Systematisches Kommentar zu § 313 BGB von Dirk Streifler

bei uns veröffentlicht am13.01.2024

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Rechtsanwalt Dirk Streifler - Partner

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Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 313 Störung der Geschäftsgrundlage

Zusammenfassung des Autors

§ 313 BGB regelt die Anpassung von Verträgen bei Störung der Geschäftsgrundlage. Diese Störung kann eine erhebliche Veränderung von Umständen sein, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind und die Parteien bei Vertragsabschluss nicht vorhersehen konnten. Ist eine solche Veränderung eingetreten, die zur Unzumutbarkeit der Vertragsdurchführung führt, kann eine Vertragsanpassung oder im Extremfall sogar eine Vertragsauflösung verlangt werden. Dieser Paragraph ermöglicht somit eine gewisse Flexibilität bei unvorhersehbaren Entwicklungen, die die Grundlage eines Vertrags wesentlich beeinflussen.

Streifler&Kollegen - Rechtsanwälte Berlin

A. Allgemeines

Die Regelung des § 313 wurde ab dem 1. Januar 2002 eingeführt, um das zuvor durch Richterrecht entwickelte Rechtskonstrukt des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gesetzlich zu verankern (Lorenz in BeckOK-BGB, 68. Edition Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 1.). Hierbei handelt es sich um eine Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (Lorenz in BeckOK-BGB, 68. Edition Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 1; Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 1.). Aus diesem Grund gibt es Kritik im Schrifttum, dass die Norm des § 313 grundsätzlich in Anschluss an § 242 besser aufgehoben (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 1.). Die Regelung zur Störung der Geschäftsgrundlage erlaubt es, einen Vertrag unter bestimmten Bedingungen anzupassen, wenn sich die Umstände ändern (siehe Anmerkungen 14 ff.). Das bedeutet, dass man in solchen Fällen nicht strikt an den ursprünglichen Vertrag gebunden ist (Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 1.). Dieser Grundsatz wird „pacta sunt servanda“ genannt (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 1f.; Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 1.). Die anerkannten Prinzipien zur Störung der Geschäftsgrundlage sind die Grundlage für verschiedene Rechte und Maßnahmen und ergänzen das allgemeine Vertragsrecht, insbesondere das Leistungsstörungsrecht (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 2.).

1. Hiostorie

Die Konzeption der Geschäftsgrundlage basiert historisch auf dem Institut „clausula rebus sic stantibus“, einer Regelung, die besagt, dass schuldrechtliche Verträge nur gültig sind, solange sich die wesentlichen Umstände, die bei Vertragsabschluss eine Rolle spielten, nicht grundlegend verändern erfahren (Finkenauer in MüKo, 9. Auflage 2022, § 313 Rn. 20; Lorenz in BeckOK-BGB, 68. Edition Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 3.). Das bedeutet, dass jede Verpflichtung von Anfang an nur unter der Bedingung eingegangen wird, dass die maßgeblichen Umstände keine Veränderung erfahren (Finkenauer in MüKo, 9. Auflage 2022, § 313 Rn. 20; Lorenz in BeckOK-BGB, 68. Edition Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 2.). Bevor der § 313 ins Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) aufgenommen wurde, gab es keinen allgemeinen Grundsatz im BGB, der sich auf die Störung oder das Wegfallen der Geschäftsgrundlage bezog und wurde erst später mit der Einführung des § 313 festgelegt (Lorenz in BeckOK-BGB, 68. Edition Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 2.). Zuvor existierten nur einige Fälle, in denen spezielle Anwendungen möglich waren (Lorenz in BeckOK-BGB, 68. Edition Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 2.). Beispiele dafür sind  §§ 321, 519, 528.

2. Anwendbarkeit 

Anwendbar ist § 313 auf sämtliche schuldrechtliche Verträge, einschließlich Vorverträge (BGHZ 47, 393) und einseitig verpflichtende Verträge wie Bürgschaften und Schenkungen (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 6.). So zum Beispiel bei Zuwendungen von Schwiegereltern (Lorenz in BeckOk-BGB, 68. Edition, Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 8). Grundsätzlich erfasst die Regelung Verträge, die noch nicht vollständig durchgeführt sind (Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021, § 313, Rn. 4; Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn.13.). Nach Abschluss der Vertragsabwicklung kommen jedoch in der Regel Anpassungen oder Auflösungen des Vertrages aufgrund von § 313 nicht mehr in Betracht (BGH, Urt. v. 2.5.1971 – VI ZR 47/71 = BGHZ 58, 363; BGH NJW 96, 992). Ausgenommen sind Fälle mit besonderen Umständen (siehe dazu: BGH, Urt. v. 23.10.1957 – V ZR 219/55 = BGHZ 25.). Die Vorschrift findet keine Anwendung auf Verträge, die noch nicht zustande gekommen sind (BGH NJW 56, 1275) und auf einseitige Rechtsgeschäfte (BGH NJW 93, 850). Die Rechte aus der Störung der Geschäftsgrundlage bestehen jedoch für und gegen Rechtsnachfolger (BGHZ 40, 336 für den Erbfall; BGH WM 78, 1355 für eine Sonderrechtsnachfolge). Bei einem Vertrag zugunsten Dritter kann der Dritte fordern, dass ihm die angepasste Leistung erbracht wird (BGH NJW 72, 153). Nicht anwendbar sind ist § 313 auf einseitige Rechtsgeschäfte (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 6.).

3. Abgrenzung

a. Vertragsauslegung

Die Geschäftsgrundlage darf nicht Bestandteil des Vertragsinhalts sein, beispielsweise in Form einer Bedingung oder eines vereinbarten Rechtsgrundes (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 6.). Falls die Auslegung des Vertrags zu einer vertraglichen Regelung des entsprechenden Umstands führt, ist § 313 nicht anwendbar (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 8.). 
Es gilt: das was die Parteien im Vertrag ausgemacht haben, kann nicht als Geschäftsgrundlage gelten (LG Koblenz, Beschl. v. 21.12.1982 - 1 W 12/82 = BGH NJW 83, 2036; Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 8.). Die Auslegung des Vertragen nach §§ 133, 157 ist deshalb stets vorrangig (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 8; Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021, § 313, Rn. 5.).

b. Anfechtung 

Bei Irrtum über die Geschäftsgrundlage handelt es sich nicht um einen (unerheblichen) Motivirrtum oder einen nur durch Anfechtung (vgl. § 122) geltend zu machenden Geschäfts- oder Eigenschaftsirrtum, § 119 I, II (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 8.). Vielmehr handelt es sich dabei um einen Fall der subjektiven Geschäftsgrundlage (Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, § 313, Rn. 6; Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 9; siehe auch: Larenz AT § 38 Rn. 4 f.)

c. Haftung wegen Mängel

Im Bereich der Mängelhaftung (§§ 437 ff., 536 ff., 634 ff., 651c ff.) ist § 313 ausgeschlossen (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 10; BGH, Urt. v. 21.4.2022 – 3 StR 360/21 = BGH NJW 2022, 2350 Rn. 58.). Dies gilt auch dann, wenn die Voraussetzungen der Mängelhaftung im Einzelfall (zum Beispiel aufgrund von Verjährung oder Ausschließung) nicht greifen (BGH, Urt. v. 7.2.1992 – V ZR 246/90 = BGHZ 117, 163 f.). Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn der betreffende Umstand von vornherein nicht geeignet ist, Sachmangelansprüche auszulösen (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 10; BGH NJW 2022, 2830 Rn. 59.).

d. Leistungshindernisse, insbesondere Unmöglichkeit

Leistungshindernisse und Leistungserschwerungen, wie zum Beispiel die wirtschaftliche Unmöglichkeit oder Zweckstörungen die nicht den Vertragsinhalt betreffend, bilden einen Fall des Wegfalls der Geschäftsgrundlage  (Lorenz in BeckOk-BGB, 68. Edition, Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 20; Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 10.). Sie sollen nach dem Willen des Gesetzgebers nicht von § 275 Abs. 2 und 3 umfasst sein (Picker in JZ 2003, 1035 ff.).

Bei der Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund, die gleichzeitig durch das neue Kündigungsrecht aus wichtigem Grund (§ 314) ermöglicht wird, wird § 313 verdrängt, soweit es um die Auflösung des Vertrages geht (Lorenz in BeckOk-BGB, 68. Edition, Stand 1.11.2023, § 313 Rn.21; Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 12.). Liegt gleichzeitig eine Störung der Geschäftsgrundlage vor, kann auch Vertragsanpassung verlangt werden (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 12.).

Der Nichteintritt des mit der Leistung bezweckten Erfolgs (§ 812 I 2 Fall 2) führt zu einem Ausschluss eines Bereicherungsanspruchs aufgrund Nichterreichung des Leistungszwecks (Lorenz in BeckOk-BGB, 68. Edition, Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 22.). Das gilt jedoch nur, wenn der Leistungszweck die Geschäftsgrundlage des vertraglichen Schuldverhältnisses bildet, sogenannter „Vorrang vertraglicher Ansprüche (NJW 1992, 2690.). 

4. Begriffe

§ 313 stellt eine normative Vorschrift dar, die sowohl auf der Ebene des Sachverhalts als auch hinsichtlich der Rechtsfolgen eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe oder zu bewertende Aspekte enthält (Finkenauer in MüKo, 9. Auflage 2022, § 313 Rn. 20.). Dies führt in der praktischen Anwendung zu erheblichen Problemen, da die Auslegung und Anwendung durch Begriffe wie Vertragsgrundlage, schwerwiegende Veränderung, Umstände des Einzelfalls, vertragliche oder gesetzliche Risikoverteilung, Unzumutbarkeit und wesentliche Vorstellungen geprägt sind (Finkenauer in MüKo, 9. Auflage 2022, § 313 Rn. 20.). Auch gibt es Uneinigkeit darüber, was genau unter dem Begriff der Geschäftsgrundlage zu verstehen ist (Lorenz in BeckOK-BGB, 68. Edition Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 2; Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 2.).

a. subjektives und objektives Verständnis des § 313

Früher wurde vor allem das subjektive Verständnis verstreten (vgl. Oertmann in „Die Geschäftsgrundlage“, 1921; Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 2.). Danach besteht die Geschäftsgrundlage aus den Vorstellungen, die eine oder beide Parteien über das Vorhandensein oder den künftigen Eintritt bestimmter Umstände haben und auf denen ihr Geschäftswille basiert (Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 2.). Diese Vorstellungen müssen bei Vertragsschluss offenbart werden, müssen jedoch nicht direkt Teil des Vertragsinhalts sein (Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 2.). Falls sie nur bei einer Partei vorhanden sind, müssen sie für die andere erkennbar sein und von ihr nicht beanstandet werden (siehe ständige Rechtsprechung des BGH, NJW 12, 1718).

Indem Absatz 2 des § 313 die entscheidenden Vorstellungen, die Bestandteil des Vertrags geworden sind, mit den Umständen, die die Grundlage des Vertrags bilden gemäß Absatz 1, gleichstellt, wird jedoch deutlich gemacxht, dass die subjektiven Faktoren des Absatzes 2 lediglich einen speziellen Fall der Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 darstellen (Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 2.). Dies deutet darauf hin, dass im Rahmen des Absatzes 1 auch Umstände berücksichtigt werden sollten, über die sich die Parteien keine konkreten Vorstellungen gemacht haben, aber dennoch die Grundlage des Vertrags beeinflussen können (sog. objektiver Begriff der Geschäftsgrundlage). Das heißt aber auch, dass Absatz 1 des § 313 auch Fälle der Äquivalenzstörung umfasst (vgl. Riehm in Beck-Online.Grosskommentar, Stand: 1.8.2023, § 313 Rn. 262.).  Äquivalenzstörung tritt auf, wenn eine nachträgliche Veränderung dazu führt, dass das Verhältnis von dem, was geleistet wird, und dem, was dafür im Gegenzug erhalten wird, erheblich und unvorhersehbar gestört wird (vgl. Riehm in Beck-Online.Grosskommentar, Stand: 1.8.2023, § 313 Rn. 262.). Das steht im Widerspruch zum grundlegenden Prinzip der Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung.

Trotz dessen hält auch heute noch die Rechtsprechung an der Vorstellung der subjektiven Geschäftsgrundlage fest. Grund hierfür ist, dass die subjektive Theorie  alle möglichen Situationenberücksichtigt, auch wenn sie nicht ganz eindeutig ist (Lorenz in BeckOK-BGB, 68. Edition Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 6f..). Sie löst sie angemessen, indem sie auf diejenigen subjektiven Elemente Bezug nimmt, die für die Parteien entscheiden sind. Die Rechtsprechung betrachtet die  Lehre nicht als streng dogmatisch oder rein theoretisch, sondern integriert auch Aspekte anderer Ansichten. Die Feststellung der Umstände, auf die der Geschäftswille basiert, ist ein bewertender Prozess, der auch Raum für andere als rein subjektive Elemente lässt Glauben (Lorenz in BeckOK-BGB, 68. Edition Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 6.).

b. Kleine und große Geschäftsgrundlage

Störungen können grundsätzlich sowohl der großen als auch der kleinen Geschäftsgrundlage zugerechnet werden (Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021, § 313, Rn. 3.). Die große Geschäftsgrundlage betrifft grundlegende politische, wirtschaftliche, soziale und natürliche Umstände, wie beispielsweise tiefgreifende politische Veränderungen, Wirtschaftskrisen, Inflation, Revolutionen (BGH, Urt. v.  08.02.1984 - VIII ZR 254/82 = BGH NJW 84, 1747),  Kriege sowie Natur- und Umweltkatastrophen (Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021, § 313, Rn. 3.). Die kleine Geschäftsgrundlage umfasst hingegen alle anderen Fälle mit begrenzteren Auswirkungen (Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021, § 313, Rn. 3.).

B. Tatbestand

1. Überblick

Die Störungstatbestände des § 313 unterscheiden sich in Bezug auf den (nachträglichen) Wegfall und das (anfängliche) Fehlen der Geschäftsgrundlage (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 14.).  Der Absatz 1 behandelt beide Fälle, während sich Absatz 2 auf das anfängliche Fehlen in Bezug auf die subjektive Geschäftsgrundlage konzentriert (vgl. Rn. 4).

2. Wegfall der Geschäftsgrundlage „schwerwiegende Veränderung“ (Abs. 1)

Für das Auftreten einer Störung der Geschäftsgrundlage gemäß Absatz 1 ist zunächst ein wirksamer Vertrag zwischen den Parteien erforderlich, dessen Grundlage von den konkreten Vertragsinhalten zu unterscheiden ist ist (Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 12.). Die relevanten Umstände, die als Grundlage dienen, müssen nicht unbedingt den Vorstellungen beider Parteien bei Vertragsschluss entsprechen, sondern können rein objektiver Natur sein (siehe Gliederungspunkt „Begriffe“). Diese Umstände müssen sich jedoch nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben (Finkenauer in MüKo, 9. Auflage 2022, § 313 Rn. 58.)  Der betreffende Umstand oder die irrtümliche Vorstellung muss von derartiger Bedeutung sein, dass es eindeutig ist, dass mindestens eine Partei den Vertrag nicht abgeschlossen hätte, wenn ihr der Wegfall der Vertragsgrundlage bekannt gewesen wäre oder sie es hätte voraussehen können (vgl. Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 14, der von einer hypothetischen Betrachtung spricht).  Auch wenn § 313 Abs. 1 von den Erwartungen der Parteien spricht ("vorausgesehen hätten"), genügt es, wenn die Störung konkret und individuell vorhersehbar ist. Es muss nicht zwingend allgemein „statistisch“ vorhersehbar sein, um im Grundsatz eine Störung der Grundlage auszuschließen (Finkenauer in MüKo, 9. Auflage 2022, § 313 Rn. 74.).

Seit Ende 2020 gibt es eine Ergänzung zum Absatz 1, die sich auf vermietete und verpachtete Grundstücke sowie nicht-wohnliche Räumlichkeiten bezieht. Laut Artikel 240, § 7 EGBGB wird angenommen, dass eine erhebliche Veränderung der Geschäftsgrundlage vorliegt, wenn diese aufgrund staatlicher COVID-19-Maßnahmen zeitweise nicht oder kaum nutzbar waren. Diese Regelung beeinflusst nicht die übrigen Voraussetzungen des § 313. Daher kann man durch die Vermutung von Artikel 240, § 7 EGBGB zwar eine schwerwiegende Veränderung feststellen, aber später entscheiden, dass die Fortsetzung des Vertrags zumutbar ist und so den Folgen des § 313 entgehen (Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 13.1.).

3. Fehlen der Geschäftsgrundlage „wesentliche Vorstellung“ (Absatz 2)

Absatz 2 des § 313 ersetzt das (ursprüngliche) Fehlen der (subjektiven) Geschäftsgrundlage das Tatbestandmerkmal der (nachträglichen) Veränderung der Umstände in Absatz 1 (Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 18). Es ergeben sich keine Änderungen bei den übrigen Voraussetzungen, wie der Störung der vertraglichen Risikoverteilung und der Unzumutbarkeit. Absatz 2 behandelt Situationen, in denen es zu einem beiderseitigen Irrtum über das Vorhandensein der Geschäftsgrundlage kommt, also einem Irrtum über eine wesentliche Voraussetzung des Geschäfts (BGH, Urt. v. 22.1.1993 – V ZR 165/91 = BGH NJW 1993, 1641.). Darüber hinaus soll Absatz 2 auch Fälle abdecken, in denen beide Parteien gemeinsam einen Motivirrtum haben, sowie Situationen, in denen nur eine Partei falsche Vorstellungen hat, die andere Partei jedoch diesen Irrtum ohne eigene Vorstellungen akzeptiert hat (BT-Drs. 14/6040, 176; Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 26; Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 18.).
Dagegen fällt der beiderseitige Kalkulationsirrtum beim Kauf nicht unter Absatz 2 (BGH, Urt. v. 10.9.2009 = BGHZ 182, 224 f.).
Ein wechselseitiger Irrtum über Eigenschaften gemäß § 119 Absatz 2 wird nur dann unter § 313 subsumiert, um zufällige Ergebnisse zu verhindern, wenn beide Vertragsparteien ein Interesse an der Anfechtung haben (Stadler in Jauernig-BGB, 19. Auflage 2023, § 313 Rn. 26).

4. Unzumutbarkeit des Festhaltens am Vertrag

Zusätzlich dazu muss für eine der Parteien das Festhalten am unveränderten Vertrag als unzumutbar sein („normatives Element“). Um die Unzumutbarkeit der unveränderten Vertragsdurchführung zu begründen, ist im Allgemeinen erforderlich, dass das Festhalten an der ursprünglichen Regelung zu untragbaren Belastungen führen würde, die mit Recht und Gerechtigkeit nicht mehr vereinbar sind (BGH Urt. v. 5.1.1995 - IX ZR 85/94 = BGHZ 128, 238; Finkenauer in MüKo, 9. Auflage 2022, § 313 Rn. 76.). Dabei müssen sämtliche Umstände des Einzelfalls berücksichtigt und die Interessen beider Vertragsparteien abgewogen werden (Lorenz in BeckOK-BGB, 68. Edition Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 3; Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 15). Die Festlegung der Wesentlichkeitsgrenze erfolgt dann entsprechend der Art und dem Zweck des Vertrags sowie der Verteilung der Risiken (Finkenauer in MüKo, 9. Auflage 2022, § 313 Rn. 58.).
Die Vertragsparteien müssen aufgrund des normalen Veränderungsrisikos eine gewisse Bandbreite von Schwankungen akzeptieren. Wenn sich lediglich das eingegangene Risiko realisiert, wird die Veränderung als unerheblich betrachtet. Im Falle vorübergehender Störungen eines Dauerschuldverhältnisses ist die voraussichtliche Dauer der Störung maßgeblich (Finkenauer in MüKo, 9. Auflage 2022, § 313 Rn. 58.).

4. Risikoverteilung 

Für die Unzumutbarkeit ist es besonders wichtig, die vertragliche oder gesetzliche Risikoverteilung im konkreten Einzelfall zu beachten, wobei die gesetzliche Risikoverteilung zu berücksichtigen ist (BGH, Urt. v. 9.5.2012 – IV ZR 1/11 = BGH NJW 12, 2733.).  Eine Störung der Geschäftsgrundlage liegt nur dann vor, wenn die festgelegten Grenzen der Risikoverteilung überschritten werden (Finkenauer in MüKo, 9. Auflage 2022, § 313 Rn. 58; Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 16).Die Verteilung der Risiken zwischen den Vertragsparteien ergibt sich aus dem Vertragsinhalt, dem Vertragszweck und den gesetzlichen Bestimmungen. Eine Störung der Geschäftsgrundlage kann nur dann vorliegen, wenn die relevanten Umstände nicht dem Risikobereich einer Partei zugeordnet sind und die Störung kein Risiko betrifft, dass die betreffende Partei tragen müsste (BGH, Urt. v. 17.6.1992 – XII ZR 253/90 = BGH NJW 92, 2691). Zur Berücksichtigung von Geschäftsgrundlagenstörungen gibt es keine Möglichkeit, wenn nach den Vereinbarungen oder Gesetzen diejenige Person, die sich auf die Störung beruft, das Risiko dafür tragen soll (OLG Dresden , Urt. v. 24.11.1999 = NJW 00, 3433.). Ansprüche wegen Störung der Geschäftsgrundlage sind ebenfalls ausgeschlossen, wenn die Parteien bewusst ein Risikogeschäft abgeschlossen haben, eine Partei ausdrücklich oder stillschweigend die Übernahme des Risikos für die betroffenen Umstände erklärt hat (BGHZ 129, 253; BGH NJW-RR 93, 881) oder sie die Störung, auf die sie sich beruft, selbst herbeigeführt oder verschuldet hat (BGH, Urt. v. 21.12.2010 = BGH NJW 11, 989; Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 16.). Üblicherweise trägt der Schuldner bei Sachleistungen das Beschaffungsrisiko, und der Gläubiger bei Geldleistungen das Risiko der Geldentwertung - nur in außergewöhnlichen, unvorhersehbaren Veränderungen kann der Wegfall der "großen Geschäftsgrundlage" dies möglicherweise einschränken.  Bei Dauerschuldverhältnissen und Langzeitverträgen ist es in der Regel nicht unzumutbar für eine Partei, am Vertrag festzuhalten, wenn keine unerwarteten Nachteile für sie auftreten, sondern nur unerwartete Vorteile für die andere Partei. Bei Mietvertrag liegt die Verantwortung für die Gebrauchstauglichkeit der Mietobjekte beim Vermieter (BGH NJW 81, 2406). Bei Bürgschaften trägt der Bürge das Risiko hinsichtlich der Zahlungsfähigkeit des Hauptschuldners (BGHZ 104, 242; Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 16.).

C. Rechtsfolge

Wenn die Voraussetzungen des § 313 vorliegen sieht das Gesetz gemäß § 313 Abs. 1 eine Anpassung des Vertrags vor, während Abs. 3, als letzte Möglichkeit, den Rücktritt im Sinne von § 346 und bei Dauerschuldverhältnissen die Kündigung vorsieht (Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, 11. Auflage 2021; § 313 Rn. 20f..) Eine Vertragsanpassung ist stets vorrangig. Sie tritt nicht kraft Gesetzes ein, sondern nur auf Wunsch der durch die Umstände belasteten Partei (Lorenz in BeckOk-BGB, 68. Edition, Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 84.). Rücktritt und Kündigung kommen gemäß Absatz 3 Satz 1 also nur dann in Betracht, wenn eine Anpassung des Vertrags unmöglich oder unzumutbar ist (BGH, Urt. v. 30.9.2011 – V ZR = BGH NJW 12, 373; Finkenauer in MüKo, 9. Auflage 2022, § 313 Rn. 81; Martin Fries/Reiner in Schulze-BGB, § 313, Rn. 19 ff..). Hier bedarf es zur Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Unzumutbarkeit, eine Interessenabwägung, die verlangt, diejenige Rechtsfolge zu wählen, die die schutzwürdigen Interessen beider Seiten angemessen in Gleichgewicht bringt (Lorenz in BeckOk-BGB, 68. Edition, Stand 1.11.2023, § 313 Rn. 83ff..).

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Der Bundesgerichtshof hat in einem wegweisenden Urteil erstattungsfähige Kosten für die Entfernung unbefugt abgestellter Fahrzeuge auf Privatgrundstücken geklärt. Der Fall betraf die Herausgabe eines Fahrzeugs und Verwahrungskosten. Der Kläger hatte sein Auto seiner Schwester geliehen, die es unbefugt abstellte. Ein Abschleppunternehmen wurde beauftragt, das Fahrzeug zu entfernen. Der Rechtsstreit fokussierte sich auf Verwahrungskosten von 4.935 €. Die Entscheidung des Gerichts hebt hervor, dass erstattungsfähige Kosten sowohl Entfernung als auch Verwahrung umfassen. Das Urteil schafft Klarheit und bietet klare Richtlinien für ähnliche Fälle in der Zukunft.  

Sammelklage-Inkasso nach Air Berlin-Insolvenz

27.11.2023

Die höchstrichterliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs hat Klarheit darüber gebracht, ob ein sogenanntes Sammelklage-Inkasso im Kontext der Air Berlin-Insolvenz zulässig ist. Dirk Streifler - Streifler&Kollegen - Rechtsanwälte Berlin

Referenzen

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 1/11 Verkündet am:
9. Mai 2012
Heinekamp
Justizhauptsekretär
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
BGB § 313; VVG §§ 23 ff., 194 Abs. 1 Satz 2
Die Geschlechtsumwandlung eines ursprünglich männlichen Versicherungsnehmers
berechtigt den privaten Krankenversicherer nicht, die versicherte Person abweichend
vom vertraglich vereinbarten Männertarif in den Frauentarif einzustufen.
BGH, Urteil vom 9. Mai 2012 - IV ZR 1/11 - LG Coburg
AG Coburg
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin Mayen, die Richter Wendt, Felsch, Lehmann und die Richterin
Dr. Brockmöller auf die mündliche Verhandlung vom9. Mai 2012

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Coburg - 3. Zivilkammer - vom 10. Dezember 2010 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Teilurteil des Amtsgerichts Coburg vom 10. Mai 2010 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten der Rechtsmittelverfahren.
Von Rechts wegen

Tatbestand:

1
I. Die transsexuelle Klägerin, die als Mann geboren wurde, sich aber als dem weiblichen Geschlecht zugehörig empfand, ließ im Jahre 2005 gemäß § 1 des Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen - Transsexuellengesetz (TSG) - ihren Vornamen ändern und nahm einen weiblichen Vornamen an; sie ließ ferner operative Eingriffe zur deutlichen Annäherung an das Erscheinungsbild des weiblichen Geschlechts durchführen. Einen Antrag nach § 8 TSG auf Feststellung der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht hat sie nicht gestellt, obwohl unstreitig alle Voraussetzungen dafür vorliegen, dass einem entsprechenden Antrag stattgegeben werden müsste. Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin nunmehr für die bei der Beklagten unterhaltene Kranken- und Pflegeversicherung den Männer- oder den Frauentarif zu zahlen hat.
2
Die Beklagte, die die durchgeführten Operationen bezahlt hatte, stufte die Klägerin ab 1. Januar 2009 in den Frauentarif ein. Sie meint, die Klägerin müsse sich als Frau behandeln lassen.
3
Die verheiratete Klägerin, die die Prämien insoweit unter Vorbehalt zahlte, um ihren Versicherungsschutz nicht zu gefährden, meint, solange kein Gerichtsbeschluss nach § 10 TSG vorliege, mit dem festgestellt wird, dass sie als dem anderen Geschlecht zugehörig anzusehen ist, habe die Beklagte keinen Anspruch auf die für Frauen geltenden Beiträge. Ob sie, die Klägerin, einen solchen Antrag stelle, sei ihre höchstpersönliche Entscheidung. Sie behauptet, den Antrag nach § 8 TSG nicht stellen zu wollen, weil es ihrer Ehefrau nicht zuzumuten sei, rechtlich mit einer Frau verheiratet zu sein.
4
Mit der Klage begehrt sie einerseits die Feststellung, dass die Beklagte lediglich die für Männer geltenden Beiträge erheben darf, andererseits im Wege der Stufenklage Auskunft über die diesbezüglichen Tarife für 2009 und 2010 und die Erstattung gezahlter und zukünftig zu zahlender Differenzbeträge.
5
Das Amtsgericht hat durch Teilurteil dem Feststellungs- und dem Auskunftsanspruch stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht die Klage insgesamt abgewiesen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision,

Entscheidungsgründe:


6
Die Revision hat Erfolg.
7
I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Klägerin sei eine Frau, da die Voraussetzungen gemäß § 8 TSG bei ihr unstreitig vorlägen. Zumindest könne sie sich nach Treu und Glauben nicht darauf berufen, einen Antrag gemäß § 8 TSG nicht gestellt zu haben.
8
Die Vorschrift des § 162 BGB, die den allgemeinen Rechtsgedanken enthalte, dass niemand aus einem von ihm treuwidrig herbeigeführten oder verhinderten Ereignis Vorteile herleiten dürfe, sei entsprechend anzuwenden. Vorliegend verstoße die Berufung der Klägerin auf die noch nicht ergangene Entscheidung gemäß § 10 TSG gegen das Verbot des venire contra factum proprium, nachdem die Beklagte im Zuge der Geschlechtsumwandlung nicht unerhebliche Aufwendungen geleistet habe. Auch der von ihr beauftragte Sachverständige habe bescheinigt, dass eine Personenstandsänderung für die Klägerin aus psychologischen Gründen sinnvoll und erforderlich sei und sie entsprechend ihrer Geschlechtsidentität behandelt werden solle. Aus § 10 TSG sei kein Verbot zu entnehmen, eine Mann-zur-Frau-Transsexuelle schon vor dieser Entscheidung im bürgerlichen Rechtsverkehr als Frau zu behandeln.
9
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

10
1. Der Senat lässt offen, ob unterschiedliche Krankenversicherungstarife mit Geschlechterdifferenzierung und damit die Ausnahmeregelung des § 20 Abs. 2 Satz 1 AGG vor Art. 3 Abs. 2 GG Bestand haben. Auf diese im Schrifttum kontrovers beantwortete Frage (vgl. nur Wrase/ Baer, NJW 2004, 1623 ff. einerseits und Wandt, VersR 2004, 1341 ff. andererseits) kommt es nicht an, weil ein Recht der Beklagten, die Klägerin in einen anderen als den bei Vertragsschluss vereinbarten Tarif einzuordnen, auch bei einer Verfassungskonformität der gesetzlichen Regelung des § 20 Abs. 2 Satz 1 AGG nicht besteht.
11
2. Die Beklagte dürfte die Klägerin nur dann abweichend von dem vertraglich vereinbarten Tarif einstufen, wenn ihr ein entsprechender Anspruch auf Vertragsänderung zustünde. Eine Anspruchsgrundlage hierfür ist jedoch nicht ersichtlich.
12
a) Sie findet sich insbesondere nicht in den Vorschriften des TSG.
13
aa) Selbst nach Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung gemäß § 10 TSG verpflichten weder dieses Gesetz noch der Versicherungsvertrag in der bestehenden Fassung die Klägerin zur Zahlung einer höheren Prämie als im Vertrag vereinbart.
14
Das Gesetz regelt die Höhe der Versicherungsprämie nicht. Es ist auch nicht vorgetragen, dass der konkret abgeschlossene Vertrag eine Vereinbarung zu unterschiedlichen Prämienhöhen je nach Geschlecht des Versicherten enthält.

15
bb) Besteht auch nach Erlass eines Beschlusses gemäß § 10 TSG kein Anspruch der Beklagten auf eine höhere Prämie, kann es sich insoweit nicht zum Nachteil der Klägerin auswirken, dass sie keinen Antrag nach § 8 TSG gestellt hat. Auf die Nachvollziehbarkeit der von ihr hierfür angegebenen Gründe kommt es nicht an. Der Rechtsgedanke des § 162 BGB ist nicht einschlägig.
16
b) Ferner liegt kein Fall einer Prämienanpassung nach § 203 Abs. 2 VVG vor. Diese Bestimmung regelt allein die Prämienanpassung innerhalb eines konkreten Tarifs. Einen Anspruch auf Tarifwechsel hat der Gesetzgeber in § 204 VVG nur als einseitiges Recht des Versicherungsnehmers geregelt.
17
c) Schließlich ergibt sich ein Anspruch der Beklagten auf Vertragsänderung nicht aus einer Störung der Geschäftsgrundlage, § 313 BGB.
18
aa) Hierfür kann es dahinstehen, ob die Eigenschaft der Klägerin als "Mann", die mitbestimmend für die ursprüngliche Tarifeinstufung gewesen sein dürfte, damit als Geschäftsgrundlage für den Vertragsabschluss mit seinem konkret vereinbarten Inhalt anzusehen ist.
19
bb) Selbst wenn man dieses annimmt, berechtigt die Geschlechtsänderung der Klägerin - mag sie auch ungeachtet des gesetzlichen Personenstands in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht vollzogen sein, wie das Berufungsgericht in tatsächlicher Hinsicht unangegriffen festgestellt hat - die Beklagte nicht zur Vertragsanpassung, wie sich aus den spezialgesetzlichen Bestimmungen im VVG ergibt.
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(1) Die höheren Tarife für Frauen in der Krankenversicherung sind wesentlich einer statistisch höheren Lebenserwartung geschuldet, nachdem die Kosten für Schwangerschaft und Geburt gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2 AGG nicht mehr in eine differenzierende Prämienkalkulation einfließen dürfen. Geht man davon aus, dass die Klägerin in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht nunmehr der - versicherungsrechtlich zulässig gebildeten - Risikogruppe "Frau" angehört, so hat sich damit das von individuellen Umständen unabhängige und abstrakt zu sehende Leistungsrisiko für die Beklagte erhöht.
21
Grundsätzlich sind die Folgen nachträglicher Risikoerhöhungen nach Abschluss des Versicherungsvertrages vom Gesetzgeber in den Vorschriften über die Gefahrerhöhung (§§ 23 ff. VVG) geregelt. Insoweit lässt sich § 25 VVG der Grundsatz entnehmen, dass der Versicherer ein nachträglich erhöhtes Risiko nur gegen Zahlung einer erhöhten Prämie abdecken muss.
22
(2) Jedoch kann dieser Grundsatz hier nicht zum Zuge kommen, weil der Gesetzgeber ihn für die Krankenversicherung gerade ausgeschlossen hat. Die Ausnahmevorschrift des § 194 Abs. 1 Satz 2 VVG bestimmt , dass die §§ 23 bis 27 und 29 auf die Krankenversicherung nicht anzuwenden sind. Damit hat der Gesetzgeber dem Versicherer das Risiko nachträglicher Gefahrerhöhungen in der Krankenversicherung generell auferlegt. Ob es dabei um eine individuelle Risikoerhöhung beim Versicherungsnehmer oder um eine Erhöhung des abstrakt zu sehenden Leistungsrisikos aufgrund statistischer Zuordnungen geht, ist unerheblich (vgl. Prölss in Prölss/Martin, VVG 28. Aufl. § 23 Rn. 14 und § 25 Rn. 6). Diese gesetzliche Risikoverteilung ist gemäß § 313 Abs. 1 BGB bei der Frage nach der Zumutbarkeit eines unveränderten Festhaltens am Ver- trag für den Versicherer zu berücksichtigen; sie schließt einen Anspruch auf Tarifänderung aus.
23
(3) Im Streitfall kommt hinzu, dass die Gefahrerhöhung auf einem Versicherungsfall beruht. Die jetzt eingetretene Zugehörigkeit der Klägerin zu einer unter Tarifierungsgesichtspunkten gebildeten anderen Risikogruppe ist eine Folge der bei ihr aufgetretenen Transsexualität, die als Krankheit von Anfang an versichert war. Eine darin liegende Gefahrerhöhung wäre deshalb selbst bei einer Anwendbarkeit der §§ 23 ff. VVG als ein nach den Umständen mitversichertes Risiko anzusehen, § 27 VVG.
Mayen Wendt Felsch
Lehmann Dr. Brockmöller
Vorinstanzen:
AG Coburg, Entscheidung vom 10.05.2010- 14 C 1712/09 -
LG Coburg, Entscheidung vom 10.12.2010 - 33 S 45/10 -