Strafrecht: BGH entscheidet über Frankfurter Raser-Fall
Die sog. Raser-Fälle sind zwar kein neues Phänomen. Deren strafrechtliche Aufarbeitung ist allerdings erst ab dem Jahre 2016 öffentlichkeitswirksam geworden. Überschreitet ein KfZ-Fahrer die zulässige Höchstgeschwindigkeit in der Innenstadt enorm und kommt dabei ein unbeteiliger Dritter zu Tode, so stellt sich die Frage, ob dem Täter eine vorsätzliche oder nur fahrlässige Tatbegehung vorzuwerfen ist.
Hauptsächlich geht es in solchen Fällen also um die Abgrenzung der Grundform des Vorsatzes, des dolus eventualis, und der fahrlässigen Tatbegehung. Diese Abgrenzung gehört vielmehr zu den umstrittensten Problemen des Allgemeinen Teiles.
Der vom Landgericht festgestellte Sachverhalt
Der zum Tatzeitpunkt 20-jährige Angeklagte fuhr am 22. April 2015 mit einem gemieteten PkW durch die Frankfurter Innenstadt. In eine Kreuzung fuhr er mit einer Geschwindigkeit von 142 km/h (was das doppelte der erlaubten Höchstgeschwindigkeit darstellt) ein, obwohl die Ampel für ihn bereits seit 7 Sekunden rotes Licht zeigte.
Aufgrund eines sichtbehindernden Bewuchses mit Büschen konnte er den sich annähernden (sowie sich verkehrsgerecht verhaltenden) PkW nicht sehen. In der Folge kam es zu einer Kollision – der Angeklagte fuhr ungebremst in die rechte Seite des PkW ein. Der sich in dem PkW befindliche Geschädigte erlag sofort an seinen Verletzungen. Der Angeklagte hingegen wurde nur leicht verletzt.
Vorsatz oder bewusste Fahrlässigkeit?
Das Landgericht stellte im strittigen Fall fest, dass sich der Angeklagte bewusst war, dass seine riskante Fahrweise dazu geeignet war, andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden und einen Unfall – auch mit unbeteiligten Dritten – herbeizuführen. Nach der Beweiswürdigung stellte es sodann fest, dass er in Überschätzung seiner Fähigkeiten als Fahrzeugführer ernsthaft darauf vertraute, es werde schon nicht zu einem Unfall mit tödlicher Folge kommen.
Da die Tötungsabsicht (Täter kommt es darauf an, dass der Erfolg, also der Tod eines Menschen eintritt) und direkter Tötungsvorsatz (Täter weiß, dass der Erfolg eintritt) im strittigen Falle auszuschließen seien, hatte es sich mit der Frage zu befassen, ob der Täter bewusst fahrlässig oder vorsätzlich handelte. Nahm er den Tod des Dritten billigend in Kauf oder vertraute er vielmehr auf einen kollisionsfreien Ausgang? Das Gericht plädierte auf bewusste Fahrlässigkeit.
Abgrenzung
Wie in Raser-Fällen so üblich, bilden die Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes der Maßstab für eine solche Abgrenzung:
Bedingt vorsätzliches Handeln setzt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, ferner, dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet.
Bedingter Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit unterscheiden sich darin, dass der bewusst fahrlässig Handelnde mit dem Eintreten des schädlichen Erfolgs in der Weise einverstanden ist, dass er ihn billigend in Kauf nimmt oder dass er sich wenigstens mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet. So fehlt das Willenselement, wenn der Täter trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolgs vertraut. (bewusste Fahrlässigkeit)
Gesamtschau aller Tatumstände
Die Prüfung, ob Vorsatz oder (bewusste) Fahrlässigkeit vorliegt, erfordert insbesondere bei Tötungs- oder Körperverletzungsdelikten eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände. Bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelementes ist es regelmäßig erforderlich, dass sich der Tatrichter mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung sowie seine Motivation und die zum Tatgeschehen bedeutsamen Umstände - insbesondere die konkrete Angriffsweise – mit in Betracht zieht.
Dabei ist die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ein wesentlicher Indikator sowohl für das Wissens- als auch für das Willenselement des bedingten Vorsatzes.
Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind jedoch keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei in hohem Maße gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalles an.
Wieso ist die Gesamtschau so notwendig? Nach der Definition ist der Vorsatz das Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung. Im Strafprozess ist es natürlich eine Herausforderung für den Richter, das Vorliegen solcher Elemente im Moment der Tatausführung herauszufinden - v. a., wenn sich der Angeklagte im Prozess nicht zur Sache einlassen möchte. In der Folge muss der Tatrichter – mit einer Gesamtschau – aus äußeren Umständen auf die innere Einstellung eines Angeklagten zur Tat schließen. Im strittigen Prozess lief dies wie folgt ab:
1. Vorliegen eines Wissenselementes
Die Frage, ob der Täter über die Möglichkeit des Erfolgseintritts reflektiert hat und sich im Augenblick der Tathandlung der möglichen Tatbestandsverwirklichung bewusst war, bejaht das Landgericht im vorliegenden Fall – die Kammer sieht das Wissenselement als unproblematisch gegeben an. Ihm war bewusst, dass sein gefahrträchtiges Verhalten mit einem tödlichen Ausgang für andere Verkehrsteilnehmer einhergehen kann. Er selbst habe sich darauf eingelassen, dass ihm der Unfallort aufgrund von guter Ortskenntnis klar gewesen sei, dass die Gefahr bestanden habe, dass potenzieller vorfahrtsberechtigter Verkehr seine Fahrspur kreuzen könne.
Wer dann mit mehr als dem Doppelten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit unter Missachtung der Vorfahrtsregeln über zwei Rotlicht anzeigende Lichtzeichenanlagen in einen Kreuzbereich einfährt, wobei ihm ein möglicherweise kreuzender vorfahrtsberechtigter Querverkehr bewusst ist, muss damit rechnen, dass er einen Unfall herbeiführt, bei dem Dritte verletzt oder sogar zu Tode kommen können.
2. Vorliegen eines Wollenselementes
Der Angeklagte ließ sich dahingehend ein, dass er bei der Tat gedacht habe, dass es ihm aufgrund seiner hohen Geschwindigkeit und des geringen Verkehrsaufkommens zum Unfallzeitpunkt auf jeden Fall noch gelingen würde, die Kreuzung zu überqueren, bevor der mögliche Querverkehr seine Fahrspur kreuzen würde.
Das Landgericht sah sich nicht imstande, das von ihm behauptete ernsthafte Vertrauen auf das Ausbleiben eines Verkehrsunfalls mit tödlicher Folge für andere Verkehrsteilnehmer zu wiederlegen. Hierbei verkannte die Kammer nicht, dass auch ein mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnder Täter kein Tötungsmotiv haben muss, er vielmehr auf einem anderen Handlungstrieb nachgehen kann und selbst ein dem Täter unerwünschter Erfolg einer billigenden Inkaufnahme nicht entgegensteht.
Zwar spreche für die Annahme des Eventualvorsatzes, dass der Angeklagte sich extrem rücksichtslos gegenüber der Unversehrtheit anderer Verkehrsteilnehmer verhalten hat, indem er rote Ampeln missachtet hat sowie die zulässige Höchstgeschwindigkeit über das doppelte überstiegen hat. Er hätte genügend Zeit und Anhalteweg zur Verfügung gehabt, um vor der roten Ampel an der Unfallkreuzung eine Bremsung einzuleiten. Stattdessen ist er – berauscht von der hohen Geschwindigkeit – bewusst auf dem Gas geblieben.
Gegen das Willenselement sprechen aber gemäß der Ausführungen des Landgerichtes überzeugendere Gründe:
a) die Einlassung des Angeklagten
In seiner Einlassung machte er deutlich, dass es ihm aufgrund der hohen Geschwindigkeit und des hohen Verkehrsaufkommens zum Unfallzeitpunkt auf jeden Fall noch möglich gewesen wäre, die Kreuzung unfallfrei zu überqueren.
b) Nicht Wahrnehmung des Sich-annähernden Fahrzeugs
Die Beweisaufnahme hat ergeben, dass zum Zeitpunkt des Unfalls sehr wenig Verkehr im Bereich der Unfallkreuzung geherrscht hat. Außerdem erwies sich der Umstand als wahr, dass der Angeklagte das Annähern des geschädigten PKW nicht wahrnehmen konnte, da die sich dort befindenden Büsche die Sicht behindert hatten. Vielmehr konnte der Angeklagte das Fahrzeug erst im unmittelbaren Kreuzungsbereich wahrnehmen, wofür auch spricht, dass der Angeklagte ungebremst mit dem Fahrzeug des Geschädigten kollidiert ist. Der Aspekt, dass der Angeklagte bei wenig Verkehr vor dem Einfahren in den Bereich der Unfallkreuzung keine Hinweise dafür hatte, dass die ihm abstrakt bewusste Gefahr eines vorfahrtsberechtigten kreuzenden Querverkehrs sich tatsächlich zu realisieren droht und sein Vertrauen auf einen guten Ausgang zumindest hätte erschüttern können, spricht für die Einlassung des Angeklagten.
c) Der Angeklagte war nicht angeschnallt - Eigengefährdung des Täters
Ferner spricht auch für ein ernsthaftes Vertrauen des Angeklagten darauf, dass es zu keinem Unfall mit tödlichen Ausgang kommen werde, dass der Angeklagte selbst – wie es ihm auch bewusst war - bei Fahrtantritt hinter seinem Rücken in das Gurtschloss gesteckt hatte, zum Zeitpunkt des pflichtwidrigen Einfahrens in die Unfallkreuzung unangeschnallt war.
Da der genaue Verlauf einer vom Angeklagten abstrakt für möglich gehaltenen Kollision mit anderen Fahrzeugen sowie die Folgen für Andere nicht abschätzbar war, hätte der Angeklagte bei einer Billigung einer Kollision mit einer tödlichen Folge für einen der am Unfall beteiligten Verkehrsteilnehmer zwangsläufig auch seinen eigenen Tod billigend in Kauf genommen. Dies gilt besonders im vorliegenden Fall, da die Gefährlichkeit für ihn selbst aufgrund des Nichtanlegens des Anschnallgurtes gegenüber einem angeschnallten Fahrzeugführer noch einmal deutlich erhöht war.
Dass der Angeklagte seine Eigengefährdung billigend in Kauf genommen hat, schließt die Kammer aus. Sie weist darauf hin, dass im Fahren ohne Anschnallgurt ein eindeutiges Indiz für ein ernsthaftes Vertrauen des Angeklagten auf das Ausbleiben einer Kollision mit tödlichen Folgen von unbeteiligten Verkehrsteilnehmern sei.
d) “Raser-Persönlichkeit“
Ferner führte das LG an, dass gegen das Vorliegen des Wollenselements die typische autofixierte „Raserpersönlichkeit“ des Angeklagten spreche. Denn dieser Persönlichkeitsstruktur liegt es gerade inne, sich in seinem Können als Autofahrer zu über- und Gefahren infolge eines eigenen Fehlverhaltens im Straßenverkehr zu unterschätzen.
Dem Angeklagten war das schnelle Fahren mit hochmotorisierten Autos nicht fremd, er fuhr diese sogar teilweise freihändig. Hieraus folgerte das Tatgericht, dass er die Gefahren eines solch verkehrswidrigen Verhaltens unzutreffend als geringfügig einschätzt, zumal seine riskanten Fahrmanöver ja bislang für andere Verkehrsteilnehmer auch stets folgenlos gut gegangen waren.
Die Kammer ist davon überzeugt, dass der Angeklagte seine Fähigkeiten als Autofahrer maßlos überschätzt hat, indem er glaubte trotz einer bereits sieben Sekunden lang Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage eine Kreuzung doppelt so schnell als erlaubt überfahren zu können, ohne dass es zu einem Unfall kommt. Diese selbstüberschätzende Mentalität des Angeklagten spricht ebenfalls für ein Handeln mit (nur) bewusster Fahrlässigkeit.
Nach einer Gesamtwürdigung der oben genannten Aspekte vermag die Kammer das vom Angeklagten vorgetragene Fehlen des Willenselements nicht zu wiederlegen.
Der Bundesgerichtshof - Beweiswürdigung ist fehlerhaft
Der für Verkehrsstrafsachen zuständige 4.Senat hob das Urteil infolge der Revision der Staatsanwaltschaft aufgrund eines Fehlers in der Beweiswürdigung auf. Einen solchen sah es vor allem in der Begründung der Eigengefährdung des Angeklagten:
Zwar stellte das Landgericht in seiner Betrachtung zutreffend auf die bei einem Unfall drohende Gefahr für seine eigene körperliche Integrität als vorsatzkritischem Umstand ab. Es hat das diesem Aspekt beigemessene hohe Gewicht aber nicht ausreichend belegt und begründet.
Das Landgericht ist von der Annahme ausgegangen, dass der Angeklagte bei einer Kollision – trotz des zu Recht herangezogenen Aspekts, dass er nicht angeschnallt war – „zwangsläufig“ auch seinen eigenen Tod billigend in Kauf genommen hätte. Die Urteilsgründe geben allerdings nicht wieder, welche konkreten Unfallszenarien der Angeklagte, der den Tod anderer als mögliche Folge seines Handelns erkannt hatte, vor Augen hatte.
Der BGH betonte, dass es keine generelle Regel, wonach bei Fahrzeugkollisionen die Risiken für die Insassen der am Unfall beteiligten Fahrzeuge nahezu gleichmäßig verteilt sind und deshalb die Inkaufnahme tödlicher Folgen für Insassen im unfallgegnerischen Fahrzeug notwendig auch die Billigung eines gleichgelagerten Eigenrisikos zur Folge hat, in dieser Allgemeinheit nicht gibt. Aus diesem Grund hätte der Aspekt der Eigengefährdung als vorsatzkritischer Umstand einer weiteren Begründung bedurft.
Schlussfolgerung
Das Landgericht hat im vorliegenden Fall die sachgerechte Einbeziehung der Feststellungen zur möglichen Eigengefährdung vermisst. Aufgrund dessen hob der BGH das Urteil auf.
Der 4. Strafsenat sieht in der möglichen Eigengefährdung, die der Täter in einem Verkehrsunfall haben würde, einen wesentlichen vorsatzkritischen Umstand. In diesem – sowie auch in den anderen beiden Raser-Fällen, die zugleich am selben Tag vom BGH beurteilt worden sind - namentlich der Berliner und Bremer Raser Fall – hob der BGH hervor, dass es keine allgemeine Regel gibt, wonach die Eigengefährdung einem Tötungsvorsatz entgegensteht.
Bei riskanten Verhaltensweisen im Straßenverkehr, die nicht von vornherein auf die Verletzung einer anderen Person oder die Herbeiführung eines Unfalls angelegt sind, kann aber eine vom Täter als solche erkannte Eigengefährdung dafür sprechen, dass er auf einen guten Ausgang vertraut hat. So habe der Tatrichter also einzelfallbezogen zu klären, „ob und in welchem Umfang aus Sicht des Täters aufgrund seines Verhaltens eine Gefahr (auch) für seine eigene körperliche Integrität drohte“. Dem wurde das LG bezüglich der Eigengefährdung hier nicht gerecht.
Allgemeine Erfahrungssätze, wie etwa „in bestimmten Fahrzeugen fühlen sich Fahrer immer sicher“ (so das LG Berlin) oder „wer den Sicherheitsgurt nicht anlege, nehme für den Kollisionsfall zwangsläufig auch seinen eigenen Tod in Kauf (so das LG Frankfurt) genügen dem Erfordernis eines gewissen Begründungs- und Beweisaufwandes allerdings nicht.
Der Ansicht, dass eine erkannte Eigengefährdung für den Kollisionsfall der Annahme eines Vorsatzes entgegenstehen kann, so dass sich der Tatrichter damit einzelfallbezogen auseinandersetzen muss, ist im Endeffekt zuzustimmen. Objektive Tatumstände, wie zum Beispiel das Überfahren einer Fußgängerampel oder eines Zebrastreifens, ggf. die Tageszeit oder eigene Brems-und Ausweichmanöver lassen durchaus gewisse Rückschlüsse auf die subjektive Sicht des Täters zum Tatzeitpunkt zu. So kann es sich auch etwa unterschiedlich auf das Vorstellungsbild des Täters zu seiner Eigengefährdung auswirken, ob er sich selbst in einem PkW oder auf einem Motorrad befindet und ob Kollisionen mit Fußgängern oder Radfahrern oder mit anderen PkW oder gar Lkw drohen.
Was zählt ist also der Einzelfall. Gerade deshalb ist der pauschale Satz "Raser sind Mörder" unwahr, denn jeder Fall ist anders zu beurteilen und verdient somit eine umfassende Gesamtwürdigung. Die Eigengefährdung kann ein Indiz dafür sein, die gegen einen Tötungsvorsatz - und damit auch gegen eine Verurteilung wegen Mordes - spricht, dies ist aber nicht notwendigerweise der Fall.
Haben Sie Fragen zum Thema Strafrecht? Nehmen Sie Kontakt zu Dirk Streifler auf und lassen Sie sich fachkundig beraten.
[E.K.]
Rechtsanwalt
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