Bundesgerichtshof Beschluss, 11. März 2015 - 2 StR 495/12

bei uns veröffentlicht am11.03.2015

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 495/12
vom
11. März 2015
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei
hier: Vorlagebeschluss nach § 132 Abs. 2 und 4 GVG
ECLI:DE:BGH:2015:1103152STR495.12.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. März 2015 gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG beschlossen:
Dem Großen Senat für Strafsachen wird die Frage vorgelegt: Ist die Rechtsfigur der gesetzesalternativen Verurteilung, insbesondere bei einer Verurteilung wegen (gewerbsmäßig begangenen ) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei, mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar?

Gründe:

A.

1
Die Vorlagefrage betrifft die Zulässigkeit der gesetzesalternativen Verur- teilung (so genannte „echte Wahlfeststellung“).

I.

2
Die Rechtsfigur der gesetzesalternativen Verurteilung beruht auf Richterrecht.
3
1. Nach der anfänglichen Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde eine alternative Sachverhaltsfeststellung nur dann nicht beanstandet, wenn es sich bei den Alternativen um unterschiedliche Ausführungsarten desselben Delikts handelte (RG, Urteil vom 18. Juni 1920 – II 476/20, RGSt 55, 44). Das im Schuldspruch genannte Delikt musste sicher nachgewiesen sein (RG, Urteil vom 29. September 1884 – Rep. 1763/84, RGSt 11, 103, 104). Wegen des Grundsatzes „nullum crimen sine lege“ durfte eine Strafe nur ausgesprochen werden, wenn die zugrunde liegende Handlung einen bestimmten Straftatbestand erfüllte (RG, Urteil vom 9. November 1891 – Rep. 2638/91, RGSt 22, 213, 216). Eine Ausnahme kam nur in Frage, wenn ein Straftatbestand verschiedene Umstände als Modalitäten desselben Delikts mit gleichem Strafrahmen vorsah (RG, Urteil vom 8. April 1892 – Rep. 822/92, RGSt 23, 47, 48; Urteil vom 1. Februar 1921 – II 899/20, RGSt 55, 228, 229; Urteil vom 19. April 1921 – IV 483/21, RGSt 56, 35 f.; Urteil vom 4. Januar 1923 – II 538/22, RGSt 57, 174 f.). Davon wurde der Fall unterschieden, dass die in Betracht gezogenen Sachverhaltsalternativen unterschiedliche Straftatbestände erfüllten. In diesem Fall war weder eine eindeutige noch eine alternative Verurteilung möglich. Das galt auch für die Alternative von Diebstahl oder Hehlerei (RG, Urteil vom 30. April 1919 – III 156/19, RGSt 53, 231, 232).
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2. Von dieser Rechtsprechung rückten die Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts durch Beschluss vom 2. Mai 1934 – 1 D 1096/33 (RGSt 68, 257, 259 ff.) ab. Die Zulassung einer Wahlfeststellung zwischen Diebstahl oder Hehlerei trage dem allgemeinen Rechtsempfinden Rechnung, weil es der Tat des Hehlers dieselbe sittliche Missbilligung angedeihen lasse wie derjenigen des Diebes (RGSt 68, 257, 262). Für andere Tatbestandsalternativen wurde eine gesetzesalternative Verurteilung weiter abgelehnt (RGSt 68, 257, 260 f.).
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3. Durch Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. Juni 1935 (RGBl. 1935 I, S. 839) wurde eine Regelung über die unbeschränkte Möglichkeit der gesetzesalternativen Verurteilung als § 2b RStGB eingeführt. Diese wurde durch Gesetz des Alliierten Kontrollrats für Deutschland Nr. 11 vom 30. Januar 1946 (Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland S. 55) wieder auf- gehoben (vgl. Etzel, Die Aufhebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat [1945 – 1948], 1992, S. 83 ff.).
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4. Der Bundesgerichtshof knüpfte ab 1951 an den Beschluss der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts vom 2. Mai 1934 an (BGH, Urteil vom 19. April 1951 – 3 StR 165/51, BGHSt 1, 127, 128; Urteil vom 21. Juni 1951 – 4 StR 26/51, BGHSt 1, 275, 276). Auch der Große Senat für Strafsachen folg- te ihm (BGH, Beschluss vom 15. Oktober 1956 – GSSt 2/56, BGHSt 9, 390, 392 ff. mit Anm. Dreher MDR 1957, 179 f. und Heinitz JR 1957, 126 ff.).
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Die Bejahung einer gesetzesalternativen Wahlfeststellung durch den Bundesgerichtshof betraf zunächst erneut nur die Alternative von Diebstahl oder Hehlerei (BGH, Urteil vom 12. September 1951 – 4 StR 533/51, BGHSt 1, 302, 304; Urteil vom 2. Oktober 1951 – 1 StR 353/51, BGHSt 1, 327, 328; Urteil vom 16. April 1953 – 4 StR 377/52, BGHSt 4, 128, 129; Urteil vom 4. Dezember 1958 – 4 StR 411/58, BGHSt 12, 386, 388; Urteil vom 4. Dezember 1958 – 4 StR 411/58, BGHSt 12, 386, 388), dann aber auch Konstellationen wie Raub oder räuberische Erpressung (BGH, Urteil vom 12. Januar 1954 – 1 StR 631/53, BGHSt 5, 280, 281), Diebstahl oder Begünstigung (Senat, Urteil vom 21. Oktober 1970 – 2 StR 316/70, BGHSt 23, 360 f.), Betrug oder Hehlerei (BGH, Urteil vom 20. Februar 1974 – 3 StR 1/74, NJW 1974, 804, 805). Erweiterungen der Rechtsfigur erfolgten ferner mit der Möglichkeit der
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gesetzesalternativen Verurteilung aufgrund mehrerer Tatbestandsvarianten, so bei den Varianten des Diebstahls, der Hehlerei oder der Beihilfe zum Diebstahl in Tateinheit mit Hehlerei (Senat, Urteil vom 30. Juni 1960 – 2 StR 275/60, BGHSt 15, 63, 64 ff.) und des Diebstahls, der Unterschlagung oder der Hehlerei (Senat, Urteil vom 26. Juli 1961 – 2 StR 190/61, BGHSt 16, 184, 186 f.).
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Schließlich wurde angenommen, dass Erschwerungsgründe bei einer Alternative der gesetzesalternativen Verurteilung nicht entgegenstehen, wenn die Grundgestaltung rechtsethisch und psychologisch vergleichbare Tatbestände betrifft (BGH, Urteil vom 17. Oktober 1957 – 4 StR 73/57, BGHSt 11, 26, 28). In einem solchen Fall müsse sich die Verurteilung auf das Vergleichbare beschränken , so bei der Möglichkeit von schwerem Raub oder Unterschlagung, wobei auf Diebstahl oder Unterschlagung erkannt wurde (BGH, Urteil vom 15. Mai 1973 – 4 StR 172/73, BGHSt 25, 182, 183 f. mit Anm. Hruschka NJW 1973, 1804 ff.).
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5. Die Bundesregierung wies im Entwurf eines Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes (Strafrechtsbereinigungsgesetz) vom 29. September 1952 darauf hin, bei der aufgehobenen Regelung des § 2b RStGB habe es sich nicht um typisch nationalsozialistisches Recht gehandelt. Die obersten Gerichte hätten sich wieder der Rechtsprechung des Reichsgerichts angeschlossen. Unter diesen Umständen könne die Frage, wie die Grenzen für die Zulässigkeit von wahlweisen Schuldfeststellungen zu ziehen seien, der Rechtsprechung und dem Schrifttum überlassen werden (BT-Drucks. I/3713 S. 19).

II.

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Der Senat hat folgenden Fall zu entscheiden:
12
1. Das Landgericht Meiningen hat den Angeklagten L. wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei in neunzehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren, den Angeklagten E. wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei in achtzehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Im Übrigen hat es die Angeklagten freigesprochen.
Gegen die Verurteilung richten sich die Revisionen der Angeklagten mit der Sachbeschwerde.
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Nach den Feststellungen des Landgerichts stahlen oder hehlten die Angeklagten seit dem Jahr 2008 in erheblichem Umfang Gegenstände, vor allem Fahrzeuge und Fahrzeugteile sowie Werkzeuge und andere Hilfsmittel, die bei der Montage oder Demontage von Fahrzeugen Verwendung finden konnten. Ob die Angeklagten bei den abgeurteilten Fällen als Mittäter jeweils Diebstähle begangen oder die später bei ihnen sichergestellten Gegenstände als Hehler erworben haben, konnte die Strafkammer nicht klären. Sie hat ausgeführt, es sei auch möglich, dass die Angeklagten in den einzelnen Fällen getrennt voneinander Beutestücke aus den Diebstählen angekauft oder einer von beiden – neben Dritten – an den Diebstählen beteiligt gewesen sei und danach Beute- gegenstände an den jeweils anderen abgegeben habe.
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Der Angeklagte E. mietete zur Lagerung der Gegenstände und zur Montage oder Demontage von Fahrzeugen ein Werkstattgebäude an. Dort reparierte er auch fremde Fahrzeuge und trieb mit Fahrzeugteilen Handel. Der Angeklagte L. verfügte über ein Grundstück mit Garagen und einem Container , wo er Gegenstände, die aus Diebstählen herrührten, lagerte und Fahrzeuge bearbeiten konnte. Nach einer anonymen Strafanzeige wurden die Räume am 23. und 24. Juni 2009 durchsucht. Dabei wurden zahlreiche Gegenstände sichergestellt, die in dem für die Einzeltaten näher konkretisierten Tatzeitraum zwischen dem 26. März 2007 und dem 20. Juni 2009 gestohlen worden waren. Dabei handelte es sich um Diebstähle, die „in vielen Fällen schon auf- grund der Menge des Diebesgutes und der Schwere der einzelnen Gegenstän- de gar nicht allein hätten durchgeführt werden können.“ Auch war „bei allen Ta- ten aufgrund des professionellen Vorgehens zu erwarten, dass zumindest ein Täter den Tatort abgesichert hat.“
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Das Landgericht hat den Angeklagten jeweils nur Diebstahl oder gewerbsmäßige Hehlerei zugerechnet, soweit bei ihnen selbst Gegenstände aus solchen Taten aufgefunden wurden. Soweit bei dem jeweils anderen Angeklagten Beutestücke festgestellt wurden, hat es die Angeklagten freigesprochen.
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Mit Ausnahme zweier Fälle (Fälle 6 und 11 bei dem Angeklagten L. ) handelte es sich bei den Diebstählen – von gewerbsmäßiger Tatbegehung gemäß § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StGB abgesehen – auch um Taten im Sinne von § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 oder Nr. 2 StGB.
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Bei den Diebstählen war regelmäßig erheblicher Sachschaden verursacht und umfangreiche Beute erzielt worden, während die sichergestellten Gegenstände, deren Erlangung den Angeklagten zugerechnet wurde, Einzelstücke aus der Diebesbeute darstellten.
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2. Die Strafkammer hat die Angeklagten wegen Diebstahls gemäß §§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StGB oder gewerbsmäßiger Hehlerei im Sinne der §§ 259 Abs. 1, 260 Abs. 1 Nr. 1 StGB verurteilt.
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Die Voraussetzungen einer Postpendenzfeststellung der gewerbsmäßigen Hehlerei hat sie verneint, weil sie eine zumindest einseitig sichere Feststellung der Hehlereivoraussetzungen – hier hinsichtlich der Tatbegehung in Bezug auf eine „Sache, dieein anderer gestohlen … hat“ – nicht treffen konnte: „Ob die Angeklagten bei den jeweiligen abgeurteilten Fällen gemeinschaftlich die Diebstähle begangen oder Gegenstände angekauft haben, konnte nicht geklärt werden. So ist es auch möglich, dass in diesen Fällen beide getrennt voneinander von derselben Quelle gekauft haben oder einer der beiden den Diebstahl begangen hat und an den anderen Diebesgut abgegeben hat.“
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3. Weil der Strafrahmen für gewerbsmäßige Hehlerei gemäß § 260 Abs. 1 StGB eine höhere als die in § 243 Abs. 1 StGB angedrohte Mindeststrafe vorsieht, ist die Strafkammer vom Strafrahmen des § 243 Abs. 1 Satz 1 StGB ausgegangen. Bei der – einheitlich vorgenommenen – Strafzumessung hat sie den geringeren Schaden zu Grunde gelegt, der beim Erwerb der einzelnen Beutestücke durch Hehlerei verursacht worden wäre. Im Übrigen hat sie auf allgemeine Strafzumessungsgesichtspunkte abgestellt, ohne ein konkretes Tatbild zu bewerten.

III.

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1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf.
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2. Auch die Ablehnung einer eindeutigen Verurteilung wegen gewerbsmäßiger Hehlerei ist rechtlich nicht zu beanstanden (vgl. Senat, Beschluss vom 11. November 1987 – 2 StR 506/87, BGHSt 35, 86, 88).
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Für eine Postpendenzfeststellung müsste – da Diebstahl und Hehlerei sich gegenseitig ausschließen – feststehen, dass die Angeklagten als Hehler die Gegenstände nicht selbst durch Diebstahl erlangt hatten (BGH, Urteil vom 29. März 1990 – 4 StR 681/89, BGHR StGB vor § 1 Wahlfeststellung, Postpendenz 4). Der Dieb ist kein tauglicher Täter der Hehlerei (vgl. Fischer, StGB, 62. Aufl., § 259 Rn. 30; SK/Velten, StPO, 4. Aufl., § 261 Rn. 133; LK/Walter, StGB, 12. Aufl., § 259 Rn. 90 f.). Eine einseitig eindeutige (Postpendenz-) Feststellung der Täterschaft der Angeklagten in Form einer Hehlerei war der Strafkammer aber deshalb nicht möglich, weil sie ihre (Mit-) Täterschaft beim Diebstahl jeweils nicht ausschließen konnte.
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3. Insoweit stünde die Verurteilung im Wege der Wahlfeststellung zwischen Diebstahl oder gewerbsmäßiger Hehlerei in Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Der Senat beabsichtigt jedoch, diese Rechtsprechung aufzugeben.

IV.

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1. Der Senat hat durch Beschluss vom 28. Januar 2014 – 2 StR 495/12 (StV 2014, 580 ff.) gemäß § 132 Abs. 3 GVG bei den anderen Strafsenaten angefragt , ob sie an der bisherigen Rechtsprechung zur Zulässigkeit einer gesetzesalternativen Verurteilung festhalten.
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Darin hat er die Auffassung vertreten, eine gesetzesalternative Verurteilung verstoße gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Deshalb sei eine Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei rechtlich zu beanstanden. Eine derartige gesetzesalternative Verurteilung verstoße gegen das Analogieverbot. Sie wirke strafbegründend, weil in einem solchen Fall die Erfüllung einer bestimmten Strafnorm nicht feststellbar sei. Die Verurteilung beruhe dann letztlich auf einer ungeschriebenen dritten Norm, die nicht durch den Gesetzgeber erlassen worden sei, sondern Richterrecht darstelle. Aus diesem Grund sei im Fall einer gesetzesalternativen Verurteilung auch keine dem Gesetz entsprechende Strafzumessung möglich.
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2. Die anderen Strafsenate sind dem entgegen getreten.
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a) Der 1. Strafsenat hat durch Beschluss vom 24. Juni 2014 – 1 ARs 14/14 (NStZ-RR 2014, 308 f.) ausgeführt, bei der gesetzesalternativen Verurteilung handele es sich um eine Verfahrensregel, die nicht der Verfassungsbestimmung des Art. 103 Abs. 2 GG unterliege. Die richterrechtliche Regel be- stimme nicht darüber, was strafbar ist, sondern lege lediglich fest, wie das Gericht in einer bestimmten Situation prozessual zu reagieren habe. Die Strafbarkeit sei mit den alternativ anwendbaren Straftatbeständen durch den Gesetzgeber bestimmt und für den Normunterworfenen vorhersehbar. Der Angeklagte werde nicht aus einer ungeschriebenen dritten Strafnorm verurteilt. Die Möglichkeit der gesetzesalternativen Verurteilung aufgrund von Richterrecht entspreche auch der Einschätzung des Gesetzgebers. Das von der Rechtsprechung entwickelte Merkmal der rechtsethischen und psychologischen Gleichwertigkeit der verschiedenen Taten stelle nur sicher, dass die Rechtsfolgenentscheidung trotz der Tatsachenalternativen an einen im Kern einheitlichen Schuldvorwurf anknüpfen könne. Erschwerende Umstände, die nur bei einer der alternativ in Betracht kommenden Verhaltensweisen infrage kämen, dürften dem Angeklagten nicht angelastet werden.
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b) Der 3. Strafsenat hat durch Beschluss vom 30. September 2014 – 3 ARs 13/14 (NStZ-RR 2015, 39 f.) erklärt, die richterrechtlich entwickelte Rechtsfigur der gesetzesalternativen Verurteilung verletze nicht Art. 103 Abs. 2 GG. Der Sache nach handele es sich um eine Entscheidungsregel. Solche Regelungen würden von Art. 103 Abs. 2 GG nicht erfasst. Der Zweck des Gesetzlichkeitsprinzips , für den Angeklagten seine Bestrafung vorhersehbar zu halten, bleibe unberührt. Grundlage der Bestrafung sei nicht eine ungeschriebene dritte Norm, die übereinstimmende Unrechtselemente der beiden Strafgesetze in sich vereinigen würde. Vielmehr müsse in jeder in Betracht kommenden Sachverhaltsvariante jeweils ein Straftatbestand vollständig erfüllt sein. Dass der vom Gericht zu treffende Schuldspruch stets bestimmt sein müsse, lasse sich der Verfassungsnorm des Art. 103 Abs. 2 GG nicht entnehmen. Die Einschränkung, dass eine Verurteilung im Fall der gesetzesalternativen Verurteilung nach der Rechtsprechung nur zulässig ist, wenn die in Betracht kommenden Straftatbestände rechtsethisch und psychologisch vergleichbar seien, schränke den An- wendungsbereich der Rechtsfigur ein, die – gemessen an Art. 103 Abs. 2 GG – aber auch unbeschränkt zulässig wäre.
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c) Der 4. Strafsenat hat in seinem Beschluss vom 11. September2014 – 4 ARs12/14 (NStZ-RR 2015, 40 f.) ausgeführt, die Tatsache, dass bei einer Verurteilung auf der Grundlage einer Wahlfeststellung nicht feststehe, welcher der Straftatbestände verletzt worden sei, ändere nichts daran, dass die strafrechtlichen Handlungsverbote für den Täter zur Tatzeit erkennbar gewesen seien. Da ein Angeklagter im Fall der Wahlfeststellung nur verurteilt werden dürfe, wenn die nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten alternativ in Betracht kommenden Sachverhalte jeweils einen Straftatbestand vollständig erfüllen und andere Sachverhaltsalternativen sicher ausscheiden, bleibe gewährleistet, dass der Gesetzgeber über die Voraussetzungen der Strafbarkeit entscheide. Der Angeklagte werde nicht wegen Verstoßes gegen einen außergesetzlichen Gesamttatbestand verurteilt. Da sämtliche Voraussetzungen des jeweils in Betracht kommenden Delikts in den Sachverhaltsalternativen verwirklicht sein müssten, komme es nicht zu einer Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen oder Tatbeständen. Zu der Frage, ob eine Verurteilung im Schuldspruch eindeutig sein müsse oder mehrdeutig sein dürfe, treffe Art. 103 Abs. 2 GG keine Aussage. Da die gesetzesalternative Verurteilung nur erfolgen dürfe, wenn den in Betracht kommenden Delikten eine ähnliche rechtsethische Bewertung zukomme und eine vergleichbare psychologische Beziehung des Täters zu den infrage kommenden Sachverhalten bestehe, werde die mit der alternativen Aufzählung in der Urteilsformel verbundene Belastung für den Verurteilten auf ein Maß begrenzt, das zur Vermeidung ungerechter Ergebnisse hinnehmbar sei. Soweit der Bestimmtheitsgrundsatz neben den Anforderungen an die Voraussetzungen der Strafbarkeit auch verlange, dass die mögliche Strafe im Gesetz hinreichend bestimmt geregelt sein müsse, gerate die Wahlfeststellung ebenfalls nicht mit Art. 103 Abs. 2 GG in Konflikt. Der Tatrichter habe auf der Grund- lage der Sachverhaltsalternativen zu erörtern, welche Strafe er jeweils für angemessen gehalten hätte, wenn zweifelsfrei die eine oder die andere Handlung nachgewiesen wäre; sodann habe er die mildeste Strafe zu verhängen. Der Zulässigkeit der gesetzesalternativen Verurteilung stehe auch nicht entgegen, dass eine eindeutige Verurteilung aufgrund eines Auffangtatbestands möglich wäre. Zwar habe die Möglichkeit einer eindeutigen Verurteilung grundsätzlich Vorrang. Davon sei aber eine Ausnahme anzuerkennen, wenn feststehe, dass der Täter in jeder der Sachverhaltsalternativen ein schwerer wiegendes Delikt begangen habe.
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d) Der 5. Strafsenat hat durch Beschluss vom 16. Juli 2014 – 5 ARs 39/14 (NStZ-RR 2014, 307 f.) ausgeführt, bei der gesetzesalternativen Verurteilung handele es sich um eine prozessuale Entscheidungsregel. Diese stelle eine Ausnahme von dem Rechtssatz „in dubio pro reo“ dar. Ein Freispruch in doppelter Anwendung des Zweifelsatzes wäre in Fällen, in denen ein strafloses Verhalten des Angeklagten sicher auszuschließen sei, mit dem Gebot der Gerechtigkeit unvereinbar. Die gesetzesalternative Verurteilung ziehe auch keine Ungenauigkeiten bei der Strafzumessung nach sich, da die Strafe dem mildesten Gesetz zu entnehmen sei.

B.

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Der Senat hält auch unter Berücksichtigung der Ergebnisse des Anfrageverfahrens an seiner Rechtsauffassung fest, dass die gesetzesalternative Verurteilung mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar ist. Deshalb ist die Vorlage der Sache an den Großen Senat des Bundesgerichtshofs für Strafsachen gemäß § 132 Abs. 2 GVG erforderlich. Die Vorlage ist aber auch im Sinne von § 132 Abs. 4 GVG zur Fortbildung des Rechts angezeigt, unter anderem zur Frage der Auslegung und Anwendung der Unterschlagung und der Geldwäsche als Auffangtatbestände bei unklarer Vortatbeteiligung (dazu unten B.II.3.a).

I.

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Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine „Tat“ nur bestraft werden kann, wenn „die Strafbarkeit“ gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Der Begriff der Strafbarkeit betrifft dabei sowohl die Voraussetzungen der Strafbarkeit als auch das Strafmaß (vgl. mit Erläuterung der Entstehungsgeschichte der Verfassungsnorm BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 1968 – 2 BvL 15/68, BVerfGE 25, 269, 288).
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1. Die Bedeutung dieser Verfassungsbestimmung erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein striktes Bestimmtheitsgebot für die Gesetzgebung sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie (BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09, 1857/10, BVerfGE 130, 1, 43). Diese Garantien dienen einem doppelten Zweck:
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Einerseits soll sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber selbst abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung selbst festzulegen. Der Gesetzgeber übernimmt mit der Entscheidung über strafwürdiges Verhalten die demokratisch legitimierte Verantwortung für eine Form hoheitlichen Handelns, die zu den intensivsten Eingriffen in die individuelle Freiheit zählt. Andererseits geht es um den rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten. Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Art. 103 Abs. 2 GG hat insofern freiheitsgewährleistende Funktion (BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 – 2 BvR 2559/08, 105, 491/09, BVerfGE 126, 170, 194).
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Wenn die Verfassung fordert, dass die Strafbarkeit „gesetzlich bestimmt“ sein muss, bedeutet dies zweierlei. Die Voraussetzungen der Strafbarkeit müssen gesetzlich geregelt und das diesbezügliche Gesetz muss hinreichend bestimmt sein. Für den Gesetzgeber enthält Art. 103 Abs. 2 GG dabei die Verpflichtung , wesentliche Fragen der Strafwürdigkeit oder Straffreiheit im demokratisch -parlamentarischen Willensbildungsprozess zu klären und die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. In Grenzbereichen trifft die Rechtsprechung ein Präzisierungsgebot.
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2. Für die Strafgerichte enthält der Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ Verpflichtungen in mehrfacher Hinsicht:
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Den Gerichten ist es verwehrt, die gesetzgeberische Entscheidung abzuändern. Dies gilt auch dann, wenn infolge des Bestimmtheitsgebots besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das pönalisierte Verhalten. Es ist dann vielmehr die Aufgabe des Gesetzgebers zu entscheiden , ob er die Strafbarkeitslücke bestehen lassen oder durch eine neue Regelung schließen will (BVerfG aaO, BVerfGE 126, 170, 197).
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Dementsprechend darf die Auslegung der Begriffe, mit denen der Gesetzgeber das unter Strafe gestellte Verhalten bezeichnet hat, nicht dazu führen , dass die dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis auf- gehoben wird. Einzelne Tatbestandsmerkmale dürfen also auch innerhalb ihres möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen (BVerfG aaO, BVerfGE 126, 170,

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3. Das in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltene Gebot der Gesetzesbestimmtheit gilt zum einen für den Straftatbestand (nullum crimen sine lege). Es gilt zum anderen aber auch für die Strafandrohung (nulla poena sine lege). An der Idee der Gerechtigkeit gemessen müssen Tatbestand und Rechtsfolge sachgerecht aufeinander abgestimmt sein. Beide sind wechselseitig aufeinander bezogen. Einerseits richtet sich die Strafhöhe nach dem normativ festgelegten Wert des verletzten Rechtsguts und der Schuld des Täters. Andererseits lässt sich das Gewicht einer Straftat in der Regel erst aus der Höhe der angedrohten Strafe entnehmen. Insofern ist auch die Strafandrohung für die Charakterisierung, Bewertung und Auslegung des Straftatbestands von entscheidender Bedeutung (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 1968 – 2 BvL 15/68, BVerfGE 25, 269, 286; Urteil vom 20. März 2002 – 2 BvR 794/95, BVerfGE 105, 135, 153 f.).

II.

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Nach diesem Maßstab ist die richterrechtliche Rechtsfigur der gesetzesalternativen Verurteilung mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht zu vereinbaren.
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1. Die gesetzesalternative Verurteilung greift in den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG ein und verletzt dessen Normzweck.
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a) Für eine rein prozessuale Regelung würden die Gebote des Art. 103 Abs. 2 GG zwar nicht gelten (Kudlich in Kudlich/Montiel/Schuhr [Hrsg.], Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012, S. 233, 239 ff. mwN). Darum geht es hier aber nicht. Die Rechtsfigur der gesetzesalternativen Verurteilung bestimmt vielmehr „die Strafbarkeit“.
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aa) Strafrecht ist Eingriffsrecht des Staates, das nach dem Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes eine bestimmte gesetzliche Eingriffsermächtigung erfordert , deren Voraussetzungen im Einzelfall auch tatsächlich vorliegen müssen (Freund/Rostalski JZ 2015, 164, 168). Mangels sicheren Nachweises des Vorliegens aller Tatbestandsmerkmale der alternativ in Betracht kommenden Strafnormen , einschließlich ihres jeweiligen subjektiven Tatbestands, steht in der Wahlfeststellungssituation jedoch gerade nicht fest, dass der Angeklagte die eine oder die andere Tat im Sinne von Art. 103 Abs. 2 GG begangen hat und deshalb verurteilt werden kann.
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Aus der exklusiven Alternativität von zwei Verdachtsfällen folgt somit eine die Aburteilung tragende Sachverhaltsgewissheit nur in Bezug auf einen Unrechtskern. Die Verdachtsfälle lassen sich aber nicht zu einer einheitlichen Schuldfeststellung verbinden (Alwart GA 1992, 545, 565; Freund/Rostalski JZ 2015, 164, 166). Schließen sich die in Betracht kommenden Tatbestände – wie Diebstahl oder Hehlerei – gegenseitig aus, fehlt in der Wahlfeststellungssituation jeweils der Nachweis mindestens eines objektiven (und zugehörigen subjektiven ) Tatbestandselements bei beiden Strafnormen. Die wahldeutige Verurteilung erfolgt dann gerade nach der Begründung der bisherigen Rechtsprechung nicht durch bloße Anwendung einer prozessualen Entscheidungsregel, sondern aufgrund des gemeinsamen Unrechtskerns. Die Regel, wonach wahldeutige Verurteilung zulässig sei, tritt daher – unter den Voraussetzungen, die ihre Anwendung legitimieren sollen – an die Stelle der jeweils fehlenden sachlichrechtlichen Voraussetzungen eines (eindeutigen) Schuldspruchs. Sie stellt damit eindeutig materielles Strafanwendungsrecht dar.
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Der gesetzesalternative Schuldspruch läuft auf eine „Entgrenzung“ von Tatbeständen oder auf eine „Verschleifung“ zweier Straftatbestände durch al- ternative Vereinigung der Einzelvoraussetzungen hinaus, die noch über die ver- fassungsrechtlich zu beanstandende „Verschleifung“ von verschiedenen Tatbe- standsmerkmalen einer einzigen Strafnorm (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 – 2 BvR 2559/08, 105, 491/09, BVerfGE 126, 170, 198) hinausgeht. Die Verurteilung beruht in dieser Konstellation auf einer ungeschriebenen dritten Norm (Endruweit, Die Wahlfeststellung und die Problematik der Überzeugungsbildung , der Identitätsbestimmung, der Urteilssyllogistik sowie der sozialen und personalen Gleichwertigkeit von Straftaten, 1973, S. 270; Freund in Festschrift für Wolter, 2013, S. 35, 49; Köhler, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1997, S. 96; Kotsoglou ZStW 127 [2015], 334, 359; Lobe GS 104 [1934], S. 161, 166; H. Mayer, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1953, S. 417; Wagner ZJS 2014, 436, 441), welche die – angeblich – übereinstimmenden Unrechtselemente der beiden gerade nicht zur Anwendung gelangenden Normen in sich vereinigt.
47
bb) Die materiell-rechtliche Einordnung der Rechtsfigur der gesetzesalternativen Verurteilung wird durch die Voraussetzungen ihrer begrenzten Ausdehnung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestätigt. Die Recht- sprechung hat das Kriterium der „rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit“ der infrage kommenden Straftatbestände als Voraussetzung für die Zulassung einer gesetzesalternativen Aburteilung entwickelt. Das Richterrecht hat daher nur für bestimmte Konstellationen eine Ausnahme von dem Grundsatz geschaffen, dass die Voraussetzungen der Strafbarkeit im Einzelfall sämtlich zur Überzeugung des Tatgerichts feststehen müssen. Über diese Schranke darf nicht hinweggegangen werden (BGH, Beschluss vom 15. Oktober 1956 – GSSt 2/56, BGHSt 9, 390, 394). Sie bestimmt dann jedoch über die Voraussetzungen der „Strafbarkeit“, die im Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG liegt.
48
Ist nach dieser Begrenzungsklausel kein Fall gegeben, bei dem eine Ausnahme vom Gebot der eindeutigen Verurteilung in Betracht kommt, kann eine Strafnorm, deren Voraussetzungen nicht vollständig sicher feststellbar sind, nicht angewendet werden. Greift dagegen die richterrechtliche Ausnahme ein, weil alternativ zwei – angeblich – rechtsethisch und psychologisch vergleichbare Tatbestände erfüllt sein sollen, so gelangt das Gericht zur (gesetzesalternativen ) Verurteilung. Das Abgrenzungskriterium für die Unterscheidung zwischen zulässiger und nicht zulässiger Wahlfeststellung füllt dabei funktional die Lücke zwischen den alternativ in Frage kommenden Tatbeständen. Es ist materiell-rechtlicher Natur (Montenbruck, Wahlfeststellung und Werttypus in Strafrecht und Strafprozessrecht, 1976, S. 219), denn es bezieht sich nicht auf eine prozessuale Frage, sondern fordert mit Blick auf den Schuldgrundsatz ausschließlich einen nach sachlich-rechtlichen Kriterien vorzunehmenden Vergleich.
49
cc) Ein Unterschied der Rechtsfigur der gesetzesalternativen Verurteilung gegenüber nicht an Art. 103 Abs. 2 GG zu messenden prozessualen Rechtsinstituten wie der Verjährung der Strafverfolgung oder dem Erfordernis eines Strafantrags, kommt darin zum Ausdruck, dass hier über den Schuld- und Strafausspruch in Abgrenzung zu einem Freispruch entschieden wird, während jene Institute prozessuale Rechtsfolgen haben. Die Verjährung der Strafverfolgung lässt das strafrechtliche Unrecht und die Schuld des Täters unberührt (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 1968 – 2 BvL 15/68, BVerfGE 25, 269, 294); sie führt zur Einstellung des Verfahrens. Gleiches gilt, wenn ein bei dem konkreten Delikt erforderlicher Strafantrag fehlt. Die Anwendungsregel einer gesetzesalternativen Verurteilung entscheidet demgegenüber – soweit kein Auffang- tatbestand eingreift – zwischen Freispruch und Bestrafung. Dieses Richterrecht beherrscht dadurch die Voraussetzungen für den Schuldspruch und bestimmt außerdem die Kriterien für die Zumessung der Strafe auf dieser Grundlage. Es verletzt Art. 103 Abs. 2 GG, weil es materiell-rechtliche Fragen der Schuldfeststellung ohne gesetzliche Grundlage selbst beantwortet.
50
b) Die richterrechtliche Rechtsfigur der gesetzesalternativen Verurteilung bei rechtsethischer und psychologischer Vergleichbarkeit der Tatbestände beachtet nicht den Schutzzweck des Art. 103 Abs. 2 GG.
51
aa) Das Strafgesetz soll dem normunterworfenen Bürger verdeutlichen, welche Handlungsweise bei Strafe verboten ist, damit er die Strafbarkeit seines Verhaltens vorhersehen kann. Insoweit kollidiert die richterrechtlich entwickelte gesetzesalternative Verurteilung, wie es die anderen Strafsenate betonen, nicht mit der Verfassung (Freund in Festschrift für Wolter, 2013, S. 35, 36). Auch der Senat hat insoweit keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
52
bb) Art. 103 Abs. 2 GG enthält aber zugleich einen strengen Gesetzesvorbehalt für das Strafrecht; denn danach müssen die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Rechtsfolgen „gesetzlich“ bestimmt sein. Dieser weitere Zweck der Verfassungsnorm wird durch das Richterrecht nicht beachtet.
53
§ 2b RStGB ist aufgehoben worden. Auch das Aufhebungsgesetz wäre von der an das Gesetz gebundenen Rechtsprechung zu beachten (SK/Velten, StPO § 261 Rn. 105). Eine Neuregelung ist unterblieben. Es fehlt mithin eine gesetzliche Bestimmung.
54
cc) Aus Art. 103 Abs. 2 GG folgt schließlich ein Gebot der Bestimmtheit der Strafbarkeit (… gesetzlich „bestimmt“ …). Dieses Bestimmtheitsgebot rich- tet sich zuvörderst an den Gesetzgeber. Es eröffnet in Grenzfällen aber auch für die Rechtsprechung ein Präzisierungsgebot (BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 – 2 BvR 2559/08, 105, 491/09, BVerfGE 126, 170, 198). Dem wird das Richterrecht bereits mit seiner Annahme nicht gerecht, Art. 103 Abs. 2 GG habe keine Bedeutung für den Schuldspruch, so dass dort auch eine gesetzesalternative Verurteilung zulässig sei (Freund/Rostalski JZ 2015, 164 ff.).
55
(1) Schon der Schuldspruch ist eine „Rechtsfolge, die selbst Sanktions- charakter hat“ (StuckenbergZIS 2014, 461, 463). Deshalb ist auch er am Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG zu messen.
56
Jede Strafnorm, die eine Tat kennzeichnet, gestattet den Strafgerichten als gesetzliche Eingriffsermächtigung ein sozialethisches Unwerturteil (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 1968 – 2 BvL 15/68, BVerfGE 25, 269, 286). Konkretisiert wird der hoheitliche Tadel im Einzelfall durch das Urteil des Strafgerichts, das den Angeklagten wegen einer bestimmten Tat schuldig spricht. Bereits das sozialethische Unwerturteil im Schuldspruch berührt den in der Menschenwürde wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch des Verurteilten (BVerfG, Beschluss vom 9. Juli 1997 – 2 BvR 1371/96, BVerfGE 96, 245, 289). Der Schuldspruch beschwert den Verurteilten (BVerfG, Urteil vom 21. März 1961 – 2 BvR 27/60, BVerfGE 12, 296, 302). Er greift in seine Grundrechtssphäre ein. Daher muss nicht nur die Strafe, sondern auch der Schuldspruch im Urteilstenor, welcher im Gegensatz zu den Gründen in Rechtskraft erwächst, eindeutig bestimmt sein. Das ist bei einem gesetzesalternativen Schuldspruch nicht der Fall.
57
(2) Das Bestimmtheitsgebot ist ferner deshalb nicht erfüllt, weil im Fall der gesetzesalternativen Verurteilung unklar bleibt, wie das von der Rechtsprechung als Voraussetzung für die Zulässigkeit der gesetzesalternativen Verurteilung verwendete Abgrenzungskriterium der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit der Tatbestände zu prüfen sein soll. Dieses Kriterium ist „grob und ungenau“ (Satzger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 2. Aufl., § 1 Rn. 81). Als Merkmal einer Strafnorm des geschriebenen Rechts wäre es zu unbestimmt. Bei dessen Anwendung kämen nämlich ein abstrakter Rechtsnormvergleich (LK/Dannecker, StGB, 12. Aufl., Anh. zu § 1 Rn. 136, 154 mwN) oder ein auf die konkrete Fallkonstellation bezogener Vergleich (Jahn JuS 2014, 753, 755) oder gegebenenfalls ein Vergleich nur der Grundtatbestände unter Ausblendung der in einer Sachverhaltsalternative einseitig vorkommenden Erschwerungsgründe in Frage. Für diesen Vergleich könnten normative oder kriminologisch-empirische Überlegungen angestellt werden. Welche Vorgehensweise geboten ist, müsste der Gesetzgeber, wenn er eine entsprechende Regelung erlassen wollte, im Normtext selbst oder jedenfalls aus der Gesetzessystematik und den Materialien erkennen lassen. Richterrecht kann eine solche Bestimmung nicht leisten; dies ist bislang auch nicht versucht worden. Denn mit der Entwicklung einer ausdifferenzierten Systematik zur „Vergleichbarkeit“ würde sich das so entscheidende Gericht ersichtlich an die Stelle des Gesetzgebers setzen und Abwägungen vornehmen, die diesem vorbehalten sind. Sie können insbesondere nicht durch bloße Übertragung oder „Anwendung“ des Gebots der Gerechtigkeit in vorhersehbarer Weise geschaffen wer- den.
58
Wenn zum Beispiel in dem vom Senat zu entscheidenden Fall die Angeklagten entweder als Mittäter an gewerbsmäßig begangenen Einbruchsdiebstählen beteiligt waren, durch die großer Sachschaden angerichtet und erhebliche Diebesbeute erzielt wurden, oder sie sich als gewerbsmäßig handelnde Alleintäter der Hehlerei jeweils einzelne Beutestücke aus einem solchen Diebstahl verschafft haben, erschiene fraglich, ob – gegebenenfalls unter Ausblendung des Erschwerungsgrunds des Einbruchs, der bei der Hehlerei keine Entsprechung findet (vgl. für die Wahlfeststellung zwischen Wohnungseinbruchsdiebstahl oder Hehlerei BGH, Urteil vom 8. Mai 2008 – 3 StR 53/08, NStZ 2008, 646) – von einer rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit überhaupt gesprochen werden könnte.
59
Der Gesetzgeber hat in den einzelnen Straftatbeständen – von der Bezeichnung des Rechtsguts abgesehen – keinen Hinweis darauf gegeben, ob und unter welchen Umständen diese Normen dahin auszulegen sind, dass sie mit anderen Straftatbeständen rechtsethisch und psychologisch vergleichbar sind. Die Rechtsprechung hat ihrerseits bei der Auslegung und Anwendung der Normen in den Fällen gesetzesalternativer Verurteilungen keine nähere Erläuterung gegeben, weshalb eine rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit anzunehmen sein soll. Auch ihre gegebenenfalls ergänzende Aufgabe der Präzisierung ist demnach nicht erfüllt (vgl. Schuhr NStZ 2014, 437, 440). Tatsächlich bleibt das Teilkriterium der psychologischen Vergleichbarkeit völlig funktionslos (vgl. Eser/Hecker in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 1 Rn. 50) oder verweist auf eine intuitive, subjektive Wertung des erkennenden Gerichts. Es besitzt dann aber nicht die Kraft, eine Ausnahme vom grundsätzlichen Gebot eindeutiger Verurteilungen zu legitimieren.
60
c) Dem Gesetzesvorbehalt und dem Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG unterliegt schließlich auch die Strafandrohung (BVerfG, Urteil vom 20. März 2002 – 2 BvR 794/95, BVerfGE 105, 135, 153), die in einem angemessenen Verhältnis zur Tat stehen muss.
61
aa) Dieses erfordert – auch wenn der Gesetzgeber eine gesetzesalternative Verurteilung zulassen wollte und wenn dies überhaupt zulässig wäre – konkrete Regelungen dazu, wie der für das Urteil maßgebliche Strafrahmen zu bestimmen und wie die konkrete Strafe unter Beachtung des Schuldgrundsatzes zu bemessen sein soll, wenn in exklusiver Alternativität zwei Sachverhalte in Betracht kommen, bei denen der Täter gegen eines von zwei unterschiedlichen Strafgesetzen verstoßen hat (vgl. den Regelungsvorschlag von Wolter GA 2013, 271, 282 ff.). Auch daran fehlt es. Richterrecht kann die fehlende Regelung nicht dadurch ersetzen, dass es vorschreibt, für die Alternativen seien – nachAusblendung einseitig vorhandener Erschwerungsgründe – fiktive Strafen zu bilden und von diesen sei die geringste zu verhängen. Die Begründung, hierdurch werde der Angeklagte nicht beschwert, lässt schon die Mehrheit der Strafgründe und -zwecke außer Betracht, denn eine sachlich-rechtlich nicht gerechtfertigte zu milde Strafe ist nicht allein rechtsfehlerhaft und darf daher nicht das (mögliche) Ziel der Strafzumessung sein, sondern kann auch andere Rechtsgüter verletzen.
62
bb) Setzt das Gericht im Einzelfall eine Strafe fest, muss diese in einem angemessenen Verhältnis zu Unrecht und Schuld des Täters im Hinblick auf einen bestimmten Verhaltensnormverstoß stehen (Frister StV 2014, 584, 585). Der Gesetzgeber hat durch Festlegung eines Strafrahmens für das konkrete Delikt dabei eine Vorabwägung zu treffen (nulla poena sine lege). Zur Strafzumessung durch die Strafgerichte muss sodann feststehen, welcher Verhaltensnormverstoß dem Angeklagten vorgeworfen wird und welches Ausmaß seine individuelle Schuld dabei erreicht hat. Dies ist schon dann nicht der Fall, wenn offen bleibt, welche von alternativ infrage kommenden Taten er begangen hat. Mit der Behauptung, er habe jedenfalls die eine oder andere Tat begangen, setzt sich das Richterrecht darüber hinweg, dass die Begehung der einen und der anderen Tat durch den individuellen Angeklagten nicht feststeht und die alternative Strafzumessung auf einer Fiktion beruht.
63
Die gesetzesalternative Verurteilung lässt demnach einen dem Gesetz entsprechenden Bewertungsakt bei der Strafzumessung auch dann, wenn das Tatgericht zwei fiktive Strafen zu bilden versucht, um nur die niedrigere zu verhängen , nicht uneingeschränkt zu (Freund/Rostalski JZ 2015, 164, 168; Wag- ner ZJS 2014, 436, 442). So lassen sich zum Beispiel die Beweggründe des Angeklagten bei der Tatbegehung und der dabei aufgewendete Wille (§ 46 Abs. 2 StGB) nicht bewerten, weil schon unklar bleibt, ob er die konkrete Tat überhaupt begangen hat.
64
2. Greift das Richterrecht nach allem wegen seiner materiell-rechtlichen Bedeutung in den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG ein, liegt bei einer gesetzesalternativen Verurteilung ein Verfassungsverstoß vor.
65
a) Eine Grundrechtsschranke des Art. 103 Abs. 2 GG besteht nach dem Wortlaut der Verfassung nicht. Der Gesetzesvorbehalt ist einer Schrankenbestimmung auch gar nicht zugänglich.
66
Selbst wenn eine Einschränkung im Ansatz denkbar wäre, so wäre eine immanente Grundrechtsschranke auszuschließen; denn der Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG steht in der Wahlfeststellungssituation keine Rechtsposition von gleichem Gewicht gegenüber (Kröpil JR 2015, 116, 121). Auf Abwägungen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt es daher nicht an. Der Verfassungsgeber selbst hat die Abwägung der gegenläufigen rechtsstaatlichen Gesichtspunkte mit Art. 103 Abs. 2 GG zugunsten eines uneingeschränkten Gesetzesvorbehalts für das Strafrecht getroffen (für den Fall der Freiheitsentziehung auch in Art. 2 Abs. 2 Satz 3, 104 Abs. 1 Satz 1 GG). Deshalb ist es nicht zulässig, das Gesetzlichkeitsprinzip allein mit Hinweis auf Gebote materieller Strafgerechtigkeit durch Richterrecht zu beschränken. Rechtsfortbildung überschreitet die durch die Verfassung gezogenen Grenzen, wenn sie ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft (BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286, 306). Die Rechtsprechung zur ausnahmsweisen Zulässigkeit der gesetzesalter- nativen Verurteilung ist ausschließlich auf eigene kriminalpolitische Überlegungen der Gerichte gestützt (Stuckenberg ZIS 2014, 461, 464 mwN).
67
b) Bei einer Verletzung des Gesetzesvorbehalts für das Strafrecht kommt es auf die Gründe dafür, warum der Bundesgesetzgeber von einer Regelung der gesetzesalternativen Verurteilung abgesehen hat, nicht mehr an.
68
aa) Da im Strafrecht ein strenger Gesetzesvorbehalt gilt, kann der Gesetzgeber seine Aufgabe der Normsetzung nicht zum Nachteil eines Angeklagten auf die Rechtsprechung delegieren. Die Legislative ist vielmehr von Verfassungs wegen verpflichtet, die Grenzen der Strafbarkeit selber zu bestimmen; sie darf diese Entscheidung nicht anderen staatlichen Gewalten, wie der Strafjustiz , überlassen (BVerfG, Urteil vom 20. März 2002 – 2 BvR 794/95, BVerfGE 105, 135, 153).
69
bb) Die Anmerkung der Bundesregierung in den Materialien zum Entwurf des Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes (BT-Drucks. I/3713 S. 19) ergibt nichts anderes. Sie verkörpert auch nicht den (aktuellen) Willen des Strafgesetzgebers.
70
Der Wille des Gesetzgebers kann im Einzelfall aus den Materialien eines Gesetzgebungsverfahrens entnommen und unter bestimmten Umständen (Wischmeyer JZ 2015, 957, 964) zur Auslegung einer als Gesetz in Kraft getretenen Rechtsnorm werden. Das gilt aber nicht gleichermaßen für eine Bemerkung eines an einem Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organs dazu, warum es vom Vorschlag einer Regelung abgesehen hat. Nur ein tatsächlich beschlossenes Gesetz ist beredter Ausdruck des kollektiven Willens des Parlaments. Nur insoweit können die Materialien zum Erlass eines Gesetzesbeschlusses näheren Aufschluss über die gebotene Auslegung einer beschlossenen Norm geben. Die auch nur im konkreten Zeit-Zusammenhang nachzuvollziehende Meinungsäußerung eines einzelnen Organs des Staats ist dagegen unerheblich , wenn sie sich nur darauf bezieht, dass ein Gesetzesvorschlag nicht gemacht werden solle.
71
3. Die gesetzesalternative Verurteilung ohne Rücksicht auf das mögliche Eingreifen eines Auffangtatbestandes verstößt zudem gegen den aktuellen Willen des Gesetzgebers. Dieser kommt in neu gestalteten oder neu erlassenen Strafnormen zum Ausdruck, die als Auffangtatbestände einen Vorrang vor der gesetzesalternativen Verurteilung beanspruchen.
72
a) Der Gesetzgeber hat seit der Etablierung des Richterrechts über die gesetzesalternative Verurteilung – vor allem im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte, die den Hauptanwendungsbereich der gesetzesalternativen Verurteilung bilden (SK/Velten, StPO, 4. Aufl., § 261 Rn. 137 f.) – eine Reihe von Auffangtatbeständen geschaffen, die gerade der von der Rechtsprechung zur Möglichkeit der gesetzesalternativen Verurteilung als misslich empfundenen Situation Rechnung tragen sollen, dass eindeutige Feststellungen hinsichtlich eines vorgreiflichen Tatbestandes nicht möglich sind.
73
aa) Dies gilt etwa für die Erweiterung des Tatbestands der Unterschlagung zu einem weit reichenden Zueignungsgrunddelikt (Frister StV 2014, 584, 586), das nur dann gegenüber einem anderen Tatbestand subsidiär ist, wenn dieser auch zur Überzeugung des Gerichts erfüllt ist (LK/Vogel, StGB, 12. Aufl., § 246 Rn. 73).
74
bb) In dem vom Senat zu entscheidenden Fall könnte aber auch eine Verurteilung wegen Geldwäsche in Betracht kommen. Dies hat das Landgericht – vonseinem Standpunkt aus folgerichtig – nicht geprüft, weil es dem Richterrecht zur Möglichkeit einer gesetzesalternativen Verurteilung aufgrund der im Sinne von § 261 Abs. 9 Satz 2 StGB vorgreiflichen Normen gefolgt ist.
75
§ 261 Abs. 9 StGB wurde durch das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität vom 4. Mai 1998 (BGBl. I S. 845) in den Geldwäschetatbestand eingefügt. Dadurch sollte die Möglichkeit ausgeschlossen werden, dass derjenige, der nicht erweislich, aber auch nicht ausschließbar Täter der Katalogvortat war, nach dem Grundsatz im Zweifel für den Angeklagten freizusprechen ist (Nestler in Herzog, Geldwäschegesetz, 2. Aufl., StGB § 261 Rn. 137). Das entspricht in diesem Normzusammenhang dem Sinn und Zweck der richterrechtlichen Figur der gesetzesalternativen Verurteilung.
76
Nach der Rechtsprechung ist ein Angeklagter aufgrund einer Postpendenzfeststellung wegen Geldwäsche (hier bei gewerbsmäßigem Handeln der Vortäter gemäß § 261 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Buchst. a, Abs. 2 Nr. 1 StGB) zu verurteilen , wenn ungewiss bleibt, ob er an einer Katalogtat des Geldwäschetatbestands beteiligt war, jedoch feststeht, dass er in Kenntnis der Vortat die Verfügungsgewalt über einen daraus herrührenden Gegenstand erlangt hat (BGH, Urteil vom 21. Juni 1995 – 2 StR 157/95, NStZ 1995, 500; Beschluss vom 26. Februar 2003 – 5 StR 423/02, BGHSt 47, 240, 245; Urteil vom 20. September 2000 – 5 StR 52/00, NJW 2000, 3725). Dagegen soll eine gleichzeitige Verurteilung wegen Vortatbeteiligung und Geldwäsche ausgeschlossen sein. Insoweit hat der Gesetzgeber den Geldwäschetatbestand bewusst als Auffangtatbestand für den Fall geschaffen, dass der Täter sich nicht nachweislich wegen Beteiligung an einer Katalogtat strafbar gemacht hat (BTDrucks. 13/8651 S. 11).
77
b) Richterrecht darf den gesetzgeberischen Willen wegen des in Art. 103 Abs. 2 GG zum Ausdruck gebrachten Gewaltenteilungsgrundsatzes (Art. 20 Abs. 2 GG) nicht dadurch unterlaufen, dass es ohne ausreichende Grundlage im Gesetz eine alternative Verurteilung zulässt, welche die vom Gesetzgeber gerade gewollte Anwendung eines Auffangtatbestands ausschließt.
78
Ein Richterspruch setzt sich über die allgemein zu beachtende Gesetzesbindung hinweg, wenn die vom Gericht zur Begründung seiner Entscheidung angestellten Erwägungen deutlich erkennen lassen, dass es sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben hat (BVerfG, Beschluss vom 3. November 1992 – 1 BvR 1243/88, BVerfGE 87, 273, 280). Die Tatsache, dass gerade dies bei der begrenzten Zulassung einer gesetzesalternativen Verurteilung der Fall ist, haben die Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts betont (RG aaO, RGSt 68, 257, 259). Fischer Krehl Eschelbach Ott Zeng

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(1) Beim Bundesgerichtshof werden ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen gebildet. Die Großen Senate bilden die Vereinigten Großen Senate.

(2) Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen, so entscheiden der Große Senat für Zivilsachen, wenn ein Zivilsenat von einem anderen Zivilsenat oder von dem Großen Zivilsenat, der Große Senat für Strafsachen, wenn ein Strafsenat von einem anderen Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen, die Vereinigten Großen Senate, wenn ein Zivilsenat von einem Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen oder ein Strafsenat von einem Zivilsenat oder von dem Großen Senat für Zivilsachen oder ein Senat von den Vereinigten Großen Senaten abweichen will.

(3) Eine Vorlage an den Großen Senat oder die Vereinigten Großen Senate ist nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, daß er an seiner Rechtsauffassung festhält. Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befaßt werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, zuständig wäre. Über die Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch Beschluß in der für Urteile erforderlichen Besetzung; § 97 Abs. 2 Satz 1 des Steuerberatungsgesetzes und § 74 Abs. 2 Satz 1 der Wirtschaftsprüferordnung bleiben unberührt.

(4) Der erkennende Senat kann eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

(5) Der Große Senat für Zivilsachen besteht aus dem Präsidenten und je einem Mitglied der Zivilsenate, der Große Senate für Strafsachen aus dem Präsidenten und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Legt ein anderer Senat vor oder soll von dessen Entscheidung abgewichen werden, ist auch ein Mitglied dieses Senats im Großen Senat vertreten. Die Vereinigten Großen Senate bestehen aus dem Präsidenten und den Mitgliedern der Großen Senate.

(6) Die Mitglieder und die Vertreter werden durch das Präsidium für ein Geschäftsjahr bestellt. Dies gilt auch für das Mitglied eines anderen Senats nach Absatz 5 Satz 2 und für seinen Vertreter. Den Vorsitz in den Großen Senaten und den Vereinigten Großen Senaten führt der Präsident, bei Verhinderung das dienstälteste Mitglied. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

(1) In besonders schweren Fällen wird der Diebstahl mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter

1.
zur Ausführung der Tat in ein Gebäude, einen Dienst- oder Geschäftsraum oder in einen anderen umschlossenen Raum einbricht, einsteigt, mit einem falschen Schlüssel oder einem anderen nicht zur ordnungsmäßigen Öffnung bestimmten Werkzeug eindringt oder sich in dem Raum verborgen hält,
2.
eine Sache stiehlt, die durch ein verschlossenes Behältnis oder eine andere Schutzvorrichtung gegen Wegnahme besonders gesichert ist,
3.
gewerbsmäßig stiehlt,
4.
aus einer Kirche oder einem anderen der Religionsausübung dienenden Gebäude oder Raum eine Sache stiehlt, die dem Gottesdienst gewidmet ist oder der religiösen Verehrung dient,
5.
eine Sache von Bedeutung für Wissenschaft, Kunst oder Geschichte oder für die technische Entwicklung stiehlt, die sich in einer allgemein zugänglichen Sammlung befindet oder öffentlich ausgestellt ist,
6.
stiehlt, indem er die Hilflosigkeit einer anderen Person, einen Unglücksfall oder eine gemeine Gefahr ausnutzt oder
7.
eine Handfeuerwaffe, zu deren Erwerb es nach dem Waffengesetz der Erlaubnis bedarf, ein Maschinengewehr, eine Maschinenpistole, ein voll- oder halbautomatisches Gewehr oder eine Sprengstoff enthaltende Kriegswaffe im Sinne des Kriegswaffenkontrollgesetzes oder Sprengstoff stiehlt.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1 bis 6 ist ein besonders schwerer Fall ausgeschlossen, wenn sich die Tat auf eine geringwertige Sache bezieht.

(1) Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(1) Wer eine Sache, die ein anderer gestohlen oder sonst durch eine gegen fremdes Vermögen gerichtete rechtswidrige Tat erlangt hat, ankauft oder sonst sich oder einem Dritten verschafft, sie absetzt oder absetzen hilft, um sich oder einen Dritten zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Die §§ 247 und 248a gelten sinngemäß.

(3) Der Versuch ist strafbar.

(1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer die Hehlerei

1.
gewerbsmäßig oder
2.
als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Raub, Diebstahl oder Hehlerei verbunden hat,
begeht.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(3) (weggefallen)

(1) In besonders schweren Fällen wird der Diebstahl mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter

1.
zur Ausführung der Tat in ein Gebäude, einen Dienst- oder Geschäftsraum oder in einen anderen umschlossenen Raum einbricht, einsteigt, mit einem falschen Schlüssel oder einem anderen nicht zur ordnungsmäßigen Öffnung bestimmten Werkzeug eindringt oder sich in dem Raum verborgen hält,
2.
eine Sache stiehlt, die durch ein verschlossenes Behältnis oder eine andere Schutzvorrichtung gegen Wegnahme besonders gesichert ist,
3.
gewerbsmäßig stiehlt,
4.
aus einer Kirche oder einem anderen der Religionsausübung dienenden Gebäude oder Raum eine Sache stiehlt, die dem Gottesdienst gewidmet ist oder der religiösen Verehrung dient,
5.
eine Sache von Bedeutung für Wissenschaft, Kunst oder Geschichte oder für die technische Entwicklung stiehlt, die sich in einer allgemein zugänglichen Sammlung befindet oder öffentlich ausgestellt ist,
6.
stiehlt, indem er die Hilflosigkeit einer anderen Person, einen Unglücksfall oder eine gemeine Gefahr ausnutzt oder
7.
eine Handfeuerwaffe, zu deren Erwerb es nach dem Waffengesetz der Erlaubnis bedarf, ein Maschinengewehr, eine Maschinenpistole, ein voll- oder halbautomatisches Gewehr oder eine Sprengstoff enthaltende Kriegswaffe im Sinne des Kriegswaffenkontrollgesetzes oder Sprengstoff stiehlt.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1 bis 6 ist ein besonders schwerer Fall ausgeschlossen, wenn sich die Tat auf eine geringwertige Sache bezieht.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 S t R 4 9 5 / 1 2
vom
28. Januar 2014
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei
hier: Anfragebeschluss nach § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. Januar 2014 beschlossen
:
I. Der Senat beabsichtigt zu entscheiden:
1. Die richterrechtlich entwickelte Rechtsfigur der ungleichartigen
Wahlfeststellung verstößt gegen Art. 103
Abs. 2 GG.
2. Eine wahldeutige Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen
) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei ist daher
unzulässig.
II. Der Senat fragt bei den übrigen Strafsenaten an, ob sie
der beabsichtigten Entscheidung zustimmen und entgegenstehende
Rechtsprechung aufgeben.

Gründe:

I.

1
Das Landgericht hat den Angeklagten L. wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei in neunzehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren, den Angeklagten E. wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei in achtzehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Im Übrigen hat es die Angeklagten freigesprochen. Gegen die Verurteilung richten sich die Revisionen der Angeklagten mit der Sachbeschwerde.
2
Bei den Angeklagten wurden im Rahmen von Durchsuchungen jeweils Gegenstände sichergestellt, die nach Überzeugung der Strafkammer entweder von den Angeklagten als Mittäter - möglicherweise neben anderen Tätern - in dem (für die Einzeltaten näher konkretisierten) Tatzeitraum zwischen dem 26. März 2007 und dem 20. Juni 2009 gestohlen worden waren, oder die sie vor Beginn der Durchsuchung am 23. Juni 2009 durch Hehlerei erlangt hatten. Die Strafkammer hat die Angeklagten insoweit wegen Diebstahls gemäß §§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StGB o d e r gewerbsmäßiger Hehlerei im Sinne der §§ 259 Abs. 1, 260 Abs. 1 Nr. 1 StGB verurteilt. Die Voraussetzungen einer sogenannten Postpendenzfeststellung gewerbsmäßiger Hehlerei hat es verneint, weil die Gewahrsamserlangung durch Mittäterschaft bei der Wegnahme der Sachen im Rahmen der Diebstähle nicht ausgeschlossen werden konnte. Weil der Strafrahmen für gewerbsmäßige Hehlerei gemäß § 260 Abs. 1 StGB eine höhere als die in § 243 Abs. 1 StGB angedrohte Mindeststrafe vorsieht , ist die Strafkammer von dem Strafrahmen des § 243 Abs. 1 Satz 1 StGB ausgegangen.

II.

3
Die Beweiswürdigung des Landgerichts weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf. Auch die Ablehnung einer eindeutigen Verurteilung wegen gewerbsmäßiger Hehlerei aufgrund einer Postpendenzfeststellung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Deshalb stünde die Verurteilung im Weg der Wahlfeststellung zwischen Diebstahl oder gewerbsmäßiger Hehlerei im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Der Senat beabsichtigt jedoch, diese Rechtsprechung aufzugeben.
4
Die dem Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 GG nicht zu entnehmende Möglichkeit der Verurteilung eines Angeklagten wegen Diebstahls o d e r ge- werbsmäßiger Hehlerei beruht auf Richterrecht (unten III.). Dies verstößt gegen den aus Art. 103 Abs. 2 GG folgenden Grundsatz (unten IV.1.), dass keine Straftat vorliegt (unten IV.2.) und keine Bestrafung erfolgen darf (unten IV.3.), soweit dies nicht auf dem Gesetz beruht.

III.

5
Die Rechtsfigur der gesetzesalternativen Wahlfeststellung beruht auf Richterrecht, das vom Reichsgericht zuerst für die Alternative von Diebstahl oder Hehlerei entwickelt wurde. Eine gesetzliche Regelung in § 2b RStGB, die eine gesetzesalternative Wahlfeststellung in unbegrenzter Weise vorsah, wurde vom Alliierten Kontrollrat aufgehoben. Seither fehlt eine Gesetzesbestimmung, die eine gesetzesalternative Wahlfeststellung, unter anderem zwischen (gewerbsmäßigem ) Diebstahl oder gewerbsmäßiger Hehlerei, gestatten könnte.
6
1. Nach der anfänglichen Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde eine alternative Sachverhaltsfeststellung nur dann nicht beanstandet, wenn es sich bei den Alternativen um unterschiedliche Ausführungsarten desselben Delikts handelte (RG, Urteil vom 18. Juni 1920 - II 476/20, RGSt 55, 44). Das im Schuldspruch genannte Delikt musste eindeutig nachgewiesen sein (RG, Urteil vom 29. September 1884 - Rep. 1763/84, RGSt 11, 103, 104). Mit Blick auf den Grundsatz "nullum crimen sine lege" durfte eine Strafe nur ausgesprochen werden , wenn die zugrunde liegende Handlung einen bestimmten Straftatbestand erfüllte (RG, Urteil vom 9. November 1891 - Rep. 2638/91, RGSt 22, 213, 216). Eine Ausnahme hiervon kam nur in Frage, wenn der Straftatbestand selbst verschiedene Umstände als Modalitäten desselben Delikts und dafür auch dieselbe Strafe vorsah (RG, Urteil vom 8. April 1892 - Rep. 822/92, RGSt 23, 47, 48; Urteil vom 1. Februar 1921 - II 899/20, RGSt 55, 228, 229; Urteil vom 19. April 1921 - IV 483/21, RGSt 56, 35 f.; Urteil vom 4. Januar 1923 - II 538/22, RGSt 57, 174 f.).
7
Davon wurde der Fall unterschieden, dass die vom Gericht in Betracht gezogenen Sachverhaltsalternativen unterschiedliche Straftatbestände erfüllten. In diesem Fall war weder eine eindeutige noch eine alternative Verurteilung möglich. Das galt auch dann, wenn alternativ Diebstahl oder Hehlerei in Betracht kamen (RG, Urteil vom 30. April 1919 - III 156/19, RGSt 53, 231, 232).
8
2. Von dieser Rechtsprechung rückten die Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts durch Beschluss vom 2. Mai 1934 - 1 D 1096/33 (RGSt 68, 257, 259 ff. mit Anm. Oetker GS 106 [1935], 401, 408 ff.) ab, soweit es die Variante von Diebstahl oder Hehlerei betraf. Sie führten aus, der Gesetzgeber habe zwar bewusst davon abgesehen, eine Regelung dieser Frage zu treffen. Die Rechtsprechung sei an den Willen des Gesetzgebers gebunden. Die zu beurteilende Fragestellung führe aus dem Aufgabenkreis der reinen Gesetzesanwendung hinaus. Die Rechtsprechung sei aber dazu berechtigt, zur Ergänzung einer im Verfahrensrecht vorhandenen Gesetzeslücke rechtsschöpferisch tätig zu werden , wobei sie "gleich dem Gesetzgeber arbeiten" müsse (RGSt 68, 257, 259). Die Zulassung einer Wahlfeststellung zwischen Diebstahl oder Hehlerei trage dem allgemeinen Rechtsempfinden Rechnung, weil es der Tat des Hehlers dieselbe sittliche Missbilligung angedeihen lasse, wie derjenigen des Diebes (RGSt 68, 257, 262). Für andere Tatbestandsalternativen wurde eine Wahlfeststellung weiter abgelehnt (RGSt 68, 257, 260 f.).
9
3. Durch Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. Juni 1935 (RGBl. 1935 I, S. 839) wurde eine Regelung über die unbeschränkte Möglichkeit der gesetzesalternativen Verurteilung als § 2b RStGB eingeführt:
10
"Steht fest, dass jemand gegen eines von mehreren Strafgesetzen verstoßen hat, ist aber eine Tatfeststellung nur wahlweise möglich, so ist der Täter nach dem mildesten Gesetz zu bestrafen."
11
Im Tenor des Strafurteils war danach beim Schuldspruch nur das mildeste Gesetz anzuführen (§ 267b Abs. 1 RStPO). Bei der Strafzumessung wurde geprüft, welche Strafe für die alternativ in Frage kommenden Taten jeweils angemessen wäre, worauf die mildeste dieser Strafen verhängt wurde (vgl. RG, Urteil vom 24. September 1935 - 1 D 671/35, RGSt 69, 369, 374).
12
§ 2b RStGB wurde durch Gesetz des Alliierten Kontrollrats für Deutschland Nr. 11 vom 30. Januar 1946 (Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland S. 55) aufgehoben (vgl. dazu Etzel, Die Aufhebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat [1945 - 1948], 1992, S. 83 ff.).
13
4. Der Bundesgerichtshof knüpfte ab 1951, wie vor ihm unter anderem schon der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone (OGH BrZ, Urteil vom 20. Juni 1949 – StS 198/49, OGHSt 2, 89, 93), wieder an den Beschluss der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts an. Er führte aus, durch Aufhebung des § 2b RStGB sei die Möglichkeit für Wahlfeststellungen nicht generell unzulässig geworden (BGH, Urteil vom 19. April 1951 - 3 StR 165/51, BGHSt 1, 127, 128; Urteil vom 21. Juni 1951 - 4 StR 26/51, BGHSt 1, 275, 276). Zunächst wurden Wahlfeststellungen, deren Sachverhaltsalternativen dasselbe Strafgesetz erfüllen - sogenannte unechte Wahlfeststellungen - als zulässig angesehen (BGH, Urteil vom 11. August 1955 - 4 StR 289/55), (echte) gesetzesalternative Wahlfeststellungen dagegen aus rechtsstaatlichen Gründen im Allgemeinen nicht. Davon wurden unter Bezugnahme auf den Beschluss des Reichsgerichts wiederum Ausnahmen zugelassen.
14
Auch der Große Senat des Bundesgerichtshofs für Strafsachen knüpfte an den Beschluss der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts an (BGH, Beschluss vom 15. Oktober 1956 - GSSt 2/56, BGHSt 9, 390, 392 ff. mit Anm. Dreher MDR 1957, 179 f. und Heinitz JR 1957, 126 ff.). Er betonte, daraus habe sich die Lehre von der Notwendigkeit einer rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit der alternativ in Frage kommenden Vorwürfe entwickelt (krit. Zeiler ZStW 72 [1960], 4, 15).
15
Die Annahme der Zulässigkeit einer gesetzesalternativen Wahlfeststellung wegen rechtsethischer und psychologischer Vergleichbarkeit betraf zunächst erneut nur die Alternative zwischen Diebstahl oder Hehlerei (BGH, Urteil vom 12. September 1951 - 4 StR 533/51, BGHSt 1, 302, 304; Urteil vom 2. Oktober 1951 - 1 StR 353/51, BGHSt 1, 327, 328; Urteil vom 16. April 1953 - 4 StR 377/52, BGHSt 4, 128, 129; Urteil vom 4. Dezember 1958 - 4 StR 411/58, BGHSt 12, 386, 388; Urteil vom 4. Dezember 1958 - 4 StR 411/58, BGHSt 12, 386, 388), im Folgenden aber auch weitere Konstellationen, wie etwa die Alternative zwischen Raub oder räuberischer Erpressung (BGH, Urteil vom 12. Januar 1954 - 1 StR 631/53, BGHSt 5, 280, 281), Diebstahl oder Begünstigung (Senat, Urteil vom 21. Oktober 1970 - 2 StR 316/70, BGHSt 23, 360 f.), Betrug oder Hehlerei (BGH, Urteil vom 20. Februar 1974 - 3 StR 1/74, NJW 1974, 804, 805; krit. BGH, Urteil vom 23. Februar 1989 - 4 StR 628/88, NJW 1989, 1867).
16
Erweiterungen der richterrechtlichen Zulassung von gesetzesalternativen Verurteilungen haben bei der Möglichkeit mehrerer Sachverhalts- und Tatbestandsvarianten stattgefunden, so bei den Varianten des Diebstahls oder der Unterschlagung oder der Hehlerei (Senat, Urteil vom 26. Juli 1961 - 2 StR 190/61, BGHSt 16, 184, 186 f.), oder bei den Varianten des Diebstahls oder der Hehlerei oder der Beihilfe zum Diebstahl in Tateinheit mit Hehlerei (Senat, Urteil vom 30. Juni 1960 - 2 StR 275/60, BGHSt 15, 63, 64 ff.). Ferner wurde in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs angenommen, dass Erschwerungsgründe bei einer der Alternativen einer gesetzesalternativen Wahlfeststellung nicht entgegenstehen, wenn die Grundgestaltung rechtsethisch und psychologisch vergleichbare Tatbestände betrifft (BGH, Urteil vom 17. Oktober 1957 - 4 StR 73/57, BGHSt 11, 26, 28). In einem solchen Fall muss sich die Verurteilung auf das Vergleichbare beschränken, so etwa bei den Alternativen von schwerem Raub oder Unterschlagung, wobei auf Diebstahl oder Unterschlagung erkannt wird (BGH, Urteil vom 15. Mai 1973 - 4 StR 172/73, BGHSt 25, 182, 183 f. mit Anm. Hruschka NJW 1973, 1804 ff.; anders für Raub oder Hehlerei BGH, Urteil vom 11. November 1966 - 4 StR 387/66, BGHSt 21, 152, 153 f.).
17
5. Der Bundesgesetzgeber hat darauf hingewiesen, bei der aufgehobenen Regelung des § 2b RStGB habe es sich nicht um typisch nationalsozialistisches Recht gehandelt. Die obersten Gerichte hätten sich wieder der Rechtsprechung des Reichsgerichts angeschlossen. Der Bundesgerichtshof sei zum Teil darüber hinausgegangen. Unter diesen Umständen könne die Frage, wie die Grenzen für die Zulässigkeit von wahlweisen Schuldfeststellungen zu ziehen sind, "der Rechtsprechung und dem Schrifttum überlassen" werden (BTDrucks. I/3713 S. 19).

IV.

18
1. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat insgesamt am Ansatz des Reichsgerichts festgehalten, dessen richterrechtliche Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit von gesetzesalternativen Verurteilungen aber so ausgedehnt, dass von einer grundsätzlichen Anerkennung der Wahlfeststellung gesprochen wird. Die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Rechtsfigur der echten Wahlfeststellung hat das Regel- und Ausnahmeverhältnis verschoben , jedoch ihren Rechtscharakter als richterrechtliche Ausnahme von den Grundsätzen "nullum crimen sine lege" und "nulla poena sine lege" nicht verändert. Es wurden auch keine neuen Gründe für ihre Legitimation genannt. Die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG ist nicht gestellt worden. Auch Richterrecht ist aber an Art. 103 Abs. 2 GG zu messen, soweit es materiellrechtlicher Natur ist (vgl. BGH, Urteil vom 22. August 1996 - 4 StR 217/96, BGHSt 42, 235, 241). Die Nachprüfung ergibt, dass eine gesetzesalternative Verurteilung, auch in den Fällen der Alternative von Diebstahl oder Hehlerei, mit dem Gesetzesvorbehalt für das Strafrecht gemäß Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar ist.
19
2. Es handelt sich bei der gesetzesalternativen Wahlfeststellung nicht nur um richterrechtliche Rechtsfortbildung im Bereich des Strafverfahrensrechts, für die Art. 103 Abs. 2 GG nicht gelten würde. Vielmehr wirkt die Rechtsfigur strafbegründend ; sie verletzt daher das Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG.
20
a) Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.
21
Daraus folgt ein strenger Gesetzesvorbehalt für das Strafrecht, der die Strafgerichte auf bloße Rechtsanwendung beschränkt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Januar 1995 - 1 BvR 718/89 u.a., BVerfGE 92, 1, 12) und richterrechtliche Rechtsfortbildung mit strafbegründender Wirkung ausschließt (vgl. Kunig in: von Münch/Kunig, GG, 6. Aufl., Art. 103 Rn. 26). Der Gesetzgeber hat durch Festlegung der tatbestandlichen Voraussetzungen zu entscheiden, ob und in welchem Umfang ein bestimmtes Rechtsgut mit den Mitteln des Strafrechts verteidigt werden muss. Den Strafgerichten ist es verwehrt, die gesetzgeberischen Entscheidungen in strafausdehnender Weise zu korrigieren (BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09 u.a., BVerfGE 130, 1, 43). Dies gilt auch, wenn durch die Gesetzesbindung Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen wie das vom Strafgesetz erfasste Verhalten. Aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit der Strafbarkeit folgt ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Ausgeschlossen ist jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer Sanktionsnorm hinausgeht (BVerfG, Beschluss vom 23. Oktober 1991 - 1 BvR 850/88, BVerfGE 85, 69, 78). Auch dürfen einzelne Tatbestandsmerkmale nicht so ausgelegt werden, dass sie in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen; es besteht ein Verbot der "Entgrenzung" oder "Verschleifung" von Tatbestandsmerkmalen (BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 - 2 BvR 2559/08 u.a., BVerfGE 127, 170, 198).
22
An diesem Maßstab gemessen ist die gesetzesalternative Verurteilung mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar.
23
b) Art. 103 Abs. 2 GG bezieht sich nur auf die materiellen Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Strafandrohung, nicht auf Regeln des Strafverfahrensrechts (vgl. Kudlich in: Kudlich/Montiel/Schuhr [Hrsg.], Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012, S. 233, 239 ff. mwN). Von Befürwortern der gesetzesalternativen Wahlfeststellung wird zu deren Legitimation angenommen, es handele sich um eine prozessuale Gestaltung (vgl. Nüse GA 1953, 33, 38; Wolter GA 2013, 271, 273), weil die alternativ in Frage kommenden Straftatbestände gesetzlich bestimmt seien und die Entscheidung nur von der Anwendung des Zweifelssatzes abhängig sei. Diese Argumentation greift indes zu kurz. Die gesetzesalternative Wahlfeststellung wirkt vielmehr auch im materiellrechtlichen Sinn strafbarkeitsbegründend.
24
aa) Materielles Strafrecht umfasst die Gesamtheit der Rechtsnormen, die bestimmte, für das gesellschaftliche Zusammenleben als schädlich angesehene Handlungen definieren und unter Strafe stellen sowie die Art und Höhe der jeweiligen Strafe bestimmen (BVerfG, Urteil vom 10. Februar 2004 - 2 BvR 834, 1588/02, BVerfGE 109, 190, 212). Strafverfahrensrecht betrifft dagegen die verfahrensmäßigen Voraussetzungen der Verfolgung von Straftaten sowie die Art und Weise ihrer Durchführung. Das Strafverfahrensrecht hat im Verurteilungsfall die Findung eines bestimmten Schuldspruchs zum Ziel und entspricht insoweit dem materiellen Strafrecht, das nur scharf voneinander abgegrenzte Straftatbestände kennt (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 1966 - 4 StR 387/66, BGHSt 21, 152). Das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG und der Schuldgrundsatz verlangen, dass der Richter die tatsächlichen Voraussetzungen des Straftatbestands feststellt (vgl. Alwart GA 1992, 545, 561).
25
bb) Die gesetzesalternative Wahlfeststellung ist nicht nur, wie etwa der Zweifelssatz, eine Entscheidungsregel; denn die Rechtsfigur beeinflusst die Entscheidung durch die Vorgabe, dass bei einer exklusiven Sachverhaltsalternativität nicht nur eine bestimmte Verurteilung oder ein Freispruch in Frage kommen, sondern auch eine dritte Entscheidungsvariante. Insoweit steht die Rechtsfigur der gesetzesalternativen Wahlfeststellung im Spannungsverhältnis zum Zweifelssatz.
26
Wenn die Voraussetzungen der alternativ in Frage kommenden Strafnormen jeweils nicht sämtlich zur Überzeugung des Tatgerichts feststellbar sind, führt die gesetzesalternative Verurteilung, die keinen eindeutigen Schuldspruch anhand des mildesten Gesetzes zulässt (vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 1973 - 4 StR 172/73, BGHSt 25, 182, 186), nicht zur Anwendung einer der in Frage kommenden Strafnormen (vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezember 1958 - 4 StR 411/58, BGHSt 12, 386, 389), sondern zur Aburteilung nur aufgrund eines gemeinsamen Unrechtskerns; denn aus der exklusiven Alternativität von zwei Verdachtsfällen ergibt sich eine die Aburteilung tragende Sachverhaltsgewissheit nur in Bezug auf einen solchen Unrechtskern; sie lassen sich dagegen nicht zu einer einheitlichen Schuldfeststellung verbinden (vgl. Alwart GA 1992, 545, 565). Schließen sich die in Betracht kommenden Tatbestände gegenseitig aus, fehlt in der Wahlfeststellungssituation jeweils der Nachweis eines Tatbestandsmerkmals bei beiden Strafnormen. Die wahldeutige Verurteilung erfolgt nur aufgrund eines "Rumpftatbestands" (vgl. Günther, Verurteilungen im Strafprozess trotz subsumtionsrelevanter Tatsachenzweifel, 1976, S. 262 ff.). Dies läuft auf eine "Entgrenzung" von Tatbeständen oder auf "Verschleifung" zweier Straftatbestände durch alternative Vereinigung der Einzelvoraussetzungen hinaus , die über die Verschleifung von verschiedenen Tatbestandsmerkmalen einer einzigen Strafnorm (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 - 2 BvR 2559/08, 105, 491/09, BVerfGE 126, 170, 198) noch weit hinausgeht. Die Verurteilung beruht nämlich praktisch auf einer ungeschriebenen dritten Norm (vgl. Endruweit, Die Wahlfeststellung und die Problematik der Überzeugungsbildung, der Identitätsbestimmung, der Urteilssyllogistik sowie der sozialen und personalen Gleichwertigkeit von Straftaten, 1973, S. 270; Freund in: Festschrift für Wolter , 2013, S. 35, 49; AnwK/Gaede, StGB, § 1 Rn. 51; Köhler, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1997, S. 96; Lobe GS 104 [1934], S. 161, 166; H. Mayer, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1953, S. 417), die - angeblich - übereinstimmende Unrechtselemente der beiden gerade nicht zur Anwendung gelangenden Normen in sich vereinigen soll. Da es an einem gemeinsamen Tatbestandsmerkmal fehlt, wird dies in Gestalt einer - angeblichen - rechtsethischen "Vergleichbarkeit" fiktiv ergänzt (hierzu im Folgenden).
27
Die materiellrechtliche Einordnung der Rechtsfigur der echten Wahlfeststellung wird durch ihre Erweiterung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestätigt. Sie hat das Kriterium der rechtsethischen und psychologi- schen Vergleichbarkeit der in Frage kommenden Straftatbestände als Voraussetzung für die Zulassung einer gesetzesalternativen Aburteilung entwickelt. Dabei handelt es sich zweifelsohne um ein materiell-rechtliches Element (vgl. Montenbruck, Wahlfeststellung und Werttypus in Strafrecht und Strafprozessrecht , 1976, S. 219), anhand dessen über das Vorliegen von Schuld und das Erfordernis von Strafe entschieden wird.
28
Eine rechtsethische Gleichwertigkeit ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann gegeben, wenn bei Berücksichtigung aller Umstände, die den Unrechtscharakter der Straftatbestände ausmachen, den möglichen Taten im Rechtsempfinden der Allgemeinheit eine ähnliche sittliche Bewertung zuteil wird; psychologische Gleichwertigkeit liegt nur bei einer einigermaßen gleichgearteten seelischen Beziehung des Täters zu den alternativ in Frage kommenden Verhaltensweisen vor (BGH, Urteil vom 18. September 1984 - 4 StR 483/84, NStZ 1985, 123). Damit füllt das Kriterium die Lücke zwischen den alternativ in Frage kommenden Tatbeständen und erfüllt die Funktion eines Tatbestandsmerkmals der ungeschriebenen dritten Strafnorm.
29
Wäre die gesetzesalternative Wahlfeststellung dagegen nur ein verfahrensrechtliches Institut, so bedürfte es des Abgrenzungskriteriums nicht. Dann wäre jedoch die unbegrenzte Möglichkeit zur gesetzesalternativen Wahlfeststellung eröffnet (dafür etwa Dreher MDR 1957, 179, 180; von Hippel NJW 1963, 1533 ff.; Zeiler ZStW 72 [1960], 4, 20), die durch Aufhebung von § 2b RStGB gerade entfallen ist.
30
Besitzt die Konstruktion der gesetzesalternativen Wahlfeststellung aber einen materiellrechtlichen Regelungsgehalt, so ist ihre Zulässigkeit insgesamt am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen (vgl. NK/Frister, StGB Nach § 2 Rn. 81).
31
c) Das grundrechtsgleiche Recht des Angeklagten aus Art. 103 Abs. 2 GG enthält keine Schranke, die eine richterrechtliche Ausnahme gestatten könnte. Auf Abwägungen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der nur eine "Schranken-Schranke" bilden würde, kommt es daher ebenfalls nicht an; denn der Verfassungsgeber selbst hat die Abwägung der gegenläufigen rechtsstaatlichen Gesichtspunkte mit Art. 103 Abs. 2 GG bereits zugunsten eines uneingeschränkten Gesetzesvorbehalts für das Strafrecht getroffen. Daher ist es nicht zulässig, das Gesetzlichkeitsprinzip mit Hinweis auf Gebote materieller Strafgerechtigkeit durch Richterrecht zu beschränken. Die zur Legitimation der gesetzesalternativen Wahlfeststellung angeführten Gründe, die ausschließlich auf einer Abwägung von Gerechtigkeitsüberlegungen und kriminalpolitischen Erwägungen beruhen (vgl. RG, Beschluss vom 2. Mai 1934 - 1 D 1096/33, RGSt 68, 257, 260), halten einer Überprüfung anhand der Verfassungsnorm nicht stand.
32
Der vom Reichsgericht angenommene Missstand im Fall der Nichtfeststellbarkeit von Diebstahl oder Hehlerei als Ursache für den festgestellten Gewahrsam eines Angeklagten an gestohlenen Gegenständen (RG aaO, RGSt 68, 257, 262) ist auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, welche die gesetzesalternative Wahlfeststellung zur "Vermeidung lebensfremder und der Gerechtigkeit widersprechender Ergebnisse" fordert (BGH, Urteil vom 4. Dezember 1958 - 4 StR 411/58, BGHSt 12, 386, 388), als tragender Grund für die Rechtsfigur angeführt worden. Soweit sie in der Literatur befürwortet wird, werden ebenfalls nur die Einzelfallgerechtigkeit und kriminalpolitische Bedürfnisse zur Begründung genannt (LK/Dannecker, 12. Aufl., Anh. § 1 Rn. 8; Maurach/Zipf, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Aufl., § 10 III Rn. 26; SSW/Satzger, StGB, 2. Aufl., § 1 Rn. 71). Das allgemeine Rechtsempfinden und die bloße Behauptung eines Strafbedürfnisses können aber keine Aufweichung des Gesetzlichkeitsprinzips rechtfertigen.
33
d) Die gesetzesalternative Verurteilung kann sich schließlich nicht auf eine gesetzgeberische Entscheidung außerhalb der alternativ in Frage kommenden Straftatbestände stützen. Daher kann ein bewusstes Offenlassen der Frage durch den Gesetzgeber der Reichsjustizgesetze (Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Bd. 3, S. 223) und durch den Bundesgesetzgeber (BT-Drucks. I/3713 S. 19) die richterrechtliche Wahlfeststellung nicht legitimieren.
34
Der Gesetzgeber des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes (Strafrechtsbereinigungsgesetz ), hat sich nach einer anfänglichen Regelungsankündigung (Nüse GA 1953, 33, 40) "wohlweislich gehütet", eine dem § 2b RStGB entsprechende Regelung wiedereinzuführen (vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Bd. II, 1957, § 244 Rn. 16). Er hat zwar mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bewusst auch von einer begrenzten Regelung abgesehen (BT-Drucks. I/3713 S. 19). Der Gesetzgeber kann sich indes der Aufgabe, die Voraussetzungen der Strafbarkeit selbst zu bestimmen, nicht durch Verweis auf mögliches Richterrecht entziehen.
35
3. Im Übrigen müssen nach Art. 103 Abs. 2 GG auch die Grundlagen der Strafbemessung eindeutig sein ("nulla poena sine lege"). Dem Gesetz muss nicht nur entnommen werden, wann Strafen einer bestimmten Art zu verhängen sind und welcher Strafrahmen dafür gilt, sondern auch nach welchen Leitgesichtspunkten innerhalb dieses Rahmens die Zumessung der Strafe zu erfolgen hat (vgl. BVerfG, Urteil vom 20. März 2002 - 2 BvR 794/95, BVerfGE 105, 135, 164). Zur Herbeiführung einer der Schuld des Täters angemessenen Strafe reicht nicht nur ein quantitativer Strafrahmenvergleich der alternativ in Frage kommenden Normen aus, sondern es muss auch die Qualität der Strafe mit Blick auf eine bestimmte strafbare Handlung und diesbezügliche Schuld bewer- tet werden. Der Strafgrund liegt in der konkret begangenen Tat, die auch deshalb nicht durch gesetzesalternative Verurteilung offen gelassen werden darf.
36
Bleibt für den Strafrichter unklar, welche Unrechtshandlung überhaupt begangen wurde und welche Strafnorm einschlägig ist, so kann seine Strafzumessung aufgrund einer nur per Saldo festgestellten Schuld des Angeklagten nicht im Einklang mit der gesetzlichen Vorwertung erfolgen (vgl. Alwart GA 1992, 545, 562 ff.). Lässt der Strafrichter offen, welcher Straftatbestand anzuwenden ist und greift er nur auf den geringsten Strafrahmen aus den Alternativen zurück, begleiten zwangsläufig Ungenauigkeiten den Strafzumessungsvorgang ; diese sind mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar (vgl. BVerfG aaO, BVerfGE 105, 135, 159 für die Vermögensstrafe). Die Umwertung der Verhaltensnormverletzung in ein Strafquantum gelingt bei der gesetzesalternativen Wahlfeststellung nicht im Einklang mit einem bestimmten Gesetz (vgl. Jakobs GA 1971, 257, 268 f.). Das macht der vorliegende Fall deutlich: Geht es entweder um Einbruchsdiebstähle durch Mittäter mit großem Sachschaden und mit umfangreicher Diebesbeute oder um eine später - auch als andere Tat im prozessualen Sinn - begangene Hehlerei durch Alleintäter in Bezug auf einzelne Beutestücke, so sind die Tatbilder derart verschieden, dass sie bei der Strafbemessung nicht alternativ als Grundlage einer gesetzeskonformen Strafzumessung dienen können. Weder besteht Gleichartigkeit des besonderen Unrechtscharakters der alternativ in Frage kommenden Sachverhalte und Tatbestände (vgl. Zeiler ZStW 72 [1960], 4, 16), noch dieselbe seelische Beziehung des Täters zur Tat (vgl. Dreher MDR 1970, 369; Montenbruck GA 1988, 531, 537; J. Schulz in: Bemmann/Zweihoff [Hrsg.], Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft , 2007, 1, 7).
37
4. Die Anfrage des Senats beschränkt sich auf die richterrechtliche Rechtsfigur der gesetzesalternativen Wahlfeststellung. Die oben dargelegten Einwände gelten nicht, wenn unter Beachtung des Art. 103 Abs. 2 GG ein eindeutiger Schuldspruch möglich ist. Fischer Schmitt Eschelbach Ott Zeng

(1) Beim Bundesgerichtshof werden ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen gebildet. Die Großen Senate bilden die Vereinigten Großen Senate.

(2) Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen, so entscheiden der Große Senat für Zivilsachen, wenn ein Zivilsenat von einem anderen Zivilsenat oder von dem Großen Zivilsenat, der Große Senat für Strafsachen, wenn ein Strafsenat von einem anderen Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen, die Vereinigten Großen Senate, wenn ein Zivilsenat von einem Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen oder ein Strafsenat von einem Zivilsenat oder von dem Großen Senat für Zivilsachen oder ein Senat von den Vereinigten Großen Senaten abweichen will.

(3) Eine Vorlage an den Großen Senat oder die Vereinigten Großen Senate ist nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, daß er an seiner Rechtsauffassung festhält. Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befaßt werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, zuständig wäre. Über die Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch Beschluß in der für Urteile erforderlichen Besetzung; § 97 Abs. 2 Satz 1 des Steuerberatungsgesetzes und § 74 Abs. 2 Satz 1 der Wirtschaftsprüferordnung bleiben unberührt.

(4) Der erkennende Senat kann eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

(5) Der Große Senat für Zivilsachen besteht aus dem Präsidenten und je einem Mitglied der Zivilsenate, der Große Senate für Strafsachen aus dem Präsidenten und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Legt ein anderer Senat vor oder soll von dessen Entscheidung abgewichen werden, ist auch ein Mitglied dieses Senats im Großen Senat vertreten. Die Vereinigten Großen Senate bestehen aus dem Präsidenten und den Mitgliedern der Großen Senate.

(6) Die Mitglieder und die Vertreter werden durch das Präsidium für ein Geschäftsjahr bestellt. Dies gilt auch für das Mitglied eines anderen Senats nach Absatz 5 Satz 2 und für seinen Vertreter. Den Vorsitz in den Großen Senaten und den Vereinigten Großen Senaten führt der Präsident, bei Verhinderung das dienstälteste Mitglied. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 A R s 1 4 / 1 4
vom
24. Juni 2014
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei
hier: Antwort auf den Anfragebeschluss des 2. Strafsenats vom
28. Januar 2014 – 2 StR 495/12
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. Juni 2014 gemäß § 132
Abs. 3 GVG beschlossen:
Die gesetzesalternative (ungleichartige) Wahlfeststellung verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG; eine Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei auf wahldeutiger Tatsachengrundlage ist zulässig.

Gründe:

1
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs beabsichtigt zu entscheiden: „1. Dierichterrechtlich entwickelte Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG. 2. Eine wahldeutige Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei ist daher unzulässig.“
2
Die ständige Rechtsprechung des 1. Strafsenats steht der beabsichtigten Entscheidung des 2. Strafsenats entgegen (vgl. bereits Senat, Urteile vom 2. Oktober 1951 – 1 StR 353/51, BGHSt 1, 327, 328, und vom 12. Januar 1954 – 1StR 631/53, BGHSt 5, 280; zuletzt Beschluss vom 5. März 2013 – 1 StR 613/12, NStZ 2014, 42). Der Senat hält an dieser Rechtsprechung fest: Bei der gesetzesalternativen (ungleichartigen) Wahlfeststellung handelt es sich um eine prozessuale Entscheidungsregel, auf die Art. 103 Abs. 2 GG keine Anwendung findet (I.). Selbst wenn dieser Regel ein materiell-rechtlicher Gehalt zukommt, liegt kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG vor (II.). Dies entspricht im Ergebnis der Ansicht des Gesetzgebers (III.). Das einschränkende Merkmal der „rechtsethischen und psychologischen“ Gleichwertigkeit der verschiedenen Straftaten stellt sicher, dass die Rechtsfolgenentscheidung trotz Tatsachenalternativität an einen ausreichend einheitlichen Schuldvorwurf anknüpfen kann (IV.).

I.

3
Bei den Regeln zur gesetzesalternativen (ungleichartigen) Wahlfeststellung handelt es sich um Verfahrensregeln, die nicht Art. 103 Abs. 2 GG unterfallen.
4
1. Eine Verurteilung wegen alternativ verwirklichter Straftatbestände auf wahldeutiger Tatsachengrundlage ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann vorzunehmen, wenn im Rahmen des angeklagten Geschehens nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten der Sachverhalt nicht in einer solchen Weise aufgeklärt werden kann, dass die Feststellung eines bestimmten Straftatbestandes möglich ist, aber sicher feststeht, dass der Angeklagte einen von mehreren alternativ in Betracht kommenden Tatbeständen verwirklicht hat, und andere Möglichkeiten sicher ausgeschlossen sind (vgl. Senat, Beschluss vom 5. März 2013 – 1 StR 613/12, NStZ 2014, 42). Weitere einschränkende Voraussetzung ist, dass die verschiedenen möglichen Straftaten rechtsethisch und psychologisch gleichwertig sind. Rechtsethisch gleichwertig sind die möglichen Taten dann, wenn ihnen im allgemeinen Rechtsempfinden eine gleiche oder doch ähnliche sittliche Bewertung zuteil wird; psychologische Gleichwertigkeit erfordert eine einigermaßen gleichgeartete seelische Beziehung des Täters zu den mehreren in Frage stehenden Verhaltensweisen (vgl. grundlegend BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 15. Oktober 1956 – GSSt 2/56, BGHSt 9, 390, 394; BGH, Urteil vom 11. November 1966 – 4 StR 387/66, BGHSt 21, 152, 153). In allen anderen Fällen, in denen ein Sachverhalt nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht eindeutig festgestellt werden kann, ist der Angeklagte nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ entweder frei- zusprechen oder – sofern nicht trotz Tatsachenalternativität der Schuldspruch unzweifelhaft ist – zu seinen Gunsten nach dem milderen Gesetz mit eindeutigem Schuldspruch zu verurteilen (hierzu im Einzelnen umfassend Sander, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2012, § 261 Rn. 125 ff. mwN). Hierdurch wird insgesamt ausgeschlossen, dass zum Nachteil des Angeklagten ein Schuldumfang zugrunde liegt, durch den der Angeklagte beschwert wird.
5
2. Strukturell handelt es sich bei der gesetzesalternativen Wahlfeststellung damit um eine besondere Entscheidungsregel bei Nichtaufklärbarkeit des Sachverhalts. Diese Entscheidungsregel bestimmt nicht darüber, was strafbar ist, sondern legt lediglich fest, in welcher Weise das Gericht in einer bestimmten prozessualen Situation prozessual zu reagieren hat. Das einschränkende Merkmal der „rechtsethischen und psychologischen Gleichwertigkeit“ ist hierfür nicht konstitutiv, sondern legt dieser Entscheidungsregel Schranken auf, damit für die Rechtsfolgenentscheidung an einen einheitlichen Unrechts- und Schuldkern angeknüpft werden kann. Die gesetzesalternative Wahlfeststellung gehört deshalb dem Verfahrensrecht an (so bereits ausdrücklich die Grundsatzentscheidung der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts, Beschluss vom 2. Mai 1934 – 1 D 1096/33, RGSt 68, 257, 262).
6
3. Weil es sich um eine prozessuale Entscheidungsregel handelt, die sich auf gesetzlich festgelegte Straftatbestände stützt, wird die gesetzesalternative Wahlfeststellung nicht vom Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG erfasst (vgl. Sander, aaO, § 261 Rn. 145 m. Fn. 1024; Stuckenberg, in: KMRStPO , Loseblatt, 68. EL, § 261 Rn. 106; Wolter, GA 2013, 271, 274 ff.).

II.

7
Im Übrigen liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG auch deshalb nicht vor, weil die Strafbarkeit in Fällen gesetzesalternativer Wahlfeststellung durch den Gesetzgeber bestimmt und für den Normunterworfenen vorhersehbar ist.
8
1. Art. 103 Abs. 2 GG dient dem rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten. Jeder soll vorhersehen können, welches Verhalten mit einer Sanktion bedroht ist. Zudem soll der Gesetzgeber über die Erfüllung des Tatbestandes entscheiden und diese Entscheidung über die Sanktionierung eines Verhaltens nicht der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt überlassen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. Januar 2014 – 2 BvR 299/13, NJW 2014, 1431, 1432). Der Gesetzgeber und nicht der Richter ist zur Entscheidung über die Strafbarkeit berufen. Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich und notwendig erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will. Den Gerichten ist es verwehrt, seine Entscheidung zu korrigieren. Aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit folgt anerkanntermaßen ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Dabei ist „Analogie“ nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die – tatbestandsausweitend – über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht, wobei der mögliche Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 – 2 BvR 2559/08, 105/09 und 491/09, BVerfGE 126, 170, 194 f. mwN).
9
2. Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben wird die gesetzesalternative Wahlfeststellung gerecht.
10
a) Die Strafbarkeit des abgeurteilten Verhaltens ist durch die Strafnormen des Strafgesetzbuchs vorgegeben. Der Angeklagte wird bei der gesetzesalternativen Wahlfeststellung nicht etwa nach einer nicht existierenden, von der Rechtsprechung „erfundenen“ Strafnorm verurteilt, sondern aus einem vom Gesetzgeber ausdrücklich bestimmten Straftatbestand. Die Strafbarkeit des Verhaltens legt dabei allein der Gesetzgeber fest, nicht der Richter. Nur wenn dem Angeklagten ein vom Gesetzgeber ausdrücklich als strafbar angesehenes Verhalten nachgewiesen werden kann, darf er verurteilt werden. Die gesetzesalternative Wahlfeststellung besagt lediglich, dass in Fällen sicherer Strafbarkeit , aber unsicheren Tatsachenverlaufs eine bestimmte Form der Entscheidung zu wählen ist, und zwar einschränkend nur dann, wenn die sicher anzunehmende Strafbarkeit im Kern einen vergleichbaren Schuldvorwurf begründet.
11
b) Für den Normadressaten ist in den Fällen der gesetzesalternativen Wahlfeststellung jederzeit vorhersehbar, welches Verhalten strafbar ist und welches nicht. Eine Ausdehnung der strafbewehrten Verhaltensanforderungen geht mit der gesetzesalternativen Wahlfeststellung nicht einher. In dem vom 2. Strafsenat zu entscheidenden Fall konnten die Angeklagten etwa unschwer erkennen, dass sowohl der Diebstahl als auch die Hehlerei strafbar sind, und ihr Verhalten entsprechend einrichten.

III.

12
Diese Auffassung entspricht im Ergebnis der Einschätzung des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber hat sich im Rahmen der Überlegungen zum 3. Strafrechtsänderungsgesetz ausdrücklich die Frage gestellt, ob er die gesetzesalternative Wahlfeststellung gesetzlich regeln soll oder nicht. In den Gesetzesmaterialien , die der Beschlussfassung des Deutschen Bundestages zugrunde lagen (vgl. Plenarprotokolle vom 30. Oktober 1952, S. 10869, vom 12. Mai 1953, S. 12992 ff., vom 11. Juni 1953, S. 13310 und vom 3. Juli 1953, S. 14072 f.), heißt es dazu (BT-Drucks. I/3713 S. 19): „Mit der Bereinigung des Strafgesetzbuches soll gleichzeitig zum Aus- druck kommen, daß, soweit der Entwurf nicht eingreift, Änderungen des Strafgesetzbuchs durch die Gesetzgebung der nationalsozialistischen Zeit und der Besatzungsmächte, die von den bisherigen Strafrechtsänderungsgesetzen nicht angetastet wurden, vorbehaltlich einer eigentlichen Reform vom Gesetzgeber anerkannt werden. Das bedeutet nicht immer, daß Vorschriften, die durch die Besatzungsmächte aufgehoben wurden, nationalsozialistischen Charakter trugen. Insbesondere enthielt der aufgehobene § 2 b (Wahlweise Verurteilung) kein nationalsozialistisches Gedankengut. Wenn der Entwurf davon absieht, die Vorschrift zu erneuern, so geschieht das aus folgenden Erwägungen: In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist erneut anerkannt worden, daß wahlweise Schuldfeststellungen nicht grundsätzlich ausgeschlossen sind. Die obersten Gerichte haben sich daher im wesentlichen der Rechtsprechung des Reichsgerichts angeschlossen, wie sie vor der Einfügung des § 2 b in der Plenarentscheidung vom 2. Mai 1934 (RGSt 68, 257) ihren Niederschlag gefunden hatte. Zum Teil ist der Bundesgerichtshof bereits darüber hinausgegangen. Unter diesen Umständen wird die Frage, wie die Grenzen für die Zulässigkeit von wahlweisen Schuldfeststellungen zu ziehen sind, auch in Zukunft der Rechtsprechung und dem Schrifttum überlassen wer- den können.“
13
Damit hat der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass er die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Wahlfeststellung billigt und keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf sieht, also auch keinen möglichen Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip. Dass sich an dieser Einschätzung des Gesetzgebers etwas geändert hätte, ist nicht ersichtlich.

IV.

14
Das von der Rechtsprechung entwickelte einschränkende Merkmal der „rechtsethischen und psychologischen“ Gleichwertigkeit der verschiedenen Straftaten stellt sicher, dass die Rechtsfolgenentscheidung trotz Tatsachenalternativität an einen ausreichend einheitlichen Schuldvorwurf anknüpfen kann.
15
Schon in der Grundsatzentscheidung der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts (Beschluss vom 2. Mai 1934 – 1 D 1096/33, RGSt 68, 257, 260) zur gesetzesalternativen Wahlfeststellung bei Diebstahl und Hehlerei wurde hervorgehoben, dass die „Sicherheit der Urteilsfindung“ und die „Gerechtigkeit der Urteilswirkung“ eine Einschränkung der Wahlfeststellung erforderlich ma- chen. Der Bundesgerichtshof hat in späteren Entscheidungen darauf abgestellt, dass der Täter jeweils entweder dasselbe Rechtsgut oder doch, wie im Verhältnis von Diebstahl oder Unterschlagung zur Hehlerei, in ihrem Wesen ähnliche Rechtsgüter verletzt haben muss und die in Frage stehenden mehreren Verhaltensweisen die gleiche sittliche Missbilligung verdienen müssen, weil die innere Beziehung des Täters zu ihnen im Wesentlichen gleichartig ist (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 1966 – 4 StR 387/66, BGHSt 21, 152, 154).
16
Diese Einschränkungen stellen sicher, dass der Richter für seine Rechtsfolgenentscheidung an einen gleichartigen Unrechts- und Schuldkern anknüpfen kann. Erschwerende Umstände, die nur bei einer der alternativ in Betracht kommenden Verhaltensweisen in Frage kämen, dürfen dem Angeklagten nach dem Zweifelssatz ohnehin nicht zugerechnet werden; es ist jeweils von der dem Angeklagten günstigsten Möglichkeit auszugehen (vgl. Sander, aaO, § 261 Rn. 160 ff.). Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG ist deshalb insoweit nicht zu besorgen.
17
Sofern der 2. Strafsenat im vorliegenden Fall die konkreten Tatbilder als derart verschieden ansieht, dass eine rechtsfehlerfreie Strafzumessung mangels Gleichartigkeit der alternativen Sachverhalte und mangels derselben seelischen Beziehung zur Tat ausscheiden soll (Rn. 36), wird nicht klar, ob insoweit den Grundsätzen des Zweifelssatzes hinreichend Rechnung getragen wurde oder der 2. Strafsenat sogar weitergehend den von der Rechtsprechung definierten Anwendungsbereich der Wahlfeststellung als nicht eröffnet ansieht. Raum Rothfuß Graf Radtke Mosbacher

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3AR s 1 3 / 1 4
vom
30. September 2014
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei
hier: Anfragebeschluss des 2. Strafsenats vom 28. Januar 2014 (2 StR 495/12)
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 30. September 2014 gemäß
§ 132 Abs. 3 Satz 1 GVG beschlossen:
Die beabsichtigte Entscheidung des 2. Strafsenats widerspricht der Rechtsprechung des 3. Strafsenats, der an dieser festhält.

Gründe:

1
Der 2. Strafsenat hat über die Revisionen von zwei Angeklagten zu entscheiden , die vom Landgericht jeweils wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei in neunzehn (L. ) bzw. achtzehn (E. ) Fällen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden sind. Der 2. Strafsenat hält die Verurteilung auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei für rechtsfehlerfrei. Er möchte diese Rechtsprechung jedoch aufgeben und beabsichtigt wie folgt zu entscheiden : "1. Die richterrechtlich entwickelte Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG.
2. Eine wahldeutige Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei ist daher unzulässig."
2
Hieran sieht er sich jedoch durch entgegenstehende Rechtsprechung des 3. Strafsenats gehindert (vgl. etwa Senat, Beschlüsse vom 19. Januar 2000 - 3 StR 500/99, BGHR StGB § 260 Wahlfeststellung 1; vom 31. Januar 1996 - 3 StR 563/95, BGHR StGB § 259 Abs. 1 Wahlfeststellung 2). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
3
Die Rechtsfigur der ungleichartigen (echten) Wahlfeststellung verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG (I.). Auch die aus dem Rechtsstaatsgebot folgenden Grundsätze des Schuldprinzips (II.) und der Unschuldsvermutung (III.) sind nicht betroffen.
4
I. Die richterrechtlich entwickelte Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung verletzt Art. 103 Abs. 2 GG nicht.
5
1. Diese Rechtsfigur kommt nur in Fällen zur Anwendung, in denen nach Ausschöpfung aller Beweismittel zwar feststeht, dass der Angeklagte gegen einen von mehreren Straftatbeständen verstoßen hat, aber nicht weiter aufklärbar ist, gegen welchen dieser Tatbestände. Der Sache nach handelt es sich bei der Wahlfeststellung damit um eine Entscheidungsregel, die, indem sie vorgibt, wie bei einer solchen Unaufklärbarkeit zu entscheiden ist, grundsätzlich mit dem Zweifelssatz vergleichbar ist. Da sie aber bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen - anders als der Grundsatz "in dubio pro reo" - für den Fall der sich gegenseitig ausschließenden Sachverhaltsalternativen nicht zu einer bestimmten Verurteilung oder zum Freispruch gelangt, sondern im Schuldspruch zu einer wahldeutigen Verurteilung bei Festsetzung der für die am wenigsten schwerwiegende Sachverhaltsalternative angemessenen Strafe (vgl. SK-StGB/Wolter [Stand: Oktober 2013], Anh. zu § 55 Rn. 5a), mag die Wahlfeststellung in der Tat in einem Spannungsverhältnis zum Zweifelssatz stehen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2014 - 2 StR 495/12, NStZ 2014, 392, 394); dies ent- spricht - mit Unterschieden im Detail - der überwiegenden Auffassung in der Literatur (vgl. LK/Dannecker, StGB, 12. Aufl., Anh. zu § 1 Rn. 8; SSWStGB /Satzger, 2. Aufl., § 1 Rn. 71: Durchbrechung des Zweifelssatzes; MüKoStGB/Schmitz, 2. Aufl., Anh. zu § 1 Rn. 12: Einschränkung; SKStGB /Wolter aaO, Anh. zu § 55 Rn. 5c; ders., GA 2013, 271, 276: Wahlfeststellung variiert den in-dubio-Satz; aA Nüse, GA 1953, 33, 38; Stuckenberg, ZIS 2014, 461, 468: Wahlfeststellung berührt den Zweifelssatz nicht), ändert indes nichts an der Eigenschaft dieses Rechtsinstituts als Entscheidungsregel, durch die die verfahrensrechtliche Frage beantwortet wird, wie mit der genannten Beweissituation umzugehen ist (vgl. Stuckenberg aaO; SK-StGB/Wolter aaO, Anh. zu § 55 Rn. 5a; Günther, Verurteilungen im Strafprozess trotz subsumtionsrelevanter Zweifel, S. 263). Solche prozessualen Regelungen werden von Art. 103 Abs. 2 GG jedoch nicht erfasst (Kudlich in Kudlich/Montiel/Schuhr, Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012, 233, 239 ff.).
6
Ob die ungleichartige Wahlfeststellung daneben auch Elemente enthält, die dem materiellen Strafrecht zuzuordnen sind, kann offen bleiben. Weder wird dadurch die Reichweite der in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltenen Gewährleistung verändert, noch wird durch eine solche Zuordnung dessen Anwendungsbereich ohne weiteres eröffnet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Mai 1994 - 2 BvR 746/94, NStZ 1994, 480 zur Ruhensregelung des § 78b Abs. 4 StGB). Für die Anwendbarkeit von Art. 103 Abs. 2 GG ist alleine entscheidend, ob die ungleichartige Wahlfeststellung strafbarkeitsbegründend wirkt oder in ihrer Konsequenz dazu führt, dass Art und Maß der Strafe nicht mehr vom Gesetzgeber vorgegeben sind (zum Gewährleistungsgehalt des Art. 103 Abs. 2 GG im Einzelnen vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09 u.a., NStZ 2012, 496, 503); dies ist nicht der Fall.
7
2. Das Rechtsinstitut der ungleichartigen Wahlfeststellung wirkt nicht strafbarkeitsbegründend und berührt damit nicht den Grundsatz "nullum crimen sine lege". Es bestimmt nicht die Voraussetzungen, unter denen das Verhalten des Angeklagten als strafbar zu qualifizieren ist. Diese folgen aus den alternativ in Betracht kommenden Straftatbeständen. Die Rechtsfigur regelt alleine - in den Fällen der ungleichartigen ebenso wie in denen der gleichartigen Wahlfeststellung - wie dem zweifelsfrei strafbaren Verhalten des Angeklagten eine Rechtsfolge gegeben werden soll. Betroffen ist nicht das "Ob" der Strafbarkeit, sondern das "Wie" der Schuldspruchfassung und Rechtsfolgenbestimmung (vgl. SK-StGB/Wolter aaO, Anh. zu § 55 Rn. 5a). Der Zweck des Gesetzlichkeitsprinzips , für den Angeklagten seine Bestrafung vorhersehbar zu halten (BVerfG, Urteil vom 20. März 2002 - 2 BvR 794/95, BVerfGE 105, 135, 153), wird nicht tangiert. Vielmehr muss der Täter im Tatzeitpunkt damit rechnen, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden (so auch Freund in Festschrift Wolter, 2013, 35, 36).
8
Grundlage der Bestrafung des Angeklagten ist in den Fällen der ungleichartigen Wahlfeststellung insbesondere keine ungeschriebene dritte Norm, die übereinstimmende Unrechtselemente der beiden nicht unzweifelhaft zur Anwendung gelangenden Strafgesetze in sich vereinigen würde (so aber Endruweit , Die Wahlfeststellung und die Problematik der Überzeugungsbildung, der Identitätsbestimmung, der Urteilssyllogistik sowie der sozialen und personalen Gleichwertigkeit von Straftaten, 1973, 269 f. unter Berufung auf v. Bar, GA 15 [1867] 569, 574; Freund aaO, 49; dagegen überzeugend Stuckenberg aaO, 469 f.). Nach der logischen Struktur der Wahlfeststellung wird gerade nicht eindeutig wegen einer "zwischen" den gesetzlichen Tatbeständen liegenden Handlung verurteilt. Vielmehr muss in jeder in Betracht kommenden Sachverhaltsva- riante jeweils ein Straftatbestand vollständig erfüllt sein. Nur in diesem Fall ist ein alternativ zu fassender Schuldspruch zulässig.
9
Dass der vom Gericht zu treffende Schuldspruch stets bestimmt sein müsse, lässt sich Art. 103 Abs. 2 GG zudem nicht entnehmen (so auch NKStGB -Frister, 4. Aufl., Nachbemerkungen zu § 2 Rn. 77; SK-StPO/Velten, 4. Aufl., § 261 Rn. 103; KMR-Stuckenberg [Stand: August 2013], § 261 Rn. 149; SK-StGB/Wolter aaO, Anh. zu § 55 Rn. 5b; ders., GA 2013, 271, 274 ff.).
10
Aus dem Umstand, dass eine Verurteilung im Falle der ungleichartigen Wahlfeststellung nach den richterrechtlich entwickelten Grundsätzen nur zulässig ist, wenn die in Betracht kommenden Straftatbestände rechtsethisch und psychologisch vergleichbar sind, ergibt sich nichts anderes. Diese Anwendungsvoraussetzung wirkt nicht strafbarkeitsbegründend, sondern schränkt den Anwendungsbereich der Rechtsfigur, die gemessen an Art. 103 Abs. 2 GG auch unbeschränkt zulässig wäre (KMR-Stuckenberg aaO), lediglich ein.
11
3. Die ungleichartige Wahlfeststellung verstößt nicht gegen das aus Art. 103 Abs. 2 GG folgende Gebot "nulla poena sine lege". Art und Maß der Strafe bleiben vom parlamentarischen Gesetzgeber vorgegeben, da der Angeklagte auf der Grundlage kodifizierter Straftatbestände bestraft wird.
12
Den Strafzumessungsvorgang begleiten auch keine mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht zu vereinbarenden Ungenauigkeiten. Die Strafe ist dem Gesetz zu entnehmen, das im konkreten Fall die mildeste Strafe zulässt. Der Tatrichter hat hierbei die jeweils in Betracht kommenden Strafen zu vergleichen und für sämtliche in Betracht kommenden Sachverhaltskonstellationen zu prüfen, auf welche Strafe jeweils zu erkennen wäre, wenn die eine oder die andere strafba- re Handlung nachgewiesen wäre (BGH, Urteile vom 29. Oktober 1958 - 2 StR 375/58, BGHSt 13, 70, 72; vom 15. Mai 1973 - 4 StR 172/73, BGHSt 25, 182, 186; LR/Sander, StPO, 26. Aufl., § 261 Rn. 165; LK/Dannecker aaO, Anh. zu § 1 Rn. 160; SK-StGB/Wolter aaO, Anh. zu § 55 Rn. 46; Fischer, StGB, 61. Aufl., § 1 Rn. 47). Grundlage der Bestrafung ist - wie dargelegt - weder eine ungeschriebene dritte Norm noch eine auf verschiedenen Sachverhalten gründende , per Saldo festgestellte Schuld des Angeklagten, sondern der Schuldumfang , wie er sich aus der gleichermaßen eine Strafnorm ausfüllende und den Angeklagten am meisten begünstigenden Sachverhaltsvariante ergibt (vgl. auch Wolter GA 2013, 271, 276). Dass die Strafe dabei hinter dem wahren Schuldumfang des Angeklagten zurückbleiben kann, ist keine Eigenheit der ungleichartigen Wahlfeststellung, sondern eine aus der Anwendung des Zweifelssatzes folgende Konsequenz (s. auch Stuckenberg aaO, 470 f.).
13
II. Die Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung ist weiter mit dem aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Schuldprinzip vereinbar.
14
Der Schuldgrundsatz bindet die Rechtsprechung insoweit, als die Bestrafung auf einem Schuldvorwurf gründen muss sowie Strafe und Schuld in angemessenem Verhältnis stehen müssen. Bezüglich letzterer Konkretisierung stellt das Schuldprinzip eine spezielle Ausprägung des Übermaßverbotes dar (BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2007 - 2 BvR 1050/07, wistra 2008, 179 mwN). Dass dem Angeklagten ein Schuldvorwurf zu machen ist, steht in den Fällen einer - ungleichartigen wie gleichartigen - wahldeutigen Verurteilung fest. Soweit sich aus den verschiedenen Sachverhaltsvarianten differenzierende Schuldgehalte ergeben, ist das Schuldprinzip nur in seinem Übermaßverbot betroffen. Dieses ist dadurch gewahrt, das die Strafe stets auf der dem Angeklagten günstigsten Sachverhaltsvariante gründen muss.
15
III. Auch die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende, grundgesetzlich gewährleistete Unschuldsvermutung (zu deren Gewährleistungsgehalt vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2008 - 2 BvR 1975/06, juris Rn. 9 mwN) ist durch die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur unechten Wahlfeststellung nicht betroffen. Eine Verurteilung ist in den Fällen der ungleichartigen Wahlfeststellung erst nach Ausschöpfung aller in Betracht kommenden Beweismittel möglich, wobei der Tatrichter überzeugt sein muss, dass in jeder denkbaren Sachverhaltsvariante ein strafbares Handeln des Angeklagten vorgelegen haben muss. Die Frage, welche Rechtsfolgen sich hieraus ergeben , betrifft den Grundsatz der Unschuldsvermutung nicht.
Becker Pfister Mayer
Gericke Spaniol

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
5 ARs39/14
vom
16. Juli 2014
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei
hier: Anfragebeschluss des 2. Strafsenats vom 28. Januar 2014
– 2 StR 495/12 –
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16.Juli 2014 beschlossen:
Auf den Anfragebeschluss des 2. Strafsenats vom 28. Januar 2014 – 2 StR 495/12 – erklärt der Senat, dass er an seiner Rechtsprechung zur ungleichartigen Wahlfeststellung festhält.

Gründe:

1
Die vom Gesetzgeber bewusst der Rechtsprechung und dem Schrifttum überlassene (vgl. BT-Drucks. I/3713 S. 19) höchstrichterlich entwickelte Rechtsfigur der ungleichartigen (gesetzesalternativen) Wahlfeststellung verstößt nach Ansicht des Senats nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG; er sieht im Anfrageverfahren nach § 132 GVG daher keinen Grund zur Änderung seiner Rechtsprechung (vgl. nur BGH, Beschluss vom 27. November 2012 – 5 StR 377/12).
2
1. Der Grundsatz nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG) wird nicht berührt oder gar verletzt. Durch die ungleichartige Wahlfeststellung werden weder gesetzliche Tatbestandsvoraussetzungen abgeschwächt, noch wird ein neuer Tatbestand konstruiert. Auch auf wahldeutiger Grundlage erfolgt die Verurteilung nur nach den bei der Begehung der Tat bestehenden Straftatbeständen , den in ihnen enthaltenen Merkmalen und Strafandrohungen (vgl. Nüse, GA 1953, 33, 38).
3
2. Die ungleichartige Wahlfeststellung ist eine prozessuale Entscheidungsregel (vgl. KMR/Stuckenberg, 68. EL, § 261 StPO Rn. 106 und 149; Wolter , GA 2013, 271, 273). Sie wurde ursprünglich von den Vereinigten Strafsena- ten des Reichsgerichts für die Verurteilung von Diebstahl oder Hehlerei entwickelt , wobei diese nach zutreffender eigener Einschätzung ausschließlich in das Verfahrensrecht rechtsschöpferisch eingegriffen haben (vgl. RG – Vereinigte Strafsenate – , Beschluss vom 2. Mai 1934 – 1 D 1096/33, RGSt 68, 257, 262).
4
Sie stellt ihrerseits eine Ausnahme von der Entscheidungsregel „in dubio pro reo“ dar (vgl. dazu BVerfG – Kammer, Beschlüsse vom 17. Juli 2007 – 2 BvR 496/07, NStZ-RR 2007, 381, 382, und vom 26. August 2008 – 2 BvR 553/08) und gelangt erst dann zur Anwendung, wenn nachdieser kei- ne eindeutige Tatsachengrundlage zustande kommt, insbesondere keine eindeutige Verurteilung nach einem sachlogischen (vgl. LR/Sander, 26. Aufl., § 261 Rn. 129; LK/Dannecker, 12. Aufl., Anh. § 1 Rn. 58, 72 f.) oder aber einem normativ-ethischen Stufenverhältnis (vgl. LK/Dannecker, aaO Rn. 60, 91 f.; LR/Sander, aaO, Rn. 133; BGH, Urteil vom 19. Mai 2010 – 5 StR 464/09, BGHSt 55, 148, 150 f.; kritisch: KMR/Stuckenberg, aaO, Rn. 116) der Geschehensabläufe erfolgen kann. Ein Freispruch aufgrund doppelter Anwendung des Zweifelssatzes nach je unterschiedlicher Blickrichtung wäre in Fällen, in denen ein strafloses Verhalten des Angeklagten sicher ausscheidet („tertium non datur“ ), schlechthin unvereinbar mit unverzichtbaren Geboten der Gerechtigkeit, wonach eine am Gleichheitssatz orientierte, dem Rechtsgüterschutz verpflichtete Ausgestaltung eines effektiven Strafverfahrens zu gewährleisten ist.
5
Der Senat gibt bei dieser Gelegenheit zu erwägen, ob in Fällen der Gesetzesalternativität nicht schon allein die Anwendung des Zweifelssatzes eine eindeutige Verurteilung nach dem im Einzelfall mildesten Gesetz (vgl. dazu RGSt 69, 369, 373) – hier Verurteilung wegen Diebstahls, nicht aber wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei – ermöglichen und so eine Belastung des Angeklagten mit einem alternativen Schuldspruch vermeiden würde (so schon Dreher, MDR 1970, 369, 371; vgl. BGH, Urteil vom 19. Mai 2010 – 5 StR464/09 aaO S. 152). Hier wäre naheliegend auch die Konkurrenzfrage mit zu bedenken, die sich gerade im Vorlagefall stellen kann.
6
3. Die ungleichartige Wahlfeststellung zieht keine Ungenauigkeiten bei der Strafzumessung nach sich. Dass die Strafe dem mildesten Gesetz zu ent- nehmen ist, führt nicht nur zu einem „quantitativen Strafrahmenvergleich“. Denn welches Gesetz das mildeste ist, wird nicht abstrakt nach der gesetzlichen Strafandrohung entschieden. Anzuwenden ist vielmehr das Gesetz, das nach der Lage des konkreten Falls die mildeste Bestrafung zulässt, wobei zu prüfen ist, auf welche Strafe zu erkennen wäre, wenn die eine oder andere strafbare Handlung eindeutig feststünde (vgl. RGSt 69, 369, 373 f.; 70, 281; BGH, Urteile vom 29. Oktober 1958 – 2 StR 375/58, BGHSt 13, 70, 72, und vom 15. Mai 1973 – 4 StR 172/73, BGHSt 25, 182, 186; LR/Sander, aaO, Rn. 165 mwN; LK/Dannecker, aaO, Rn. 160; SK/Wolter, StGB, 8. Aufl., Anh. zu § 55 Rn. 46). Dazu gehört es auch, die alternativen Tatbilder im Hinblick auf die Person des Angeklagten zu beurteilen (vgl. RGSt 69, 369, 374). Unmögliches oder Unzumutbares wird hierbei vom Tatgericht nicht verlangt.
Basdorf Sander Schneider
Dölp König

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

(1) Beim Bundesgerichtshof werden ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen gebildet. Die Großen Senate bilden die Vereinigten Großen Senate.

(2) Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen, so entscheiden der Große Senat für Zivilsachen, wenn ein Zivilsenat von einem anderen Zivilsenat oder von dem Großen Zivilsenat, der Große Senat für Strafsachen, wenn ein Strafsenat von einem anderen Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen, die Vereinigten Großen Senate, wenn ein Zivilsenat von einem Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen oder ein Strafsenat von einem Zivilsenat oder von dem Großen Senat für Zivilsachen oder ein Senat von den Vereinigten Großen Senaten abweichen will.

(3) Eine Vorlage an den Großen Senat oder die Vereinigten Großen Senate ist nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, daß er an seiner Rechtsauffassung festhält. Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befaßt werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, zuständig wäre. Über die Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch Beschluß in der für Urteile erforderlichen Besetzung; § 97 Abs. 2 Satz 1 des Steuerberatungsgesetzes und § 74 Abs. 2 Satz 1 der Wirtschaftsprüferordnung bleiben unberührt.

(4) Der erkennende Senat kann eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

(5) Der Große Senat für Zivilsachen besteht aus dem Präsidenten und je einem Mitglied der Zivilsenate, der Große Senate für Strafsachen aus dem Präsidenten und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Legt ein anderer Senat vor oder soll von dessen Entscheidung abgewichen werden, ist auch ein Mitglied dieses Senats im Großen Senat vertreten. Die Vereinigten Großen Senate bestehen aus dem Präsidenten und den Mitgliedern der Großen Senate.

(6) Die Mitglieder und die Vertreter werden durch das Präsidium für ein Geschäftsjahr bestellt. Dies gilt auch für das Mitglied eines anderen Senats nach Absatz 5 Satz 2 und für seinen Vertreter. Den Vorsitz in den Großen Senaten und den Vereinigten Großen Senaten führt der Präsident, bei Verhinderung das dienstälteste Mitglied. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 53/08
vom
8. Mai 2008
in der Strafsache
gegen
wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 8. Mai 2008,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Becker,
die Richter am Bundesgerichtshof
Pfister,
Dr. Kolz,
Hubert,
Dr. Schäfer
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger des Angeklagten,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 19. September 2007 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte S. in den Fällen 5 sowie 9 bis 11 der Anklage freigesprochen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Wohnungseinbruchsdiebstahls in fünf Fällen (Fälle 1 bis 5 der Anklage, vgl. VII. 1. a) bis e) der Urteilsgründe) sowie des wahlweise erhobenen Vorwurfs des Wohnungseinbruchsdiebstahls oder der Hehlerei in drei Fällen (Fälle 9 bis 11 der Anklage nebst Nachtragsanklage, vgl. VII. 1. f) bis i) der Urteilsgründe) freigesprochen. Gegen den Freispruch in den Fällen 5 und 9 bis 11 der Anklage richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit sachlichrechtlichen Beanstandungen. Das Rechtsmittel hat Erfolg, da die Beweiswürdigung des Landgerichts Rechtsfehler aufweist.
2
1. Die Aufgabe, sich auf der Grundlage der vorhandenen Beweismittel eine Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen zu verschaffen, obliegt allein dem Tatrichter. Seine Beweiswürdigung hat das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen. Es ist ihm verwehrt, sie durch eine eigene zu ersetzen oder sie etwa nur deshalb zu beanstanden, weil aus seiner Sicht eine andere Bewertung der Beweise näher gelegen hätte. Vermag der Tatrichter vorhandene, wenn auch nur geringe Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten nicht zu überwinden , so kann das Revisionsgericht dies nur auf Rechtsfehler überprüfen, insbesondere darauf, ob die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, die Beweismittel nicht ausschöpft, Verstöße gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze aufweist oder ob der Tatrichter überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat (st. Rspr.; vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13 und Überzeugungsbildung 33; BGH NStZ 2000, 48; BGH wistra 2002, 260, 261). Aus den Urteilsgründen muss sich auch ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 11, 24).
3
2. Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil in mehrfacher Hinsicht nicht.
4
a) Für den Freispruch im Fall 5 der Anklage gilt Folgendes: Nach den Feststellungen war der Angeklagte in der Nacht des 31. März 2007 Beifahrer in einem von dem Mitangeklagten B. gesteuerten VW Golf. Sie wurden von einer Polizeistreife gestellt, nachdem der Mitangeklagte einen Wohnungseinbruchsdiebstahl begangen hatte und mit dem Fahrzeug auf dem Rückweg war. Der Angeklagte hat sich gegen den Vorwurf, an dem Wohnungseinbruchsdiebstahl beteiligt gewesen zu sein, mit der Behauptung verteidigt, der Mitangeklag- te habe ihn am Abend zu einer Probefahrt aufgefordert, um zum einen technische Probleme am VW Golf zu überprüfen und zum anderen ein weiteres Fahrzeug , das der Mitangeklagte kaufen wollte, zu besichtigen. Der Mitangeklagte habe in dem Ort V. den Wagen alleine verlassen, er - der Angeklagte - habe ca. 20 Minuten bis gegen 21.43 Uhr in dem VW Golf gewartet, dann sei der Mitangeklagte zurückgekommen und habe mitgeteilt, das zum Kauf in Aussicht genommene Fahrzeug könne heute nicht probegefahren werden. Das Landgericht ist der Auffassung, die Einlassung sei nicht zu widerlegen, weil weitere Beweise oder Indizien nicht zur Verfügung stünden.
5
Dies lässt zum einen besorgen, die Strafkammer habe dem Grundsatz keine Bedeutung geschenkt, dass es der Zweifelssatz nicht gebietet, dem Urteil Behauptungen des Angeklagten zu Grunde zu legen, die zwar nicht durch gegenläufige Beweise zu widerlegen sind, für deren Richtigkeit sich aber andererseits keinerlei Anhaltspunkte im festgestellten Sachverhalt ergeben (st. Rspr.; vgl. BGH NJW 1995, 2300; NStZ 1999, 205; NJW 2002, 1057, 1059; 2002, 2188, 2189; 2003, 2179). Unabhängig hiervon erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts aber jedenfalls als lücken- und damit rechtsfehlerhaft, weil sie sich mit mehreren Besonderheiten und Beweisanzeichen nicht auseinandersetzt , die mit nicht geringem Gewicht für eine Tatbeteiligung des Angeklagten sprechen können und auf deren Erörterung vor der Anwendung des Zweifelssatzes daher aus Rechtsgründen nicht verzichtet werden durfte.
6
Das Landgericht hätte erwägen müssen, dass ein Einbrecher wohl kaum einen Unbeteiligten unter einem Vorwand zum Tatort mitnimmt, ihn dort warten lässt und dann vor seinen Augen mit Diebesbeute zurückkehrt. Zudem sind im Keller der Freundin des Angeklagten in einem diesem zuzuordnenden Bereich zahlreiche Schmuckstücke gefunden worden, die aus der Beute anderer Woh- nungseinbruchsdiebstähle stammten. Weiterhin ist der Angeklagte bereits mehrfach und erheblich wegen Diebstahls im erschwerten Fall verurteilt worden. Hinzu kommt, dass nach den Feststellungen die Beute, ein Münzalbum, Schmuckstücke und Geld, auf der Flucht vor der Polizei aus dem Wagen geworfen worden ist. Das Münzalbum konnte Tage später am Randstreifen einer Autobahnauffahrt, demnach am rechten Straßenrand der Autobahn aufgefunden werden. Es liegt nicht fern, dass die bei hoher Geschwindigkeit vorgenommene Entäußerung der Beute unter Mithilfe des Angeklagten geschehen ist, was ebenfalls auf dessen Mitwirkung schließen ließe. Alle diese Umstände hätten nicht nur isoliert, sondern auch in einer sie alle umfassenden Gesamtwürdigung auf ihre Bedeutung für die Überzeugungsbildung von der Schuld des Angeklagten untersucht werden müssen.
7
b) Für den Freispruch vom Vorwurf dreier weiterer Einbruchsdiebstähle (Fälle 9 bis 11 der Anklage) bzw. entsprechender Hehlereitaten an den aufgefundenen Beutestücken gilt Folgendes: Hier hat sich der Angeklagte mit der Einlassung verteidigt, die Schmuckstücke auf einem Flohmarkt in Unkenntnis ihrer Herkunft erworben zu haben. Diese Einlassung ist nach Auffassung des Landgerichts ebenfalls nicht zu widerlegen.
8
Hier führt bereits die Aufhebung des Urteils im Fall 5 der Anklage zur Aufhebung des Freispruchs, da nicht auszuschließen ist, dass sich das Landgericht bei einer Verurteilung im Fall 5 im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung auch von der Täterschaft des Angeklagten in den Fällen 9 bis 11 überzeugt hätte, insbesondere da das Landgericht diese Fälle nur isoliert betrachtet und dabei ausgeblendet hat, dass mit der Festnahme des Angeklagten am 31. März 2007 im Umfeld eines Einbruchsdiebstahls ein weiteres Beweisanzei- chen für eine strafbare Erlangung der sichergestellten Schmuckstücke vorhanden ist.
9
3. Rein vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass eine Wahlfeststellung nach ständiger Rechtsprechung voraussetzt, dass die mehreren möglichen , einander ausschließenden Verhaltensweisen rechtsethisch und psychologisch gleichartig bzw. gleichwertig sind (vgl. BGHR StGB § 260 Wahlfeststellung 1 m. w. N.). Daher käme nur eine Wahlfeststellung zwischen dem - im Wohnungseinbruchsdiebstahl enthaltenen - einfachen Diebstahl (§ 242 Abs. 1 StGB) und Hehlerei, nicht aber zwischen Wohnungseinbruchsdiebstahl und Hehlerei in Betracht.
Becker Pfister Kolz
Hubert Schäfer

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Gründe

A.

I.

1

Die Beschwerdeführerin ist ein Unternehmen der Automobilzulieferung. Sie beschäftigt in ihrer Produktionsstätte in Schleswig-Holstein über 1.200 Arbeitnehmer. Mit dem Kläger des Ausgangsverfahrens schloss sie am 18. Februar 2003 für den Zeitraum vom 19. Februar 2003 bis zum 31. März 2004 einen sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag. Der Kläger wurde als Aushilfe in der Produktion von Bremsbelägen eingesetzt. Insgesamt wurden zu diesem Zeitpunkt von der Beschwerdeführerin 56 befristete Arbeitsverträge mit zuvor arbeitslosen Personen abgeschlossen, um Produktionsspitzen abzudecken. Von diesen 56 neuen Mitarbeitern hatten 13 Arbeitnehmer - unter ihnen der Kläger des Ausgangsverfahrens - das 52. Lebensjahr bereits vollendet. Die zusätzlichen Arbeitnehmer wurden nach den Angaben der Beschwerdeführerin bewusst auf der Grundlage des Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz - TzBfG) eingestellt, um Rechtssicherheit vor Entfristungsklagen zu erlangen. Solche Entfristungsklagen seien in der Vergangenheit gegen die Beschwerdeführerin erhoben worden und hätten im Erfolgsfall zu Verwerfungen bei der Personalplanung geführt.

2

Der Kläger machte gegenüber der Beschwerdeführerin kurze Zeit später die Unwirksamkeit der Befristung seines Arbeitsvertrags geltend. Er berief sich auf die Unvereinbarkeit der Befristung auf der Grundlage von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG mit der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl Nr. L 175/43) sowie der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl Nr. L 303/16). Das Arbeitsgericht Lübeck wies seine Klage auf Feststellung des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses und auf Weiterbeschäftigung mit Urteil vom 11. März 2004 ab. Der Kläger könne sich nicht auf eine unmittelbare Wirkung der Richtlinien im Verhältnis unter Privaten berufen. Die Berufung des Klägers wies das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein mit Urteil vom 22. Juni 2004 zurück. Neben dem Hinweis auf die Nichtanwendbarkeit von Richtlinien in privatrechtlichen Verhältnissen verwies das Landesarbeitsgericht zusätzlich auf die unzureichende inhaltliche Bestimmtheit und Unbedingtheit der Richtlinien. Hiergegen wandte sich der Kläger mit der Revision an das Bundesarbeitsgericht. Die Revision hatte in der Sache Erfolg.

II.

3

1. § 14 TzBfG lautete in seiner ursprünglichen Fassung vom 21. Dezember 2000 (BGBl I S. 1966) auszugsweise:

4

(1) Die Befristung eines Arbeitsvertrages ist zulässig, wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. […]

5

(2) Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig; […] Eine Befristung nach Satz 1 ist nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat. […]

6

(3) Die Befristung eines Arbeitsvertrages bedarf keines sachlichen Grundes, wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses das 58. Lebensjahr vollendet hat. Die Befristung ist nicht zulässig, wenn zu einem vorhergehenden unbefristeten Arbeitsvertrag mit demselben Arbeitgeber ein enger sachlicher Zusammenhang besteht. Ein solcher enger sachlicher Zusammenhang ist insbesondere anzunehmen, wenn zwischen den Arbeitsverträgen ein Zeitraum von weniger als sechs Monaten liegt.

7

(4) […]

8

Der Gesetzgeber erweiterte den personellen Anwendungsbereich des § 14 TzBfG im Dezember 2002 (Erstes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002, BGBl I S. 4607). Für den Zeitraum vom 1. Januar 2003 bis zum 31. Dezember 2006 wurde die Altersgrenze einer sachgrundlosen Befristungsmöglichkeit vom vollendeten 58. auf das vollendete 52. Lebensjahr abgesenkt. Zu diesem Zweck wurde ein vierter Satz in § 14 Abs. 3 TzBfG eingefügt:

9

Bis zum 31. Dezember 2006 ist Satz 1 mit der Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle des 58. Lebensjahres das 52. Lebensjahr tritt.

10

Mit dieser Änderung, die Bestandteil der Arbeitsmarktreformen war, verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, die statistisch deutlich erhöhte Arbeitslosigkeit unter älteren Menschen durch niedrigere Barrieren für deren Wiedereintritt in das Berufsleben zu verringern. Die über 50-Jährigen seien nicht nur länger arbeitslos als andere Altersgruppen, sondern sie stellten auch einen deutlich größeren Anteil der Langzeitarbeitslosen. Der Gesetzgeber verwies darauf, dass die geringe Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber im Wesentlichen auf eine "psychologische Einstellungsbarriere" zurückzuführen sei, die ihre Ursache in der unzutreffenden Überzeugung habe, ältere Arbeitnehmer könnten bei einem späteren Personalabbau nicht mehr entlassen werden (BTDrucks 15/25, S. 40). Da die Erfahrung gezeigt habe, dass die Befristung von Beschäftigungsverhältnissen die Einstellungsbereitschaft anhebe und die befristeten Arbeitsverhältnisse im Durchschnitt etwa zur Hälfte in unbefristete Beschäftigungen einmündeten, sei § 14 Abs. 3 TzBfG entsprechend zu erweitern.

11

Der Gesetzgeber hielt die mit dieser Regelung verbundene Ungleichbehandlung älterer Arbeitssuchender mit Blick auf das beschäftigungspolitische Ziel, die Chancen älterer Menschen auf einen Arbeitsplatz zu verbessern, für gerechtfertigt. Dies entspreche auch einem wichtigen Ziel der europäischen Beschäftigungspolitik (BTDrucks 15/25, S. 40). Deutschland sei mit Beschluss 2001/63/EG des Rates vom 19. Januar 2001 über die Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (ABl Nr. L 22/18) ausdrücklich aufgefordert worden, Hindernisse und negative Faktoren für die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitsloser zu verbessern.

12

2. a) Art. 19 Abs. 1 AEUV (ehemals Art. 13 Abs. 1 EGV) ermächtigt den Rat, im Zuständigkeitsbereich der Union Regelungen unter anderem gegen altersbezogene Diskriminierungen zu erlassen. Ein unmittelbar wirkendes Diskriminierungsverbot enthält die Bestimmung nicht (vgl. Streinz, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 13 EGV Rn. 17; Epiney, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 13 EGV Rn. 1). Art. 19 Abs. 1 AEUV lautet:

13

Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge kann der Rat im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.

14

Demgegenüber enthält Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta - GRCh) ein Diskriminierungsverbot aufgrund des Alters, dem unmittelbare Wirkung zukommt. Die Vorschrift lautet in der überarbeiteten Fassung vom 12. Dezember 2007 (ABl Nr. C 303/1; BGBl 2008 II S. 1165):

15

(1) Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.

16

(2) Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.

17

Die Grundrechtecharta war in dem entscheidungserheblichen Zeitraum noch nicht rechtsverbindlich. Sie wurde den Verträgen erst mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13. Dezember 2007 (Vertrag von Lissabon - ABl Nr. C 306/10; BGBl 2008 II S. 1038) rechtlich gleichgestellt (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EUV).

18

b) Mit der Richtlinie 1999/70/EG soll die zwischen europäischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden getroffene Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge durchgeführt werden (Art. 1 der Richtlinie 1999/70/EG). Der Vereinbarung zufolge, die als Anhang Bestandteil der Richtlinie ist, gilt für befristet beschäftigte Arbeitnehmer der Grundsatz der Nichtdiskriminierung; der Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge ist zu vermeiden (vgl. im Einzelnen §§ 4, 5 des Anhangs der Richtlinie 1999/70/EG). Das Teilzeit- und Befristungsgesetz wurde vom deutschen Gesetzgeber im Jahr 2000 erlassen, um diese Richtlinie in deutsches Recht umzusetzen.

19

Die Richtlinie 2000/78/EG soll unter anderem Diskriminierungen aufgrund des Alters verhindern. Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG legt den Zweck des Rechtsaktes dahingehend fest, dass ein allgemeiner Rahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf, unter anderem wegen des Alters, zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten geschaffen werden soll. Der Gleichbehandlungsgrundsatz wird als Verbot bestimmter unmittelbarer oder mittelbarer Diskriminierungen definiert (Art. 2 der Richtlinie 2000/78/EG). Der Anwendungsbereich der Richtlinie erstreckt sich insbesondere auf die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen in einem Mitgliedstaat, unabhängig von der Existenz eines grenzüberschreitenden Sachverhalts (Art. 3 der Richtlinie 2000/78/EG). Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie sieht ferner vor, dass eine Ungleichbehandlung wegen des Alters gerechtfertigt sein kann. Die Vorschrift lautet:

20

Artikel 6 - Gerechtfertigte Ungleichbehandlung wegen des Alters

21

(1) Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.

22

Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen:

23

a) die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen;

24

b) die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile;

25

c) die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand.

26

[…]

27

Die Frist zur Umsetzung der Richtlinie lief am 2. Dezember 2003 ab (Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG). Die Mitgliedstaaten konnten im Hinblick auf Ungleichbehandlungen wegen des Alters eine Zusatzfrist von drei Jahren bis zum 2. Dezember 2006 in Anspruch nehmen (Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG). Die Europäische Kommission war von der Inanspruchnahme dieser verlängerten Umsetzungsfrist in Kenntnis zu setzen. Ihr war zudem während dieses Zeitraums jährlich Bericht über die ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Altersdiskriminierung und über die Fortschritte, die bei der Umsetzung der Richtlinie erzielt werden konnten, zu erstatten. Die Bundesrepublik Deutschland hat diese Zusatzfrist in Anspruch genommen. Die verlängerte Umsetzungsfrist endete am 2. Dezember 2006.

28

3. a) Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (jetzt Gerichtshof der Europäischen Union) stellte in seinem Urteil vom 22. November 2005 in der Rechtssache Mangold (Rs. C-144/04, Slg. 2005, S. I-9981) fest, dass Gemeinschaftsrecht und insbesondere Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG einer nationalen Regelung wie der des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG entgegenstünden. Es obliege dem nationalen Gericht, die volle Wirksamkeit des allgemeinen Verbots der Diskriminierung wegen des Alters zu gewährleisten, indem es jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lasse, auch wenn die Frist für die Umsetzung der Richtlinie noch nicht abgelaufen sei.

29

Zur Begründung führte der Gerichtshof unter anderem aus, dass eine derartige Regelung zwar das legitime Ziel verfolge, ältere Arbeitnehmer wieder in das Berufsleben einzugliedern. Sie gehe aber über das erforderliche und angemessene Maß hinaus, weil sie allein auf das Alterskriterium abstelle und andere Umstände wie die Struktur des jeweiligen Arbeitsmarktes und die persönliche Situation des Betroffenen unberücksichtigt lasse.

30

Einem Verstoß gegen die Richtlinie 2000/78/EG stehe nicht entgegen, dass deren Umsetzungsfrist zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch nicht abgelaufen gewesen sei. Erstens dürfe ein Mitgliedstaat schon während der Umsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen, die geeignet seien, die Erreichung des in einer Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich in Frage zu stellen. Im vorliegenden Fall habe die Bundesrepublik Deutschland darüber hinaus von der Möglichkeit einer dreijährigen Fristverlängerung nach Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG Gebrauch gemacht. Diese Vorschrift impliziere durch Berichtspflichten an die Kommission, dass ein Mitgliedstaat in diesem Zeitraum schrittweise konkrete Maßnahmen ergreife, um seine Rechtsordnung dem Richtlinienziel anzunähern. Dieser Verpflichtung würde jegliche praktische Wirksamkeit genommen, wenn dem Mitgliedstaat gestattet wäre, während der Umsetzungsfrist Maßnahmen zu erlassen, die mit deren Zielen unvereinbar seien. Zweitens sei das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters als ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anzusehen. Der Gerichtshof begründete die Existenz dieses neuen Grundsatzes mit dem Hinweis auf die Erwägungsgründe der Richtlinie 2000/78/EG, die ihrerseits auf verschiedene völkerrechtliche Verträge und die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten verwiesen.

31

Die vorliegende nationale Regelung falle in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts, weil § 14 Abs. 3 TzBfG als Maßnahme zur Umsetzung der Richtlinie 1999/70/EG ergangen und im Jahre 2002 um § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG ergänzt worden sei.

32

b) Nach Eingang der Verfassungsbeschwerde wurde die Frage, ob das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters einer nationalen Vorschrift entgegensteht, in den Rechtssachen Palacios (Urteil vom 16. Oktober 2007, Rs. C-411/05, Slg. 2007, S. I-8531), Bartsch (Urteil vom 23. September 2008, Rs. C-427/06, Slg. 2008, S. I-7245) und Kücükdeveci (Urteil vom 19. Januar 2010, Rs. C-555/07, NJW 2010, S. 427) erneut vor dem Gerichtshof aufgeworfen. In der Kücükdeveci-Entscheidung bestätigte der Gerichtshof die Mangold-Entscheidung im Hinblick auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der jede Diskriminierung aufgrund des Alters verbiete, und wies zur Begründung auf Art. 21 Abs. 1 GRCh hin.

III.

33

Das Bundesarbeitsgericht stellte mit dem angegriffenen Urteil vom 26. April 2006 fest, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht mit Ablauf des 31. März 2004 durch Befristung geendet habe. Es begründete dies unter anderem mit dem Argument, die Beschwerdeführerin könne sich zur Rechtfertigung der Befristung nicht auf § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG berufen. Zwar lägen die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm vor. Die Vorschrift sei aber mit Gemeinschaftsrecht nicht zu vereinbaren und dürfe daher von den nationalen Gerichten nicht angewendet werden. Dies folge aus der Mangold-Entscheidung des Gerichtshofs.

34

Der Senat sei an den Ausspruch der Unanwendbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG durch den Gerichtshof gebunden, den dieser mit einem Verstoß gegen das Ziel der Richtlinie 2000/78/EG und mit einem Verstoß gegen das auf allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts beruhende Verbot der Altersdiskriminierung doppelt begründet habe. Die Entscheidung des Gerichtshofs beruhe auf der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen eines Vorlageverfahrens nach Art. 234 Abs. 1 Buchstabe a EGV (jetzt Art. 267 Abs. 1 Buchstabe a AEUV) und halte sich im Rahmen der dem Gerichtshof nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG übertragenen Zuständigkeiten.

35

Der vom Gerichtshof festgestellte Grundsatz der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, der einer Diskriminierung wegen der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG genannten Merkmale entgegenstehe, sei als Unterfall des allgemeinen Grundsatzes der Gleichheit und Nichtdiskriminierung anzusehen, der zu den Gemeinschaftsgrundrechten gehöre. Dieser Grundsatz, auf den sich auch eine Privatperson vor einem nationalen Gericht berufen könne, begrenze den nationalen Gesetzgeber bei der Normsetzung, soweit dessen Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts falle. Das Teilzeit- und Befristungsgesetz falle in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts, da es der Umsetzung der Richtlinie 1999/70/EG diene. Zwar möge es zutreffen, dass das Verbot der Altersdiskriminierung bisher weder in verbindlich geltenden völkerrechtlichen Verträgen noch in einer nennenswerten Anzahl von Verfassungen der Mitgliedstaaten ausdrücklich genannt sei. Dennoch sei eine Herleitung aus offen formulierten Tatbeständen und im Wege partieller Rechtsfortbildung nicht ausgeschlossen.

36

Auch soweit der Gerichtshof die Unanwendbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG aus der Richtlinie 2000/78/EG herleite, habe er seine Kompetenzen nicht überschritten. Die Begründung des Gerichtshofs sei dahingehend zu verstehen, dass ein während der Umsetzungsfrist einer Richtlinie erlassenes nationales Gesetz unanwendbar sei, wenn sein Inhalt im Widerspruch zu dem Richtlinienziel stehe und keine gemeinschaftskonforme Auslegung möglich sei. Rechtsgrundlage für diese Annahme von Vorwirkungen bilde der Grundsatz der Vertragstreue der Mitgliedstaaten nach Art. 10 Abs. 2 und Art. 249 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV und Art. 288 Abs. 3 AEUV).

37

Die Entscheidung sei jedenfalls im Ergebnis unmissverständlich; es bedürfe deshalb keiner erneuten Vorlage an den Gerichtshof zur Unvereinbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG mit Gemeinschaftsrecht.

38

Das Bundesarbeitsgericht lehnte es ferner ab, § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG aus Gründen des gemeinschaftsrechtlichen oder nationalen Vertrauensschutzes auf eine vor dem 22. November 2005 getroffene Befristungsabrede anzuwenden. Zur zeitlichen Begrenzung der Unanwendbarkeit einer gegen Primärrecht der Gemeinschaft verstoßenden nationalen Norm sei allein der Gerichtshof zuständig. Eine solche Begrenzung sei in der Mangold-Entscheidung jedoch nicht enthalten. Der Senat sah sich auch nicht verpflichtet, dem Gerichtshof durch eine Vorlage die Gelegenheit zur nachträglichen Gewährung von Vertrauensschutz zu eröffnen, weil die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestehenden Voraussetzungen für eine derartige zeitliche Begrenzung von Entscheidungswirkungen nicht vorlägen. Selbst wenn der Senat nach einem Unanwendbarkeitsausspruch des Gerichtshofs befugt wäre, Vertrauensschutz nach nationalem Verfassungsrecht zu gewähren und damit dessen zeitliche Wirkung einzuschränken, bestehe kein Vertrauensschutz zugunsten der Beschwerdeführerin. Denn bis zum Abschluss des befristeten Arbeitsvertrags mit dem Kläger habe es keine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts über die Zulässigkeit einer allein auf das Lebensalter gestützten sachgrundlosen Befristung gegeben; darüber hinaus sei diese im arbeitsrechtlichen Schrifttum umstritten gewesen.

IV.

39

Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 (1.) und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (2.).

40

1. Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln geltend. Eine Verletzung ergebe sich zunächst daraus, dass das Bundesarbeitsgericht die angegriffene Entscheidung zur Unanwendbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG maßgeblich auf die Mangold-Entscheidung des Gerichtshofs gestützt habe. Wenn diese Entscheidung so zu verstehen sei, wie sie das Bundesarbeitsgericht in dem angegriffenen Urteil verstanden und angewandt habe, liege eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung des Gerichtshofs vor. Soweit das Bundesarbeitsgericht darauf abstelle, dass der Gerichtshof sich auf einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts stütze, sei schon zweifelhaft, ob die Benennung und Anwendung eines Verbots der Altersdiskriminierung nicht in einem untrennbaren funktionalen Zusammenhang mit den Ausführungen zu Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG stehe. Darüber hinaus besitze der Gerichtshof keine Kompetenz zur Prüfung einer innerstaatlichen arbeitsrechtlichen Gesetzgebung bezüglich der Rechtsbeziehung zwischen Privaten. Die Verabschiedung des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG sei nicht als Durchführung von Gemeinschaftsrecht zu qualifizieren. Ferner betreibe der Gerichtshof durch die Postulierung eines unmittelbar anwendbaren allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung unzulässige Rechtsfortbildung. Außerdem führe die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Richtlinie 2000/78/EG zu einer von den Verträgen nicht gedeckten Vor- und Drittwirkung von Richtlinien.

41

Eine Verletzung ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgt nach Ansicht der Beschwerdeführerin des Weiteren daraus, dass das Bundesarbeitsgericht keinen hinreichenden verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz gewährt und die Revision zurückgewiesen habe. Auch nach Gemeinschaftsrecht sei dem Bundesarbeitsgericht nicht versagt gewesen, Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes zu berücksichtigen, da Fragen des Vertrauensschutzes im Mangold-Verfahren weder aufgeworfen noch entschieden worden seien. Der Unanwendbarkeitsausspruch des Gerichtshofs in der Rechtssache Mangold könne insoweit nicht als absolut und unbedingt geltend verstanden werden. Anders als vom Bundesarbeitsgericht angenommen, habe die Beschwerdeführerin sich darauf verlassen dürfen, dass § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG nicht an der noch umzusetzenden Richtlinie 2000/78/EG gemessen werde.

42

2. Die Beschwerdeführerin trägt weiter vor, dass sie auch in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt sei. Das Bundesarbeitsgericht habe seine nach Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt 267 Abs. 3 AEUV) bestehende Vorlagepflicht willkürlich verletzt, weil es den ihm zukommenden Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten habe. Unterstelle man eine Bindung des Bundesarbeitsgerichts an die Mangold-Entscheidung, hätte das Bundesarbeitsgericht dem Gerichtshof die Frage vorlegen müssen, ob auch Vertragsverhältnisse erfasst seien, die vor der Mangold-Entscheidung abgeschlossen wurden, oder ob nicht Grundsätze des gemeinschaftsrechtlichen oder des nationalen Vertrauensschutzes eine zeitliche Einschränkung geböten. Dass der Gerichtshof eine zeitliche Begrenzung seiner Entscheidungswirkungen nur im Ausnahmefall ausspreche, beziehe sich lediglich auf die finanziellen Auswirkungen für die Mitgliedstaaten, nicht aber auf die vorliegende Fallgestaltung. Die fehlende zeitliche Begrenzung in der Mangold-Entscheidung selbst sei darauf zurückzuführen, dass dort keinerlei Veranlassung zu einer zeitlichen Begrenzung bestanden habe.

V.

43

Der Zweite und der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts sowie der Zweite und der Sechste Senat des Bundessozialgerichts haben Stellung genommen.

B.

44

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

I.

45

Das angegriffene Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist als eine Maßnahme der deutschen öffentlichen Gewalt tauglicher Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Wahrung des Grundgesetzes besteht gegenüber allen Maßnahmen der deutschen öffentlichen Gewalt, grundsätzlich auch solchen, die die innerstaatliche Geltung von Gemeinschafts- und Unionsrecht begründen (vgl. BVerfGE 89, 155 <171>; 123, 267 <329>), Gemeinschafts- und Unionsrecht umsetzen (vgl. BVerfGE 113, 273 <292>; 118, 79 <94>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 2. März 2010 - 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08 -, NJW 2010, S. 833 <835>) oder vollziehen. Ob und inwieweit die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit solcher Maßnahmen durch das Bundesverfassungsgericht beschränkt ist, ist eine Frage der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde, soweit wie hier diesbezüglich offene Fragen zu klären sind.

II.

46

Die Begründung der Verfassungsbeschwerde genügt den Anforderungen der § 92, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG. Nach den Darlegungen der Beschwerdeführerin erscheint es insbesondere möglich, dass das angegriffene Urteil des Bundesarbeitsgerichts die Beschwerdeführerin in ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, weil es zum einen auf einer unzulässigen Rechtsfortbildung des Gerichtshofs beruht, die nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland nicht anzuwenden ist (vgl. BVerfGE 89, 155 <188>; 123, 267 <353 f.>), und weil es zum anderen verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz nicht gewährt.

47

Die Beschwerdeführerin legt ausreichend dar, warum der Gerichtshof mit der Entscheidung in der Rechtssache Mangold die Grenzen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts überschritten und das Gemeinschaftsrecht in einer Weise fortgebildet habe, die von den Kompetenzen der Gemeinschaft nicht mehr gedeckt sei. Dabei setzt sie sich mit der bis zum Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Kompetenzkontrolle, der für kompetenzwidrig gehaltenen Mangold-Entscheidung des Gerichtshofs und den hierzu ergangenen kritischen Anmerkungen in der Literatur auseinander. Die Beschwerdeführerin war nicht gehalten, antizipierend auf vom Bundesverfassungsgericht erst noch zu präzisierende Einzelheiten der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen auf die Beachtung der Grenzen ihrer Kompetenzen einzugehen.

C.

48

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

I.

49

Die Beschwerdeführerin ist nicht deswegen in ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG verletzt, weil das angegriffene Urteil des Bundesarbeitsgerichts auf einer unzulässigen Rechtsfortbildung des Gerichtshofs beruht.

50

1. a) Sowohl die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie als auch die Garantie der freien Berufsausübung nach Art. 12 Abs. 1 GG schließen das Recht ein, Arbeitsverhältnisse durch die Abgabe übereinstimmender Willenserklärungen zu begründen, auszugestalten und zu befristen (vgl. allgemein für die Gestaltung von Arbeitsverträgen BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. November 2006 - 1 BvR 1909/06 -, NJW 2007, S. 286). Die Vertragsfreiheit als wesentlicher Ausdruck der Privatautonomie wird allgemein durch das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützt (vgl. BVerfGE 72, 155 <170>; 81, 242 <254 ff.>; 89, 214 <231 ff.>; 103, 89 <100 f.>). Geht es um die Handlungsfreiheit gerade im Bereich der beruflichen Betätigung, die ihre spezielle Gewährleistung in Art. 12 Abs. 1 GG findet, scheidet die gegenüber anderen Freiheitsrechten subsidiäre allgemeine Handlungsfreiheit als Prüfungsmaßstab allerdings aus (vgl. BVerfGE 89, 1 <13>; 117, 163 <181>). Dies gilt insbesondere im Bereich des Individualarbeitsvertragsrechts (vgl. BVerfGE 57, 139 <158>; BVerfGK 4, 356 <363 f.>).

51

Die Privatrechtsordnung ist gesetzlich gestaltet. Gesetze regeln die Ausübung der Vertragsfreiheit nicht nur zu ihrem institutionellen Schutz, sondern auch um soziale Belange strukturell schwächerer Marktteilnehmer zu wahren. Aus diesem Grund wird der Abschluss befristeter Arbeitsverträge nicht vollständig in die Dispositionsfreiheit der Vertragsparteien gelegt, sondern traditionell an Voraussetzungen gebunden, die die Arbeitnehmer schützen sollen. Denn für Arbeitnehmer ist die Erwerbsarbeit regelmäßig alleinige Existenzgrundlage. Durch Befristung wird zwar den Flexibilitätsbedürfnissen rentabler Unternehmensführung entsprochen. Für die davon betroffenen Arbeitnehmer bedeutet ein befristetes Arbeitsverhältnis aber nicht nur die Chance auf Erwerbsarbeit, sondern ist auch mit Unsicherheit über den Fortbestand des Erwerbseinkommens verbunden. Der insoweit schützende staatliche Eingriff in die Privatautonomie bei der Ausgestaltung befristeter Arbeitsverhältnisse bedarf einer gesetzlichen Grundlage, die sich ihrerseits als verfassungsgemäß erweisen muss.

52

Die für das Verfassungsbeschwerdeverfahren maßgebliche Vorschrift des einfachen Rechts ist § 14 TzBfG in der vom 1. Januar 2003 bis zum 31. Dezember 2006 geltenden Fassung. Von dem Grundsatz, dass es zur Begründung befristeter Arbeitsverhältnisse eines sachlichen Grundes bedarf, konnte nach § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG abgewichen werden, wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses das 52. Lebensjahr vollendet hat. Diese Ausnahmeregelung hat indes zum Nachteil der Beschwerdeführerin unangewendet zu bleiben, wenn sie gegen Gemeinschaftsrecht (jetzt Unionsrecht) verstößt.

53

b) Das Recht der Europäischen Union kann sich nur wirksam entfalten, wenn es entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht verdrängt. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts führt zwar nicht dazu, dass entgegenstehendes nationales Recht nichtig wäre. Mitgliedstaatliches Recht kann vielmehr weiter seine Geltung entfalten, wenn und soweit es jenseits des Anwendungsbereichs einschlägigen Unionsrechts einen sachlichen Regelungsbereich behält. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts dagegen ist entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht grundsätzlich unanwendbar. Der Anwendungsvorrang folgt aus dem Unionsrecht, weil die Union als Rechtsgemeinschaft nicht bestehen könnte, wenn die einheitliche Wirksamkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten nicht gewährleistet wäre (vgl. grundlegend EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1251 Rn. 12). Der Anwendungsvorrang entspricht auch der verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG, wonach Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen werden können (vgl. BVerfGE 31, 145 <174>; 123, 267 <402>). Art. 23 Abs. 1 GG erlaubt mit der Übertragung von Hoheitsrechten - soweit vertraglich vorgesehen und gefordert - zugleich deren unmittelbare Ausübung innerhalb der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Er enthält somit ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen, dem der unionsrechtliche Anwendungsvorrang entspricht.

54

c) aa) Anders als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang, wie ihn Art. 31 GG für die deutsche Rechtsordnung vorsieht, kann der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl. BVerfGE 73, 339 <375>; 123, 267 <398>).

55

Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Übertragung und Ermächtigung abhängig. Die Unionsorgane bleiben für die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsänderungen angewiesen, die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der für sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorgenommen und verantwortet werden (vgl. BVerfGE 75, 223 <242>; 89, 155 <187 f., 192, 199>; 123, 267 <349>; vgl. auch BVerfGE 58, 1 <37>; 68, 1 <102>; 77, 170 <231>; 104, 151 <195>; 118, 244 <260>). Es gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 EUV). Das Bundesverfassungsgericht ist deshalb berechtigt und verpflichtet, Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen darauf zu überprüfen, ob sie aufgrund ersichtlicher Kompetenzüberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausübungen im nicht übertragbaren Bereich der Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 und Art. 20 GG) erfolgen (vgl. BVerfGE 75, 223 <235, 242>; 89, 155 <188>; 113, 273 <296>; 123, 267 <353 f.>), und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kompetenzüberschreitender Handlungen für die deutsche Rechtsordnung festzustellen.

56

bb) Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts, substantiierten Rügen eines Ultra-vires-Handelns der europäischen Organe und Einrichtungen nachzugehen, ist mit der vertraglich dem Gerichtshof übertragenen Aufgabe zu koordinieren, die Verträge auszulegen und anzuwenden und dabei Einheit und Kohärenz des Unionsrechts zu wahren (vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV, Art. 267 AEUV).

57

Wenn jeder Mitgliedstaat ohne weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet. Würden aber andererseits die Mitgliedstaaten vollständig auf die Ultra-vires-Kontrolle verzichten, so wäre die Disposition über die vertragliche Grundlage allein auf die Unionsorgane verlagert, und zwar auch dann, wenn deren Rechtsverständnis im praktischen Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung hinausliefe. Dass in den - wie nach den institutionellen und prozeduralen Vorkehrungen des Unionsrechts zu erwarten - seltenen Grenzfällen möglicher Kompetenzüberschreitung seitens der Unionsorgane die verfassungsrechtliche und die unionsrechtliche Perspektive nicht vollständig harmonieren, ist dem Umstand geschuldet, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Herren der Verträge bleiben und die Schwelle zum Bundesstaat nicht überschritten wurde (vgl. BVerfGE 123, 267 <370 f.>). Die nach dieser Konstruktion im Grundsatz unvermeidlichen Spannungslagen sind im Einklang mit der europäischen Integrationsidee kooperativ auszugleichen und durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen.

58

cc) Die Ultra-vires-Kontrolle darf nur europarechtsfreundlich ausgeübt werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>).

59

(1) Die Union versteht sich als Rechtsgemeinschaft; sie ist insbesondere durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die Grundrechte gebunden und achtet die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten (vgl. im Einzelnen Art. 4 Abs. 2 Satz 1, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 EUV). Nach der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ist der Anwendungsvorrang des Unionsrechts anzuerkennen und zu gewährleisten, dass die dem Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich vorbehaltenen Kontrollbefugnisse nur zurückhaltend und europarechtsfreundlich ausgeübt werden.

60

Das bedeutet für die vorliegend in Rede stehende Ultra-vires-Kontrolle, dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen des Gerichtshofs grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu beachten hat. Vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts der europäischen Organe und Einrichtungen ist deshalb dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben. Solange der Gerichtshof keine Gelegenheit hatte, über die aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen zu entscheiden, darf das Bundesverfassungsgericht für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen (vgl. BVerfGE 123, 267 <353>).

61

Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht kommt darüber hinaus nur in Betracht, wenn ersichtlich ist, dass Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen außerhalb der übertragenen Kompetenzen ergangen sind (vgl. BVerfGE 123, 267 <353, 400>). Ersichtlich ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn die europäischen Organe und Einrichtungen die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 Abs. 1 GG), der Kompetenzverstoß mit anderen Worten hinreichend qualifiziert ist (vgl. zur Formulierung "hinreichend qualifiziert" als Tatbestandsmerkmal im unionsrechtlichen Haftungsrecht etwa EuGH, Urteil vom 10. Juli 2003, Rs. C-472/00 P, Fresh Marine, Slg. 2003, S. I-7541 Rn. 26 f.). Dies bedeutet, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt (vgl. Kokott, Deutschland im Rahmen der Europäischen Union - zum Vertrag von Maastricht, AöR 1994, S. 207 <220>: "erhebliche Kompetenzüberschreitungen" und <233>: "drastische" Ultra-vires-Akte; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 238 für eine Evidenzkontrolle; Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte - offener Dissens, in: Festschrift Stern, 1997, S. 1239 <1255>: "im Falle krasser und evidenter Kompetenzüberschreitung"; Pernice, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Bd. II, Art. 23 Rn. 32: "schwerwiegend, evident und generell"; Oeter, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 2007, S. 361 <377>: Rechtsprechung des Gerichtshofs sei verbindlich, "sofern sie sich nicht völlig von den vertraglichen Grundlagen ablöst"; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 40 : "offensichtlich, anhaltend und schwerwiegend").

62

(2) Der Auftrag, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge das Recht zu wahren (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV), beschränkt den Gerichtshof nicht darauf, über die Einhaltung der Vertragsbestimmungen zu wachen. Dem Gerichtshof ist auch die Rechtsfortbildung im Wege methodisch gebundener Rechtsprechung nicht verwehrt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Befugnis stets ausdrücklich anerkannt (vgl. BVerfGE 75, 223 <242 f.>; BVerfGE 123, 267 <351 f.>). Ihr stehen insbesondere das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die Struktur des unionalen Staatenverbundes nicht entgegen. Vielmehr kann die - in den ihr gesetzten Grenzen wahrgenommene - Rechtsfortbildung gerade auch im supranationalen Verbund zu einer der grundlegenden Verantwortung der Mitgliedstaaten über die Verträge gerecht werdenden Kompetenzabgrenzung zu den Regelungsbefugnissen des Unionsgesetzgebers beitragen.

63

Das Primärrecht sieht an einzelnen Stellen ausdrücklich vor, dass die Unionsorgane auf der Grundlage allgemeiner Grundsätze handeln sollen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind (Art. 6 Abs. 3 EUV; Art. 340 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV). Zur Aufgabe des Gerichtshofs gehört es insoweit, die Rechtlichkeit der Union im Sinne der gemeinsamen europäischen Verfassungstraditionen zu sichern. Maßstab ist sowohl das geschriebene Primär- und Sekundärrecht als auch die ungeschriebenen allgemeinen Grundsätze, wie sie aus den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten unter ergänzender Heranziehung der völkerrechtlichen Verträge der Mitgliedstaaten abgeleitet werden (vgl. Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 220 EGV Rn. 38 m.w.N. zu den allgemeinen Grundsätzen im Völkerrecht Gaja, General Principles of Law, in: Wolfrum, Max Planck Encyclopedia of Public International Law, http://www.mpepil.com, Rn. 7 ff., 17 ff.). Bereits die unter anderem vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene Notwendigkeit, einen dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsschutz auszubilden (vgl. BVerfGE 37, 271 <285>), war seit den 1970er Jahren nur rechtsfortbildend über die Methode der wertenden Rechtsvergleichung möglich (vgl. grundlegend EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125 Rn. 4; EuGH, Urteil vom 14. Mai 1974, Rs. 4/73, Nold/Kommission, Slg. 1974, S. 491 Rn. 13).

64

Rechtsfortbildung ist allerdings keine Rechtsetzung mit politischen Gestaltungsfreiräumen, sondern folgt den gesetzlich oder völkervertraglich festgelegten Vorgaben. Sie findet hier Gründe und Grenzen. Anlass zu richterlicher Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird. Rechtsfortbildung überschreitet diese Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte (vertrags-)gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft. Dies ist vor allem dort unzulässig, wo Rechtsprechung über den Einzelfall hinaus politische Grundentscheidungen trifft oder durch die Rechtsfortbildung strukturelle Verschiebungen im System konstitutioneller Macht- und Einflussverteilung stattfinden.

65

Eine wesentliche Grenze richterlicher Rechtsfortbildung auf Unionsebene ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 EUV). Es gewinnt seine Bedeutung vor dem Hintergrund der stark föderalisierten und kooperativen Organisationsstruktur der Europäischen Union, die in vielen Bereichen sowohl im Umfang der Kompetenzen als auch in der Organisationsstruktur und den Verfahren zwar staatsanalog, aber nicht bundesstaatlich geprägt ist. Die Mitgliedstaaten haben nur jeweils begrenzte Hoheitsrechte übertragen. Generalermächtigungen und die Kompetenz, sich weitere Kompetenzen zu verschaffen, widersprechen diesem Prinzip und würden die verfassungsrechtliche Integrationsverantwortung der Mitgliedstaaten untergraben (vgl. BVerfGE 123, 267 <352 f.>). Dies gilt nicht nur, wenn sich eigenmächtige Kompetenzerweiterungen auf Sachbereiche erstrecken, die zur verfassungsrechtlichen Identität der Mitgliedstaaten rechnen oder besonders vom demokratisch diskursiven Prozess in den Mitgliedstaaten abhängen (vgl. BVerfGE 123, 267 <357 f.>), allerdings wiegen hier Kompetenzüberschreitungen besonders schwer.

66

(3) Soll das supranationale Integrationsprinzip nicht Schaden nehmen, muss die Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht zurückhaltend ausgeübt werden. Da es in jedem Fall einer Ultra-vires-Rüge auch über eine Rechtsauffassung des Gerichtshofs zu befinden hat, sind Aufgabe und Stellung der unabhängigen überstaatlichen Rechtsprechung zu wahren. Dies bedeutet zum einen, dass die unionseigenen Methoden der Rechtsfindung, an die sich der Gerichtshof gebunden sieht und die der "Eigenart" der Verträge und den ihnen eigenen Zielen Rechnung tragen (vgl. EuGH, Gutachten 1/91, EWR-Abkommen, Slg. 1991, S. I-6079 Rn. 51), zu respektieren sind. Zum anderen hat der Gerichtshof Anspruch auf Fehlertoleranz. Daher ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, bei Auslegungsfragen des Unionsrechts, die bei methodischer Gesetzesauslegung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen. Hinzunehmen sind auch Interpretationen der vertraglichen Grundlagen, die sich ohne gewichtige Verschiebung im Kompetenzgefüge auf Einzelfälle beschränken und belastende Wirkungen auf Grundrechte entweder nicht entstehen lassen oder einem innerstaatlichen Ausgleich solcher Belastungen nicht entgegenstehen.

67

2. Gemessen an diesen Maßstäben hat das Bundesarbeitsgericht die Tragweite der Vertragsfreiheit der Beschwerdeführerin nach Art. 12 Abs. 1 GG nicht verkannt. Das angegriffene Urteil erweist sich als verfassungsgemäß, soweit es die Unanwendbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG angenommen hat.

68

Im Hinblick auf die zugrundegelegte Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Rechtsfortbildung ultra vires, die zur - allein vom Bundesverfassungsgericht feststellbaren (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>) - Unanwendbarkeit der betreffenden Rechtsgrundsätze in Deutschland führen müsste, nicht ersichtlich. Es kann dahinstehen, ob sich das in der Mangold-Entscheidung gefundene Ergebnis durch anerkannte juristische Auslegungsmethoden noch gewinnen lässt und ob gegebenenfalls bestehende Mängel offenkundig wären. Jedenfalls handelt es sich um keine das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in offensichtlicher und strukturwirksamer Weise verletzende Überschreitung der durch Zustimmungsgesetz auf die Europäische Union übertragenen Hoheitsrechte.

69

a) Der Gerichtshof kam in der Mangold-Entscheidung zu dem Ergebnis, eine nationale Regelung wie § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG verstoße gegen Gemeinschaftsrecht und müsse unangewendet bleiben (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, Rs. C-144/04, Slg. 2005, S. I-9981 Rn. 77 f.). Diese Aussage wurde mit zwei Argumenten begründet, deren Beziehung zueinander unklar bleibt (vgl. Thüsing, Europarechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz als Bindung des Arbeitgebers?, ZIP 2005, S. 2149 <2150 f.>). Die Regelung stehe sowohl im Widerspruch zu Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG als auch zu einem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, der Diskriminierungen aus Gründen des Alters untersage.

70

Während eine Stelle in der englischen und französischen Sprachfassung der Mangold-Entscheidung darauf hindeutet, dass sich der Gerichtshof insbesondere auf das allgemeine Diskriminierungsverbot zu stützen scheint (vgl. EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 74: "[z]weitens" , "[i]n the second place and above all" , "[e]n second lieu et surtout" ), könnte eine andere Stelle für das Gegenteil sprechen (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 78: "insbesondere Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie 2000/78"). Dem entspricht die Vermutung, dass die Mangold-Entscheidung, obwohl die Richtlinie 2000/78/EG für Deutschland innerhalb der noch laufenden Umsetzungsfrist noch nicht anwendbar war, die deutsche Befristungsregel am Maßstab dieser Richtlinie prüfte, weil die Richtlinie nur das konkretisiere, was durch den allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung ohnehin und unabhängig von der Richtlinie gelte (vgl. Skouris, Methoden der Grundrechtsgewinnung in der EU, in: Merten/Papier, HGRe, Bd. VI/1, 2010, § 157 Rn. 24).

71

b) Ein hinreichend qualifizierter Verstoß des Gerichtshofs gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung lässt sich nicht feststellen. Weder die Öffnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2000/78/EG auf Fälle, die gerade einer beruflichen Eingliederung von älteren Langzeitarbeitslosen dienen sollten (aa), noch die vom Gerichtshof angenommene Vorwirkung der in Deutschland noch umzusetzenden Richtlinie 2000/78/EG (bb) noch die Herleitung eines allgemeinen Grundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung (cc) hat zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen geführt.

72

aa) Der Gerichtshof hielt den allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung in der Rechtssache Mangold für anwendbar, weil der Sachverhalt grundsätzlich in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG falle (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 51, 64, 75). Diese Weichenstellung war die Voraussetzung dafür, dass eine nationale Regelung wie § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG überhaupt am Gemeinschaftsrecht - und also auch an dessen allgemeinen Grundsätzen - gemessen werden konnte. Die Beschwerdeführerin hat dagegen vorgetragen, dass die einschlägige Vorschrift des Teilzeit- und Befristungsgesetzes der Beschäftigungspolitik gedient habe, welche weiterhin in der mitgliedstaatlichen Zuständigkeit liege.

73

Ob eine bestimmte Maßnahme eines Mitgliedstaates in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, bestimmt der Gerichtshof jeweils im Einzelfall nach der inhaltlichen Tragweite der Maßnahme in Bezug auf die Sachmaterie und die beteiligten Personen. Auch eine Richtlinie kann den Anwendungsbereich der Verträge eröffnen und so dazu führen, dass die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts in das mitgliedstaatliche Recht einwirken (vgl. von Danwitz, Rechtswirkungen von Richtlinien in der neueren Rechtsprechung des EuGH, JZ 2007, S. 697 <704>). Ob eine Richtlinie den Anwendungsbereich der Verträge eröffnet, wird nach ihren Zielen bestimmt (vgl. EuGH, Urteil vom 16. Juni 1998, Rs. C-226/97, Lemmens, Slg. 1998, S. I-3711 Rn. 25 und 35 f.). Dagegen kann der nationale Gesetzgeber nicht den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts ausschließen, indem er mit einer Maßnahme auch Ziele - wie etwa die Beschäftigungspolitik (vgl. die beschränkten Handlungskompetenzen nach Art. 145 bis Art. 150 AEUV) - verfolgt, zu deren Regelung die Union nicht befugt ist (vgl. EuGH, Urteil vom 24. November 1998, Bickel und Franz, Rs. C-274/96, Slg. 1998, S. I-7637 Rn. 17; stRspr). Der Gerichtshof rechtfertigt dies mit dem Hinweis, dass die Mitgliedstaaten andernfalls durch unterschiedliche Zielsetzungen die einheitliche Wirkung des Unionsrechts beeinträchtigen könnten.

74

Im konkreten Fall begründete der Gerichtshof die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts und damit des allgemeinen Verbots der Altersdiskriminierung damit, dass mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz ursprünglich die Richtlinie 1999/70/EG habe umgesetzt werden sollen (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 75). Dagegen kann eingewendet werden, dass nur der ursprüngliche Erlass des Teilzeit- und Befristungsgesetzes im Jahr 2000 der Umsetzung der Richtlinie 1999/70/EG diente, nicht aber das Änderungsgesetz, mit dem Satz 4 in den bestehenden § 14 Abs. 3 TzBfG eingefügt wurde (vgl. zum fehlenden Verweis auf das Gemeinschaftsrecht BTDrucks 15/25, S. 40). Entscheidende Erwägung, die aus der Binnenlogik des Unionsrechts heraus nicht vollständig zurückgewiesen werden kann, ist jedoch die sachliche Reichweite der Richtlinie 1999/70/EG, insbesondere deren Verschlechterungsverbot (§ 8 Abs. 3 der Richtlinie 1999/70/EG). Sie ist das maßgebende Argument, nicht die jeweilige Zielsetzung des nationalen Gesetzgebers.

75

bb) Eine im Hinblick auf das Ersichtlichkeitskriterium gravierende, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verletzende Rechtsfortbildung durch die Mangold-Entscheidung des Gerichtshofs ist auch nicht wegen der vom Gerichtshof angenommenen Vorwirkung der in Deutschland noch umzusetzenden Richtlinie 2000/78/EG gegeben.

76

Der Gerichtshof ging davon aus, dass einem Verstoß einer nationalen Regelung wie § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG gegen Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG nicht entgegenstehe, dass deren Umsetzungsfrist zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht abgelaufen gewesen sei (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 70 ff.). Der während der Umsetzungsfrist bestehende Handlungs- und Konkretisierungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland wurde dadurch jedoch nicht so verkürzt, dass eine strukturwirksame Kompetenzverschiebung angenommen werden müsste. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist einer in Kraft getretenen Richtlinie keine Vorschriften zu erlassen, die geeignet sind, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernsthaft in Frage zu stellen (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Dezember 1997, Rs. C-129/96, Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, S. I-7411 Rn. 45; EuGH, Urteil vom 8. Mai 2003, Rs. C-14/02, ATRAL, Slg. 2003, S. I-4431 Rn. 58).

77

Die Mangold-Entscheidung lässt sich in die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs zur innerstaatlichen Wirkung von Richtlinien einordnen. Obwohl der Gerichtshof mehrfach entschieden hat, dass eine Richtlinie "nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist" (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Juli 1994, Rs. C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, S. I-3325 Rn. 19 ff.; EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004, verb. Rs. C-397-403/01, Pfeiffer, Slg. 2004, S. I-8835 Rn. 108), hat der Gerichtshof anerkannt, dass richtlinienwidrig erlassene innerstaatliche Normen in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet bleiben müssen (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 30. April 1996, Rs. C-194/94, CIA Security, Slg. 1996, S. I-2201; EuGH, Urteil vom 26. September 2000, Rs. C-443/98, Unilever, Slg. 2000, S. I-7535 Rn. 49 ff.). Mit der in der Mangold-Entscheidung angenommenen Vorwirkung von Richtlinien schafft der Gerichtshof eine weitere Fallgruppe für die sogenannte "negative" Wirkung von Richtlinien. Diese dient wie die Rechtsprechung zur "negativen" Wirkung von Richtlinien insgesamt lediglich der Effektuierung bestehender Rechtspflichten der Mitgliedstaaten, schafft aber keine neuen, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verletzenden Pflichten der Mitgliedstaaten.

78

cc) Es kann dahinstehen, ob sich ein allgemeiner Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten ableiten ließe, obwohl nur zwei der zum Zeitpunkt der Mangold-Entscheidung 15 Verfassungen der Mitgliedstaaten ein besonderes Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters zu entnehmen war (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Mazák vom 15. Februar 2007, Rs. C-411/05, Palacios, Slg. 2007, S. I-8531 Rn. 88; Hölscheidt, in: Meyer, Kommentar zur Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2006, Art. 21 Rn. 15) und auch die völkerrechtlichen Verträge, auf die sich der Gerichtshof mit seinem Hinweis auf die Erwägungsgründe der Richtlinie 2000/78/EG bezogen hatte, kein spezielles Diskriminierungsverbot enthielten. Denn zu einem ersichtlichen Verstoß im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung würde auch eine unterstellte, rechtsmethodisch nicht mehr vertretbare Rechtsfortbildung des Gerichtshofs erst dann, wenn sie auch praktisch kompetenzbegründend wirkte. Mit dem in der Ableitung aus den gemeinsamen mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen umstrittenen allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung wurde aber weder ein neuer Kompetenzbereich für die Union zulasten der Mitgliedstaaten begründet noch eine bestehende Kompetenz mit dem Gewicht einer Neubegründung ausgedehnt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn ohne den Erlass eines - hier als vorwirkend angesehenen - Sekundärrechtsaktes nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten von Bürgern durch Rechtsfortbildung begründet würden, die sich sowohl als Grundrechtseingriffe als auch als Kompetenzverschiebung zulasten der Mitgliedstaaten erweisen würden. Allgemeine Grundsätze dürfen, auch wenn sie den Grundrechtsschutz auf Unionsebene gewährleisten, nicht den Ge-staltungsbereich des Unionsrechts über die eingeräumten Zuständigkeiten der Union hinaus ausdehnen oder gar neue Aufgaben und Zuständigkeiten begründen (vgl. Art. 51 Abs. 2 GRCh).

79

Hier liegt der Fall jedoch anders, weil die an der auf Art. 13 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 19 Abs. 1 AEUV) gestützten Rechtsetzung beteiligten Organe unter Einschluss des Rates und des deutschen Vertreters im Rat - und nicht Richter im Zuge der Rechtsfortbildung - den Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung für arbeitsvertragsrechtliche Rechtsbeziehungen verbindlich gemacht und damit auch den Raum für gerichtliche Rechtsinterpretation eröffnet haben (vgl. insoweit oben aa).

II.

80

Die Beschwerdeführerin ist auch nicht dadurch in ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, dass das angegriffene Urteil keinen Vertrauensschutz gewährt hat.

81

1. a) Zu den wesentlichen Elementen des Rechtsstaatsprinzips zählt die Rechtssicherheit. Der rechtsunterworfene Bürger soll nicht durch die rückwirkende Beseitigung erworbener Rechte in seinem Vertrauen auf die Verlässlichkeit der Rechtsordnung enttäuscht werden (vgl. BVerfGE 45, 142 <167>; 72, 175 <196>; 88, 384 <403>; 105, 48 <57>).

82

Das Vertrauen in den Fortbestand eines Gesetzes kann nicht nur durch die rückwirkende Feststellung seiner Nichtigkeit durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 99, 341 <359 f.>), sondern auch durch die rückwirkende Feststellung seiner Nichtanwendbarkeit durch den Gerichtshof berührt werden. Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein unionsrechtswidriges Gesetz bestimmt sich insbesondere danach, inwieweit vorhersehbar war, dass der Gerichtshof eine derartige Regelung als unionsrechtswidrig einordnet. Es ist ferner von Belang, dass eine Disposition im Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage vorgenommen, das Vertrauen mit anderen Worten betätigt wurde (vgl. BVerfGE 13, 261 <271>).

83

b) Die Möglichkeiten mitgliedstaatlicher Gerichte zur Gewährung von Vertrauensschutz sind unionsrechtlich vorgeprägt und begrenzt. Entscheidungen des Gerichtshofs im Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV wirken grundsätzlich ex tunc. Die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof ist deshalb von den mitgliedstaatlichen Gerichten auch auf Rechtsverhältnisse anzuwenden, die vor Erlass der Vorabentscheidung begründet wurden. Der Gerichtshof schränkt nur ausnahmsweise in Anbetracht der erheblichen Schwierigkeiten, die seine Entscheidung bei in gutem Glauben begründeten Rechtsverhältnissen für die Vergangenheit hervorrufen kann, die Rückwirkungen seiner Entscheidung ein (vgl. EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. C-61/79, Denkavit, Slg. 1980, S. 1205 Rn. 16 f.; stRspr).

84

Vertrauensschutz kann von den mitgliedstaatlichen Gerichten demnach nicht dadurch gewährt werden, dass sie die Wirkung einer Vorabentscheidung zeitlich beschränken, indem sie die nationale Regelung, deren Unvereinbarkeit mit Unionsrecht festgestellt wurde, für die Zeit vor Erlass der Vorabentscheidung anwenden. Eine solche primärwirksame Wirkung des Vertrauensschutzes lässt der Gerichtshof regelmäßig nicht zu, da er im Hinblick auf die einheitliche Geltung des Unionsrechts davon ausgeht, dass nur er selbst die Wirkung der in seinen Entscheidungen vorgenommenen Auslegung zeitlich beschränken könne (vgl. EuGH, Urteil vom 27. März 1980, a.a.O., Rn. 18; stRspr). In der Rechtsprechung des Gerichtshofs finden sich hingegen keine Anhaltspunkte dafür, dass es den mitgliedstaatlichen Gerichten verwehrt wäre, sekundären Vertrauensschutz durch Ersatz des Vertrauensschadens zu gewähren.

85

c) Es ist danach möglich, zur Sicherung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes in Konstellationen der rückwirkenden Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs innerstaatlich eine Entschädigung dafür zu gewähren, dass ein Betroffener auf die gesetzliche Regelung vertraut und in diesem Vertrauen Dispositionen getroffen hat. Auch das unionsrechtliche Haftungsrecht weist dem Mitgliedstaat die Verantwortung für ein unionsrechtswidriges Gesetz zu und entlastet insoweit den Bürger. Es kann offen bleiben, ob ein entsprechender Anspruch bereits im bestehenden Staatshaftungssystem angelegt ist.

86

2. Das Bundesarbeitsgericht hat die Tragweite eines nach Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG zu gewährenden Vertrauensschutzes nicht verkannt. Wegen des gemeinschafts- beziehungsweise unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs durfte sich das Bundesarbeitsgericht außer Stande sehen, Vertrauensschutz dadurch zu gewähren, dass es die zugunsten der Beschwerdeführerin ergangenen Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt. Ein ohne Verstoß gegen den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang möglicher Anspruch auf Entschädigung gegen die Bundesrepublik Deutschland für Vermögenseinbußen, die die Beschwerdeführerin durch die Entfristung des Arbeitsverhältnisses erlitten hat, war nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Bundesarbeitsgericht.

III.

87

Das angegriffene Urteil verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Anspruch auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

88

1. Der Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Es stellt einen Entzug des gesetzlichen Richters dar, wenn ein deutsches Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht nachkommt (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 75, 223 <233 ff.>; 82, 159 <192 ff.>). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellt allerdings nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Denn das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (vgl. BVerfGE 29, 198 <207>; 82, 159 <194>).

89

Dieser Willkürmaßstab wird auch angelegt, wenn eine Verletzung von Art. 267 Abs. 3 AEUV in Rede steht. Das Bundesverfassungsgericht ist unionsrechtlich nicht verpflichtet, die Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht voll zu kontrollieren und an der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 267 Abs. 3 AEUV auszurichten (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Mai 2008 - 2 BvR 2419/06 -, NVwZ-RR 2008, S. 658 <660>; anders BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 -, NJW 2010, S. 1268 <1269>). Art. 267 Abs. 3 AEUV fordert kein zusätzliches Rechtsmittel zur Überprüfung der Einhaltung der Vorlagepflicht (vgl. Kokott/Henze/Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, S. 633 <635>). Ein letztinstanzliches Gericht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist definitionsgemäß die letzte Instanz, vor der der Einzelne Rechte geltend machen kann, die ihm aufgrund des Unionsrechts zustehen (vgl. EuGH, Urteil vom 30. September 2003, Rs. C-224/01, Köbler, Slg. 2003, S. I-10239 Rn. 34). So behalten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspricht. Das Bundesverfassungsgericht, das nur über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums wacht, wird seinerseits nicht zum "obersten Vorlagenkontrollgericht" (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1987 - 2 BvR 808/82 -, NJW 1988, S. 1456 <1457>).

90

Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wird insbesondere in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (vgl. BVerfGE 82, 159 <194 ff.>). Zu verneinen ist in diesen Fällen ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG deshalb bereits dann, wenn das Gericht die entscheidungserhebliche Frage in zumindest vertretbarer Weise beantwortet hat.

91

2. Das angegriffene Urteil verletzt nicht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, denn das Bundesarbeitsgericht hat durch die Entscheidung, das Verfahren nicht an den Gerichtshof vorzulegen, die Beschwerdeführerin nicht ihrem gesetzlichen Richter entzogen.

92

Das Bundesarbeitsgericht hätte insbesondere nicht wegen Unvollständigkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vorabentscheidung herbeiführen müssen. Unter der Annahme, dass der Gerichtshof die Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG in der Mangold-Entscheidung mit der gebotenen Eindeutigkeit festgestellt habe und die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestehenden Voraussetzungen für eine zeitliche Begrenzung von Entscheidungswirkungen nicht erfüllt seien, sah das Bundesarbeitsgericht sich nicht als verpflichtet an, dem Gerichtshof durch eine Vorlage die Gelegenheit zur nachträglichen Gewährung von Vertrauensschutz zu eröffnen. Dies stellt ein vertretbares Ergebnis dar. Die Gegenauffassung der Beschwerdeführerin, dass der Gerichtshof die Frage des rückwirkenden Vertrauensschutzes in der Rechtssache Mangold offen gelassen habe und die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur zeitlichen Begrenzung von Entscheidungswirkungen sich nicht auf die vorliegende Fallgestaltung beziehe, ist der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts nicht eindeutig vorzuziehen. Das Bundesarbeitsgericht durfte vielmehr davon ausgehen, dass § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG nach der Mangold-Entscheidung unangewendet bleiben musste.

IV.

93

Diese Entscheidung ist hinsichtlich der Begründung mit 6:2 Stimmen und im Ergebnis mit 7:1 Stimmen ergangen.

Abw. Meinung

94

Entgegen der Ansicht der Senatsmehrheit ist die Verfassungsbeschwerde begründet. Das angefochtene Urteil verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG, weil das Bundesarbeitsgericht § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG ohne verfassungsrechtlich tragfähigen Grund unangewendet gelassen und sich so der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) entzogen hat. Auf das Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Gerichtshof) in der Rechtssache Mangold konnte sich das Bundesarbeitsgericht von Verfassungs wegen nicht berufen.

95

Die Senatsmehrheit überspannt die Anforderungen an die Feststellung eines Ultra-vires-Handelns der Gemeinschafts- oder Unionsorgane durch das Bundesverfassungsgericht und weicht insofern ohne überzeugende Gründe von dem Senatsurteil zum Vertrag von Lissabon ab (I.). Zu Unrecht verneint sie eine Kompetenzüberschreitung seitens des Gerichtshofs in der Rechtssache Mangold (II.). Auch das Bundesarbeitsgericht hat diese Kompetenzüberschreitung und die hieraus resultierenden Handlungsoptionen verkannt (III.).

I.

96

1. Mit dem Urteil zum Lissabon-Vertrag vom 30. Juni 2009 ist in Erinnerung zu rufen, dass das Handeln von Organen der Europäischen Union nur so lange demokratisch legitimiert ist, wie es sich im Rahmen der Kompetenzen hält, die die Mitgliedstaaten der Union übertragen haben. Die Einhaltung von Zuständigkeitsgrenzen ist nicht allein eine Frage des Austarierens der Machtbefugnisse von Verfassungs- und Gemeinschaftsorganen. Im demokratischen Regierungssystem folgt der Geltungsanspruch einer Norm nicht aus einer einseitigen Machtunterworfenheit des Bürgers, sondern aus ihrer Rückführung auf den Bürger selbst. Demokratische Legitimation erfordert deshalb eine tatsächliche, durchgehende Anknüpfung an das Staatsvolk. Sie darf nicht nur - und sei es im Wege des Ausschlusses einer Überprüfbarkeit - konstruiert sein. Ihre Notwendigkeit endet nicht an der Grenze des nationalen Zustimmungsgesetzes und dem Verbot der Blankettermächtigung, sondern setzt sich innerhalb der Staatengemeinschaft fort. Tätigkeiten, die von den übertragenen Aufgaben nicht umfasst werden, sind dadurch nicht mitlegitimiert (vgl. BVerfGE 93, 37 <68>). In diesem Sinne vermitteln und begrenzen die der Union von den Mitgliedstaaten verliehenen Kompetenzen den (sachlichen) Legitimationszusammenhang, in dem jedes Hoheitsgewalt ausübende Organ stehen muss (vgl. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 307), und dessen Wahrung auch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als Ausdruck der staatsverfassungsrechtlichen Grundlage aller Unionsgewalt zum Ziel hat.

97

Denn die Ermächtigung, hoheitliche Gewalt supranational auszuüben, rührt von den Mitgliedstaaten als den Herren der Verträge her (BVerfGE 123, 267 <349>); für die europäische Unionsgewalt gibt es kein Legitimationssubjekt, das sich unabgeleitet von der Hoheitsgewalt der Staaten auf gleichsam höherer Ebene verfassen könnte. Der Lissabon-Vertrag hat in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV das Prinzip begrenzter und kontrollierter Einzelermächtigung bestätigt. Zuständigkeitsausübungsregeln wie Art. 5 Abs. 3 und Abs. 4, Art. 4 Abs. 2 EUV gewährleisten zudem, dass übertragene Kompetenzen in einer die mitgliedstaat-lichen Zuständigkeiten schonenden Weise wahrgenommen werden. Darüber hinaus enthält der Vertrag - bei verfassungsgemäßer Interpretation - keinerlei Vorschriften, die den Unionsorganen die Kompetenz-Kompetenz verschaffen würde (vgl. BVerfGE 123, 267 <392 f.>; zustimmend v. Bogdandy, NJW 2010, S. 1, 4). Dafür wäre auch die Verknüpfung von demokratischer Legitimation mit der Ausübung hoheitlicher Gewalt, die die Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hervorhebt, nicht hinreichend ausgeprägt. Der Anwendungsvorrang, der durch Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelt wurde, bleibt ein völkervertraglich übertragenes und damit abgeleitetes Institut (BVerfGE 123, 267 <400>). Er ändert gerade nichts an der Pflicht zur Einhaltung der Kompetenzordnung. Er reicht für in Deutschland ausgeübte Hoheitsgewalt nur so weit, wie die Bundesrepublik dem zugestimmt hat oder zustimmen durfte (BVerfGE 123, 267 <402>). Insbesondere auch die dem Gerichtshof übertragene Kompetenz zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts ist nicht schrankenlos. Die ihr durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen unterliegen letztlich der Gerichtsbarkeit des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 75, 223 <235>; 123, 267 <344>).

98

Verfassung und völkerrechtlicher Vertrag begründen Kompetenzen, um damit im Umfang der jeweiligen Zuschreibung rechtmäßige, das heißt rechtsstaatlich und demokratisch legitimierte Hoheitsgewalt zu begründen. Dies stand dem Senat in seinem Urteil vom 30. Juni 2009 vor Augen und hat seine Linienführung bestimmt. Durch die Zuschreibung von Kompetenzen werden unterschiedliche supranationale und nationale Funktionen einander zugeordnet. Sie wollen damit eine sachgemäße Kooperation, sichtbare Verantwortlichkeit gegenüber dem Bürger und gegenseitige Kontrolle sichern und im Ergebnis so den Missbrauch hoheitlicher Gewalt verhindern. Ein Übermaß an Verflechtungen und Überlagerungen höhlt die Substanz demokratischer Verantwortlichkeit aus und verletzt das aus demokratischer Rechtsstaatlichkeit fließende Gebot, dass Organe - nationale oder supranationale - für ihre Entscheidungen Verantwortung zu tragen haben.

99

2. Im Falle von Grenzdurchbrechungen - die diese Verantwortlichkeiten verwischen - hat das Bundesverfassungsgericht die Pflicht zur Ultra-vires-Kontrolle (BVerfGE 123, 267 <353 f.>). Beim derzeitigen Entwicklungsstand des Unionsrechts kommen allein die nationalen Höchstgerichte, insbesondere die Verfassungsgerichte, als Instanzen für die Ausübung einer Kompetenzkontrolle gegenüber den Unionsorganen in Frage, nachdem auf der europäischen Ebene der Gerichtshof den Schlussstein des Systems bildet und diese Position tendenziell gemeinschaftsfreundlich genutzt hat (vgl. Grimm, Der Staat 48 <2009>, S. 475 <494>). Die exekutiven und judikativen Instanzen der Europäischen Union haben weithin die Möglichkeit, das Unionsrecht in der von ihnen für richtig gehaltenen Interpretation durchzusetzen, ohne dass die politischen Instanzen über effektive Mechanismen zur Gegensteuerung für den Fall verfügen würden, dass sie die Folgen der Interpretation für schädlich erachten. Die Möglichkeit, eingetretenen Kompetenzaushöhlungen legislativ oder durch Vertragsrevisionen zu begegnen, ist angesichts der hierfür bestehenden hohen Hürden in einer Union mit 27 Mitgliedstaaten von geringer praktischer Wirksamkeit (vgl. Grimm, a.a.O. <493 f.>; Scharpf, Legitimität im europäischen Mehrebenensystem, Leviathan 2009, S. 244 <248 ff.>).

100

3. Bei der Ausübung dieser Prüfungskompetenz ist der Grundsatz der Europafreundlichkeit des Grundgesetzes als Korrelat des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) zu beachten und fruchtbar zu machen (BVerfGE 123, 267<354>). Das hier auftretende Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip der Wahrung demokratischer Legitimation und der Funktionsfähigkeit der Union (vgl. Folz, Demokratie und Integration, 1999, S. 395) löst die Mehrheit einseitig zu Gunsten der Funktionsfähigkeit auf.

101

a) In der Entscheidung zum Vertrag von Lissabon hat der Senat ein ausgewogenes Modell entwickelt, das die Kontrolle in materieller Hinsicht auf ersichtliche Grenzdurchbrechungen gegenüber den Mitgliedstaaten beschränkt und sie in formeller Hinsicht unter den Vorrang des Rechtsschutzes auf Unionsebene stellt (BVerfGE 123, 267 <353>). Erfasst ist damit jede ausdehnende Auslegung der Verträge, die einer unzulässigen autonomen Vertragsänderung gleichkommt (vgl. Everling, EuR 2010, S. 91 <103, Fn. 62>). Kompetenzverletzungen peripherer Natur, die einen offensichtlichen und eindeutigen Charakter vermissen lassen und die Substanz demokratischer Verantwortlichkeit nicht in Frage stellen, bleiben außer Betracht; das gleiche gilt selbstverständlich für Kompetenzüberschreitungen, die nur von unionsinterner Bedeutung sind und sich auf die Freiräume der Mitgliedstaaten nicht auswirken. "Ersichtliche", also klare und eindeutige Verletzungen, sind zunächst einer Beurteilung durch den Gerichtshof zugänglich zu machen, wobei die Möglichkeit besteht, bestehende Bedenken in kompetenzieller Hinsicht zu artikulieren. Am vorliegenden Fall zeigt sich geradezu exemplarisch, wie der Vorrang des Rechtsschutzes auf Unionsebene zu realisieren gewesen wäre und welches konstruktive Potential dessen Ausschöpfung gehabt hätte (unten III.). Auf diesem Wege lässt sich hinreichend sicherstellen, dass eine Aktivierung der Reservekompetenz (BVerfGE 123, 267 <401>) des Bundesverfassungsgerichts zur Feststellung der Nichtanwendbarkeit von Unionsrecht wegen Kompetenzüberschreitung auf Ausnahmefälle beschränkt bleibt (vgl. Wahl, Der Staat 48 <2009>, S. 587 <594>).

102

b) Die Senatsmehrheit geht über das Erfordernis einer ersichtlichen - also klaren und offensichtlichen - Kompetenzüberschreitung hinaus und verlässt den der Lissabon-Entscheidung zu Grunde liegenden Konsens, indem sie nun einen "hinreichend qualifizierten" Kompetenzverstoß fordert, der nicht nur offensichtlich ist, sondern zudem zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und supranationaler Organisation führt. Damit schießt die Senatsmehrheit über das Ziel einer europarechtsfreundlichen Ausgestaltung der Ultra-vires-Kontrolle hinaus. Sie verkennt die in der Lissabon-Entscheidung hervorgehobene wesentliche Voraussetzung einer zwingenden demokratischen Legitimation bei Ausübung aller hoheitlichen Gewalt, die bei jeder Kompetenzverletzung durchbrochen ist; wird die Ausübung hoheitlicher Gewalt ohne hinreichende demokratische Legitimation zugelassen, so widerspricht dies der Kernaussage des Senatsurteils vom 30. Juni 2009.

103

Mit der Forderung nach einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge (C. I. 2. b) verkennt die Senatsmehrheit zudem, dass spezifische Gefahren für die Wahrung der Kompetenzen und damit der demokratischen Legitimation im Fall der Europäischen Union weniger von schwerwiegenden - und als solchen erkennbaren - Kompetenzanmaßungen im Einzelfall als von schleichenden Entwicklungen ausgehen, in deren Verlauf kleinere, für sich betrachtet möglicherweise geringfügige Kompetenzüberschreitungen kumulativ bedeutende Folgen haben. Die wohl in allen föderalen Systemen naheliegende Gefahr einer "politischen Selbstverstärkung" (vgl. BVerfGE 123, 267 <351 f.>) der höheren Ebene besteht im Fall der Europäischen Union in besonderer Weise, da die Kompetenzverteilung hier - anders als in Bundesstaaten - nicht gegenstandsbezogen, sondern final erfolgt. Das Ziel, die Herstellung und Aufrechterhaltung des Binnenmarktes, wirkt entgrenzend (Grimm, Der Staat 48 <2009>, S. 475 <493>). Ob sich im Rahmen solcher Entwicklungen - die sich anhand der im Fall Mangold kulminierenden steten Erweiterung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Wirkung von Richtlinienbestimmungen (unten II. 1. b) illustrieren lassen - jemals ein Einzelfall einer Kompetenzüberschreitung ausmachen lässt, der die von der Senatsmehrheit geforderte Schwere aufweist und daher den Gegenmechanismus der Ultra-vires-Kontrolle auslöst, erscheint sehr fraglich - zumal die Eignung eines Einzelakts, strukturelle Verschiebungen im Kompetenzgefüge herbeizuführen, sich vielfach erst im Nachhinein wirklich wird beurteilen lassen (vgl. Scharpf, Legitimität im europäischen Mehrebenensystem, Leviathan 2009, S. 244 <264>).

104

c) Im Ergebnis wird die Senatsmehrheit so ihrer Verantwortung für den rechtsstaatlich-demokratischen Sinngehalt von Kompetenzvorschriften nicht gerecht. Sie verfolgt damit eine schon in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erkennbare problematische Tendenz weiter, das demokratisch begründete nationale Letztentscheidungsrecht über die Anwendung von Hoheitsgewalt im eigenen Territorium und die damit einhergehende Verantwortung auch für die Einhaltung der an die Union verliehenen Kompetenzen nur noch auf dem Papier zu behaupten und vor deren praktisch wirksamer Vollziehung zurückzuschrecken: Hatte das Bundesverfassungsgericht zunächst offen gelassen, ob Gemeinschaftsrecht am Grundgesetz gemessen werden könne (BVerfGE 22, 293 <298 f.>), so hatte es die Frage sodann in der Solange I-Entscheidung im Hinblick auf eine Grundrechtskontrolle bejaht (BVerfGE 37, 271 <280 ff.>), um eben diese Prüfungskompetenz zwölf Jahre später (zur Zwischenzeit siehe BVerfGE 52, 187 <202 f.>) im Hinblick auf die gewachsene Grundrechtsjudikatur des Gerichtshofs zu suspendieren (Solange II, BVerfGE 73, 339 <387>). Sodann entwickelte das Gericht erst in Umrissen, später deutlicher die Vorstellung einer Nachprüfung der Einhaltung der Kompetenzgrenzen (vgl. BVerfGE 75, 223 <242>; 89, 155 <188>). Anstatt allerdings dieses Mittel zu einem effektiven Kontrollinstrument zu machen, kehrte das Gericht praktisch wieder zum status quo der Solange II-Entscheidung zurück (vgl. etwa den Bananenmarkt-Beschluss BVerfGE 102, 147 <163>; zur Entwicklung vgl. Grimm, Der Staat 48 <2009>, S. 475 <478 f.>).

II.

105

Der Gerichtshof hat mit seinem Urteil in der Rechtssache Mangold die ihm verliehenen Kompetenzen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts ersichtlich überschritten und ultra vires gehandelt. Die von der Mehrheit offen gelassene Frage, ob der Gerichtshof mit seinem Urteil den Bereich der vertretbaren Auslegung - einschließlich der Rechtsfortbildung - verlassen hat, ist offensichtlich zu bejahen (1.); die Entscheidung des Gerichtshofs hat sich auch zu Lasten der dem Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland nach dem Vertrag verbleibenden Handlungsspielräume ausgewirkt (2.).

106

1. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Gerichtshof im Fall Mangold zu Recht den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts für eröffnet gehalten und zu Recht einen inhaltlichen Widerspruch zwischen § 14 TzBfG und Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG festgestellt hat. Jedenfalls die Erwägungen, mit denen der Gerichtshof sich über den fehlenden Ablauf der Umsetzungsfrist hinweggesetzt hat, stellen sich nicht mehr als noch vertretbare Auslegung und Fortbildung des Unionsrechts dar, sondern als ausdehnende Auslegung der Verträge, die einer unzulässigen autonomen Vertragsänderung gleichkommt.

107

a) Auszugehen ist von einem schlichten Befund, für dessen Wahrnehmung man sich freilich nicht den Blick verstellen darf, indem man die am Gedanken des effet utile orientierte Rechtsprechungstradition des Gerichtshofs von vornherein als gegeben voraussetzt: Der Gerichtshof hat das deutsche Recht an Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG gemessen, obwohl diese Richtlinie zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Bundesrepublik Deutschland nicht verbindlich war; nach dem Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers waren die demokratisch legitimierten Organe der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt den Bindungen der Richtlinie noch nicht unterworfen. Ferner hat der Gerichtshof der noch nicht in Kraft getretenen Richtlinie trotz der in Art. 249 Abs. 2, 3 des EG-Vertrages in der Gestalt des Vertrages von Nizza (Art. 288 Abs. 2, 3 AEUV) niedergelegten Differenzierung eine (negative) unmittelbare innerstaatliche Wirkung beigemessen, die zur Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts führte. Letzteres hat sich schließlich - wie auch dem Gerichtshof klar sein musste - zu Lasten von Grundrechtsträgern ausgewirkt, welche auf die Wirksamkeit des nationalen Arbeitsrechts vertrauten.

108

b) Die für dieses Ergebnis vorgebrachten Begründungsansätze des Gerichtshofs vermögen ersichtlich nicht zu überzeugen; sie führen zu dem Schluss, dass der Gerichtshof ein von ihm im Sinne einer möglichst weitgehenden Geltung des Gemeinschaftsrechts gewolltes Ergebnis ohne Rücksicht auf den entgegenstehenden Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers durchgesetzt und so die Grenzen methodisch vertretbarer Rechtsfortbildung verlassen hat. Zudem verdeutlichen sie, wie unterschiedliche, durchweg unionsfreundliche, aber für sich genommen längst akzeptierte Argumentationsmuster des Gerichtshofs in ihrer Kombination die Gefahr einer schrittweisen, schwer aufzuhaltenden Erosion mitgliedstaatlicher Kompetenzen und demokratischer Legitimation mit sich bringen.

109

aa) Soweit der Gerichtshof das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts bezeichnet und sich hierauf bezogen hat, lässt sich dies weder anhand der Urteilsgründe noch auch unabhängig davon nachvollziehen. Die Herleitung eines spezifischen Diskriminierungsverbots wegen des Alters aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten oder aus internationalen Verträgen ist nicht vertretbar. Das ist im juristischen Schrifttum und nicht zuletzt von Generalanwalt Mazák bereits hinreichend dargelegt und bislang nicht ernstlich bezweifelt worden; auch die Senatsmehrheit kommt - obwohl sie die Frage formell offenlässt - letztlich nicht umhin, dies zu bemerken (siehe dazu unter C. I. 2. b) cc) mit den dort genannten Nachweisen; vgl. ferner Gerken/Rieble/Roth/Stein/Streinz, "Mangold" als ausbrechender Rechtsakt, 2009, S. 19 ff.; Körner, NZA 2005, S. 1395 <1397>; Krebber, Comparative Labor Law & Policy Journal 2006, S. 377 <390 f.>; Preis, NZA 2006, S. 401 <402>; Riesenhuber, ERCL 2007, S. 62 <66 f.>; Wieland, NJW 2009, S. 1841 <1843>). Vor diesem Hintergrund geht es auch nicht an, das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters kurzerhand zum Anwendungsfall des allgemeinen unionsrechtlichen Gleichheitssatzes (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1977 - Rs. C-117/76 -, Slg. 1977, S. 1753 Rn. 7 ff.) zu erklären, wie es der Gerichtshof mit seiner Bezugnahme auf die erste Begründungserwägung der Richtlinie 2000/78/EG in der Rechtssache Mangold (Rn. 74) andeutungsweise und in einer Folgeentscheidung ausdrücklich (EuGH, Urteil vom 19. Januar 2010 - Rs. C-555/07 -, juris, Rn. 50) unternimmt; denn die entscheidende Wertung, dass das Alter ein problematisches, weiter rechtfertigungsbedürftiges Differenzierungskriterium darstellen könnte, ergibt sich aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz nicht. Zudem ist sie - wie dargelegt - den gemeinsamen Verfassungstraditionen fremd und gerade im Kontext des Arbeitsmarkts angesichts der großen Probleme, die für ältere arbeitslose Menschen bei der Suche nach einer festen Anstellung bestehen, alles andere als selbstverständlich. Schließlich verliert der Gerichtshof kein Wort über den durch die Doppelung der Rechtsgrundlagen in Art. 12 und 13 EGV (heute: Art. 18 und 19 AEUV) deutlich zum Ausdruck gekommenen Willen der Mitgliedstaaten, Differenzierungen wegen anderer Merkmale als der Staatsangehörigkeit nur nach (!) sekundärrechtlicher Konkretisierung zu beschränken.

110

bb) Auch der Gedanke einer "Vorwirkung" der Richtlinie (siehe dazu unter C. I. 2. b) bb) kann das Auslegungsergebnis des Urteils in der Rechtssache Mangold weder für sich genommen noch in der Zusammenschau mit dem vermeintlichen ungeschriebenen Diskriminierungsverbot wegen des Alters tragen. Denn das vom Gerichtshof erwünschte Ergebnis ergibt sich insofern erst aus einer Kumulation verschiedener, mitgliedstaatliche Freiräume beschneidender dogmatischer Ansätze, die unter Gesichtspunkten einer transparenten demokratischen Kompetenzverteilung im Ergebnis nicht mehr hinzunehmen ist.

111

Die Anerkennung der unmittelbaren Wirksamkeit von Richtlinienbestimmungen seitens des Gerichtshofs war bereits ein eindeutig über den Wortlaut des Vertrags hinausweisender Schritt der Rechtsfortbildung (Oppermann/Classen/ Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, S. 184; vgl. auch Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, insbesondere S. 16 ff.), den das Bundesverfassungsgericht allerdings - anders als manches andere Gericht (vgl. BFHE 143, 383; Conseil d'Etat, Entscheidung vom 22. Dezember 1978, EuR 1979, S. 292) - mitgegangen ist (BVerfGE 75, 223). Insofern hat sich das Bundesverfassungsgericht vom Gedanken der Europarechtsfreundlichkeit leiten lassen. Es hat gewürdigt, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs sich auf gewichtige sachliche Argumente - namentlich den Gedanken einer effektiven Sanktionierung von Mitgliedstaaten nach fruchtlosem Ablauf der Umsetzungsfrist - stützen konnte und die unmittelbare Wirkung an nicht ohne Weiteres erfüllte Voraussetzungen knüpfte, die eine vertragswidrige Gleichstellung von Richtlinie und Verordnung verhinderte (BVerfGE 75, 223 <237, 241 f., 244>). Diese Zurückhaltung lässt der Gerichtshof in der Rechtssache Mangold vermissen. Er hat das Prinzip, dass die unmittelbare Anwendung von Richtlinienbestimmungen den Ablauf der Umsetzungsfrist voraussetzt (vgl. dazu nur Biervert, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 249 EGV Rn. 28), aufgegeben; zudem hat er in der Sache eine unmittelbare Auswirkung der Richtlinie auf das Verhältnis zwischen Privaten zugelassen (vgl. dagegen noch zurückhaltend EuGH, Urteil vom 14. Juli 1994 - Rs. C-91/92 -, Slg. 1994, S. I-3325 Rn. 19 ff.). Auf den Gedanken der Sanktionierung von (säumigen) Mitgliedstaaten lassen sich diese weitreichenden Schritte nicht mehr stützen. Der Gerichtshof erklärt sie mit dem pauschalen Hinweis auf den Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist einer Richtlinie keine Vorschriften mehr erlassen dürfen, die das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernsthaft in Frage stellen können, nur höchst unzureichend. Wenn die Senatsmehrheit hier von einer bloßen "Effektuierung bestehender Rechtspflichten" spricht, die "keine neuen, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verletzenden Pflichten der Mitgliedstaaten" schaffe, wird die Problematik verschleiert: Auch eine "Effektuierung" bestehender Pflichten kann schließlich nur bedeuten, dass rechtliche Bindungen über das Maß des Vereinbarten hinaus verstärkt werden.

112

2. Das durch den Gerichtshof in der Rechtssache Mangold entwickelte Verständnis des Gemeinschaftsrechts betrifft die für das Eingreifen der Ultra-vires-Kontrolle entscheidende Abgrenzung der Kompetenzen von Gemeinschaft (Union) und Mitgliedstaaten. Es nimmt den Mitgliedstaaten Handlungsspielräume auf dem Feld der Beschäftigungspolitik, das in weitem Umfang den Mitgliedstaaten vorbehalten ist (vgl. Art. 3 Abs. 1 Buchstabe i, Art. 125 ff. EGV; Art. 2 Abs. 3, Art. 5 Abs. 2, Art. 145 ff. AEUV). Damit sind die Voraussetzungen für das Eingreifen der Ultra-vires-Kontrolle erfüllt, auch wenn man die Bedeutung der vorliegenden Kompetenzüberschreitung angesichts des abzusehenden Ablaufs der Umsetzungsfrist für die Richtlinie nicht überbewerten muss. Wenn die Senatsmehrheit aber eine "praktische kompetenzbegründende Wirkung" mit der Erwägung verneinen möchte, dass die zur Rechtsetzung befugten Organe unter Einschluss des Rates und des deutschen Vertreters dort den Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung für arbeitsvertragliche Rechtsbeziehungen verbindlich gemacht "und damit auch den Raum für gerichtliche Rechtsinterpretation eröffnet" haben, unterstellt sie ohne weitere Anhaltspunkte, dass die Rechtsauffassung des Gerichtshofs vom gesetzgeberischen Willen gedeckt war. Wenn es noch eines gegenteiligen Indizes bedurft hätte, zeigt doch die Verabschiedung des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG sehr deutlich, dass insbesondere die Bundesrepublik Deutschland ihre Handlungsspielräume keinesfalls in der Weise eingeschränkt wissen wollte, wie sie sich aus dem Urteil in der Rechtssache Mangold ergibt. Im Gegenteil: Der deutsche Vertreter im Rat hatte ersichtlich eine die Freiräume der Bundesrepublik Deutschland einschränkende gerichtliche Rechtsinterpretation nicht im Blick und musste diese auch nicht erkennen können.

113

Schließlich macht auch die Tatsache, dass die Kompetenzüberschreitung des Gerichtshofs für die heute geltende Rechtslage keine Folgen mehr haben dürfte, nachdem ein Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in Art. 21 Abs. 1 der Grundrechte-Charta enthalten ist, den Verstoß nicht ungeschehen - vor allem nicht mit Blick auf den vorliegenden Fall, den das Bundesarbeitsgericht auf der Grundlage des zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltenden Rechts zu entscheiden hatte (vgl. BAG, Urteil vom 27. November 2003 - 2 AZR 177/03 -, juris, Rn. 16; Krüger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2006, Art. 170 EGBGB Rn. 3).

III.

114

Unter diesen Umständen war es dem Bundesarbeitsgericht verwehrt, sich auf das Urteil in der Rechtssache Mangold zu berufen, den klaren Normanwendungsbefehl des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG unangewendet zu lassen und der Entfristungsklage stattzugeben. Da es dem Gericht umgekehrt nach Art. 234 EGV von Gemeinschaftsrechts wegen - und über Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch von Verfassungs wegen - nicht freistand, unter offener Abweichung von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheiden, hätte der 7. Senat alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten erwägen oder erörtern müssen, die sich abzeichnende Spannungslage aufzulösen. Dies ist angesichts der Tatsache, dass das Bundesarbeitsgericht - wie die Senatsmehrheit - die Kompetenzüberschreitung durch den Gerichtshof verkannt hat, zu Unrecht unterblieben.

115

Vorrangig wäre insofern die Inanspruchnahme von Rechtsschutz auf Unionsebene in Betracht gekommen, wie es auch im - freilich erst nach der hier angegriffenen Entscheidung ergangenen - Lissabon-Urteil ausgeführt ist. Das Bundesarbeitsgericht wäre ohne Weiteres in der Lage gewesen, den Gerichtshof im Wege des Verfahrens nach Art. 234 EGV erneut und unter Darlegung der bestehenden Bedenken mit der Frage zu befassen, ob das Gemeinschaftsrecht die Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG verlangte. Das Gemeinschaftsrecht stand einer solchen erneuten, erweitert begründeten Vorlage nicht entgegen (vgl. EuGH, Beschluss vom 5. März 1986 - Rs. C-69/85 -, Slg. 1986, S. 947 Rn. 15). In diesem Rahmen hätte auch die Möglichkeit bestanden, explizit die Frage nach einer möglichen zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen zu stellen (vgl. nur EuGH, Urteil vom 8. April 1976 - Rs. C-43/75, Slg. 1976, S. 455; Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 Rn. 67). Schon das Vorlageverfahren hätte mannigfache Möglichkeiten eröffnet, den sich abzeichnenden Konflikt zwischen verfassungsrechtlichen und gemeinschaftsrechtlichen Erfordernissen in kooperativer Weise und in einem frühen Stadium aufzulösen oder doch zu entschärfen.

116

Für den Fall einer vollumfänglichen Bestätigung der Mangold-Entscheidung hätte das Bundesarbeitsarbeitsgericht des Weiteren prüfen können und müssen, ob und inwieweit europarechtskonforme Entscheidungsmöglichkeiten bestanden, die den in § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Willen jedenfalls im Ergebnis respektiert hätten, etwa indem der vorliegende Rechtsstreit unter Nichtanwendung der genannten Vorschriften nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage entschieden worden wäre. Nur wenn auch solche Wege nicht gangbar gewesen wären, hätte das Bundesarbeitsgericht den Weg der Normenkontrolle entsprechend Art. 100 Abs. 1 GG zur förmlichen Feststellung der Kompetenzüberschreitung durch das Bundesverfassungsgericht gehen können und müssen. Dies zeigt im Übrigen, dass die Ultra-vires-Kontrolle über weite Strecken in europarechtsfreundlicher, kooperativer Weise ausgeübt werden kann; der eigentliche Akt der Feststellung von Kompetenzüberschreitung und Unanwendbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht bleibt folglich in jedem Fall ultima ratio.

(1) Wer einen Gegenstand, der aus einer rechtswidrigen Tat herrührt,

1.
verbirgt,
2.
in der Absicht, dessen Auffinden, dessen Einziehung oder die Ermittlung von dessen Herkunft zu vereiteln, umtauscht, überträgt oder verbringt,
3.
sich oder einem Dritten verschafft oder
4.
verwahrt oder für sich oder einen Dritten verwendet, wenn er dessen Herkunft zu dem Zeitpunkt gekannt hat, zu dem er ihn erlangt hat,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. In den Fällen des Satzes 1 Nummer 3 und 4 gilt dies nicht in Bezug auf einen Gegenstand, den ein Dritter zuvor erlangt hat, ohne hierdurch eine rechtswidrige Tat zu begehen. Wer als Strafverteidiger ein Honorar für seine Tätigkeit annimmt, handelt in den Fällen des Satzes 1 Nummer 3 und 4 nur dann vorsätzlich, wenn er zu dem Zeitpunkt der Annahme des Honorars sichere Kenntnis von dessen Herkunft hatte.

(2) Ebenso wird bestraft, wer Tatsachen, die für das Auffinden, die Einziehung oder die Ermittlung der Herkunft eines Gegenstands nach Absatz 1 von Bedeutung sein können, verheimlicht oder verschleiert.

(3) Der Versuch ist strafbar.

(4) Wer eine Tat nach Absatz 1 oder Absatz 2 als Verpflichteter nach § 2 des Geldwäschegesetzes begeht, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(5) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter gewerbsmäßig handelt oder als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Geldwäsche verbunden hat.

(6) Wer in den Fällen des Absatzes 1 oder 2 leichtfertig nicht erkennt, dass es sich um einen Gegenstand nach Absatz 1 handelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Satz 1 gilt in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 nicht für einen Strafverteidiger, der ein Honorar für seine Tätigkeit annimmt.

(7) Wer wegen Beteiligung an der Vortat strafbar ist, wird nach den Absätzen 1 bis 6 nur dann bestraft, wenn er den Gegenstand in den Verkehr bringt und dabei dessen rechtswidrige Herkunft verschleiert.

(8) Nach den Absätzen 1 bis 6 wird nicht bestraft,

1.
wer die Tat freiwillig bei der zuständigen Behörde anzeigt oder freiwillig eine solche Anzeige veranlasst, wenn nicht die Tat zu diesem Zeitpunkt bereits ganz oder zum Teil entdeckt war und der Täter dies wusste oder bei verständiger Würdigung der Sachlage damit rechnen musste, und
2.
in den Fällen des Absatzes 1 oder des Absatzes 2 unter den in Nummer 1 genannten Voraussetzungen die Sicherstellung des Gegenstandes bewirkt.

(9) Einem Gegenstand im Sinne des Absatzes 1 stehen Gegenstände, die aus einer im Ausland begangenen Tat herrühren, gleich, wenn die Tat nach deutschem Strafrecht eine rechtswidrige Tat wäre und

1.
am Tatort mit Strafe bedroht ist oder
2.
nach einer der folgenden Vorschriften und Übereinkommen der Europäischen Union mit Strafe zu bedrohen ist:
a)
Artikel 2 oder Artikel 3 des Übereinkommens vom 26. Mai 1997 aufgrund von Artikel K.3 Absatz 2 Buchstabe c des Vertrags über die Europäische Union über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind (BGBl. 2002 II S. 2727, 2729),
b)
Artikel 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI des Rates vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. L 328 vom 5.12.2002, S. 1),
c)
Artikel 2 oder Artikel 3 des Rahmenbeschlusses 2003/568/JI des Rates vom 22. Juli 2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor (ABl. L 192 vom 31.7.2003, S. 54),
d)
Artikel 2 oder Artikel 3 des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels (ABl. L 335 vom 11.11.2004, S. 8), der zuletzt durch die Delegierte Richtlinie (EU) 2019/369 (ABl. L 66 vom 7.3.2019, S. 3) geändert worden ist,
e)
Artikel 2 Buchstabe a des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (ABl. L 300 vom 11.11.2008, S. 42),
f)
Artikel 2 oder Artikel 3 der Richtlinie2011/36/EUdes Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates (ABl. L 101 vom 15.4.2011, S. 1),
g)
den Artikeln 3 bis 8 der Richtlinie 2011/93/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates (ABl. L 335 vom 17.12.2011, S. 1; L 18 vom 21.1.2012, S. 7) oder
h)
den Artikeln 4 bis 9 Absatz 1 und 2 Buchstabe b oder den Artikeln 10 bis 14 der Richtlinie (EU) 2017/541 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017 zur Terrorismusbekämpfung und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI des Rates und zur Änderung des Beschlusses 2005/671/JI des Rates (ABl. L 88 vom 31.3.2017, S. 6).

(10) Gegenstände, auf die sich die Straftat bezieht, können eingezogen werden. § 74a ist anzuwenden. Die §§ 73 bis 73e bleiben unberührt und gehen einer Einziehung nach § 74 Absatz 2, auch in Verbindung mit den §§ 74a und 74c, vor.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.