Der Beschluß ist unanfechtbar.

(1) Die Berufung kann bis zur Rechtskraft des Urteils zurückgenommen werden. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus.

(2) Die Berufung gilt als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 gilt entsprechend. Der Berufungskläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Berufung als zurückgenommen gilt.

(3) Die Zurücknahme bewirkt den Verlust des eingelegten Rechtsmittels. Das Gericht entscheidet durch Beschluß über die Kostenfolge.

(1) Die Berufung kann bis zur Rechtskraft des Urteils oder des nach § 153 Abs. 4 oder § 158 Satz 2 ergangenen Beschlusses zurückgenommen werden. Die Zurücknahme nach Schluss der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Berufungsbeklagten voraus.

(2) Die Berufung gilt als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Der Berufungskläger ist in der Aufforderung auf die Rechtsfolgen hinzuweisen, die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Absatz 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Absatz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergeben. Das Gericht stellt durch Beschluss fest, dass die Berufung als zurückgenommen gilt.

(3) Die Zurücknahme bewirkt den Verlust des Rechtsmittels. Über die Kosten entscheidet das Gericht auf Antrag durch Beschluß.

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.

(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

(3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.

(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus. Die Einwilligung gilt als erteilt, wenn der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Rücknahme enthaltenden Schriftsatzes widersprochen wird; das Gericht hat auf diese Folge hinzuweisen.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Klage als zurückgenommen gilt.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluß ein und spricht die sich nach diesem Gesetz ergebenden Rechtsfolgen der Zurücknahme aus. Der Beschluß ist unanfechtbar.

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 16. Dezember 2010 - 5 A 1349/07 - und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 1. Juni 2011 - 3 L 44/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil und der Beschluss werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Greifswald zurückverwiesen.

Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 20. Juli 2011 - 3 L 44/11 - gegenstandslos.

...

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Antrags auf Fortsetzung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, nachdem dieses wegen Nichtbetreibens durch den Kläger mit einem Beschluss gemäß § 92 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 VwGO eingestellt worden ist.

I.

2

1. a) Der Beschwerdeführer erwarb im Jahr 1992 von der Bundesrepublik Deutschland das Eigentum an einem Grundstück auf der Insel H … . Zuvor war das Grundstück durch einen öffentlich bestellten Vermessungsingenieur abgemarkt worden.

3

Im Zusammenhang mit der beabsichtigten Veräußerung eines an das Grundstück des Beschwerdeführers angrenzenden Grundstücks führte der öffentlich bestellte Vermessungsingenieur U., der Beklagte des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Beklagter), Vermessungen zur Bestimmung der Flurstücksgrenze durch. Diese ergaben eine Grenzfeststellung, die nach Auffassung des Beschwerdeführers nicht mit derjenigen von 1992, durch einen Grenzstein dokumentierten, übereinstimmt.

4

Gegen die Grenzfeststellung erhob der Beschwerdeführer Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. September 2007 zurückwies. Die im Grenzfeststellungs- und Abmarkungsverfahren bekannt gegebenen Vermessungsergebnisse seien rechtmäßig erlassen, weil ein Vergleich der Ist-Lage der vorgefundenen und wiederhergestellten Abmarkungen der Grenzpunkte Übereinstimmung mit der Soll-Lage des Katasternachweises ergeben habe und weil der vom Beschwerdeführer angezeigte Granitgrenzstein in seiner Lage tatsächlich nicht mit dem Katasternachweis übereinstimme und keine unterirdische Vermarkung habe.

5

b) Der Beschwerdeführer erhob beim Verwaltungsgericht Klage gegen die Entscheidungen des Beklagten und begründete diese im Wesentlichen damit, die im Jahr 1992 festgestellte Grenze sei bindend. In einem Schriftsatz vom 16. Juni 2008 benannte er unter anderem seinen Vater als Zeugen für seine Behauptung, der strittige Grenzstein sei der 1992 gesetzte. Hierauf erwiderte der Beklagte mit Schriftsatz vom 3. Juli 2008; er legte dar, weshalb es sich bei dem strittigen Grenzstein nicht um den 1992 gesetzten handeln könne. Bitten des Verwaltungsgerichts an den Beschwerdeführer um Stellungnahme hierzu blieben unbeantwortet. Daraufhin erließ das Verwaltungsgericht eine Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 VwGO, die dem damaligen Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 16. Januar 2009 zugestellt wurde. Am 16. März 2009 übermittelte der Prozessbevollmächtigte einen Schriftsatz, in der zur Betreibensaufforderung wie folgt Stellung genommen wurde:

6

"Der Kläger hat seine Klage begründet und hält daran fest.

7

Der Beklagte tritt der Klage entgegen.

8

Dessen ungeachtet regen wir namens des Klägers an, in der Sache eine gerichtsnahe Mediation durchzuführen.

9

Es hat sich zur Kenntnis des Unterzeichneten erwiesen, dass das Angebot u.a. des Verwaltungsgerichts Greifswald insoweit mitunter zu Erfolgen führt."

10

c) Mit Beschluss vom 18. März 2009 entschied das Verwaltungsgericht, dass die Klage als zurückgenommen gilt, und stellte das Verfahren ein. Die Klage gelte nach § 92 Abs. 2 VwGO als zurückgenommen, da der Beschwerdeführer das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate seit Zustellung der Aufforderung nicht im Sinne dieser Aufforderung, wonach zum Vortrag des Beklagten vom 3. Juli 2008 Stellung genommen werden sollte, betrieben habe.

11

d) Mit Schreiben eines neu bestellten Prozessbevollmächtigten vom 3. Februar 2010 stellte der Beschwerdeführer den Antrag, das Verfahren fortzusetzen.

12

2. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil vom 16. Dezember 2010 bestätigte das Verwaltungsgericht den Eintritt der Rücknahmefiktion nach § 92 Abs. 2 VwGO. Der Beschwerdeführer habe das Verfahren trotz Aufforderung mehr als zwei Monate nicht im Sinne der Verfügung betrieben.

13

Die Betreibensaufforderung habe am 14. Januar 2009 an den Beschwerdeführer ergehen dürfen. Im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hätten konkrete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers bestanden.

14

Innerhalb der zweimonatigen Betreibensfrist habe sich der Beschwerdeführer lediglich mit dem am 16. März 2009 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz geäußert. Ein Betreiben im Sinne des § 92 Abs. 2 VwGO bedeute dieser Schriftsatz nicht. Soweit der damalige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 16. März 2009 mitgeteilt habe, dass der Beschwerdeführer an seiner Klage festhalte, habe diese Erklärung keinen substantiellen Aussagewert. Die gerichtliche Verfügung vom 14. Januar 2009 habe erkennbar darauf abgezielt, dass der Beschwerdeführer zu den vom Beklagten im Schreiben vom 3. Juli 2008 vorgebrachten verschiedenen Tatsachen, die den vom Beschwerdeführer als maßgeblich angesehenen Granitgrenzstein betroffen hätten, Stellung nehmen sollte. Hierzu enthalte der Schriftsatz vom 16. März 2009 aber keine Aussage. Vor dem prozessualen Hintergrund dieser Aufforderung könne der Schriftsatz letztlich nur als ein Nichtbetreiben gewertet werden.

15

3. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 1. Juni 2011 lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil ab. Die Berufung sei nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zuzulassen.

16

Das Verwaltungsgericht habe an den Beschwerdeführer eine Betreibensaufforderung richten dürfen, denn im Zeitpunkt der Aufforderung am 5. Januar 2009 hätten sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestanden. Da am 8. Juli 2008 eine sechswöchige Frist für die erbetene Stellungnahme gesetzt worden sei, an deren Erledigung durch Verfügungen vom 20. Oktober und 21. November 2008 erinnert worden sei, habe der Beschwerdeführer mit dem Unterlassen jeglicher Antwort über einen Zeitraum von circa sechs Monaten seit der Aufforderung zur Stellungnahme seine prozessuale Mitwirkungspflicht in einer Weise verletzt, die geeignet gewesen sei, die durch Stellungnahme des Beklagten zur Sache ausgelösten Zweifel an einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse zu verfestigen. Es sei nicht ersichtlich, warum es dem Beschwerdeführer in dem genannten Zeitraum nicht hätte möglich sein sollen, zu antworten. Zumindest aber habe von ihm eine Mitteilung erwartet werden können, aus welchen Gründen eine Antwort nicht möglich sei. Sein völliges Verschweigen habe deshalb den Rückschluss auf ein Desinteresse am weiteren Verfahren zugelassen.

17

Die weiteren Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO seien ebenfalls erfüllt gewesen. Um der Aufforderung zu entsprechen, hätte sich der Beschwerdeführer so substantiiert äußern müssen, dass Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses beseitigt worden wären und der äußere Anschein einer Vernachlässigung prozessualer Mitwirkungspflichten entfallen wäre. Der Anforderung an ein substantielles Vorbringen genüge es jedenfalls nicht, wenn ein Kläger auf eine konkrete Aufforderung hin lediglich mitteile, er wolle das Verfahren weiter betreiben. Im Übrigen habe der Beschwerdeführer die erbetenen Verfahrenshandlungen auch deswegen nicht vorgenommen, weil das Gericht eine inhaltliche Stellungnahme zu dem Vortrag des Beklagten mit Schriftsatz vom 3. Juli 2008 erbeten gehabt habe. Die Erklärung vom 16. März 2009 habe für ein substantielles Betreiben umso weniger ausgereicht, als dem Antwortschreiben nicht zu entnehmen gewesen sei, welche Gründe den Beschwerdeführer gehindert haben sollten und noch hinderten, sich inhaltlich zu erklären.

18

4. Die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wies das Oberveraltungsgericht mit dem schließlich auch mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 20. Juli 2011 zurück.

II.

19

1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen eine Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht seien zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 VwGO und zwar sowohl hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Betreibensaufforderung als auch hinsichtlich der Annahme des Nichtbetreibens vorgelegen hätten.

20

2. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens und das Land Mecklenburg-Vorpommern hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des gerichtlichen Ausgangsverfahrens wurden beigezogen.

21

3. Der 4. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts äußert sich in seiner Stellungnahme dahingehend, dem Verwaltungsgericht dürfte die Einstellung des Verfahrens nach § 92 Abs. 2 VwGO verwehrt gewesen sein, nachdem der Beschwerdeführer deutlich gemacht habe, dass er an seiner Klage festhalte. Der Beschwerdeführer habe hier seine Klage substantiiert und unter Beweisantritt begründet. Sein Interesse an einer weiteren Rechtsverfolgung habe er hinreichend dargetan. Es sei Sache des Gerichts, das unterschiedliche Vorbringen der Beteiligten zu bewerten.

III.

22

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme ist zur Durchsetzung eines in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechts des Beschwerdeführers angezeigt (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden, die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

23

Das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 16. Dezember 2010 und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2011 verletzen die Garantie wirksamen Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (dazu 1.). Ob sie darüber hinaus auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzen, kann offen bleiben (dazu 2.). Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts über die Anhörungsrüge gegenstandslos.

24

1. Das Verwaltungsgericht hat durch die Ablehnung des Antrags des Beschwerdeführers auf Fortsetzung des Verfahrens gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoßen; das Oberverwaltungsgericht durfte die ablehnende Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht bestätigen.

25

a) aa) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfachgesetzlichen Prozessordnungen. Der Weg zu den Gerichten, insbesondere auch zur inhaltlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung, darf von der Erfüllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden (vgl. BVerfGE 9, 194 <199 f.>; 10, 264 <267 f.>; 27, 297 <310>; 35, 65 <72 f.>). Die dem Gesetzgeber obliegende normative Ausgestaltung des Rechtswegs muss aber das Ziel dieser Rechtsgewährleistung, nämlich den wirkungsvollen Rechtsschutz, auch tatsächlich verfolgen und ermöglichen (vgl. BVerfGE 110, 77 <85>). Sie muss im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>). Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 78, 88 <99>; 110, 77 <85>; stRspr). Dieser Grundsatz gilt auch innerhalb des jeweils eingeleiteten Verfahrens selbst, soweit es darum geht, sich dort effektiv Gehör verschaffen zu können, und nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht selbst (BVerfGE 81, 123 <129>). Der gerichtlichen Durchsetzung des materiellen Anspruchs dürfen auch hier nicht unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse in den Weg gelegt werden (BVerfGE 53, 115 <127 f.>).

26

bb) Im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG setzt jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraus (vgl. BVerfGE 61, 126 <135>; 96, 27 <39 f.>; 110, 77 <85>). Nur derjenige, der mit dem von ihm angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, hat einen Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung; fehlt es daran, so ist das prozessuale Begehren als unzulässig abzuweisen.

27

Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens entfallen. Vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzinteresses kann ein Gericht im Einzelfall auch dann ausgehen, wenn das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung mangels Sachbescheidungsinteresses nicht mehr gelegen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 -, juris Rn. 17).

28

cc) Eine Regelung über eine Verfahrensbeendigung wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses ist grundsätzlich von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 <63>). Allerdings führt die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO zur Beendigung des Rechtsschutzverfahrens mit möglicherweise irreversiblen Folgen, insbesondere wenn behördliche Ausgangsentscheidungen dadurch in Bestandskraft erwachsen, ohne dass der Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hätte. Die Handhabung eines solch scharfen prozessualen Instruments muss daher im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Kläger oder Antragsteller das von ihm eingeleitete Verfahren auch durchführen will. Namentlich darf § 92 Abs. 2 VwGO nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eines Beteiligten gedeutet oder eingesetzt werden. Hierfür ist die Rücknahmefiktion nicht konzipiert. Sie soll vielmehr nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. zu § 81 AsylVfG, auf den § 92 Abs. 2 VwGO zurückgeht [BTDrucks 13/3993, S. 12], BTDrucks 12/2062, S. 42: vereinfachte Beendigung eines Verfahrens, "an dessen Fortführung der Kläger erkennbar kein Interesse mehr hat"; ferner Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 92 Rn. 3 und 46 [Stand: Januar 2012], Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 92 Rn. 18).

29

Zwar gilt auch für die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO, dass nicht jede fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts einen Verfassungsverstoß darstellt. Angesichts der gravierenden, den Rechtsschutz jedenfalls im konkreten Verfahren ohne Sachprüfung abschneidenden Wirkung dieser Vorschrift gebietet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG jedoch eine strenge Prüfung der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung des § 92 Abs. 2 VwGO durch das Bundesverfassungsgericht. Insbesondere hat es zu kontrollieren, ob die von den Verwaltungsgerichten mit Rücksicht auf die Rechtsschutzgarantie herausgearbeiteten Anforderungen an eine zulässige Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 Satz 1 und 3 VwGO gewahrt und die Voraussetzungen für die Annahme eines Nichtbetreibens nicht verfehlt, insbesondere der Vorschrift hierbei keine falsche Zielrichtung gegeben wurden. Hiernach müssen zum einen zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. Solche Anhaltspunkte sind insbesondere dann gegeben, wenn der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 -, NVwZ 2000, S. 1297 <1298>; Beschluss vom 12. April 2001 - BVerwG 8 B 2.01 -, NVwZ 2001, S. 918; Beschluss vom 7. Juli 2005 - BVerwG 10 BN 1.05 -, juris Rn. 4). Zum anderen hat ein Kläger das Verfahren nur dann nicht mehr im Sinne von § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO betrieben, wenn er innerhalb der Zwei-Monatsfrist nicht substantiiert dargetan hat, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 - BVerwG 10 BN 1.05 -, juris Rn. 7).

30

b) Hieran gemessen ist die Auffassung der Ausgangsgerichte, dass die Voraussetzungen für den Erlass einer Betreibensaufforderung gemäß § 92 Abs. 2 VwGO im Januar 2009 vorlagen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden

31

Im Schriftsatz vom 16. Juni 2008 führt der damalige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers aus, dessen Vater sei bei der seinerzeitigen Abmarkung anwesend gewesen und habe mit eigenen Augen gesehen, wie Mitarbeiter des Vermessungsingenieurs hinsichtlich des strittigen Grenzpunkts einen Aushub von circa 1 Meter vorgenommen, dort eine Flasche hineingelegt und diese zerstoßen hätten. Die Scherben der damals zerstoßenen Flasche würden sich an Ort und Stelle finden lassen.

32

In seiner Erwiderung vom 3. Juli 2008 hierauf trägt der Beklagte im Wesentlichen vor, ein Zerstoßen der Flasche sei in der Niederschrift von 1992 nicht vermerkt und wäre aus fachlicher Hinsicht auch nicht nachvollziehbar. Im August 2007 sei in Anwesenheit des Beschwerdeführers der Granitgrenzstein freigelegt worden; eine Flasche als Unterlage sei nicht vorgefunden worden. Hiervon hätten sich die Beteiligten vor Ort durch Betrachtung des Loches überzeugen können. Es müsse davon ausgegangen werden, dass dieser Granitgrenzstein nicht identisch sei mit dem 1992 verhandelten Grenzpunkt.

33

Angesichts dessen, dass der Beklagte auch unter Hinweis auf einen Ortstermin, an dem der Beschwerdeführer selbst teilnahm, die Richtigkeit einer zentralen Behauptung im Vorbringen des Beschwerdeführers in Frage stellte, lag es nahe, dass der Beschwerdeführer sich zu den Ausführungen des Beklagten äußerte. Dass er sich hierzu trotz entsprechender Bitte des Verwaltungsgerichts vom 8. Juli 2008 und zweimaliger Erinnerung (vom 20. Oktober und 21. November 2008) hieran nicht veranlasst sah, durfte das Verwaltungsgericht zum Anlass nehmen, am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers ernsthaft zu zweifeln.

34

c) Nicht mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar ist hingegen die Annahme, der Beschwerdeführer habe das Verfahren entgegen der darauf ergangenen Aufforderung des Verwaltungsgerichts nicht betrieben. Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht haben damit ein unangemessen hohes Hindernis bei der gerichtlichen Verfolgung des geltend gemachten Anspruchs errichtet.

35

Die Ausgangsgerichte haben sich bei ihren Ausführungen nicht vom Zweck des § 92 Abs. 2 VwGO leiten lassen. Dieser besteht nicht darin, den Kläger zu einer Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern in der Klärung der aufgekommenen Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 <63>).

36

Dass der Beschwerdeführer an der Verfolgung seines Rechtsschutzziels festhalten wollte, ergibt sich eindeutig aus seinem Schriftsatz vom 16. März 2009. Die Motivation des Beschwerdeführers hierfür liegt auch auf der Hand, geht es ihm im Ausgangsverfahren doch um die Klärung der Größe seines Grundstücks, die nach den Feststellungen des Beklagten um circa 1.900 Quadratmeter kleiner sein soll als von ihm angenommen.

37

Der Beschwerdeführer war angesichts der Umstände des Falles nicht verpflichtet, über den Hinweis, dass er an seiner Klage festhalte, hinausgehende Ausführungen zu machen, um den Eintritt der Rücknahmefiktion zu verhindern. Der Beschwerdeführer hatte seine Klage bereits begründet und zum Beweis der von ihm vorgebrachten Tatsachenbehauptungen seinen Vater und den im Jahr 1992 tätig gewordenen Vermessungsingenieur als Zeugen angeboten. Der Beklagte hatte die Richtigkeit der tatsächlichen Behauptungen bestritten. In einer solchen Situation ist es Aufgabe des - im Übrigen zur Amtsermittlung verpflichteten - Verwaltungsgerichts, den Sachverhalt, soweit es ihn für entscheidungserheblich hält, durch eine Beweisaufnahme aufzuklären und danach zu entscheiden. Der Weg, aufgrund einer vorweggenommenen Beweiswürdigung auf einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers zu schließen und auf diese Weise das Verfahren ohne mündlichen Verhandlung und gegebenenfalls ohne Beweisaufnahme zu beendigen, ist dem Gericht hingegen verwehrt.

38

d) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Da die Verwaltungsgerichte bisher noch nicht in der Sache entschieden und auch den Sachverhalt, soweit entscheidungserheblich, nicht aufgeklärt haben, ist nicht erkennbar, dass die Entscheidung in der Sache mit Sicherheit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausfällt.

39

e) Das Urteil des Verwaltungsgerichts und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2011 sind aufzuheben; der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 20. Juli 2011 wird dadurch gegenstandslos. Die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

40

2. Da das Verwaltungsgericht aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert war, den Eintritt der Erledigungsfiktion anzunehmen, kommt es auf die Frage, ob die Ausgangsgerichte bei ihren Entscheidungen auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt haben, nicht mehr an.

41

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts erfolgt nach § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

42

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landes-sozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Vormerkung rentenrechtlicher Zeiten. Mit der Revision wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Berufungsrücknahme.

2

Mit Bescheid vom 4.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs 5 SGB VI die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen Daten für den Zeitraum bis zum 31.12.1996 verbindlich fest.

3

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.6.2007 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger weder seinen Widerspruch noch die Klage begründet habe. Mangels Begründung sei nicht ersichtlich, inwieweit die Feststellung der Daten im Versicherungskonto rechtswidrig sein solle.

4

Im Berufungsverfahren hat das LSG den Kläger mehrmals vergeblich an die Vorlage der Berufungsbegründung erinnert. Die Geschäftsstelle des LSG-Senats hat mit Schreiben vom 19.8.2008, das auf einer durch den Berichterstatter unterschriebenen Verfügung vom selben Tage beruhte und mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnet war, den Kläger aufgefordert, (unter Hinweis auf § 153 Abs 1, § 106a SGG: bis zum 19.9.2008) die Tatsachen anzugeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühle. Des Weiteren hat sie ihn darauf hingewiesen, dass die Berufung nach § 102 Abs 2 Satz 1, § 153 Abs 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn er das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate (gerechnet ab Zugang dieser Verfügung) nicht betreibe, dh die Berufung nicht begründe. Auf das ihm am 21.8.2008 zugestellte Schreiben hat sich der Kläger nicht zur Sache geäußert.

5

Am 16.12.2008 hat das LSG den Beteiligten mitgeteilt, dass die Berufung als zurückgenommen gelte. Hiergegen hat sich der Kläger mit Schriftsatz vom 21.12.2008 gewandt; er habe seine Berufung keinesfalls zurückgenommen, sondern warte auf einen Gerichtstermin. In der mündlichen Verhandlung vom 18.3.2009 hat er erklärt, der Versicherungsverlauf sei fehlerhaft, da dort (im Einzelnen bezeichnete) Zeiten der Arbeitslosigkeit und eines Rentenbezugs nicht angegeben seien.

6

Mit Urteil vom selben Tage hat das LSG festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Berufungsrücknahme erledigt sei. Die Vorschrift des § 102 Abs 2 SGG gelte gemäß § 153 Abs 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" iS von § 153 Abs 1 SGG. Nicht zu folgen sei der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme enthalte. Offenbar habe der Gesetzgeber übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung. Es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei.

7

Die Voraussetzungen für eine Fiktion der Berufungsrücknahme seien erfüllt. Der Kläger habe innerhalb der ihm gesetzten Frist keine das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Nur mit entsprechender Mitwirkung des Versicherten durch Angaben zu den streitigen Zeiten seien weitere Ermittlungen des Versicherungsträgers ohne Beschränkung auf zugängliche Daten möglich. Entsprechendes gelte für eine sinnvolle gerichtliche Überprüfung des Vormerkungsbescheids. Trotz entsprechender Aufforderung habe der Kläger innerhalb der gesetzten Frist das Verfahren nicht durch Begründung der Berufung betrieben.

8

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 156, § 153 Abs 1 und § 102 Abs 2 SGG. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG sei nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG auf das Berufungsverfahren entsprechend anwendbar. In das SGG sei keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme aufgenommen worden. Die Berufungsrücknahme sei im sozialgerichtlichem Verfahren in § 156 SGG speziell und abschließend geregelt, was die Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ausschließe. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den nach § 102 Abs 2 SGG vorausgesetzten Wegfall des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung habe das LSG nicht festgestellt.

9

           

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des LSG Hamburg vom 18.3.2009 und den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 4.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 zu verpflichten, für die Zeiten vom 12.2.1993 bis 21.6.1994 eine Anrechnungszeit wegen Rentenbezugs nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB VI vorzumerken;
hilfsweise, das Urteil des LSG vom 18.3.2009 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

10

           

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die zulässige Revision des Klägers hat iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Berufung erledigt sei. Denn dafür fehlt es im SGG an einer gesetzlichen Grundlage (1.). Auch eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG (Klagerücknahmefiktion) kommt iS einer Fiktion der Rücknahme der Berufung bei Nichtbetreiben nicht in Betracht (2.). Überdies wären die Voraussetzungen für den Eintritt einer - unterstelltermaßen entsprechend § 102 Abs 2 Satz 1 SGG möglichen - Rücknahmefiktion nicht gegeben (3.).

15

           

1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444) wurde mit Wirkung vom 1.4.2008 in Abs 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet:
"Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen."
Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG). Eine Regelung zur Fiktion der Berufungsrücknahme hat der Gesetzgeber im SGG hingegen nicht getroffen.

16

2. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG ist nicht iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden.

17

Nach § 153 Abs 1 SGG gelten für das Verfahren vor den Landessozialgerichten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 SGG entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt (= Erster Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Bestimmungen über die Berufung in den §§ 143 bis 159 SGG umfasst) nichts anderes ergibt. Bei den in Bezug genommenen "Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" handelt es sich um die im Vierten Unterabschnitt des Ersten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG aufgeführten Vorschriften der §§ 87 bis 122 SGG(BSG Urteil vom 5.7.1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2 S 2). Danach ist zwar auch § 102 SGG grundsätzlich nicht von der Anordnung der entsprechenden Geltung im Berufungsverfahren ausgenommen. Die Vorschrift über die Fiktion der Klagerücknahme in § 102 Abs 2 SGG ist jedoch nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG im LSG-Verfahren iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme entsprechend anwendbar.

18

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes (a), der Entstehungsgeschichte der Norm (b), dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO (c), einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut (d) und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion (e).

19

a) Schon der Wortlaut des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, wonach die "Klage" und nicht die "Berufung" als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, steht einer gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechenden Anwendung dieser Regelung auf die Berufung entgegen.

20

Über § 153 Abs 1 SGG kann nicht das Wort "Berufung" in § 102 Abs 2 SGG hineingelesen werden(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463). Denn auch andere Vorschriften über "das Verfahren im ersten Rechtszug", deren entsprechende Geltung § 153 Abs 1 SGG bestimmt und die Regelungen über die "Klage" enthalten, sind im Berufungsverfahren nicht derart erweiternd anzuwenden. Die entsprechende Geltung dieser Vorschriften (zB Klageänderung nach § 99 SGG oder Widerklage nach § 100 SGG) gemäß § 153 Abs 1 SGG umfasst keine Ersetzung des Begriffs "Klage" durch "Berufung". Ein Grund für eine unterschiedliche Auslegung je nachdem, welche Norm in Bezug genommen wird, ist nicht ersichtlich.

21

Überdies findet sich im Ersten Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Vorschriften für das Verfahren der Berufung umfasst, für die Berufung in § 156 SGG eine spezielle Regelung über ihre "Zurücknahme". Eine § 102 Abs 2 SGG entsprechende Bestimmung für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben enthält die Norm aber nicht. Schon von daher trifft die Ansicht des LSG nicht zu, aus den entsprechenden Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich "nichts anderes" iS des § 153 Abs 1 SGG(aA auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - Juris RdNr 32, ohne eigenständige Begründung unter Hinweis auf das hier angefochtene LSG-Urteil).

22

b) Aus den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren ergeben sich keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 102 Abs 2 SGG in entsprechender Anwendung gemäß § 153 Abs 1 SGG auf die Berufungsrücknahme ausdehnen wollte.

23

Ziel des SGGArbGGÄndG war es, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Dies sollte durch eine Vielzahl von Maßnahmen geschehen. Die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion zur Entlastung der Landessozialgerichte war aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13 f); insoweit sah dieser zur Entlastung der Sozialgerichte und Straffung des dortigen Verfahrens lediglich die Fiktion einer Klagerücknahme vor (BT-Drucks 16/7716 S 13). Eine fiktive Berufungsrücknahme wurde auch - soweit ersichtlich - im gesamten Gesetzgebungsverfahren weder im Bundesrat noch in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestags erörtert.

24

           

In der Einleitung der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG, der in seinem Satz 1 mit der späteren Gesetzesfassung übereinstimmt, wie folgt(BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>):

 "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen …"

25

           

Die Begründung schließt mit dem Hinweis (aaO, S 20):

 "… Die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme gelten auch im einstweiligen Rechtsschutz."

26

Demnach sollen zwar die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung finden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rücknahmefiktion - unabhängig davon, ob eine solche dort überhaupt praktische Relevanz haben kann (vgl hierzu Bienert, NZS 2009, 554, 559; Leopold, SGb 2009, 458, 462, ua mit dem Hinweis, dass das gerichtliche Abwarten der in § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genannten Dreimonatsfrist nicht zum Eilcharakter des Verfahrens "passt") - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG zulässig ist(bejahend Bienert, aaO; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 102 RdNr 8; verneinend Leopold, aaO). Jedenfalls findet sich kein Hinweis dafür, dass § 102 Abs 2 SGG iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar sein soll. Vielmehr wird dort nur verlautbart, dass in § 102 Abs 2 SGG die "Fiktion einer Klagerücknahme … eingeführt" wird und diese "angelehnt" ist an § 92 Abs 2 VwGO; ersichtlich sollte somit der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs 2 VwGO in das SGG "übernommen" werden. Die "Fiktion einer Berufungsrücknahme" wird nicht erwähnt; ebenso wird an keiner Stelle ein Bezug zur Regelung der Berufungsrücknahmefiktion in § 126 Abs 2 VwGO hergestellt. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen Materialien zum SGGArbGGÄndG (Stellungnahme des Bundesrats Drucks 16/7716 s 29 f>; Gegenäußerung der Bundesregierung ; zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag vom 17.1.2008, Plenarprotokoll 16/136 S 14417 - 14422 (Anlage 6); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 20.2.2008 ). Auch sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass nach dem "Willen" des Gesetzgebers eine "fiktive Berufungsrücknahme" in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ermöglicht werden sollte.

27

c) Der Vergleich mit den in der VwGO normierten Rücknahmefiktionen spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fiktion der Berufungsrücknahme im SGG ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung.

28

Die Klagerücknahmefiktion in § 92 Abs 2 VwGO wurde durch das Sechste Gesetz zur Änderung der VwGO und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) mit Wirkung vom 1.1.1997 in Anlehnung an den bereits seit 1.7.1992 geltenden § 81 AsylVfG in die VwGO eingefügt(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 12 zu Nummer 10 <§ 92 VwGO>). Nach § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren länger als zwei Monate (in Verfahren nach dem AsylVfG gemäß § 81 Satz 1 AsylVfG länger als einen Monat) nicht betreibt.

29

Gleichzeitig wurde durch das 6. VwGOÄndG für die Berufung eine "gesetzliche Rücknahmefiktion" in § 126 Abs 2 VwGO aufgenommen und die Regelung in § 92 Abs 2 VwGO insoweit "ergänzt"(Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 13 zu Nummer 17 <§ 126 VwGO>). Nach Satz 1 dieser Bestimmung gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

30

Die eigenständige gesetzliche Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme in § 126 Abs 2 VwGO macht deutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeine Verweisung in § 125 Abs 1 VwGO auf die Vorschriften des Verfahrens im ersten Rechtszug der VwGO, zu denen auch § 92 Abs 2 VwGO gehört, als nicht ausreichend angesehen hat (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 156 RdNr 16; Leopold, SGb 2009, 458, 463). Vielmehr hat er für die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion einen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungsbedarf angenommen.

31

Der Verzicht des SGGArbGGÄndG auf eine Ergänzung des § 156 SGG um eine Rücknahmefiktion für die Berufung in Kenntnis des Umstands, dass eine solche in der Parallelvorschrift der VwGO zu § 156 SGG, nämlich in § 126 VwGO, ausdrücklich geregelt worden ist, bestätigt die Annahme, dass diese "Unvollständigkeit" beabsichtigt war und der Gesetzgeber im SGG lediglich die Möglichkeit einer Fiktion der Klagerücknahme eröffnen wollte, entgegen der Ansicht des LSG also gerade keine "planwidrige Regelungslücke" vorliegt. Hätte er die Berufungsrücknahmefiktion "gewollt", wäre gerade wegen der weitgehenden Parallelität zur VwGO eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen(vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16).

32

Sollte der Gesetzgeber gleichwohl - anders als in der VwGO - eine ausdrückliche Regelung im SGG für entbehrlich gehalten haben, hätte es zumindest eines deutlichen Hinweises bedurft. Dieser fehlt jedoch. Keinesfalls kann daraus jedoch, wie das LSG offenbar meint, ein "Wille" des Gesetzgebers für eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben hergeleitet werden. Vielmehr dürfte das "Schweigen" sowohl in § 156 SGG als auch in den Materialien zum SGGArbGGÄndG schon eher als "beredtes Schweigen" zu werten sein(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463).

33

Dem Gesetzgeber war im Übrigen der Regelungszusammenhang zwischen erst- und zweitinstanzlichem Verfahren durchaus bewusst; dies belegt die mit dem SGGArbGGÄndG erfolgte Einfügung des § 157a SGG für das Berufungsverfahren gleichzeitig mit der ebenfalls durch dieses Gesetz für das erstinstanzliche Verfahren eingeführten Bestimmung des § 106a SGG zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens (vgl auch Leopold, SGb 2009, 458, 463). Ausdrücklich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 16/7716 S 22 zu Nummer 27 <§ 157a>): "Folgeänderung wegen der Einführung der Präklusionsvorschrift in § 106a im erstinstanzlichen Verfahren. Dies zieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorschrift im Rechtsmittelverfahren nach sich …".

34

d) Dass der Gesetzgeber auf die Regelung einer Fiktion der Berufungsrücknahme verzichtet hat, mag möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass nach dem SGG eine Klagerücknahme ohne Zustimmung der/des Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgen kann (so Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 16). Auf dieser Grundlage hält die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum auch eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren für zulässig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b und § 156 RdNr 1b; Roller, aaO; Eschner in Jansen, SGG, 3. Aufl 2008, § 102 RdNr 4; Hauck in Zeihe, SGG, Stand 2009, § 102 RdNr 12; Bienert, NZS 2009, 554, 558; kritisch Leopold, SGb 2009, 458, 463; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118).

35

Der Senat kann offen lassen, ob er sich dieser Rechtsansicht anschließt; denn das LSG hat nicht festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist. Er neigt jedoch dazu, ihr jedenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Denn § 102 Abs 2 Satz 1 SGG wird nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, sofern die Rücknahmefiktion in der zweiten Instanz die Klage betrifft. Der Übernahme einer § 126 Abs 2 Satz 1 VwGO entsprechenden Regelung bedurfte es insoweit nicht(Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12).

36

Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) klargestellt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. SGGÄndG, BT-Drucks 14/5943 S 26 zu Nummer 38 <§ 102>), entsprach aber auch schon der Rechtsprechung des BSG zur früheren Fassung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach der Kläger die Klage "bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung" zurücknehmen konnte(s hierzu BSG Beschluss vom 27.9.1983 - 8 BK 16/82 - SozR 1500 § 102 Nr 5 S 10). Der Kläger kann daher auch noch im Berufungsverfahren die Klage ganz oder - wenn der Streitgegenstand teilbar ist - teilweise (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 4; Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 4)zurücknehmen mit der Folge, dass die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 202 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 ZPO ganz oder - bei teilweiser Klagerücknahme - teilweise wirkungslos wird.

37

Ist aber eine Klagerücknahme nach § 102 Abs 1 Satz 1 SGG im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § 102 Abs 2 Satz 2 SGG für die Klagerücknahmefiktion, dass Abs 1 entsprechend gilt, ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb die Fiktion der Rücknahme der Klage bei ganz oder teilweisem Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht (grundsätzlich) auch im Berufungsverfahren in Betracht kommen kann. Denn auch im Rechtsmittelverfahren muss das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der von ihm in erster Instanz erhobenen Klage stets fortbestehen.

38

Allerdings dürfte nach Einlegung einer Berufung gegen ein klageabweisendes erstinstanzliches Urteil ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, also ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen sein (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b; Leopold, SGb 2009, 458, 463; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12, mit dem Hinweis, dass im Rechtsmittelverfahren "eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen" seien; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118). Dies gilt vor allem dann, wenn der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren teilweise Erfolg hatte, entzöge die Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren doch dem zusprechenden Teil des erstinstanzlichen Urteils die Rechtswirkung. Die Annahme, dass ein Kläger, der ein Berufungsverfahren trotz Aufforderung nicht betreibt, durch das Nichtbetreiben auch die für ihn positiven Folgen der erstinstanzlichen Entscheidung zum Wegfall bringen und damit so gestellt werden möchte, als ob er die Klage nie erhoben hätte, dürfte nur schwerlich zu begründen sein (vgl Schafhausen, aaO; Leopold, aaO). In Betracht käme in diesen Fällen freilich eine Fiktion der teilweisen Klagerücknahme bezogen auf den klageabweisenden Teil der SG-Entscheidung.

39

e) Schließlich berücksichtigt nur die Rechtsauffassung, dass § 102 Abs 2 SGG nicht iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar ist, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG für die Auslegung und Anwendung von gesetzlichen Regelungen über die Beendigung eines Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Vorschriften dieser Art haben nämlich strengen Ausnahmecharakter. Da sie einschneidende Rechtsfolgen für die betroffenen Beteiligten nach sich ziehen, bedürfen sie in besonderem Maße der Rechtsklarheit.

40

Das BVerfG (Kammer) hat in seinem Beschluss vom 27.10.1998 (2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167) darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art 19 Abs 4 GG jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat es festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist.

41

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 81 AsylVfG, § 92 Abs 2 VwGO, § 126 Abs 2 VwGO und in § 102 Abs 2 SGG gefunden. Denn diese Bestimmungen, die eine Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren zur Folge haben, unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.

42

Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass hiervon ausgehende Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art 19 Abs 4 GG vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl bereits BVerfG Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BVerfG Beschluss vom 15.8.1984 - 2 BvR 357/84 - DVBl 1984, 1005; BVerfG Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Auch in der Literatur besteht über den Ausnahmecharakter und ein von Verfassungs wegen gebotenes enges Verständnis gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen Einigkeit (vgl zu § 102 Abs 2 SGG: Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 17; Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16; Berchtold in Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 5 RdNr 586; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8a; Leitherer, NJW 2008, 1258, 1260; Hauck in Hennig, SGG, Stand: 2010, § 102 RdNr 29; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VII RdNr 170a; Schafhausen, ASR 2010, 112, 115; Leopold, SGb 2009, 458, 459; Bienert, NZS 2009, 554, 555; Becker, SGb 2009, 267, 269; Tabbara, NZS 2008, 8, 10; Francke, ASR 2008, 127, 128; vgl zu § 92 Abs 2 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 92 RdNr 18; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2009, § 92 RdNr 39).

43

Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG(Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>).

44

Ist dies aber der Fall, verbietet es sich, § 102 Abs 2 SGG als Sonder- und Ausnahmeregelung über seinen ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich hinaus erweiternd auszulegen und anzuwenden. Vielmehr ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geradezu geboten, wollte man auch im SGG eine Fiktion der Rücknahme der Berufung wegen Nichtbetreibens ermöglichen, hierfür - wie in der VwGO durch Einfügung des § 126 Abs 2 VwGO geschehen - eine eigenständige gesetzliche Grundlage zu schaffen.

45

3. Nach dem Vorstehenden braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob - wie vom LSG entschieden - die Voraussetzungen einer Fiktion einer Berufungsrücknahme bei unterstellter entsprechender Anwendbarkeit des § 102 SGG vorliegen. Gleichwohl weist der Senat darauf hin, dass, selbst wenn man der generellen Rechtsansicht des LSG folgen würde, die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch das LSG im Falle des Klägers zu Unrecht erfolgt wäre.

46

a) Zwar ist im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung das vom BVerfG für eine Rechtsmittelrücknahmefiktion geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt gewesen, dass nach dem prozessualen Verhalten des Klägers hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; vgl ebenso Senatsurteil vom heutigen Tage - B 13 R 74/09 R).

47

Denn bei Erlass der Betreibensaufforderung am 19.8.2008 waren die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Vormerkungsbescheids vom 4.11.2003 begehrte, mangels dessen Mitwirkung für das LSG nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher Aufforderung war nämlich die Berufung auch ein Jahr nach ihrer Einlegung nicht begründet worden, ebenso wenig wie der Widerspruch gegen den Vormerkungsbescheid vom 4.11.2003 oder die Klage. Das SGG enthält zwar für die Begründung der Klage und der Berufung, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften (§ 92 Abs 1 Satz 4, § 151 Abs 3 SGG: "sollen" bzw "soll"). Das Gericht hat die Beteiligten aber insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 Halbs 2 SGG ergibt. Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung ("ins Blaue hinein") zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 103 RdNr 16).

48

b) Allerdings setzt eine Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend aber nicht erfolgt. Denn jedenfalls vermag ein - wie hier - lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold SGb 2009, 458, 460; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, aaO, § 102 RdNr 11, mit dem Hinweis, die Betreibensaufforderung müsse "wenigstens die Form eines Richterbriefs" haben; s auch BGH Urteil vom 13.3.1980 - VII ZR 147/79 - BGHZ 76, 236, 241 - zur Frist gemäß § 273 Abs 2 Nr 1, § 275 Abs 1, § 296 ZPO).

49

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt im Übrigen Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 63 RdNr 3)diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.

50

4. Da der Senat über die vom Kläger geltend gemachten rentenrechtlichen Zeiten mangels entsprechender Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG nicht entscheiden konnte, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

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Tenor

1. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 06.02.2012 wird aufgehoben.

2. Es wird festgestellt, dass das Verfahren S 14 AS 1884/11 vor dem Sozialgericht Speyer fortzuführen ist.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob das Verfahren in der ersten Instanz durch Klagerücknahmefiktion nach § 102 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erledigt ist.

2

Mit Bescheid vom 03.11.2010 hob der Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom 01.03.2009 bis 20.04.2009 teilweise in Höhe von 452,80 EUR auf und forderte diese von der Klägerin zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, sie habe während des genannten Zeitraums Einkommen aus einer Beschäftigung in einem Café erzielt und sei daher nicht in bisher festgestellter Höhe hilfebedürftig i. S. d. § 9 SGB II.

3

Der Beklagte stützte sich insoweit auf eine Meldebescheinigung zur Sozialversicherung vom 27.04.2009 des Arbeitgebers J K , wonach die Klägerin vom 11.03. bis 30.04.2009 bei ihm beschäftigt gewesen sei und dafür 699,00 EUR erhalten habe, sowie auf eine weitere Auskunft von diesem, nach der die Klägerin im Café V gearbeitet und dafür im März 300,00 EUR und im April 399,00 EUR bekommen habe.

4

Die Klägerin erhob dagegen Widerspruch. Bei einer persönlichen Vorsprache am 08.11.2010 gab sie gegenüber dem Beklagten an, sie habe nur im März 2009 in dem Café gearbeitet; im April nicht mehr. Im März habe sie ca 200,00 EUR bekommen, die ihr bar abends nach der Schicht ausgezahlt worden seien. Ab dem 20.04.2009 habe sie in Vollzeit eine Meisterschule besucht und in dem Café nicht mehr arbeiten können.

5

Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 11.11.2010 mit der Begründung zurückgewiesen, die Beschäftigung der Klägerin sei durch einen Datenabgleich mit dem Rentenversicherungsträger bekannt geworden. Der Beklagte habe das von der Firma gemeldete Arbeitsentgelt zugrunde gelegt.

6

Am 27.12.2010 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Speyer erhoben und nochmals darauf hingewiesen, dass sie im April 2009 nicht mehr gearbeitet habe. Durch gerichtliches Schreiben vom 22.02.2011 ist die Klägerin aufgefordert worden, bis zum 30.03.2011 zu belegen, dass sie im Monat April 2010 kein Arbeitsentgelt bezogen habe. Mit Schreiben vom 13.04.2011 ist sie nochmals daran erinnert worden. Mit Schreiben vom 17.05.2011 hat die Vorsitzende der 14. Kammer des Sozialgerichts Speyer letztmals aufgefordert, auf das Schreiben zu antworten. Die Klage gelte gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen, wenn das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betrieben werde. Dieses Schreiben ist der Klägerin am 19.05.2011 zugestellt worden.

7

Am 01.09.2011 hat die Vorsitzende eine Verfügung unterzeichnet, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme am 22.08.2011 erledigt sei. Mit gerichtlichem Schreiben vom 01.09.2011 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden.

8

Am 28.09.2011 hat die Klägerin gegen den "Beschluss des Sozialgerichts Speyer vom 01.09.2011" Beschwerde eingelegt. Zur Begründung ist vorgetragen worden, die Klagerücknahmefiktion könne nicht greifen, nachdem die Auflage des Gerichtes, den Kontoauszug für April vorzulegen, am 17.03.2011 erfüllt worden sei. Der erkennende Senat des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz hat die Beschwerde durch Beschluss vom 10.11.2011 wegen Fehlens einer beschwerdefähigen Entscheidung des Sozialgerichts als unzulässig verworfen.

9

Mit Schreiben vom 21.12.2011 hat die Klägerin beim Sozialgericht Speyer den Antrag gestellt, das Verfahren fortzuführen.

10

Nach Anhörung zur geplanten Entscheidung durch Gerichtsbescheid hat das Sozialgericht Speyer durch Gerichtsbescheid am 06.02.2012 festgestellt, dass die Klage zurückgenommen worden ist. Die am 27.12.2010 erhobene Klage habe sich durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG erledigt. Danach gelte die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibe. Ein Nichtbetreiben liege vor, wenn sich der Kläger auf die Aufforderung innerhalb von 3 Monaten nicht oder nur unzureichend geäußert habe. Vorliegend sei die Klägerin aufgefordert gewesen zu belegen, dass sie im April 2010 kein Arbeitsentgelt bezogen habe. Entgegen der Behauptung des Prozessbevollmächtigten sei der Kontoauszug für April 2010 nicht eingegangen. Das Hinweisschreiben gemäß § 102 Abs. 2 SGG sei dem Prozessbevollmächtigten am 19.05.2011 zugestellt worden, sodass die Klagerücknahmefiktion mit Ablauf des 19.08.2011 eingetreten sei.

11

Gegen den ihr am 14.02.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 10.03.2012 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, das Verfahren hätte fortgeführt werden müssen.

12

Mit Schreiben vom 01.06.2012 ist der Prozessbevollmächtigte darauf hingewiesen worden, dass Zweifel an der Zulässigkeit der Berufung bestünden, da es in der Sache um einen Verwaltungsakt gehe, durch den Leistungen in Höhe von 452,80 EUR aufgehoben wurden. Es ist Gelegenheit gegeben worden, bis zum 01.07.2012 dazu Stellung zu nehmen sowie die Tatsache zu belegen, dass der erbetene Kontoauszug dem Sozialgericht vorgelegt worden sei. Am 06.06.2012 ist unter Bezugnahme auf den Hinweis der Antrag gestellt worden, die Berufung zuzulassen. Die Nichtzulassungsbeschwerde wird unter dem Aktenzeichen L 3 AS 278/12 NZB geführt.

13

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

14

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 06.02.2012 aufzuheben und festzustellen, dass das Verfahren S 14 AS 1884/11 vor dem Sozialgericht Speyer fortzuführen ist.

15

Der Beklagte beantragt,

16

die Berufung zurückzuweisen.

17

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

18

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der vorliegenden Prozessakte verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

19

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

20

Die Regelung § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG steht der Zulässigkeit der Berufung nicht entgegen. Danach bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Hier betrifft die von der Klägerin im Verfahren vor dem Sozialgericht verfolgte Klage zwar einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt im Sinne dieser Vorschrift, nämlich den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 03.11.2012. Streitgegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist aber nicht dieser Bescheid, sondern die Frage, ob das Sozialgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass die gegen diesen Bescheid erhobene Klage durch die Rücknahmefiktion nach § 102 SGG erledigt ist. Nur über diese Frage hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Gerichtsbescheid entschieden.

21

In einem solchen Fall greift § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht. Soweit das Bundessozialgericht (BSG) für den Fall der Untätigkeitsklage entschieden hat, dass auch diese im Sinne von § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG auf den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtet ist (Beschluss vom 06.10.2011, B 9 SB 45/11 B, in juris), lassen sich diese Ausführungen nicht auf den vorliegenden Fall übertragen. Das BSG hat insoweit auf den Sinn und Zweck der Regelung verwiesen, wonach die Berufungsgerichte von vermögensrechtlichen Streitsachen von geringem Wert (sogenannten Bagatellfällen) entlastet werden sollen. Die gewählte Klageart sei für die Anwendung der Vorschrift bedeutungslos, entscheidend sei, dass die Berufung einen Rechtsstreit von geringem Wert betreffe.

22

Im vorliegenden Berufungsverfahren wird aber gerade nicht über einen vermögensrechtlichen Streit entschieden, sondern über die Vorfrage, ob das diesbezüglich angestrengte Klageverfahren durch Rücknahme erledigt ist. In dem anhängigen Verfahren stehen also Verfahrensrechte im Streit, die eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand erst eröffnen. Da damit der Schutzbereich des Grundrechtes auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes berührt ist, ist eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG über seinen Wortlaut hinaus auf Fälle der vorliegenden Art nicht gerechtfertigt. Dass eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand, also über die Rechtmäßigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides selbst, nicht mit der Berufung anfechtbar wäre, stellt im Hinblick auf die Bedeutung des Rechtes auf Gewährung gerichtliche Rechtsschutzes keinen Widerspruch dazu dar.

23

Die Berufung ist auch begründet. Die Klage gilt nicht gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen. Deshalb ist das Klageverfahren noch anhängig und daher vom Sozialgericht Speyer fortzuführen. Das Sozialgericht wird in diesem Verfahren auch zu prüfen haben, ob die Klage zulässig, insbesondere fristgemäß erhoben ist.

24

Nach § 102 Abs. 2 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt; in der Aufforderung ist der Kläger auf die sich ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Unter Beachtung der Rechtsprechung zur entsprechenden Regelung in § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bzw. § 81 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) kommt eine Rücknahmefiktion nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, in denen sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Klägers vorliegen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 19.05.1993, 2 BvR 1972/92 in NVwZ 94, 62).

25

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt nach der Rechtsprechung des BSG Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht. Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift muss diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (Urteil vom 01.07.2010, B 13 R 58/09 R). Ob diese Voraussetzungen hier erfüllt sind, ist den Akten nicht mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen. Das Schreiben vom 22.02.2011, durch das die Klägerin aufgefordert worden ist zu belegen, dass sie kein Arbeitentgelt bezogen hat, ist in dem in der Akte befindlichen Original lediglich mit einer Namensparaphe und nicht mit einer vollen Unterschrift versehen. Das erste Erinnerungsschreiben vom 13.04.2011 ist nicht von der Vorsitzenden, sondern mit dem Vermerk "Auf Anordnung" von einer Justizbeschäftigten unterschrieben. Das Schreiben vom 17.05.2011, in dem die Klägerin erstmals auf die Folgen des Nichtbefolgens dieser Aufforderung hingewiesen worden ist, weist in der Gerichtsakte wiederum nur eine Paraphe der Vorsitzenden auf.

26

Nähere Ermittlungen dazu, ob das versandte Schreiben die Originalunterschrift enthält, sind aber nicht erforderlich. Abgesehen von diesen formellen Voraussetzungen ist die Aufforderung auch ihrem Inhalt nach nicht geeignet, die Folgen des § 102 Abs. 2 SGG auszulösen.

27

Die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG muss klar und konkret sein und dem Kläger deutlich machen, was von ihm erwartet wird. Daran fehlt es hier. Die Klägerin ist aufgefordert worden zu belegen, dass sie im Monat April 2010 kein Arbeitsentgelt erhalten hat. Unabhängig davon, dass hier wohl der April 2009 gemeint war, ist diese Aufforderung schon deshalb unklar, weil die Klägerin zum Beleg einer negativen Tatsache aufgefordert worden ist, ohne dass näher angeführt wird, welche Beweismittel das Gericht als ausreichend ansehen würde. Die Klägerin konnte der Aufforderung damit gerade nicht entnehmen, was genau von ihr verlangt wird. Sie hatte im Widerspruchsverfahren bereits vorgetragen, dass sie nur im März gearbeitet hat und dafür in bar entlohnt worden ist. Wie sie bei dieser Sachlage belegen sollte, im April nichts erhalten zu haben, erschließt sich nicht unmittelbar. Dass die Klägerin der Aufforderung nicht nachgekommen ist, lässt von daher keine Zweifel am Rechtsschutzinteresse aufkommen, was aber Voraussetzung für den Eintritt der Rücknahmefiktion ist.

28

Insoweit ist auch in den Blick zu nehmen, dass im sozialgerichtlichen Verfahren der Grundsatz der Amtsermittlung nach § 103 SGG gilt. Die Klägerin hatte, wie oben dargelegt, bereits im Widerspruchsverfahren nähere Ausführungen zu ihrer Behauptung gemacht, im April 2009 kein Einkommen mehr gehabt zu haben. Dem sich daraus ergebenden Widerspruch zu den Angaben des Arbeitsgebers hätte das Sozialgericht näher nachgehen können, zB. durch Einholung einer weiteren Auskunft beim Arbeitgeber oder auch durch konkrete Fragen bei der Klägerin. Dass diese auf die unbestimmte und pauschale Aufforderung, die nicht erfolgte Zahlung zu belegen, nicht reagiert hat, lässt bei dieser Sachlage jedenfalls nicht darauf schließen, dass sie an der Durchführung des Verfahrens kein Interesse mehr hatte. Die Aufforderung war damit auch nicht geeignet, die Folgen des § 102 Abs.2 SGG auszulösen.

29

Die Kostentscheidung folgt aus § 193 SGG.

30

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.

(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

(3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.

(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 16. Dezember 2010 - 5 A 1349/07 - und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 1. Juni 2011 - 3 L 44/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil und der Beschluss werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Greifswald zurückverwiesen.

Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 20. Juli 2011 - 3 L 44/11 - gegenstandslos.

...

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Antrags auf Fortsetzung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, nachdem dieses wegen Nichtbetreibens durch den Kläger mit einem Beschluss gemäß § 92 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 VwGO eingestellt worden ist.

I.

2

1. a) Der Beschwerdeführer erwarb im Jahr 1992 von der Bundesrepublik Deutschland das Eigentum an einem Grundstück auf der Insel H … . Zuvor war das Grundstück durch einen öffentlich bestellten Vermessungsingenieur abgemarkt worden.

3

Im Zusammenhang mit der beabsichtigten Veräußerung eines an das Grundstück des Beschwerdeführers angrenzenden Grundstücks führte der öffentlich bestellte Vermessungsingenieur U., der Beklagte des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Beklagter), Vermessungen zur Bestimmung der Flurstücksgrenze durch. Diese ergaben eine Grenzfeststellung, die nach Auffassung des Beschwerdeführers nicht mit derjenigen von 1992, durch einen Grenzstein dokumentierten, übereinstimmt.

4

Gegen die Grenzfeststellung erhob der Beschwerdeführer Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. September 2007 zurückwies. Die im Grenzfeststellungs- und Abmarkungsverfahren bekannt gegebenen Vermessungsergebnisse seien rechtmäßig erlassen, weil ein Vergleich der Ist-Lage der vorgefundenen und wiederhergestellten Abmarkungen der Grenzpunkte Übereinstimmung mit der Soll-Lage des Katasternachweises ergeben habe und weil der vom Beschwerdeführer angezeigte Granitgrenzstein in seiner Lage tatsächlich nicht mit dem Katasternachweis übereinstimme und keine unterirdische Vermarkung habe.

5

b) Der Beschwerdeführer erhob beim Verwaltungsgericht Klage gegen die Entscheidungen des Beklagten und begründete diese im Wesentlichen damit, die im Jahr 1992 festgestellte Grenze sei bindend. In einem Schriftsatz vom 16. Juni 2008 benannte er unter anderem seinen Vater als Zeugen für seine Behauptung, der strittige Grenzstein sei der 1992 gesetzte. Hierauf erwiderte der Beklagte mit Schriftsatz vom 3. Juli 2008; er legte dar, weshalb es sich bei dem strittigen Grenzstein nicht um den 1992 gesetzten handeln könne. Bitten des Verwaltungsgerichts an den Beschwerdeführer um Stellungnahme hierzu blieben unbeantwortet. Daraufhin erließ das Verwaltungsgericht eine Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 VwGO, die dem damaligen Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 16. Januar 2009 zugestellt wurde. Am 16. März 2009 übermittelte der Prozessbevollmächtigte einen Schriftsatz, in der zur Betreibensaufforderung wie folgt Stellung genommen wurde:

6

"Der Kläger hat seine Klage begründet und hält daran fest.

7

Der Beklagte tritt der Klage entgegen.

8

Dessen ungeachtet regen wir namens des Klägers an, in der Sache eine gerichtsnahe Mediation durchzuführen.

9

Es hat sich zur Kenntnis des Unterzeichneten erwiesen, dass das Angebot u.a. des Verwaltungsgerichts Greifswald insoweit mitunter zu Erfolgen führt."

10

c) Mit Beschluss vom 18. März 2009 entschied das Verwaltungsgericht, dass die Klage als zurückgenommen gilt, und stellte das Verfahren ein. Die Klage gelte nach § 92 Abs. 2 VwGO als zurückgenommen, da der Beschwerdeführer das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate seit Zustellung der Aufforderung nicht im Sinne dieser Aufforderung, wonach zum Vortrag des Beklagten vom 3. Juli 2008 Stellung genommen werden sollte, betrieben habe.

11

d) Mit Schreiben eines neu bestellten Prozessbevollmächtigten vom 3. Februar 2010 stellte der Beschwerdeführer den Antrag, das Verfahren fortzusetzen.

12

2. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil vom 16. Dezember 2010 bestätigte das Verwaltungsgericht den Eintritt der Rücknahmefiktion nach § 92 Abs. 2 VwGO. Der Beschwerdeführer habe das Verfahren trotz Aufforderung mehr als zwei Monate nicht im Sinne der Verfügung betrieben.

13

Die Betreibensaufforderung habe am 14. Januar 2009 an den Beschwerdeführer ergehen dürfen. Im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hätten konkrete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers bestanden.

14

Innerhalb der zweimonatigen Betreibensfrist habe sich der Beschwerdeführer lediglich mit dem am 16. März 2009 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz geäußert. Ein Betreiben im Sinne des § 92 Abs. 2 VwGO bedeute dieser Schriftsatz nicht. Soweit der damalige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 16. März 2009 mitgeteilt habe, dass der Beschwerdeführer an seiner Klage festhalte, habe diese Erklärung keinen substantiellen Aussagewert. Die gerichtliche Verfügung vom 14. Januar 2009 habe erkennbar darauf abgezielt, dass der Beschwerdeführer zu den vom Beklagten im Schreiben vom 3. Juli 2008 vorgebrachten verschiedenen Tatsachen, die den vom Beschwerdeführer als maßgeblich angesehenen Granitgrenzstein betroffen hätten, Stellung nehmen sollte. Hierzu enthalte der Schriftsatz vom 16. März 2009 aber keine Aussage. Vor dem prozessualen Hintergrund dieser Aufforderung könne der Schriftsatz letztlich nur als ein Nichtbetreiben gewertet werden.

15

3. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 1. Juni 2011 lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil ab. Die Berufung sei nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zuzulassen.

16

Das Verwaltungsgericht habe an den Beschwerdeführer eine Betreibensaufforderung richten dürfen, denn im Zeitpunkt der Aufforderung am 5. Januar 2009 hätten sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestanden. Da am 8. Juli 2008 eine sechswöchige Frist für die erbetene Stellungnahme gesetzt worden sei, an deren Erledigung durch Verfügungen vom 20. Oktober und 21. November 2008 erinnert worden sei, habe der Beschwerdeführer mit dem Unterlassen jeglicher Antwort über einen Zeitraum von circa sechs Monaten seit der Aufforderung zur Stellungnahme seine prozessuale Mitwirkungspflicht in einer Weise verletzt, die geeignet gewesen sei, die durch Stellungnahme des Beklagten zur Sache ausgelösten Zweifel an einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse zu verfestigen. Es sei nicht ersichtlich, warum es dem Beschwerdeführer in dem genannten Zeitraum nicht hätte möglich sein sollen, zu antworten. Zumindest aber habe von ihm eine Mitteilung erwartet werden können, aus welchen Gründen eine Antwort nicht möglich sei. Sein völliges Verschweigen habe deshalb den Rückschluss auf ein Desinteresse am weiteren Verfahren zugelassen.

17

Die weiteren Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO seien ebenfalls erfüllt gewesen. Um der Aufforderung zu entsprechen, hätte sich der Beschwerdeführer so substantiiert äußern müssen, dass Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses beseitigt worden wären und der äußere Anschein einer Vernachlässigung prozessualer Mitwirkungspflichten entfallen wäre. Der Anforderung an ein substantielles Vorbringen genüge es jedenfalls nicht, wenn ein Kläger auf eine konkrete Aufforderung hin lediglich mitteile, er wolle das Verfahren weiter betreiben. Im Übrigen habe der Beschwerdeführer die erbetenen Verfahrenshandlungen auch deswegen nicht vorgenommen, weil das Gericht eine inhaltliche Stellungnahme zu dem Vortrag des Beklagten mit Schriftsatz vom 3. Juli 2008 erbeten gehabt habe. Die Erklärung vom 16. März 2009 habe für ein substantielles Betreiben umso weniger ausgereicht, als dem Antwortschreiben nicht zu entnehmen gewesen sei, welche Gründe den Beschwerdeführer gehindert haben sollten und noch hinderten, sich inhaltlich zu erklären.

18

4. Die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wies das Oberveraltungsgericht mit dem schließlich auch mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 20. Juli 2011 zurück.

II.

19

1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen eine Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht seien zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 VwGO und zwar sowohl hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Betreibensaufforderung als auch hinsichtlich der Annahme des Nichtbetreibens vorgelegen hätten.

20

2. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens und das Land Mecklenburg-Vorpommern hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des gerichtlichen Ausgangsverfahrens wurden beigezogen.

21

3. Der 4. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts äußert sich in seiner Stellungnahme dahingehend, dem Verwaltungsgericht dürfte die Einstellung des Verfahrens nach § 92 Abs. 2 VwGO verwehrt gewesen sein, nachdem der Beschwerdeführer deutlich gemacht habe, dass er an seiner Klage festhalte. Der Beschwerdeführer habe hier seine Klage substantiiert und unter Beweisantritt begründet. Sein Interesse an einer weiteren Rechtsverfolgung habe er hinreichend dargetan. Es sei Sache des Gerichts, das unterschiedliche Vorbringen der Beteiligten zu bewerten.

III.

22

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme ist zur Durchsetzung eines in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechts des Beschwerdeführers angezeigt (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden, die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

23

Das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 16. Dezember 2010 und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2011 verletzen die Garantie wirksamen Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (dazu 1.). Ob sie darüber hinaus auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzen, kann offen bleiben (dazu 2.). Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts über die Anhörungsrüge gegenstandslos.

24

1. Das Verwaltungsgericht hat durch die Ablehnung des Antrags des Beschwerdeführers auf Fortsetzung des Verfahrens gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoßen; das Oberverwaltungsgericht durfte die ablehnende Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht bestätigen.

25

a) aa) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfachgesetzlichen Prozessordnungen. Der Weg zu den Gerichten, insbesondere auch zur inhaltlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung, darf von der Erfüllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden (vgl. BVerfGE 9, 194 <199 f.>; 10, 264 <267 f.>; 27, 297 <310>; 35, 65 <72 f.>). Die dem Gesetzgeber obliegende normative Ausgestaltung des Rechtswegs muss aber das Ziel dieser Rechtsgewährleistung, nämlich den wirkungsvollen Rechtsschutz, auch tatsächlich verfolgen und ermöglichen (vgl. BVerfGE 110, 77 <85>). Sie muss im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>). Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 78, 88 <99>; 110, 77 <85>; stRspr). Dieser Grundsatz gilt auch innerhalb des jeweils eingeleiteten Verfahrens selbst, soweit es darum geht, sich dort effektiv Gehör verschaffen zu können, und nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht selbst (BVerfGE 81, 123 <129>). Der gerichtlichen Durchsetzung des materiellen Anspruchs dürfen auch hier nicht unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse in den Weg gelegt werden (BVerfGE 53, 115 <127 f.>).

26

bb) Im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG setzt jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraus (vgl. BVerfGE 61, 126 <135>; 96, 27 <39 f.>; 110, 77 <85>). Nur derjenige, der mit dem von ihm angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, hat einen Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung; fehlt es daran, so ist das prozessuale Begehren als unzulässig abzuweisen.

27

Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens entfallen. Vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzinteresses kann ein Gericht im Einzelfall auch dann ausgehen, wenn das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung mangels Sachbescheidungsinteresses nicht mehr gelegen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 -, juris Rn. 17).

28

cc) Eine Regelung über eine Verfahrensbeendigung wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses ist grundsätzlich von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 <63>). Allerdings führt die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO zur Beendigung des Rechtsschutzverfahrens mit möglicherweise irreversiblen Folgen, insbesondere wenn behördliche Ausgangsentscheidungen dadurch in Bestandskraft erwachsen, ohne dass der Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hätte. Die Handhabung eines solch scharfen prozessualen Instruments muss daher im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Kläger oder Antragsteller das von ihm eingeleitete Verfahren auch durchführen will. Namentlich darf § 92 Abs. 2 VwGO nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eines Beteiligten gedeutet oder eingesetzt werden. Hierfür ist die Rücknahmefiktion nicht konzipiert. Sie soll vielmehr nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. zu § 81 AsylVfG, auf den § 92 Abs. 2 VwGO zurückgeht [BTDrucks 13/3993, S. 12], BTDrucks 12/2062, S. 42: vereinfachte Beendigung eines Verfahrens, "an dessen Fortführung der Kläger erkennbar kein Interesse mehr hat"; ferner Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 92 Rn. 3 und 46 [Stand: Januar 2012], Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 92 Rn. 18).

29

Zwar gilt auch für die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO, dass nicht jede fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts einen Verfassungsverstoß darstellt. Angesichts der gravierenden, den Rechtsschutz jedenfalls im konkreten Verfahren ohne Sachprüfung abschneidenden Wirkung dieser Vorschrift gebietet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG jedoch eine strenge Prüfung der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung des § 92 Abs. 2 VwGO durch das Bundesverfassungsgericht. Insbesondere hat es zu kontrollieren, ob die von den Verwaltungsgerichten mit Rücksicht auf die Rechtsschutzgarantie herausgearbeiteten Anforderungen an eine zulässige Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 Satz 1 und 3 VwGO gewahrt und die Voraussetzungen für die Annahme eines Nichtbetreibens nicht verfehlt, insbesondere der Vorschrift hierbei keine falsche Zielrichtung gegeben wurden. Hiernach müssen zum einen zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. Solche Anhaltspunkte sind insbesondere dann gegeben, wenn der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 -, NVwZ 2000, S. 1297 <1298>; Beschluss vom 12. April 2001 - BVerwG 8 B 2.01 -, NVwZ 2001, S. 918; Beschluss vom 7. Juli 2005 - BVerwG 10 BN 1.05 -, juris Rn. 4). Zum anderen hat ein Kläger das Verfahren nur dann nicht mehr im Sinne von § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO betrieben, wenn er innerhalb der Zwei-Monatsfrist nicht substantiiert dargetan hat, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 - BVerwG 10 BN 1.05 -, juris Rn. 7).

30

b) Hieran gemessen ist die Auffassung der Ausgangsgerichte, dass die Voraussetzungen für den Erlass einer Betreibensaufforderung gemäß § 92 Abs. 2 VwGO im Januar 2009 vorlagen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden

31

Im Schriftsatz vom 16. Juni 2008 führt der damalige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers aus, dessen Vater sei bei der seinerzeitigen Abmarkung anwesend gewesen und habe mit eigenen Augen gesehen, wie Mitarbeiter des Vermessungsingenieurs hinsichtlich des strittigen Grenzpunkts einen Aushub von circa 1 Meter vorgenommen, dort eine Flasche hineingelegt und diese zerstoßen hätten. Die Scherben der damals zerstoßenen Flasche würden sich an Ort und Stelle finden lassen.

32

In seiner Erwiderung vom 3. Juli 2008 hierauf trägt der Beklagte im Wesentlichen vor, ein Zerstoßen der Flasche sei in der Niederschrift von 1992 nicht vermerkt und wäre aus fachlicher Hinsicht auch nicht nachvollziehbar. Im August 2007 sei in Anwesenheit des Beschwerdeführers der Granitgrenzstein freigelegt worden; eine Flasche als Unterlage sei nicht vorgefunden worden. Hiervon hätten sich die Beteiligten vor Ort durch Betrachtung des Loches überzeugen können. Es müsse davon ausgegangen werden, dass dieser Granitgrenzstein nicht identisch sei mit dem 1992 verhandelten Grenzpunkt.

33

Angesichts dessen, dass der Beklagte auch unter Hinweis auf einen Ortstermin, an dem der Beschwerdeführer selbst teilnahm, die Richtigkeit einer zentralen Behauptung im Vorbringen des Beschwerdeführers in Frage stellte, lag es nahe, dass der Beschwerdeführer sich zu den Ausführungen des Beklagten äußerte. Dass er sich hierzu trotz entsprechender Bitte des Verwaltungsgerichts vom 8. Juli 2008 und zweimaliger Erinnerung (vom 20. Oktober und 21. November 2008) hieran nicht veranlasst sah, durfte das Verwaltungsgericht zum Anlass nehmen, am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers ernsthaft zu zweifeln.

34

c) Nicht mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar ist hingegen die Annahme, der Beschwerdeführer habe das Verfahren entgegen der darauf ergangenen Aufforderung des Verwaltungsgerichts nicht betrieben. Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht haben damit ein unangemessen hohes Hindernis bei der gerichtlichen Verfolgung des geltend gemachten Anspruchs errichtet.

35

Die Ausgangsgerichte haben sich bei ihren Ausführungen nicht vom Zweck des § 92 Abs. 2 VwGO leiten lassen. Dieser besteht nicht darin, den Kläger zu einer Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern in der Klärung der aufgekommenen Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 <63>).

36

Dass der Beschwerdeführer an der Verfolgung seines Rechtsschutzziels festhalten wollte, ergibt sich eindeutig aus seinem Schriftsatz vom 16. März 2009. Die Motivation des Beschwerdeführers hierfür liegt auch auf der Hand, geht es ihm im Ausgangsverfahren doch um die Klärung der Größe seines Grundstücks, die nach den Feststellungen des Beklagten um circa 1.900 Quadratmeter kleiner sein soll als von ihm angenommen.

37

Der Beschwerdeführer war angesichts der Umstände des Falles nicht verpflichtet, über den Hinweis, dass er an seiner Klage festhalte, hinausgehende Ausführungen zu machen, um den Eintritt der Rücknahmefiktion zu verhindern. Der Beschwerdeführer hatte seine Klage bereits begründet und zum Beweis der von ihm vorgebrachten Tatsachenbehauptungen seinen Vater und den im Jahr 1992 tätig gewordenen Vermessungsingenieur als Zeugen angeboten. Der Beklagte hatte die Richtigkeit der tatsächlichen Behauptungen bestritten. In einer solchen Situation ist es Aufgabe des - im Übrigen zur Amtsermittlung verpflichteten - Verwaltungsgerichts, den Sachverhalt, soweit es ihn für entscheidungserheblich hält, durch eine Beweisaufnahme aufzuklären und danach zu entscheiden. Der Weg, aufgrund einer vorweggenommenen Beweiswürdigung auf einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers zu schließen und auf diese Weise das Verfahren ohne mündlichen Verhandlung und gegebenenfalls ohne Beweisaufnahme zu beendigen, ist dem Gericht hingegen verwehrt.

38

d) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Da die Verwaltungsgerichte bisher noch nicht in der Sache entschieden und auch den Sachverhalt, soweit entscheidungserheblich, nicht aufgeklärt haben, ist nicht erkennbar, dass die Entscheidung in der Sache mit Sicherheit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausfällt.

39

e) Das Urteil des Verwaltungsgerichts und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2011 sind aufzuheben; der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 20. Juli 2011 wird dadurch gegenstandslos. Die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

40

2. Da das Verwaltungsgericht aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert war, den Eintritt der Erledigungsfiktion anzunehmen, kommt es auf die Frage, ob die Ausgangsgerichte bei ihren Entscheidungen auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt haben, nicht mehr an.

41

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts erfolgt nach § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

42

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus. Die Einwilligung gilt als erteilt, wenn der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Rücknahme enthaltenden Schriftsatzes widersprochen wird; das Gericht hat auf diese Folge hinzuweisen.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Klage als zurückgenommen gilt.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluß ein und spricht die sich nach diesem Gesetz ergebenden Rechtsfolgen der Zurücknahme aus. Der Beschluß ist unanfechtbar.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 16. Dezember 2010 - 5 A 1349/07 - und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 1. Juni 2011 - 3 L 44/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil und der Beschluss werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Greifswald zurückverwiesen.

Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 20. Juli 2011 - 3 L 44/11 - gegenstandslos.

...

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Antrags auf Fortsetzung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, nachdem dieses wegen Nichtbetreibens durch den Kläger mit einem Beschluss gemäß § 92 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 VwGO eingestellt worden ist.

I.

2

1. a) Der Beschwerdeführer erwarb im Jahr 1992 von der Bundesrepublik Deutschland das Eigentum an einem Grundstück auf der Insel H … . Zuvor war das Grundstück durch einen öffentlich bestellten Vermessungsingenieur abgemarkt worden.

3

Im Zusammenhang mit der beabsichtigten Veräußerung eines an das Grundstück des Beschwerdeführers angrenzenden Grundstücks führte der öffentlich bestellte Vermessungsingenieur U., der Beklagte des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Beklagter), Vermessungen zur Bestimmung der Flurstücksgrenze durch. Diese ergaben eine Grenzfeststellung, die nach Auffassung des Beschwerdeführers nicht mit derjenigen von 1992, durch einen Grenzstein dokumentierten, übereinstimmt.

4

Gegen die Grenzfeststellung erhob der Beschwerdeführer Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. September 2007 zurückwies. Die im Grenzfeststellungs- und Abmarkungsverfahren bekannt gegebenen Vermessungsergebnisse seien rechtmäßig erlassen, weil ein Vergleich der Ist-Lage der vorgefundenen und wiederhergestellten Abmarkungen der Grenzpunkte Übereinstimmung mit der Soll-Lage des Katasternachweises ergeben habe und weil der vom Beschwerdeführer angezeigte Granitgrenzstein in seiner Lage tatsächlich nicht mit dem Katasternachweis übereinstimme und keine unterirdische Vermarkung habe.

5

b) Der Beschwerdeführer erhob beim Verwaltungsgericht Klage gegen die Entscheidungen des Beklagten und begründete diese im Wesentlichen damit, die im Jahr 1992 festgestellte Grenze sei bindend. In einem Schriftsatz vom 16. Juni 2008 benannte er unter anderem seinen Vater als Zeugen für seine Behauptung, der strittige Grenzstein sei der 1992 gesetzte. Hierauf erwiderte der Beklagte mit Schriftsatz vom 3. Juli 2008; er legte dar, weshalb es sich bei dem strittigen Grenzstein nicht um den 1992 gesetzten handeln könne. Bitten des Verwaltungsgerichts an den Beschwerdeführer um Stellungnahme hierzu blieben unbeantwortet. Daraufhin erließ das Verwaltungsgericht eine Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 VwGO, die dem damaligen Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 16. Januar 2009 zugestellt wurde. Am 16. März 2009 übermittelte der Prozessbevollmächtigte einen Schriftsatz, in der zur Betreibensaufforderung wie folgt Stellung genommen wurde:

6

"Der Kläger hat seine Klage begründet und hält daran fest.

7

Der Beklagte tritt der Klage entgegen.

8

Dessen ungeachtet regen wir namens des Klägers an, in der Sache eine gerichtsnahe Mediation durchzuführen.

9

Es hat sich zur Kenntnis des Unterzeichneten erwiesen, dass das Angebot u.a. des Verwaltungsgerichts Greifswald insoweit mitunter zu Erfolgen führt."

10

c) Mit Beschluss vom 18. März 2009 entschied das Verwaltungsgericht, dass die Klage als zurückgenommen gilt, und stellte das Verfahren ein. Die Klage gelte nach § 92 Abs. 2 VwGO als zurückgenommen, da der Beschwerdeführer das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate seit Zustellung der Aufforderung nicht im Sinne dieser Aufforderung, wonach zum Vortrag des Beklagten vom 3. Juli 2008 Stellung genommen werden sollte, betrieben habe.

11

d) Mit Schreiben eines neu bestellten Prozessbevollmächtigten vom 3. Februar 2010 stellte der Beschwerdeführer den Antrag, das Verfahren fortzusetzen.

12

2. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil vom 16. Dezember 2010 bestätigte das Verwaltungsgericht den Eintritt der Rücknahmefiktion nach § 92 Abs. 2 VwGO. Der Beschwerdeführer habe das Verfahren trotz Aufforderung mehr als zwei Monate nicht im Sinne der Verfügung betrieben.

13

Die Betreibensaufforderung habe am 14. Januar 2009 an den Beschwerdeführer ergehen dürfen. Im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hätten konkrete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers bestanden.

14

Innerhalb der zweimonatigen Betreibensfrist habe sich der Beschwerdeführer lediglich mit dem am 16. März 2009 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz geäußert. Ein Betreiben im Sinne des § 92 Abs. 2 VwGO bedeute dieser Schriftsatz nicht. Soweit der damalige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 16. März 2009 mitgeteilt habe, dass der Beschwerdeführer an seiner Klage festhalte, habe diese Erklärung keinen substantiellen Aussagewert. Die gerichtliche Verfügung vom 14. Januar 2009 habe erkennbar darauf abgezielt, dass der Beschwerdeführer zu den vom Beklagten im Schreiben vom 3. Juli 2008 vorgebrachten verschiedenen Tatsachen, die den vom Beschwerdeführer als maßgeblich angesehenen Granitgrenzstein betroffen hätten, Stellung nehmen sollte. Hierzu enthalte der Schriftsatz vom 16. März 2009 aber keine Aussage. Vor dem prozessualen Hintergrund dieser Aufforderung könne der Schriftsatz letztlich nur als ein Nichtbetreiben gewertet werden.

15

3. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 1. Juni 2011 lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil ab. Die Berufung sei nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zuzulassen.

16

Das Verwaltungsgericht habe an den Beschwerdeführer eine Betreibensaufforderung richten dürfen, denn im Zeitpunkt der Aufforderung am 5. Januar 2009 hätten sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestanden. Da am 8. Juli 2008 eine sechswöchige Frist für die erbetene Stellungnahme gesetzt worden sei, an deren Erledigung durch Verfügungen vom 20. Oktober und 21. November 2008 erinnert worden sei, habe der Beschwerdeführer mit dem Unterlassen jeglicher Antwort über einen Zeitraum von circa sechs Monaten seit der Aufforderung zur Stellungnahme seine prozessuale Mitwirkungspflicht in einer Weise verletzt, die geeignet gewesen sei, die durch Stellungnahme des Beklagten zur Sache ausgelösten Zweifel an einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse zu verfestigen. Es sei nicht ersichtlich, warum es dem Beschwerdeführer in dem genannten Zeitraum nicht hätte möglich sein sollen, zu antworten. Zumindest aber habe von ihm eine Mitteilung erwartet werden können, aus welchen Gründen eine Antwort nicht möglich sei. Sein völliges Verschweigen habe deshalb den Rückschluss auf ein Desinteresse am weiteren Verfahren zugelassen.

17

Die weiteren Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO seien ebenfalls erfüllt gewesen. Um der Aufforderung zu entsprechen, hätte sich der Beschwerdeführer so substantiiert äußern müssen, dass Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses beseitigt worden wären und der äußere Anschein einer Vernachlässigung prozessualer Mitwirkungspflichten entfallen wäre. Der Anforderung an ein substantielles Vorbringen genüge es jedenfalls nicht, wenn ein Kläger auf eine konkrete Aufforderung hin lediglich mitteile, er wolle das Verfahren weiter betreiben. Im Übrigen habe der Beschwerdeführer die erbetenen Verfahrenshandlungen auch deswegen nicht vorgenommen, weil das Gericht eine inhaltliche Stellungnahme zu dem Vortrag des Beklagten mit Schriftsatz vom 3. Juli 2008 erbeten gehabt habe. Die Erklärung vom 16. März 2009 habe für ein substantielles Betreiben umso weniger ausgereicht, als dem Antwortschreiben nicht zu entnehmen gewesen sei, welche Gründe den Beschwerdeführer gehindert haben sollten und noch hinderten, sich inhaltlich zu erklären.

18

4. Die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wies das Oberveraltungsgericht mit dem schließlich auch mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 20. Juli 2011 zurück.

II.

19

1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen eine Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht seien zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 VwGO und zwar sowohl hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Betreibensaufforderung als auch hinsichtlich der Annahme des Nichtbetreibens vorgelegen hätten.

20

2. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens und das Land Mecklenburg-Vorpommern hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des gerichtlichen Ausgangsverfahrens wurden beigezogen.

21

3. Der 4. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts äußert sich in seiner Stellungnahme dahingehend, dem Verwaltungsgericht dürfte die Einstellung des Verfahrens nach § 92 Abs. 2 VwGO verwehrt gewesen sein, nachdem der Beschwerdeführer deutlich gemacht habe, dass er an seiner Klage festhalte. Der Beschwerdeführer habe hier seine Klage substantiiert und unter Beweisantritt begründet. Sein Interesse an einer weiteren Rechtsverfolgung habe er hinreichend dargetan. Es sei Sache des Gerichts, das unterschiedliche Vorbringen der Beteiligten zu bewerten.

III.

22

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme ist zur Durchsetzung eines in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechts des Beschwerdeführers angezeigt (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden, die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

23

Das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 16. Dezember 2010 und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2011 verletzen die Garantie wirksamen Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (dazu 1.). Ob sie darüber hinaus auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzen, kann offen bleiben (dazu 2.). Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts über die Anhörungsrüge gegenstandslos.

24

1. Das Verwaltungsgericht hat durch die Ablehnung des Antrags des Beschwerdeführers auf Fortsetzung des Verfahrens gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoßen; das Oberverwaltungsgericht durfte die ablehnende Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht bestätigen.

25

a) aa) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfachgesetzlichen Prozessordnungen. Der Weg zu den Gerichten, insbesondere auch zur inhaltlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung, darf von der Erfüllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden (vgl. BVerfGE 9, 194 <199 f.>; 10, 264 <267 f.>; 27, 297 <310>; 35, 65 <72 f.>). Die dem Gesetzgeber obliegende normative Ausgestaltung des Rechtswegs muss aber das Ziel dieser Rechtsgewährleistung, nämlich den wirkungsvollen Rechtsschutz, auch tatsächlich verfolgen und ermöglichen (vgl. BVerfGE 110, 77 <85>). Sie muss im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>). Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 78, 88 <99>; 110, 77 <85>; stRspr). Dieser Grundsatz gilt auch innerhalb des jeweils eingeleiteten Verfahrens selbst, soweit es darum geht, sich dort effektiv Gehör verschaffen zu können, und nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht selbst (BVerfGE 81, 123 <129>). Der gerichtlichen Durchsetzung des materiellen Anspruchs dürfen auch hier nicht unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse in den Weg gelegt werden (BVerfGE 53, 115 <127 f.>).

26

bb) Im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG setzt jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraus (vgl. BVerfGE 61, 126 <135>; 96, 27 <39 f.>; 110, 77 <85>). Nur derjenige, der mit dem von ihm angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, hat einen Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung; fehlt es daran, so ist das prozessuale Begehren als unzulässig abzuweisen.

27

Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens entfallen. Vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzinteresses kann ein Gericht im Einzelfall auch dann ausgehen, wenn das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung mangels Sachbescheidungsinteresses nicht mehr gelegen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 -, juris Rn. 17).

28

cc) Eine Regelung über eine Verfahrensbeendigung wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses ist grundsätzlich von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 <63>). Allerdings führt die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO zur Beendigung des Rechtsschutzverfahrens mit möglicherweise irreversiblen Folgen, insbesondere wenn behördliche Ausgangsentscheidungen dadurch in Bestandskraft erwachsen, ohne dass der Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hätte. Die Handhabung eines solch scharfen prozessualen Instruments muss daher im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Kläger oder Antragsteller das von ihm eingeleitete Verfahren auch durchführen will. Namentlich darf § 92 Abs. 2 VwGO nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eines Beteiligten gedeutet oder eingesetzt werden. Hierfür ist die Rücknahmefiktion nicht konzipiert. Sie soll vielmehr nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. zu § 81 AsylVfG, auf den § 92 Abs. 2 VwGO zurückgeht [BTDrucks 13/3993, S. 12], BTDrucks 12/2062, S. 42: vereinfachte Beendigung eines Verfahrens, "an dessen Fortführung der Kläger erkennbar kein Interesse mehr hat"; ferner Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 92 Rn. 3 und 46 [Stand: Januar 2012], Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 92 Rn. 18).

29

Zwar gilt auch für die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO, dass nicht jede fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts einen Verfassungsverstoß darstellt. Angesichts der gravierenden, den Rechtsschutz jedenfalls im konkreten Verfahren ohne Sachprüfung abschneidenden Wirkung dieser Vorschrift gebietet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG jedoch eine strenge Prüfung der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung des § 92 Abs. 2 VwGO durch das Bundesverfassungsgericht. Insbesondere hat es zu kontrollieren, ob die von den Verwaltungsgerichten mit Rücksicht auf die Rechtsschutzgarantie herausgearbeiteten Anforderungen an eine zulässige Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 Satz 1 und 3 VwGO gewahrt und die Voraussetzungen für die Annahme eines Nichtbetreibens nicht verfehlt, insbesondere der Vorschrift hierbei keine falsche Zielrichtung gegeben wurden. Hiernach müssen zum einen zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. Solche Anhaltspunkte sind insbesondere dann gegeben, wenn der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 -, NVwZ 2000, S. 1297 <1298>; Beschluss vom 12. April 2001 - BVerwG 8 B 2.01 -, NVwZ 2001, S. 918; Beschluss vom 7. Juli 2005 - BVerwG 10 BN 1.05 -, juris Rn. 4). Zum anderen hat ein Kläger das Verfahren nur dann nicht mehr im Sinne von § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO betrieben, wenn er innerhalb der Zwei-Monatsfrist nicht substantiiert dargetan hat, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 - BVerwG 10 BN 1.05 -, juris Rn. 7).

30

b) Hieran gemessen ist die Auffassung der Ausgangsgerichte, dass die Voraussetzungen für den Erlass einer Betreibensaufforderung gemäß § 92 Abs. 2 VwGO im Januar 2009 vorlagen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden

31

Im Schriftsatz vom 16. Juni 2008 führt der damalige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers aus, dessen Vater sei bei der seinerzeitigen Abmarkung anwesend gewesen und habe mit eigenen Augen gesehen, wie Mitarbeiter des Vermessungsingenieurs hinsichtlich des strittigen Grenzpunkts einen Aushub von circa 1 Meter vorgenommen, dort eine Flasche hineingelegt und diese zerstoßen hätten. Die Scherben der damals zerstoßenen Flasche würden sich an Ort und Stelle finden lassen.

32

In seiner Erwiderung vom 3. Juli 2008 hierauf trägt der Beklagte im Wesentlichen vor, ein Zerstoßen der Flasche sei in der Niederschrift von 1992 nicht vermerkt und wäre aus fachlicher Hinsicht auch nicht nachvollziehbar. Im August 2007 sei in Anwesenheit des Beschwerdeführers der Granitgrenzstein freigelegt worden; eine Flasche als Unterlage sei nicht vorgefunden worden. Hiervon hätten sich die Beteiligten vor Ort durch Betrachtung des Loches überzeugen können. Es müsse davon ausgegangen werden, dass dieser Granitgrenzstein nicht identisch sei mit dem 1992 verhandelten Grenzpunkt.

33

Angesichts dessen, dass der Beklagte auch unter Hinweis auf einen Ortstermin, an dem der Beschwerdeführer selbst teilnahm, die Richtigkeit einer zentralen Behauptung im Vorbringen des Beschwerdeführers in Frage stellte, lag es nahe, dass der Beschwerdeführer sich zu den Ausführungen des Beklagten äußerte. Dass er sich hierzu trotz entsprechender Bitte des Verwaltungsgerichts vom 8. Juli 2008 und zweimaliger Erinnerung (vom 20. Oktober und 21. November 2008) hieran nicht veranlasst sah, durfte das Verwaltungsgericht zum Anlass nehmen, am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers ernsthaft zu zweifeln.

34

c) Nicht mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar ist hingegen die Annahme, der Beschwerdeführer habe das Verfahren entgegen der darauf ergangenen Aufforderung des Verwaltungsgerichts nicht betrieben. Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht haben damit ein unangemessen hohes Hindernis bei der gerichtlichen Verfolgung des geltend gemachten Anspruchs errichtet.

35

Die Ausgangsgerichte haben sich bei ihren Ausführungen nicht vom Zweck des § 92 Abs. 2 VwGO leiten lassen. Dieser besteht nicht darin, den Kläger zu einer Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern in der Klärung der aufgekommenen Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 <63>).

36

Dass der Beschwerdeführer an der Verfolgung seines Rechtsschutzziels festhalten wollte, ergibt sich eindeutig aus seinem Schriftsatz vom 16. März 2009. Die Motivation des Beschwerdeführers hierfür liegt auch auf der Hand, geht es ihm im Ausgangsverfahren doch um die Klärung der Größe seines Grundstücks, die nach den Feststellungen des Beklagten um circa 1.900 Quadratmeter kleiner sein soll als von ihm angenommen.

37

Der Beschwerdeführer war angesichts der Umstände des Falles nicht verpflichtet, über den Hinweis, dass er an seiner Klage festhalte, hinausgehende Ausführungen zu machen, um den Eintritt der Rücknahmefiktion zu verhindern. Der Beschwerdeführer hatte seine Klage bereits begründet und zum Beweis der von ihm vorgebrachten Tatsachenbehauptungen seinen Vater und den im Jahr 1992 tätig gewordenen Vermessungsingenieur als Zeugen angeboten. Der Beklagte hatte die Richtigkeit der tatsächlichen Behauptungen bestritten. In einer solchen Situation ist es Aufgabe des - im Übrigen zur Amtsermittlung verpflichteten - Verwaltungsgerichts, den Sachverhalt, soweit es ihn für entscheidungserheblich hält, durch eine Beweisaufnahme aufzuklären und danach zu entscheiden. Der Weg, aufgrund einer vorweggenommenen Beweiswürdigung auf einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers zu schließen und auf diese Weise das Verfahren ohne mündlichen Verhandlung und gegebenenfalls ohne Beweisaufnahme zu beendigen, ist dem Gericht hingegen verwehrt.

38

d) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Da die Verwaltungsgerichte bisher noch nicht in der Sache entschieden und auch den Sachverhalt, soweit entscheidungserheblich, nicht aufgeklärt haben, ist nicht erkennbar, dass die Entscheidung in der Sache mit Sicherheit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausfällt.

39

e) Das Urteil des Verwaltungsgerichts und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2011 sind aufzuheben; der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 20. Juli 2011 wird dadurch gegenstandslos. Die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

40

2. Da das Verwaltungsgericht aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert war, den Eintritt der Erledigungsfiktion anzunehmen, kommt es auf die Frage, ob die Ausgangsgerichte bei ihren Entscheidungen auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt haben, nicht mehr an.

41

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts erfolgt nach § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

42

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde. Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertretung befugten Person mit Orts- und Zeitangabe unterzeichnet sein. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben, die angefochtene Verfügung und der Widerspruchsbescheid sollen in Abschrift beigefügt werden.

(2) Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern. Er kann dem Kläger für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, wenn es an einem der in Absatz 1 Satz 1 genannten Erfordernisse fehlt. Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gilt § 67 entsprechend.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landes-sozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Vormerkung rentenrechtlicher Zeiten. Mit der Revision wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Berufungsrücknahme.

2

Mit Bescheid vom 4.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs 5 SGB VI die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen Daten für den Zeitraum bis zum 31.12.1996 verbindlich fest.

3

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.6.2007 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger weder seinen Widerspruch noch die Klage begründet habe. Mangels Begründung sei nicht ersichtlich, inwieweit die Feststellung der Daten im Versicherungskonto rechtswidrig sein solle.

4

Im Berufungsverfahren hat das LSG den Kläger mehrmals vergeblich an die Vorlage der Berufungsbegründung erinnert. Die Geschäftsstelle des LSG-Senats hat mit Schreiben vom 19.8.2008, das auf einer durch den Berichterstatter unterschriebenen Verfügung vom selben Tage beruhte und mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnet war, den Kläger aufgefordert, (unter Hinweis auf § 153 Abs 1, § 106a SGG: bis zum 19.9.2008) die Tatsachen anzugeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühle. Des Weiteren hat sie ihn darauf hingewiesen, dass die Berufung nach § 102 Abs 2 Satz 1, § 153 Abs 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn er das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate (gerechnet ab Zugang dieser Verfügung) nicht betreibe, dh die Berufung nicht begründe. Auf das ihm am 21.8.2008 zugestellte Schreiben hat sich der Kläger nicht zur Sache geäußert.

5

Am 16.12.2008 hat das LSG den Beteiligten mitgeteilt, dass die Berufung als zurückgenommen gelte. Hiergegen hat sich der Kläger mit Schriftsatz vom 21.12.2008 gewandt; er habe seine Berufung keinesfalls zurückgenommen, sondern warte auf einen Gerichtstermin. In der mündlichen Verhandlung vom 18.3.2009 hat er erklärt, der Versicherungsverlauf sei fehlerhaft, da dort (im Einzelnen bezeichnete) Zeiten der Arbeitslosigkeit und eines Rentenbezugs nicht angegeben seien.

6

Mit Urteil vom selben Tage hat das LSG festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Berufungsrücknahme erledigt sei. Die Vorschrift des § 102 Abs 2 SGG gelte gemäß § 153 Abs 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" iS von § 153 Abs 1 SGG. Nicht zu folgen sei der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme enthalte. Offenbar habe der Gesetzgeber übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung. Es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei.

7

Die Voraussetzungen für eine Fiktion der Berufungsrücknahme seien erfüllt. Der Kläger habe innerhalb der ihm gesetzten Frist keine das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Nur mit entsprechender Mitwirkung des Versicherten durch Angaben zu den streitigen Zeiten seien weitere Ermittlungen des Versicherungsträgers ohne Beschränkung auf zugängliche Daten möglich. Entsprechendes gelte für eine sinnvolle gerichtliche Überprüfung des Vormerkungsbescheids. Trotz entsprechender Aufforderung habe der Kläger innerhalb der gesetzten Frist das Verfahren nicht durch Begründung der Berufung betrieben.

8

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 156, § 153 Abs 1 und § 102 Abs 2 SGG. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG sei nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG auf das Berufungsverfahren entsprechend anwendbar. In das SGG sei keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme aufgenommen worden. Die Berufungsrücknahme sei im sozialgerichtlichem Verfahren in § 156 SGG speziell und abschließend geregelt, was die Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ausschließe. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den nach § 102 Abs 2 SGG vorausgesetzten Wegfall des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung habe das LSG nicht festgestellt.

9

           

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des LSG Hamburg vom 18.3.2009 und den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 4.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 zu verpflichten, für die Zeiten vom 12.2.1993 bis 21.6.1994 eine Anrechnungszeit wegen Rentenbezugs nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB VI vorzumerken;
hilfsweise, das Urteil des LSG vom 18.3.2009 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

10

           

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die zulässige Revision des Klägers hat iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Berufung erledigt sei. Denn dafür fehlt es im SGG an einer gesetzlichen Grundlage (1.). Auch eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG (Klagerücknahmefiktion) kommt iS einer Fiktion der Rücknahme der Berufung bei Nichtbetreiben nicht in Betracht (2.). Überdies wären die Voraussetzungen für den Eintritt einer - unterstelltermaßen entsprechend § 102 Abs 2 Satz 1 SGG möglichen - Rücknahmefiktion nicht gegeben (3.).

15

           

1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444) wurde mit Wirkung vom 1.4.2008 in Abs 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet:
"Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen."
Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG). Eine Regelung zur Fiktion der Berufungsrücknahme hat der Gesetzgeber im SGG hingegen nicht getroffen.

16

2. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG ist nicht iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden.

17

Nach § 153 Abs 1 SGG gelten für das Verfahren vor den Landessozialgerichten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 SGG entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt (= Erster Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Bestimmungen über die Berufung in den §§ 143 bis 159 SGG umfasst) nichts anderes ergibt. Bei den in Bezug genommenen "Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" handelt es sich um die im Vierten Unterabschnitt des Ersten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG aufgeführten Vorschriften der §§ 87 bis 122 SGG(BSG Urteil vom 5.7.1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2 S 2). Danach ist zwar auch § 102 SGG grundsätzlich nicht von der Anordnung der entsprechenden Geltung im Berufungsverfahren ausgenommen. Die Vorschrift über die Fiktion der Klagerücknahme in § 102 Abs 2 SGG ist jedoch nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG im LSG-Verfahren iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme entsprechend anwendbar.

18

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes (a), der Entstehungsgeschichte der Norm (b), dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO (c), einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut (d) und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion (e).

19

a) Schon der Wortlaut des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, wonach die "Klage" und nicht die "Berufung" als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, steht einer gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechenden Anwendung dieser Regelung auf die Berufung entgegen.

20

Über § 153 Abs 1 SGG kann nicht das Wort "Berufung" in § 102 Abs 2 SGG hineingelesen werden(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463). Denn auch andere Vorschriften über "das Verfahren im ersten Rechtszug", deren entsprechende Geltung § 153 Abs 1 SGG bestimmt und die Regelungen über die "Klage" enthalten, sind im Berufungsverfahren nicht derart erweiternd anzuwenden. Die entsprechende Geltung dieser Vorschriften (zB Klageänderung nach § 99 SGG oder Widerklage nach § 100 SGG) gemäß § 153 Abs 1 SGG umfasst keine Ersetzung des Begriffs "Klage" durch "Berufung". Ein Grund für eine unterschiedliche Auslegung je nachdem, welche Norm in Bezug genommen wird, ist nicht ersichtlich.

21

Überdies findet sich im Ersten Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Vorschriften für das Verfahren der Berufung umfasst, für die Berufung in § 156 SGG eine spezielle Regelung über ihre "Zurücknahme". Eine § 102 Abs 2 SGG entsprechende Bestimmung für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben enthält die Norm aber nicht. Schon von daher trifft die Ansicht des LSG nicht zu, aus den entsprechenden Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich "nichts anderes" iS des § 153 Abs 1 SGG(aA auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - Juris RdNr 32, ohne eigenständige Begründung unter Hinweis auf das hier angefochtene LSG-Urteil).

22

b) Aus den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren ergeben sich keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 102 Abs 2 SGG in entsprechender Anwendung gemäß § 153 Abs 1 SGG auf die Berufungsrücknahme ausdehnen wollte.

23

Ziel des SGGArbGGÄndG war es, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Dies sollte durch eine Vielzahl von Maßnahmen geschehen. Die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion zur Entlastung der Landessozialgerichte war aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13 f); insoweit sah dieser zur Entlastung der Sozialgerichte und Straffung des dortigen Verfahrens lediglich die Fiktion einer Klagerücknahme vor (BT-Drucks 16/7716 S 13). Eine fiktive Berufungsrücknahme wurde auch - soweit ersichtlich - im gesamten Gesetzgebungsverfahren weder im Bundesrat noch in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestags erörtert.

24

           

In der Einleitung der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG, der in seinem Satz 1 mit der späteren Gesetzesfassung übereinstimmt, wie folgt(BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>):

 "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen …"

25

           

Die Begründung schließt mit dem Hinweis (aaO, S 20):

 "… Die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme gelten auch im einstweiligen Rechtsschutz."

26

Demnach sollen zwar die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung finden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rücknahmefiktion - unabhängig davon, ob eine solche dort überhaupt praktische Relevanz haben kann (vgl hierzu Bienert, NZS 2009, 554, 559; Leopold, SGb 2009, 458, 462, ua mit dem Hinweis, dass das gerichtliche Abwarten der in § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genannten Dreimonatsfrist nicht zum Eilcharakter des Verfahrens "passt") - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG zulässig ist(bejahend Bienert, aaO; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 102 RdNr 8; verneinend Leopold, aaO). Jedenfalls findet sich kein Hinweis dafür, dass § 102 Abs 2 SGG iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar sein soll. Vielmehr wird dort nur verlautbart, dass in § 102 Abs 2 SGG die "Fiktion einer Klagerücknahme … eingeführt" wird und diese "angelehnt" ist an § 92 Abs 2 VwGO; ersichtlich sollte somit der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs 2 VwGO in das SGG "übernommen" werden. Die "Fiktion einer Berufungsrücknahme" wird nicht erwähnt; ebenso wird an keiner Stelle ein Bezug zur Regelung der Berufungsrücknahmefiktion in § 126 Abs 2 VwGO hergestellt. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen Materialien zum SGGArbGGÄndG (Stellungnahme des Bundesrats Drucks 16/7716 s 29 f>; Gegenäußerung der Bundesregierung ; zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag vom 17.1.2008, Plenarprotokoll 16/136 S 14417 - 14422 (Anlage 6); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 20.2.2008 ). Auch sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass nach dem "Willen" des Gesetzgebers eine "fiktive Berufungsrücknahme" in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ermöglicht werden sollte.

27

c) Der Vergleich mit den in der VwGO normierten Rücknahmefiktionen spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fiktion der Berufungsrücknahme im SGG ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung.

28

Die Klagerücknahmefiktion in § 92 Abs 2 VwGO wurde durch das Sechste Gesetz zur Änderung der VwGO und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) mit Wirkung vom 1.1.1997 in Anlehnung an den bereits seit 1.7.1992 geltenden § 81 AsylVfG in die VwGO eingefügt(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 12 zu Nummer 10 <§ 92 VwGO>). Nach § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren länger als zwei Monate (in Verfahren nach dem AsylVfG gemäß § 81 Satz 1 AsylVfG länger als einen Monat) nicht betreibt.

29

Gleichzeitig wurde durch das 6. VwGOÄndG für die Berufung eine "gesetzliche Rücknahmefiktion" in § 126 Abs 2 VwGO aufgenommen und die Regelung in § 92 Abs 2 VwGO insoweit "ergänzt"(Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 13 zu Nummer 17 <§ 126 VwGO>). Nach Satz 1 dieser Bestimmung gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

30

Die eigenständige gesetzliche Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme in § 126 Abs 2 VwGO macht deutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeine Verweisung in § 125 Abs 1 VwGO auf die Vorschriften des Verfahrens im ersten Rechtszug der VwGO, zu denen auch § 92 Abs 2 VwGO gehört, als nicht ausreichend angesehen hat (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 156 RdNr 16; Leopold, SGb 2009, 458, 463). Vielmehr hat er für die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion einen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungsbedarf angenommen.

31

Der Verzicht des SGGArbGGÄndG auf eine Ergänzung des § 156 SGG um eine Rücknahmefiktion für die Berufung in Kenntnis des Umstands, dass eine solche in der Parallelvorschrift der VwGO zu § 156 SGG, nämlich in § 126 VwGO, ausdrücklich geregelt worden ist, bestätigt die Annahme, dass diese "Unvollständigkeit" beabsichtigt war und der Gesetzgeber im SGG lediglich die Möglichkeit einer Fiktion der Klagerücknahme eröffnen wollte, entgegen der Ansicht des LSG also gerade keine "planwidrige Regelungslücke" vorliegt. Hätte er die Berufungsrücknahmefiktion "gewollt", wäre gerade wegen der weitgehenden Parallelität zur VwGO eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen(vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16).

32

Sollte der Gesetzgeber gleichwohl - anders als in der VwGO - eine ausdrückliche Regelung im SGG für entbehrlich gehalten haben, hätte es zumindest eines deutlichen Hinweises bedurft. Dieser fehlt jedoch. Keinesfalls kann daraus jedoch, wie das LSG offenbar meint, ein "Wille" des Gesetzgebers für eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben hergeleitet werden. Vielmehr dürfte das "Schweigen" sowohl in § 156 SGG als auch in den Materialien zum SGGArbGGÄndG schon eher als "beredtes Schweigen" zu werten sein(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463).

33

Dem Gesetzgeber war im Übrigen der Regelungszusammenhang zwischen erst- und zweitinstanzlichem Verfahren durchaus bewusst; dies belegt die mit dem SGGArbGGÄndG erfolgte Einfügung des § 157a SGG für das Berufungsverfahren gleichzeitig mit der ebenfalls durch dieses Gesetz für das erstinstanzliche Verfahren eingeführten Bestimmung des § 106a SGG zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens (vgl auch Leopold, SGb 2009, 458, 463). Ausdrücklich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 16/7716 S 22 zu Nummer 27 <§ 157a>): "Folgeänderung wegen der Einführung der Präklusionsvorschrift in § 106a im erstinstanzlichen Verfahren. Dies zieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorschrift im Rechtsmittelverfahren nach sich …".

34

d) Dass der Gesetzgeber auf die Regelung einer Fiktion der Berufungsrücknahme verzichtet hat, mag möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass nach dem SGG eine Klagerücknahme ohne Zustimmung der/des Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgen kann (so Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 16). Auf dieser Grundlage hält die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum auch eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren für zulässig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b und § 156 RdNr 1b; Roller, aaO; Eschner in Jansen, SGG, 3. Aufl 2008, § 102 RdNr 4; Hauck in Zeihe, SGG, Stand 2009, § 102 RdNr 12; Bienert, NZS 2009, 554, 558; kritisch Leopold, SGb 2009, 458, 463; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118).

35

Der Senat kann offen lassen, ob er sich dieser Rechtsansicht anschließt; denn das LSG hat nicht festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist. Er neigt jedoch dazu, ihr jedenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Denn § 102 Abs 2 Satz 1 SGG wird nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, sofern die Rücknahmefiktion in der zweiten Instanz die Klage betrifft. Der Übernahme einer § 126 Abs 2 Satz 1 VwGO entsprechenden Regelung bedurfte es insoweit nicht(Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12).

36

Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) klargestellt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. SGGÄndG, BT-Drucks 14/5943 S 26 zu Nummer 38 <§ 102>), entsprach aber auch schon der Rechtsprechung des BSG zur früheren Fassung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach der Kläger die Klage "bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung" zurücknehmen konnte(s hierzu BSG Beschluss vom 27.9.1983 - 8 BK 16/82 - SozR 1500 § 102 Nr 5 S 10). Der Kläger kann daher auch noch im Berufungsverfahren die Klage ganz oder - wenn der Streitgegenstand teilbar ist - teilweise (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 4; Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 4)zurücknehmen mit der Folge, dass die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 202 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 ZPO ganz oder - bei teilweiser Klagerücknahme - teilweise wirkungslos wird.

37

Ist aber eine Klagerücknahme nach § 102 Abs 1 Satz 1 SGG im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § 102 Abs 2 Satz 2 SGG für die Klagerücknahmefiktion, dass Abs 1 entsprechend gilt, ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb die Fiktion der Rücknahme der Klage bei ganz oder teilweisem Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht (grundsätzlich) auch im Berufungsverfahren in Betracht kommen kann. Denn auch im Rechtsmittelverfahren muss das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der von ihm in erster Instanz erhobenen Klage stets fortbestehen.

38

Allerdings dürfte nach Einlegung einer Berufung gegen ein klageabweisendes erstinstanzliches Urteil ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, also ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen sein (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b; Leopold, SGb 2009, 458, 463; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12, mit dem Hinweis, dass im Rechtsmittelverfahren "eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen" seien; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118). Dies gilt vor allem dann, wenn der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren teilweise Erfolg hatte, entzöge die Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren doch dem zusprechenden Teil des erstinstanzlichen Urteils die Rechtswirkung. Die Annahme, dass ein Kläger, der ein Berufungsverfahren trotz Aufforderung nicht betreibt, durch das Nichtbetreiben auch die für ihn positiven Folgen der erstinstanzlichen Entscheidung zum Wegfall bringen und damit so gestellt werden möchte, als ob er die Klage nie erhoben hätte, dürfte nur schwerlich zu begründen sein (vgl Schafhausen, aaO; Leopold, aaO). In Betracht käme in diesen Fällen freilich eine Fiktion der teilweisen Klagerücknahme bezogen auf den klageabweisenden Teil der SG-Entscheidung.

39

e) Schließlich berücksichtigt nur die Rechtsauffassung, dass § 102 Abs 2 SGG nicht iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar ist, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG für die Auslegung und Anwendung von gesetzlichen Regelungen über die Beendigung eines Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Vorschriften dieser Art haben nämlich strengen Ausnahmecharakter. Da sie einschneidende Rechtsfolgen für die betroffenen Beteiligten nach sich ziehen, bedürfen sie in besonderem Maße der Rechtsklarheit.

40

Das BVerfG (Kammer) hat in seinem Beschluss vom 27.10.1998 (2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167) darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art 19 Abs 4 GG jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat es festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist.

41

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 81 AsylVfG, § 92 Abs 2 VwGO, § 126 Abs 2 VwGO und in § 102 Abs 2 SGG gefunden. Denn diese Bestimmungen, die eine Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren zur Folge haben, unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.

42

Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass hiervon ausgehende Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art 19 Abs 4 GG vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl bereits BVerfG Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BVerfG Beschluss vom 15.8.1984 - 2 BvR 357/84 - DVBl 1984, 1005; BVerfG Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Auch in der Literatur besteht über den Ausnahmecharakter und ein von Verfassungs wegen gebotenes enges Verständnis gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen Einigkeit (vgl zu § 102 Abs 2 SGG: Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 17; Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16; Berchtold in Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 5 RdNr 586; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8a; Leitherer, NJW 2008, 1258, 1260; Hauck in Hennig, SGG, Stand: 2010, § 102 RdNr 29; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VII RdNr 170a; Schafhausen, ASR 2010, 112, 115; Leopold, SGb 2009, 458, 459; Bienert, NZS 2009, 554, 555; Becker, SGb 2009, 267, 269; Tabbara, NZS 2008, 8, 10; Francke, ASR 2008, 127, 128; vgl zu § 92 Abs 2 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 92 RdNr 18; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2009, § 92 RdNr 39).

43

Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG(Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>).

44

Ist dies aber der Fall, verbietet es sich, § 102 Abs 2 SGG als Sonder- und Ausnahmeregelung über seinen ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich hinaus erweiternd auszulegen und anzuwenden. Vielmehr ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geradezu geboten, wollte man auch im SGG eine Fiktion der Rücknahme der Berufung wegen Nichtbetreibens ermöglichen, hierfür - wie in der VwGO durch Einfügung des § 126 Abs 2 VwGO geschehen - eine eigenständige gesetzliche Grundlage zu schaffen.

45

3. Nach dem Vorstehenden braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob - wie vom LSG entschieden - die Voraussetzungen einer Fiktion einer Berufungsrücknahme bei unterstellter entsprechender Anwendbarkeit des § 102 SGG vorliegen. Gleichwohl weist der Senat darauf hin, dass, selbst wenn man der generellen Rechtsansicht des LSG folgen würde, die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch das LSG im Falle des Klägers zu Unrecht erfolgt wäre.

46

a) Zwar ist im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung das vom BVerfG für eine Rechtsmittelrücknahmefiktion geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt gewesen, dass nach dem prozessualen Verhalten des Klägers hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; vgl ebenso Senatsurteil vom heutigen Tage - B 13 R 74/09 R).

47

Denn bei Erlass der Betreibensaufforderung am 19.8.2008 waren die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Vormerkungsbescheids vom 4.11.2003 begehrte, mangels dessen Mitwirkung für das LSG nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher Aufforderung war nämlich die Berufung auch ein Jahr nach ihrer Einlegung nicht begründet worden, ebenso wenig wie der Widerspruch gegen den Vormerkungsbescheid vom 4.11.2003 oder die Klage. Das SGG enthält zwar für die Begründung der Klage und der Berufung, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften (§ 92 Abs 1 Satz 4, § 151 Abs 3 SGG: "sollen" bzw "soll"). Das Gericht hat die Beteiligten aber insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 Halbs 2 SGG ergibt. Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung ("ins Blaue hinein") zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 103 RdNr 16).

48

b) Allerdings setzt eine Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend aber nicht erfolgt. Denn jedenfalls vermag ein - wie hier - lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold SGb 2009, 458, 460; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, aaO, § 102 RdNr 11, mit dem Hinweis, die Betreibensaufforderung müsse "wenigstens die Form eines Richterbriefs" haben; s auch BGH Urteil vom 13.3.1980 - VII ZR 147/79 - BGHZ 76, 236, 241 - zur Frist gemäß § 273 Abs 2 Nr 1, § 275 Abs 1, § 296 ZPO).

49

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt im Übrigen Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 63 RdNr 3)diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.

50

4. Da der Senat über die vom Kläger geltend gemachten rentenrechtlichen Zeiten mangels entsprechender Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG nicht entscheiden konnte, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

(1) Der Vorsitzende kann dem Kläger eine Frist setzen zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühlt.

(2) Der Vorsitzende kann einem Beteiligten unter Fristsetzung aufgeben, zu bestimmten Vorgängen

1.
Tatsachen anzugeben oder Beweismittel zu bezeichnen,
2.
Urkunden oder andere bewegliche Sachen vorzulegen sowie elektronische Dokumente zu übermitteln, soweit der Beteiligte dazu verpflichtet ist.

(3) Das Gericht kann Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer nach den Absätzen 1 und 2 gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn

1.
ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und
2.
der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt und
3.
der Beteiligte über die Folgen einer Fristversäumung belehrt worden ist.
Der Entschuldigungsgrund ist auf Verlangen des Gerichts glaubhaft zu machen. Satz 1 gilt nicht, wenn es mit geringem Aufwand möglich ist, den Sachverhalt auch ohne Mitwirkung des Beteiligten zu ermitteln.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde. Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertretung befugten Person mit Orts- und Zeitangabe unterzeichnet sein. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben, die angefochtene Verfügung und der Widerspruchsbescheid sollen in Abschrift beigefügt werden.

(2) Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern. Er kann dem Kläger für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, wenn es an einem der in Absatz 1 Satz 1 genannten Erfordernisse fehlt. Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gilt § 67 entsprechend.

(1) Die Beteiligten haben das Recht der Einsicht in die Akten, soweit die übermittelnde Behörde dieses nicht ausschließt. Beteiligte können sich auf ihre Kosten durch die Geschäftsstelle Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen. Für die Versendung von Akten, die Übermittlung elektronischer Dokumente und die Gewährung des elektronischen Zugriffs auf Akten werden Kosten nicht erhoben, sofern nicht nach § 197a das Gerichtskostengesetz gilt.

(2) Werden die Prozessakten elektronisch geführt, wird Akteneinsicht durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf oder durch Übermittlung des Inhalts der Akten auf einem sicheren Übermittlungsweg gewährt. Auf besonderen Antrag wird Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt. Ein Aktenausdruck oder ein Datenträger mit dem Inhalt der Akten wird auf besonders zu begründenden Antrag nur übermittelt, wenn der Antragsteller hieran ein berechtigtes Interesse darlegt. Stehen der Akteneinsicht in der nach Satz 1 vorgesehenen Form wichtige Gründe entgegen, kann die Akteneinsicht in der nach den Sätzen 2 und 3 vorgesehenen Form auch ohne Antrag gewährt werden. Über einen Antrag nach Satz 3 entscheidet der Vorsitzende; die Entscheidung ist unanfechtbar. § 155 Absatz 4 gilt entsprechend.

(3) Werden die Prozessakten in Papierform geführt, wird Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt. Die Akteneinsicht kann, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf oder durch Übermittlung des Inhalts der Akten auf einem sicheren Übermittlungsweg gewährt werden. Nach dem Ermessen des Vorsitzenden kann einem Bevollmächtigten, der zu den in § 73 Absatz 2 Satz 1 und 2 Nummer 3 bis 9 bezeichneten natürlichen Personen gehört, die Mitnahme der Akten in die Wohnung oder Geschäftsräume gestattet werden. § 155 Absatz 4 gilt entsprechend.

(4) Der Vorsitzende kann aus besonderen Gründen die Einsicht in die Akten oder in Aktenteile sowie die Fertigung oder Erteilung von Auszügen und Abschriften versagen oder beschränken. Gegen die Versagung oder die Beschränkung der Akteneinsicht kann das Gericht angerufen werden; es entscheidet endgültig.

(5) Die Entwürfe zu Urteilen, Beschlüssen und Verfügungen, die zu ihrer Vorbereitung angefertigten Arbeiten sowie die Dokumente, welche Abstimmungen betreffen, werden weder vorgelegt noch abschriftlich mitgeteilt.

(1) Der Vorsitzende kann dem Kläger eine Frist setzen zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühlt.

(2) Der Vorsitzende kann einem Beteiligten unter Fristsetzung aufgeben, zu bestimmten Vorgängen

1.
Tatsachen anzugeben oder Beweismittel zu bezeichnen,
2.
Urkunden oder andere bewegliche Sachen vorzulegen sowie elektronische Dokumente zu übermitteln, soweit der Beteiligte dazu verpflichtet ist.

(3) Das Gericht kann Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer nach den Absätzen 1 und 2 gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn

1.
ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und
2.
der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt und
3.
der Beteiligte über die Folgen einer Fristversäumung belehrt worden ist.
Der Entschuldigungsgrund ist auf Verlangen des Gerichts glaubhaft zu machen. Satz 1 gilt nicht, wenn es mit geringem Aufwand möglich ist, den Sachverhalt auch ohne Mitwirkung des Beteiligten zu ermitteln.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

Tenor

Der Beschluss des Landgerichts Duisburg vom 30. Januar 2009 - 8 O 382/08 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 17. April 2009 - I-18 W 23/09 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes und werden aufgehoben.

Die Sache wird zur Entscheidung an das Landgericht Duisburg zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

...

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zurückweisung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Amtshaftungsklage gegen das Bundesland Nordrhein-Westfalen wegen menschenunwürdiger Unterbringung in Untersuchungshaft und damit eine vergleichbare Konstellation, wie sie einer Entscheidung der Kammer vom 22. Februar 2011 zugrunde lag (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 409/09 -, NJW-RR 2011, S. 1043 ff.).

2

1. Mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2008 stellte der Beschwerdeführer Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe beim Landgericht Duisburg und überreichte unter Beweisangebot seines Vorbringens den Entwurf einer Amtshaftungsklage gegen das Land Nordrhein-Westfalen wegen menschenunwürdiger Unterbringung als Untersuchungshäftling in der Justizvollzugsanstalt D. über einen Zeitraum von 234 Tagen hinweg.

3

Er sei im Zeitraum vom 11. Januar 2006 bis 20. März 2006 im Haftraum 343 der Justizvollzugsanstalt untergebracht gewesen. Dieser habe, belegt mit vier Gefangenen, lediglich eine Grundfläche von 16 m 2 , eine Höhe von 3 m und zwei Fenster zu je ca. 80 cm x 80 cm aufgewiesen. In den Hafträumen habe sich - neben der Grundausstattung - eine Toilette befunden, die nur durch eine verstellbare Holzwand (Schamwand) mit einer oben und unten zur Zelle hin geöffneten Sichtschutzfläche vom übrigen Raum abgetrennt gewesen sei. Über eine gesonderte Belüftungsanlage habe der Haftraum nicht verfügt. Die Belüftung der Toilette sei über die Zellenluft erfolgt.

4

Im Zeitraum vom 20. März 2006 bis 1. September 2006 sei er in den Hafträumen 330 und 336 der Justizvollzugsanstalt mit jeweils einem Mitgefangenen untergebracht gewesen. Beide Hafträume hätten jeweils über eine Grundfläche von 8 m 2 bei einer Raumhöhe von 3 m verfügt. In diesen Hafträumen habe sich jeweils - neben der Grundausstattung - eine Toilette befunden, die nur durch eine verstellbare Holzwand (Schamwand) mit einer kleinen Sichtschutzfläche von 1,50 m x 0,80 m vom übrigen Raum abgetrennt gewesen sei. Über eine gesonderte Belüftungsanlage haben die Hafträume nicht verfügt. Die Belüftung der Toiletten sei jeweils über die Zellenluft erfolgt.

5

Zum damit bedingten Verlust jeglicher Privatsphäre hinzu gekommen sei, dass sowohl der Beschwerdeführer als auch sämtliche Mitgefangene starke Raucher gewesen seien, was in den kleinen Hafträumen zu einem unerträglichen Gemisch aus Rauch, Körperausdünstungen und Toilettengerüchen geführt habe. Der Beschwerdeführer habe wie auch die Mitgefangenen keine Arbeit gehabt und sei unter diesen Bedingungen dreiundzwanzig Stunden täglich zusammen mit den Mitgefangenen im jeweiligen Haftraum untergebracht gewesen. Duschmöglichkeiten seien für nicht arbeitende Gefangene nur zweimal wöchentlich vorhanden gewesen. Eine Lüftung des Raumes habe nur bei Einverständnis sämtlicher dort Gefangener erfolgen können.

6

Er, der Beschwerdeführer, habe bereits unmittelbar nach Verlegung in den Haftraum beantragt, ihn in einen Einzelhaftraum zu verlegen. Seitens der angesprochenen Beamten sei ihm jedoch mitgeteilt worden, dass keine Einzelhafträume frei seien, er deshalb auch nicht verlegt werden könne und auf eine Warteliste gesetzt würde.

7

Zu berücksichtigen sei, dass die Einzelunterbringung während der Untersuchungshaft gemäß § 119 Abs. 1 StPO (in der für das Verfahren maßgeblichen Fassung vom 7. April 1987, BGBl I S. 1074 <1095>, gültig bis zum 31. Dezember 2009, geändert durch Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009, BGBl I S. 2274 <2275>; im Folgenden: a.F.) in Verbindung mit Nr. 23 UVollzO gesetzlich angeordnet sei, es sei denn, der Gefangene stimme einer Gemeinschaftsunterbringung zu. Hierauf sei der Beschwerdeführer aber nicht hingewiesen worden. Einfachgesetzliche Regelungen wie § 18 Abs. 2 Satz 2 StVollzG oder § 201 StVollzG könnten an dieser rechtlichen Einordnung sowie am Anspruch eines Strafgefangenen auf Achtung seiner Menschenwürde nichts ändern. Die sogenannte Junktim-Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 4. November 2004 - III ZR 361/03 -, NJW 2005, S. 58) nach der eine menschenunwürdige Unterbringung nicht in jedem Fall auch eine Geldentschädigung zur Folge haben müsse, habe eine Haftdauer von lediglich zwei Tagen betroffen. Dagegen sei der Beschwerdeführer viel länger menschenunwürdig untergebracht worden.

8

2. Mit Schreiben vom 13. November 2008 beantragte das Land, den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe zurückzuweisen.

9

Dabei widersprach es der seitens des Beschwerdeführers behaupteten räumlichen Ausgestaltung der Hafträume nicht. Es machte jedoch - im Hinblick auf die Unterbringungsdauer in widersprüchlicher Weise - geltend, dass die Dauer der Unterbringung nur "vom 12.08. bis zum 31.08.2006" bestanden habe und dass der Beschwerdeführer mit der genannten Unterbringung einverstanden gewesen sei, da er keinen Antrag auf anderweitige Unterbringung gestellt habe. Diesem hätte aber jederzeit entsprochen werden können, da während des gesamten Zeitraums Einzelhafträume frei gewesen wären. Insbesondere im Haftraum 343 sei eine Gemeinschaftsunterbringung in der Regel wegen des dort befindlichen anstaltseigenen Fernsehgeräts auch gewünscht. So habe sich auch im Zeitraum vom "12.01. bis zum 15.03.2006" dort ein Fernsehgerät befunden. Der Anspruch des Beschwerdeführers scheitere daher bereits an § 839 Abs. 3 BGB.

10

Wie die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zeige, bestehe zwischen einer Menschenwürdeverletzung und einem Anspruch auf Geldentschädigung auch kein zwingendes Junktim. Der Beschwerdeführer sei selbst Raucher, konkrete haftbedingte, gesundheitliche Beeinträchtigungen seien nicht erkennbar. Schließlich sei - eine rechtswidrige, menschenunwürdige Unterbringung unterstellt - ein Verschulden des Landes nicht gegeben, da sich dieses seit Jahren um Schaffung neuer Haftplätze bemühe.

11

3. Mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2008 erwiderte der Beschwerdeführer hierzu unter nochmaliger Benennung von Zeugen, dass er insgesamt sogar vom 11. Januar 2006 bis 10. Oktober 2006 ununterbrochen in der Justizvollzugsanstalt D. inhaftiert gewesen sei. Er habe zu keinem Zeitpunkt schriftlich eine Gemeinschaftsunterbringung beantragt. Nur bei entsprechendem schriftlichen Antrag könne aber nach § 119 Abs. 1 StPO a.F. in Verbindung mit Nr. 23 UVollzO von der Einzelunterbringung abgesehen werden. Die Gemeinschaftsunterbringung habe auch nicht seinem Willen entsprochen. Im Gegenteil habe er mehrfach bei einer Mitarbeiterin der Justizvollzugsanstalt um einen Einzelhaftraum nachgefragt. Diesen habe er - wie dort üblich - mit Beginn seiner Tätigkeit als Koch (entsprechend seinen Anträgen) zum 1. September 2006 erhalten.

12

Dass im fraglichen Zeitraum in der Justizvollzugsanstalt D. Einzelhaftplätze zur Verfügung gestanden haben, werde mit Nichtwissen bestritten.

13

Im Übrigen würden die Häftlinge über ihren Anspruch auf Einzelhaft und den ihnen insoweit zustehenden Rechtsbehelfen entgegen Part. II.30.1 EPR (European Prison Rules) auch nicht informiert.

14

Ob auf eine gerichtliche Entscheidung hin der Beschwerdeführer sofort in eine Einzelzelle verlegt worden wäre, stehe ferner nicht fest. Das Land ignoriere mangels räumlicher Kapazitäten kontinuierlich gerichtliche Entscheidungen. In der Vergangenheit hätten die Anstaltsleitungen gerichtliche Entscheidungen auch nach Monaten nicht umgesetzt. Dem Beschwerdeführer seien insofern mehrere Fälle aus der Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen namentlich bekannt.

15

Dass die Hafträume im konkreten Fall menschenunwürdig seien, sei dem Land auch bekannt gewesen und von ihm billigend in Kauf genommen worden. Dazu zitierte der Beschwerdeführer aus der Strafvollzugsstatistik für Mehrfachbelegung in den Justizvollzugsanstalten des Landes.

16

4. Mit angegriffenem Beschluss vom 30. Januar 2009 verweigerte das Landgericht dem Beschwerdeführer die nachgesuchte Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussicht der Klage.

17

Zum einen sei auf § 201 Nr. 3 Satz 1 StVollzG zu verweisen, der bei Altbauten, um die es sich hier handele, eine gemeinschaftliche Unterbringung in Vier- beziehungsweise Zweipersonenzellen gestatte.

18

Zum anderen sei für eine Geldentschädigung das Mindestmaß an Schwere nicht erreicht. Der geltend gemachte körperliche Kontakt ergebe sich von selbst aus der gemeinschaftlichen Unterbringung. Die Toilette habe über eine Schamwand verfügt, der Beschwerdeführer sei selbst Raucher gewesen.

19

Hinzu komme, dass der Beschwerdeführer keinen formellen Antrag auf Verlegung gestellt habe. Hieraus dürfe gefolgert werden, dass er seine Situation nicht als so belastend empfunden habe.

20

Schließlich treffe das Land aufgrund deren Bemühungen um eine Verbesserung der Haftunterbringung kein vorwerfbares Verschulden.

21

5. Mit Schriftsatz vom 4. März 2009 legte der Beschwerdeführer hiergegen sofortige Beschwerde ein und trug zu den bisherigen Schriftsätzen noch ergänzend vor, dass ein wesentlicher Unterschied darin bestehe, ob eine Person als Raucher entscheide, wann sie rauche und lüfte, oder ob mehrere Personen rauchen, der Haftraum dadurch permanent mit Rauch belastet sei und auch eine Lüftung des Raumes nur bei entsprechender Gemeinschaftsentscheidung erfolge. Der Beschwerdeführer habe einen Antrag bei Gericht auf Verlegung in einen Einzelhaftraum schlicht in Unkenntnis der Rechtsschutzmöglichkeiten nicht gestellt. Die behaupteten Bemühungen des Landes Nordrhein-Westfalen bezögen sich auf einen der Unterbringung des Beschwerdeführers zeitlich nachfolgenden Zeitraum. Für das Land habe zum Zeitpunkt der Unterbringung des Beschwerdeführers auch keine Notsituation vorgelegen. Das Land bestimme sowohl Anzahl der Hafträume als auch Anzahl der Häftlinge, die zum Haftantritt geladen werden. Gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sei daher Prozesskostenhilfe zwingend zu bewilligen gewesen, da ansonsten vor Durchführung der Beweisaufnahme das summarische Verfahren an Stelle des Hauptsacheverfahrens trete. Insbesondere schwierige und ungelöste Rechts- und Tatfragen dürften nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden. Dass von einer ungeklärten Rechtsfrage auszugehen sei, ergebe sich allein schon aufgrund der divergierenden Rechtsprechung im Land Nordrhein-Westfalen. So habe das Oberlandesgericht Hamm unter anderem mit Beschluss vom 13. Juni 2008 - 11 W 78/08 - in einem gleichgelagerten Fall Prozesskostenhilfe bewilligt.

22

6. Mit angegriffenem Beschluss vom 17. April 2009 wies das Oberlandesgericht die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers zurück.

23

Bei § 119 Abs. 1 Nr. 1 StPO a.F. handele es sich um eine Bestimmung des einfachen Rechts. Dass für Untersuchungshäftlinge andere Maßstäbe als für Strafgefangene bei Bewertung der Fragen der Verletzung des Persönlichkeitsrechts, der Menschenwürde und der Erheblichkeitsschwelle, ab der eine Entschädigung in Betracht komme, gelten, folge daraus nicht.

24

Die Erheblichkeitsschwelle sei hier jedoch nicht überschritten. Der Antragsteller habe lediglich bei Vollzugsbeamten um einen Einzelhaftraum gebeten. Wer sich aber in seinen Anträgen auf diese einfachste Hierarchieebene beschränke, mit deren Antworten zufrieden gebe, nicht einmal einen förmlichen Antrag bei der Anstaltsleitung stelle, und über weitere Rechtsschutzmöglichkeiten nicht erkundige, habe die Situation aber offenbar selbst nicht als unerträglich empfunden. Dies mache bereits den angestrebten Anspruch unschlüssig und sei keine Frage des Ausschlusses der Ersatzpflicht nach § 839 Abs. 3 BGB.

25

Die Voraussetzungen, unter denen Verletzungen des Art. 1 Abs. 1 GG zu einem Entschädigungsanspruch führen, seien durch das sogenannte Junktim-Urteil auch höchstrichterlich geklärt. Dass diese Grundsätze im Einzelfall zu unterschiedlichen Ergebnissen führten, liege in der Natur der Sache. Der vom Beschwerdeführer genannten Entscheidung des Oberlandesgericht Hamm vom 13. Juni 2008 - 11 W 78/08 - liege insofern ein anderer Sachverhalt zugrunde, als dort zumindest ein Antrag bei der Anstaltsleitung gestellt worden sei und der Toilettenvorhang keinen hinreichenden Sichtschutz geboten habe, während hier undurchscheinende Materialien benutzt worden seien.

26

7. Mit seiner am 13. Mai 2009 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer - unter anderem - eine Verletzung seines Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

27

8. Nach Ergehen eingangs zitierter Entscheidung der Kammer vom 22. Februar 2011 zu einem vergleichbaren Sachverhalt (BVerfG, a.a.O.) beantragte der Beschwerdeführer auf schriftlichen Hinweis des Bundesverfassungsgerichts in vorliegender Angelegenheit erneut die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, nachdem mangels materieller Rechtskraft einer - wenngleich im Übrigen unanfechtbaren - Versagung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe einer bedürftigen Partei eine nochmalige Antragstellung nicht verwehrt ist und das Gericht bei Prüfung der Erfolgsaussicht und Bedürftigkeit auch nicht an seine frühere Beurteilung gebunden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2004 - IV ZB 43/03 -, NJW 2004, S. 1805 <1806>). Das Landgericht Duisburg wies mit Beschluss vom 27. April 2011 diesen Antrag als rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig zurück. Betreffend die Erfolgsaussichten hielt es daran fest, dass sich an den Entscheidungsgrundlagen der angegriffenen Beschlüsse nichts geändert habe.

28

9. Dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. In seiner Stellungnahme erklärte es unter anderem, dass nach Abschluss der laufenden Neu- und Erweiterungsbaumaßnahmen im Justizvollzug Ende 2011 / Anfang 2012 das Land Nordrhein-Westfalen über rund 1.000 zusätzliche Haftplätze verfügen werde, die zu einer deutlichen Entspannung der Belegungssituation führen würden. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

II.

29

Die Verfassungsbeschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung anzunehmen, da dies insoweit zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist.

30

1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen zu Inhalt und Reichweite des aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit bereits geklärt (vgl. BVerfGE 81, 347 <356 ff.>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. Mai 1997 - 1 BvR 296/94 -, NJW 1997, S. 2745 <2746>; vom 14. April 2003 - 1 BvR 1998/02 -, NJW 2003, S. 2976 <2977>; vom 1. Juli 2009 - 1 BvR 560/08 -, juris, Rn. 13; vom 5. Februar 2003 - 1 BvR 1526/02 -, NJW 2003, S. 1857 <1858>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. November 2004 - 1 BvR 2095/04 -, NJW-RR 2005, S. 500 <501>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. Mai 2006 - 1 BvR 430/03 -, juris, Rn. 17). Insbesondere hat es diese Fragen auch bereits weitgehend für die vorliegende Konstellation geklärt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 409/09 -, NJW-RR 2011, S. 1043 <1044>).

31

2. Soweit der Beschwerdeführer durch die Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts eine Verletzung seines Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG rügt, ist die Verfassungsbeschwerde zulässig.

32

3. In dem vorgenannten Umfang ist sie auch im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzten den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

33

a) Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll allerdings nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (vgl. BVerfGE 81, 347 <356 f.>).

34

Es läuft dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, wenn ein Fachgericht § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass auch schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfeverfahren "durchentschieden" werden können (vgl. BVerfGE 81, 347 <359>). Dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit widerstrebt es daher, wenn ein Fachgericht § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass es eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage - obwohl dies erheblichen Zweifeln begegnet - als einfach oder geklärt ansieht und sie deswegen bereits im Verfahren der Prozesskostenhilfe zum Nachteil des Unbemittelten beantwortet (vgl. BVerfGE 81, 347 <359 f.>). Ein solcher Verstoß ist erst recht anzunehmen, wenn das Fachgericht bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Auffassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Literatur abweicht (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 5. Februar 2003 - 1 BvR 1526/02 -, NJW 2003, S. 1857 <1858>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. November 2004 - 1 BvR 2095/04 -, NJW-RR 2005, S. 500 <501>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. Mai 2006 - 1 BvR 430/03 -, juris, Rn. 17).

35

b) Gemessen an diesen Grundsätzen halten die angegriffenen, Prozesskostenhilfe vollumfänglich versagenden Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts einer Überprüfung anhand von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG nicht stand.

36

aa) Sowohl Landgericht als auch Oberlandesgericht haben die Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Amtshaftungsklage ausschließlich in Bezug auf die anspruchsbegründenden Voraussetzungen der Menschenwürdeverletzung und der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorgenommen und diese abweichend von der verfassungs- und obergerichtlichen Rechtsprechung verneint.

37

(1) Bei Belegung und Ausgestaltung der Hafträume sind dem insoweit grundsätzlich bestehenden Ermessen der Justizvollzugsanstalt durch das Recht des Gefangenen auf Achtung seiner Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG Grenzen gesetzt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2002 - 2 BvR 553/01 -, NJW 2002, S. 2699 <2700>). Die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen müssen auch dann erhalten bleiben, wenn der Grundrechtsberechtigte seiner freiheitlichen Verantwortung nicht gerecht wird und die Gemeinschaft ihm wegen begangener Straftaten die Freiheit entzieht. Aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip folgt die Verpflichtung des Staates, den Strafvollzug menschenwürdig auszugestalten, mithin das Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht (vgl. BVerfGE 45, 187 <228>; 109, 133 <150>; BVerfGK 7, 120 <122 f.>). Die Menschenwürde ist unantastbar und kann deshalb auch nicht auf Grund einer gesetzlichen Bestimmung eingeschränkt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2002 - 2 BvR 553/01 -, NJW 2002, S. 2699 <2700>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 409/09 -, NJW-RR 2011, S. 1043 <1044>).

38

Als Faktoren, die eine aus den räumlichen Haftbedingungen resultierende Verletzung der Menschenwürde indizieren, kommen in erster Linie die Bodenfläche pro Gefangenen und die Situation der sanitären Anlagen, namentlich die Abtrennung und Belüftung der Toilette, in Betracht, wobei als ein die Haftsituation abmildernder Faktor die Verkürzung der täglichen Einschlusszeiten berücksichtigt werden kann.

39

So wird nach der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte die Unterbringung in einem mehrfach belegten Haftraum ohne das Hinzutreten weiterer Umstände als Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen, wenn eine Mindestfläche von 6 m 2 und 7 m 2 pro Gefangenen nicht eingehalten wird und die Toilette nicht abgetrennt beziehungsweise nicht gesondert entlüftet ist (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 18. Juli 2003 - 3 Ws 578/03 -, NJW 2003, S. 2843 <2845>; OLG Naumburg, Beschluss vom 3. August 2004 - 4 W 20/04 -, NJW 2005, S. 514; OLG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juli 2005 - 12 U 300/04 -, NJW-RR 2005, S. 1267; OLG Hamburg, Urteil vom 14. Januar 2005 - 1 U 43/04 -, juris, Rn. 49; OLG Koblenz, Urteil vom 15. März 2006 - 1 U 1286/05 -, juris, Rn. 11 ff.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Januar 2006 - 1 Ws 147/05 -, juris, Rn. 2; OLG Hamm, Beschluss vom 13. Juni 2008 - 11 W 78/07 -, juris, Rn. 20 ff.; OLG Hamm, Urteil vom 18. Februar 2009 - 11 U 88/08 -, juris, Rn. 48). Der Bundesgerichtshof ließ die rechtliche Würdigung der Instanzgerichte unbeanstandet, nach der die Unterbringung von fünf Gefangenen in einem 16 m 2 großen Haftraum mit integrierter Toilette ohne räumliche Abtrennung menschenunwürdig sei (vgl. BGH, Urteil vom 4. November 2004 - III ZR 361/03 -, NJW 2005, S. 58 <59>). In einer weiteren Entscheidung erkannte der Bundesgerichtshof als einen die Haftsituation abmildernden Faktor die Verkürzung der täglichen Einschlusszeit an (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September 2006 - III ZB 89/05 -, NJW 2006, S. 3572). Ähnlich erachtete der Berliner Verfassungsgerichtshof in einer Entscheidung die Unterbringung eines Gefangenen in einer Einzelzelle mit einer Grundfläche von 5,25 m 2 ohne räumliche Abtrennung der in die Zelle integrierten, nicht gesondert gelüfteten Toilette über drei Monate hinweg als Verstoß gegen die Menschenwürde (vgl. VerfGH Berlin, Beschluss vom 3. November 2009 - 184/07 -, juris, Rn. 2, Rn. 22 ff.). Schließlich hat auch das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen die Unterbringung von Gefangenen bei Nichteinhaltung der genannten Mindestflächen ohne räumliche Abtrennung der in die Zelle integrierten Toilette als Verstoß gegen die Menschenwürde qualifiziert (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2002 - 2 BvR 553/01 -, NJW 2002, S. 2699 <2700>; vom 13. März 2002 - 2 BvR 261/01 -, NJW 2002, S. 2700 <2701>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2007 - 2 BvR 2201/05 -, juris, Rn. 16 f.).

40

(2) Landgericht und Oberlandesgericht sind bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Amtshaftungsklage in Bezug auf die anspruchsbegründende Voraussetzung der Menschenwürdeverletzung von der geschilderten fach- und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen.

41

Denn die vom Landgericht und Oberlandesgericht als gegeben unterstellten räumlichen Haftbedingungen erfüllen die oben genannten Kriterien für eine Menschenwürdeverletzung, da in den vom Beschwerdeführer bewohnten Hafträumen die üblicherweise veranschlagten Mindestflächen pro Gefangenen unterschritten wurden und die jeweils in die Zelle integrierte Toilette nicht räumlich abgetrennt und belüftet war. Allein der Umstand, dass durch eine verstellbare, nicht durchscheinende Holzwand wenigstens eine Sichtschutzmöglichkeit bei Verrichtung der Notdurft zur Verfügung gestellt worden war, lässt nach obigen Maßstäben eine Menschenwürdeverletzung nicht entfallen. Das Grundrecht der Menschenwürde gebietet insofern auch keine Unterscheidung zwischen Strafhaft und Untersuchungshaft. Ebenso wenig von Belang ist, dass der Beschwerdeführer - wie seine Mitgefangenen auch - Raucher war. Dies mag zwar möglicherweise für die Frage eines Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit Bedeutung erlangen, nicht jedoch für die Frage eines Eingriffs in die Menschenwürde nach den aufgezeigten Maßstäben.

42

Landgericht und Oberlandesgericht durften die Erfolgsaussichten des Rechtsschutzbegehrens auch nicht mit der Begründung scheitern lassen, der Beschwerdeführer könne subjektiv nicht erheblich betroffen gewesen sein, weil er keinen förmlichen Verlegungsantrag bei der Anstaltsleitung auf Verlegung gestellt habe, sondern lediglich bei den Vollzugsbeamten um einen Einzelhaftraum gebeten habe. Zunächst einmal lässt allein der Umstand, keinen förmlichen Antrag auf Änderung eines Zustandes gestellt zu haben, keinen zwingenden Rückschluss auf den Zustand selbst zu, der die Durchführung einer Beweisaufnahme in einem Hauptverfahren entbehrlich machte. Vor dem Hintergrund der geschilderten, die Menschenwürde berührenden, unstreitigen Haftbedingungen widerspricht diese Argumentation ferner dem hohen Schutzgehalt der Menschenwürde. In letzter Konsequenz hieße dies nämlich, einen Eingriff in die Menschenwürde durch einen staatlichen Hoheitsakt von vornherein auszuschließen, wenn gegen diesen kein förmlicher Rechtsbehelf eingelegt wird. Deutet man die Ausführungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts aber dahin, dass der Beschwerdeführer konkludent in die räumlichen Haftbedingungen eingewilligt habe und mithin auf sein Grundrecht auf Menschenwürde verzichtet habe, ist dies ebenfalls nicht tragfähig. Zum einen haben Landgericht und Oberlandesgericht nicht geprüft, ob die Annahme einer konkludenten Einwilligung des Beschwerdeführers in seiner Eigenschaft als Untersuchungsgefangener schon einfachrechtlich durch § 119 Abs. 2 Satz 1 StPO a.F. verstellt war beziehungsweise ob die von der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an eine konkludente Einwilligung des Beschwerdeführers in seiner Eigenschaft als Strafgefangener erfüllt waren (vgl. OLG Celle, Urteil vom 2. Dezember 2003 - 16 U 116/03 -, NJW-RR 2004, S. 380 <381>; OLG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juli 2005 - 12 U 300/04 -, NJW-RR 2005, S. 1267 <1268>). Zum anderen haben Landgericht und Oberlandesgericht nicht geprüft, ob die Menschenwürde überhaupt ein disponibles Grundrecht ist, das einen Grundrechtsverzicht zulässt (vgl. ablehnend: BVerwG,  Urteil vom 17. Oktober 2000- BVerwG 2 WD 12/00, 13/00 -, NJW 2001, S. 2343 <2344>; BSG, Urteil vom 6. Mai 2009 - B 11 AL 11/08 -, juris, Rn. 25). Auch diese Rechtsfragen können nicht als hinreichend - zu Lasten des Beschwerdeführers - geklärt im Sinne des oben erörterten Maßstabes der Rechtsschutzgleichheit für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe angesehen werden.

43

Das Landgericht verkennt darüber hinaus noch, dass die Menschenwürde nicht aufgrund gesetzlicher Bestimmungen eingeschränkt werden kann und folglich § 201 Nr. 3 Satz 1 StVollzG nicht als gesetzliche Rechtfertigungsgrundlage herangezogen werden kann. Ferner wird es den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht gerecht, indem es - entgegen grundsätzlich anderslautender obergerichtlicher Rechtsprechung (vgl. BGH, Urteil vom 4. November 2004 - III ZR 361/03 -, NJW 2005, S. 58 <59>; OLG Celle, Urteil vom 2. Dezember 2003 - 16 U 116/03 -, NJW-RR 2004, S. 380 <381>; OLG Hamm, Beschluss vom 13. Juni 2008 - 11 W 54/08 -, juris, Rn. 42 u. 65) - ein Verschulden des Antragsgegners, bezogen auf die konkrete, möglicherweise menschenunwürdige Unterbringung des Beschwerdeführers, allein durch pauschale Verweisung auf dessen Vortrag über seine Bemühungen zur Verbesserung der allgemeinen Haftsituation im Land ohne nähere Prüfung im Hauptverfahren bereits im Prozesskostenhilfeverfahren verneint.

44

bb) Indem Landgericht und Oberlandesgericht von vornherein der beabsichtigten Amtshaftungsklage jegliche Erfolgsaussicht abgesprochen haben, haben sie mithin den Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit verletzt.

45

c) Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auch auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass Landgericht und Oberlandesgericht bei der erforderlichen Beachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe in der Sache zumindest teilweise zu einer anderen Entscheidung gelangt wären.

46

4. Weiterhin steht auch nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit fest, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben würde (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>), weil er es möglicherweise gemäß § 839 Abs. 3 BGB vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden.

47

a) Denn zum einen kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Schadensersatzpflicht gemäß § 839 Abs. 3 BGB nur dann vollumfänglich verneint werden, wenn die Einlegung eines gebotenen Rechtsbehelfs den Eintritt des Schadens gänzlich verhindert hätte. Wenn die Einlegung eines Rechtsbehelfs erst von einem bestimmten Zeitpunkt an weitere Schäden verhindert hätte, entfällt der Schadensersatzanspruch nur für diesen späteren Schäden, bleibt jedoch für die bereits vorher entstandenen Schäden bestehen (vgl. BGH, Urteil vom 16. Januar 1986 - III ZR 77/84 -, NJW 1986, S. 1924; speziell für eine Amtshaftungsklage wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen: OLG München, Beschluss vom 10. August 2006 - 1 W 1314/06 -, NJW 2007, S. 1986).

48

b) Zum anderen ist für die Kausalität zwischen der Nichteinlegung des Rechtsbehelfs und dem Schadenseintritt der Schädiger beweispflichtig (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 2003 - III ZR 342/02 -, NJW 2004, S. 1241 <1242>; Urteil vom 11. März 2010 - III ZR 124/09 -, NJW-RR 2010, S. 1465) und bei der Frage, welchen Verlauf die Sache genommen hätte, wenn der Rechtsbehelf eingelegt worden wäre, ist grundsätzlich auch zu berücksichtigen, wie nach der wirklichen Rechtspraxis entschieden worden wäre (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 2003 - III ZR 342/02 -, NJW 2004, S. 1241 <1242>). Vorliegend hat der Beschwerdeführer aber ausdrücklich bestritten, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs den Schaden sofort und damit gänzlich verhindert hätte, und, obwohl ihm diesbezüglich nicht die Darlegungslast zufiel, auch konkrete tatsächliche Anhaltspunkte hierfür aufgezeigt, namentlich aus der Strafvollzugsstatistik zur Mehrfachbelegung in den Justizvollzugsanstalten des Landes zitiert, Beispielsfälle von Strafgefangenen aus einem benachbarten Oberlandesgerichtsbezirk des Landes benannt sowie auf eine Reihe von Beschlüssen des benachbarten Oberlandesgerichts verwiesen, die ein entsprechendes Vollzugsdefizit der Justizvollzugsanstalten mangels räumlicher Kapazitäten konstatierten (vgl. OLG Hamm, Beschlüsse vom 13. Juni 2008 - 11 W 54/08, 11 W 86/07, 11 W 77/07, 11 W 78/07, 11 W 85/07 -, juris). Danach wäre es an dem Land gewesen substantiiert darzulegen, aus welchen Gründen und - hierbei allerdings unter Berücksichtigung des einstweiligen Rechtsschutzes - ab welchem Zeitpunkt diese im Hinblick auf die Haftbedingungen des Beschwerdeführers praktische Wirkung entfaltet hätten.

49

c) Schließlich gelangt man auch nicht zu einer anderen Prognose, wenn man die jüngere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur hypothetischen Kausalität im Rahmen des § 839 Abs. 3 BGB bei Amtshaftungsklagen wegen menschenunwürdiger Haftunterbringung berücksichtigt, in der der Bundesgerichtshof an die aus dem Gebot der Achtung der Menschenwürde folgende rechtliche Erwägung anknüpft, dass die Strafvollstreckung notfalls zu unterbrechen sei, wenn und solange eine weitere Unterbringung nur unter menschenunwürdigen Bedingungen in Betracht komme, und er hieraus folgert, dass vor diesem Hintergrund die Feststellung, dass ein Rechtsmittel an der Haftsituation nichts ändern könne, rechtsfehlerhaft sei (vgl. BGH, Urteil vom 11. März 2010 - III ZR 124/09 -, NJW-RR 2010, S. 1465 <1466>). Denn wie das Bundesverfassungsgericht insofern bereits festgestellt hat, geht mit dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht zwingend einher, dass ein Rechtsbehelf zum maßgeblichen Zeitpunkt in der Rechtspraxis auch effektiv umgesetzt worden wäre und damit das Ergreifen der Rechtsschutzmöglichkeiten möglich, zumutbar und erfolgversprechend gewesen wäre (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 409/09 -, NJW-RR 2011, S. 1043 <1046 f.>).

50

d) Ob ein Rechtsbehelf in der vorliegenden Konstellation möglich, zumutbar und erfolgversprechend gewesen wäre und ob und inwieweit die Nichteinlegung eines Rechtsbehelfs bereits in der Vergangenheit entstandene Ansprüche aus § 839 BGB tangiert, wird sich mithin nur mithilfe der Durchführung eines Hauptsacheverfahrens klären lassen.

51

e) Hieran ändert auch die vom Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen im Verfassungsbeschwerdeverfahren nach Ende der Stellungnahmefrist erstmals vorgelegte Kopie der "Anlage zur Aufnahmeverhandlung" nichts, ausweislich welcher der Beschwerdeführer am 12. Januar 2006 unter anderem eine Einverständniserklärung mit der gemeinsamen Unterbringung mit anderen Gefangenen unterzeichnet haben soll. Denn diese war zum Zeitpunkt der angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen nicht Verfahrensgegenstand. Ob und inwieweit der Sachvortrag insofern im Ausgangsverfahren noch ergänzt wird, ist Sache der Antragsgegner. Den Fachgerichten obläge es dann zu prüfen, inwieweit diese Einverständniserklärung zur gemeinsamen Unterbringung oder die Nichtrücknahme der Einverständniserklärung nach Kenntnisnahme der konkreten Haftbedingungen gemäß § 119 Abs. 2 Satz 2 StPO a.F. - etwa im Rahmen des § 839 Abs. 3 BGB oder des § 254 BGB - Auswirkungen auf die Erfolgsaussichten des geltend gemachten Amtshaftungsanspruches haben können.

52

5. Im Hinblick auf die Rügen der Verletzung weiterer Grundrechte wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

53

6. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 3 BVerfGG.

54

7. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

(1) Dem Gegner ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, ob er die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für gegeben hält, soweit dies aus besonderen Gründen nicht unzweckmäßig erscheint. Die Stellungnahme kann vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt werden. Das Gericht kann die Parteien zur mündlichen Erörterung laden, wenn eine Einigung zu erwarten ist; ein Vergleich ist zu gerichtlichem Protokoll zu nehmen. Dem Gegner entstandene Kosten werden nicht erstattet. Die durch die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen nach Absatz 2 Satz 3 entstandenen Auslagen sind als Gerichtskosten von der Partei zu tragen, der die Kosten des Rechtsstreits auferlegt sind.

(2) Das Gericht kann verlangen, dass der Antragsteller seine tatsächlichen Angaben glaubhaft macht, es kann insbesondere auch die Abgabe einer Versicherung an Eides statt fordern. Es kann Erhebungen anstellen, insbesondere die Vorlegung von Urkunden anordnen und Auskünfte einholen. Zeugen und Sachverständige werden nicht vernommen, es sei denn, dass auf andere Weise nicht geklärt werden kann, ob die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint; eine Beeidigung findet nicht statt. Hat der Antragsteller innerhalb einer von dem Gericht gesetzten Frist Angaben über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht glaubhaft gemacht oder bestimmte Fragen nicht oder ungenügend beantwortet, so lehnt das Gericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe insoweit ab.

(3) Die in Absatz 1, 2 bezeichneten Maßnahmen werden von dem Vorsitzenden oder einem von ihm beauftragten Mitglied des Gerichts durchgeführt.

(1) Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Prozeßkostenhilfe mit Ausnahme des § 127 Absatz 2 Satz 2 der Zivilprozeßordnung gelten entsprechend. Macht der Beteiligte, dem Prozeßkostenhilfe bewilligt ist, von seinem Recht, einen Rechtsanwalt zu wählen, nicht Gebrauch, wird auf Antrag des Beteiligten der beizuordnende Rechtsanwalt vom Gericht ausgewählt. Einem Beteiligten, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann auch ein Steuerberater, Steuerbevollmächtigter, Wirtschaftsprüfer, vereidigter Buchprüfer oder Rentenberater beigeordnet werden. Die Vergütung richtet sich nach den für den beigeordneten Rechtsanwalt geltenden Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes.

(2) Prozeßkostenhilfe wird nicht bewilligt, wenn der Beteiligte durch einen Bevollmächtigten im Sinne des § 73 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 bis 9 vertreten ist.

(3) § 109 Abs. 1 Satz 2 bleibt unberührt.

(4) Die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach den §§ 114 bis 116 der Zivilprozessordnung einschließlich der in § 118 Absatz 2 der Zivilprozessordnung bezeichneten Maßnahmen, der Beurkundung von Vergleichen nach § 118 Absatz 1 Satz 3 der Zivilprozessordnung und der Entscheidungen nach § 118 Absatz 2 Satz 4 der Zivilprozessordnung obliegt dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des jeweiligen Rechtszugs, wenn der Vorsitzende ihm das Verfahren insoweit überträgt. Liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe hiernach nicht vor, erlässt der Urkundsbeamte die den Antrag ablehnende Entscheidung; anderenfalls vermerkt der Urkundsbeamte in den Prozessakten, dass dem Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Prozesskostenhilfe gewährt werden kann und in welcher Höhe gegebenenfalls Monatsraten oder Beträge aus dem Vermögen zu zahlen sind.

(5) Dem Urkundsbeamten obliegen im Verfahren über die Prozesskostenhilfe ferner die Bestimmung des Zeitpunkts für die Einstellung und eine Wiederaufnahme der Zahlungen nach § 120 Absatz 3 der Zivilprozessordnung sowie die Änderung und die Aufhebung der Bewilligung der Prozesskostenhilfe nach den §§ 120a und 124 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 der Zivilprozessordnung.

(6) Der Vorsitzende kann Aufgaben nach den Absätzen 4 und 5 zu jedem Zeitpunkt an sich ziehen. § 5 Absatz 1 Nummer 1, die §§ 6, 7, 8 Absatz 1 bis 4 und § 9 des Rechtspflegergesetzes gelten entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Rechtspflegers der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle tritt.

(7) § 155 Absatz 4 gilt entsprechend.

(8) Gegen Entscheidungen des Urkundsbeamten nach den Absätzen 4 und 5 kann binnen eines Monats nach Bekanntgabe das Gericht angerufen werden, das endgültig entscheidet.

(9) Durch Landesgesetz kann bestimmt werden, dass die Absätze 4 bis 8 für die Gerichte des jeweiligen Landes nicht anzuwenden sind.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Das Landessozialgericht kann durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn

1.
dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden,
2.
das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

(2) Das Sozialgericht hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 7. April 2010 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit S 11 AS 956/07 nicht durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG beendet worden ist.

Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Dessau-Roßlau zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

Der Kläger wendet sich gegen einen Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau, in dem dieses seine Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Fiktion einer nach § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingetretenen Klagerücknahme zurückgewiesen hat. In der Sache begehrt der Kläger von der Beklagten u.a. die Übernahme der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung i.H.v. 800,00 EUR monatlich seit Antragstellung (25. Oktober 2004) sowie die Gewährung eines Fahrtkostenzuschusses für den Besuch bei seinen Kindern. Gegen den Leistungsbescheid vom 11. August 2006, mit dem die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 1. September bis 30. November 2006 u.a. Kosten der Unterkunft und Heizung i.H.v. 258,93 EUR bewilligte, legte er erfolglos Widerspruch ein. Am 29. Mai 2007 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Dessau-Roßlau erhoben (S 11 AS 956/07) und sein Begehren weiterverfolgt.

2

Das Sozialgericht hat am 22. Oktober 2008 einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage durchgeführt, zu dem der Kläger persönlich erschienen ist. Er ist beauflagt worden, die Adresse seines Sohnes K. (Vermieter der vom Kläger angemieteten Wohnung) mitzuteilen, Verdienstbescheinigungen für das gesamte Kalenderjahr 2006 sowie alle Kontoauszüge zum Nachweis der Mietzahlungen im Jahr 2006 einzureichen. Er hat daraufhin geäußert, die Mietzahlungen seien nicht klassisch auf ein Konto überwiesen worden. Vielmehr sei die Zahlung dadurch erfolgt, dass er für den Vermieter Baurechnungen und andere Rechnungen beglichen habe. Unter dem 8. Januar 2009 hat das Sozialgericht den Kläger an die Übersendung der angeforderten Unterlagen erinnert und angefragt, ob eine Begründung der Klage erfolgen werde.

3

Mit Schreiben vom 23. März 2009 hat das Sozialgericht an die Beantwortung und Erledigung des gerichtlichen Schreibens vom 8. Januar 2009 erinnert. Es hat eine Frist von vier Wochen bestimmt und vorsorglich auf die Regelung des § 102 Abs. 2 SGG hingewiesen. Unter dem 5. Mai 2009 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers um die Gewährung einer Fristverlängerung gebeten. Der Kläger sei ortsabwesend und könne daher die Unterlagen nicht beibringen. Mit Schreiben vom selben Tag hat er im Nachgang die Anschrift des Sohnes des Klägers K. mitgeteilt; mit Schreiben vom 25. Mai 2009 hat er um erneute Fristverlängerung bis 15. Juni 2009 gebeten. In seiner Kanzlei sei die Neuinstallation des Computersystems erforderlich geworden. Innerhalb dieser Frist ging kein Schriftsatz des Klägers ein. Unter dem 23. Juni 2009 hat das Sozialgericht den Kläger darauf hingewiesen, dass nach § 102 Abs. 2 SGG die Klage als zurückgenommen gelte, wenn er das gerichtliche Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate nicht betreibe. Gleichzeitig hat es den Kläger nochmals aufgefordert, innerhalb von drei Monaten das Verfahren weiter zu betreiben und die gerichtliche Verfügung vom 8. Januar 2009 zu erledigen. Dabei gehe es nicht nur um die Einreichung einer Klagebegründung, sondern vor allem um die Einreichung der im Erörterungstermin angeforderten Unterlagen (Gehaltsnachweise, Nachweise über tatsächliche Mietzahlungen). Sollte dies nicht fristgerecht geschehen, träten die vorstehend genannten Folgen ein. Das Schreiben ist dem Kläger am 7. Juli 2009 zugestellt worden.

4

Der Kläger hat daraufhin die Klage mit Schriftsatz vom 28. August 2009, der per Fax beim Sozialgericht eingegangen ist, begründet und auf die sich in der Anlage befindlichen Unterlagen verwiesen. Anlagen hat der Kläger jedoch per Fax nicht übersandt. Einen Originalschriftsatz hat er trotz zweier Hinweise des Sozialgerichts vom 9. September und 26. Oktober 2009 nicht zu den Akten gereicht. Im letztgenannten Schreiben des Sozialgerichts, das dem Kläger am 4. November 2009 zugestellt worden ist, hat es ihm zudem eine Nachfrist bis 30. November 2009 gesetzt. Sollte diese Frist nicht eingehalten werden, gelte die Klage als zurückgenommen.

5

Nachdem der Kläger auch auf diese Schreiben nicht reagiert hat, hat das Sozialgericht am 1. Dezember 2009 das Verfahren nach § 102 Abs. 2 SGG eingestellt und dies dem Kläger mit Schreiben vom selben Tag mitgeteilt. Am 7. Dezember 2009 ist beim Sozialgericht ein auf den 19. November 2009 datierter Schriftsatz des Klägers eingegangen. Er hat die Prozesskostenhilfeunterlagen und Belege zu den Verrechnungen der Mietzahlungen eingereicht. Daraufhin hat das Sozialgericht mit Schreiben vom 9. Dezember 2009 darauf hingewiesen, dass das Verfahren bereits am 1. Oktober 2009 als erledigt erfasst worden sei. Da die genau bezeichneten Unterlagen nicht innerhalb der gesetzten Frist eingereicht worden seien, gelte die Klage als zurückgenommen.

6

Der Kläger hat am 28. Dezember 2009 die Fortführung des Verfahrens beantragt. Die Hinweise des Gerichts hätten das Verfahren nicht beendet. Er habe sich am 28. August 2009 geäußert. Eine erneute Aufforderung sei Ende Oktober 2009 erfolgt. Damit sei die Frist erneut in Gang gesetzt worden. Er hätte mit dem Kurierdienst ein Zustellungsproblem gehabt, nicht zuletzt möglicherweise durch den Umzug des Gerichts. Das Übersenden einer Auflage, dessen Erfüllung der Kläger im Übrigen für nicht gerechtfertigt halte, könne nicht zur Fiktion eine Klagerücknahme führen. Er habe eine Rechtsfrage zur Entscheidung gestellt und alle erforderlichen Angaben gemacht. Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 7. April 2010 die Klage auf Feststellung, dass das Verfahren S 11 AS 956/07 nicht durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG beendet wurde, zurückgewiesen. Der Kläger sei der ausreichend bestimmten und konkreten Aufforderung des Gerichts vom 23. Juni 2009 nur unzureichend nachgekommen.

7

Trotz mehrmaliger gerichtlicher Erinnerungen seien die geforderten Unterlagen nicht beigebracht worden. Allein die Ankündigung, diese zu übersenden, reiche nicht aus. Nur die Erfüllung der verlangten Mitwirkungshandlung hätte die Annahme des Nichtbetreibens ausschließen können. Auch die nochmalige Fristsetzung des Gerichts nach Eintritt der Rücknahmefiktion ändere nichts an deren Wirksamkeit. Das gerichtliche Schreiben vom 26. Oktober 2009 stelle keine erneute Betreibensaufforderung dar. Es habe den Kläger lediglich erinnern und ihm die Möglichkeit geben wollen, die bereits angekündigten Rechtsfolgen durch Betreiben noch abzuwenden.

8

Gegen den ihm am 12. April 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 12. Mai 2010 Berufung eingelegt. Es hätten zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung keine hinreichenden konkreten Zweifel bestanden, dass sein Rechtsschutzinteresse entfallen sei. Er habe - wenn auch mit wenigen Worten - die Klage begründet und durch die Fristverlängerungsanträge deutlich gemacht, dass ihm am Fortgang des Verfahrens gelegen war. Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 7. April 2010 aufzuheben und festzustellen, dass der Rechtsstreit S 11 AS 956/07 nicht durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG beendet worden ist. Die Beklagte hat Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten, jedoch keinen eigenen Antrag gestellt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte ergänzend verwiesen.Entscheidungsgründe:

9

A. Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft im Sinne von § 144 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 SGG in der ab 1. April 2008 gültigen Fassung. Danach bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die Geld-, Dienst- oder Sachleistungen oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Dabei kommt es für die Anwendung der Verfahrensvorschrift nicht auf die Klageart, sondern das sachliche Ziel des Klagebegehrens an (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Beschluss vom 4. Februar 1976, 9 BV 342/75, juris, Rn. 3). Der Berufungswert ist vorliegend überschritten. Streitgegenstand im vorliegenden Verfahren ist die Feststellung der Unwirksamkeit der vom Sozialgericht festgestellten Klagerücknahmefiktion.

10

Dem rechtlichen Interesse an dieser Feststellung liegt das wirtschaftliche Interesse zugrunde, das sozialgerichtliche Verfahren in der Sache fortführen zu können. In diesem begehrt der Kläger höhere Grundsicherungsleistungen ab 1. Januar 2005. Allein unter Berücksichtigung der beanspruchten Mehrleistung bei den KdU i.H.v. 541,97 EUR/Monat liegt der Streitwert des Verfahrens über 750,00 EUR. B. Die Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht festgestellt, dass das Verfahren S 11 AS 956/07 durch die Fiktion der Klagerücknahme beendet war. Es wird von ihm nach Zurückverweisung fortzuführen sein. Nach § 102 Abs. 2 SGG wird eine Klagerücknahme fingiert, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Gemäß § 102 Abs. 2 Satz 3 SGG ist der Kläger auf die eintretenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

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Die Fiktion einer Klagerücknahme ist für die Fälle eingeführt worden, in denen Anhaltspunkte für ein Desinteresse der klägerischen Partei an der Fortführung des Rechtsstreits bestehen. Nichtbetreiben liegt vor, wenn die klägerische Partei sich gar nicht oder nur unzureichend innerhalb von drei Monaten äußert, sodass nicht oder nur unzureichend dargelegt ist, dass das Rechtsschutzbedürfnis im konkreten Fall ungeachtet der vorliegenden Indizien fort besteht. Diese Indizwirkung kann die Partei widerlegen, indem sie binnen der Drei-Monats-Frist substantiiert darlegt, dass und warum das Rechtsschutzinteresse trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (Bundesverwaltungsgericht (BVerfG), Kammerbeschluss vom 19. Mai 1993, 2 BvR 1972/92, Rn. 14, juris).

12

Nur wenn beide Voraussetzungen vorliegen, kann von einer willkürfreien, durch Sachgründe gerechtfertigten Beschränkung des Zugangs zum weiteren Verfahren gesprochen werden. Die Regelung des § 102 SGG ist an § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I 1996, 1626) eingefügt wurde und § 81 Asylverfahrensgesetz (AslyVfgG) nachgebildet ist (vgl. BR-Drs. 820/07, S. 23). Auf die hierzu ergangene Rechtsprechung kann folglich zurückgegriffen werden.

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Die Betreibensaufforderung muss sich hinreichend konkret auf bestimmte verfahrensfördernde Handlungen beziehen, die der Kläger vorzunehmen hat (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 8. Dezember 2009, L 5 R 884/09, Rn 14, juris). Zum Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung müssen weiterhin sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 1985, 9 C 48/84, Rn. 22, juris; Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 27. Oktober 1998, 2 BvR 2662/95, Rn. 18, juris unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerwG zu § 81 AsylVfG (zuvor: § 33 AsylVfG 1982) und § 92 Abs. 2 VwGO). Dies rechtfertigt sich aus dem Ausnahmecharakter der Norm und aus Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG).

14

Eine Verletzung der sich aus § 103 SGG ergebenden prozessualen Mitwirkungspflichten des Klägers kann zwar solche Anhaltspunkte liefern und tut dies in der Regel dann, wenn das Gericht konkrete Auflagen verfügt hat. Stets muss sich daraus aber auch der Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, also auf ein Desinteresse des Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens ableiten lassen können (BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000, 8 B 119/00, Rn. 3, juris). § 102 Abs. 2 SGG ist kein Hilfsmittel zur "bequemen Erledigung lästiger Verfahren" oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen (vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13. Oktober 2005, 1 L 40/05, Rn. 24, juris zu § 92 VwGO m.w.N.).

15

Es bestand entgegen der Ansicht des Sozialgerichts vorliegend bei Erlass der Betreibensaufforderung vom 23. Juni 2009 kein derartig konkreter Anhaltspunkt, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers auszugehen. Im Unterschied zu den Streitigkeiten nach dem AsylVfG, bei denen häufig schon zweifelhaft ist, ob sich ein Kläger überhaupt noch im Bundesgebiet aufhält, lässt sich im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende nur ausnahmsweise auf ein zwischenzeitlich entfallenes Rechtsschutzinteresse des jeweiligen Klägers schließen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. April 2001, 8 B 2/01, Rn. 6, juris für vermögensrechtliche Streitigkeiten). Vorliegend sind existenzsichernde Leistungen im Streit. Der Kläger hat zwar die im Erörterungstermin vom 22. Oktober 2008 an ihn herangetragenen Mitwirkungspflichten nicht vollständig und nicht zeitnah erfüllt. Das Sozialgericht hat jedoch u.a. Mitwirkungshandlungen verlangt, die der Kläger bereits erfüllt hatte bzw. nicht erfüllen konnte.

16

Nach zwei Erinnerungen unter dem 8. Januar und 23. März 2009 hat der Kläger unter dem 5. Mai 2009 die Adresse seines Sohnes Karl mitgeteilt und damit einen Teil der Auflagen aus dem Erörterungstermin erfüllt. Weiterhin hatte er bereits im Erörterungstermin angegeben, über Kontoauszüge zum Beweis der Mietzahlungen nicht zu verfügen, da er die Miete in Form der Übernahme von Rechnungen gezahlt habe. Schließlich sieht § 92 SGG eine Klagebegründung nicht zwingend vor.

17

Auch die von seinem Prozessbevollmächtigten beantragten, substantiiert begründeten Fristverlängerungen (Ortabwesenheit des Klägers, Erneuerungsbedürftigkeit des Computersystems in der Kanzlei seines Prozessbevollmächtigten) lassen hier nicht auf einen Wegfall seines Rechtsschutzinteresses schließen. Der Kläger hat damit hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er weiterhin gewillt ist, das sozialgerichtliche Verfahren weiter zu betreiben.

18

Allein die Nichtvorlage der Verdienstbescheinigungen hat hier nicht die Annahme eines Wegfalls seines Rechtsschutzinteresses gerechtfertigt. Das Gericht hatte zudem die Möglichkeit, den Kläger unter Fristsetzung nach § 106a SGG aufzufordern, die Unterlagen einzureichen. Die Amtsermittlungspflicht des Gerichts verringert sich, wenn die Partei ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen ist. Weigert sich ein Beteiligter, der aus einem bestimmten Sachverhalt für ihn günstige Rechtsfolgen herleitet, dem Gericht nähere Angaben zu machen, obwohl er es könnte und ihm dies nicht unzumutbar ist, verletzt das Gericht seine Amtsermittlungspflicht nicht, wenn es keine weiteren Ermittlungen mehr anstellt (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008, B 1 KN 3/08 KR R, Rn. 24, 25, juris). Der Kläger bliebe im vorliegenden Fall für die Voraussetzungen einer Hilfebedürftigkeit darlegungs- und beweisfällig.

19

Nach alledem konnte das Sozialgericht am 23. Juni 2009 bei Erlass der Betreibensaufforderung nicht annehmen, der Kläger sei offenbar an der weiteren Verfolgung seines Begehrens nicht mehr interessiert und sein Rechtsschutzinteresse deshalb vermutlich entfallen. Weiterhin hat der Kläger nach der Betreibensaufforderung des Sozialgerichts unter dem 28. August 2009 die Klage wenigstens im Ansatz näher begründet und eine Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung angeregt. Das Sozialgericht hätte dieses Vorgehen wenigstens als "Teilerfüllung" seiner Auflagen werten müssen, die es ausschloss, weiterhin anzunehmen, das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage sei entfallen (OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12. Juni 2001, Rn. 19, juris).

20

Die gesetzlich bestimmte Rücknahmefiktion war damit nicht eingetreten. Da das sozialgerichtliche Verfahren somit an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG leidet und das Sozialgericht wegen der zu Unrecht angenommenen Wirksamkeit der Klagerücknahme in der Sache nicht entschieden hat, hält der Senat eine Zurückverweisung für sachdienlich.

21

Eine Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten, da der Rechtsstreit S 11 AS 956/07 in erster Instanz noch nicht beendet ist.

22

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Senat weicht nicht von der ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung ab. Eine Entscheidung über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung hat der Senat nicht getroffen.


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.