Verwaltungsgericht München Beschluss, 30. März 2016 - M 7 S 16.50059

bei uns veröffentlicht am30.03.2016

Gericht

Verwaltungsgericht München

Tenor

I.

Der Antrag wird abgelehnt.

II.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.

Der Antragsteller, nach seinen Angaben afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 6. Oktober 2015 im Bundesgebiet einen Asylantrag. Bei dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens gab er an, dass er sein Heimatland am 15. Januar 2015 verlassen habe und über Iran (1 Monat), Türkei (15-16 Tage), Griechenland (25 Tage), Mazedonien (2 Tage), Serbien (2 Tage) und Ungarn (8-10 Tage) nach Deutschland gereist sei. In Ungarn seien ihm Fingerabdrücke abgenommen worden, einen Antrag auf internationalen Schutz habe er nicht gestellt. Er wolle nicht nach Ungarn überstellt werden. Er möge Deutschland, die Tage in Ungarn seien schrecklich für ihn gewesen. Sie seien 300 Personen gewesen, der Boden und die Matratzen seien nass gewesen. Deshalb habe er jetzt Rückenschmerzen.

Eine EURODAC-Abfrage der Antragsgegnerin ergab, dass der Antragsteller am 2. Juli 2015 in Ungarn einen Asylantrag gestellt hatte. Auf das Rückübernahmeersuchen vom 9. November 2015 bestätigten die ungarischen Behörden nur den Eingang.

Mit Bescheid vom 21. Januar 2016 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheides), ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Nr. 2 des Bescheides) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung. Der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylG unzulässig, da Ungarn aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrages gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin-III-VO für die Behandlung des Asylantrages zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. In Ungarn lägen keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im Sinne der Rechtsprechung des EuGH vor. Diese Beurteilung werde von verschiedenen Verwaltungsgerichten und Oberverwaltungsgerichten und zuletzt auch durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 3. Juli 2014 bestätigt. In diesen Entscheidungen werde festgestellt, dass das ungarische Asylsystem in Einklang mit den internationalen und europäischen Standards stehe und die wichtigsten Garantien enthalte. Diese Feststellungen umfassten sowohl das Asylverfahren als solches als auch die in Ungarn vorhandenen Aufnahmebedingungen, insbesondere auch im Hinblick auf die dort bestehende Möglichkeit der Verhängung von Asylhaft, wobei sich insbesondere der EGMR in seiner Entscheidung vom 3. Juli 2014 ausdrücklich mit der aktuellen Kritik verschiedener Nichtregierungsorganisationen und des UNHCR kritisch auseinandergesetzt und festgestellt habe, dass keine systemischen Mängel anzunehmen seien. Dies gelte auch in Bezug auf die gerichtlichen Kontrollmöglichkeiten im Falle von Asylhaftanordnungen durch die ungarischen Asylbehörden. Die Anordnung der Abschiebung nach Ungarn beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Die festgesetzte Dauer des Einreiseverbots nach § 11 Abs. 2 AufenthG sei verhältnismäßig.

Gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 21. Januar 2016 erhob der Antragsteller am 1. Februar 2016 Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragte gleichzeitig,

die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.

Der angegriffene Bescheid sei rechtswidrig und verletze den Antragsteller in seinen Rechten. Der Antragsteller habe einen Rechtsanspruch auf die Durchführung eines Asylverfahrens im Bundesgebiet. Dieser Anspruch gründe auf die desolate Lage für Flüchtlinge in Ungarn. Die Durchführung eines Asylverfahrens und die Aufnahmebedingungen im Mitgliedstaat Ungarn wiesen systemische Mängel auf, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechte-Charta implizieren würden. Der Antragsteller laufe Gefahr, im Fall einer Überstellung nach Ungarn in Haft genommen zu werden. Es werde Bezug genommen auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 3. Juni 2014 (Az.: 13 L 979/14.A). Das vorhandene Rechtssystem sei ungeeignet, um Asylbewerbern wirksamen Schutz vor einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung von regelmäßig erheblicher Dauer zu bieten. Aktuell gehe eine Vielzahl von Verwaltungsgerichten davon aus, dass eine Rückführung momentan nicht zumutbar sei. Es werde der Bericht des Hungarian Helsinki Committee vom 7. August 2015 beigelegt. Jedenfalls überwiege im einstweiligen Rechtsschutzverfahren das Interesse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin.

Die Antragsgegnerin übersandte die Asylakte.

Ergänzend wird auf die Gerichts- und die Behördenakte verwiesen.

II.

Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (§ 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG) gegen die in Nr. 2 des Bescheides des Bundesamtes vom 21. Januar 2016 verfügte Abschiebung nach Ungarn (§§ 88, 122 Abs. 1 VwGO) hat keinen Erfolg.

Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zwischen dem sich aus der Regelung des § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des ablehnenden Bescheides und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück.

Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage ist der Bescheid des Bundeamtes vom 21. Januar 2016 rechtmäßig. Das Bundesamt hat zu Recht die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn angeordnet.

Das Bundesamt ordnet gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach den Regelungen der vorliegend anzuwendenden Dublin-III-VO (vgl. Art. 49 Unterabs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, sog. Dublin-III-VO) ist grundsätzlich nur ein einziger Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Prüfung eines Asylantrags zuständig (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO). Dies ist hier gemäß Art. 13 Dublin-III-VO Ungarn, der Antragsteller hat dort auch am 2. Juli 2015 einen Asylantrag gestellt (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO). Nachdem die ungarischen Behörden auf das Wiederaufnahmegesuch innerhalb einer Frist von zwei Wochen nicht geantwortet haben, ist gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO davon ausgehen, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung nach sich zieht, die betreffende Person wieder aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.

Die Antragsgegnerin ist auch nicht nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO gehindert, den Antragsteller nach Ungarn zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufwiesen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen würden.

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist. Es gilt grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Allerdings hat nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat zur Folge, dass der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag eingereicht wurde, daran gehindert ist, den Antragsteller an diesen Mitgliedstaat zu überstellen. Nur wenn ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 u. a. - juris Rn. 75, 80, 82, 85 und 86). Diese vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Grundsätze sind nunmehr auch ausdrücklich in die Dublin-Verordnung aufgenommen worden. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris Rn. 9). Für die Frage, ob dem Antragsteller bei einer Überstellung nach Ungarn eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, ist insbesondere auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - juris Rn. 15, 17; BVerfG, B.v. 18.8.2013 - 2 BvR 1380/08 - juris Rn. 28).

Ausgehend von diesen Maßstäben liegen systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn, die einer Abschiebung des Antragstellers entgegenstehen, nicht vor. Das Gericht nimmt auf die zutreffende Begründung des angefochtenen Verwaltungsakts Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend wird Folgendes ausgeführt:

Soweit der Antragsteller auf die Rechtsänderung in Ungarn vom 1. Juli 2013 Bezug nimmt, ist durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bzw. durch obergerichtliche Entscheidung hinreichend geklärt, dass systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen, auch im Hinblick auf die Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern, in Ungarn nicht vorliegen. Dies hat zum einen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 3. Juli 2014 (vgl. EGMR, B.v. 3.7.2014, Nr. 71932/12 - Mohammadi ./. Österreich, abrufbar auf der Internetseite des EGMR) ausdrücklich festgestellt (vgl. Rn. 74). Er hat dabei berücksichtigt, dass es eine Praxis gebe, Asylsuchende in Haft zu nehmen und, dass die sog. Asylhaft auch auf Dublin-Rückkehrer angewandt werde. Weiter hat er ausgeführt, dass die Haftgründe vage formuliert seien und es kein Rechtsmittel gegen die Asylhaft gebe. Er hat darin aber kein systemisches Versagen des Asylsystems gesehen, sondern herausgestellt, dass es keine systematische Inhaftierung von Asylsuchenden mehr gebe und dass das Gesetz nun Alternativen zu der Haft vorsehe. Die maximale Länge der Haft sei auf sechs Monate begrenzt worden. Auch wenn es noch Berichte über Defizite bei den Haftbedingungen gebe, hätten sich diese im Allgemeinen verbessert. Der Gerichtshof hat es im Hinblick auf die mögliche Inhaftierung des Beschwerdeführers und die vorliegenden Berichte nicht für beachtlich wahrscheinlich gehalten, dass der Beschwerdeführer in Ungarn eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erleide (Rn. 68, 70). Diesen Ausführungen schließt sich das Gericht an.

Soweit der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers auf neuere Auskünfte verweist, ergibt sich hieraus nichts anderes. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat für seine Entscheidung vom 20. März 2015 aktuelle Auskünfte des UNHCR, des Auswärtigen Amtes und von Pro Asyl eingeholt (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 19. November 2014, Stellungnahme des UNHCR vom 30. September 2014 und von Pro Asyl vom 31. Oktober 2014). Die Auskünfte liegen dem Gericht vor. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf ist nach Auswertung der Auskünfte zu dem Ergebnis gelangt, dass sich nicht feststellen ließe, dass ein nach Ungarn rücküberstellter Asylbewerber Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechte-Charta bzw. Art. 3 EMRK zu unterfallen (vgl. VG Düsseldorf U.v. 20.3.2015 - 13 K 501/14.A - juris Rn. 50). Die Tatsache, dass das ungarische Asylrecht Inhaftierungsgründe für Asylbewerber enthalte und Ungarn auf dieser Grundlage Dublin-Rückkehrer inhaftiere, sei für sich genommen noch kein begründeter Anhaltspunkt für das Vorliegen systemischer Mängel des Asylsystems (Rn. 81). Aus einzelnen festgestellten Mängeln bei den Haftbedingungen könne nicht auf ein systemisches Versagen geschlossen werden (vgl. Rn. 125). Diese Einschätzung teilt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 12. Juni 2015 (BayVGH, B.v. 12.6.2015 - 13a ZB 15.50097 - juris Rn. 5) und auch das erkennende Gericht schließt sich dem an.

Aus einer ganz aktuellen Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27. Januar 2016 an das VG Augsburg (abrufbar in MILo) lässt sich ebenfalls nicht schließen, dass für den Antragsteller im Fall einer Rückkehr nach Ungarn die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht. In dieser Auskunft wird neben der Darstellung der Rechtslage zur Asylhaft, die auch schon den genannten Entscheidungen und Stellungnahmen zugrunde lag, u. a. ausgeführt, dass es keine offiziellen statistischen Informationen gebe, ob Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert würden. Nach einer internen, nicht offiziellen Auswertung eines Verantwortlichen der Einrichtung B2 habe die durchschnittliche Haftdauer im Auswertungszeitraum 1. Januar bis 10. Dezember 2015 bei 24 Tagen gelegen. Haftdauerverringernd wirke sich neben dem Beschleunigungsgebot zum einen aus, dass die Asylbehörde nicht automatisch die maximal zulässige Haftverlängerung beantrage, zum anderen, dass das zuständige Gericht, welches über die Verlängerung der Haftanordnung entscheide, kürzere Haftzeiten als beantragt gewähre. So seien zum einen Fälle bekannt, in denen die Haft sofort beendet worden sei, als auch Fälle, in denen die Haft für eine Woche vom Gericht verlängert worden sei. Es gebe in Ungarn drei Asylhafteinrichtungen; in allen sei eine medizinische Versorgung gewährleistet. Die medizinische Versorgung der Asylbewerber sei auch in den offenen Aufnahmeeinrichtungen des Landes gewährleistet. Asylbewerber erhielten grundsätzlich drei Mahlzeiten täglich. Auch aus diesen neuen Erkenntnissen bezüglich Asylhaft und Versorgung der Asylbewerber in Ungarn ergeben sich keine systemischen Mängel. Die vom Antragsteller genannte unzureichende Versorgung mag auf Engpässe zum damaligen Zeitpunkt zurückzuführen sein, aktuelle Bedenken bestehen hier nicht.

Auch im Hinblick auf die Anwendung der seit 1. August 2015 in Ungarn geltenden Rechtslage, wonach Asylanträge insbesondere abgelehnt werden dürfen, wenn Asylsuchende über sichere Transitstaaten (Serbien) eingereist sind, liegen keine systemischen Mängel des Asylverfahrens in Ungarn vor. Ein ungarisches Verwaltungsgericht hatte den Europäischen Gerichtshof am 23. Dezember 2015 u. a. um die Klärung der Frage gebeten, ob ein Asylbewerber nach Wiederaufnahme im Rahmen des Dublin-Systems in einen sicheren Drittstaat aus- oder zurückgewiesen werden könne, obwohl der überstellende Mitgliedstaat nicht über die einschlägige nationale Regelung in Bezug auf die Ausübung dieses Rechts bzw. die angewandte nationale Praxis unterrichtet worden sei. Die ungarischen Behörden hatten einen pakistanischen Staatsangehörigen, der in Ungarn einen ersten Antrag auf internationalen Schutz gestellt und dann das Land während des Asylverfahrens verlassen hatte, wieder aufgenommen und seinen erneut gestellten Asylantrag mit der Begründung, Serbien sei für ihn ein sicherer Drittstaat, ohne inhaltliche Prüfung als unzulässig zurückgewiesen (zu den Vorlagefragen vgl. Rechtssache C-695/15 - juris). Der Europäische Gerichtshof hat hierüber am 17. März 2016 entschieden und festgestellt, dass ein Mitgliedstaat das Recht, eine Person, die um internationalen Schutz nachsuche, in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen, auch ausüben könne, nachdem er im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens seine Zuständigkeit nach der Dublin-III-VO für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz bejaht habe, der von einer Person gestellt worden sei, die diesen Mitgliedstaat verlassen habe, bevor über ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz in der Sache entschieden worden sei. Weiter hat er ausgeführt, dass die Dublin-III-VO im Rahmen des Verfahrens zur Wiederaufnahme einer Person, die um internationalen Schutz nachsuche, den zuständigen Mitgliedsstaat (Ungarn) nicht verpflichte, den überstellenden Mitgliedstaat (Tschechische Republik) über den Inhalt seiner nationalen Regelung im Bereich der Zurück- oder Ausweisung von Antragstellern in sichere Drittstaaten oder seine Verwaltungspraxis in diesem Bereich zu unterrichten. Dabei hatte er hervorgehoben, dass das Unterbleiben eines Informationsaustausches zwischen den beiden Staaten über diese Punkte das unionsrechtlich gewährleistete Recht des Antragstellers auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung und gegen die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz nicht beeinträchtige (vgl. Pressemitteilung des Gerichtshofs der Europäischen Union Nr. 32/16 vom 17. März 2016, vgl. die auf juris abrufbare französische Version des Urteils Rn. 57, 59, 69). Ein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung ist nach der vorliegenden Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27. Januar 2016 gegeben. So wird hier ausgeführt, dass gegen einen ablehnenden Bescheid Klage erhoben werden könne. Die Klagefrist betrage sieben Tage nach Bekanntgabe der Entscheidung. Die Klage habe aufschiebende Wirkung. Weiter ergibt sich aus der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes, dass Serbien die Übernahme von Drittstaatsangehörigen aus Ungarn im Wege einer Einzelprüfung ablehne, wenn nicht nachgewiesen werden könne, dass der Antragsteller tatsächlich über Serbien nach Ungarn eingereist sei. Da Serbien in der Regel keine Registrierung der „durchreisenden“ Flüchtlinge vorgenommen habe und Ungarn auch keine anderen Nachweise (z. B. serbische Bahnfahrkarten, Hotelbuchungen usw.) vorlegen könne, könne dieser Nachweis in der Regel nicht erbracht werden. Die Asylbehörde sei in diesen Fällen von Gesetzes wegen verpflichtet, die Entscheidung aufzuheben und das Asylverfahren weiter zu betreiben, wenn der sichere Drittstaat die Übernahme ablehne. Eine Übernahme durch Serbien sei ohnehin ausgeschlossen, wenn zwischen dem Grenzübertritt zwischen Serbien und Ungarn und dem Antrag auf Rückübernahme mehr als ein Jahr verstrichen sei.

Es liegen daher keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn vor, die einer Überstellung des Antragstellers entgegenstehen (vgl. die aktuellen Entscheidungen VG Gießen, U.v. 15.2.2016 - 2 K 4455/15.GI.A - juris; VG Ansbach, B.v. 17.2.2016 - AN 3 S 16.50035 - juris; VG Greifswald B.v. 14.3.2016 - 4 B 649/16 As HGW - juris).

Es liegt auch kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis vor. Das Bundesamt hat im Rahmen einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG die (rechtliche und tatsächliche) Durchführbarkeit der Abschiebung und damit sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen, so dass daneben für eine eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde für die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG kein Raum verbleibt (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 - 2 BvR 732/14 - juris Rn. 11 mit Verweis auf die mittlerweile gefestigte und einheitliche obergerichtliche Rechtsprechung). In der Person des Antragstellers liegende Abschiebungshindernisse wurden weder geltend gemacht noch sind solche nach Aktenlage ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a). (2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur 1. bei der

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(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefä

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(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. (2) Das Urteil darf nur auf Tatsache

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60a Vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung)


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Entscheidungen in Rechtsstreitigkeiten nach diesem Gesetz können vorbehaltlich des § 133 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung nicht mit der Beschwerde angefochten werden.

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(1) Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht

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(1) §§ 88, 108 Abs. 1 Satz 1, §§ 118, 119 und 120 gelten entsprechend für Beschlüsse. (2) Beschlüsse sind zu begründen, wenn sie durch Rechtsmittel angefochten werden können oder über einen Rechtsbehelf entscheiden. Beschlüsse über die Aussetzung

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(1) Die Klage gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz hat nur in den Fällen des § 38 Absatz 1 sowie des § 73b Absatz 7 Satz 1 aufschiebende Wirkung. Die Klage gegen Maßnahmen des Verwaltungszwangs (§ 73b Absatz 5) hat keine aufschiebende Wirkung.

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(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

(1) Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an.

(2) Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt nach § 11 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung bleibt hiervon unberührt.

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

(1) Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an.

(2) Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt nach § 11 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung bleibt hiervon unberührt.

Das Gericht darf über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden.

(1) §§ 88, 108 Abs. 1 Satz 1, §§ 118, 119 und 120 gelten entsprechend für Beschlüsse.

(2) Beschlüsse sind zu begründen, wenn sie durch Rechtsmittel angefochten werden können oder über einen Rechtsbehelf entscheiden. Beschlüsse über die Aussetzung der Vollziehung (§§ 80, 80a) und über einstweilige Anordnungen (§ 123) sowie Beschlüsse nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache (§ 161 Abs. 2) sind stets zu begründen. Beschlüsse, die über ein Rechtsmittel entscheiden, bedürfen keiner weiteren Begründung, soweit das Gericht das Rechtsmittel aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

(1) Die Klage gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz hat nur in den Fällen des § 38 Absatz 1 sowie des § 73b Absatz 7 Satz 1 aufschiebende Wirkung. Die Klage gegen Maßnahmen des Verwaltungszwangs (§ 73b Absatz 5) hat keine aufschiebende Wirkung.

(2) Die Klage gegen Entscheidungen des Bundesamtes, mit denen die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft widerrufen oder zurückgenommen worden ist, hat in folgenden Fällen keine aufschiebende Wirkung:

1.
bei Widerruf oder Rücknahme wegen des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder des § 3 Absatz 2,
2.
bei Widerruf oder Rücknahme, weil das Bundesamt nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen hat.
Dies gilt entsprechend bei Klagen gegen den Widerruf oder die Rücknahme der Gewährung subsidiären Schutzes wegen Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Absatz 2. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung bleibt unberührt.

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

(1) Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an.

(2) Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt nach § 11 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung bleibt hiervon unberührt.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

2

Der 1972 geborene Kläger wurde im November 2004 in M. aufgegriffen und beantragte daraufhin Asyl. Zur Begründung gab der Kläger an, er habe sich am bewaffneten Kampf der PKK beteiligt. Im Juni 1991 sei er festgenommen und einen Monat lang von türkischen Sicherheitskräften unter Folter verhört worden. Nach seiner Verurteilung zu zwölfeinhalb Jahren Haft sei er bis Dezember 2000 weiter im Gefängnis gewesen und dann vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Anschließend habe er sich erneut der PKK angeschlossen. Später habe er an deren politischer Linie gezweifelt und sich im Juli 2004 von der PKK getrennt. In der Türkei sei sein Leben trotz des Reuegesetzes gefährdet gewesen, da er keinen Wehrdienst abgeleistet und deswegen gesucht worden sei. Zudem hätten die Sicherheitskräfte erfahren, dass er sich nach seiner Entlassung aus der Haft wieder der PKK angeschlossen habe.

3

Der Kläger hat dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) unter anderem die Kopie eines Urteils des Staatssicherheitsgerichts D. vom 24. Januar 1992 übergeben, wonach er u.a. wegen "Mitgliedschaft in der illegalen Organisation PKK" gemäß § 168/2 tStGB zu einer Haftstrafe von 12 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden ist. Das Auswärtige Amt bestätigte die Echtheit der Urkunden und teilte mit, dass nach dem Kläger in der Türkei wegen Mitgliedschaft in der PKK gefahndet werde. Sein Bruder habe ausgesagt, dass der Kläger sich nach der Entlassung aus der Strafhaft wieder der PKK angeschlossen habe. Außerdem sei bekannt, dass er sich in einem Ausbildungscamp im Iran aufgehalten habe. Würde er wegen Mitgliedschaft in der PKK zu einer Haftstrafe verurteilt, würde zusätzlich die auf Bewährung ausgesetzte Reststrafe vollstreckt werden.

4

Mit Bescheid vom 28. Juli 2005 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 4 AsylVfG offensichtlich unbegründet, da der Kläger eine schwere nichtpolitische Straftat begangen und den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider gehandelt habe. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

5

Im Klageverfahren hat der Kläger seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter nicht weiter verfolgt. Mit Urteil vom 22. November 2005 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtet. Im Berufungsverfahren hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz mitgeteilt, der Kläger sei im Bundesgebiet für die Nachfolgeorganisation der PKK, den KONGRA-GEL aktiv und habe im Januar 2005 an einer Aktivistenversammlung in N. teilgenommen. Er habe im Jahr 2006 als Leiter des KONGRA-GEL in Offenbach fungiert und ab diesem Zeitpunkt eine Kontrollfunktion innerhalb des KONGRA-GEL in A. ausgeübt. Der Kläger hat das bestritten.

6

Mit Urteil vom 21. Oktober 2008 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger nach Rückkehr in die Türkei gemäß § 314 Abs. 2 tStGB 2005 zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests widerrufen würde. Auch wenn dies politische Verfolgung darstellen sollte, stünde § 3 Abs. 2 AsylVfG der Flüchtlingsanerkennung entgegen. Die terroristischen Taten der PKK seien als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen, stellten schwere nichtpolitische Straftaten dar und stünden in Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Der Kläger habe sich daran zumindest "in sonstiger Weise" beteiligt. Selbst wenn für das Vorliegen von Ausschlussgründen gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG von dem Ausländer weiterhin eine Gefahr ausgehen müsse, sei das beim Kläger der Fall. Denn er habe sich weder äußerlich von der PKK abgewandt noch innerlich von seiner früheren Verstrickung in den Terror gelöst. Dahinstehen könne, ob § 3 Abs. 2 AsylVfG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetze, denn der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung bedeute keine unbillige Härte für den Kläger.

7

Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Die Todesstrafe sei in der Türkei vollständig abgeschafft. Wegen der dem Kläger in der Türkei drohenden langjährigen Haftstrafe sei ausgeschlossen, dass er im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einer erheblichen individuellen Gefahr ausgesetzt sei. Ein Abschiebungsverbot ergebe sich auch nicht aus § 60 Abs. 2 AufenthG und § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Zwar greife zugunsten des Klägers, der im Anschluss an seine Festnahme im Juni 1991 Folter erlitten habe, die Beweiserleichterung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Dennoch sprächen aufgrund der Angaben des Auswärtigen Amtes sowie türkischer Menschenrechtsorganisationen stichhaltige Gründe dagegen, dass er bis zum Abschluss des Strafverfahrens Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu befürchten habe. Misshandlungen durch türkische Sicherheitskräfte lägen ganz überwiegend Fälle zugrunde, in denen sich der Betroffene nicht offiziell in Gewahrsam befunden habe; das wäre beim Kläger jedoch der Fall. Angesichts bereits vorhandener Beweise bestünde auch keine Notwendigkeit, durch Folter ein Geständnis zu erzwingen. Schließlich lebten in seiner Heimat zahlreiche Personen, die sich seiner annehmen und ihm bereits bei seiner Ankunft anwaltlichen Beistand verschaffen könnten. Zudem würden die PKK oder andere prokurdische Organisationen das Schicksal des Klägers verfolgen und etwaige Übergriffe auf seine Person publik machen. Ein Schutz durch "Herstellen von Öffentlichkeit" lasse sich zwar nicht während der gesamten Dauer der Strafhaft gewährleisten. Aber auch für diese Zeitspanne sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger, der in einem Gefängnis des Typs F untergebracht würde, Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein würde, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen könnten. Dahinstehen könne, ob das auch für unter dieser Schwelle liegende Maßnahmen gelte, denn derartige Umstände stünden einer Abschiebung des Klägers in die Türkei als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 3 EMRK stehe bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat dessen eigene Verantwortung für die Einhaltung der Konventionsrechte im Vordergrund. Eine Mitverantwortung des abschiebenden Landes bestehe nur, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohten und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht rechtzeitig zu erreichen sei. Diese Voraussetzungen lägen angesichts der Verhältnisse in der Türkei nicht vor. Da sich Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG an Art. 3 EMRK orientiere, beanspruchten diese Grundsätze auch im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG Geltung. Stünden im Herkunftsland ausreichende und effektive Möglichkeiten zur Abwehr drohender Gefahren zur Verfügung, benötige der Betreffende keinen internationalen Schutz. Auch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG greife nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision - beschränkt auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2 AufenthG - zugelassen.

8

Mit der Revision rügt der Kläger vor allem eine Verletzung des § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Berufungsgericht habe im Rahmen seiner Beweiswürdigung die Quellen selektiv ausgewertet und zu Lasten des Klägers ohne Aufklärung unterstellt, dass seine Familie einen Rechtsanwalt besorgen könne und die Nachfolgeorganisationen der PKK für ihn Öffentlichkeitsarbeit machen würden. Angesichts der umfassenden Geltung des Art. 3 EMRK reiche die Erkenntnislage nicht aus, um ein Abschiebungshindernis auszuschließen. Insofern werde auch eine Gehörsverletzung gerügt, denn wenn das Gericht zu erkennen gegeben hätte, dass es aus tatsächlichen Gründen für den Kläger keine Gefahr einer Misshandlung sehe, hätte der Kläger dazu weiter vorgetragen und Beweisanträge gestellt. Schließlich sei die Auslegung der in Art. 17 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Ausschlussgründe ungeklärt.

9

Innerhalb der bis einschließlich 4. Juni 2009 verlängerten Revisionsbegründungsfrist ist der Begründungsschriftsatz nicht vollständig per Fax eingegangen. Die Bevollmächtigte des Klägers hat Wiedereinsetzung beantragt und zur Begründung Probleme bei der Faxübertragung geltend gemacht.

10

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen des Berufungsgerichts seien einer Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Nicht ersichtlich sei, warum der Kläger angesichts der tatsächlichen Würdigung des Berufungsgerichts nicht den Schutz seines Heimatlandes durch Anrufung türkischer Gerichte bzw. eine Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Anspruch nehmen könne.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision hat Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), da er bei der Prüfung des in § 60 Abs. 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots diejenigen erniedrigenden Behandlungsmaßnahmen übergangen hat, die keine irreparablen oder sonst schweren körperlichen und seelischen Folgen hinterlassen. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder in positiver noch in negativer Hinsicht abschließend selbst entscheiden. Daher ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

12

1. Die Revision ist zulässig. Wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren, da seine Prozessbevollmächtigte ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten. Diese durfte nach mehreren nur teilweise erfolgreichen Versuchen einer Faxübertragung infolge der fernmündlich erteilten unrichtigen Auskunft des Gerichtspförtners, es seien alle Seiten angekommen, davon ausgehen, dass der Revisionsbegründungsschriftsatz innerhalb der Frist vollständig eingegangen sei.

13

2. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die unionsrechtlich vorgezeichneten Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG. Die vom Berufungsgericht ausgesprochene Beschränkung der Revisionszulassung auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG erweist sich als unwirksam. Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) bildet nach dem dafür maßgeblichen materiellen Recht einen einheitlichen Streitgegenstand bzw. selbständigen Streitgegenstandsteil (Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 ). Die Revisionszulassung kann daher nicht wirksam auf einzelne materielle Anspruchsgrundlagen dieses einheitlichen prozessualen Anspruchs beschränkt werden (vgl. Urteil vom 1. April 1976 - BVerwG 2 C 39.73 - BVerwGE 50, 292 <295>; BGH, Urteil vom 21. September 2006 - I ZR 2/04 - NJW-RR 2007, 182 <183>).

14

Für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens, das auf Feststellung der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG zielt, ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz am 15. Oktober 2008 abzustellen. Deshalb sind die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) von Bedeutung, die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten und die Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - berücksichtigen.

15

3. Gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ergänzten Abschiebungsverbot, das bereits in § 53 Abs. 1 AuslG 1990 und § 53 Abs. 4 AuslG 1990 i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 685 - EMRK) enthalten war, wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 EMRK orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug genommen (Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen vom 12. September 2001 KOM(2001) 510 endgültig S. 6, 30).

16

Die Vorschriften zum subsidiären Schutz sind im Aufenthaltsgesetz insoweit "überschießend" umgesetzt worden, als die in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Varianten des ernsthaften Schadens in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG als absolute Abschiebungsverbote ausgestaltet worden sind. Denn die in Art. 17 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe greifen nach nationalem Recht gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erst auf einer nachgelagerten Ebene als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Daher kommt es entgegen der Annahme der Revision auf die Interpretation der Ausschlussgründe gemäß Art. 17 der Richtlinie im vorliegenden Fall nicht an.

17

Bei der Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG ist der während des Revisionsverfahrens in Kraft getretene Art. 19 Abs. 2 der Grundrechte-Charta (ABl EU 2010 Nr. C 83 S. 389 - GR-Charta) als verbindlicher Teil des primären Unionsrechts (Art. 6 Abs. 1 EUV) zu berücksichtigen. Danach darf niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Die Vorschrift gilt nach Art. 51 Abs. 1 GR-Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach den gemäß Art. 52 Abs. 7 GR-Charta bei ihrer Auslegung gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen (ABl EU 2007 Nr. C 303 S. 17 = EuGRZ 2008, 92) wird durch diese Bestimmung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen übernommen.

18

a) Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Prüfung des § 60 Abs. 2 AufenthG in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der Kläger vor seiner Ausreise in der Türkei gefoltert worden ist. Dennoch hat das Berufungsgericht seiner Prognose den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und nicht den sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab hinreichender Sicherheit zugrunde gelegt. Es hat aber zugunsten des Klägers die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltene Beweiserleichterung angewendet (UA Rn. 90). Das hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand.

19

Gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG gilt für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

20

Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Das ergibt sich neben dem Wortlaut auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind.

21

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; dem folgend Urteil vom 31. März 1981 - BVerwG 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; stRspr). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (Urteil vom 27. April 1982 - BVerwG 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - a.a.O. S. 99). Diese zum Asylgrundrecht entwickelte Rechtsprechung (zusammenfassend Urteile vom 25. September 1984 - BVerwG 9 C 17.84 - BVerwGE 70, 169 <170 f.> und vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>) wurde auf den Flüchtlingsschutz (Abschiebungsschutz aus politischen Gründen) gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (Urteil vom 3. November 1992 - BVerwG 9 C 21.92 - BVerwGE 91, 150 <154 f.>), nicht jedoch auf die Abschiebungsverbote des § 53 AuslG 1990 übertragen (vgl. Urteile vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <330> zu § 53 Abs. 6 AuslG und vom 4. Juni 1996 - BVerwG 9 C 134.95 - InfAuslR 1996, 289 zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK).

22

Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Zum einen wird ihr Anwendungsbereich über den Flüchtlingsschutz hinaus auf alle Tatbestände des unionsrechtlich geregelten subsidiären Schutzes ausgeweitet. Sie erfasst demzufolge auch das im vorliegenden Fall zu prüfende Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG. Zum anderen bleibt der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 84 ff. zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung). Der in dem Tatbestandsmerkmal "... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2 Buchst. e der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 stRspr).

23

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. Rn. 128 m.w.N.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung (mehr).

24

b) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung, ob stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger während der Strafhaft erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein wird, den Maßstab des § 60 Abs. 2 AufenthG auf diejenigen tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen verengt, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen können, zur Verursachung bleibender Schäden geeignet oder aus sonstigen Gründen als gravierend anzusehen sind (UA Rn. 106). Erniedrigende Behandlungsmaßnahmen im Sinne des Art. 3 EMRK, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen, hat es bei der Prognoseerstellung ausdrücklich nicht geprüft (UA Rn. 111). Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof die eigene Verantwortung der Türkei als Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention betont und daraus gefolgert, dass sich der Kläger darauf verweisen lassen müsse, seine Rechte gegen diese Arten von Konventionsverletzungen in der Türkei und von der Türkei aus selbst zu verfolgen (UA Rn. 112). Diese Annahme verletzt Bundesrecht.

25

Die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG hat sich nach den unionsrechtlichen Vorgaben - wie oben bereits ausgeführt - an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zu orientieren. Dieser betont in seinen Entscheidungen zur Verantwortlichkeit eines Vertragsstaates für die mittelbaren Folgen einer Abschiebung, wenn dem Betroffenen im Zielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, immer wieder den absoluten und ausnahmslosen Schutz des Art. 3 EMRK (EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering - NJW 1990, 2183 ; vom 15. November 1996 - Nr. 70/1995/576/662, Chahal - NVwZ 1997, 1093 und vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. ). Damit erweist es sich als unvereinbar, den Schutzbereich des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG zu verengen, und bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat der Konvention erniedrigende Behandlungsmaßnahmen von vornherein auszunehmen, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen. Sonst käme Rechtsschutz durch türkische Gerichte oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu spät und könnte eine bereits eingetretene Rechtsverletzung nicht ungeschehen machen. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG gilt mithin uneingeschränkt auch bei der Abschiebung in einen Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention.

26

Der Verwaltungsgerichtshof beruft sich für seine Auffassung zu Unrecht auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 53 Abs. 4 AuslG 1990 (nunmehr: § 60 Abs. 5 AufenthG) i.V.m. Art. 3 EMRK. Der damals für die Feststellung von Abschiebungshindernissen durch das Bundesamt zuständige 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat entschieden, dass eine Mitverantwortung des abschiebenden Vertragsstaates, den menschenrechtlichen Mindeststandard in einem anderen Signatarstaat als Zielstaat der Abschiebung zu wahren, nur dann besteht, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (Urteil vom 7. Dezember 2004 - BVerwG 1 C 14.04 - BVerwGE 122, 271 <277>). Dieser Rechtssatz schränkt jedoch nicht den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ein. Vielmehr werden - insbesondere mit Blick auf die von dem damaligen Kläger angeführten Haftbedingungen in der Türkei - nur Maßnahmen erfasst, die erst durch Zeitablauf oder Wiederholung in den Tatbestand einer erniedrigenden Behandlung und damit den Schutzbereich des Art. 3 EMRK hineinwachsen. Nur in derartigen Fällen kann der Betroffene auf Rechtsschutz im Abschiebezielstaat oder durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verwiesen werden.

27

4. Das Berufungsgericht hat die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG geprüft und aus tatsächlichen Gründen abgelehnt (UA Rn. 86 f.). Dagegen bestehen aus revisionsgerichtlicher Sicht keine Bedenken.

28

5. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder zugunsten noch zulasten des Klägers abschließend entscheiden. Die Sache ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Damit bedarf es keiner Entscheidung über die Gehörsrüge. Der Senat bemerkt aber dazu, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht gegen das Verbot einer Überraschungsentscheidung verstoßen hat. Denn grundsätzlich ist ein Gericht nicht verpflichtet, die abschließende Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorab mit den Beteiligten zu erörtern (Beschlüsse vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 46 und vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52; stRspr). Etwas anderes gilt nur dann, wenn es einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235). Dafür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich, da der Kläger selbst in der Berufungsbegründung zur Gefahr der Folter in der Türkei vorgetragen hatte.

29

Der Verwaltungsgerichtshof wird in dem neuen Berufungsverfahren die Prognose, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der Kläger in der Türkei der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen wird, auf aktueller tatsächlicher Grundlage erneut stellen müssen. Dabei besteht auch Gelegenheit, dem Vorbringen des Klägers weiter nachzugehen, dass die ihn belastende Aussage seines Bruders die Gefahr von Folter nicht ausschließe. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG widerlegt ist, kann das Berufungsgericht auch der Tatsache Bedeutung beimessen, dass die Türkei als Abschiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grundsätze zu achten. Die Berücksichtigung dieses Umstands im Rahmen der Prognose entspricht ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (Entscheidungen vom 7. Oktober 2004 - Nr. 33743/03, Dragan - NVwZ 2005, 1043 <1045> und vom 15. Dezember 2009 - Nr. 43212/05, Kaplan - ) und ist durch Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG mit dem darin enthaltenen Kriterium ausreichender Schutzgewährleistung abgedeckt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe zur Durchführung einer auf eine vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellte Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention gestützte Restitutionsklage vor Inkrafttreten von § 580 Nr. 8 ZPO.

I.

2

1. Auf Betreiben ihres Vaters wurde die zum Einweisungszeitpunkt volljährige Beschwerdeführerin gegen ihren Willen - die Beschwerdeführerin war weder entmündigt noch lag eine Einverständniserklärung oder eine gerichtliche Anordnung für die Unterbringung vor - in der Zeit vom 29. Juli 1977 bis zum 5. April 1979 wegen einer diagnostizierten hebephrenen Schizophrenie in der geschlossenen Station der psychiatrischen Privatklinik Dr. H. in B. untergebracht. Sie wurde während ihrer Unterbringung medizinisch und medikamentös - unter anderem mit Neuroleptika - behandelt. Während des Klinikaufenthalts unternahm die Beschwerdeführerin mehrere Fluchtversuche, wobei sie die Polizei nach einem dieser Fluchtversuche im März 1979 gewaltsam in die Klinik zurückbrachte. Im Jahre 1994 kam ein von der Beschwerdeführerin beauftragter Sachverständiger zu dem Schluss, bei ihr habe zu keinem Zeitpunkt eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis vorgelegen. Vielmehr könne "retrospektiv heute die Diagnose einer Reifungskrise mit einer erheblichen psychoreaktiven ursächlichen Komponente bei erheblicher intrafamiliärer Problematik gestellt werden". In einem weiteren von der Beschwerdeführerin veranlassten Gutachten im Jahre 1999 bestätigte die Sachverständige das vorangegangene Gutachten und führte aus, die Beschwerdeführerin habe aufgrund einer Fehldiagnose über mehrere Jahre Medikamente erhalten, deren negative Konsequenzen zum damaligen Zeitpunkt bereits bekannt gewesen seien. Aufgrund einer Erkrankung mit Kinderlähmung hätte die Beschwerdeführerin jedoch mit größtmöglicher Sorgfalt behandelt werden müssen. Die Situation in der Klinik sei überdies besonders dramatisch und die angewandte Methodik äußerst zweifelhaft gewesen.

3

Die Beschwerdeführerin leidet bis heute an schweren und dauerhaften Gesundheitsschädigungen, die sie auf ihre Unterbringung in der Klinik sowie die dort erfolgte medizinische und medikamentöse Behandlung zurückführt. Sie ist zu 100 % schwerbehindert, erwerbsunfähig und auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie leidet ständig unter beträchtlichen Schmerzen an Armen, Beinen und der Wirbelsäule. Im täglichen Leben benötigt sie Hilfe bei der Körperpflege, im Haushalt und für die Teilnahme am sozialen Leben.

4

2. a) Im Jahr 1997 erhob die Beschwerdeführerin vor dem Landgericht Bremen Klage gegen die Privatklinik Dr. H. auf Zahlung von Schmerzensgeld wegen ihrer Unterbringung sowie der medizinischen und medikamentösen Behandlung. Zudem seien ihr erhebliche materielle Schäden entstanden. Das Landgericht Bremen gab der Klage durch Grundurteil statt. Die Unterbringung der Beschwerdeführerin ohne Einwilligung oder gerichtliche Anordnung habe rechtswidrig in ihr Freiheitsrecht eingegriffen. Auf die Berufung der Beklagten hob das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen das Urteil des Landgerichts auf und wies die Klage ab (OLGR Bremen 2002, S. 167 ff.). Zur Begründung führte es aus, deliktische Schadensersatzansprüche seien jedenfalls verjährt. Auch vertragliche Schadensersatzansprüche kämen nicht in Betracht. Ein Behandlungsvertrag sei jedenfalls konkludent zustande gekommen; dieser sei auch nicht durch die Fluchtversuche der Beschwerdeführerin beendet worden, denn die Klinik habe mit der Fortsetzung des Klinikaufenthaltes lediglich ihrer aus der behandlungsbedürftigen schweren Krankheit der Beschwerdeführerin folgenden Fürsorgepflicht entsprochen. Das vom Oberlandesgericht eingeholte Sachverständigengutachten habe jedoch dargelegt, dass die medizinische und medikamentöse Behandlung der Beschwerdeführerin nicht fehlerhaft gewesen sei. Die Revision der Beschwerdeführerin nahm der Bundesgerichtshof nicht an, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung noch Aussicht auf Erfolg habe. Das Bundesverfassungsgericht nahm die gegen die Abweisung der Klage sowie gegen die Nichtannahme der Revision erhobene Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. März 2002 - 1 BvR 213/02 und 1 BvR 315/02 -, juris).

5

b) Auf die Individualbeschwerde der Beschwerdeführerin hin stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Urteil vom 16. Juni 2005, Beschwerde-Nr. 61603/00, Storck ./. Deutschland, NJW-RR 2006, S. 308 ff.) fest, dass die Beschwerdeführerin durch die Behandlung in der Klinik im Zeitraum vom 29. Juli 1977 bis 5. April 1979 in ihrem Recht auf Freiheit und Sicherheit nach Art. 5 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK verletzt worden sei und verurteilte die Bundesrepublik Deutschland deshalb auf der Grundlage von Art. 41 EMRK zur Zahlung eines immateriellen Schadensersatzes in Höhe von 75.000 Euro sowie zur Erstattung von 18.315 Euro für Kosten und Auslagen. Zur Begründung führte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus, der Beschwerdeführerin sei durch die Unterbringung die Freiheit entzogen worden. Sie habe das Aufnahmeformular nicht unterschrieben, sei nach einem Fluchtversuch in der Klinik gefesselt worden und habe nach einem weiteren Fluchtversuch von der Polizei zurückgebracht werden müssen; unter diesen Umständen könne er eine wirksame Einwilligung in die fortlaufende Unterbringung in der Klinik nicht erkennen. Die ärztliche Behandlung gegen den Willen der Beschwerdeführerin stelle zudem eine Verletzung von Art. 8 EMRK dar. Die Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland ergebe sich daraus, dass die Beschwerdeführerin nach ihrer Flucht im März 1979 durch die Polizei gewaltsam zurückgebracht worden sei, ohne dass diese die Rechtmäßigkeit der Unterbringung geprüft habe. Zudem habe das Oberlandesgericht bei der Auslegung des nationalen Rechts mit Blick auf den Lauf der Verjährung und die angenommene Einwilligung in die Unterbringung den Art. 5 und Art. 8 EMRK nicht hinreichend Rechnung getragen. Schließlich sei die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen, die Beschwerdeführerin vor Eingriffen in ihre Freiheit durch Private zu schützen. Im Hinblick auf den geltend gemachten Anspruch auf Ersatz materieller Schäden führte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hingegen aus, ein eindeutiger Kausalzusammenhang zwischen der Konventionsverletzung und dem geltend gemachten Schaden sei nicht nachgewiesen; insbesondere könne er keine Mutmaßungen dahingehend vornehmen, welchen Beruf die Beschwerdeführerin ergriffen hätte und wie hoch ihr Einkommen ohne den Aufenthalt in der Klinik gewesen wäre.

6

3. Die Beschwerdeführerin beantragte nach Verkündung dieses Urteils mit Schriftsatz vom 17. Oktober 2005 bei dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung eines Verfahrens zur Wiederaufnahme ihres Rechtsstreits gegen die Privatklinik Dr. H. Sie berief sich dabei auf der Grundlage der bis zum 31. Dezember 2006 geltenden Fassung der Zivilprozessordnung (ZPO) darauf, dass aufgrund der durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte rechtskräftig festgestellten Verstöße gegen Art. 5 und Art. 8 EMRK das durch das Urteil des Oberlandesgerichts rechtskräftig abgeschlossene Verfahren analog § 580 Nr. 7 Buchstabe b ZPO wiederaufgenommen werden müsse. Nach dieser Vorschrift findet die Restitutionsklage statt, "wenn die Partei eine andere Urkunde auffindet oder zu benutzen in den Stand gesetzt wird, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde."

7

a) Den Antrag der Beschwerdeführerin wies das Oberlandesgericht durch den angegriffenen Beschluss vom 2. Februar 2006 (OLGR Bremen 2006, S. 467 ff.) zurück, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete. Die Restitutionsklage sei unzulässig, weil kein Restitutionsgrund vorliege. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hätten keine unmittelbare kassatorische Wirkung. Für den Zivilprozess sehe die Zivilprozessordnung - anders als § 359 Nr. 6 StPO für das Strafverfahren - keine Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens für den Fall vor, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Konventionsverletzung festgestellt habe. Eine Wiederaufnahme nach § 580 Nr. 7 Buchstabe b ZPO komme nicht in Betracht, da ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keine Urkunde im Sinne dieser Vorschrift darstelle. Auch eine analoge Anwendung der Vorschrift sei ausgeschlossen, da der Gesetzgeber durch die Einfügung von § 359 Nr. 6 StPO im Jahr 1998 zum Ausdruck gebracht habe, dass er die Wiederaufnahme zwar im Rahmen des Strafverfahrens, nicht jedoch im Zivilprozess vorsehen wollte. Überdies seien die Regelungen des § 580 ZPO als die Rechtskraft gerichtlicher Urteile durchbrechende Ausnahmetatbestände eng auszulegen. Dementsprechend sei eine analoge Anwendbarkeit von Wiederaufnahmevorschriften für den Fall, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil als konventionswidrig angesehen hat, von der einhelligen Rechtsprechung stets verneint worden. Eine Pflicht zur rechtskraftdurchbrechenden Wiederaufnahme zivilgerichtlicher Verfahren folge zudem weder aus der Europäischen Menschenrechtskonvention noch aus dem Grundgesetz. Die Versagung der Prozesskostenhilfe überspanne auch nicht die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung und verstoße daher nicht gegen Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, da nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie der Fachgerichte die Rechtskraft der Urteile deutscher Gerichte von einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht beeinträchtigt werde; es liege somit keine schwierige und ungeklärte Rechtsfrage vor, die die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderlich mache.

8

b) Die Gegenvorstellung der Beschwerdeführerin gegen diesen Beschluss verwarf das Oberlandesgericht mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 20. April 2006 (OLGR Bremen 2006, S. 464 ff.) als unzulässig. Die Gegenvorstellung sei bereits unstatthaft. Darüber hinaus scheitere die Bewilligung von Prozesskostenhilfe daran, dass die Beschwerdeführerin nunmehr vermögend sei, nachdem sie die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgeurteilten Beträge erhalten habe. Es sei der Beschwerdeführerin zumutbar, einen Teil der zugesprochenen Entschädigung in Höhe von 75.000 Euro für das beabsichtigte Wiederaufnahmeverfahren einzusetzen. Schließlich gebe die Begründung der Gegenvorstellung keinen Anlass, in der Sache anders zu entscheiden, da sich aus dem von der Beschwerdeführerin für ihre Rechtsauffassung angeführten Görgülü-Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 2004 (BVerfGE 111, 307) nicht ergebe, dass das Verfahren in ihrem Fall wiederaufgenommen werden müsste. Danach gehöre zur Bindung an Recht und Gesetz auch die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. Letztendlich sei ausschlaggebend, ob ein Gericht im Rahmen des geltenden Verfahrensrechts die Möglichkeit zu einer weiteren Entscheidung habe, bei der es das einschlägige Urteil des Gerichtshofs berücksichtigen könne. Dies sei nicht der Fall, da die Zivilprozessordnung eine Wiederaufnahme des Verfahrens nicht zulasse, die in der Feststellung einer Menschenrechtsverletzung durch den Gerichtshof begründet liege. Eine analoge Anwendung des § 580 ZPO auf Fälle der vorliegenden Art verbiete sich nicht zuletzt wegen des verfassungsrechtlich verbürgten Prinzips der Rechtssicherheit, das sich im Bereich des Verfahrensrechts unter anderem im Postulat der Rechtsmittelklarheit auswirke. Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Beschluss vom 14. Oktober 2004 zudem einen Umgangsrechtsfall zu entscheiden gehabt. In Umgangsrechts- und Sorgerechtsverfahren sei jedoch wegen der materiellrechtlichen Änderungsbefugnis aus § 1696 Abs. 1 BGB nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für den Einwand der rechtskräftig entschiedenen Sache kein Raum. Ferner wirke der Konventionsverstoß im Fall der Beschwerdeführerin - anders als dort - nicht unmittelbar fort.

9

4. Durch Art. 10 des Zweiten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz vom 22. Dezember 2006 (2. Justizmodernisierungsgesetz - 2. JuMoG, BGBl I S. 3416) ergänzte der Gesetzgeber § 580 ZPO um einen weiteren Restitutionsgrund. Nach § 580 Nr. 8 ZPO ist nunmehr die Restitutionsklage gegen ein rechtskräftiges zivilgerichtliches Urteil statthaft, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht. Als Übergangsvorschrift bestimmt § 35 EGZPO, dass § 580 Nr. 8 ZPO auf vor dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossene Verfahren nicht anzuwenden ist.

10

5. Mit seiner Resolution CM/ResDH(2007)123 entschied das Ministerkomitee des Europarats in seiner 1007. Sitzung vom 15. bis 17. Oktober 2007, die Überwachung der Durchführung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall der Beschwerdeführerin gemäß Art. 46 Abs. 2 EMRK einzustellen. Zu den von der Bundesrepublik Deutschland ergriffenen individuellen Maßnahmen zur Urteilsdurchführung stellte das Ministerkomitee fest, dass die Einführung des § 580 Nr. 8 ZPO zum 31. Dezember 2006 der Beschwerdeführerin mangels rückwirkender Anwendbarkeit nicht zugutekommen werde. Diese habe jedoch gegen die Prozesskostenhilfe versagende Entscheidung des Oberlandesgerichts vom Februar 2006 die vorliegende Verfassungsbeschwerde erhoben. In Anbetracht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei zu erwarten, dass das nationale Gericht in seiner Entscheidung die Konvention und die Entscheidungen des Gerichtshofs vollständig implementieren werde, um der Beschwerdeführerin volle Wiedergutmachung zu gewähren.

II.

11

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die beiden Beschlüsse des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen. Sie rügt eine Verletzung in ihren Rechten aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6, 13 EMRK (Rechtsschutzgleichheit), Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 104, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 46 EMRK (Nichtberücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte) sowie aus Art. 3 Abs. 1 GG. Zur Begründung ihrer mit einem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe verbundenen Verfassungsbeschwerde führt sie im Wesentlichen aus:

12

1. Das Oberlandesgericht habe die Anforderungen an die im Prozesskostenhilfebewilligungsverfahren zu prüfenden Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung überspannt und damit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Es sei davon ausgegangen, dass die maßgebliche Frage der einfach- und verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung von Wiederaufnahmegründen im Zivilprozess nach vorangegangener Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zweifelsfrei geklärt sei, ohne sich mit den Auswirkungen des Görgülü-Beschlusses des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 2004 (BVerfGE 111, 307) auseinanderzusetzen.

13

2. Das Oberlandesgericht habe zudem die verfassungsrechtliche Verpflichtung zur weitest möglichen Umsetzung der Wiedergutmachungsverpflichtung aus Art. 46 EMRK verkannt und so Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 104, Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 46 EMRK verletzt. Auf der Grundlage des Görgülü-Beschlusses hätte es § 580 Nr. 7 Buchstabe b ZPO im Lichte des Grundgesetzes und der völkerrechtlichen Verpflichtungen auslegen und - zumindest in analoger Anwendung der Vorschrift - einen Wiederaufnahmegrund annehmen müssen. Die Zuerkennung einer Entschädigung nach Art. 41 EMRK stehe weitergehenden Schadensersatzansprüchen nach nationalem Recht nicht entgegen. Gemäß Art. 46 EMRK bestehe die Verpflichtung des Staates, die Konventionsverletzung zu beseitigen und den Zustand wiederherzustellen, der ohne die festgestellte Konventionsverletzung bestehen würde; dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keine Kausalität zwischen der Konventionsverletzung und den geltend gemachten materiellen Schäden habe erkennen können, beruhe lediglich darauf, dass dessen Erkenntnismöglichkeiten eingeschränkt seien, insbesondere weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte regelmäßig keine Beweisaufnahme durchführe.

14

3. Aus der Entscheidung des Ministerkomitees des Europarats im Fall der Beschwerdeführerin ergebe sich, dass dieses auf Grundlage der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erwarte, dass die Zivilgerichte der Beschwerdeführerin unter vollständiger Anwendung der Konvention und der Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in vollem Umfang Wiedergutmachung gewähren würden, was bisher noch nicht geschehen sei. Die Wiederaufnahme des innerstaatlichen Verfahrens sei das einzige Mittel, um ihr diese Wiedergutmachung zu gewähren.

15

4. Schließlich verstoße es gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, die Wiederaufnahme nur im Strafprozess, nicht aber im Zivilprozess zuzulassen.

III.

16

Der Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen hatte Gelegenheit zur Äußerung. Dem Bundesverfassungsgericht haben Teile der Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.

IV.

17

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, da die Annahmevoraussetzungen nicht vorliegen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Ihr kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG), da die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere zum Gebot der weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 81, 347 <356 ff.> m.w.N.) und zur Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention bei der Auslegung der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze (vgl. BVerfGE 111, 307 <315 ff.>; 128, 326 <366 ff.>) - bereits geklärt sind. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), weil sie teilweise bereits unzulässig (1.) und im Übrigen jedenfalls unbegründet ist (2.) und daher keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>). Insoweit kann offen bleiben, ob die Verfassungsbeschwerde bereits deshalb nicht zur Entscheidung anzunehmen ist, weil die Beschwerdeführerin wegen zwischenzeitlich entfallener Bedürftigkeit auch im Falle einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben würde (vgl. BVerfGE 90, 22 <26>).

18

1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit die Beschwerdeführerin eine Grundrechtsverletzung durch Nichtbeachtung der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Umsetzung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (a) sowie eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes durch die unterlassene Wiederaufnahme des Verfahrens (b) rügt. Im Übrigen kann offen bleiben, ob die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, da sie insoweit jedenfalls unbegründet ist (c).

19

a) Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung in ihren Grundrechten rügt, weil das Oberlandesgericht die Reichweite von Art. 46 EMRK verkannt habe, hat sie die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung entgegen § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Zwar trifft alle Träger der deutschen öffentlichen Gewalt nach Art. 46 EMRK die Verpflichtung zur Beendigung einer vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellten Konventionsverletzung beziehungsweise zur Wiedergutmachung (vgl. BVerfGE 111, 307 <322 f.>). Wird gegen diese Verpflichtung verstoßen, so kann darin zugleich eine Verletzung des betroffenen Grundrechts jedenfalls dann liegen, wenn die Verletzung noch andauert (vgl. BVerfGE 111, 307 <330 f.>). Ob dies auch dann gilt, wenn sich die Verletzung erledigt hat und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Individualbeschwerdeführer einen Entschädigungsanspruch nach Art. 41 EMRK zugesprochen hat, dieser jedoch nicht erfüllt worden ist, kann offen bleiben. Denn die Beschwerdeführerin hat nicht vorgetragen, dass das zu ihren Gunsten ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - das die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung eines immateriellen Schadensersatzes in Höhe von 75.000 Euro sowie zur Erstattung von 18.315 Euro für Kosten und Auslagen verurteilt hatte - nicht umgesetzt worden sei. Darüber hinaus gehende Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht ausgesprochen. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil auch nicht auf die ihm am angemessensten erscheinende Art der Wiedergutmachung hingewiesen, wie er dies bereits wiederholt getan hat (vgl. den Hinweis des Gerichtshofs, wonach "die Wiederaufnahme des nationalen Verfahrens die angemessenste Lösung sei", EGMR, Urteil vom 1. März 2006, Beschwerde-Nr. 56581/00, Sejdovic ./. Italien, Rn. 125 m.w.N.; vgl. auch Urteil vom 8. Juli 2004, Beschwerde-Nr. 48787/99, Ilaşcu u.a. ./. Moldawien und Russland, NJW 2005, S. 1849 <1854>; Urteil vom 8. April 2004, Beschwerde-Nr. 71503/01, Assanidze ./. Georgien, Rn. 202 f.; Urteil vom 26. Februar 2004, Beschwerde-Nr. 74969/01, Görgülü ./. Deutschland, NJW 2004, S. 3397 <3400 f.>).

20

b) Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung von strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verfahren hat die Beschwerdeführerin ebenfalls nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Das Oberlandesgericht hat eine solche Ungleichbehandlung nicht im Rahmen eigener Entscheidungsspielräume vorgenommen, sondern vielmehr die gesetzgeberischen Vorgaben nachvollzogen, die in § 580 ZPO zum damaligen Zeitpunkt keinen dem § 359 Nr. 6 StPO vergleichbaren Restitutionsgrund vorgesehen hatten. Eine Ungleichbehandlung durch den Gesetzgeber, der zunächst davon abgesehen hatte, auch für das Zivilverfahren einen Restitutionsgrund für auf vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellte Verstöße gegen die Europäische Konvention für Menschenrechte beruhende Urteile vorzusehen, hat die Beschwerdeführerin dagegen nicht gerügt.

21

c) Im Übrigen - soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung in ihrem Recht auf Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) rügt - kann offen bleiben, ob die Verfassungsbeschwerde zulässig erhoben wurde, da sie jedenfalls unbegründet ist. Zweifelhaft erscheint, ob die Beschwerdeführerin hier dem in § 90 Abs. 2 BVerfGG ausgeformten Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde Genüge getan hat. Nach diesem Grundsatz hat ein Beschwerdeführer alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 112, 50 <60 ff.>). Hier kam zum einen in Betracht, die begehrte volle Wiedergutmachung statt im Wiederaufnahmeverfahren im Prozess gegen die Privatklinik Dr. H. im Wege einer Inanspruchnahme der Bundesrepublik Deutschland oder des Landes Bremen auf Grundlage von Art. 5 Abs. 5 EMRK einzufordern. Zum anderen wäre zu erwägen gewesen, unter Verweis auf die Entscheidung des Ministerkomitees aus dem Jahr 2007 einen neuerlichen Prozesskostenhilfeantrag beim Oberlandesgericht zu stellen.

22

2. Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung in ihrem Recht auf Rechtsschutzgleichheit rügt, ist ihre Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet. Das aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gebot der weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes ist im vorliegenden Fall nicht verletzt, weil die vom Oberlandesgericht zu entscheidende Rechtsfrage nicht schwierig und die Rechtslage hinreichend geklärt war. Durch die Versagung der Prozesskostenhilfe wurde ihr Zweck, Unbemittelten einen weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, daher nicht verfehlt.

23

a) Das Gebot der weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) fordert, die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend anzugleichen (vgl. BVerfGE 9, 124 <130 f.>; 10, 264 <270 f.>; 22, 83 <87>; 51, 295 <302>; 63, 380 <394 f.>; 67, 245 <248>; 81, 347 <356 ff.>; BVerfGK 2, 279 <280 f.>; 10, 84 <86 f.>; stRspr). Dabei ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten darf jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Verfahren der Prozesskostenhilfe will den vom Rechtsstaatsprinzip geforderten Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>).

24

Auslegung und Anwendung der §§ 114 f. ZPO obliegen in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Diese verletzen jedoch spezifisches Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 95, 96 <128>), wenn eine Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruhen (vgl. BVerfGE 81, 347 <357 f.>; BVerfGK 2, 279 <281>). So überschreiten die Fachgerichte den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der hinreichenden Erfolgsaussicht zukommt, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch den einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert wird. Das ist namentlich dann der Fall, wenn das Fachgericht die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung überspannt und dadurch der Zweck der Prozesskostenhilfe deutlich verfehlt wird (vgl. BVerfGE 81, 347 <358>).

25

Hiernach dürfen schwierige, bislang ungeklärte Rechts- und Tatfragen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juli 1993 - 1 BvR 1523/92 -, NJW 1994, S. 241 <242>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 28. Januar 2013 - 1 BvR 274/12 -, FamRZ 2013, S. 685 <686>). Zwar braucht Prozesskostenhilfe nicht schon dann gewährt zu werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als "schwierig" erscheint. Liegt jedoch eine "schwierige", bislang ungeklärte Rechts- und Tatfrage vor, so läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, dem Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaussicht seines Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten (vgl. BVerfGE 81, 347 <359>; BVerfGK 2, 279 <281>). Hiervon zu unterscheiden ist es, wenn ein Fachgericht zwar dieser - verfassungsrechtlich gebotenen - Auslegung des § 114 Satz 1 ZPO folgt, eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage jedoch - obwohl diese erheblichen Zweifeln begegnet - als einfach oder geklärt ansieht und sie deswegen bereits im Verfahren der Prozesskostenhilfe zum Nachteil des Unbemittelten beantwortet. Wann hierbei der Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlt wird, hängt von der Eigenart der jeweiligen Rechtsmaterie und der Ausgestaltung des zugehörigen Verfahrens ab (vgl. BVerfGE 81, 347 <359 f.>).

26

b) Bei der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts sind die Europäische Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfen heranzuziehen (aa). Die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung enden jedoch dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint (bb).

27

aa) Die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle - soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sind - stehen innerhalb der deutschen Rechtsordnung im Rang eines Bundesgesetzes (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 82, 106 <120>; 111, 307 <316 f.>; 128, 326 <367>). Ein Beschwerdeführer kann daher vor dem Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar die Verletzung eines in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Rechts mit der Verfassungsbeschwerde rügen (vgl. BVerfGE 74, 102 <128>; 111, 307 <317>; 128, 326 <367>; BVerfGK 3, 4 <8>; stRspr). Gleichwohl besitzen die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verfassungsrechtliche Bedeutung, indem sie die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflussen. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes, sofern dies nicht zu einer - von der Konvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) - Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfGE 128, 326 <367 f.> m.w.N.). Auf der Ebene des einfachen Rechts trifft die Fachgerichte die Verpflichtung, die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention zu berücksichtigen und in den betroffenen Teilbereich der nationalen Rechtsordnung einzupassen (vgl. BVerfGE 111, 307 <327>).

28

In diesem Rahmen sind als Auslegungshilfe auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen. Dies beruht auf der Orientierungs- und Leitfunktion, die der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt (vgl. BVerfGE 128, 326 <368>). Das Grundgesetz will vor dem Hintergrund der zumindest faktischen Präzedenzwirkung der Entscheidungen internationaler Gerichte Konflikte zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und dem nationalen Recht nach Möglichkeit vermeiden (vgl. BVerfGE 128, 326 <368 f.> m.w.N.). Die Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe über den Einzelfall hinaus dient überdies dazu, den Garantien der Menschenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland möglichst umfassend Geltung zu verschaffen (vgl. BVerfGE 128, 326 <369 f.>).

29

bb) Die Berücksichtigung der Europäischen Menschenrechtskonvention zielt jedoch nicht auf eine schematische Parallelisierung einzelner einfach- oder verfassungsrechtlicher Begriffe. Die Beseitigung oder Vermeidung einer Völkerrechtsverletzung wird zwar vielfach leichter zu erreichen sein, wenn das innerstaatliche Recht mit der Konvention harmonisiert wird. Die Konvention gewährt den Vertragsparteien jedoch Wahlfreiheit, in welcher Weise sie ihrer Pflicht zur Beachtung der Vertragsvorschriften genügen (vgl. EGMR, Urteil vom 13. Juli 2000, Beschwerde-Nr. 39221/98 u. Nr. 41963/98, Scozzari u. Giunta ./. Italien, Rn. 249; Urteil vom 30. Juni 2009, Beschwerde-Nr. 32772/02, Verein gegen Tierfabriken Schweiz ./. Schweiz Nr. 2, NJW 2010, S. 3699 <3703> m.w.N.; BVerfGE 111, 307 <316, 322> m.w.N.; 128, 326 <370>).

30

Die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung enden überdies dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint (vgl. BVerfGE 111, 307 <329>; BVerfGE 128, 326 <371> m.w.N.). Im Übrigen ist auch im Rahmen der konventionsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes - ebenso wie bei der Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf der Ebene des einfachen Rechts - die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen (vgl. BVerfGE 111, 307 <327>; 128, 326 <371>), weshalb sich eine unreflektierte Adaption völkerrechtlicher Begriffe verbietet. Bei der insoweit erforderlichen wertenden Berücksichtigung durch die nationalen Gerichte kann auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Individualbeschwerdeverfahren vor dem Gerichtshof, insbesondere bei zivilrechtlichen Ausgangsverfahren, die beteiligten Rechtspositionen und Interessen möglicherweise nicht vollständig abbildet (vgl. BVerfGE 111, 307 <328>).

31

c) Bei Anwendung dieser Maßstäbe erweist sich die Verfassungsbeschwerde als unbegründet, denn das Oberlandesgericht hat die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung nicht in einer den Zweck der Prozesskostenhilfe verfehlenden Weise überspannt. Die innerstaatliche Rechtslage war zum Zeitpunkt seiner Entscheidung hinreichend geklärt (aa). Weder die Europäische Menschenrechtskonvention noch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebieten im Übrigen eine andere Auslegung des Gebots der Rechtsschutzgleichheit oder der Zivilprozessordnung (bb).

32

aa) Die innerstaatliche Rechtslage war, was die Auslegung des § 580 ZPO für den Fall angeht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention für Menschenrechte festgestellt hat und ein Zivilurteil auf dieser Verletzung beruht, hinreichend geklärt, so dass die Beantwortung der Rechtsfrage, ob die Restitutionsklage der Beschwerdeführerin zulässig war, bereits im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens beantwortet werden konnte, ohne damit dessen Zweck zu verfehlen.

33

(1) In anderen Verfahrensordnungen als der Strafprozessordnung war die Frage, wie die Bundesrepublik Deutschland im Fall ihrer Verurteilung durch den Gerichtshof im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit reagieren soll, wenn Gerichtsverfahren rechtskräftig abgeschlossen sind, zwar nicht abschließend beantwortet. Das Bundesverfassungsgericht hat im Görgülü-Beschluss hierzu ausgeführt, dass es Sachverhalte geben könne, in denen deutsche Gerichte zwar nicht über die res judicata, so doch über den Gegenstand, zu dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Konventionsverstoß festgestellt hat, erneut entscheiden könnten. Dies könne etwa der Fall sein, wenn eine erneute Befassung des Gerichts auf Grund neuen Antrags oder veränderter Umstände vorgesehen oder das Gericht in einer anderen Konstellation mit der Sache noch befasst sei (vgl. BVerfGE 111, 307 <326 f.>). Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch zugleich deutlich gemacht, dass letztendlich ausschlaggebend sei, ob ein Gericht im Rahmen des geltenden Verfahrensrechts die Möglichkeit zu einer weiteren Entscheidung habe, bei der es das einschlägige Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung - berücksichtigen könne. In solchen Fallkonstellationen wäre es nicht hinnehmbar, den Beschwerdeführer lediglich auf eine Entschädigung in Geld zu verweisen, obwohl eine Restitution weder an tatsächlichen noch an rechtlichen Gründen scheitern würde (vgl. BVerfGE 111, 307 <323, 327>).

34

(2) Nach diesen Grundsätzen bestand im Jahr 2006 keine Möglichkeit für das Oberlandesgericht, im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung eine weitere Entscheidung über das ursprüngliche Schadensersatzbegehren der Beschwerdeführerin herbeizuführen.

35

Es entsprach im Jahr 2006 der einhelligen Auffassung in der Rechtsprechung, dass der Restitutionsgrund des § 580 Nr. 7 Buchstabe b ZPO auf nach Rechtskraft eines Urteils ergangene weitere Gerichtsurteile nicht unmittelbar anwendbar war (vgl. zu Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte OLG Brandenburg, Urteil vom 9. Juni 2004 - 4 U 34/04 -, VIZ 2004, S. 525 <526>, LG Bautzen, Urteil vom 8. Oktober 2004 - 4 O 151/04 -, juris, Rn. 30 ff.; zu Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Union BSG, Urteil vom 25. August 1982 - 12 RK 62/81 -, juris, Rn. 14; BFH, Beschluss vom 27. September 1977 - VII K 1/76 -, NJW 1978, S. 511 <511>; BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 1999 - 8 B 66-99 -, NVwZ 1999, S. 1335 <1335>).

36

Eine analoge Anwendung des § 580 Nr. 7 Buchstabe b ZPO wurde zu diesem Zeitpunkt nach herrschender Auffassung im Schrifttum und in der Rechtsprechung ebenfalls abgelehnt. Eine solche Analogie wurde zwar teilweise im Schrifttum befürwortet (vgl. Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen, 1963, S. 308 ff., 321 ff., 324 ff.; Schorn, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und ihr Zusatzprotokoll in Einwirkung auf das deutsche Recht, 1965, S. 405; Schlosser, ZZP 79 <1966>, S. 164 <189>; Selbmann, NJ 2005, S. 103 <106>; Grunsky, in: Stein/Jonas, ZPO, Bd. 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, vor § 578 Rn. 58; Geimer, in: Zöller, ZPO, 25. Aufl. 2005, Einl. Rn. 136; zurückhaltender aber wieder Schumann, NJW 1964, S. 753 <754, 756>; zu weiteren, nur vereinzelt vertretenen Lösungsansätzen siehe die Nachweise bei Reinkenhof, NJ 2004, S. 250 <252, Fn. 22>). In der Rechtsprechung und dem überwiegenden Teil des Schrifttums hat sich diese Ansicht aber nicht durchsetzen können (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 1. April 2004 - 16 U 0297/04 -, VIZ 2004, S. 459 <459 f.>; OLG Brandenburg, Urteil vom 9. Juni 2004, a.a.O.; OLG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 17. Mai 2005 - 11 U 135/04 -, OLGR Naumburg 2005, S. 877 <878>; LG Bautzen, Urteil vom 8. Oktober 2004, a.a.O.; zum Disziplinarverfahren BVerwG, Beschluss vom 4. Juni 1998 - 2 DW 3-97 -, NJW 1999, S. 1649 <1651>; vgl. auch Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 62. Aufl. 2004, vor § 578 Rn. 1; Ress, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, 1982, S. 227 <240 f.>; Frowein/Peukert, in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1996, Art. 53 Rn. 5; Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2006, Art. 46 Rn. 26; Walter, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 31 Rn. 52; E. Klein, JZ 2004, S. 1176 <1177>; Reinkenhof, NJ 2004, S. 250 <252>; Purps, ZOV 2004, S. 3 <5>; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, S. 15 <17>; zurückhaltend auch Braun, in: Lüke/Wax, Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 2, 2. Aufl. 2000, vor § 578 Rn. 37).

37

Die zum damaligen Zeitpunkt herrschende Meinung fand ihre Bestätigung auch in der Praxis des Europarats. Dessen Lenkungsorgan, das Ministerkomitee, "ermutigte" ("encourages") die Vertragsparteien der Europäischen Menschenrechtskonvention im Januar 2000, ihre innerstaatlichen Rechtssysteme zu überprüfen, um sicherzustellen, dass geeignete Möglichkeiten für die Überprüfung einer Sache, einschließlich der Wiederaufnahme eines Verfahrens in Fällen bestehen, in denen der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention festgestellt hat (vgl. Recommendation No. R (2000) 2 of the Committee of Ministers to member states vom 19. Januar 2000). Noch im April 2006 berichtete der Lenkungsausschuss für Menschenrechte, der dem Ministerkomitee zuarbeitet, in einer aktualisierten Übersicht über die Möglichkeiten der Wiederaufnahme von Verfahren in den Mitgliedstaaten, dass über die Wiederaufnahmemöglichkeit von Zivilverfahren in der Bundesrepublik Deutschland höchstrichterlich noch nicht entschieden sei, die Instanzgerichte jedoch überwiegend eine analoge Anwendung der Wiederaufnahmevorschriften ablehnten (vgl. CDDH, <2006>008 Addendum III Bil vom 7. April 2006, S. 38 f.). Die Empfehlung des Ministerkomitees und der Bericht des Lenkungsausschusses waren ein wesentlicher Grund für den Gesetzgeber, tätig zu werden und den neuen Restitutionsgrund des § 580 Nr. 8 ZPO zu schaffen (vgl. BTDrucks 16/3038, S. 39 f.). Im August 2006 leitete die Bundesregierung dem Bundesrat dann einen entsprechenden Gesetzentwurf zu (vgl. BRDrucks 550/06).

38

bb) Weder die Europäische Menschenrechtskonvention noch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte fordern eine andere Auslegung. Grundsätzliche konventionsrechtliche Bedenken gegen das deutsche Institut der Prozesskostenhilfe bestehen nicht (1). Die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention gebieten weder generell die Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Zivilverfahren (2) noch ist eine Wiederaufnahme im vorliegenden Fall konventionsrechtlich geboten (3).

39

(1) Zunächst bestehen keine grundsätzlichen konventionsrechtlichen Bedenken gegen das deutsche Institut der Prozesskostenhilfe. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verpflichtet die Europäische Menschenrechtskonvention die Vertragsstaaten nicht dazu, für alle Streitigkeiten in Zivilverfahren Prozesskostenhilfe bereitzustellen. Das von der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistete Recht auf Zugang zu einem Gericht ist kein absolutes Recht und kann eingeschränkt werden, solange die Einschränkungen ein legitimes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sind. Insbesondere kann es akzeptabel sein, Bedingungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe aufzustellen, die unter anderem auf die finanzielle Lage der Prozesspartei oder deren Erfolgsaussichten im Verfahren abstellen, vorausgesetzt, das Prozesskostenhilfesystem bietet dem Einzelnen insgesamt ausreichende Garantien, die ihn vor Willkür schützen (vgl. EGMR, Urteil vom 10. April 2007, Beschwerde-Nr. 23947/03, Eckardt ./. Deutschland, juris, Rn. 37 ff. m.w.N.). Das deutsche Prozesskostenhilfesystem bietet dem Einzelnen nach diesen Maßstäben ausreichende Garantien (vgl. EGMR, Urteil vom 10. April 2007, Beschwerde-Nr. 23947/03, Eckardt ./. Deutschland, juris, Rn. 43; Urteil vom 29. Mai 2012, Beschwerde-Nr. 53126/07, Taron ./. Deutschland, NVwZ 2013, S. 47 <48>; Urteil vom 22. Januar 2013, Beschwerde-Nr. 51314/10, Havermann ./. Deutschland, juris, Rn. 17).

40

(2) Die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verlangen nicht die Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Zivilverfahren, weder im Jahr 2006 noch nach heutiger Rechtslage. Der Gesetzgeber war zur Einführung eines Restitutionsgrundes weder durch die Vorgaben der Europäischen Konvention für Menschenrechte noch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verpflichtet.

41

Nach Art. 46 Abs. 1 EMRK verpflichten sich die Vertragsparteien, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu befolgen. Danach obliegt die Umsetzung von Entscheidungen des Gerichtshofs den Vertragsparteien. Die Vertragsparteien sind im Rahmen des Möglichen dazu verpflichtet, allgemeine und gegebenenfalls individuelle Maßnahmen in ihrer Rechtsordnung zu treffen, um die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellte Verletzung abzustellen und die Folgen so weit wie möglich zu beseitigen, um den Zustand vor der Verletzung wiederherzustellen (vgl. EGMR, Urteil vom 13. Juli 2000, Beschwerde-Nr. 39221/98 u. Nr. 41963/98, Scozzari u. Giunta ./. Italien, Rn. 249; Urteil vom 8. April 2004, Beschwerde-Nr. 71503/01, Assanidzé ./. Georgien, NJW 2005, S. 2207 <2212>; Urteil vom 30. Juni 2009, Beschwerde-Nr. 32772/02, Verein gegen Tierfabriken Schweiz ./. Schweiz Nr. 2, NJW 2010, S. 3699 <3702>; Entscheidung vom 6. Juli 2010, Beschwerde-Nr. 5980/07, Öcalan ./. Türkei, NJW 2010, S. 3703 <3704>). Insbesondere aus Art. 1 EMRK ergibt sich, dass die Vertragsparteien ihre Rechtsordnung in einer mit der Konvention zu vereinbarenden Weise gestalten und jedes mögliche Hindernis für eine angemessene Wiedergutmachung eines Betroffenen beseitigen (vgl. EGMR, Urteil vom 8. April 2004, Beschwerde-Nr. 71503/01, Assanidzé ./. Georgien, NJW 2005, S. 2207 <2212>). Dies ändert aber nichts daran, dass die Beseitigung einer Konventionsverletzung grundsätzlich den Vertragsparteien überlassen bleibt, die dieser Pflicht im Rahmen des nach der innerstaatlichen Rechtsordnung Möglichen nachzukommen haben. Dementsprechend gebietet die Konvention nicht, die Möglichkeit zur Wiederaufnahme von rechtskräftig abgeschlossenen Zivilverfahren zu schaffen (vgl. EGMR, Urteil vom 30. Juni 2009, Beschwerde-Nr. 32772/02, Verein gegen Tierfabriken Schweiz ./. Schweiz Nr. 2, NJW 2010, S. 3699 <3703>; BVerfGE 111, 307 <325>). Art. 41 EMRK, der zugunsten der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung für die Fälle vorsieht, in denen nur eine unvollständige Wiedergutmachung für die Folgen einer Konventionsverletzung geleistet werden kann, trägt dem Rechnung (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Oktober 1985 - 2 BvR 336/85 -, NJW 1986, S. 1425 <1426>; BAG, Urteil vom 22. November 2012 - 2 AZR 570/11 -, juris, Rn. 32).

42

(3) Aus der zugunsten der Beschwerdeführerin ergangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann sie keine weitergehenden Rechte ableiten.

43

Der Gerichtshof erlässt ausschließlich Feststellungsurteile; eine kassatorische, die angegriffene Maßnahme der Vertragspartei unmittelbar aufhebende Entscheidung ergeht nicht (vgl. BVerfGE 111, 307 <320>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Oktober 1985 - 2 BvR 336/85 -, NJW 1986, S. 1425 <1426>). Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kommt auch nicht die Befugnis zur Aufhebung nationaler Gerichtsentscheidungen oder zur Anordnung einer Wiederaufnahme eines Verfahrens zu (vgl. EGMR, Urteil vom 29. April 1988, Beschwerde-Nr. 10328/83, Belilos ./. Schweiz, Rn. 76; Urteil vom 20. September 1993, Beschwerde-Nr. 14647/89, Saidi ./. Frankreich, Rn. 47; Urteil vom 22. September 1994, Beschwerde-Nr. 16737/90, Pelladoah ./. Niederlande, Rn. 44; Urteil vom 30. Juni 2009, Beschwerde-Nr. 32772/02, Verein gegen Tierfabriken Schweiz ./. Schweiz Nr. 2, NJW 2010, S. 3699 <3702>). Auch die betroffene Vertragspartei aus einem festgestellten Konventionsverstoß trifft keine Pflicht zur Beseitigung des konventionswidrigen Urteils (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Oktober 1985 - 2 BvR 336/85 -, NJW 1986, S. 1425 <1426 f.>).

44

Vor diesem Hintergrund lehnt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Individualbeschwerden, mit denen gegen die Ablehnung der Wiederaufnahme ihres Falles seitens der innerstaatlichen Gerichte vorgegangen wird, grundsätzlich als unzulässig ab, da der Gerichtshof keine Zuständigkeit hat, zu prüfen, ob ein Konventionsstaat die Pflichten erfüllt hat, die sich aus einem seiner Urteile ergeben. Die Überwachung der Urteilsdurchführung fällt vielmehr gemäß Art. 46 Abs. 2 EMRK in die Zuständigkeit des Ministerkomitees. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz hat der Gerichtshof nur für den Fall anerkannt, dass Maßnahmen, die der Mitgliedstaat zur Wiedergutmachung einer Konventionsverletzung getroffen hat, neue Fragen aufwerfen, über die im Urteil noch nicht entschieden worden ist (vgl. EGMR, Entscheidung vom 6. Juli 2010, Beschwerde-Nr. 5980/07, Öcalan ./. Türkei, NJW 2010, S. 3703 <3704>; Breuer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, 2012, Art. 46 Rn. 17, 77). Dies hat der Gerichtshof - soweit hier von Interesse - in einem Ausnahmefall bejaht, in dem das Ministerkomitee seine Überwachung der Urteilsdurchführung in Unkenntnis des Umstands eingestellt hatte, dass im Rahmen eines nach nationalem Recht grundsätzlich zulässigen Wiederaufnahmeverfahrens das zuständige nationale Gericht den Wiederaufnahmeantrag aufgrund neu eingetretener Umstände abgelehnt hatte (vgl. EGMR, Urteil vom 30. Juni 2009, Beschwerde-Nr. 32772/02, Verein gegen Tierfabriken Schweiz ./. Schweiz Nr. 2, NJW 2010, S. 3699 <3700 f.>).

45

Welche Konsequenzen in einem derartigen Ausnahmefall für das deutsche Recht zu ziehen wären, bedarf keiner Erörterung. Denn im Fall der Beschwerdeführerin sind nach der Einstellungsentscheidung des Ministerkomitees keine neuen Fragen aufgeworfen worden, die eine erneute Befassung des Gerichtshofs ermöglichen könnten. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens war zum damaligen Zeitpunkt nicht statthaft. Soweit die Beschwerdeführerin ausführt, eine Wiederaufnahme des Zivilverfahrens gegen die Privatklinik Dr. H. sei nach deutschem Recht die einzige Möglichkeit, die vom Ministerkomitee erwartete volle Wiedergutmachung zu erreichen, ist dies unzutreffend. In Betracht gekommen wäre auch, die Bundesrepublik Deutschland oder die Freie Hansestadt Bremen gemäß Art. 5 Abs. 5 EMRK auf Ersatz jedenfalls des vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht zugesprochenen Vermögensschadens in Anspruch zu nehmen. Diese Vorschrift gewährt den Betroffenen nach der Rechtsprechung der deutschen Zivilgerichte unmittelbar einen verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruch gegen die öffentliche Hand wegen Freiheitsentziehungen unter Verletzung von Art. 5 EMRK (vgl. BGHZ 45, 58 <65>). Dieser Anspruch dürfte allerdings zwischenzeitlich gemäß §§ 195, 199 Abs. 1 BGB verjährt sein, da die Verjährungsregeln des deutschen Rechts für deliktische Ansprüche entsprechende Anwendung finden (vgl. BGHZ 45, 58 <70 ff.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. Oktober 2004 - 1 BvR 414/04 -, NJW 2005, 1567).

46

3. Da durch die Annahme des Oberlandesgerichts, die Restitutionsklage sei unzulässig, das Gebot der Rechtsschutzgleichheit nicht verletzt ist, kommt es auf seine Hilfserwägungen im Beschluss über die Gegenvorstellung nicht mehr an.

V.

47

Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt R. ist entsprechend § 114 ZPO abzulehnen.

48

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.

(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.

(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.


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Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.

2. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

3. Der Gegenstandswert beträgt 2.500,00 EUR.

Gründe

I.

Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben am 31. Dezember 1994 geboren und irakischer Staatsangehöriger, kurdischer Volkszugehöriger und yezidischen Glaubens. Er reiste seinen Angaben zufolge am 15. Juni 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 10. August 2015 einen auf § 3 Abs. 1 AsylG beschränkten Asylantrag.

Den Erkenntnissen des Bundesamtes zufolge (EURODAC-Treffer vom 11. August 2015) lagen Anhaltspunkte vor für die Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-Verordnung). Am 8. Oktober 2015 wurde ein Übernahmeersuchen nach der Dublin III-Verordnung an Ungarn gerichtet. Auf dieses Ersuchen haben die ungarischen Behörden nicht geantwortet.

Mit Bescheid vom 28. Januar 2016, der dem Antragsteller mit Postzustellungsurkunde am 30. Januar 2016 zugestellt wurde, lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Ziffer I) und ordnete in Ziffer II die Abschiebung nach Ungarn an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.

Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, in Ungarn lägen keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vor. Der Abtragsteller habe vorgebracht, dass er in Deutschland einen Bruder, zwei Onkel und eine yezidische Gemeinde habe. Bei diesen Verwandten handele es sich jedoch nicht um Familienangehörige im Sinne der Dublin III-VO. Der Antragsteller habe nichts vorgetragen, was die Annahme begründen könnte, dass eine Familieneinheit wiederherzustellen sei.

Zur Begründung wird insgesamt auf den Bescheid Bezug genommen.

Mit einem am 4. Februar 2016 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten ließ der Antragsteller gegen den genannten Bescheid Klage erheben (AN ...) und beantragte gleichzeitig,

die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.

Zur Begründung wurde vorgetragen, dass das Asylverfahren in Ungarn mit systemischen Mängeln behaftet sei, so dass die Bundesrepublik Deutschland für das Verfahren zuständig sei. Der Kläger habe in Ungarn keinen Asylantrag gestellt. Es sei von den dortigen Behörden lediglich erkennungsdienstlich behandelt worden.

Eine Vielzahl deutscher Gerichte erkenne an, dass systemische Mängel in Deutschland vorlägen. Insbesondere wird in der Klagebegründung Bezug genommen auf einen Beschluss des VG Berlin vom 15. Januar 2015 - VG 23 L 899.14, und auf ein Urteil des VG Köln vom 11. September 2015 - 18 K 3279/15.A.

Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 9. Februar 2016,

den Antrag abzulehnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Behörden- und Gerichtsakten Bezug genommen.

II.

Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 28. Januar 2016 anzuordnen, ist zulässig, aber unbegründet.

Die Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes hat gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung. Jedoch kann das Gericht gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen, wenn das Interesse auf Aussetzung des Vollzugs das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Bescheids überwiegt. Hierbei sind im Wesentlichen auch die Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache zu berücksichtigen. Die Klage des Antragstellers wird mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg haben. Die angefochtene Abschiebungsanordnung erweist sich unter Berücksichtigung der maßgebenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) aller Voraussicht nach als rechtmäßig.

Rechtsgrundlage für die Anordnung der Abschiebung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

Die Antragsgegnerin ist zutreffend davon ausgegangen, dass Ungarn nach Art. 18 Abs. 1b Dublin III-VO für die Bearbeitung des Antrages auf internationalen Schutz und für die Wiederaufnahme des Antragstellers zuständig ist. Ungarn hat auf das am 8. Oktober 2015 vom Bundesamt erstellte Ersuchen um Wiederaufnahme des Antragstellers innerhalb der zweiwöchigen Frist des Art. 25 Abs. 1 Dublin III-VO nicht geantwortet, so dass die Stattgabe des Wiederaufnahmegesuchs am 23. Oktober 2015 fingiert wurde, Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO. Damit ist Ungarn gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-Verordnung verpflichtet, den Antragsteller innerhalb einer Frist von sechs Monaten, nachdem es die Wiederaufnahme akzeptiert hat bzw. innerhalb von sechs Monaten nach der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat, wieder aufzunehmen. Diese Frist ist vorliegend noch nicht abgelaufen und die Überstellung kann erfolgen. Die Frist für die Überstellung begann am 24. Oktober 2015 und endet am 25. April 2016, da das reguläre Fristende, der 23. April 2016, auf einen Samstag fällt, § 31 VwVfG, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2, 193 BGB.

Die Frist von zwei Monaten, die Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO der Bundesrepublik Deutschland für die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs einräumt, beginnt mit der EURODAC-Treffermeldung nach Art. 9 Absatz 5 der Dublin III-VO zu laufen. Diese erfolgte hier per E-Mail am 11. August 2015 (Blatt 59 der Behördenakte) und lief demzufolge am 11. Oktober 2015 ab, §§ 31 VwVfG, 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB. Das Ersuchen der ungarischen Behörden um Wiederaufnahme vom 8. Oktober 2015 geschah damit fristgemäß.

Der Antragsteller kann nicht mit Erfolg geltend machen, er habe in Ungarn keinen Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes gestellt. Denn bei den Vorschriften der Dublin III-Verordnung handelt es sich überwiegend um Normen, die die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens regeln und dem Antragsteller gerade kein subjektives Recht darauf einräumen, dass sein Asylverfahren in einem bestimmten Mitgliedsstaat durchgeführt wird (vgl. Beck´scher Online-Kommentar AuslR, Kluth/Heusch, Stand 1.5.2015, Rn. 29 und 30 zu § 27a AsylVfG). Entscheidend ist, dass Ungarn aufgrund der der o.g. Regelungen der Dublin III-Verordnung für die Durchführung des Verfahrens des Antragstellers zuständig geworden ist.

Besondere Umstände, die die Zuständigkeit der Antragsgegnerin nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO begründen oder zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO führen würden, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

Die Auslegung der Dublin III-Verordnung, die „einen der Bausteine des von der Europäischen Union errichteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem bildet“, und die sich daraus ergebenden Rechte der Asylbewerber sind durch neuere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs geklärt (EuGH, U. v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - Slg. 2011, I-13905; U. v. 14.11.2013 - Pui, C-4/11; EuGH, U. v. 10.12.2013 - -394/12). Das in dieser Verordnung und in weiteren Rechtsakten geregelte Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) stützt sich - ähnlich wie das deutsche Konzept der „normativen Vergewisserung“ hinsichtlich der Sicherheit von Drittstaaten (BVerfG, U. v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - BVerfGE 94, 49) - auf die Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedsstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und der Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist, ferner dass die Mitgliedsstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen (EuGH, U. v. 21.12.2011 - C-411/10, C-493/10, NVwZ 2012, 417; vgl. Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406).

Davon kann nur dann abgesehen werden, wenn dieser zuständige Mitgliedsstaat sogenannte „systemische Mängel“ des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber aufweist, so dass die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gefahr für Asylbewerber bestünde, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechtscharta bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden. Dies wiederum hat zur Folge, dass der Asylbewerber der Überstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat nur mit dem Einwand sogenannter systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber entgegentreten kann (so grundsätzlich EuGH, große Kammer, U. v. 10.12.2013, RS: 10-394/12, juris). Diese Rechtsprechung mündete in Art. 3 Abs. 2 der Dublin III-VO, der bestimmt, dass im Falle systemischer Schwachstellen in einem Mitgliedsstaat für den Fall, dass keine anderen zuständigen Staaten gefunden werden können, der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedsstaat der zuständige Mitgliedsstaat wird. An diesen in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO normierten Ausnahmefall sind daher strenge Anforderungen zu stellen (vgl. OVG NRW, U. v. 7.3.2015 - 1 A 21/12.A - DVBl 2014, 709 ff.). Eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK muss im Sinne einer Selbstbetroffenheit speziell auch gerade für den jeweiligen Rechtsschutzsuchenden in seiner konkreten Situation bestehen. Sie liegt maßgeblich dann vor, wenn mit Blick auf das Gewicht und das Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieses Grundrechts mit einem beachtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedsstaat, in den er überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet, oder dass es während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegen defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z. B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbaren Weise befriedigen kann (vgl. OVG NRW a. a. O.).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss sich der Tatrichter zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedsstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedsstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedsstaat mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Die Widerlegung dieser Vermutung aufgrund systemischer Mängel setzt deshalb voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedsstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (BVerwG, B. v. 6.6.2014 - 10 B 35/14, juris).

Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage in dem zuständigen Mitgliedsstaat sind die regelmäßigen Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen, Berichte der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems und Berichte des UNHCR zur Lage von Flüchtlingen und Migranten vor Ort. Den Berichten des UNHCR zur Lage von Flüchtlingen und Migranten vor Ort kommt bei der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in dem nach der Dublin III-Verordnung zuständigen Mitgliedsstaat besondere Relevanz zu.

Nach diesen Grundsätzen ist auf Grundlage des dem Gericht vorliegenden, aktuellen Erkenntnismaterials zur Situation von Asylbewerbern in Ungarn (vgl. Lagebericht zum Mitgliedstaat Ungarn des Liaisonmitarbeiters des Bundesamtes beim ungarischen Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft vom 13. Januar 2016; Stellungnahme des Juristischen Dienstes der Europäischen Kommission vom 30. Oktober 2015 an das Verwaltungsgericht Köln; Human Rights Watch vom 1. Dezember 2015, Hungary: Locked Up for Seeking Asylum, abrufbar unter http://www.refworld.org/country,,,,HUN,,566a8a684,0.html; Bericht des Hungarian Helsinki Committee zu den Änderungen des ungarischen Asylrechts vom 7. August 2015, abrufbar unter http:/helsinki.hu/wpcontent/uploads/HHC-HU-asylumlawamendment-2015-Augustinfonote.pdf; Bericht des Hungarian Helsinki Committee zu Asylhaft und zu den Dublin-Verfahren in Ungarn, Stand Mai 2014; Stellungnahme des UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf im Verfahren 13 L 172/14.A jeweils abrufbar unter https://milo.bamf.de; Ungarn Länderbericht des AIDA (Asylum Information Database), Stand November 2015, abrufbar unter http://www.refworld.org/country,,,,HUN,,56652db64,0.html; AIDA (Asylum Information Database), Crossing Boundaries, Oktober 2015, abrufbar unter http://ecre.org/component/downloads/downloads/1056; Bericht von bordermonitoring.eu, Stand Oktober 2013, abrufbar unter http://bordermonitoring.eu; Amnesty International Juli 2015: „Europe’s Borderlands - Violations against refugees and migrants in Macedonia, Serbia and Hungary“, abrufbar unter http://www.amnestyusa.org/research/reports/europesborderlandsviolationsagainstmigrantsandrefugeesinmacedoniaserbiaandhungary; Amnesty International zur Lage der Flüchtlinge in Ungarn Oktober 2015 :“Fenced out-Hungary’s violations of the rights of refugees and migrants“, abrufbar unter http://www.amnesty.org/en/documents/eur27/2614/2015/en/; UNHCR: „Europe’s refugee emergency response update #20, 22. - 28. Januar 2016, abrufbar unter http://www.refworld.org/country,,,,HUN,,56bd9f1a4,0.html;) jedenfalls für die Person des Antragstellers derzeit nicht ernsthaft zu befürchten, dass in Ungarn das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für den Asylbewerber systemische Mängel aufweisen, die einen Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK begründen könnten.

Zum 1. Juli 2013 wurde das Asylsystem Ungarns zwar dahingehend verändert, als erneut weitgehende Inhaftierungsgründe für Asylbewerber geschaffen wurden. Diese Rechtsänderungen wurden hinsichtlich der Unbestimmtheit der Haftgründe sowie hinsichtlich der unzureichenden Rechtsbehelfe gegen die Inhaftierung verschiedentlich kritisiert (vgl. Bericht des Hungarian Helsinki Commiittees a. a. O.; Ungarn Länderbericht des AIDA a. a. O.; UNHCR vom 9.5.2014 a. a. O.). Die genannten Berichte beruhen allerdings im Wesentlichen auf einer Auswertung der geänderten Rechtslage selbst, während Erkenntnisse zur konkreten Handhabung nicht verlässlich vorliegen. Es zu konstatieren, dass der UNHCR - abgesehen von seiner Stellungnahme vom 9. Mai 2014 an das Verwaltungsgericht Düsseldorf - bislang keine generellen Feststellungen zum Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen in Ungarn getroffen und auch keine generelle Empfehlung ausgesprochen hat, im Rahmen des Dublin-Verfahrens Asylbewerber nicht nach Ungarn zu überstellen (vgl. VG Würzburg, B. v. 25.8.2014 - W 6 S 14.50100 - juris). Unter Berücksichtigung der besonderen Relevanz des durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragenen Amtes des UNHCR für die Auslegung des unionsrechtlichen Asylverfahrens (vgl. EuGH, U. v. 30.5.2013 - C 528/11 - NVwZ-RR 2013, 660), kommt dem Fehlen einer solchen generellen Empfehlung des UNHCR besondere Bedeutung zu (so auch der Juristische Dienst der Europäischen Kommission, vgl. Stellungnahme des Juristischen Dienstes der Europäischen Kommission vom 30. Oktober 2015 an das Verwaltungsgericht Köln). Der Auffassung, die z. B. das Verwaltungsgericht des Saarlandes im Beschluss vom 7. August 2015 (3 L 672/15, juris Rn. 20) vertritt (so auch VG Köln, U. v. 11.9.2015 - 18 K 3279/15.A, juris und VG Bremen, B. v. 1.4.2015 - 3 V 145/15, juris), wonach Äußerungen der Pressesprecherin des UNHCR zu entnehmen sei, dass der UNHCR über die fremdenfeindliche Gesinnung der ungarischen Regierung besorgt sei und dass diese Äußerungen wegen der Rolle, die dem Amt des UNHCR durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden sei, bei der Auslegung des unionsrechtlichen Asylverfahrens besonders zu beachten seien, schließt sich das Gericht nicht an. Abzustellen ist vielmehr auf Empfehlungen des UNHCR zur Beachtung der Aufnahme- und Verfahrensregelungen der Dublin-Verordnungen bei der Umsetzung in nationales Recht (so auch VG Stade, B. v. 4.11.2015 - 1 B 1749/15, juris). Diese gab der UNHCR erst jüngst z. B. zu den Verhältnissen für Asylsuchende in Tschechien ab (siehe hierzu FAZ vom 27.10.2015: UN werfen Tschechien menschenunwürdiges Verhalten vor; Tagesspiegel vom 22.10.2015: UN: Tschechien inhaftiert Flüchtlinge „systematisch“). An einer solchen Empfehlung zu Ungarn fehlt es bislang, wie auch das VG des Saarlandes (a. a. O.) selbst feststellt, obwohl Ungarn in den letzten Monaten in seiner Bedeutung als Transitland stark im Fokus der Öffentlichkeit stand.

Auch wenn die Inhaftierungsregelungen und -praxis in Ungarn in der Rechtsprechung zur Annahme systemischer Mängel führen (vgl. VG München, U. v. 23.9.2014 - M 24 K 13.31329 -; VG Sigmaringen, B. v. 22.4.2014 - A 5 K 972/14 - juris; VG München, B. v. 26.6.2014 - M 24 S 14.50325; VG Düsseldorf, B. v. 27.8.2014 - 14 L 1786/14.A - VG Düsseldorf, B. v. 16.6.2014 - 13 L 141/14.A - jeweils juris; VG Münster, B. v. 7.7.2015 - 2 L 858/15.A; VG München, B. v. 5.3.2015 - M 15 S 15.50160 - juris; VG Berlin, B. v. 15.1.2015 - 23 L 899.14 A - juris; VG Bremen, B. v. 1.4.2015 - 3 V 145/15 - juris; VG Köln, U. v. 11.9.2015 - 18 K 3279/; VG Oldenburg, U. v. 2.11.2015 - 12 A 2572/15 - juris; VG Augsburg, B. v. 23.10.2015 - Au 5 S 15.50405 - bislang nicht veröffentlicht), ist nach Überzeugung des Gerichts für den hier vorliegenden Einzelfall nicht die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bei einer Rücküberstellung nach Ungarn zu befürchten. Zwar sind Dublin-Rückkehrer häufiger von Asylhaft betroffen als Ersteinreisende. Ausweislich einer Erklärung des Direktors des ungarischen Asyldirektorates gegenüber dem Liaisonmitarbeiter des Bundesamtes in Budapest im September 2013 werden Asylantragsteller aus sogenannten anerkennungsträchtigen Herkunftsländern, wozu auch der Iran zählen dürfte, aber regelmäßig weder in Asylhaft noch in Abschiebehaft genommen (vgl. VG Düsseldorf, B. v. 2.9.2014 - 6 L 1235/14.A - juris). Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28. September 2015 an das Verwaltungsgericht Magdeburg gibt es zwar keine generelle Regelung (mehr), wonach z. B. Dublin-Rückkehrer aus Syrien oder dem Nordirak generell von der Anwendung von Asylhaft ausgenommen sind. Dies geschah vor dem Hintergrund vermehrter Staatsangehörigkeitstäuschungen (vgl. Lagebericht zum Mitgliedstaat Ungarn des Liaisonmitarbeiters des Bundesamtes beim ungarischen Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft vom 13. Januar 2016).

Die Zahlen lassen aber den Rückschluss darauf zu, dass Menschen aus anerkennungsträchtigen Herkunftsländern deutlich seltener mit der Anwendung von Asylhaft rechnen müssen. Im Zeitraum 1. Januar bis 30. Juni 2015 wurden nach den Angaben des Auswärtigen Amtes 492 Personen in Asylhaft genommen, das sind 0,7% aller Asylantragssteller. Asylhaft wird nur nach Einzelfallprüfung und dann angeordnet, wenn kein milderes Mittel möglich ist.

Die Haftplätze waren im September 2015 nicht alle belegt, was trotz der hohen Flüchtlingszahlen für einen maßvollen Umgang der ungarischen Behörden mit dem Instrument der Asylhaft spricht. Entgegenstehende Erkenntnisse liegen derzeit nicht vor. Auch der UNHCR kann derzeit keine verlässlichen Angaben über den Umgang mit Asylantragstellern im Dublin-Verfahren in Ungarn machen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dessen Rechtsprechung grundsätzlich über den jeweils entschiedenen Einzelfall hinaus eine Orientierungs- und Leitfunktion zukommt (vgl. BVerwG, U. v. 28.2.2013 - 2 C 3.12 - juris), hat mit Urteil vom 3. Juli 2014 im Ergebnis festgestellt, dass systemische Mängel hinsichtlich der Inhaftierungspraxis Ungarns nicht vorliegen und ein tatsächliches Risiko einer schwerwiegenden Beeinträchtigung im Sinne des Art. 3 EMRK bei einer Rückkehr nach Ungarn nicht bestehe (vgl. EGMR, U. v. 3.7.2014 - 71932/12). Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in zwei Entscheidungen ausgeführt, allein die Tatsache, dass das ungarische Asylrecht Inhaftierungsgründe für Asylbewerber enthalte und Ungarn auf dieser Grundlage Dublin-Rückkehrer inhaftiere, sei für sich genommen noch kein begründeter Anhaltspunkt für das Vorliegen systemischer Mängel des Asylsystems (so auch VG Dresden, B. v. 9.9. 2015 - 2 L 719/15.A). Er stützt sich weiterhin maßgeblich darauf, dass der UNHCR sich bisher nicht generell gegen Rücküberstellungen nach Ungarn ausgesprochen habe (BayVGH, B. v. 12.6.2015 - 13a ZB 15.50097 - juris; BayVGH, B. v. 27.4.2015 - 14 ZB 13.30076 - juris).

Hinsichtlich der Anwendung der seit 1. August 2015 in Ungarn geltenden Rechtslage, wonach Serbien nun sicherer Drittstaat sei, die Asylverfahren verkürzt und Anträge abgelehnt würden, wenn sich ein Asylbewerber unentschuldigt länger als 48 Stunden aus der ihm zugewiesenen Unterkunft entferne, ergibt sich nichts anderes. Es liegen dem Gericht für die Behandlung von Rückkehrern im Dublin-Verfahren keinerlei auf Tatsachen gestützte Erkenntnisse vor, die Anlass dazu gäben, Mängel in o.g. Qualität im Asylverfahren oder in den Aufnahmebedingungen anzunehmen.

Es liegen derzeit keine auf Tatsachen beruhenden Erkenntnisse darüber vor, dass Dublin-Rückkehrer systematisch von Ungarn nach Serbien abgeschoben würden. Tatsächlich lehnt Serbien derzeit die Übernahme von Drittstaatsangehörigen aus Ungarn ab, da aus serbischer Sicht nicht nachgewiesen werden könne, dass die Antragsteller tatsächlich über Serbien nach Ungarn eingereist seien (vgl. Lagebericht zum Mitgliedstaat Ungarn des Liaisonmitarbeiters des Bundesamtes beim ungarischen Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft vom 13. Januar 2016).

Sofern teilweise darauf abgestellt wird, es könne angesichts der neuen Gesetzeslage nicht ausgeschlossen werden, dass auch Dublin-Rückkehrer nach Serbien abgeschoben werden und darauf die Annahme systemischer Mängel in Ungarn für diese Personengruppe gestützt werden (VG Düsseldorf, B. v. 20.8.2015 - 15 L 2556/15.A-, juris; VG Oldenburg, U. v. 2.11.2015, a. a. O.; VG Augsburg, B. v. 23.10.2015 - Au 5 S 15.50405-, bislang unveröffentlicht; VG Arnsberg, B. v. 4. November 2015 - 6 L 1406/15.A, bislang unveröffentlicht und B. v. 4. November 2015 - 6 L 1171/15.A, juris), folgt das Gericht dieser Auffassung nicht, da sich hierfür aus den Erkenntnisquellen keine Anhaltspunkte ergeben (so auch VG Stade, B. v. 4.11.2015 a. a. O.). Aus der geänderten Gesetzeslage in Ungarn lässt sich vielmehr der Versuch erkennen, dem ungehinderten Zustrom von Flüchtlingen Herr zu werden. Die ungarische Regierung scheint bemüht, die Vorschriften der Dublin-Verordnung einzuhalten und für eine geregelte Einreise und Registrierung der Flüchtlinge zu sorgen, die gerade nicht in Ungarn Asyl beantragen wollen, sondern mit dem Ziel Deutschland oder Schweden in den Schengen-Raum einreisen. Daran ändert auch die als „fremdenfeindlich“ kritisierte Einstellung der ungarischen Regierung nichts.

Hinsichtlich der vielfach kritisierten Asylhaft ist anzumerken, dass die meisten Asylbewerber, die - wie der Antragsteller - über die sogenannte Balkanroute in die EU einreisen, Ungarn erklärtermaßen als Transitland betrachten und dort keinen Asylantrag stellen wollen.

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass sie im Falle einer Rückführung nach Ungarn im Rahmen des Dublin-Verfahrens dort in Asylhaft genommen werden, da die ungarischen Behörden ihre wiederholte Ausreise befürchten müssen und eine Inhaftierung zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Asylverfahrens notwendig erscheint. Die im ungarischen Asylgesetz genannten Haftgründe sind insoweit auch nachvollziehbar.

Den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen lässt sich nicht entnehmen, dass die Haftbedingungen an sich menschenunwürdig im oben dargelegten Sinn wären und es dort systematisch zu Menschenrechtsverletzung kommen würde. Darauf, ob es unterhalb der Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 EU-GRCh bzw. des Art. 3 EMRK kommen kann und ob ein Antragsteller dem in der Vergangenheit schon einmal ausgesetzt war, kommt es im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nicht an (BVerwG, B. v. 6.6.2014 a. a. O.). Tatsächlich bestehen in den Hafteinrichtungen, sollte es im Einzelfall zur Inhaftierung kommen, menschenwürdige Bedingungen. Beispielsweise findet regelmäßig eine medizinische Betreuung statt, teilweise arbeiten dort Sozialpädagogen und besteht die Möglichkeit der freien Bewegung sowie Sport zu betreiben (Lagebericht zum Mitgliedstaat Ungarn des Liaisonmitarbeiters des Bundesamtes beim ungarischen Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft vom 13. Januar 2016).

Auch die derzeit in vielen Ländern der EU anzutreffenden Kapazitätsengpässe bei der Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge stellen für sich keinen systemischen Mangel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VP dar. Denn hierbei handelt es sich um rein tatsächliche Probleme, die der unerwartete Zustrom so vieler Menschen mit sich bringt (a.A. VG Augsburg, B. v. 23.10.2015, a. a. O.).

Da der Antragsteller auch keiner besonders schutzbedürftigen Personengruppe im Sinne des Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Aufnahme-Richtlinie) angehört, kann er einer Überstellung nach Ungarn somit nicht damit entgegentreten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für ihn in diesem Mitgliedsstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtscharta mit sich bringen würde (vgl. VG Köln, B. v. 28.4.2015 - 17 L 1024/15.A - juris; VG Ansbach, B. v. 16.4.2015 - AN 4 K 14.30119).

Die Anordnung der Abschiebung nach § 34a AsylVfG erscheint somit rechtmäßig. Im Übrigen wird zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG auf die zutreffende Begründung des streitgegenständlichen Bescheids des Bundesamtes vom 28. Januar 2016 Bezug genommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83a AsylG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.

(1) Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an.

(2) Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt nach § 11 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung bleibt hiervon unberührt.

(1) Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird. Für einen Zeitraum von länger als sechs Monaten gilt § 23 Abs. 1.

(2) Die Abschiebung eines Ausländers ist auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Die Abschiebung eines Ausländers ist auch auszusetzen, wenn seine vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet für ein Strafverfahren wegen eines Verbrechens von der Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht für sachgerecht erachtet wird, weil ohne seine Angaben die Erforschung des Sachverhalts erschwert wäre. Einem Ausländer kann eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Soweit die Beurkundung der Anerkennung einer Vaterschaft oder der Zustimmung der Mutter für die Durchführung eines Verfahrens nach § 85a ausgesetzt wird, wird die Abschiebung des ausländischen Anerkennenden, der ausländischen Mutter oder des ausländischen Kindes ausgesetzt, solange das Verfahren nach § 85a nicht durch vollziehbare Entscheidung abgeschlossen ist.

(2a) Die Abschiebung eines Ausländers wird für eine Woche ausgesetzt, wenn seine Zurückschiebung oder Abschiebung gescheitert ist, Abschiebungshaft nicht angeordnet wird und die Bundesrepublik Deutschland auf Grund einer Rechtsvorschrift, insbesondere des Artikels 6 Abs. 1 der Richtlinie 2003/110/EG des Rates vom 25. November 2003 über die Unterstützung bei der Durchbeförderung im Rahmen von Rückführungsmaßnahmen auf dem Luftweg (ABl. EU Nr. L 321 S. 26), zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Die Aussetzung darf nicht nach Satz 1 verlängert werden. Die Einreise des Ausländers ist zuzulassen.

(2b) Solange ein Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Absatz 1 besitzt, minderjährig ist, soll die Abschiebung seiner Eltern oder eines allein personensorgeberechtigten Elternteils sowie der minderjährigen Kinder, die mit den Eltern oder dem allein personensorgeberechtigten Elternteil in familiärer Lebensgemeinschaft leben, ausgesetzt werden.

(2c) Es wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Zur Behandlung der Erkrankung erforderliche Medikamente müssen mit der Angabe ihrer Wirkstoffe und diese mit ihrer international gebräuchlichen Bezeichnung aufgeführt sein.

(2d) Der Ausländer ist verpflichtet, der zuständigen Behörde die ärztliche Bescheinigung nach Absatz 2c unverzüglich vorzulegen. Verletzt der Ausländer die Pflicht zur unverzüglichen Vorlage einer solchen ärztlichen Bescheinigung, darf die zuständige Behörde das Vorbringen des Ausländers zu seiner Erkrankung nicht berücksichtigen, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Einholung einer solchen Bescheinigung gehindert oder es liegen anderweitig tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, vor. Legt der Ausländer eine Bescheinigung vor und ordnet die Behörde daraufhin eine ärztliche Untersuchung an, ist die Behörde berechtigt, die vorgetragene Erkrankung nicht zu berücksichtigen, wenn der Ausländer der Anordnung ohne zureichenden Grund nicht Folge leistet. Der Ausländer ist auf die Verpflichtungen und auf die Rechtsfolgen einer Verletzung dieser Verpflichtungen nach diesem Absatz hinzuweisen.

(3) Die Ausreisepflicht eines Ausländers, dessen Abschiebung ausgesetzt ist, bleibt unberührt.

(4) Über die Aussetzung der Abschiebung ist dem Ausländer eine Bescheinigung auszustellen.

(5) Die Aussetzung der Abschiebung erlischt mit der Ausreise des Ausländers. Sie wird widerrufen, wenn die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe entfallen. Der Ausländer wird unverzüglich nach dem Erlöschen ohne erneute Androhung und Fristsetzung abgeschoben, es sei denn, die Aussetzung wird erneuert. Ist die Abschiebung länger als ein Jahr ausgesetzt, ist die durch Widerruf vorgesehene Abschiebung mindestens einen Monat vorher anzukündigen; die Ankündigung ist zu wiederholen, wenn die Aussetzung für mehr als ein Jahr erneuert wurde. Satz 4 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe durch vorsätzlich falsche Angaben oder durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit selbst herbeiführt oder zumutbare Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen nicht erfüllt.

(6) Einem Ausländer, der eine Duldung besitzt, darf die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht erlaubt werden, wenn

1.
er sich in das Inland begeben hat, um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu erlangen,
2.
aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei ihm aus Gründen, die er selbst zu vertreten hat, nicht vollzogen werden können oder
3.
er Staatsangehöriger eines sicheren Herkunftsstaates nach § 29a des Asylgesetzes ist und sein nach dem 31. August 2015 gestellter Asylantrag abgelehnt oder zurückgenommen wurde, es sei denn, die Rücknahme erfolgte auf Grund einer Beratung nach § 24 Absatz 1 des Asylgesetzes beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, oder ein Asylantrag nicht gestellt wurde.
Zu vertreten hat ein Ausländer die Gründe nach Satz 1 Nummer 2 insbesondere, wenn er das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben selbst herbeiführt. Satz 1 Nummer 3 gilt bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern nicht für die Rücknahme des Asylantrags oder den Verzicht auf die Antragstellung, wenn die Rücknahme oder der Verzicht auf das Stellen eines Asylantrags im Interesse des Kindeswohls erfolgte. Abweichend von den Sätzen 1 bis 3 ist einem Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings oder eines subsidiär Schutzberechtigten genießt, die Erwerbstätigkeit erlaubt.

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. H. wird abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

I.

1

Die Beschwerdeführer sind äthiopische Staatsangehörige und Eltern eines am 12. Februar 2014 geborenen Sohnes. Sie reisten im März 2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten einen Asylantrag; zuvor hatten sie bereits in Italien einen Asylantrag gestellt. Sie wenden sich gegen einen am 3. März 2014 zugestellten Beschluss des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 27. Februar 2014, mit dem ihnen Eilrechtsschutz gegen die auf § 34a Abs. 1 Satz 1, § 27a AsylVfG gestützte Anordnung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 3. Februar 2014 versagt wurde, sie auf Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin II) nach Italien abzuschieben.

2

1. Das Verwaltungsgericht lehnte den Eilantrag der Beschwerdeführer mit der Maßgabe ab, dass die angeordnete Abschiebung unter Berücksichtigung einer zweimonatigen "Mutterschutzfrist" (in Anlehnung an § 6 MuSchG) nicht vor dem 1. Mai 2014 vollzogen werden dürfe. Eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zum Selbsteintritt gemäß Art. 3 Abs. 2 der Dublin II-Verordnung bestehe nicht. Weder sei ein Ausnahmefall nach dem Konzept der normativen Vergewisserung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 94, 49 ff.) gegeben, noch lägen systemische Mängel des italienischen Asyl- und Aufnahmesystems im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH , Urteil vom 21. Dezember 2011, N.S. ./. Secretary of State, verb. Rs. C-411/10, C-493/10, NVwZ 2012, S. 417) vor, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellten, dass der Asylbewerber oder Flüchtling tatsächlich Gefahr laufe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden. Systemische Mängel, die eine Aussetzung der Abschiebung in Anwendung von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gebieten könnten, seien auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Falle von Italien aufgrund der Auskunftslage derzeit nicht erkennbar (vgl. EGMR, Beschluss vom 2. April 2013, Mohammed Hussein u.a. v. Niederlande und Italien, Nr. 27725/10, ZAR 2013, S. 336).

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2. Die Beschwerdeführer rügen mit ihrer am 3. April 2014 erhobenen Verfassungsbeschwerde die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 16a Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 GG, Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 23 GG, Art. 3 Abs. 1 GG wegen willkürlicher Verkennung der Vorgaben aus Art. 3 EMRK sowie aus Art. 6 Abs. 1 GG.

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a) Die Beschwerdeführer befürchten unter Bezugnahme insbesondere auf einen Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zu den Aufnahmebedingungen in Italien vom Oktober 2013, bei einer Rückkehr nach Italien wie die große Mehrheit der Schutzbedürftigen obdachlos zu werden und keinen Zugang zu Gesundheitsvorsorge und Nahrungsmitteln zu erhalten. Schutzbedürftige Dublin-Rückkehrer seien einem sehr hohen Risiko der Verelendung ausgesetzt; ihre Situation sei wesentlich prekärer als die eines Asylsuchenden, der sich noch im Verfahren befinde. Etwas anderes gelte allenfalls für besonders schutzbedürftige Personen. Allerdings gälten Familien mit beiden Elternteilen in Italien nicht als verletzlich. Auch wenn es zu einer staatlichen Unterbringung kommen sollte, bestehe die Gefahr, dass sie nicht als Familie untergebracht würden, sondern dass es zu einer Unterbringung von Mutter und Kind in der einen, des Vaters aber in einer anderen Einrichtung komme. Eine Trennung der Familie, um die Wahrscheinlichkeit der Unterbringung zu erhöhen, könne ihnen jedoch nach Art. 8 EMRK nicht zugemutet werden. Gerade im Hinblick auf ihr neugeborenes Kind erscheine die Vorenthaltung von Gesundheitsversorgung und Nahrung dramatisch.

5

b) Das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 16a Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 GG sei verletzt, weil das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon ausgehe, die Berufung auf das Asyl-Grundrecht werde in Dublin-Fällen durch Art. 16a Abs. 2 GG ausgeschlossen. Die Dublin-Fälle richteten sich vielmehr allein nach der - spezielleren - Vorschrift des Art. 16a Abs. 5 GG und den Vorgaben des - zwischenzeitlich vergemeinschafteten - europäischen Asylsystems. Während Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG den materiell-rechtlichen Gewährleistungsinhalt des Grundrechts auf Asyl grundsätzlich einschränke und den Prüfungsmaßstab nach dem Konzept der normativen Vergewisserung festlege, liege der Kompetenzübertragung nach Art. 16a Abs. 5 in Verbindung mit Art. 23 GG die Idee zugrunde, dass die Bundesrepublik den Gewährleistungsinhalt von Art. 16a Abs. 1 GG einer europäischen Zuständigkeitsregelung unterwerfe und zugleich an ihr normsetzend mitwirke. Die Pflichten, die die Bundesrepublik sich mit Art. 16a Abs. 1 GG auferlegt habe, könne sie danach nur soweit delegieren, wie die Verheißung eines im Gebiet der Dublin-Verordnung geltenden Flüchtlingsschutzes im anderen Mitgliedstaat auch wirklich eingelöst werde. Sei dies nicht der Fall, treffe die Bundesrepublik kraft des wechselseitigen und auf Solidarität sowie Mindeststandards beruhenden Lastenausgleichssystems die Rolle eines "Ausfallbürgen". Europäische Asylstandards würden in Italien jedoch nicht gewahrt; nach allem, was über die dortige Situation von Asylbewerbern bekannt sei, würden dort entscheidende Bestimmungen aus der Verfahrens-, Aufnahme- und Qualifikationsrichtlinie ebenso verletzt wie Gewährleistungen der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK.

6

Aus der Pflicht der Bundesrepublik zu gewährleisten, dass die Beschwerdeführer bei Überstellung an einen Dublin-Zielstaat keine Rechtsverletzungen an anderen Rechtsgütern erlitten, folge, dass die Bundesrepublik sich derartige Rechtsverletzungen zurechnen lassen müsse. Ihnen drohe in Italien Obdachlosigkeit und eine defiziente Gesundheits- und Lebensmittelversorgung, die in die reale Gefahr der Verelendung führe; hierin liege eine Verletzung sowohl der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG als auch eine Gefahr für ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Das Verwaltungsgericht habe im Übrigen auch gegen das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, indem es die einfachgesetzlich geltenden Normen der EMRK verfehlt interpretiert habe. In ihrem Falle sei Art. 3 EMRK zu berücksichtigen gewesen, der mit dem Verbot "unmenschlicher" oder "erniedrigender" Behandlung nach allgemeiner Auffassung gerade die Situation der Verelendung umschreibe, die durch den Zielstaat der Überstellung zu unterbleiben habe. Die drohende Trennung der Familie verletze Art. 6 GG.

II.

7

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Ihr kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, und die Annahme ist nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>); sie ist unzulässig (dazu 1. und 2.). Hiervon unabhängig besteht allerdings Anlass zu dem Hinweis, dass die mit der Rückführung befassten deutschen Behörden in dem vorliegenden Einzelfall geeignete Vorkehrungen zum Schutz des von der Rückführung betroffenen Kleinkindes der Beschwerdeführer zu treffen haben (dazu 3.).

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1. Soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 16a Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 GG und Art. 3 Abs. 1 GG wegen willkürlicher Verkennung der Vorgaben aus Art. 3 EMRK rügen, zeigen sie schon die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung nicht auf (vgl. zu diesem Erfordernis nur BVerfGE 108, 370 <386 f.>). Die Beschwerdeführer setzen sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 94, 49 <95 ff.>), des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH , Urteil vom 21. Dezember 2011, N.S. ./. Secretary of State, verb. Rs. C-411/10, C-493/10, NVwZ 2012, S. 417) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR , Urteil vom 21. Januar 2011, M.S.S. v. Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09, NVwZ 2011, S. 413; Beschluss vom 2. April 2013, Mohammed Hussein u.a. v. Niederlande und Italien, Nr. 27725/10, ZAR 2013, S. 336) nicht auseinander, die der angegriffenen Entscheidung zugrunde liegt.

9

2. Soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung in ihren Rechten aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 23 GG sowie aus Art. 6 Abs. 1 GG aufgrund einer drohenden Obdachlosigkeit und einer Trennung der Eltern von ihrem neugeborenen Kind bei einer Abschiebung geltend machen, legen sie nicht hinreichend substantiiert dar, dass sie in Italien mit Obdachlosigkeit und Trennung der Familie zu rechnen haben und ihrem Sohn als Folge der Abschiebung mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Gesundheitsgefahren drohen. Es bedarf daher keiner Klärung, ob dahingehende systemische Mängel des italienischen Aufnahmesystems bestehen und ob solche strukturelle Defizite in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union einen im Konzept der normativen Vergewisserung nicht aufgefangenen Sonderfall darstellen können (vgl. dazu nur Moll/Pohl, ZAR 2012, S. 102 <104 ff.>; zu den Darlegungslasten für die Begründung eines solchen Sonderfalles vgl. BVerfGE 94, 49 <100>). Hierbei wäre ohnehin zu berücksichtigen, dass etwaige mit der Überforderung des Asylsystems eines Mitgliedstaats der Europäischen Union verbundene transnationale Probleme vornehmlich auf der Ebene der Europäischen Union zu bewältigen sind (vgl. BVerfGE 128, 224 <226>).

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3. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann es allerdings - unbeschadet der Prüfung, ob einer Zurückweisung oder Rückverbringung eines Ausländers in einen sicheren Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen - in Einzelfällen geboten sein, dass die deutschen Behörden vor einer solchen mit den im Zielstaat zuständigen Behörden Kontakt aufnehmen, den Sachverhalt klären und gegebenenfalls zum Schutz des Ausländers Vorkehrungen treffen (vgl. BVerfGE 94, 49 <100>). Insbesondere besteht eine Verpflichtung der mit dem Vollzug einer Abschiebung betrauten Stelle, von Amts wegen aus dem Gesundheitszustand eines Ausländers folgende tatsächliche Abschiebungshindernisse in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung zu beachten; diese Stelle hat gegebenenfalls durch ein (vorübergehendes) Absehen von der Abschiebung (Duldung) oder durch entsprechende tatsächliche Gestaltung derselben die notwendigen Vorkehrungen zu treffen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Februar 1998 - 2 BvR 185/98 -, InfAuslR 1998, S. 241 <242>).

11

a) Nach der - von Verfassungs wegen nicht zu beanstandenden - jüngeren Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ist es im Rahmen des Verfahrens auf Erlass einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG mit Blick auf den Wortlaut dieser Vorschrift Aufgabe allein des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zu prüfen, ob "feststeht", dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Das Bundesamt hat damit sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen, so dass daneben für eine eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde zur Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG kein Raum verbleibt (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29. November 2004 - 2 M 299/04, juris; Hamburgisches OVG, Beschluss vom 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011, S. 310, dort <311> auch m.w.N. zur a.A.; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. August 2011 - 18 B 1060/11 -, juris; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR 2012, S. 383; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 - OVG 2 S 6.12 -, juris; BayVGH, Beschluss vom 12. März 2014 - 10 CE 14.427 -, juris; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 25. April 2014 - 2 B 215/14 -, juris; zuletzt VG Karlsruhe, Beschluss vom 19. Mai 2014 - A 9 K 3615/13 -, juris).

12

Dies gilt nicht nur hinsichtlich bereits bei Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegender, sondern auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindernissen und Duldungsgründen. Gegebenenfalls hat das Bundesamt die Abschiebungsanordnung aufzuheben oder die Ausländerbehörde anzuweisen, von deren Vollziehung abzusehen (vgl. OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. August 2011 - 18 B 1060/11 -, juris, Rn. 4; BayVGH, Beschluss vom 12. März 2014 - 10 CE 14.427 -, juris, Rn. 4; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 25. April 2014 - 2 B 215/14 -, juris, Rn. 7; VG Karlsruhe, Beschluss vom 19. Mai 2014 - A 9 K 3615/13 -, juris, Rn. 4).

13

b) Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte unter anderem dann gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Diese Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein, wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche - außerhalb des Transportvorgangs - eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn). Das dabei in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber dem Ausländer. Besondere Bedeutung kommt sodann denjenigen Verfahrensabschnitten zu, in denen der Ausländer dem tatsächlichen Zugriff und damit auch der Obhut staatlicher deutscher Stellen unterliegt. Hierzu gehören das Aufsuchen und Abholen in der Wohnung, das Verbringen zum Abschiebeort sowie eine etwaige Abschiebungshaft ebenso wie der Zeitraum nach Ankunft am Zielort bis zur Übergabe des Ausländers an die Behörden des Zielstaats. In dem genannten Zeitraum haben die zuständigen deutschen Behörden von Amts wegen in jedem Stadium der Abschiebung etwaige Gesundheitsgefahren zu beachten. Diese Gefahren müssen sie entweder durch ein (vorübergehendes) Absehen von der Abschiebung mittels einer Duldung oder aber durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung des Vollstreckungsverfahrens mittels der notwendigen Vorkehrungen abwehren (vgl. zum Ganzen VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 6. Februar 2008 - 11 S 2439/07 -, InfAuslR 2008, S. 213 <214> unter Verweis auf BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Februar 1998 - 2 BvR 185/98 -, InfAuslR 1998, S. 241).

14

Die der zuständigen Behörde obliegende Pflicht, gegebenenfalls durch eine entsprechende Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann, kann es in Einzelfällen gebieten, sicherzustellen, dass erforderliche Hilfen rechtzeitig nach der Ankunft im Zielstaat zur Verfügung stehen, wobei der Ausländer regelmäßig auf den dort allgemein üblichen Standard zu verweisen ist (vgl. dazu OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20. Juni 2011 - 2 M 38/11 -, InfAuslR 2011, S. 390 <392>).

15

c) So liegt es auch im vorliegenden Fall. Bei Rückführungen in sichere Drittstaaten können hiervon betroffene Ausländer - anders als bei der Rückführung in ihr Heimatland - regelmäßig weder auf verwandtschaftliche Hilfe noch auf ein soziales Netzwerk bei der Suche nach einer Unterkunft für die Zeit unmittelbar nach ihrer Rückkehr zurückgreifen. Bestehen - wie gegenwärtig im Falle Italiens - aufgrund von Berichten international anerkannter Flüchtlingsschutzorganisationen oder des Auswärtigen Amtes belastbare Anhaltspunkte für das Bestehen von Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung rückgeführter Ausländer im sicheren Drittstaat, hat die auf deutscher Seite für die Abschiebung zuständige Behörde dem angemessen Rechnung zu tragen.

16

Bei Vorliegen einer solchen Auskunftslage hat das zuständige Bundesamt angesichts der hier berührten hochrangigen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 6 Abs. 1 GG und der bei der Durchführung von Überstellungen nach dem Dublin-System vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkte der uneingeschränkten Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls (vgl. nunmehr Erwägungsgrund 16 der neugefassten Verordnung Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 - Dublin III-Verordnung) jedenfalls bei der Abschiebung von Familien mit neugeborenen (vgl. Art. 15 Abs. 1 und 2 der Dublin II-Verordnung und Art. 16 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung) und Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherzustellen, dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhält, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren in dem genannten Sinne für diese in besonderem Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen.

17

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

18

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

Entscheidungen in Rechtsstreitigkeiten nach diesem Gesetz können vorbehaltlich des § 133 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung nicht mit der Beschwerde angefochten werden.