Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Urteil, 13. Okt. 2015 - L 6 AS 432/14

ECLI:ECLI:DE:LSGRLP:2015:1013.L6AS432.14.0A
bei uns veröffentlicht am13.10.2015

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 16.07.2014 wird verworfen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides, mit dem die Bewilligung von Leistungen für den Zeitraum Oktober 2012 teilweise aufgehoben wurde und ob der diesbezügliche Rechtsstreit (Verfahren S 2 AS 72/13) vor dem Sozialgericht Koblenz (SG) durch Klagerücknahme beendet ist.

2

Mit an die Klägerin adressiertem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 17.12.2012 hob die Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Monat Oktober 2012 teilweise in Höhe von 90,76 Euro auf und forderte diesen Betrag von der Klägerin zurück. Der von der Klägerin erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 04.01.2013). Prozesskostenhilfe für die am 23.01.2013 erhobene Klage wurde mit Beschluss des SG vom 01.03.2013 abgelehnt. Die hiergegen erhobene Beschwerde blieb ohne Erfolg (Beschluss des 3. Senats des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13.1.2013 - L 3 AS 129/13 B). Die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem SG im Verfahren S 2 AS 72/13 vom 23.04.2014 hat folgenden Inhalt: „Die Vorsitzende eröffnet die mündliche Verhandlung und trägt den Sachverhalt vor. Das Sach- und Streitverhältnis wird erörtert. Die Beteiligten erhalten das Wort. Nach ausführlicher Erörterung des Sach- und Streitstandes erklärt die Klägerin, dass sie die Klage zurücknimmt. l.d.u.g.“. Die Niederschrift ist von der Vorsitzenden der 2. Kammer sowie der Justizbeschäftigten S als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle, die bei der mündlichen Verhandlung zugegen war, unterzeichnet.

3

Nachfolgend hat die Klägerin mit Schreiben vom 24.04.2014 ihren rechtlichen Standpunkt bekräftigt. Mit weiterem Schreiben vom 26.04.2014 widersprach sie der Mitteilung, dass das Verfahren durch Klagerücknahme beendet sei. Sie habe aufgrund ihrer Schwerhörigkeit nicht alles verstanden. Gleichwohl habe sie noch mit einem günstigen Urteil gerechnet. Sie sei von ihrem Recht überzeugt und hätte die Klage – bestärkt von ihrem Anwalt – nicht zurückgenommen. Sie sei sich sicher, dass sie nicht gefragt worden sei, ob sie die Klage zurücknehme.

4

Daraufhin wurde das Verfahren wieder aufgenommen und unter dem Aktenzeichen S 2 AS 340/14 geführt. Mit Urteil vom 16.07.2014 wies das SG die Klage ab. Im Termin vom 23.04.2014 sei eine wirksame Klagerücknahme erfolgt und damit der Rechtsstreit S 2 AS 72/13 in der Hauptsache erledigt. Die Klägerin habe nach erneuter Erörterung der Sach- und Rechtslage im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 23.04.2014 die Klagerücknahme erklärt. Ein Widerruf der Klagerücknahme sei im vorliegenden Fall nicht möglich, weil keine Restitutionsgründe im Sinne des § 179 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gegeben seien.

5

Die Klägerin hat gegen das ihr am 12.08.2014 zugestellte Urteil am 19.08.2014 Berufung eingelegt. In dem Verfahren vor dem Sozialgericht Koblenz seien Beweise nicht gewürdigt worden und ihr Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt worden. Bei Würdigung aller (neuen) Tatsachen hätte ein positives Urteil ergehen müssen.

6

Die Klägerin beantragt,

7

das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 16.07.2014 sowie den Bescheid vom 17.12.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.01.2013 aufzuheben.

8

Der Beklagte beantragt,

9

die Berufung zurückzuweisen

10

Zur Begründung bezieht er sich auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil.

11

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung.

Entscheidungsgründe

12

Die Berufung ist gemäß § 158 Satz 1 SGG zu verwerfen, da sie nicht statthaft ist.

13

Gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung bei einer Klage, die – wie hier ursprünglich – einen auf Geld- oder Sachleistungen gerichteten Verwaltungsakt betrifft, der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 Euro nicht übersteigt.

14

Vorliegend übersteigt der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 Euro nicht.

15

Das SG, das bereits die Frage des Wertes des Beschwerdegegenstandes näher zu prüfen hat (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 144 Rdnr. 14), ist ohne weiteres von der Zulässigkeit der Berufung entsprechend der erteilten Rechtsmittelbelehrung ausgegangen.

16

Nach Überprüfung ergibt sich ein Wert des Beschwerdegegenstandes von unter 750 Euro. Das Urteil, mit dem das SG die Erledigung des Rechtsstreits festgestellt hat, ist nach den allgemeinen Regeln rechtsmittelfähig (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 11. Aufl., § 102 Rdnr 12). Gegenstand des ursprünglichen Klageverfahrens S 2 AS 72/13 war die Aufhebung von Leistungen in Höhe von 90,76 Euro sowie die Erstattungsforderung in dieser Höhe. Damit ist die Berufungssumme nicht erreicht.

17

Die somit nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG erforderliche Zulassung der Berufung durch das Sozialgericht in dem Urteil vom 16.07.2014 ist nicht erfolgt. Vielmehr ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass die Berufung zulässig ist.

18

Nach Auffassung des Senats bestimmt sich bei Verfahren, die auf die Fortsetzung eines infolge einer Klagerücknahme nach § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG beendeten Verfahrens gerichtet sind, ebenso wie im Fall einer Wiederaufnahme- oder Restitutionsklage (vgl. Hannappel in Roos/Wahrendorf, SGG, § 179 Rdnr 76) oder einer Abweisung der Klage aus prozessualen Gründen (vgl. BSG, Urteil vom 17.03.1972 – 7 Rar 6/70 –, juris) der Wert des Beschwerdegegenstandes im Sinne des § 144 Abs. 1 SGG nach dem Streitgegenstand des ursprünglichen Klageverfahrens (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 01.12.2010 – L 7 AS 524/09 –; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 07.08.2012 – L 11 AL 170/09 –, alle juris, jeweils zur Klagerücknahmefiktion; a.A. LSG Sachsen–Anhalt, Urteil vom 30.08.2012 – L 2 AS 132/12 –; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21.08.2012 – L 3 AS 133/12; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.04.2013 – L 5 KR 605/12 –, alle juris, jeweils zur Klagerücknahmefiktion).

19

Gegenstand des fortgesetzten Verfahrens ist - entgegen der Auffassung, die eine Zulässigkeit der Berufung in diesen Fällen annimmt - nicht ausschließlich die Frage, ob das Klageverfahren beendet ist. Wie beim Streit über die Wirksamkeit des Vergleichs oder des Anerkenntnisses (§ 101 SGG) wird das Verfahren über die Wirksamkeit einer Klagerücknahme vor dem Gericht fortgesetzt, das die Rücknahme angenommen hat (vgl. Leitherer, a.a.O., Rn 12; BeckOK SozR/Hintz SGG § 102 Rn 3). Die Rechtshängigkeit des ursprünglichen Verfahrens lebt rückwirkend wieder auf (vgl. BSG, Urteil vom 26.07.1989 – B 11 RAr 31/88 – zur Berufungsrücknahme; Urteil vom 28.11.2002 – B 7 AL 26/02 R –, zum Vergleich; BAG, Urteil vom 24.04.2014 – 8 AZR 429/12 – zum Vergleich, alle juris). Dafür, dass der Streitgegenstand des fortgesetzten Verfahrens das ursprünglich mit der Klage verfolgte Begehren ist, spricht zudem entscheidend, dass es andernfalls von der jeweiligen Entscheidung des Gerichts abhängig wäre, ob die Berufung zulässig ist oder nicht. Das Gericht – hier das SG - entscheidet entweder dahin, dass die Beendigung des Rechtsstreits durch die Klagerücknahme durch Endurteil festgestellt wird oder, wenn die Klagerücknahme verneint oder für unwirksam gehalten wird, in der Sache (vgl. Leitherer, a.a.O. Rn 12), gegebenenfalls erst durch nicht anfechtbares (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 130 Rn 11) Zwischenurteil. Der Streit um die Fortsetzung des gemäß § 102 Abs. 2 SGG beendeten Verfahrens stellt daher lediglich einen Zwischenstreit dar (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 01.12.2010, a.a.O.), der nicht den Streitgegenstand bestimmt.

20

Die Berufungsbeschränkung stellt auch im Falle der Entscheidung über die Wirksamkeit einer Klagerücknahme keine unzulässige Einschränkung des Rechtsschutzes dar. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) garantiert die Kontrolle durch ein unabhängiges Gericht, aber keinen Instanzenzug (vgl. BVerfGE 92, 365, 104, 220). Im Hinblick darauf, dass dem Gerichtsverfahren bereits eine Überprüfung im Rahmen eines Vorverfahrens vorangegangen ist und die Einlegung einer Nichtzulassungsbeschwerde möglich ist, ist die Differenzierung nach der geringeren Bedeutung auch im Fall der Klagerücknahme wegen Art. 19 Abs. 4 GG nicht ausgeschlossen. Eine auf § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG gestützte Nichtzulassungsbeschwerde könnte mit einem Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht, unter Umständen mit Mängeln bei der Beweiswürdigung oder einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in verschiedener Ausprägung begründet werden (vgl. Leitherer, a.a.O., § 144 Rdnr. 34 f.)

21

Die Berufung ist auch nicht deshalb statthaft, weil das Urteil des SG vom 16.07.2014 insoweit eine unzutreffende Rechtsmittelbelehrung enthält. Eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung kann nicht zur Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs führen, der nach der Rechtsordnung nicht vorgesehen ist. Eine Umdeutung in das statthafte Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde kann nicht veranlasst werden (vgl. Sächsisches LSG, a.a.O. unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 20.05.2003 – B 1 KR 25/01 –, juris; Leitherer, a.a.O., § 144 Rdnr. 45).

22

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

23

Revisionszulassungsgründe gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

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(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache. (2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länge

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Ist die Berufung nicht statthaft oder nicht in der gesetzlichen Frist oder nicht schriftlich oder nicht in elektronischer Form oder nicht zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt, so ist sie als unzulässig zu verwerfen. Die Entscheidung kann durch Beschluß ergehen. Gegen den Beschluß steht den Beteiligten das Rechtsmittel zu, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Die Beteiligten sind über dieses Rechtsmittel zu belehren.

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 17. Januar 2012 wird aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass das erstinstanzliche Klageverfahren nicht durch eine fiktive Klagerücknahme erledigt und das Verfahren beim Sozialgericht Halle fortzuführen ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht bei Verfahrensabschluss vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Kläger wenden sich gegen die Feststellung, dass von ihnen beim Sozialgericht Halle (SG) betriebene Klageverfahren sei beendet, weil die Klage nach § 102 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als zurückgenommen gelte.

2

Die anwaltlich vertretenen Kläger haben am 14. Juli 2010 Klage beim SG erhoben (Aktenzeichen: S 3 AS 4019/10) und als Klagegegenstand angegeben: "Endgültige Festsetzung des Leistungsanspruches nach SGB II; Leistungszeitraum 07 bis 12/2006". Als Antrag haben sie angekündigt: "1. den Bescheid vom 24.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.06.2010, zugegangen am 17.06.2010, aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Klägern Leistungen nach SGB II in gesetzlicher Höhe zu zahlen." Unter der Überschrift "Begründung" waren die in Kopie der Klageschrift beigefügten Bescheide aufgeführt und es wurde ausgeführt, die Begründung bleibe einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 20. August 2010 den Antrag angekündigt, die Klage abzuweisen und ausgeführt, neue rechtserhebliche Gesichtspunkte seien nicht vorgetragen worden.

3

Mit Schreiben vom 5. Oktober 2010 hat der Kammervorsitzende beim SG die Prozessbevollmächtigte der Kläger an die Übersendung einer Klagebegründung erinnert. In einem weiteren gerichtlichen Schreiben vom 25. Januar 2011 an die Prozessbevollmächtigte der Kläger hat der Kammervorsitzende dann ausgeführt: " ... habe Sie trotz mehrfacher Aufforderung bzw. Erinnerungen bis heute die Klage nicht begründet. Dies lässt den Schluss zu, dass an der Fortführung des Rechtsstreits kein Interesse besteht. Ferner führt dieses Nichtbetreiben des Verfahrens nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.03.2008, BGBl. I Seite 444, dazu, dass die Klage als zurückgenommen gilt. Sollte innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Zustellung dieser Aufforderung keine weitere Äußerung von Ihnen hier eingehen, wird das Verfahren daher abgeschlossen. Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass ein Antrag auf Fristverlängerung nicht als Betreiben des Verfahrens gilt." Am Ende des Schreibens befindet sich unter der Grußformel die Unterschriftszeile "gez. I. - Richter am Sozialgericht". Ausweislich des zur Akte gelangten Empfangsbekenntnisses ist dieses Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Kläger am 20. Februar 2011 zugegangen.

4

Mit einem am 22. März 2011 beim SG eingegangenen Schreiben hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger mitgeteilt: Ein weiterer bisher neben ihr in der Kanzlei tätiger Rechtsanwalt, der fast ausschließlich die sozialrechtlichen Angelegenheiten bearbeitet habe, sei ausgeschieden. Sie müsse nun mit erheblichem zeitlichem Aufwand diese Mandate bearbeiten. Unter Beachtung dieser Situation bitte Sie, die gesetzte Frist bis zum 31. Mai 2011 zu verlängern. Mit Schreiben vom 30. Mai 2011 hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger dann den Antrag gestellt, die Frist noch einmal bis zum 30. Juni 2011 zu verlängern: Es habe sich die Notwendigkeit herausgestellt, mit den Klägern zu sprechen. Dies sei wegen totaler Arbeitsüberlastung noch nicht möglich gewesen.

5

Mit einer Verfügung vom 8. Juni 2011 hat der Kammervorsitzende beim SG dann die Erledigung des Verfahrens durch Rücknahme festgestellt und dies den Beteiligten mit Schreiben vom 21. Juni 2011 mitteilen lassen. Hiergegen hat sich für die Kläger deren Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 5. Juli 2011 gewandt und ausgeführt: Sie habe nach der Betreibensaufforderung unter Hinweis auf die besondere Situation ihrer Kanzlei und die extreme Arbeitsbelastung um Verlängerung der Frist für die Begründung der Klage gebeten. Ein Rechtsverlust für die Kläger, wie er bei fingierter Rücknahme eintreten würde, sei hier unverhältnismäßig.

6

Das SG hat daraufhin das Verfahren unter neuen Aktenzeichen (S 3 AS 3771/11 WA) wiederaufgenommen und nach mündlicher Verhandlung mit Urteil vom 17. Januar 2012 festgestellt, der Rechtsstreit sei durch Klagerücknahme am 21. Mai 2011 beendet worden. In den Gründen hat das SG ausgeführt, die nach der Betreibensaufforderung durch das Gericht in der Dreimonatsfrist erfolgten Verlängerungsanträge hätten kein Betreiben des Rechtsstreits dargestellt.

7

Gegen das ihr am 10. März 2012 zugestellte Urteil hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger am 22. März 2012 Berufung eingelegt und vorgetragen: Seitens des erstinstanzlichen Gerichts sei keine konkrete Aufforderung, z. B. bestimmte Unterlagen beizubringen, erfolgt. Es sei auch von ihr nach der Betreibensaufforderung dargelegt worden, dass ein Interesse der Kläger an der Fortführung des Verfahrens bestehe. Das SG habe den Ausnahmecharakter der Regelung in § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG verkannt.

8

Die Kläger beantragen sinngemäß,

9

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 17. Januar 2012 aufzuheben und festzustellen, dass das Klageverfahren nicht infolge einer nach § 102 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz anzunehmenden Klagerücknahme beendet ist.

10

Der Beklagte hat sich in diesem Verfahren nicht inhaltlich geäußert.

11

Die Beteiligten haben sich jeweils mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

12

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

13

Der Senat konnte nach den §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Die Berufung der Kläger hat Erfolg.

14

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig. Insbesondere ist sie auch nach § 143 SGG statthaft. Die Berufung betrifft nicht eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt. Auch wenn das Begehren der Kläger letztlich auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) gerichtet ist, ist Gegenstand dieses Verfahrens ausschließlich die Frage, ob das Klageverfahren beendet ist. Deshalb greift die mögliche Beschränkung der Zulässigkeit nach § 144 Abs. 1 SGG nicht ein.

15

Die Berufung ist begründet, denn anders als vom SG angenommen, liegen die Voraussetzungen für die Fiktion einer Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht vor. Nach dieser mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I 444) mit Wirkung vom 1. April 2008 in das SGG eingefügten Norm gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz einer Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Greift die Rücknahmefiktion ein, ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt (§ 102 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 SGG).

16

Voraussetzung für die Rücknahmefiktion ist zunächst eine Betreibensaufforderung durch das Gericht. Zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung muss - als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal - nach dem prozessualen Verhalten des klagenden Beteiligten hinreichend Anlass bestehen, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen. Denn bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Unterfall des Wegfalls des Rechtsinteresses (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 1. Juli 2010, B 13 R 58/09 R, zitiert nach juris, Rdnr. 15 und 46 mit weiteren Hinweisen).

17

Der Senat geht mit dem SG davon aus, dass zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses für die Klage auszugehen. Denn ausreichend sind hinreichend konkrete, auf sachlich begründeten Anhaltspunkten beruhende Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzbedürfnisses. Diese können sich aus dem fallbezogenen Verhalten der Kläger, aber auch aus der Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten ergeben (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 30. August 2011, L 9 AS 61/10, zitiert nach juris, Rdnr. 28f.). Ein sicherer, über begründete Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses hinausgehender Schluss ist nicht erforderlich (vgl. Beschluss des Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) vom 7. Juli 2005, 10 BN 1/05, zur vergleichbaren Regelung in § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), zitiert nach juris, Rdnr. 4). Aus der Klageschrift, mit der die Klage am 14. Juli 2010 erhoben wurde, ging zwar hervor, dass Klagegegenstand wohl der Anspruch auf (höhere) Leistungen nach dem SGB II sein sollte. In welchem Umfang und mit welcher Begründung höhere Leistungen begehrt wurden, war aber nicht erkennbar. Insofern wurde nicht deutlich, welche Interessen genau mit der Klage verfolgt werden sollten. Trotz der Aufforderung zur Klagebegründung Anfang Oktober 2010 war dann bis zu der mit Schreiben von 25. Januar 2011 ergangenen Betreibensaufforderung keine Reaktion der Prozessbevollmächtigen des Klägers erfolgt. Dies war geeignet, ein mangelndes Interesse der Kläger an der Fortführung des Klageverfahrens zu indizieren.

18

Letztlich kann aber hier offen bleiben, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die mit einer wirksamen Fristsetzung (zu den Formerfordernissen siehe das oben zitierte Urteil des BSG vom 1. Juli 2010, Rdnr. 48f.) verbundene Betreibensaufforderung vorlagen. Denn innerhalb der ab Zugang der Betreibensaufforderung bei der Prozessbevollmächtigen der Kläger am 20. Februar 2011 in Gang gesetzten Dreimonatsfrist haben die Kläger das Verfahren betrieben, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht erfüllt werden konnten.

19

Das SGG enthält keine Definition des Begriffs des Betreibens. Von der Wortbedeutung und dem Zusammenhang her liegt es nahe, unter einem Betreiben ein aktives Handeln zu verstehen, dass grundsätzlich geeignet ist, das Verfahren im Sinn auf eine Entscheidungsreife hin zu fördern. Allerdings muss die Auslegung des Begriffs auch dem besonderen Ausnahmecharakter der Rücknahmefiktion gerecht werden, die bei ihrer Auslegung und Anwendung zu beachten ist (siehe dazu das oben zitierte Urteil des BSG vom 1. Juli 2010, Rdnr. 42 mit weiteren Nachweisen). Die Betreibensaufforderung hat den Sinn, die Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses innerhalb der gesetzten Frist zu klären. Ein Betreiben innerhalb der durch die Betreibensaufforderung in Gang gesetzten Frist liegt deshalb auch dann vor, wenn substantiiert dargetan wird, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (vgl. Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19. Mai 1993, 2 BvR 1972/92, zur Auslegung des Begriffs des Betreibens in der vergleichbaren Regelung in § 33 Asylverfahrensgesetzes (AsylVfg) a. F., zitiert nach juris, Rdnr. 14 u. 16). Dies wurde auch vom Gesetzgeber bei der Schaffung des § 102 SGG so gesehen. In der Begründung des Gesetzesentwurfs wird ausgeführt, ein Nichtbetreiben im Sinne des Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift liege dann vor, wenn sich der Kläger auf die Aufforderung des Gerichts nicht oder nur unzureichend innerhalb der drei Monate äußere, sodass nicht oder nur unzureichend dargelegt sei, dass das Rechtsschutzinteresse ungeachtet der vorliegenden Indizien fortbesteht (BT-DRs. 16/7716, S. 19 zu Nummer 17 (§ 102)). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es im Sinne der Vorschrift für ein Betreiben ausreicht, mit hinreichender Deutlichkeit darzulegen, dass ein Rechtsschutzinteresse trotz der zur Betreibensaufforderung führenden Umstände weiter besteht. Vor diesem Hintergrund werden für ein Betreiben ein unbegründeter Fristverlängerungsantrag oder die einfache Mitteilung, das Verfahren solle fortgeführt werden, nicht ausreichen. Ausreichend ist aber die Darlegung, warum aus den für die Betreibensaufforderung maßgeblichen Umständen im konkreten Fall nicht auf ein fehlendes Interesse an der Fortführung des Rechtsstreits geschlossen werden kann. Welche Anforderungen dabei an die Substantiierung der Darlegung zu stellen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.

20

Im konkreten Fall liegt jedenfalls eine ausreichend substantiierte Darlegung im oben bezeichneten Sinne vor. Aus dem am 22. März 2011 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Kläger ergab sich eindeutig, dass ein Interesse der Kläger an der Fortführung des Verfahrens weiter bestand und eine inhaltliche Berufungsbegründung bisher nur aufgrund der hohen Arbeitsbelastung der Prozessbevollmächtigten der Kläger unterblieben war. Die hohe Arbeitsbelastung wurde nachvollziehbar mit der besonderen Situation der Kanzlei nach dem Ausscheiden des bisher die sozialrechtlichen Mandate betreuenden Rechtsanwalts begründet. Der Eingang dieses Schreibens lag auch innerhalb der am 20. Februar 2011 in Gang gesetzten Dreimonatsfrist.

21

Die Kostenentscheidung bleibt der erstinstanzlichen Entscheidung vorbehalten.

22

Gesetzliche Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.


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Tenor

1. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 06.02.2012 wird aufgehoben.

2. Es wird festgestellt, dass das Verfahren S 14 AS 1884/11 vor dem Sozialgericht Speyer fortzuführen ist.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob das Verfahren in der ersten Instanz durch Klagerücknahmefiktion nach § 102 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erledigt ist.

2

Mit Bescheid vom 03.11.2010 hob der Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom 01.03.2009 bis 20.04.2009 teilweise in Höhe von 452,80 EUR auf und forderte diese von der Klägerin zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, sie habe während des genannten Zeitraums Einkommen aus einer Beschäftigung in einem Café erzielt und sei daher nicht in bisher festgestellter Höhe hilfebedürftig i. S. d. § 9 SGB II.

3

Der Beklagte stützte sich insoweit auf eine Meldebescheinigung zur Sozialversicherung vom 27.04.2009 des Arbeitgebers J K , wonach die Klägerin vom 11.03. bis 30.04.2009 bei ihm beschäftigt gewesen sei und dafür 699,00 EUR erhalten habe, sowie auf eine weitere Auskunft von diesem, nach der die Klägerin im Café V gearbeitet und dafür im März 300,00 EUR und im April 399,00 EUR bekommen habe.

4

Die Klägerin erhob dagegen Widerspruch. Bei einer persönlichen Vorsprache am 08.11.2010 gab sie gegenüber dem Beklagten an, sie habe nur im März 2009 in dem Café gearbeitet; im April nicht mehr. Im März habe sie ca 200,00 EUR bekommen, die ihr bar abends nach der Schicht ausgezahlt worden seien. Ab dem 20.04.2009 habe sie in Vollzeit eine Meisterschule besucht und in dem Café nicht mehr arbeiten können.

5

Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 11.11.2010 mit der Begründung zurückgewiesen, die Beschäftigung der Klägerin sei durch einen Datenabgleich mit dem Rentenversicherungsträger bekannt geworden. Der Beklagte habe das von der Firma gemeldete Arbeitsentgelt zugrunde gelegt.

6

Am 27.12.2010 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Speyer erhoben und nochmals darauf hingewiesen, dass sie im April 2009 nicht mehr gearbeitet habe. Durch gerichtliches Schreiben vom 22.02.2011 ist die Klägerin aufgefordert worden, bis zum 30.03.2011 zu belegen, dass sie im Monat April 2010 kein Arbeitsentgelt bezogen habe. Mit Schreiben vom 13.04.2011 ist sie nochmals daran erinnert worden. Mit Schreiben vom 17.05.2011 hat die Vorsitzende der 14. Kammer des Sozialgerichts Speyer letztmals aufgefordert, auf das Schreiben zu antworten. Die Klage gelte gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen, wenn das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betrieben werde. Dieses Schreiben ist der Klägerin am 19.05.2011 zugestellt worden.

7

Am 01.09.2011 hat die Vorsitzende eine Verfügung unterzeichnet, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme am 22.08.2011 erledigt sei. Mit gerichtlichem Schreiben vom 01.09.2011 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden.

8

Am 28.09.2011 hat die Klägerin gegen den "Beschluss des Sozialgerichts Speyer vom 01.09.2011" Beschwerde eingelegt. Zur Begründung ist vorgetragen worden, die Klagerücknahmefiktion könne nicht greifen, nachdem die Auflage des Gerichtes, den Kontoauszug für April vorzulegen, am 17.03.2011 erfüllt worden sei. Der erkennende Senat des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz hat die Beschwerde durch Beschluss vom 10.11.2011 wegen Fehlens einer beschwerdefähigen Entscheidung des Sozialgerichts als unzulässig verworfen.

9

Mit Schreiben vom 21.12.2011 hat die Klägerin beim Sozialgericht Speyer den Antrag gestellt, das Verfahren fortzuführen.

10

Nach Anhörung zur geplanten Entscheidung durch Gerichtsbescheid hat das Sozialgericht Speyer durch Gerichtsbescheid am 06.02.2012 festgestellt, dass die Klage zurückgenommen worden ist. Die am 27.12.2010 erhobene Klage habe sich durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG erledigt. Danach gelte die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibe. Ein Nichtbetreiben liege vor, wenn sich der Kläger auf die Aufforderung innerhalb von 3 Monaten nicht oder nur unzureichend geäußert habe. Vorliegend sei die Klägerin aufgefordert gewesen zu belegen, dass sie im April 2010 kein Arbeitsentgelt bezogen habe. Entgegen der Behauptung des Prozessbevollmächtigten sei der Kontoauszug für April 2010 nicht eingegangen. Das Hinweisschreiben gemäß § 102 Abs. 2 SGG sei dem Prozessbevollmächtigten am 19.05.2011 zugestellt worden, sodass die Klagerücknahmefiktion mit Ablauf des 19.08.2011 eingetreten sei.

11

Gegen den ihr am 14.02.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 10.03.2012 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, das Verfahren hätte fortgeführt werden müssen.

12

Mit Schreiben vom 01.06.2012 ist der Prozessbevollmächtigte darauf hingewiesen worden, dass Zweifel an der Zulässigkeit der Berufung bestünden, da es in der Sache um einen Verwaltungsakt gehe, durch den Leistungen in Höhe von 452,80 EUR aufgehoben wurden. Es ist Gelegenheit gegeben worden, bis zum 01.07.2012 dazu Stellung zu nehmen sowie die Tatsache zu belegen, dass der erbetene Kontoauszug dem Sozialgericht vorgelegt worden sei. Am 06.06.2012 ist unter Bezugnahme auf den Hinweis der Antrag gestellt worden, die Berufung zuzulassen. Die Nichtzulassungsbeschwerde wird unter dem Aktenzeichen L 3 AS 278/12 NZB geführt.

13

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

14

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 06.02.2012 aufzuheben und festzustellen, dass das Verfahren S 14 AS 1884/11 vor dem Sozialgericht Speyer fortzuführen ist.

15

Der Beklagte beantragt,

16

die Berufung zurückzuweisen.

17

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

18

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der vorliegenden Prozessakte verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

19

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

20

Die Regelung § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG steht der Zulässigkeit der Berufung nicht entgegen. Danach bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Hier betrifft die von der Klägerin im Verfahren vor dem Sozialgericht verfolgte Klage zwar einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt im Sinne dieser Vorschrift, nämlich den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 03.11.2012. Streitgegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist aber nicht dieser Bescheid, sondern die Frage, ob das Sozialgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass die gegen diesen Bescheid erhobene Klage durch die Rücknahmefiktion nach § 102 SGG erledigt ist. Nur über diese Frage hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Gerichtsbescheid entschieden.

21

In einem solchen Fall greift § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht. Soweit das Bundessozialgericht (BSG) für den Fall der Untätigkeitsklage entschieden hat, dass auch diese im Sinne von § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG auf den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtet ist (Beschluss vom 06.10.2011, B 9 SB 45/11 B, in juris), lassen sich diese Ausführungen nicht auf den vorliegenden Fall übertragen. Das BSG hat insoweit auf den Sinn und Zweck der Regelung verwiesen, wonach die Berufungsgerichte von vermögensrechtlichen Streitsachen von geringem Wert (sogenannten Bagatellfällen) entlastet werden sollen. Die gewählte Klageart sei für die Anwendung der Vorschrift bedeutungslos, entscheidend sei, dass die Berufung einen Rechtsstreit von geringem Wert betreffe.

22

Im vorliegenden Berufungsverfahren wird aber gerade nicht über einen vermögensrechtlichen Streit entschieden, sondern über die Vorfrage, ob das diesbezüglich angestrengte Klageverfahren durch Rücknahme erledigt ist. In dem anhängigen Verfahren stehen also Verfahrensrechte im Streit, die eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand erst eröffnen. Da damit der Schutzbereich des Grundrechtes auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes berührt ist, ist eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG über seinen Wortlaut hinaus auf Fälle der vorliegenden Art nicht gerechtfertigt. Dass eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand, also über die Rechtmäßigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides selbst, nicht mit der Berufung anfechtbar wäre, stellt im Hinblick auf die Bedeutung des Rechtes auf Gewährung gerichtliche Rechtsschutzes keinen Widerspruch dazu dar.

23

Die Berufung ist auch begründet. Die Klage gilt nicht gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen. Deshalb ist das Klageverfahren noch anhängig und daher vom Sozialgericht Speyer fortzuführen. Das Sozialgericht wird in diesem Verfahren auch zu prüfen haben, ob die Klage zulässig, insbesondere fristgemäß erhoben ist.

24

Nach § 102 Abs. 2 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt; in der Aufforderung ist der Kläger auf die sich ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Unter Beachtung der Rechtsprechung zur entsprechenden Regelung in § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bzw. § 81 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) kommt eine Rücknahmefiktion nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, in denen sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Klägers vorliegen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 19.05.1993, 2 BvR 1972/92 in NVwZ 94, 62).

25

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt nach der Rechtsprechung des BSG Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht. Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift muss diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (Urteil vom 01.07.2010, B 13 R 58/09 R). Ob diese Voraussetzungen hier erfüllt sind, ist den Akten nicht mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen. Das Schreiben vom 22.02.2011, durch das die Klägerin aufgefordert worden ist zu belegen, dass sie kein Arbeitentgelt bezogen hat, ist in dem in der Akte befindlichen Original lediglich mit einer Namensparaphe und nicht mit einer vollen Unterschrift versehen. Das erste Erinnerungsschreiben vom 13.04.2011 ist nicht von der Vorsitzenden, sondern mit dem Vermerk "Auf Anordnung" von einer Justizbeschäftigten unterschrieben. Das Schreiben vom 17.05.2011, in dem die Klägerin erstmals auf die Folgen des Nichtbefolgens dieser Aufforderung hingewiesen worden ist, weist in der Gerichtsakte wiederum nur eine Paraphe der Vorsitzenden auf.

26

Nähere Ermittlungen dazu, ob das versandte Schreiben die Originalunterschrift enthält, sind aber nicht erforderlich. Abgesehen von diesen formellen Voraussetzungen ist die Aufforderung auch ihrem Inhalt nach nicht geeignet, die Folgen des § 102 Abs. 2 SGG auszulösen.

27

Die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG muss klar und konkret sein und dem Kläger deutlich machen, was von ihm erwartet wird. Daran fehlt es hier. Die Klägerin ist aufgefordert worden zu belegen, dass sie im Monat April 2010 kein Arbeitsentgelt erhalten hat. Unabhängig davon, dass hier wohl der April 2009 gemeint war, ist diese Aufforderung schon deshalb unklar, weil die Klägerin zum Beleg einer negativen Tatsache aufgefordert worden ist, ohne dass näher angeführt wird, welche Beweismittel das Gericht als ausreichend ansehen würde. Die Klägerin konnte der Aufforderung damit gerade nicht entnehmen, was genau von ihr verlangt wird. Sie hatte im Widerspruchsverfahren bereits vorgetragen, dass sie nur im März gearbeitet hat und dafür in bar entlohnt worden ist. Wie sie bei dieser Sachlage belegen sollte, im April nichts erhalten zu haben, erschließt sich nicht unmittelbar. Dass die Klägerin der Aufforderung nicht nachgekommen ist, lässt von daher keine Zweifel am Rechtsschutzinteresse aufkommen, was aber Voraussetzung für den Eintritt der Rücknahmefiktion ist.

28

Insoweit ist auch in den Blick zu nehmen, dass im sozialgerichtlichen Verfahren der Grundsatz der Amtsermittlung nach § 103 SGG gilt. Die Klägerin hatte, wie oben dargelegt, bereits im Widerspruchsverfahren nähere Ausführungen zu ihrer Behauptung gemacht, im April 2009 kein Einkommen mehr gehabt zu haben. Dem sich daraus ergebenden Widerspruch zu den Angaben des Arbeitsgebers hätte das Sozialgericht näher nachgehen können, zB. durch Einholung einer weiteren Auskunft beim Arbeitgeber oder auch durch konkrete Fragen bei der Klägerin. Dass diese auf die unbestimmte und pauschale Aufforderung, die nicht erfolgte Zahlung zu belegen, nicht reagiert hat, lässt bei dieser Sachlage jedenfalls nicht darauf schließen, dass sie an der Durchführung des Verfahrens kein Interesse mehr hatte. Die Aufforderung war damit auch nicht geeignet, die Folgen des § 102 Abs.2 SGG auszulösen.

29

Die Kostentscheidung folgt aus § 193 SGG.

30

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 3.2.2012 wird aufgehoben. Das Klageverfahren des Klägers S 13 KR 1110/11 ist fortzuführen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen die gerichtliche Feststellung der Klagerücknahme (Rücknahmefiktion).
Der (1957 geborene) Kläger, Mitglied der Beklagten, begehrt in der Sache die Gewährung eines den einschlägigen Festbetrag übersteigenden (mehrkostenpflichtigen) Hörgeräts. Nach erfolglosem Verwaltungsverfahren (Ablehnungsbescheid vom 11.11.2009, Widerspruchsbescheid vom 4.11.2010) erhob er am 5.11.2010 Klage beim Sozialgericht Ulm (Verfahren S 13 KR 1110/11); außerdem beantragte er Prozesskostenhilfe. In der (per Fax) übersandten Klageschrift führte er aus, die Begründung erfolge nach Akteneinsicht.
Das Sozialgericht gab die Klageschrift zunächst an die Beklagte zurück, weil der Kläger die Klageschrift in deren Betreff als „Widerspruch“ bezeichnet hatte. Mit Schreiben vom 1.2.2011 sandte die Beklagte die Klageschrift an das Sozialgericht zurück; diese sei als Klage und nicht als Widerspruch zu werten.
Mit Verfügung vom 4.5.2011 bat das Sozialgericht den Kläger um Mitteilung binnen dreier Wochen, ob er sich ein Hörgerät angeschafft habe; ggf. möge er die Rechnung vorlegen. Dem Schreiben war offenbar das Formular zur Entbindung der Ärzte von der Schweigepflicht (Schweigepflichtentbindungserklärung) beigefügt. Mit Verfügung vom 21.7.2011 erinnerte das Sozialgericht den Kläger an die Beantwortung der Anfrage vom 4.5.2011. Hierfür wurde eine Frist bis 15.8.2011 gesetzt. Am 22.7.2011 teilte der Kläger dem Sozialgericht telefonisch mit, ihm liege das Schreiben des Gerichts vom 4.5.2011 nicht vor. Mit Verfügung vom 2.8.2011 übersandte das Sozialgericht dem Kläger eine Mehrfertigung der Verfügung vom 4.5.2011 und bat um Stellungnahme bis 15.8.2011.
Am 1.9.2011 ging beim Sozialgericht ein Fax des Klägers ein. Dieses enthält eine unvollständige Kopie der Schweigepflichtentbindungserklärung. Angegeben ist ein Arzt (Dr. M.); die Unterschrift des Klägers fehlt.
Mit Verfügung vom 2.9.2011 teilte das Sozialgericht dem Kläger mit, er habe die Schweigepflichtentbindungserklärung nur unvollständig übersandt, insbesondere ohne Unterschrift. Damit habe er keine rechtsgültige Erklärung abgegeben. Es werde gebeten, dies binnen drei Monaten nach Erhalt dieses Schreibens nachzuholen. Außerdem fehle die Antwort auf die Anfrage vom 4.5.2011 und ggf. Übersendung der Rechnung. Ohne diese Angaben und Nachweise könne der Rechtsstreit nicht entschieden werden. Der Verfügung ist abschließend folgender Hinweis beigefügt: Wenn Sie sich innerhalb der Frist nicht äußern und meine Fragen vollständig beantworten und die Entbindungserklärung sowie ggf. die Rechnung in Kopie übersenden, gehe ich davon aus, dass Sie kein Interesse an der Fortführung des Rechtsstreits haben und die Klage damit gemäß § 102 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als zurückgenommen gilt. Die Verfügung ist von der zuständigen Richterin handschriftlich verfasst und mit deren (vollständigen) Nachnamen unterschrieben. Die Verfügung wurde dem Kläger mit Postzustellungsurkunde am 3.9.2011 zugestellt.
Mit Beschluss vom 12.12.2011 lehnte das Sozialgericht den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers ab. Zur Begründung führte es aus, das Klageverfahren sei bereits durch fiktive Klagerücknahme beendet. Nach Abschluss des Verfahrens könne Prozesskostenhilfe grundsätzlich nicht mehr bewilligt werden. Das Gericht habe die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag nicht verzögert. Entscheidungsreife sei mangels Glaubhaftmachung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers nicht eingetreten.
Mit Verfügung vom 13.12.2011 wurde dem Kläger der im Prozesskostenhilfeverfahren ergangene Beschluss vom 12.12.2011 übersandt. In der Verfügung ist außerdem ausgeführt: Nachdem Sie der Aufforderung vom 2.9.2011, das Verfahren binnen drei Monaten weiterzubetreiben, nicht gefolgt sind, gilt die Klage gemäß § 102 SGG als zurückgenommen. Damit ist der Rechtsstreit erledigt. Die Verfügung trägt den Vermerk „auf richterliche Anordnung“ und den Namen des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle. Dieser hat die Verfügung auch mit seiner Paraphe abgezeichnet. Eine der Verfügung vom 13.12.2011 zu Grunde liegende richterliche Verfügung ist in der Gerichtsakte nicht vorhanden.
Mit am 15.12.2011 beim Sozialgericht eingegangenem (Fax-)Schreiben suchte der Kläger erneut um Rechtsschutz nach (Verfahren S 13 KR 4255/11). In dem unter Angabe des Aktenzeichens S 13 KR 1110/11 an das „SG Ulm“ adressierten Schreiben heißt es, es werde Beschwerde und Widerspruch eingelegt. Die Begründung erfolge nach Akteneinsicht. Außerdem werde Prozesskostenhilfe beantragt.
10 
Mit Verfügung vom 10.1.2012 teilte das Sozialgericht dem Kläger mit, das Schreiben vom 15.12.2011 werde als Antrag auf Fortsetzung des Klageverfahrens S 13 KR 1110/11 angesehen. Gründe für eine Fortsetzung des Verfahrens seien jedoch weder ersichtlich noch geltend gemacht. Es sei beabsichtigt, ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 SGG zu entscheiden. Es bestehe Gelegenheit zur Stellungnahme bis 31.1.2012.
11 
Mit Gerichtsbescheid vom 3.12.2012 stellte das Sozialgericht fest, dass der Rechtsstreit S 13 KR 1110/11 in der Hauptsache durch Rücknahme der Klage erledigt ist. Zur Begründung führte es aus, der Rechtsstreit S 13 KR 1110/11 sei durch Rücknahme der Klage erledigt, weshalb eine Sachentscheidung über das Begehren des Klägers, das dieser immer noch nicht konkretisiert habe, nicht mehr getroffen werden könne. Gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG gelte die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibe. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien erfüllt. Der Kläger sei aufgefordert worden, das Verfahren zu betreiben. Ihm sei mit der ihm am 3.9.2011 zugestellten Verfügung aufgegeben worden, die Schweigepflichtentbindungserklärung vollständig und unterzeichnet vorzulegen, und zu erklären, ob er ein Hörgerät angeschafft habe; ggf. solle er die Rechnung vorlegen. Er sei auch auf die Rechtsfolgen des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG (Rücknahmefiktion) hingewiesen worden. Der Kläger habe sich innerhalb der Dreimonatsfrist nicht geäußert, weshalb von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen sei (BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 -). Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestünden, da der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten verletzt habe, indem er weder eine Schweigepflichtentbindungserklärung vorgelegt noch sich auf die gerichtliche Anfrage vom 4.5.2011 geäußert oder die Klage begründet habe.
12 
Mit Beschluss (ebenfalls) vom 3.2.2012 lehnte das Sozialgericht (auch) den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers ab. Zur Begründung wiederholte es die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheids vom gleichen Tag.
13 
Auf den ihm am 7.2.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger mit (Fax-)Schreiben vom 8.2.2012 Berufung (als „Widerspruch“ bezeichnet) eingelegt. Das Berufungsschreiben, in dem das Aktenzeichen S 13 KR 4255/11 angegeben ist, ist beim Sozialgericht am 8.2.2012 eingegangen.
14 
Am 6.3.2012 ging beim Sozialgericht (erneut) eine unvollständige Kopie der Schweigepflichtentbindungserklärung des Klägers ein.
15 
Mit Beschluss vom 28.6.2012 ist dem Kläger für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt K., O. (zu den Bedingungen eines im Bezirk des Landessozialgerichts ansässigen Rechtsanwalts) gewährt worden. Der Kläger hat trotz mehrfacher Nachfrage bislang nicht mitgeteilt, ob er Rechtsanwalt K. mit der Prozessvertretung beauftragt hat. Auch eine Berufungsbegründung ist nicht vorgelegt worden.
16 
Der Kläger beantragt,
17 
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 3.2.2012 aufzuheben und das Klageverfahren S 13 KR 1110/11 fortzusetzen.
18 
Die Beklagte beantragt,
19 
die Berufung zurückzuweisen.
20 
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und das Klageverfahren S 13 KR 1110/11 für beendet.
21 
Mit an das Sozialgericht gerichtetem Schreiben vom 21.5.2012 erhob der Kläger erneut Klage mit dem Begehren, das Klageverfahren S 13 KR 1110/11 fortzusetzen, und stellte die Erfüllung der Mitwirkungspflicht in Aussicht (Verfahren S 8 KR 1648/12). Mit Urteil vom 9.1.2013 wies das Sozialgericht die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, die Klage sei wegen anderweitiger Rechtshängigkeit des Streitgegenstands unzulässig. Die Fortführung des Klageverfahrens S 13 KR 1110/11 sei Gegenstand des beim Senat anhängigen Berufungsverfahrens (L 5 KR 605/02).
22 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
I.
23 
Die Berufung des Klägers ist gem. §§ 143, 144 SGG ohne Zulassung durch das Sozialgericht statthaft. Der Senat kann offen lassen, ob der Beschwerdewert des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG (750 EUR) überschritten ist; der Kläger begehrt in der Sache offenbar die Gewährung eines mehrkostenpflichtigen Hörgeräts (als Sachleistung) bzw. die Übernahme der den einschlägigen Festbetrag übersteigenden Kosten eines solchen Hörgeräts (als Geldleistung). § 144 SGG ist vorliegend nicht anwendbar. Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist allein die im angefochtenen Gerichtsbescheid getroffene Feststellung, dass das Klageverfahren S 13 KR 1110/11 beendet ist, und nicht die vom Kläger letztendlich begehrte Sach- oder Geldleistung (vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 30.8.2012, - L 2 AS 132/12 -). Eine vermögensrechtliche Streitigkeit (von geringem Wert) - bei der die Berufung auch im Fall der Untätigkeitsklage nach Maßgabe des § 144 SGG zulassungspflichtig wäre (BSG, Beschl. v. 6.10.2011, - B 9 SB 45/11 B -) liegt daher nicht vor (LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.8.2012, - L 3 AS 133/12 -).
II.
24 
Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Die Voraussetzungen des § 102 Abs.2 Satz 1 SGG unter denen die Klage als zurückgenommen gilt, sind nicht erfüllt. Der angefochtene Gerichtsbescheid ist daher aufzuheben. Das Sozialgericht wird das bei ihm anhängig gebliebene Klageverfahren S 13 KR 1110/11 fortzuführen haben.
1.)
25 
Gem. § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt. In der Betreibens-aufforderung ist der Kläger auf die sich aus § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG und ggf. aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 155 Abs. 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG unterliegt formellen, materiellen und inhaltlichen Anforderungen, ohne deren Erfüllung sie nicht Grundlage der Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG sein kann.
a.)
26 
In formeller Hinsicht muss wegen der einschneidenden Folgen der Rücknahmefiktion sichergestellt sein, dass es sich bei der Betreibensaufforderung nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Richter nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deswegen muss die Betreibensaufforderung nach der Rechtsprechung des BSG vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht. Auch die gem. § 63 Abs. 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift der Betreibensaufforderung muss diesen Umstand erkennen lassen, d. h. durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R -).
b.)
27 
In materieller Hinsicht setzt das Ergehen einer Betreibensaufforderung als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG voraus, dass sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers vorliegen.
28 
Die Regelung des § 102 SGG über die Fiktion der Klagrücknahme hat die entsprechenden Vorschriften in § 81 AsylVfG und § 92 Abs. 2 VwGO (vgl. zum Berufungsverfahren § 126 Abs. 2 VwGO bzw. § 156 Abs. 2 SGG) zum Vorbild. Diese Vorschriften regeln die Fiktion der Klagerücknahme für das Verfahrensrecht des Asylprozesses bzw. des allgemeinen Verwaltungsprozesses. Das Gesetz unterstellt, dass das Rechtsschutzinteresse an der Klage weggefallen ist, wenn der Kläger über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.
29 
Die Fiktion der Klagrücknahme greift in das (Prozess-)Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. in die entsprechenden Verfahrensgehalte der im Einzelfall betroffenen materiellen Grundrechte ein. Das ist grundsätzlich zulässig. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. etwa Beschl. v. 27.10.1998, - 2 BvR 2662/95 - zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs. 2 VwGO; auch Beschl. v. 17.9.2012, - 1 BvR 2254/11 -) darf ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Die hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Das BVerfG hat zugleich aber entschieden, dass Vorschriften über die Fiktion der Klagerücknahme Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG, a. a. O.; auch BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R - m. w. N.). Demzufolge ist in den einschlägigen Gesetzesmaterialien auch ausgeführt, dass „die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen“ darf (BT-Drs. 16/7716 S. 19 zu Nummer 17 <§ 102>). Die Anwendung der Rücknahmefiktion kommt nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht (vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 19.5.1993, - 2 BvR 1972/92 -; BSG, 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R -; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.8.2012, - L 3 AS 133/12 -). Angesichts der gravierenden, den Rechtsschutz jedenfalls im konkreten Verfahren ohne Sachprüfung abschneidenden Wirkung der Rücknahmefiktion gebietet Art. 19 Abs. 4 GG eine strenge Prüfung der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung der entsprechenden Vorschriften durch das BVerfG (BVerfG, Beschl. v. 17.9.2012, - 1 BvR 2254/11 - zu § 92 Abs. 2 VwGO).
30 
Sachlich begründbare Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses können sich insbesondere aus der Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten des Klägers ergeben. Insoweit ist aber zu beachten, dass die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG keine Sanktion für prozessuales Fehlverhalten darstellt (vgl. etwa BVerfG Beschl. v. 17.9.2012, - 1 BvR 2254/11 -). Außerdem gilt (auch) für den Sozialgerichtsprozess nicht der Beibringungs-, sondern der Untersuchungsgrundsatz (Amtsermittlungsgrundsatz). Gem. § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; es hat dabei die Beteiligten heranzuziehen. Die Mitwirkungspflicht (bzw. Mitwirkungsobliegenheit) der Beteiligten, auch des Klägers, ist danach Teil der gerichtlichen Sacherforschungspflicht (NK-VwGO/Rixen, § 86 Rdnr. 63) und durch diese auch begrenzt. Insbesondere kann auf das Fehlen eines Rechtsschutzbedürfnisses nicht schon (allein) deshalb geschlossen werden, weil der Kläger eine Klagebegründung nicht vorlegt, zumal er dazu gem. § 92 Abs. 1 Satz 4 SGG nicht verpflichtet ist, sondern die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel nur angeben „soll“ (vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 30.8.2011, - L 9 AS 61/10 -). Allerdings muss das Gericht Ermittlungen auch nicht „ins Blaue“ anstellen (so BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R - zum Fehlen von Widerspruchs, Klage- und Berufungsbegründung). Prozessuale Folgerungen aus einer Verletzung der Mitwirkungspflicht unterliegen schließlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Deshalb muss das Gericht ggf. zunächst von den Befugnissen nach § 106a SGG Gebrauch machen und etwa dem Kläger eine Frist zum Vortrag von Tatsachen oder zur Vorlage von Urkunden setzen und verspätetes Vorbringen von Erklärungen oder Beweismitteln unter den Voraussetzungen des § 106a Abs. 3 SGG zurückweisen, gleichwohl aber eine Sachentscheidung treffen; insoweit gilt der Grundsatz „Fristsetzung“ (nach § 106a SGG) vor Betreibensaufforderung“ (NK-VwGO/Schmid § 92, Rdnr. 31). Das Gericht kann je nach Fallgestaltung auch auf die Grundsätze der objektiven Beweislast und der Beweisvereitelung (dazu etwa MünchKomm-ZPO/Prütting § 286 Rdnr. 80 ff. m. w. N.) hinweisen oder nach diesen Grundsätzen eine Sachentscheidung treffen. Eine Betreibensaufforderung, die ergeht, ohne dass zuvor die nach Lage der Dinge vorrangigen prozessualen Handlungsmittel angewendet worden sind, oder die sich nicht auf hinreichend begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Interesses des Klägers an einer gerichtlichen Sachentscheidung stützen kann, ist unzulässig; sie kann nicht Grundlage der in § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG vorgesehenen Rücknahmefiktion sein.
c.)
31 
In inhaltlicher Hinsicht muss die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG einen bestimmten Inhalt haben. Dem Kläger muss klar und unzweifelhaft deutlich gemacht werden, welche Verfahrenshandlung er vornehmen muss, um die Fiktion der Rücknahme seiner Klage abzuwenden. Die Handlungen zum (hinreichenden) Betreiben des Verfahrens müssen - abhängig vom Stand des Verfahrens - möglichst konkret bezeichnet werden; allgemeine Aufforderungen zum Tätigwerden genügen grundsätzlich nicht (vgl. Meyer/Ladewig, SGG § 102 Rdnr. 8c; NK-VwGO/Schmid § 92 Rdnr. 33; LSG Baden-Württemberg Urt. v. 12.7.2011 - L 11 KR 1429/11 -).
2.)
32 
Davon ausgehend kann der angefochtene Gerichtsbescheid keinen Bestand haben. Die - im Verfahren S 13 KR 1110/11 erhobene - Klage des Klägers gilt nicht als zurückgenommen. Die in diesem Verfahren ergangene Betreibensaufforderung vom 2.9.2011 gibt dafür keine Grundlage, da sie zu Unrecht ergangen ist. Hinreichende Anhaltspunkte für den Wegfall des Interesses des Klägers an gerichtlichem Rechtsschutz lagen nicht vor. Außerdem hätte das Sozialgericht nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor Erlass einer Betreibensaufforderung zunächst andere (mildere) prozessuale Handlungsmittel ergreifen und auch über den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers entscheiden müssen.
33 
Der Kläger hat zwar eine Klagebegründung nicht vorgelegt. Dazu war er aber gem. § 92 Abs. 1 Satz 4 SGG auch nicht verpflichtet. Außerdem ist sein Begehren ohne Weiteres den vom Sozialgericht beigezogenen Verwaltungsakten, namentlich dem Widerspruchsbescheid vom 4.11.2010, zu entnehmen. Der Kläger hat die Vorlage einer Klagebegründung nach der in der Klageschrift zugleich beantragten Akteneinsicht angekündigt. Akteneinsicht ist dem Kläger allerdings nicht gewährt worden, obwohl er gem. § 120 SGG darauf Anspruch hat, etwa durch Einsichtnahme in die Akten auf der Geschäftsstelle des Sozialgerichts. Dies ist ihm auch nicht angeboten worden. Das Ausbleiben einer Klagebegründung rechtfertigt die Annahme, der Kläger habe kein Interesse an einer Sachentscheidung mehr, daher nicht. Der Kläger hat außerdem die Frage des Sozialgerichts nach einer etwaigen (Selbst-)Beschaffung eines Hörgeräts nicht beantwortet. Auch deswegen hat eine Betreibensaufforderung aber nicht ergehen dürfen. Geht es, wie hier, um die Angabe bestimmter Tatsachen, ist regelmäßig zunächst eine Frist nach § 106a SGG zu setzen. Erst nach fruchtloser Anwendung dieses Handlungsmittels kommt ggf. eine Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG in Frage, wobei freilich zu bedenken ist, dass die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG nicht der Sanktionierung nachlässiger Prozessführung oder unzureichender Mitwirkung an der Erforschung des Sachverhalts dient, sondern nur in Betracht kommt, wenn das Prozessverhalten insgesamt zu der Annahme berechtigt, der Kläger habe das Interesse an einer Sachentscheidung des Gerichts verloren. Das Sozialgericht hat den Kläger schließlich zur Erforschung des Sachverhalts gem. § 103 SGG herangezogen, indem es ihm aufgegeben hat, eine Schweigepflichtentbindungserklärung abzugeben, damit behandelnde Ärzte, etwa zur Erforderlichkeit eines (bestimmten) Hörgeräts, befragt werden können. Der Kläger ist dem nur unzureichend nachgekommen, indem er dem Sozialgericht nur eine unvollständige Kopie der Schweigepflichtentbindungserklärung hat zukommen lassen. Die Weigerung des Klägers, in zumutbarer Weise an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken, bspw. die Befragung behandelnder Ärzte zu ermöglichen oder sich einer Begutachtung zu unterziehen, gibt aber regelmäßig Veranlassung - zunächst - auf die objektive Beweislast des Klägers für die tatsächlichen Voraussetzungen eines geltend gemachten Leistungsanspruchs und die Möglichkeit einer ihm nachteiligen Beweislastentscheidung hinzuweisen. Außerdem kann die Weigerung eines Klägers zur Mitwirkung an der medizinischen Sachaufklärung unterschiedliche, und sei es auch meist nicht berechtigte, Gründe haben; diese müssen nicht darin bestehen, dass ein Interesse an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht (mehr) besteht.
34 
Schließlich hat der Kläger mit der Klageerhebung zugleich Prozesskostenhilfe beantragt, und damit erreichen wollen, dass ihm der Rechtsschutz durch das Sozialgericht und damit das Betreiben eines sozialgerichtlichen Verfahrens zugänglich gemacht wird (BVerfG, Beschl. v. 7.11.2011, - 1 BvR 1403/09 -); das lässt sein Interesse an einer Sachentscheidung des Gerichts zusätzlich hervortreten. Über den Prozesskostenhilfeantrag hat das Sozialgericht erst entschieden, als - nach seiner unzutreffenden Rechtsauffassung - die in der Hauptsache erhobene Klage schon als zurückgenommen galt. Im Hinblick auf die vom BVerfG betonte Funktion der Prozesskostenhilfe, den rechtsstaatlich gebotenen Rechtsschutz zugänglich zu machen, ist es aber grundsätzlich nicht zulässig, das Hauptsacheverfahren abzuschließen, ohne zuvor über einen (entscheidungsreifen) Prozesskostenhilfeantrag zu befinden (vgl. Senatsbeschluss vom 18.2.2013, - L 5 KR 2366/12 B -). Das gilt auch für die Anwendung der Vorschriften über die Fiktion der Klagerücknahme. Ist der Prozesskostenhilfeantrag noch nicht entscheidungsreif, muss ggf. zuerst Frist nach § 118 Abs. 2 Satz 4 ZPO (i. V. m. 73a Abs. 1 Satz 1 SGG) gesetzt werden zur Glaubhaftmachung der Angaben über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse oder zur Beantwortung bestimmter Fragen des Gerichts; bei fruchtlosem Verstreichen der Frist ist der Prozesskostenhilfeantrag abzulehnen. Vor der Entscheidung über einen Prozesskostenhilfeantrag kann dem Kläger, der sich ohne die Hilfe eines beigeordneten Rechtsanwalts (zur Anwaltsbeiordnung als alleinigem Antragsziel in gerichtskostenfreien Verfahren Meyer/Ladewig, SGG § 73a Rdnr. 9) offenbar zur Rechtsverfolgung vor Gericht außerstande sieht, das Betreiben des Gerichtsverfahrens nicht aufgegeben werden.
35 
Insgesamt durfte das Sozialgericht daher eine Betreibensaufforderung (noch) nicht erlassen. Die gleichwohl mit Verfügung vom 2.9.2011 ergangene Betreibensaufforderung kann die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht auslösen.
III.
36 
Da das Sozialgericht zu Unrecht festgestellt hat, dass die im Verfahren S 13 KR 1110/13 erhobene Klage des Klägers als zurückgenommen gilt, ist sein Gerichtsbescheid auf die Berufung des Klägers aufzuheben. Der Senat braucht die Sache nicht gem. § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Sie ist dort nach wie vor anhängig und beim Landessozialgericht durch die Berufung des Klägers nicht anhängig geworden. Das Sozialgericht wird das Klageverfahren daher fortzuführen haben (so auch LSG Bayern, Urt. v. 12.7.2011, - L 11 AS 582/ 10 -; anders etwa LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 12.07.2011, - L 11 KR 1429/11 -, LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 10.7.2012, - L 7 AS 776/11 -; LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 16.6.2010, - L 5 AS 217/10 -: Zurückverweisung der Sache).
37 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
38 
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).

Gründe

 
I.
23 
Die Berufung des Klägers ist gem. §§ 143, 144 SGG ohne Zulassung durch das Sozialgericht statthaft. Der Senat kann offen lassen, ob der Beschwerdewert des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG (750 EUR) überschritten ist; der Kläger begehrt in der Sache offenbar die Gewährung eines mehrkostenpflichtigen Hörgeräts (als Sachleistung) bzw. die Übernahme der den einschlägigen Festbetrag übersteigenden Kosten eines solchen Hörgeräts (als Geldleistung). § 144 SGG ist vorliegend nicht anwendbar. Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist allein die im angefochtenen Gerichtsbescheid getroffene Feststellung, dass das Klageverfahren S 13 KR 1110/11 beendet ist, und nicht die vom Kläger letztendlich begehrte Sach- oder Geldleistung (vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 30.8.2012, - L 2 AS 132/12 -). Eine vermögensrechtliche Streitigkeit (von geringem Wert) - bei der die Berufung auch im Fall der Untätigkeitsklage nach Maßgabe des § 144 SGG zulassungspflichtig wäre (BSG, Beschl. v. 6.10.2011, - B 9 SB 45/11 B -) liegt daher nicht vor (LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.8.2012, - L 3 AS 133/12 -).
II.
24 
Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Die Voraussetzungen des § 102 Abs.2 Satz 1 SGG unter denen die Klage als zurückgenommen gilt, sind nicht erfüllt. Der angefochtene Gerichtsbescheid ist daher aufzuheben. Das Sozialgericht wird das bei ihm anhängig gebliebene Klageverfahren S 13 KR 1110/11 fortzuführen haben.
1.)
25 
Gem. § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt. In der Betreibens-aufforderung ist der Kläger auf die sich aus § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG und ggf. aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 155 Abs. 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG unterliegt formellen, materiellen und inhaltlichen Anforderungen, ohne deren Erfüllung sie nicht Grundlage der Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG sein kann.
a.)
26 
In formeller Hinsicht muss wegen der einschneidenden Folgen der Rücknahmefiktion sichergestellt sein, dass es sich bei der Betreibensaufforderung nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Richter nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deswegen muss die Betreibensaufforderung nach der Rechtsprechung des BSG vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht. Auch die gem. § 63 Abs. 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift der Betreibensaufforderung muss diesen Umstand erkennen lassen, d. h. durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R -).
b.)
27 
In materieller Hinsicht setzt das Ergehen einer Betreibensaufforderung als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG voraus, dass sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers vorliegen.
28 
Die Regelung des § 102 SGG über die Fiktion der Klagrücknahme hat die entsprechenden Vorschriften in § 81 AsylVfG und § 92 Abs. 2 VwGO (vgl. zum Berufungsverfahren § 126 Abs. 2 VwGO bzw. § 156 Abs. 2 SGG) zum Vorbild. Diese Vorschriften regeln die Fiktion der Klagerücknahme für das Verfahrensrecht des Asylprozesses bzw. des allgemeinen Verwaltungsprozesses. Das Gesetz unterstellt, dass das Rechtsschutzinteresse an der Klage weggefallen ist, wenn der Kläger über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.
29 
Die Fiktion der Klagrücknahme greift in das (Prozess-)Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. in die entsprechenden Verfahrensgehalte der im Einzelfall betroffenen materiellen Grundrechte ein. Das ist grundsätzlich zulässig. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. etwa Beschl. v. 27.10.1998, - 2 BvR 2662/95 - zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs. 2 VwGO; auch Beschl. v. 17.9.2012, - 1 BvR 2254/11 -) darf ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Die hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Das BVerfG hat zugleich aber entschieden, dass Vorschriften über die Fiktion der Klagerücknahme Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG, a. a. O.; auch BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R - m. w. N.). Demzufolge ist in den einschlägigen Gesetzesmaterialien auch ausgeführt, dass „die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen“ darf (BT-Drs. 16/7716 S. 19 zu Nummer 17 <§ 102>). Die Anwendung der Rücknahmefiktion kommt nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht (vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 19.5.1993, - 2 BvR 1972/92 -; BSG, 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R -; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.8.2012, - L 3 AS 133/12 -). Angesichts der gravierenden, den Rechtsschutz jedenfalls im konkreten Verfahren ohne Sachprüfung abschneidenden Wirkung der Rücknahmefiktion gebietet Art. 19 Abs. 4 GG eine strenge Prüfung der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung der entsprechenden Vorschriften durch das BVerfG (BVerfG, Beschl. v. 17.9.2012, - 1 BvR 2254/11 - zu § 92 Abs. 2 VwGO).
30 
Sachlich begründbare Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses können sich insbesondere aus der Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten des Klägers ergeben. Insoweit ist aber zu beachten, dass die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG keine Sanktion für prozessuales Fehlverhalten darstellt (vgl. etwa BVerfG Beschl. v. 17.9.2012, - 1 BvR 2254/11 -). Außerdem gilt (auch) für den Sozialgerichtsprozess nicht der Beibringungs-, sondern der Untersuchungsgrundsatz (Amtsermittlungsgrundsatz). Gem. § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; es hat dabei die Beteiligten heranzuziehen. Die Mitwirkungspflicht (bzw. Mitwirkungsobliegenheit) der Beteiligten, auch des Klägers, ist danach Teil der gerichtlichen Sacherforschungspflicht (NK-VwGO/Rixen, § 86 Rdnr. 63) und durch diese auch begrenzt. Insbesondere kann auf das Fehlen eines Rechtsschutzbedürfnisses nicht schon (allein) deshalb geschlossen werden, weil der Kläger eine Klagebegründung nicht vorlegt, zumal er dazu gem. § 92 Abs. 1 Satz 4 SGG nicht verpflichtet ist, sondern die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel nur angeben „soll“ (vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 30.8.2011, - L 9 AS 61/10 -). Allerdings muss das Gericht Ermittlungen auch nicht „ins Blaue“ anstellen (so BSG, Urt. v. 1.7.2010, - B 13 R 58/09 R - zum Fehlen von Widerspruchs, Klage- und Berufungsbegründung). Prozessuale Folgerungen aus einer Verletzung der Mitwirkungspflicht unterliegen schließlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Deshalb muss das Gericht ggf. zunächst von den Befugnissen nach § 106a SGG Gebrauch machen und etwa dem Kläger eine Frist zum Vortrag von Tatsachen oder zur Vorlage von Urkunden setzen und verspätetes Vorbringen von Erklärungen oder Beweismitteln unter den Voraussetzungen des § 106a Abs. 3 SGG zurückweisen, gleichwohl aber eine Sachentscheidung treffen; insoweit gilt der Grundsatz „Fristsetzung“ (nach § 106a SGG) vor Betreibensaufforderung“ (NK-VwGO/Schmid § 92, Rdnr. 31). Das Gericht kann je nach Fallgestaltung auch auf die Grundsätze der objektiven Beweislast und der Beweisvereitelung (dazu etwa MünchKomm-ZPO/Prütting § 286 Rdnr. 80 ff. m. w. N.) hinweisen oder nach diesen Grundsätzen eine Sachentscheidung treffen. Eine Betreibensaufforderung, die ergeht, ohne dass zuvor die nach Lage der Dinge vorrangigen prozessualen Handlungsmittel angewendet worden sind, oder die sich nicht auf hinreichend begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Interesses des Klägers an einer gerichtlichen Sachentscheidung stützen kann, ist unzulässig; sie kann nicht Grundlage der in § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG vorgesehenen Rücknahmefiktion sein.
c.)
31 
In inhaltlicher Hinsicht muss die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG einen bestimmten Inhalt haben. Dem Kläger muss klar und unzweifelhaft deutlich gemacht werden, welche Verfahrenshandlung er vornehmen muss, um die Fiktion der Rücknahme seiner Klage abzuwenden. Die Handlungen zum (hinreichenden) Betreiben des Verfahrens müssen - abhängig vom Stand des Verfahrens - möglichst konkret bezeichnet werden; allgemeine Aufforderungen zum Tätigwerden genügen grundsätzlich nicht (vgl. Meyer/Ladewig, SGG § 102 Rdnr. 8c; NK-VwGO/Schmid § 92 Rdnr. 33; LSG Baden-Württemberg Urt. v. 12.7.2011 - L 11 KR 1429/11 -).
2.)
32 
Davon ausgehend kann der angefochtene Gerichtsbescheid keinen Bestand haben. Die - im Verfahren S 13 KR 1110/11 erhobene - Klage des Klägers gilt nicht als zurückgenommen. Die in diesem Verfahren ergangene Betreibensaufforderung vom 2.9.2011 gibt dafür keine Grundlage, da sie zu Unrecht ergangen ist. Hinreichende Anhaltspunkte für den Wegfall des Interesses des Klägers an gerichtlichem Rechtsschutz lagen nicht vor. Außerdem hätte das Sozialgericht nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor Erlass einer Betreibensaufforderung zunächst andere (mildere) prozessuale Handlungsmittel ergreifen und auch über den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers entscheiden müssen.
33 
Der Kläger hat zwar eine Klagebegründung nicht vorgelegt. Dazu war er aber gem. § 92 Abs. 1 Satz 4 SGG auch nicht verpflichtet. Außerdem ist sein Begehren ohne Weiteres den vom Sozialgericht beigezogenen Verwaltungsakten, namentlich dem Widerspruchsbescheid vom 4.11.2010, zu entnehmen. Der Kläger hat die Vorlage einer Klagebegründung nach der in der Klageschrift zugleich beantragten Akteneinsicht angekündigt. Akteneinsicht ist dem Kläger allerdings nicht gewährt worden, obwohl er gem. § 120 SGG darauf Anspruch hat, etwa durch Einsichtnahme in die Akten auf der Geschäftsstelle des Sozialgerichts. Dies ist ihm auch nicht angeboten worden. Das Ausbleiben einer Klagebegründung rechtfertigt die Annahme, der Kläger habe kein Interesse an einer Sachentscheidung mehr, daher nicht. Der Kläger hat außerdem die Frage des Sozialgerichts nach einer etwaigen (Selbst-)Beschaffung eines Hörgeräts nicht beantwortet. Auch deswegen hat eine Betreibensaufforderung aber nicht ergehen dürfen. Geht es, wie hier, um die Angabe bestimmter Tatsachen, ist regelmäßig zunächst eine Frist nach § 106a SGG zu setzen. Erst nach fruchtloser Anwendung dieses Handlungsmittels kommt ggf. eine Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG in Frage, wobei freilich zu bedenken ist, dass die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG nicht der Sanktionierung nachlässiger Prozessführung oder unzureichender Mitwirkung an der Erforschung des Sachverhalts dient, sondern nur in Betracht kommt, wenn das Prozessverhalten insgesamt zu der Annahme berechtigt, der Kläger habe das Interesse an einer Sachentscheidung des Gerichts verloren. Das Sozialgericht hat den Kläger schließlich zur Erforschung des Sachverhalts gem. § 103 SGG herangezogen, indem es ihm aufgegeben hat, eine Schweigepflichtentbindungserklärung abzugeben, damit behandelnde Ärzte, etwa zur Erforderlichkeit eines (bestimmten) Hörgeräts, befragt werden können. Der Kläger ist dem nur unzureichend nachgekommen, indem er dem Sozialgericht nur eine unvollständige Kopie der Schweigepflichtentbindungserklärung hat zukommen lassen. Die Weigerung des Klägers, in zumutbarer Weise an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken, bspw. die Befragung behandelnder Ärzte zu ermöglichen oder sich einer Begutachtung zu unterziehen, gibt aber regelmäßig Veranlassung - zunächst - auf die objektive Beweislast des Klägers für die tatsächlichen Voraussetzungen eines geltend gemachten Leistungsanspruchs und die Möglichkeit einer ihm nachteiligen Beweislastentscheidung hinzuweisen. Außerdem kann die Weigerung eines Klägers zur Mitwirkung an der medizinischen Sachaufklärung unterschiedliche, und sei es auch meist nicht berechtigte, Gründe haben; diese müssen nicht darin bestehen, dass ein Interesse an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht (mehr) besteht.
34 
Schließlich hat der Kläger mit der Klageerhebung zugleich Prozesskostenhilfe beantragt, und damit erreichen wollen, dass ihm der Rechtsschutz durch das Sozialgericht und damit das Betreiben eines sozialgerichtlichen Verfahrens zugänglich gemacht wird (BVerfG, Beschl. v. 7.11.2011, - 1 BvR 1403/09 -); das lässt sein Interesse an einer Sachentscheidung des Gerichts zusätzlich hervortreten. Über den Prozesskostenhilfeantrag hat das Sozialgericht erst entschieden, als - nach seiner unzutreffenden Rechtsauffassung - die in der Hauptsache erhobene Klage schon als zurückgenommen galt. Im Hinblick auf die vom BVerfG betonte Funktion der Prozesskostenhilfe, den rechtsstaatlich gebotenen Rechtsschutz zugänglich zu machen, ist es aber grundsätzlich nicht zulässig, das Hauptsacheverfahren abzuschließen, ohne zuvor über einen (entscheidungsreifen) Prozesskostenhilfeantrag zu befinden (vgl. Senatsbeschluss vom 18.2.2013, - L 5 KR 2366/12 B -). Das gilt auch für die Anwendung der Vorschriften über die Fiktion der Klagerücknahme. Ist der Prozesskostenhilfeantrag noch nicht entscheidungsreif, muss ggf. zuerst Frist nach § 118 Abs. 2 Satz 4 ZPO (i. V. m. 73a Abs. 1 Satz 1 SGG) gesetzt werden zur Glaubhaftmachung der Angaben über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse oder zur Beantwortung bestimmter Fragen des Gerichts; bei fruchtlosem Verstreichen der Frist ist der Prozesskostenhilfeantrag abzulehnen. Vor der Entscheidung über einen Prozesskostenhilfeantrag kann dem Kläger, der sich ohne die Hilfe eines beigeordneten Rechtsanwalts (zur Anwaltsbeiordnung als alleinigem Antragsziel in gerichtskostenfreien Verfahren Meyer/Ladewig, SGG § 73a Rdnr. 9) offenbar zur Rechtsverfolgung vor Gericht außerstande sieht, das Betreiben des Gerichtsverfahrens nicht aufgegeben werden.
35 
Insgesamt durfte das Sozialgericht daher eine Betreibensaufforderung (noch) nicht erlassen. Die gleichwohl mit Verfügung vom 2.9.2011 ergangene Betreibensaufforderung kann die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht auslösen.
III.
36 
Da das Sozialgericht zu Unrecht festgestellt hat, dass die im Verfahren S 13 KR 1110/13 erhobene Klage des Klägers als zurückgenommen gilt, ist sein Gerichtsbescheid auf die Berufung des Klägers aufzuheben. Der Senat braucht die Sache nicht gem. § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Sie ist dort nach wie vor anhängig und beim Landessozialgericht durch die Berufung des Klägers nicht anhängig geworden. Das Sozialgericht wird das Klageverfahren daher fortzuführen haben (so auch LSG Bayern, Urt. v. 12.7.2011, - L 11 AS 582/ 10 -; anders etwa LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 12.07.2011, - L 11 KR 1429/11 -, LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 10.7.2012, - L 7 AS 776/11 -; LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 16.6.2010, - L 5 AS 217/10 -: Zurückverweisung der Sache).
37 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
38 
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).

(1) Um den geltend gemachten Anspruch vollständig oder zum Teil zu erledigen, können die Beteiligten zu Protokoll des Gerichts oder des Vorsitzenden oder des beauftragten oder ersuchten Richters einen Vergleich schließen, soweit sie über den Gegenstand der Klage verfügen können. Ein gerichtlicher Vergleich kann auch dadurch geschlossen werden, dass die Beteiligten einen in der Form eines Beschlusses ergangenen Vorschlag des Gerichts, des Vorsitzenden oder des Berichterstatters schriftlich oder durch Erklärung zu Protokoll in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Gericht annehmen.

(2) Das angenommene Anerkenntnis des geltend gemachten Anspruchs erledigt insoweit den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

Tenor

1. Die Revision des Klägers gegen das Teilurteil des Landesarbeitsgerichts München vom 27. Februar 2012 - 7 Sa 97/12 - wird zurückgewiesen.

2. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 10. Januar 2012 - 7 Sa 851/11 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Anschlussberufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 21. Juli 2011 - 32 Ca 5429/11 - wegen Wirkungslosigkeit als unzulässig verworfen wird.

3. Die Kosten des Revisionsverfahrens trägt der Kläger.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten zuletzt noch darum, ob der zwischen ihnen vor dem Landesarbeitsgericht geschlossene „Teilvergleich“ (im Folgenden: Vergleich) vom 10. Januar 2012 wirksam ist - falls er es nicht ist, weiterhin über vermögenswirksame Leistungen als Annahmeverzugsvergütung - und ob der Kläger eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG beanspruchen kann.

2

Das Arbeitsverhältnis der Parteien besteht seit März 2003. Im Dezember desselben Jahres war der Kläger mit gewerkschaftlicher Unterstützung zur Errichtung eines Betriebsrats an der Einladung zu einer Betriebsversammlung nach § 17 Abs. 3 BetrVG beteiligt. Seitdem hat die Beklagte dem Kläger gegenüber mehrere Kündigungen ausgesprochen. Nach jeweils erfolgreichen Kündigungsschutzklagen ist das Arbeitsverhältnis der Parteien bis jedenfalls 31. Dezember 2009 nicht aufgelöst worden.

3

Mit seiner Klage hat der Kläger von der Beklagten zunächst Annahmeverzugsvergütung (Gehalt, vermögenswirksame Leistungen und Sonderzahlungen) sowie eine Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG (die er in seinem Antrag als „Schadensersatz“ bezeichnet) verlangt. Das Arbeitsgericht hat die Annahmeverzugsvergütung, soweit fällig, im Wesentlichen zugesprochen (Gehalt und Sonderzahlungen), jedoch abgewiesen, soweit sie noch nicht fällig war bzw. wegen fehlender Kontoangabe (vermögenswirksame Leistungen). Abgewiesen hat das Arbeitsgericht auch die auf § 15 Abs. 2 AGG gestützte Entschädigungsforderung. Beide Parteien haben bezüglich der Annahmeverzugsvergütung im Umfang ihres Unterliegens Berufung eingelegt. Im Hinblick auf seine Entschädigungsforderung hat der Kläger Anschlussberufung eingelegt.

4

Vor dem Landesarbeitsgericht haben die Parteien in der Verhandlung vom 10. Januar 2012 einen Vergleich geschlossen, den sie als Teilvergleich bezeichneten. Mit diesem wurden die Forderungen zur Annahmeverzugsvergütung geregelt. Weiter heißt es in diesem Vergleich auszugsweise:

        

„3.     

Mit diesem Vergleich ist die Berufung der Beklagten ebenso erledigt wie die Berufung des Klägers. Erledigt sind auch die Rechtsstreite gleichen Rubrums vor dem Arbeitsgericht München - Az.: 32 Ca 9915/11 und 36 Ca 18030/09.

        

4.    

Die Kosten der Berufung werden insoweit gegeneinander aufgehoben. Im erstinstanzlichen Verfahren verbleibt es insoweit bei der dortigen Kostenentscheidung.“

5

Im Anschluss an die Protokollierung des Vergleichs haben die Parteien ihre Anträge bezüglich der Anschlussberufung - einschließlich einer Klageerweiterung (statt erstinstanzlich geforderter 120.744,00 Euro nunmehr eine Forderung von 528.000,00 Euro) - gestellt. Das Landesarbeitsgericht hat sodann über diese Anträge klageabweisend in der Sache entschieden.

6

Mit Schriftsätzen vom 17. Januar 2012 hat der Kläger den Vergleich vom 10. Januar 2012 gegenüber der Beklagten wegen Irrtums angefochten und beim Landesarbeitsgericht beantragt, die mündliche Verhandlung fortzusetzen. Zudem verlangte er wegen Fehlens der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) zunächst von der Beklagten mit Schreiben vom 19. Januar 2012 eine Anpassung des Vergleichs - dahin gehend, dass die Kostenentscheidung nunmehr vom Gericht nach § 91a ZPO getroffen werden solle - und erklärte, nachdem die Beklagte nicht einwilligte, mit E-Mail vom 31. Januar 2012 und Schreiben vom 2. Februar 2012 gegenüber der Beklagten den Rücktritt vom Vergleich.

7

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, alle Prozessbeteiligten und auch das Landesarbeitsgericht seien davon ausgegangen, dass durch den Vergleichsabschluss eine Sachentscheidung über seine Anschlussberufung nicht berührt werde. Erst nach Vergleichsabschluss und Verkündung des Urteils über die Anschlussberufung habe er bemerkt, dass nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts eine zulässig eingereichte Anschlussberufung ihre Wirkung verliere, wenn die Parteien über die mit der Hauptberufung verfolgten Ansprüche einen Vergleich geschlossen hätten (BAG 14. Mai 1976 - 2 AZR 539/75 - BAGE 28, 107). Der Vergleich vom 10. Januar 2012 sei nichtig bzw. unwirksam, ein Festhalten daran sei ihm nicht zumutbar. Er verfolge auch seine Anträge zur Annahmeverzugsvergütung weiter, allerdings nach zwischenzeitlicher Abrechnung des Gehalts durch die Beklagte bis einschließlich 30. September 2012 nur noch in Höhe der vermögenswirksamen Leistungen. Jedenfalls sei der Vergleich im Kostenpunkt dahin gehend abzuändern, dass über die Kosten des Rechtsstreits nach § 91a ZPO zu entscheiden sei.

8

Die weiterhin geforderte Entschädigung stehe ihm nach § 15 Abs. 2 AGG zu, weil die von der Beklagten ausgesprochenen Kündigungen aus Gründen der Weltanschauung iSv. § 1 AGG erfolgt seien, nämlich um seine Initiativen zur Gründung eines Betriebsrats im Betrieb der Beklagten in M, zur Durchsetzung von Tarifverträgen bei der Beklagten und zur Werbung für Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen iSd. Art. 9 Abs. 3 GG zu be- und verhindern.

9

Der Kläger hat zuletzt beantragt

        

1.    

festzustellen, dass der Rechtsstreit durch den in der Sitzung vor dem Landesarbeitsgericht München am 10. Januar 2012 unter dem Geschäftszeichen - 7 Sa 851/11 - protokollierten Vergleich nicht beendet oder erledigt wurde, und sodann die Beklagte zu verurteilen, an ihn vermögenswirksame Leistungen in Höhe von 478,00 Euro zu zahlen;

        

2.    

an den Kläger Schadensersatz in Höhe von 528.000,00 Euro und Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus je 12.000,00 Euro seit dem jeweils ersten Kalendertag der Monate September 2008 bis einschließlich April 2012 zu zahlen.

10

Die Beklagte hat beantragt festzustellen, dass die Berufung der Beklagten und die Berufung des Klägers durch den Vergleich vom 10. Januar 2012 erledigt sind; im Übrigen hat sie Klageabweisung beantragt.

11

Das Landesarbeitsgericht hat am 10. Januar 2012 (- 7 Sa 851/11 -) - nach Abschluss des Vergleichs - die Anschlussberufung des Klägers einschließlich der Klageerweiterung als zulässig aber unbegründet zurückgewiesen. Am 27. Februar 2012 (- 7 Sa 97/12 -) hat es festgestellt, dass die Berufungen der Beklagten und des Klägers gegen das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 21. Juli 2011 - 32 Ca 5429/11 - durch den Vergleich vom 10. Januar 2012 erledigt sind. In beiden Entscheidungen hat das Landesarbeitsgericht jeweils die Revision für den Kläger zugelassen. Der Senat hat die beiden vom Kläger angestrengten Revisionsverfahren - 8 AZR 429/12 - und - 8 AZR 760/12 - zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung miteinander verbunden.

Entscheidungsgründe

12

Die Revisionen sind nicht begründet. Der Vergleich vom 10. Januar 2012 ist wirksam und hat den Rechtsstreit im Hinblick auf die Berufungen der Beklagten und des Klägers einschließlich der darauf bezogenen Kostentragungspflichten beendet. Die Anschlussberufung des Klägers war daraufhin zu verwerfen.

13

I. Das Landesarbeitsgericht ist der Auffassung, der Antrag des Klägers zur Unwirksamkeit des Vergleichs sei nicht begründet. Sein diesbezügliches Vorbringen zeige lediglich einen Irrtum über mittelbare Rechtsfolgen auf, der jedoch keine Anfechtung tragen könne. Auch ein Rücktritt des Klägers vom Vergleich wegen einer Störung der Geschäftsgrundlage komme nicht in Betracht. Die Anschlussberufung des Klägers einschließlich der Klageerweiterung sei zwar zulässig, auch angesichts des Vergleichs vom 10. Januar 2012; sie sei jedoch unbegründet. Der Schutzbereich des AGG sei nicht eröffnet, die vom Kläger vorgetragenen Umstände beträfen keinen der in § 1 AGG genannten Gründe.

14

II. Diese Begründung hält nur zum Teil einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.

15

1. Der Vergleich vom 10. Januar 2012 ist wirksam und hat die Berufungen der Beklagten und des Klägers erledigt. Es ist daher nicht über die damit erledigten Forderungen des Klägers zur Annahmeverzugsvergütung (zuletzt noch vermögenswirksame Leistungen) zu entscheiden. Davon ist das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgegangen.

16

a) Wird die Wirksamkeit eines Prozessvergleichs angegriffen und damit seine den Prozess beendigende Wirkung in Frage gestellt, ist das Verfahren, in dem der Prozessvergleich geschlossen wurde, fortzusetzen (ua. BGH 21. November 2013 - VII ZR 48/12 - Rn. 14; 15. Januar 1985 - X ZR 16/83 -; BAG 11. Juli 2012 - 2 AZR 42/11 - Rn. 14 mwN; 5. August 1982 - 2 AZR 199/80 - zu B I der Gründe, BAGE 40, 17; Zöller/Stöber ZPO 30. Aufl. § 794 Rn. 15a; PG/Scheuch 5. Aufl. § 794 ZPO Rn. 24; Thomas/Putzo/Seiler 34. Aufl. § 794 Rn. 36 ff.). Der Grund für die Verfahrensfortsetzung - statt Einleitung eines neuen Rechtsstreits - ist die verfahrensrechtliche Seite des Prozessvergleichs (vgl. näher im Hinblick auf die Doppelnatur des Prozessvergleichs: BGH 20. März 2013 - XII ZR 72/11 - Rn. 14 mwN), nämlich die Frage, ob durch ihn die Rechtshängigkeit der Streitsache erloschen ist (BGH 15. Januar 1985 - X ZR 16/83 - zu I 2 der Gründe). Wird der Vergleich als wirksam angesehen, so ist auszusprechen, dass der Rechtsstreit durch den Vergleich erledigt ist (vgl. nur BAG 11. Juli 2012 - 2 AZR 42/11 - Rn. 14 mwN).

17

b) Der am 10. Januar 2012 geschlossene Prozessvergleich der Parteien hat den bei dem Landesarbeitsgericht angefallenen Rechtsstreit bezüglich der Forderungen des Klägers auf Annahmeverzugsvergütung (Gehalt, vermögenswirksame Leistungen und Sonderzahlungen) - Berufungen der Beklagten und des Klägers - wirksam beendet.

18

aa) Nach dem Vergleichstext (Ziffer 3) sind die Berufung der Beklagten und die des Klägers erledigt. Dieser eindeutige Wortlaut bedarf keiner Auslegung. Die Beendigung beider Berufungen geht unmissverständlich daraus hervor.

19

bb) Der Vergleich ist rechtswirksam, die verfahrensrechtliche Wirkung der Prozessbeendigung hat Bestand.

20

(1) Ein rechtserheblicher Irrtum über die Vergleichsgrundlage (§ 779 Abs. 1 BGB, vgl. dazu ua. BGH 20. März 2013 - XII ZR 72/11 - Rn. 17; BAG 15. Dezember 1994 - 8 AZR 250/93 - Rn. 40) ist nicht geltend gemacht worden und auch nicht ersichtlich. Ein Irrtum über die Vergleichsgrundlage lag bereits deshalb nicht vor, weil die Frage der Annahmeverzugsvergütung zwischen den Parteien streitig und deshalb Gegenstand der Streitbeilegung war. Auch Anfechtungsgründe iSv. § 119 Abs. 2 BGB (Irrtum über wesentliche Eigenschaften) sind ersichtlich nicht gegeben.

21

(2) Der Kläger hat keinen Grund geltend gemacht, der ihn zur Anfechtung wegen Irrtums nach § 119 Abs. 1 BGB berechtigt.

22

(a) Wegen eines Inhaltsirrtums kann seine Willenserklärung nach § 119 Abs. 1 BGB anfechten, wer bei der Abgabe über deren Inhalt im Irrtum war und sie bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben hätte. Bei einem Inhaltsirrtum entspricht zwar der äußere Tatbestand dem Willen des Erklärenden, dieser irrt sich jedoch über die Bedeutung oder die Tragweite seiner Erklärung (BGH 5. Juni 2008 - V ZB 150/07 - Rn. 15, BGHZ 177, 62). Bereits nach dem Wortlaut der Bestimmung („deren Inhalt“) kann ein Irrtum über die rechtlichen Folgen einer Willenserklärung nur dann als Inhaltsirrtum zur Anfechtung der abgegebenen Willenserklärung berechtigen, wenn diese Rechtsfolgen selbst (ausdrücklich oder stillschweigend, BAG 16. Februar 1983 - 7 AZR 134/81 -) Inhalt der rechtsgeschäftlichen Erklärung sind (vgl. BAG 10. Februar 2004 - 9 AZR 401/02 - Rn. 43 mwN, BAGE 109, 294). Nicht nach § 119 Abs. 1 BGB anfechtbar sind dagegen Erklärungen, die auf einem im Stadium der Willensbildung unterlaufenen Irrtum im Beweggrund - Motivirrtum - oder auf einer Fehlvorstellung über die Rechtsfolgen beruhen, die sich nicht aus dem Inhalt der Erklärung ergeben(BGH 5. Juni 2008 - V ZB 150/07 - Rn. 15, 19 f. mwN, aaO), sondern insbesondere kraft Gesetzes eintreten. Das ist der Fall, wenn ein Rechtsgeschäft außer der erstrebten Wirkung noch andere nicht erkannte oder nicht gewollte Nebenfolgen/Nebenwirkungen hervorbringt (BAG 10. Februar 2004 - 9 AZR 401/02 - aaO; vgl. 22. Mai 1990 - 3 AZR 647/88 -; BGH 29. November 1996 - BLw 16/96 - zu II 1 der Gründe mwN, BGHZ 134, 152; 15. Dezember 1994 - IX ZR 252/93 - zu II 2 c der Gründe; Palandt/Ellenberger 73. Aufl. § 119 BGB Rn. 15 f.).

23

(b) Ein Inhaltsirrtum iSv. § 119 Abs. 1 BGB liegt nicht vor.

24

Die Wirksamkeit der Anschlussberufung des Klägers war nicht Geschäftsgegenstand des Prozessvergleichs der Parteien. Dieser Vergleich betraf nach seinem Inhalt die Berufung der Beklagten und die Berufung des Klägers, also die Forderungen des Klägers im Hinblick auf Gehalt, vermögenswirksame Leistungen und Sonderzahlungen als Annahmeverzugsvergütung. Die nur im Wege der Anschlussberufung verfolgten Ansprüche des Klägers auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG waren nicht erfasst. Darauf bezogen behauptet der Kläger auch nicht, der Inhalt seiner Erklärung stimme nicht mit dem verfolgten Zweck überein. Bei einer ggf. unzutreffenden oder - nach dem Vortrag des Klägers: unterlassenen - Würdigung der Wirkung des Prozessvergleichs auf die Anschließung des Klägers handelt es sich deshalb nicht um einen zur Anfechtung berechtigenden Inhaltsirrtum, sondern entweder um einen unbeachtlichen Motivirrtum und/oder um einem Irrtum über eine mittelbare Rechtsfolge, der ebenfalls nicht zur Vergleichsanfechtung nach § 119 BGB berechtigt(zum gleichen Ergebnis in vergleichbarer Situation: BAG 22. Mai 1990 - 3 AZR 647/88 -).

25

(3) Nicht zu beanstanden ist, dass das Landesarbeitsgericht im Ergebnis auch eine Berechtigung des Klägers zum Rücktritt vom Vergleich wegen einer Störung der Geschäftsgrundlage verneint hat.

26

(a) Eine Beurteilung in der Sache war dem Landesarbeitsgericht - entgegen der von ihm selbst diesbezüglich geäußerter Zweifel, die es aber letztlich dahinstehen ließ - nicht dadurch verwehrt, dass eine Überprüfung im Hinblick auf eine Störung der Geschäftsgrundlage nur in einem neuen - und nicht im fortgesetzten bisherigen - Rechtsstreit hätte erfolgen können.

27

(aa) Zwar ist Rechtsfolge der Störung der Geschäftsgrundlage grundsätzlich die Anpassung des Vertrags - bzw. des Vergleichs, da die Grundsätze über die Störung der Geschäftsgrundlage auch auf Vergleiche anzuwenden sind (Palandt/Grüneberg 73. Aufl. § 313 BGB Rn. 7, 64) - an die geänderten Verhältnisse, nicht dagegen dessen Auflösung (näher BGH 30. September 2011 - V ZR 17/11 - Rn. 25, BGHZ 191, 139; 5. Februar 1986 - VIII ZR 72/85 -; vgl. auch BAG 28. Juni 2000 - 7 AZR 904/98 - BAGE 95, 171). Eine solche Anpassung des Vergleichs berührt seinen rechtlichen Bestand und seine prozessbeendende Wirkung grundsätzlich nicht (ua. BGH 5. Februar 1986 - VIII ZR 72/85 -). Es besteht die Möglichkeit, den Anpassungsanspruch gerichtlich durchzusetzen (BGH 30. September 2011 - V ZR 17/11 - aaO), jedoch nicht durch Fortsetzung des durch den Vergleich erledigten Rechtsstreits (BGH 5. Februar 1986 - VIII ZR 72/85 - mwN). Ausgangspunkt des Grundsatzes der vorrangigen Anpassung des Vergleichs bzw. der gerichtlichen Klärung des Anpassungsanspruchs in einem neuen Rechtsstreit ist der Gedanke, dass die Auflösung eines Vertrags tiefer in die Privatautonomie eingreift als dessen Anpassung (BGH 30. September 2011 - V ZR 17/11 - Rn. 27, aaO).

28

Jedoch kann im Einzelfall eine Abweichung vom Grundsatz der vorrangigen Anpassung des Vergleichs wegen des objektiven Erklärungswerts des Prozessverhaltens der Parteien angezeigt sein (vgl. BGH 30. September 2011 - V ZR 17/11 - Rn. 27, BGHZ 191, 139).

29

(bb) Das ist hier der Fall. Die Parteien haben durch ihre gegenläufigen Feststellungsanträge zu der Frage, ob ihre Berufungen durch den Vergleich vom 10. Januar 2012 erledigt sind, sowie mit ihrem dazu erfolgten Vortrag - der sowohl zur Anfechtung als auch zur Frage einer Störung der Geschäftsgrundlage im Wesentlichen nicht den Inhalt des Vergleichs als solchen betrifft, sondern ausschließlich die Auswirkungen des Vergleichsschlusses auf die Wirksamkeit der Anschlussberufung des Klägers -, gezeigt, dass es ihnen darauf bezogen um die einheitliche und abschließende Klärung des Bestands des Vergleichs geht. Das zeigen insbesondere die Ausführungen der Parteien zu einer Vergleichsauslegung oder hilfsweise Anpassung des Vergleichs im Hinblick auf eine womöglich noch ausstehende gerichtliche Kostenentscheidung nach § 91a ZPO. Auch diesbezüglich ist der Vortrag im Ergebnis ausschließlich auf die Frage der Wirksamkeit der Anschlussberufung des Klägers und damit auf die Fortsetzung des ursprünglichen Prozesses gerichtet. Jedenfalls dann, wenn - wie hier - in einem Rechtsstreit über die Wirksamkeit eines Prozessvergleichs nebeneinander sowohl die Vergleichsanfechtung als auch der Rücktritt vom Vergleich (vgl. auch BAG 11. Juli 2012 - 2 AZR 42/11 - Rn. 14; zur diesbezüglichen Rechtsprechungsentwicklung des BAG vgl. Reinfelder NZA 2013, 62, 67) geltend gemacht worden sind und das Prozessverhalten der Parteien zeigt, dass eine einheitliche Klärung des Prozessstoffs des ursprünglichen Rechtsstreits einschließlich der Wirksamkeit des Prozessvergleichs erfolgen soll, ist im Rahmen der Fortsetzung des bisherigen Prozesses auch über die Frage einer Störung der Geschäftsgrundlage zu entscheiden.

30

(b) Die Beurteilung des Landesarbeitsgerichts ist nicht zu beanstanden.

31

(aa) Ob ein bestimmter Umstand Geschäftsgrundlage ist, unterliegt der tatrichterlichen Beurteilung, die für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend ist (BGH 1. Februar 2012 - VIII ZR 307/10 - Rn. 26 mwN; 8. Februar 2006 - VIII ZR 304/04 - Rn. 8 mwN). Diese Bindung entfällt nur dann, wenn das Tatsachengericht bei seiner Würdigung gegen Auslegungsregeln, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen oder wesentliche Umstände unberücksichtigt gelassen hat.

32

(bb) Das Landesarbeitsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen des § 313 Abs. 2 BGB (Fehlen der Geschäftsgrundlage) verneint. Es hat ausgeführt, dem Kläger sei das Festhalten am Vergleich bereits deshalb nicht unzumutbar, weil er selbst durch sein prozessuales Verhalten gezeigt habe, dass er den - lediglich mit der Anschlussberufung weiterverfolgten - Ansprüchen nach § 15 Abs. 2 AGG nicht dasselbe Gewicht beimesse wie den mit seiner Berufung verfolgten. Damit ist es davon ausgegangen, dass der mit der Anschlussberufung verfolgte Entschädigungsanspruch die Geschäftsgrundlage des Vergleichs unberührt lässt, also bereits keine wesentliche Vorstellung dafür iSd. Voraussetzungen des § 313 Abs. 2 BGB sein kann. Es bleibt demnach ohne Auswirkung auf den Vergleichsabschluss, ob eine diesbezügliche Vorstellung sich als falsch herausstellt.

33

(cc) Diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts lassen keinen revisiblen Rechtsfehler erkennen. Der tatrichterliche Beurteilungsspielraum wurde nicht überschritten. Soweit der Kläger (ohne tiefere Begründung) anführt, das Landesarbeitsgericht verkenne die Rechtsnatur einer Anschlussberufung, die vertretene Auffassung finde im Gesetz keine Stütze und stehe im Widerspruch zur Gleichwertigkeit der Anträge aus einem Hauptrechtsmittel und einer Anschließung, verkennt er, dass das Landesarbeitsgericht nicht eine unterschiedliche Wertigkeit von Anträgen gemeint hat, sondern die prozessuale Abhängigkeit des - unselbständigen - Anschlussrechtsmittels vom Hauptrechtsmittel. Im Weiteren stellt der Kläger der Beurteilung des Landesarbeitsgerichts lediglich seine eigene Sicht der Dinge („Bedeutung des Vergleichs für den Kläger“) entgegen.

34

2. Die Anschlussberufung des Klägers war zu verwerfen. Sie ist wegen ihrer Akzessorietät nach der durch Prozessvergleich erfolgten Erledigung der beiderseitigen Berufungen wirkungslos geworden. Darüber, ob das Landesarbeitsgericht die materiell-rechtliche Rechtslage (§ 15 Abs. 2 AGG) zutreffend beurteilt hat, ist demzufolge nicht zu entscheiden.

35

a) Die Anschlussberufung des Klägers war bei ihrer Einlegung nach den Vorgaben des § 524 ZPO zulässig.

36

aa) Nach § 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO iVm. § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG kann eine Anschlussberufung bis zum Ablauf der dem Berufungsbeklagten gesetzten Frist zur Berufungserwiderung zulässig eingelegt werden. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren wird zwar - anders als nach § 521 Abs. 2 Satz 1 ZPO - dem Berufungsbeklagten vom Gericht keine Frist zur Berufungserwiderung „gesetzt“; vielmehr gilt für die Berufungsbeantwortung die durch § 66 Abs. 1 Satz 3 ArbGG bestimmte gesetzliche Frist von einem Monat. Gleichwohl ist § 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO gemäß § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG im Berufungsverfahren vor den Landesarbeitsgerichten entsprechend anwendbar. Eine Anschlussberufung, die nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung der Berufungsbegründung - bei Verlängerung der Berufungsbeantwortungsfrist nach § 66 Abs. 1 Satz 5 ArbGG innerhalb der dann geltenden Frist - eingeht, ist entsprechend § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen(BAG 12. November 2013 - 3 AZR 92/12 - Rn. 69; 24. Mai 2012 - 2 AZR 124/11 - Rn. 12 mwN).

37

bb) Nach diesen Vorgaben war die Anschlussberufung des Klägers bei ihrer Einlegung wirksam. Das arbeitsgerichtliche Urteil wurde sowohl ihm als auch der Beklagten am 17. August 2011 zugestellt. Dagegen wendete sich der Kläger mit seiner am 19. September 2011 (Montag) eingelegten Berufung, die Beklagte mit ihrer ebenfalls am 19. September 2011 eingelegten Berufung. Die Berufungsbegründung der Beklagten vom 4. Oktober 2011, eingegangen beim Landesarbeitsgericht am 5. Oktober 2011, wurde dem Kläger am 7. Oktober 2011 mit einer Belehrung gemäß § 66 Abs. 1 Satz 3 ArbGG zugestellt. Am 7. November 2011 beantragte der Kläger die Verlängerung der in § 66 Abs. 1 Satz 3 ArbGG bestimmten einmonatigen Berufungsbeantwortungsfrist auf den 7. Dezember 2011, die antragsgemäß erfolgte. An die Berufung der Beklagten schloss sich der Kläger mit seiner am 7. Dezember 2011 eingelegten und begründeten Anschlussberufung unter Klageerweiterung und Änderung der Berechnungsgrundlage an.

38

b) Mit Abschluss des wirksamen Vergleichs vom 10. Januar 2012 verlor die Anschließung des Klägers - einschließlich der damit verbundenen Klageerweiterung - ihre Wirkung.

39

aa) Eine Anschließung wie die Anschlussberufung ist auch nach der Reform des Zivilprozessrechts kein eigenes Rechtsmittel, sondern (lediglich) ein auch angriffsweise wirkender Antrag innerhalb des fremden Rechtsmittels (ua., jeweils mwN, BGH 24. Oktober 2007 - IV ZR 12/07 - Rn. 12; 25. September 2007 - X ZR 60/06 - Rn. 11, BGHZ 173, 374; 26. Januar 2005 - XII ZB 163/04 - zu II 3 der Gründe; 11. März 1981 - GSZ 1/80 - BGHZ 80, 146). Sie ist nach § 524 Abs. 4 ZPO prozessual insgesamt von der Hauptberufung abhängig(BGH 24. Oktober 2007 - IV ZR 12/07 - mwN). Aus dieser Rechtsnatur der Anschließung folgt entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts, dass eine Anschlussberufung dann ihre Wirkung verliert, wenn eine Abänderung des angefochtenen Urteils zum Nachteil des Berufungsbeklagten und Anschlussberufungsklägers nicht mehr möglich ist (BGH 22. Mai 1984 - III ZB 9/84 -; Musielak/Ball ZPO 10. Aufl. § 524 Rn. 29; PG/Lemke 5. Aufl. § 524 ZPO Rn. 29 f.). Damit wird die Anschließung - auch wenn dies nicht wortwörtlich aus § 524 Abs. 4 ZPO hervorgeht - auch dann wirkungslos, wenn der Streitgegenstand, auf den sich die Anschluss bietende Berufung beschränkt, durch einen Vergleich erledigt wird, der keinen Raum mehr für eine Kostenentscheidung nach § 91a ZPO lässt(BGH 22. Mai 1984 - III ZB 9/84 -; BAG 14. Mai 1976 - 2 AZR 539/75 - BAGE 28, 107; Musielak/Ball aaO; Zöller/Heßler ZPO 30. Aufl. § 524 Rn. 27).

40

bb) Vorliegend war nach Vergleichsabschluss keine Anschließung mehr möglich.

41

(1) Durch den Vergleich vom 10. Januar 2012 wurde, wie bereits ausgeführt (oben Rn. 15, 17 ff.), der Prozessstoff der Berufungen der Parteien ausdrücklich erledigt und schied damit als Anschließungsgegenstand aus.

42

(2) Im Vergleich vom 10. Januar 2012 ist zudem eine Kostenregelung der Parteien getroffen worden. Für eine Entscheidung des Gerichts nach § 91a ZPO über die Kosten war deshalb bezüglich der Berufungen der Beklagten und des Klägers kein Raum mehr. Damit war auch insoweit kein Anschließungsgegenstand mehr vorhanden.

43

(a) Durch eine Einigung (§ 98 ZPO) entziehen die Parteien dem Gericht die Befugnis zur Entscheidung über die Kosten. Es darf nur eine Entscheidung über die Kosten ergehen, wenn die Parteien sich nicht darüber verglichen haben (PG/Schneider 5. Aufl. § 98 ZPO Rn. 1, 4).

44

(b) Im Vergleich vom 10. Januar 2012 haben die Parteien nach Erledigung der beiden Berufungen (Ziffer 3 des Vergleichs) in Ziffer 4 des Vergleichs eine eigenständige und im Übrigen übliche Regelung der Kostentragung getroffen. Bereits die Worte „werden“ (in Satz 1) und „verbleibt es“ (in Satz 2) lassen keinerlei Raum für eine gerichtliche Kostenentscheidung. Damit im Einklang hat das Landesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 10. Januar 2012 - 7 Sa 851/11 - eine den Streitgegenstand des Vergleichs mitberücksichtigende Kostenentscheidung nicht getroffen. Es hat im Tenor ausdrücklich die Anschlussberufung „kostenpflichtig“ zurückgewiesen und in der Begründung ausgeführt, der Kläger habe „als unterlegene Partei“ die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels zu tragen. Dabei hat es sich ausdrücklich und zutreffend auf § 97 Abs. 1 ZPO und nur auf seine Entscheidung über die Anschlussberufung bezogen.

45

c) Wird in dieser Situation die (unselbständige) Anschlussberufung aufrechterhalten, ist sie zu verwerfen (BGH 22. Mai 1984 - III ZB 9/84 -; BAG 14. Mai 1976 - 2 AZR 539/75 - BAGE 28, 107; Zöller/Heßler ZPO 30. Aufl. § 524 Rn. 27). Insoweit ist ohne Auswirkung auf den Bestand des Berufungsurteils dessen rechtskraftfähiger Inhalt klarzustellen.

46

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.

        

    Hauck    

        

    Breinlinger    

        

    Winter    

        

        

        

    R. Kandler    

        

  F. Avenarius    

                 

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.

(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

(3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.

(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.