Bundessozialgericht Urteil, 27. Juni 2017 - B 2 U 17/15 R

ECLI:ECLI:DE:BSG:2017:270617UB2U1715R0
27.06.2017

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. April 2015 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf Feststellung einer Lyme-Borreliose als Berufskrankheit (BK) nach Nr 3102 der Anl 1 zur BK-Verordnung (; "Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten", nachfolgend BK 3102) bei nachgewiesener Borrelieninfektion hat.

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Der im Jahre 1959 geborene Kläger ist als forstwirtschaftlicher Unternehmer bei der Beklagten unfallversichert und bewirtschaftet seit Jahren regelmäßig seinen 4,28 ha großen Wald. Ihm ist seit 1998 ein Schilddrüsenmedikament verordnet, das als Nebenwirkung Herzrhythmusstörungen hervorrufen kann. Eine entsprechende Verdachtsdiagnose wurde Mitte 2003 erstmals gestellt. Im Dezember 2007 ließ er sich wegen eines seit mehr als zwei Monaten bestehenden Vorhofflimmerns stationär behandeln.

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Im Juni 2008 stellte sich der Kläger wegen eines Zeckenbisses bei seinem Hausarzt vor, dem er bereits Mitte 2007 über einen Zeckenstich am Hals berichtet hatte. Laut Laborbericht waren im Immunoblot wenige spezifische Antikörper gegen Borrelia burgdorferi nachweisbar inklusive Spätmarker; der serologische Befund passe sowohl zu einer Serumnarbe nach ausgeheilter Infektion als auch zu einer aktiven Infektion der Stadien II oder III. Daraufhin wurde wegen nicht ganz ausgeschlossener Borreliose mit kardialer Beteiligung eine Antibiotikabehandlung für drei Wochen eingeleitet und später mittels Infusionstherapie für zwei Wochen wiederholt, ohne dass sich eine Besserung einstellte.

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2010 teilte der Kläger der Rechtsvorgängerin der Beklagten mit, er habe im Mai 2007 nach Arbeiten im eigenen Wald einen Zeckenbiss bemerkt; Hautveränderungen seien in der Umgebung der Stichstelle nicht aufgetreten. Die Beklagte verneinte das Vorliegen einer BK 3102 sowie Ansprüche auf Leistungen (Bescheid vom 18.1.2011). Nachdem der Kläger im Widerspruchsverfahren den Arztbrief eines sog Borreliosezentrums vorgelegt hatte, wies die Beklagte den Widerspruch zurück, weil dessen Befunde schulmedizinisch und wissenschaftlich nicht anerkannt seien (Widerspruchsbescheid vom 22.9.2011).

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Das SG hat die Klage nach Einholung von Sachverständigengutachten abgewiesen, weil Hinweise auf eine krankheitsaktive Borreliose fehlten und der Antikörperbefund allein noch keine Krankheit iS der BKV sei (Urteil vom 28.10.2013). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 15.4.2015): Der Kläger sei bei seiner versicherten Tätigkeit als Forstwirt einem deutlich erhöhten Infektionsrisiko für Borreliose ausgesetzt gewesen. Eine Lyme-Borreliose sei bei ihm aber nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorhanden; insbesondere reiche die nachgewiesene Borrelieninfektion allein nicht aus, um eine BK 3102 anzuerkennen. Krankheit iS des § 9 SGB VII sei ein regelwidriger Zustand des Körpers, des Geistes oder der Seele. Dagegen führe weder die bloße Aufnahme von Erregern in den Körper noch die körpereigene Bildung von Antikörpern gegen diesen Erreger zu einem regelwidrigen Gesundheitszustand und damit zu einer Krankheit iS des BK-Rechts. Vielmehr sei neben den Einwirkungen und der durchaus positiven und wünschenswerten Abwehr der Erreger eine negative körperliche Reaktion mit Krankheitswert erforderlich, die den Beschreibungen der jeweiligen BK-Tatbestände bzw den hierzu erlassenen Merkblättern und wissenschaftlichen Begründungen entspreche. Unter Berücksichtigung des Verordnungstextes, der Entstehungsgeschichte und des Gesamtzusammenhangs setze die Feststellung einer Lyme-Borreliose als BK 3102 den labortechnischen Nachweis einer Borrelieninfektion und einen klinischen Befund voraus, der zum Krankheitsbild der Borreliose passe. Zwar sei hier eine Borrelieninfektion serologisch bewiesen. Allein der positive Nachweis borrelienspezifischer Antikörper belege aber keine aktive Infektion mit dem Bakterium Borrelia burgdorferi, weil nach der entsprechenden Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zur Neuroborreliose, auf die das Merkblatt ua verweise, Borrelieninfektionen mit asymptomatischer Serokonversion vorkämen und über Jahre anhaltende erhöhte Antikörpertiter (in Serum oder Liquor) nach ausreichend behandelter Borreliose bei gesunden Personen keine Seltenheit darstellten. Der überwiegenden Mehrzahl infizierter Personen gelinge es, die Infektion mit der eigenen Immunabwehr durch Bildung der ggf jahrzehntelang messbaren Antikörper erfolgreich abzuwehren, sodass sie zu keinem Zeitpunkt an Borreliose erkrankten. Man spreche in diesen Fällen von einer sog Seronarbe. Soweit das Merkblatt als typische Krankheitsbilder einer Lyme-Borreliose ua "wandernde Arthralgien" und "Herzbeschwerden" benenne, hätten die beim Kläger vorhandenen Gelenkbeschwerden und Herzrhythmusstörungen andere Ursachen. Die Gelenkbeschwerden seien auf degenerative Veränderungen zurückzuführen. Das Vorhofflimmern sei für eine Lyme-Karditis völlig untypisch, trete in der Altersgruppe des Klägers häufig ohne benennbare Ursache auf und habe sich erst vier Monate nach dem angeschuldigten Zeckenstich manifestiert, zudem sei eine zweimalige Antibiotikatherapie erfolglos geblieben und es bestünden Schilddrüsenprobleme mit entsprechender Medikation, die als Nebenwirkung typischerweise Herzrhythmusstörungen hervorrufe.

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Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen (§ 9 SGB VII iVm Nr 3102 der Anl 1 zur BKV) und sinngemäß auch formellen Rechts (§ 128 Abs 1 S 1 SGG): Schon aufgrund der Borrelieninfektion liege eine feststellungsfähige BK vor. Denn unter Krankheit sei ein regelwidriger Körper- und Geisteszustand zu verstehen. Regelwidrig sei ein Körperzustand, der von der Norm abweiche, die dem Leitbild des gesunden Menschen entspreche. Hierfür sei es notwendig, dass die Aufnahme einer schädigenden Substanz in den Organismus zu negativen körperlichen Reaktionen mit Krankheitswert führe. Dies sei der Fall, wenn entsprechende Antikörper nachgewiesen seien, die das Immunsystem als Reaktion auf bestimmte Stoffe bilde. Dagegen sei die Rechtsansicht des LSG zu weitgehend, neben der Existenz von Antikörpern auch den Vollbeweis einer Infektionskrankheit zu fordern. Denn nach der Rechtsprechung des BSG sei zB auch die bloße HIV-Infektion bereits eine als BK anzuerkennende Erkrankung. Aber auch bei Zugrundelegung der Auffassung des LSG könne man sich auch auf den Standpunkt stellen, dass mit den Herzrhythmusstörungen bereits das Stadium II der Borreliose-Erkrankung erreicht und die Krankheit somit ausgebrochen sei, wie den einschlägigen Ausführungen des Robert Koch-Instituts entnommen werden könne.

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Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. April 2015 und des Sozialgerichts Landshut vom 28. Oktober 2013 aufzuheben sowie den Bescheid vom 18. Januar 2011 und den Widerspruchsbescheid vom 22. September 2011 aufzuheben und eine Borreliose als Berufskrankheit nach Nr 3102 der Anl 1 zur BKV festzustellen.

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Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

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Die Gelenkbeschwerden des Klägers beruhten nicht auf einem Borrelienkontakt, sondern auf degenerativen Veränderungen. Auch die Herzrhythmusstörungen seien kein Ausdruck dafür, dass bereits das Stadium II der Borreliose-Erkrankung erreicht sei. Soweit sich die Revisionsbegründung auf den gegenteiligen Standpunkt stelle, habe sie eine Verletzung der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG)nicht formgerecht gerügt. Die erhöhten Antikörperwerte belegten eine Inkorporation von Infektionserregern und damit den Tatbestand der Exposition, aber nicht den Versicherungsfall. Der Nachweis von Antikörpern habe für sich gesehen keinen Krankheitswert. Würde man der Argumentation des Klägers folgen, wäre jeder, der den Ausbruch einer Infektionskrankheit durch sein Immunsystem erfolgreich abgewendet habe, gleichwohl krank. Jedenfalls sei das Vorhandensein von Antikörpern gegen Borrelia burgdorferi ohne krankheitsaktive Borreliose für die Unfallversicherung irrelevant.

Entscheidungsgründe

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A. Die Revision ist zulässig, soweit sie sich gegen die Anwendung materiellen Rechts wendet. Dagegen berücksichtigt das Rechtsmittel nicht ausreichend, dass Verfahrensverstöße grundsätzlich nur auf Rüge geprüft werden, die bis zum Ablauf der Begründungsfrist - vorliegend am 23.11.2015 - ordnungsgemäß erhoben sein muss (§ 202 S 1 SGG iVm § 557 Abs 3 S 2 ZPO).

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Soweit die Revisionsbegründung ausführt, "man könnte sich allerdings auch auf den Standpunkt stellen, dass … mit den bei dem Kläger diagnostizierten Herzrhythmusstörungen bereits das Stadium II der Borreliose-Erkrankung erreicht" sei, macht sie sinngemäß eine Verletzung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) geltend, worauf die Beklagte zutreffend hinweist. Eine formgerechte Verfahrensrüge liegt indes nicht vor, weil die Revision lediglich ihre Beweiswürdigung alternativ an die Stelle derjenigen des LSG setzt und ihren Standpunkt unausgesprochen als vorzugswürdig bezeichnet. Dies reicht für eine formgerechte Rüge der Verletzung des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht aus (BSG Urteile vom 7.2.2006 - B 2 U 31/04 R - SozR 4-2700 § 63 Nr 3 RdNr 24 und vom 7.12.2004 - B 1 KR 10/03 R - Juris RdNr 18). Denn dem Revisionsgericht ist es nicht gestattet, unter mehreren möglichen Beweiswürdigungen eine Wahl zu treffen oder diese sonst zu bewerten (stRspr, vgl nur BSG Urteile vom 7.4.1987 - 11b RAr 56/86 - SozR 1500 § 164 Nr 31 S 50, vom 19.12.2001 - B 11 AL 50/01 R - Juris RdNr 16 und vom 23.7.2015 - B 5 R 32/14 R - Juris RdNr 10). Stattdessen hätte die Revisionsbegründung entweder aufzeigen müssen, dass das LSG das "Gesamtergebnis des Verfahrens" unzureichend berücksichtigt hat, oder schlüssig darlegen müssen, dass der festgestellte Sachverhalt nur eine Folgerung erlaubt, jede andere nicht denkbar ist und das Gericht gerade die einzig denkbare Schlussfolgerung nicht gezogen, mithin gegen Denkgesetze verstoßen hat. Da dies nicht geschehen ist, ist das BSG an die gegenteiligen Feststellungen des LSG gebunden (§ 163 SGG), wonach die Herzrhythmusstörungen gerade keine Erscheinungsform einer Lyme-Borreliose sind.

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B. Die im Übrigen zulässige Revision ist unbegründet, sodass sie zurückzuweisen ist (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Zu Recht hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen, weil die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 Var 1, § 55 Abs 1 Nr 1, § 56 SGG) unbegründet ist. Die Entscheidung der Beklagten in dem Bescheid vom 18.1.2011, die Feststellung einer BK 3102 abzulehnen, und der Widerspruchsbescheid vom 22.9.2011 sind rechtmäßig.

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Rechtsgrundlage für die Anerkennung einer BK ist § 9 Abs 1 SGB VII iVm BK 3102. Nach § 9 Abs 1 S 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Nach ständiger Senatsrechtsprechung ist für die Feststellung einer Listen-BK (Versicherungsfall) erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" iS des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG Urteile vom 17.12.2015 - B 2 U 11/14 R - BSGE 120, 230 = SozR 4-2700 § 9 Nr 26, RdNr 10 mwN, vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 10 und - B 2 U 10/14 R - BSGE 118, 255 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 RdNr 11 sowie - B 2 U 20/14 R - BSGE 118, 267 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8, RdNr 10; s auch BSG Urteile vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 12, vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4, RdNr 16 mwN, vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14, RdNr 9 mwN, vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 412, vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151 RdNr 14 sowie vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 14). Der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht (BSG Urteil vom 15.5.2012 - B 2 U 31/11 R - Juris RdNr 34 mwN) und ernste Zweifel ausscheiden (BSG Urteil vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 3 RdNr 20). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK, wohl aber für eine Leistung (Leistungsfall).

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Der Verordnungsgeber hat die BK 3102 unter der Abschnittsüberschrift "Durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten sowie Tropenkrankheiten" wie folgt bezeichnet: "Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten". Die Voraussetzungen dieses Tatbestandes iVm § 9 Abs 1 SGB VII sind nicht erfüllt, weil der Kläger nicht an seiner solchen "Krankheit" leidet. Deshalb kann dahinstehen, ob dem LSG auch insoweit zu folgen gewesen wäre, als es für die "Einwirkung" keinen konkreten Nachweis von Zeckenstichen gerade bei der versicherten Tätigkeit gefordert, sondern es für ausreichend erachtet hat, dass der Kläger als Forstwirt generell "einem deutlich erhöhten Infektionsrisiko für Borreliose" ausgesetzt gewesen ist. Anders als bei der BK 3101, die für den Nachweis der Einwirkung bei Infektionskrankheiten von Versicherten im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium eine "besondere Infektionsgefahr" schon tatbestandlich voraussetzt (hierzu BSG Urteile vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4 und - B 2 U 33/07 R - BSGE 103, 54 = SozR 4-5671 Anl 1 3101 Nr 5 sowie vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151), ist die erforderliche Einwirkung in der hier zu beurteilenden BK 3102 vom Verordnungsgeber offengelassen und gerade nicht definiert worden. Der vom LSG offensichtlich beabsichtigte Verzicht auf die Feststellung jeder konkreten Einwirkung und das bloße Abstellen auf die abstrakte Gefahr des Arbeitens im Wald in einem Gebiet mit regional erhöhtem Zeckenbefall dürfte aber den Anforderungen einer im Vollbeweis festzustellenden Einwirkung kaum mehr genügen (vgl hierzu Bieresborn, NZS 2008, 354). Letztlich kann dies aber dahinstehen, weil bei dem Kläger schon keine Krankheit iS der BK 3102 vorliegt.

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Bei der BK 3102 handelt es sich um eine sog offene BK-Bezeichnung (vgl Spellbrink, BPUVZ 2012, 360, 362; ders SozSich 2013, 431 f; Bieresborn, NZS 2008, 354, 359), bei der die erforderliche Erkrankung nicht präzise umschrieben, sondern nur eine Krankheitsgruppe, nämlich "von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten", genannt wird. Anerkennungsfähig sind mithin hier alle Krankheiten dieser Gruppe, die durch die betreffende Einwirkung potentiell verursacht werden können. Um ein bestimmtes Krankheitsbild aus dem Schutzbereich dieser BK ausschließen zu können, muss demgegenüber feststehen, dass entweder diese Krankheit nach dem Willen des Verordnungsgebers nicht vom Schutzbereich der Norm umfasst sein sollte oder durch die jeweilige Einwirkung nicht verursacht werden kann (vgl iE BSG Urteil vom 17.12.2015 - B 2 U 11/14 R - BSGE 120, 230 = SozR, aaO, RdNr 14), was bei der Lyme-Borreliose nicht der Fall ist, die hier allein als eine anerkanntermaßen von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheit in Betracht kommt.

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Werden - wie vorliegend - die Rechtsbegriffe "durch Infektionserreger … verursachte Krankheiten" und "von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten" durch einen fachmedizinischen Diagnosebegriff ("Lyme-Borreliose") ausgefüllt, so bedeutet dies, dass diesem Diagnosebegriff der Bedeutungs- bzw Sinngehalt zukommt, den ihm der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand beimisst: Es müssen die Diagnosekriterien vorliegen, die krankheitsbeweisend sind, also nach den aktuellen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft erfüllt sein müssen, um die Diagnose zu sichern. Das Recht knüpft damit an den medizinischen Diagnosebegriff und die dazu entwickelten Kriterien an, die die überwiegende Mehrheit der Fachmediziner, die auf dem jeweils in Betracht kommenden Gebiet über spezielle Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, wissenschaftlich fundiert vertreten ( s BSG Urteil vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1, RdNr 15, zum Kehlkopfkarzinom nach ionisierenden Strahlen; vgl zuletzt BSG Urteile vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 22 und vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20). Auf dieser Grundlage ist der Kläger nicht an einer Lyme-Borreliose erkrankt (nachfolgend 1.). Die Borrelieninfektion als solche stellt keine von Tieren auf Menschen übertragbare "Krankheit" im Rechtssinne dar (nachfolgend 2.). Sie liegt auch nicht deshalb vor, weil die behandelnden Ärzte aufgrund des Verdachts, es könnte eine Lyme-Borreliose bestehen, Laborbefunde erhoben und Therapiemaßnahmen in Form einer zweimaligen Antibiotikatherapie eingeleitet haben (nachfolgend 3.).

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1. Der Kläger leidet nicht an einer Lyme-Borreliose, weil deren medizinisch-diagnostischen Kriterien nicht erfüllt sind. Auf der Grundlage der medizinischen Beweisaufnahme und unter Heranziehung der aktuellen S1-Leitlinie der DGN (zur Neuroborreliose, Stand September 2012, AWMF-Registernummer 030/071, S 2) hat das LSG für das BSG bindend festgestellt (§ 163 Halbs 1 SGG), dass die Diagnose einer Lyme-Borreliose sowohl den (indirekten) Erregernachweis mittels Laboruntersuchung (Serodiagnostik, Antikörpernachweis) als auch den Nachweis einer typischen klinischen Symptomatik erfordert. Dass diese Diagnosekriterien nicht (mehr) dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen, ist weder mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen gerügt worden (§ 163 Halbs 2 SGG)noch für den Senat offenkundig (zur insofern bestehenden Prüfungskompetenz vgl BSG Urteil vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 20 mwN). Die Feststellung einer Lyme-Borreliose als BK 3102 setzt mithin voraus, dass ihre typischen klinischen Symptome und die Borrelieninfektion im Vollbeweis belegt sind und diese Leitsymptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf der Borrelieninfektion beruhen. Das LSG hat den (indirekten) Erregernachweis für erbracht erachtet (nachfolgend a) und das Vorliegen von klinischen Symptomen beschrieben, die für eine Borreliose-Erkrankung typisch sind (nachfolgend b). Es hat jedoch die hinreichende Wahrscheinlichkeit zwischen der nachgewiesenen Borrelieninfektion und den Gelenkbeschwerden bzw Herzrhythmusstörungen rechtsfehlerfrei verneint (nachfolgend c).

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a) Das LSG hat unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Beweisaufnahme wegen der nachweislich erhöhten IgG-Antikörper-Werte im Antikörper-Suchtest IgG-ELISA und im Bestätigungstest IgG-Immunoblot einen Kontakt des Immunsystems mit Borrelia burgdorferi zu einem unbekannten Zeitpunkt und damit eine Borrelieninfektion bejaht.

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b) Zum Krankheitsbild einer Lyme-Borreliose zählen nach der Lfd Nr 15 des Anhangs zum Merkblatt der BK 3102 (Bekanntmachung des BMGS vom 1.9.2003, BArbBl 10/2003, 26) ua "Erythema migrans", "wandernde Arthralgien", "Arthritis" sowie "Herzbeschwerden". Die Merkblätter sind zur Ermittlung des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands und als Interpretationshilfe heranzuziehen (BSG Urteile vom 23.4.2015 - B 2 U 20/14 R - BSGE 118, 267 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8 RdNr 15, vom 12.4.2005 - B 2 U 6/04 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 5 RdNr 8, vom 2.5.2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 85; BSG Urteil vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1, RdNr 17 mwN), auch wenn sie weder verbindliche Konkretisierungen der Tatbestandsvoraussetzungen der BK noch antizipierte Sachverständigengutachten oder eine Dokumentation des Standes der einschlägigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft sind (BSG Beschluss vom 11.8.1998 - B 2 U 261/97 B - HVBG-INFO 1999, 1373), was auch das LSG nicht verkannt hat. Hautveränderungen iS einer Wanderröte (Erythema migrans) hat der Kläger nach den Feststellungen des LSG weder selbst bemerkt noch sind sie ärztlich dokumentiert. Auch fehlt der Nachweis von Schwellungszuständen und Gelenkergüssen als Zeichen einer manifesten Arthritis (Gelenkentzündung). Dagegen liegen wiederkehrende (rezidivierende) Gelenkbeschwerden ("Arthralgien") vor, die nicht auf eine bestimmte Körperstelle beschränkt sind, sondern nach Angaben des Hausarztes vor allem im Lendenwirbelsäulenbereich ("Lumbalgie"), in der Nacken-Schulter-Arm-Region ("Cervicobrachialgie") sowie dem rechten Ellenbogen (Epicondylitis humeri radialis, sog Tennisellenbogen) auftreten und damit als "wandernd" bezeichnet werden können. Darüber hinaus leidet der Kläger unter "Vorhofflimmern mit absoluter Arrhythmie" und damit auch an "Herzbeschwerden".

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c) Unter Berufung auf den Hausarzt und das internistische Sachverständigengutachten ist das LSG indes ohne Rechtsfehler zu dem Ergebnis gelangt, dass im Fall des Klägers gerade nicht mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang zwischen der Borrelieninfektion und den beschriebenen Gelenkbeschwerden in mehreren Körperregionen spricht, sondern ein solcher wegen der gleichfalls nachgewiesenen degenerativen Veränderungen (Bandscheibenvorfall L5/S1, Bandscheibenschaden C5/6) ernsthaft bezweifelt werden muss. Ebenfalls ist es revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das LSG den Zusammenhang zwischen der Borrelieninfektion und dem Vorhofflimmern mit absoluter Arrhythmie verneint hat, weil diese Erkrankung für eine Lyme-Karditis völlig untypisch ist, in der Altersgruppe des Klägers häufig ohne benennbare Ursache auftritt, sich erst vier Monate nach dem Zeckenstich manifestiert hat, eine zweimalige Antibiotikatherapie erfolglos geblieben ist und Schilddrüsenprobleme mit entsprechender Medikation bestehen, die als Nebenwirkung Herzrhythmusstörungen hervorrufen kann.

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2. Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich die symptomlose Borrelieninfektion als solche nicht unter den unfallversicherungsrechtlichen Begriff der "Krankheit" iS des § 9 Abs 1 S 1 SGB VII und der BK 3102 subsumieren. Gesetz- und Verordnungsgeber haben den im Recht der BKen vorausgesetzten Krankheitsbegriff nicht näher festgelegt, sondern von einer Definition abgesehen, weil der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt ständige Änderungen dessen bewirkt, was als "Krankheit" erkannt werden kann (BSG Urteil vom 30.9.2015 - B 3 KR 14/14 R - SozR 4-2500 § 33 Nr 48 RdNr 29; Hauck, NJW 2016, 2695, 2700). In der Sozialversicherung umschreiben Rechtsprechung (BSG Urteile vom 24.7.1985 - 9b RU 36/83 - SozR 5670 Anl 1 Nr 3102 Nr 1, vom 26.11.1987 - 2 RU 20/87 - SozR 2200 § 551 Nr 31, vom 30.9.2015, aaO sowie zuletzt vom 8.3.2016 - B 1 KR 35/15 R - SozR 4-2500 § 27 Nr 28 RdNr 9 mwN) und Literatur (Becker, SGb 2010, 131, 135; Brandenburg in jurisPK-SGB VII, 2. Aufl 2014, § 9 RdNr 50; Knispel, SGb 2016, 632; Koch in Lauterbach, Unfallversicherung, Stand November 2016, § 9 RdNr 54; Mehrtens/Brandenburg, BKV, § 9 SGB VII Anm 6; Ricke in Kasseler Kommentar, SGB VII, Stand 1.12.2016, § 9 RdNr 9; Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand Februar 2017, K § 9 RdNr 8a; Schmitt, SGB VII, 4. Aufl 2009, § 9 RdNr 5; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und BK, 9. Aufl 2017, S 66; Spellbrink, SR 2014, 140, 143) Krankheit auch im BK-Recht als regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, wovon die Beteiligten und die Vorinstanzen ebenfalls ausgehen.

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"Regelwidrig" ist jeder Zustand, der von der Norm abweicht (normativer Krankheitsbegriff), die ihrerseits durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägt ist (BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 28 RdNr 9 und SozR 4-2500 § 33 Nr 48 RdNr 29). "Gesundheit" wiederum ist derjenige Zustand, der dem Einzelnen die Ausübung der (aller) körperlichen Funktionen ermöglicht (BSG aaO). Folglich kommt nicht jeder körperlichen Regelwidrigkeit (hier: Vorhandensein von Antikörpern gegen Borrelia burgdorferi) Krankheitswert im Rechtssinne zu (BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 28 RdNr 10). Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird (funktioneller Krankheitsbegriff). Ausgehend von diesem normativ-funktionellen Krankheitsbegriff reicht die bloße Aufnahme schädigender Substanzen (zB Infektionserreger, Asbest, Quarzstaub) in den Körper allein im Regelfall nicht aus (anders offenbar LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.5.2014 - L 3 U 228/12 - Juris RdNr 41 f und Bayerisches LSG Urteil vom 13.12.1989 - L 10 U 144/88 - Juris, zur BK 1101). Vielmehr ist es grundsätzlich notwendig, dass diese Einwirkung über zunächst rein innerkörperliche Reaktionen (iS normabweichender physiologischer oder biologischer Prozesse) oder Strukturveränderungen hinaus zu (irgend)einer Funktionsstörung führt (zB leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf, vgl dazu BSG Urteil vom 11.1.1989 - 8 RKnU 1/88 - SozR 2200 § 551 Nr 34). Diese Auffassung wird durch die Gesetzessystematik des BK-Rechts bestätigt (dazu ausführlich Mehrtens/Brandenburg, aaO, § 9 Anm 6.3). Denn das Gesetz unterscheidet zwischen einer bereits eingetretenen BK, einer individuell drohenden - also noch nicht eingetretenen - BK sowie der generellen Gesundheitsgefahr am Arbeitsplatz. Dementsprechend differenziert das Unfallversicherungsrecht zwischen der Generalprävention (§§ 14 ff SGB VII) zur Vermeidung von schädigenden Einwirkungen auf die Versicherten am Arbeitsplatz, den individualpräventiven Maßnahmen nach § 3 BKV bei einer drohenden Gefahr der Entstehung, der Verschlimmerung oder des Wiederauflebens einer BK sowie Maßnahmen(Heilbehandlung, berufliche Rehabilitation, Entschädigung, §§ 26 ff SGB VII) bei einer anerkannten BK. Die individualpräventiven Maßnahmen nach § 3 BKV stehen somit an der Nahtstelle zwischen stattgehabter Einwirkung und dem Eintritt des Versicherungsfalls. Eine Schadstoffinkorporierung, zu der auch die Aufnahme von Krankheitserregern zählt, kann im Einzelfall die Voraussetzung einer drohenden Gefahr iS des § 3 BKV erfüllen, wenn die Gefahr des Eintritts eine mehr als entfernte Möglichkeit darstellt. Aus der normativen Differenzierung zwischen drohender BK iS des § 3 BKV und eingetretener BK iS des § 9 SGB VII folgt zugleich, dass die bloße Aufnahme eines schädlichen Stoffes grundsätzlich der erstgenannten Fallgruppe zuzuordnen ist(Mehrtens/Brandenburg, aaO).

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Hier führte die Aufnahme von Borrelia burgdorferi in den Organismus des Klägers zu einer körperlichen Abwehrreaktion des Immunsystems, die laborchemisch belegbar ist. Damit waren jedoch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Störungen irgendwelcher Körperfunktionen verbunden; die Gelenkbeschwerden und Herzrhythmusstörungen hatten - wie unter 1. dargestellt - nach den bindenden Feststellungen des LSG andere Ursachen. Hat die körpereigene Immunabwehr des Klägers nach der Aufnahme von Borrelia burgdorferi das Auftreten von Funktionsstörungen gerade verhindert und ist die Infektion deshalb stumm (symptomlos, asymptomatisch) verlaufen, so liegt keine "Krankheit" im Rechtssinne und damit kein Versicherungsfall (§ 7 Abs 1 SGB VII)in der gesetzlichen Unfallversicherung vor. Mit dem positiven Ergebnis im Antikörper-Suchtest IgG-ELISA und im Bestätigungstest IgG-Immunoblot ist somit allenfalls eine körperliche Einwirkung, nicht jedoch eine (Berufs-)"Krankheit" belegt. Zu Recht weist die Beklagte darauf hin, dass niemand, dessen Immunsystem den Ausbruch einer Infektionskrankheit erfolgreich abgewendet habe, gleichwohl als "krank" im Rechtssinne bezeichnet werden könne. Vielmehr tritt der Versicherungsfall der BK erst ein, wenn die Infektionskrankheit zu Funktionsstörungen führt, weil die körpereigene Immunabwehr überfordert ist.

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Soweit die Revision geltend macht, das BSG (Urteil vom 18.11.1997 - 2 RU 15/97 - Juris RdNr 19: "HIV-Infektion ist eine Infektionskrankheit") sei bereits bei der nachgewiesenen Infektion mit dem HI-Virus vom Vorliegen einer BK 3101 ausgegangen, lässt sie unbeachtet, dass es nach einer HIV-Infektion meist zu ersten Krankheitszeichen (zB Fieber, Nachtschweiß, Abgeschlagenheit, Hautausschläge, Gelenkschmerzen usw) kommt und die medizinische Wissenschaft daher konsequenterweise bereits von einer akuten "HIV-Krankheit" (nicht gleichbedeutend mit "AIDS") spricht (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, HIV und AIDS, Heft 31 Juni 2006, Robert Koch-Institut in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt, S 8), während die Infektion mit Borrelia burgdorferi typischerweise symptomlos verläuft. Zudem handelt es sich bei der Ansteckung mit dem HI-Virus um eine Infektion, die ohne ärztliche Behandlung zu einer lebensbedrohlichen AIDS-Erkrankung führen kann, weil das körpereigene Immunsystem allein regelmäßig nicht in der Lage ist, die Infektionserreger vollständig abzuwehren (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, aaO). Dagegen erkrankt die Mehrzahl der Menschen mit dem Nachweis borrelienspezifischer Antikörper nicht an Borreliose, weil es ihrer Immunabwehr - wie hier - gelingt, die Infektion erfolgreich zu bekämpfen. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die sich auf das Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme und auf die aktuelle S1-Leitlinie der DGN (zur Neuroborreliose, Stand September 2012, AWMF-Registernummer 030/071, S 2) stützen, kommen borrelienspezifische Antikörper auch bei gesunden Personen vor, sodass ihr serologischer Nachweis allein noch keine aktive Infektion mit aktiven Borrelia burgdorferi belegt.

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3. Soweit die Rechtsprechung in einem Einzelfall schon den bloßen Krankheitsverdacht als "Krankheit" iS des BK-Rechts angesehen hat, ohne dass schon akute Funktionsbeeinträchtigungen vorlagen (BSG Urteil vom 24.7.1985 - 9b RU 36/83 - SozR 5670 Anl 1 Nr 3102 Nr 1), vermag dies an dem gefundenen Ergebnis nichts zu ändern. In dem genannten Fall (BSG Urteil vom 24.7.1985, aaO) hatte der als Forstwart beschäftigte Kläger ohne Schutzhandschuhe ein an Tollwut erkranktes Reh zerwirkt. Auf die darauf erfolgte Tollwutimpfung erkrankte der Kläger an mit Wahrscheinlichkeit auf diese Impfung zurückzuführenden Herzbeschwerden. Das BSG hat insofern die Notwendigkeit der "Heilbehandlung" (Impfung) aufgrund des bloßen Krankheitsverdachts bejaht. In einer vergleichbaren Situation befand sich der Kläger hier im Juni 2008, nachdem Herzrhythmusstörungen aufgetreten, die serologischen Laborbefunde positiv gewesen waren und sein Hausarzt "wegen nicht ganz ausgeschlossener Borreliose mit kardialer Beteiligung" eine medikamentöse Antibiotikabehandlung für drei Wochen einleitete, die später mittels Infusionstherapie für zwei Wochen wiederholt wurde. Dies ändert aber nichts daran, dass die "Krankheit" iS des jeweiligen Tatbestands der in der Anl 1 zur BKV aufgelisteten Krankheiten für die isolierte Feststellung einer BK jeweils iS des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen muss. Ein bloßer Krankheitsverdacht, der sich rückblickend nicht bestätigt hat, kann daher nicht zu der hier erstrebten und mit der Revision verfolgten Feststellung einer BK führen, wenngleich für die aufgrund des "Verdachts" durchgeführten Diagnosemaßnahmen etc eine Zuständigkeit der Beklagten - etwa auch gemäß § 3 BKV- gegeben sein kann.

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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

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Bundessozialgericht Urteil, 27. Juni 2017 - B 2 U 17/15 R zitiert 20 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

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Das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist für Versicherte, Leistungsempfänger einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger, behinderte Menschen oder deren Sonderrechtsnachfolger nach § 56 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch kos

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 163


Das Bundessozialgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 202


Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfa

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 170


(1) Ist die Revision unbegründet, so weist das Bundessozialgericht die Revision zurück. Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Gesetzesverletzung, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision eb

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(1) Kraft Gesetzes sind versichert 1. Beschäftigte,2. Lernende während der beruflichen Aus- und Fortbildung in Betriebsstätten, Lehrwerkstätten, Schulungskursen und ähnlichen Einrichtungen,3. Personen, die sich Untersuchungen, Prüfungen oder ähnliche

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 128


(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. (2) Das Urteil darf nur auf Tatsache

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254) - SGB 7 | § 6 Freiwillige Versicherung


(1) Auf schriftlichen oder elektronischen Antrag können sich versichern 1. Unternehmer und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner; ausgenommen sind Haushaltsführende, Unternehmer von nicht gewerbsmäßig betriebenen Binnenfisch

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(1) Mit der Klage kann begehrt werden 1. die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses,2. die Feststellung, welcher Versicherungsträger der Sozialversicherung zuständig ist,3. die Feststellung, ob eine Gesundheitsstörun

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254) - SGB 7 | § 3 Versicherung kraft Satzung


(1) Die Satzung kann bestimmen, daß und unter welchen Voraussetzungen sich die Versicherung erstreckt auf1.Unternehmer und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner,2.Personen, die sich auf der Unternehmensstätte aufhalten; § 2

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 56


Mehrere Klagebegehren können vom Kläger in einer Klage zusammen verfolgt werden, wenn sie sich gegen denselben Beklagten richten, im Zusammenhang stehen und dasselbe Gericht zuständig ist.

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254) - SGB 7 | § 9 Berufskrankheit


(1) Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit

Zivilprozessordnung - ZPO | § 557 Umfang der Revisionsprüfung


(1) Der Prüfung des Revisionsgerichts unterliegen nur die von den Parteien gestellten Anträge. (2) Der Beurteilung des Revisionsgerichts unterliegen auch diejenigen Entscheidungen, die dem Endurteil vorausgegangen sind, sofern sie nicht nach den

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254) - SGB 7 | § 7 Begriff


(1) Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. (2) Verbotswidriges Handeln schließt einen Versicherungsfall nicht aus.

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254) - SGB 7 | § 26 Grundsatz


(1) Versicherte haben nach Maßgabe der folgenden Vorschriften und unter Beachtung des Neunten Buches Anspruch auf Heilbehandlung einschließlich Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Sozialen

Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung - KraftfAusbV 2001 | § 3 Ausbildungsberufsbild


Gegenstand der Berufsausbildung sind mindestens die Vermittlung der folgenden Fertigkeiten und Kenntnisse:1.Berufsbildung, Arbeits- und Tarifrecht,2.Aufbau und Organisation des Ausbildungsbetriebes,3.Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit,4.

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(1) Die Unfallversicherungsträger haben mit allen geeigneten Mitteln für die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren und für eine wirksame Erste Hilfe zu sorgen. Sie sollen dabei auch den Ursachen von

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(1) Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, daß die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind. In der Rechtsverordnung kann ferner bestimmt werden, inwieweit Versicherte in Unternehmen der Seefahrt auch in der Zeit gegen Berufskrankheiten versichert sind, in der sie an Land beurlaubt sind.

(1a) Beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ein Ärztlicher Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten gebildet. Der Sachverständigenbeirat ist ein wissenschaftliches Gremium, das das Bundesministerium bei der Prüfung der medizinischen Erkenntnisse zur Bezeichnung neuer und zur Erarbeitung wissenschaftlicher Stellungnahmen zu bestehenden Berufskrankheiten unterstützt. Bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin wird eine Geschäftsstelle eingerichtet, die den Sachverständigenbeirat bei der Erfüllung seiner Arbeit organisatorisch und wissenschaftlich, insbesondere durch die Erstellung systematischer Reviews, unterstützt. Das Nähere über die Stellung und die Organisation des Sachverständigenbeirats und der Geschäftsstelle regelt die Bundesregierung in der Rechtsverordnung nach Absatz 1.

(2) Die Unfallversicherungsträger haben eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Absatz 1 Satz 2 erfüllt sind.

(2a) Krankheiten, die bei Versicherten vor der Bezeichnung als Berufskrankheiten bereits entstanden waren, sind rückwirkend frühestens anzuerkennen

1.
in den Fällen des Absatzes 1 als Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die Bezeichnung in Kraft getreten ist,
2.
in den Fällen des Absatzes 2 wie eine Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vorgelegen haben; hat der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten eine Empfehlung für die Bezeichnung einer neuen Berufskrankheit beschlossen, ist für die Anerkennung maßgebend der Tag der Beschlussfassung.

(3) Erkranken Versicherte, die infolge der besonderen Bedingungen ihrer versicherten Tätigkeit in erhöhtem Maße der Gefahr der Erkrankung an einer in der Rechtsverordnung nach Absatz 1 genannten Berufskrankheit ausgesetzt waren, an einer solchen Krankheit und können Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden, wird vermutet, daß diese infolge der versicherten Tätigkeit verursacht worden ist.

(3a) Der Unfallversicherungsträger erhebt alle Beweise, die zur Ermittlung des Sachverhalts erforderlich sind. Dabei hat er neben den in § 21 Absatz 1 Satz 1 des Zehnten Buches genannten Beweismitteln auch Erkenntnisse zu berücksichtigen, die er oder ein anderer Unfallversicherungsträger an vergleichbaren Arbeitsplätzen oder zu vergleichbaren Tätigkeiten gewonnen hat. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen die Ermittlungen zu den Einwirkungen während der versicherten Tätigkeit dadurch erschwert sind, dass der Arbeitsplatz des Versicherten nicht mehr oder nur in veränderter Gestaltung vorhanden ist. Die Unfallversicherungsträger sollen zur Erfüllung der Aufgaben nach den Sätzen 2 und 3 einzeln oder gemeinsam tätigkeitsbezogene Expositionskataster erstellen. Grundlage für diese Kataster können die Ergebnisse aus systematischen Erhebungen, aus Ermittlungen in Einzelfällen sowie aus Forschungsvorhaben sein. Die Unfallversicherungsträger können außerdem Erhebungen an vergleichbaren Arbeitsplätzen durchführen.

(4) Besteht für Versicherte, bei denen eine Berufskrankheit anerkannt wurde, die Gefahr, dass bei der Fortsetzung der versicherten Tätigkeit die Krankheit wiederauflebt oder sich verschlimmert und lässt sich diese Gefahr nicht durch andere geeignete Mittel beseitigen, haben die Unfallversicherungsträger darauf hinzuwirken, dass die Versicherten die gefährdende Tätigkeit unterlassen. Die Versicherten sind von den Unfallversicherungsträgern über die mit der Tätigkeit verbundenen Gefahren und mögliche Schutzmaßnahmen umfassend aufzuklären. Zur Verhütung einer Gefahr nach Satz 1 sind die Versicherten verpflichtet, an individualpräventiven Maßnahmen der Unfallversicherungsträger teilzunehmen und an Maßnahmen zur Verhaltensprävention mitzuwirken; die §§ 60 bis 65a des Ersten Buches gelten entsprechend. Pflichten der Unternehmer und Versicherten nach dem Zweiten Kapitel und nach arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften bleiben hiervon unberührt. Kommen Versicherte ihrer Teilnahme- oder Mitwirkungspflicht nach Satz 3 nicht nach, können die Unfallversicherungsträger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder die Leistung einer danach erstmals festzusetzenden Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder den Anteil einer Rente, der auf eine danach eingetretene wesentliche Änderung im Sinne des § 73 Absatz 3 zurückgeht, bis zur Nachholung der Teilnahme oder Mitwirkung ganz oder teilweise versagen. Dies setzt voraus, dass infolge der fehlenden Teilnahme oder Mitwirkung der Versicherten die Teilhabeleistungen erforderlich geworden sind oder die Erwerbsminderung oder die wesentliche Änderung eingetreten ist; § 66 Absatz 3 und § 67 des Ersten Buches gelten entsprechend.

(5) Soweit Vorschriften über Leistungen auf den Zeitpunkt des Versicherungsfalls abstellen, ist bei Berufskrankheiten auf den Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Behandlungsbedürftigkeit oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, auf den Beginn der rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit abzustellen.

(6) Die Bundesregierung regelt durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates

1.
Voraussetzungen, Art und Umfang von Leistungen zur Verhütung des Entstehens, der Verschlimmerung oder des Wiederauflebens von Berufskrankheiten,
2.
die Mitwirkung der für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen bei der Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind; dabei kann bestimmt werden, daß die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen berechtigt sind, Zusammenhangsgutachten zu erstellen sowie zur Vorbereitung ihrer Gutachten Versicherte zu untersuchen oder auf Kosten der Unfallversicherungsträger andere Ärzte mit der Vornahme der Untersuchungen zu beauftragen,
3.
die von den Unfallversicherungsträgern für die Tätigkeit der Stellen nach Nummer 2 zu entrichtenden Gebühren; diese Gebühren richten sich nach dem für die Begutachtung erforderlichen Aufwand und den dadurch entstehenden Kosten.

(7) Die Unfallversicherungsträger haben die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständige Stelle über den Ausgang des Berufskrankheitenverfahrens zu unterrichten, soweit ihre Entscheidung von der gutachterlichen Stellungnahme der zuständigen Stelle abweicht.

(8) Die Unfallversicherungsträger wirken bei der Gewinnung neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere zur Fortentwicklung des Berufskrankheitenrechts mit; sie sollen durch eigene Forschung oder durch Beteiligung an fremden Forschungsvorhaben dazu beitragen, den Ursachenzusammenhang zwischen Erkrankungshäufigkeiten in einer bestimmten Personengruppe und gesundheitsschädlichen Einwirkungen im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit aufzuklären. Die Verbände der Unfallversicherungsträger veröffentlichen jährlich einen gemeinsamen Bericht über ihre Forschungsaktivitäten und die Forschungsaktivitäten der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Bericht erstreckt sich auf die Themen der Forschungsvorhaben, die Höhe der aufgewendeten Mittel sowie die Zuwendungsempfänger und Forschungsnehmer externer Projekte.

(9) Die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen dürfen zur Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind, Daten verarbeiten sowie zur Vorbereitung von Gutachten Versicherte untersuchen, soweit dies im Rahmen ihrer Mitwirkung nach Absatz 6 Nr. 2 erforderlich ist; sie dürfen diese Daten insbesondere an den zuständigen Unfallversicherungsträger übermitteln. Die erhobenen Daten dürfen auch zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren gespeichert, verändert, genutzt, übermittelt oder in der Verarbeitung eingeschränkt werden. Soweit die in Satz 1 genannten Stellen andere Ärzte mit der Vornahme von Untersuchungen beauftragen, ist die Übermittlung von Daten zwischen diesen Stellen und den beauftragten Ärzten zulässig, soweit dies im Rahmen des Untersuchungsauftrages erforderlich ist.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten.

Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen; Buch 6 der Zivilprozessordnung ist nicht anzuwenden. Die Vorschriften des Siebzehnten Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes sind mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt. In Streitigkeiten über Entscheidungen des Bundeskartellamts, die die freiwillige Vereinigung von Krankenkassen nach § 172a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch betreffen, sind die §§ 63 bis 80 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt.

(1) Der Prüfung des Revisionsgerichts unterliegen nur die von den Parteien gestellten Anträge.

(2) Der Beurteilung des Revisionsgerichts unterliegen auch diejenigen Entscheidungen, die dem Endurteil vorausgegangen sind, sofern sie nicht nach den Vorschriften dieses Gesetzes unanfechtbar sind.

(3) Das Revisionsgericht ist an die geltend gemachten Revisionsgründe nicht gebunden. Auf Verfahrensmängel, die nicht von Amts wegen zu berücksichtigen sind, darf das angefochtene Urteil nur geprüft werden, wenn die Mängel nach den §§ 551 und 554 Abs. 3 gerügt worden sind.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten.

Das Bundessozialgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

(1) Ist die Revision unbegründet, so weist das Bundessozialgericht die Revision zurück. Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Gesetzesverletzung, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision ebenfalls zurückzuweisen.

(2) Ist die Revision begründet, so hat das Bundessozialgericht in der Sache selbst zu entscheiden. Sofern dies untunlich ist, kann es das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurückverweisen, welches das angefochtene Urteil erlassen hat.

(3) Die Entscheidung über die Revision braucht nicht begründet zu werden, soweit das Bundessozialgericht Rügen von Verfahrensmängeln nicht für durchgreifend erachtet. Dies gilt nicht für Rügen nach § 202 in Verbindung mit § 547 der Zivilprozeßordnung und, wenn mit der Revision ausschließlich Verfahrensmängel geltend gemacht werden, für Rügen, auf denen die Zulassung der Revision beruht.

(4) Verweist das Bundessozialgericht die Sache bei der Sprungrevision nach § 161 zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück, so kann es nach seinem Ermessen auch an das Landessozialgericht zurückverweisen, das für die Berufung zuständig gewesen wäre. Für das Verfahren vor dem Landessozialgericht gelten dann die gleichen Grundsätze, wie wenn der Rechtsstreit auf eine ordnungsgemäß eingelegte Berufung beim Landessozialgericht anhängig geworden wäre.

(5) Das Gericht, an das die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, hat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen.

(1) Mit der Klage kann begehrt werden

1.
die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses,
2.
die Feststellung, welcher Versicherungsträger der Sozialversicherung zuständig ist,
3.
die Feststellung, ob eine Gesundheitsstörung oder der Tod die Folge eines Arbeitsunfalls, einer Berufskrankheit oder einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes ist,
4.
die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts,
wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat.

(2) Unter Absatz 1 Nr. 1 fällt auch die Feststellung, in welchem Umfang Beiträge zu berechnen oder anzurechnen sind.

(3) Mit Klagen, die sich gegen Verwaltungsakte der Deutschen Rentenversicherung Bund nach § 7a des Vierten Buches Sozialgesetzbuch richten, kann die Feststellung begehrt werden, ob eine Erwerbstätigkeit als Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit ausgeübt wird.

Mehrere Klagebegehren können vom Kläger in einer Klage zusammen verfolgt werden, wenn sie sich gegen denselben Beklagten richten, im Zusammenhang stehen und dasselbe Gericht zuständig ist.

(1) Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, daß die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind. In der Rechtsverordnung kann ferner bestimmt werden, inwieweit Versicherte in Unternehmen der Seefahrt auch in der Zeit gegen Berufskrankheiten versichert sind, in der sie an Land beurlaubt sind.

(1a) Beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ein Ärztlicher Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten gebildet. Der Sachverständigenbeirat ist ein wissenschaftliches Gremium, das das Bundesministerium bei der Prüfung der medizinischen Erkenntnisse zur Bezeichnung neuer und zur Erarbeitung wissenschaftlicher Stellungnahmen zu bestehenden Berufskrankheiten unterstützt. Bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin wird eine Geschäftsstelle eingerichtet, die den Sachverständigenbeirat bei der Erfüllung seiner Arbeit organisatorisch und wissenschaftlich, insbesondere durch die Erstellung systematischer Reviews, unterstützt. Das Nähere über die Stellung und die Organisation des Sachverständigenbeirats und der Geschäftsstelle regelt die Bundesregierung in der Rechtsverordnung nach Absatz 1.

(2) Die Unfallversicherungsträger haben eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Absatz 1 Satz 2 erfüllt sind.

(2a) Krankheiten, die bei Versicherten vor der Bezeichnung als Berufskrankheiten bereits entstanden waren, sind rückwirkend frühestens anzuerkennen

1.
in den Fällen des Absatzes 1 als Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die Bezeichnung in Kraft getreten ist,
2.
in den Fällen des Absatzes 2 wie eine Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vorgelegen haben; hat der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten eine Empfehlung für die Bezeichnung einer neuen Berufskrankheit beschlossen, ist für die Anerkennung maßgebend der Tag der Beschlussfassung.

(3) Erkranken Versicherte, die infolge der besonderen Bedingungen ihrer versicherten Tätigkeit in erhöhtem Maße der Gefahr der Erkrankung an einer in der Rechtsverordnung nach Absatz 1 genannten Berufskrankheit ausgesetzt waren, an einer solchen Krankheit und können Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden, wird vermutet, daß diese infolge der versicherten Tätigkeit verursacht worden ist.

(3a) Der Unfallversicherungsträger erhebt alle Beweise, die zur Ermittlung des Sachverhalts erforderlich sind. Dabei hat er neben den in § 21 Absatz 1 Satz 1 des Zehnten Buches genannten Beweismitteln auch Erkenntnisse zu berücksichtigen, die er oder ein anderer Unfallversicherungsträger an vergleichbaren Arbeitsplätzen oder zu vergleichbaren Tätigkeiten gewonnen hat. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen die Ermittlungen zu den Einwirkungen während der versicherten Tätigkeit dadurch erschwert sind, dass der Arbeitsplatz des Versicherten nicht mehr oder nur in veränderter Gestaltung vorhanden ist. Die Unfallversicherungsträger sollen zur Erfüllung der Aufgaben nach den Sätzen 2 und 3 einzeln oder gemeinsam tätigkeitsbezogene Expositionskataster erstellen. Grundlage für diese Kataster können die Ergebnisse aus systematischen Erhebungen, aus Ermittlungen in Einzelfällen sowie aus Forschungsvorhaben sein. Die Unfallversicherungsträger können außerdem Erhebungen an vergleichbaren Arbeitsplätzen durchführen.

(4) Besteht für Versicherte, bei denen eine Berufskrankheit anerkannt wurde, die Gefahr, dass bei der Fortsetzung der versicherten Tätigkeit die Krankheit wiederauflebt oder sich verschlimmert und lässt sich diese Gefahr nicht durch andere geeignete Mittel beseitigen, haben die Unfallversicherungsträger darauf hinzuwirken, dass die Versicherten die gefährdende Tätigkeit unterlassen. Die Versicherten sind von den Unfallversicherungsträgern über die mit der Tätigkeit verbundenen Gefahren und mögliche Schutzmaßnahmen umfassend aufzuklären. Zur Verhütung einer Gefahr nach Satz 1 sind die Versicherten verpflichtet, an individualpräventiven Maßnahmen der Unfallversicherungsträger teilzunehmen und an Maßnahmen zur Verhaltensprävention mitzuwirken; die §§ 60 bis 65a des Ersten Buches gelten entsprechend. Pflichten der Unternehmer und Versicherten nach dem Zweiten Kapitel und nach arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften bleiben hiervon unberührt. Kommen Versicherte ihrer Teilnahme- oder Mitwirkungspflicht nach Satz 3 nicht nach, können die Unfallversicherungsträger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder die Leistung einer danach erstmals festzusetzenden Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder den Anteil einer Rente, der auf eine danach eingetretene wesentliche Änderung im Sinne des § 73 Absatz 3 zurückgeht, bis zur Nachholung der Teilnahme oder Mitwirkung ganz oder teilweise versagen. Dies setzt voraus, dass infolge der fehlenden Teilnahme oder Mitwirkung der Versicherten die Teilhabeleistungen erforderlich geworden sind oder die Erwerbsminderung oder die wesentliche Änderung eingetreten ist; § 66 Absatz 3 und § 67 des Ersten Buches gelten entsprechend.

(5) Soweit Vorschriften über Leistungen auf den Zeitpunkt des Versicherungsfalls abstellen, ist bei Berufskrankheiten auf den Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Behandlungsbedürftigkeit oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, auf den Beginn der rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit abzustellen.

(6) Die Bundesregierung regelt durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates

1.
Voraussetzungen, Art und Umfang von Leistungen zur Verhütung des Entstehens, der Verschlimmerung oder des Wiederauflebens von Berufskrankheiten,
2.
die Mitwirkung der für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen bei der Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind; dabei kann bestimmt werden, daß die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen berechtigt sind, Zusammenhangsgutachten zu erstellen sowie zur Vorbereitung ihrer Gutachten Versicherte zu untersuchen oder auf Kosten der Unfallversicherungsträger andere Ärzte mit der Vornahme der Untersuchungen zu beauftragen,
3.
die von den Unfallversicherungsträgern für die Tätigkeit der Stellen nach Nummer 2 zu entrichtenden Gebühren; diese Gebühren richten sich nach dem für die Begutachtung erforderlichen Aufwand und den dadurch entstehenden Kosten.

(7) Die Unfallversicherungsträger haben die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständige Stelle über den Ausgang des Berufskrankheitenverfahrens zu unterrichten, soweit ihre Entscheidung von der gutachterlichen Stellungnahme der zuständigen Stelle abweicht.

(8) Die Unfallversicherungsträger wirken bei der Gewinnung neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere zur Fortentwicklung des Berufskrankheitenrechts mit; sie sollen durch eigene Forschung oder durch Beteiligung an fremden Forschungsvorhaben dazu beitragen, den Ursachenzusammenhang zwischen Erkrankungshäufigkeiten in einer bestimmten Personengruppe und gesundheitsschädlichen Einwirkungen im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit aufzuklären. Die Verbände der Unfallversicherungsträger veröffentlichen jährlich einen gemeinsamen Bericht über ihre Forschungsaktivitäten und die Forschungsaktivitäten der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Bericht erstreckt sich auf die Themen der Forschungsvorhaben, die Höhe der aufgewendeten Mittel sowie die Zuwendungsempfänger und Forschungsnehmer externer Projekte.

(9) Die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen dürfen zur Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind, Daten verarbeiten sowie zur Vorbereitung von Gutachten Versicherte untersuchen, soweit dies im Rahmen ihrer Mitwirkung nach Absatz 6 Nr. 2 erforderlich ist; sie dürfen diese Daten insbesondere an den zuständigen Unfallversicherungsträger übermitteln. Die erhobenen Daten dürfen auch zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren gespeichert, verändert, genutzt, übermittelt oder in der Verarbeitung eingeschränkt werden. Soweit die in Satz 1 genannten Stellen andere Ärzte mit der Vornahme von Untersuchungen beauftragen, ist die Übermittlung von Daten zwischen diesen Stellen und den beauftragten Ärzten zulässig, soweit dies im Rahmen des Untersuchungsauftrages erforderlich ist.

(1) Kraft Gesetzes sind versichert

1.
Beschäftigte,
2.
Lernende während der beruflichen Aus- und Fortbildung in Betriebsstätten, Lehrwerkstätten, Schulungskursen und ähnlichen Einrichtungen,
3.
Personen, die sich Untersuchungen, Prüfungen oder ähnlichen Maßnahmen unterziehen, die aufgrund von Rechtsvorschriften zur Aufnahme einer versicherten Tätigkeit oder infolge einer abgeschlossenen versicherten Tätigkeit erforderlich sind, soweit diese Maßnahmen vom Unternehmen oder einer Behörde veranlaßt worden sind,
4.
behinderte Menschen, die in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen, bei einem anderen Leistungsanbieter nach § 60 des Neunten Buches oder in Blindenwerkstätten im Sinne des § 226 des Neunten Buches oder für diese Einrichtungen in Heimarbeit tätig sind,
5.
Personen, die
a)
Unternehmer eines landwirtschaftlichen Unternehmens sind und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner,
b)
im landwirtschaftlichen Unternehmen nicht nur vorübergehend mitarbeitende Familienangehörige sind,
c)
in landwirtschaftlichen Unternehmen in der Rechtsform von Kapital- oder Personenhandelsgesellschaften regelmäßig wie Unternehmer selbständig tätig sind,
d)
ehrenamtlich in Unternehmen tätig sind, die unmittelbar der Sicherung, Überwachung oder Förderung der Landwirtschaft überwiegend dienen,
e)
ehrenamtlich in den Berufsverbänden der Landwirtschaft tätig sind,
wenn für das Unternehmen die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft zuständig ist.
6.
Hausgewerbetreibende und Zwischenmeister sowie ihre mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner,
7.
selbständig tätige Küstenschiffer und Küstenfischer, die zur Besatzung ihres Fahrzeugs gehören oder als Küstenfischer ohne Fahrzeug fischen und regelmäßig nicht mehr als vier Arbeitnehmer beschäftigen, sowie ihre mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner,
8.
a)
Kinder während des Besuchs von Tageseinrichtungen, deren Träger für den Betrieb der Einrichtungen der Erlaubnis nach § 45 des Achten Buches oder einer Erlaubnis aufgrund einer entsprechenden landesrechtlichen Regelung bedürfen, während der Betreuung durch geeignete Tagespflegepersonen im Sinne von § 23 des Achten Buches sowie während der Teilnahme an vorschulischen Sprachförderungskursen, wenn die Teilnahme auf Grund landesrechtlicher Regelungen erfolgt,
b)
Schüler während des Besuchs von allgemein- oder berufsbildenden Schulen und während der Teilnahme an unmittelbar vor oder nach dem Unterricht von der Schule oder im Zusammenwirken mit ihr durchgeführten Betreuungsmaßnahmen,
c)
Studierende während der Aus- und Fortbildung an Hochschulen,
9.
Personen, die selbständig oder unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich im Gesundheitswesen oder in der Wohlfahrtspflege tätig sind,
10.
Personen, die
a)
für Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts oder deren Verbände oder Arbeitsgemeinschaften, für die in den Nummern 2 und 8 genannten Einrichtungen oder für privatrechtliche Organisationen im Auftrag oder mit ausdrücklicher Einwilligung, in besonderen Fällen mit schriftlicher Genehmigung von Gebietskörperschaften ehrenamtlich tätig sind oder an Ausbildungsveranstaltungen für diese Tätigkeit teilnehmen,
b)
für öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften und deren Einrichtungen oder für privatrechtliche Organisationen im Auftrag oder mit ausdrücklicher Einwilligung, in besonderen Fällen mit schriftlicher Genehmigung von öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften ehrenamtlich tätig sind oder an Ausbildungsveranstaltungen für diese Tätigkeit teilnehmen,
11.
Personen, die
a)
von einer Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts zur Unterstützung einer Diensthandlung herangezogen werden,
b)
von einer dazu berechtigten öffentlichen Stelle als Zeugen zur Beweiserhebung herangezogen werden,
12.
Personen, die in Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen oder im Zivilschutz unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich tätig sind oder an Ausbildungsveranstaltungen dieser Unternehmen einschließlich der satzungsmäßigen Veranstaltungen, die der Nachwuchsförderung dienen, teilnehmen,
13.
Personen, die
a)
bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisten oder einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retten,
b)
Blut oder körpereigene Organe, Organteile oder Gewebe spenden oder bei denen Voruntersuchungen oder Nachsorgemaßnahmen anlässlich der Spende vorgenommen werden,
c)
sich bei der Verfolgung oder Festnahme einer Person, die einer Straftat verdächtig ist oder zum Schutz eines widerrechtlich Angegriffenen persönlich einsetzen,
d)
Tätigkeiten als Notärztin oder Notarzt im Rettungsdienst ausüben, wenn diese Tätigkeiten neben
aa)
einer Beschäftigung mit einem Umfang von regelmäßig mindestens 15 Stunden wöchentlich außerhalb des Rettungsdienstes oder
bb)
einer Tätigkeit als zugelassener Vertragsarzt oder als Arzt in privater Niederlassung
ausgeübt werden,
14.
Personen, die
a)
nach den Vorschriften des Zweiten oder des Dritten Buches der Meldepflicht unterliegen, wenn sie einer besonderen, an sie im Einzelfall gerichteten Aufforderung der Bundesagentur für Arbeit, des nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 des Zweiten Buches zuständigen Trägers oder eines nach § 6a des Zweiten Buches zugelassenen kommunalen Trägers nachkommen, diese oder eine andere Stelle aufzusuchen,
b)
an einer Maßnahme teilnehmen, wenn die Person selbst oder die Maßnahme über die Bundesagentur für Arbeit, einen nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 des Zweiten Buches zuständigen Träger oder einen nach § 6a des Zweiten Buches zugelassenen kommunalen Träger gefördert wird,
15.
Personen, die
a)
auf Kosten einer Krankenkasse oder eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung oder der landwirtschaftlichen Alterskasse stationäre oder teilstationäre Behandlung oder stationäre, teilstationäre oder ambulante Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erhalten,
b)
zur Vorbereitung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auf Aufforderung eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung oder der Bundesagentur für Arbeit einen dieser Träger oder eine andere Stelle aufsuchen,
c)
auf Kosten eines Unfallversicherungsträgers an vorbeugenden Maßnahmen nach § 3 der Berufskrankheiten-Verordnung teilnehmen,
d)
auf Kosten eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung, der landwirtschaftlichen Alterskasse oder eines Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung an Präventionsmaßnahmen teilnehmen,
16.
Personen, die bei der Schaffung öffentlich geförderten Wohnraums im Sinne des Zweiten Wohnungsbaugesetzes oder im Rahmen der sozialen Wohnraumförderung bei der Schaffung von Wohnraum im Sinne des § 16 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 des Wohnraumförderungsgesetzes oder entsprechender landesrechtlicher Regelungen im Rahmen der Selbsthilfe tätig sind,
17.
Pflegepersonen im Sinne des § 19 Satz 1 und 2 des Elften Buches bei der Pflege eines Pflegebedürftigen mit mindestens Pflegegrad 2 im Sinne der §§ 14 und 15 Absatz 3 des Elften Buches; die versicherte Tätigkeit umfasst pflegerische Maßnahmen in den in § 14 Absatz 2 des Elften Buches genannten Bereichen sowie Hilfen bei der Haushaltsführung nach § 18 Absatz 5a Satz 3 Nummer 2 des Elften Buches.

(1a) Versichert sind auch Personen, die nach Erfüllung der Schulpflicht auf der Grundlage einer schriftlichen Vereinbarung im Dienst eines geeigneten Trägers im Umfang von durchschnittlich mindestens acht Wochenstunden und für die Dauer von mindestens sechs Monaten als Freiwillige einen Freiwilligendienst aller Generationen unentgeltlich leisten. Als Träger des Freiwilligendienstes aller Generationen geeignet sind inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts oder unter § 5 Abs. 1 Nr. 9 des Körperschaftsteuergesetzes fallende Einrichtungen zur Förderung gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Zwecke (§§ 52 bis 54 der Abgabenordnung), wenn sie die Haftpflichtversicherung und eine kontinuierliche Begleitung der Freiwilligen und deren Fort- und Weiterbildung im Umfang von mindestens durchschnittlich 60 Stunden je Jahr sicherstellen. Die Träger haben fortlaufende Aufzeichnungen zu führen über die bei ihnen nach Satz 1 tätigen Personen, die Art und den Umfang der Tätigkeiten und die Einsatzorte. Die Aufzeichnungen sind mindestens fünf Jahre lang aufzubewahren.

(2) Ferner sind Personen versichert, die wie nach Absatz 1 Nr. 1 Versicherte tätig werden. Satz 1 gilt auch für Personen, die während einer aufgrund eines Gesetzes angeordneten Freiheitsentziehung oder aufgrund einer strafrichterlichen, staatsanwaltlichen oder jugendbehördlichen Anordnung wie Beschäftigte tätig werden.

(3) Absatz 1 Nr. 1 gilt auch für

1.
Personen, die im Ausland bei einer amtlichen Vertretung des Bundes oder der Länder oder bei deren Leitern, Mitgliedern oder Bediensteten beschäftigt und in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 4 Absatz 1 Satz 2 des Sechsten Buches pflichtversichert sind,
2.
Personen, die
a)
im Sinne des Entwicklungshelfer-Gesetzes Entwicklungsdienst oder Vorbereitungsdienst leisten,
b)
einen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst „weltwärts” im Sinne der Richtlinie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vom 1. August 2007 (BAnz. 2008 S. 1297) leisten,
c)
einen Internationalen Jugendfreiwilligendienst im Sinne der Richtlinie Internationaler Jugendfreiwilligendienst des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 20. Dezember 2010 (GMBl S. 1778) leisten,
3.
Personen, die
a)
eine Tätigkeit bei einer zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Organisation ausüben und deren Beschäftigungsverhältnis im öffentlichen Dienst während dieser Zeit ruht,
b)
als Lehrkräfte vom Auswärtigen Amt durch das Bundesverwaltungsamt an Schulen im Ausland vermittelt worden sind oder
c)
für ihre Tätigkeit bei internationalen Einsätzen zur zivilen Krisenprävention als Sekundierte nach dem Sekundierungsgesetz abgesichert werden.
Die Versicherung nach Satz 1 Nummer 3 Buchstabe a und c erstreckt sich auch auf Unfälle oder Krankheiten, die infolge einer Verschleppung oder einer Gefangenschaft eintreten oder darauf beruhen, dass der Versicherte aus sonstigen mit seiner Tätigkeit zusammenhängenden Gründen, die er nicht zu vertreten hat, dem Einflussbereich seines Arbeitgebers oder der für die Durchführung seines Einsatzes verantwortlichen Einrichtung entzogen ist. Gleiches gilt, wenn Unfälle oder Krankheiten auf gesundheitsschädigende oder sonst vom Inland wesentlich abweichende Verhältnisse bei der Tätigkeit oder dem Einsatz im Ausland zurückzuführen sind. Soweit die Absätze 1 bis 2 weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Tätigkeit voraussetzen, gelten sie abweichend von § 3 Nr. 2 des Vierten Buches für alle Personen, die die in diesen Absätzen genannten Tätigkeiten im Inland ausüben; § 4 des Vierten Buches gilt entsprechend. Absatz 1 Nr. 13 gilt auch für Personen, die im Ausland tätig werden, wenn sie im Inland ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

(4) Familienangehörige im Sinne des Absatzes 1 Nr. 5 Buchstabe b sind

1.
Verwandte bis zum dritten Grade,
2.
Verschwägerte bis zum zweiten Grade,
3.
Pflegekinder (§ 56 Abs. 2 Nr. 2 des Ersten Buches)
der Unternehmer, ihrer Ehegatten oder ihrer Lebenspartner.

(1) Die Satzung kann bestimmen, daß und unter welchen Voraussetzungen sich die Versicherung erstreckt auf

1.
Unternehmer und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner,
2.
Personen, die sich auf der Unternehmensstätte aufhalten; § 2 Absatz 3 Satz 4 erster Halbsatz gilt entsprechend,
3.
Personen, die
a)
im Ausland bei einer staatlichen deutschen Einrichtung beschäftigt werden,
b)
im Ausland von einer staatlichen deutschen Einrichtung anderen Staaten zur Arbeitsleistung zur Verfügung gestellt werden;
Versicherungsschutz besteht nur, soweit die Personen nach dem Recht des Beschäftigungsstaates nicht unfallversichert sind,
4.
ehrenamtlich Tätige und bürgerschaftlich Engagierte,
5.
Kinder und Jugendliche während der Teilnahme an Sprachförderungskursen, wenn die Teilnahme auf Grund landesrechtlicher Regelungen erfolgt.

(2) Absatz 1 gilt nicht für

1.
Haushaltsführende,
2.
Unternehmer von nicht gewerbsmäßig betriebenen Binnenfischereien oder Imkereien und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner,
3.
Personen, die aufgrund einer vom Fischerei- oder Jagdausübungsberechtigten erteilten Erlaubnis als Fischerei- oder Jagdgast fischen oder jagen,
4.
Reeder, die nicht zur Besatzung des Fahrzeugs gehören, und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner.

(1) Auf schriftlichen oder elektronischen Antrag können sich versichern

1.
Unternehmer und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner; ausgenommen sind Haushaltsführende, Unternehmer von nicht gewerbsmäßig betriebenen Binnenfischereien, von nicht gewerbsmäßig betriebenen Unternehmen nach § 123 Abs. 1 Nr. 2 und ihre Ehegatten oder Lebenspartner sowie Fischerei- und Jagdgäste,
2.
Personen, die in Kapital- oder Personenhandelsgesellschaften regelmäßig wie Unternehmer selbständig tätig sind,
3.
gewählte oder beauftragte Ehrenamtsträger in gemeinnützigen Organisationen,
4.
Personen, die in Verbandsgremien und Kommissionen für Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften sowie anderen selbständigen Arbeitnehmervereinigungen mit sozial- oder berufspolitischer Zielsetzung (sonstige Arbeitnehmervereinigungen) ehrenamtlich tätig sind oder an Ausbildungsveranstaltungen für diese Tätigkeit teilnehmen,
5.
Personen, die ehrenamtlich für Parteien im Sinne des Parteiengesetzes tätig sind oder an Ausbildungsveranstaltungen für diese Tätigkeit teilnehmen.
In den Fällen des Satzes 1 Nummer 3 kann auch die Organisation, für die die Ehrenamtsträger tätig sind, oder ein Verband, in dem die Organisation Mitglied ist, den Antrag stellen; eine namentliche Bezeichnung der Versicherten ist in diesen Fällen nicht erforderlich. In den Fällen des Satzes 1 Nummer 4 und 5 gilt Satz 2 entsprechend.

(2) Die Versicherung beginnt mit dem Tag, der dem Eingang des Antrags folgt. Die Versicherung erlischt, wenn der Beitrag oder Beitragsvorschuß binnen zwei Monaten nach Fälligkeit nicht gezahlt worden ist. Eine Neuanmeldung bleibt so lange unwirksam, bis der rückständige Beitrag oder Beitragsvorschuß entrichtet worden ist.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27. März 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Anerkennung der Berufskrankheit "Druckschädigung der Nerven" nach der Nummer 2106 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BK 2106).

2

Der 1952 geborene Kläger war seit 1970 als mithelfendes Familienmitglied auf einem Obstbauernhof erwerbstätig. 1985 übernahm er dieses Unternehmen und führte es bis 2004. Im Jahre 2002 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass er seit 1997 an Beschwerden im Bereich des Halses und der linken Schulter mit Ausstrahlung in den linken Arm und Brustkorb leide, was er auf seine berufliche Tätigkeit zurückführe. Die Beklagte lehnte die Anerkennung einer BK 2106 ab (Bescheid vom 7.10.2003, Widerspruchsbescheid vom 1.2.2005).

3

Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 5.5.2010 die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, das Thoracic-Outlet-Syndrom (TOS) ab 10.11.2005 als BK 2106 anzuerkennen und den Kläger mit einer Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH zu entschädigen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG durch Urteil vom 27.3.2014 den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben sowie die Klage ab- und die Anschlussberufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Beim Kläger lasse sich das Vorliegen einer BK 2106 nicht feststellen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in der ersten Instanz sei zwar davon auszugehen, dass beim Kläger ein TOS vorliege. Zweifelhaft erscheine hingegen, ob der Kläger die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2106 erfülle. Letztlich könnten diese Zweifel jedoch dahinstehen, weil das beim Kläger festgestellte TOS nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch seine Tätigkeit als Obstbauer und insbesondere nicht durch das Tragen einer Pflückschürze bei der Apfelernte verursacht worden sei. Es spreche insbesondere gegen den ursächlichen Zusammenhang, dass das TOS nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. F. kein Störungsbild sei, bei dem die Nervenfasern durch direkte Einwirkung von außen geschädigt werden, sondern es sich vielmehr um ein Engpasssyndrom handele. Die Besonderheit des TOS liege darin, dass die Reibung nicht durch Druck von außen, sondern durch die körpereigenen Strukturen selbst verursacht werde, während die unter die BK 2106 fallenden Krankheitsbilder typischerweise durch eine Bedrückung des Nerven in Gelenknähe bedingt durch die unphysiologische Beanspruchung des Gelenks geprägt seien. Die anders lautende Einschätzung des Sachverständigen Dr. K. überzeuge nicht, weil dieser selbst dargelegt habe, dass es in der medizinischen Wissenschaft kaum Literatur zur Beurteilung exogener Einflüsse auf die Verursachung eines TOS gebe. Dies erlaube zwar nicht den Umkehrschluss, dass die Entstehung eines TOS durch äußere Belastung nicht möglich sei. Für die Anerkennung einer BK 2106 genüge die bloße Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs jedoch nicht. Nach der Rechtsprechung des BSG sei bei der Beurteilung von Ursachenzusammenhängen der jeweils neueste anerkannte Stand des einschlägigen Erfahrungswissens zugrundezulegen. Wenn sich nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Amtsermittlung ein solcher von der Mehrheit der Fachwissenschaftler anerkannter neuester Erfahrungsstand nicht feststellen lasse, komme grundsätzlich eine Entscheidung nach Beweislast in Betracht. Der Kläger trage hier die Beweislast für die berufliche Verursachung seiner Erkrankung. Dass das Merkblatt zur BK 2106 auch das Krankheitsbild des TOS als durch arbeitsbedingte Belastungen verursachte Druckschädigung der Nerven nenne, führe nicht zu einer anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage. Den Merkblättern komme nur die Bedeutung einer Informationsquelle für die Praxis zu, ohne dass sie rechtliche Verbindlichkeit hätten. Schließlich spreche gegen eine Verursachung des beim Kläger vorliegenden TOS durch seine frühere Tätigkeit als Obstbauer, dass nach den Angaben der Beklagten in den Jahren 2002 bis 2008 zwar sechs Verdachtsfälle eines TOS als BK 2106 der DGUV gemeldet worden seien, sich hierunter jedoch kein Angehöriger der Berufsgruppe des Klägers befunden habe. Bei gleichartigen Arbeitsmethoden sei hinsichtlich des Einsatzes von Pflückschürzen statistisch mit dem Auftreten weiterer TOS-Erkrankungen zu rechnen gewesen.

4

Der Kläger rügt mit seiner Revision eine Verletzung des § 9 Abs 1 SGB VII iVm BK 2106. Das LSG habe sein Urteil im Wesentlichen auf das in erster Instanz eingeholte Gutachten des Dr. F. gestützt, nach dem das Vorliegen der BK 2106 einen Druck von außen voraussetze. Damit habe das LSG zu Unrecht die Formulierung "Druckschädigung der Nerven" ausschließlich einer Druckeinwirkung von außen gleichgestellt. Tatsächlich habe der Verordnungsgeber Nervenschädigungen sowohl durch Druck von außen als auch von innen berücksichtigen wollen, wie der wissenschaftlichen Begründung des Ärztlichen Sachverständigenrates beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Sektion Berufskrankheiten vom 1.8.2001 zu entnehmen sei. Unter Ziffer 3 dieser wissenschaftlichen Begründung werde das TOS ausdrücklich als typisches Krankheitsbild der BK 2106 genannt. Soweit es sich auf die Stellungnahme des Dr. S. stütze, der das Vorliegen eines TOS verneint habe, habe das LSG nicht ohne Verstoß gegen die Denkgesetze einerseits das Vorliegen eines TOS annehmen, andererseits aber deren Ablehnung als BK mit der Auffassung des Dr. S. begründen können. Auch der Verweis auf die Statistiken der DGUV habe angesichts der Vielzahl an Berufsgruppen, bei denen das Vorliegen eines beruflich bedingten TOS in Betracht komme, keinerlei Aussagekraft.

5

Der Kläger beantragt,

1.    

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27. März 2014 aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

2.    

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 5. Mai 2010 zu ändern und ihm Verletztenrente in Höhe von mehr als 25 vH zu bewilligen.

6

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Zutreffend sei das LSG davon ausgegangen, dass ein TOS in der Ausprägung des Syndroms der kosto-klavikulären Enge nicht zu den von der BK 2106 erfassten Krankheiten zähle, weil dieses nicht durch Druck von außen, sondern durch körpereigene Strukturen verursacht werde. Im Übrigen komme weder der wissenschaftlichen Begründung noch den Merkblättern rechtliche Verbindlichkeit zu.

Entscheidungsgründe

8

Die statthafte und zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen für eine abschließende Entscheidung durch den Senat nicht aus. Weder lässt sich danach beurteilen, welchen versicherten Einwirkungen iS der BK 2106 der Kläger im Einzelnen unterlegen ist noch ob diese nach dem neuesten Stand der medizinischen Wissenschaft geeignet waren, das beim Kläger bestehende (aber noch näher zu spezifizierende) TOS zu verursachen, das ebenfalls in seiner konkreten Ausprägung nicht festgestellt ist.

9

Die erhobenen Klagen sind als Anfechtungsklage gegen die ablehnenden Entscheidungen in dem Bescheid vom 7.10.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1.2.2005, verbunden mit der auf Feststellung einer BK gerichteten Klage und der auf Verurteilung zu der abgelehnten Rentenzahlung gerichteten unechten Leistungsklage zulässig (BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 14).

10

Rechtsgrundlage für die Anerkennung der BK ist § 9 Abs 1 SGB VII iVm BK 2106. BK 2106 (in der mit Wirkung vom 1.10.2002 geltenden Fassung vom 5.9.2002 ) lautet: "Druckschädigungen der Nerven". Nach § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist für die Feststellung einer Listen-BK (Versicherungsfall) erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität ) und diese Einwirkungen eine Krankheit (dazu unter B) verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität ). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (zuletzt Urteile des erkennenden Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 10, B 2 U 10/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 RdNr 11 sowie B 2 U 20/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8 RdNr 10; s auch BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 12; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4, RdNr 16 mwN; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14, RdNr 9 mwN; BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 412; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 14). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK, wohl aber für eine Leistung (Leistungsfall).

11

A. Nach den bindenden Feststellungen des LSG arbeitete der Kläger neben seiner Beschäftigung als Schriftsetzer und medizinisch-technischer Assistent seit 1970 als mithelfendes Familienmitglied auf einem Obstbauernhof, den er zum 1.10.1985 übernahm und bis 2004 führte. Er war daher bei dieser Tätigkeit "Versicherter" iS von zunächst § 2 Abs 1 Nr 5b SGB VII und sodann § 2 Abs 1 Nr 5a SGB VII.

12

Den Feststellungen des LSG lässt sich noch hinreichend entnehmen, dass der Kläger während seiner versicherten Tätigkeit der durch das Tatbestandsmerkmal "Druckschädigung ..." in der BK 2106 vorausgesetzten Einwirkung "Druck" in Form des Tragens einer mit bis zu 20 kg Äpfel gefüllten Pflückschürze während 8 bis 10 Wochen im Jahr unterlag. Der Tatbestand der BK 2106 enthält darüber hinaus keine normativen Vorgaben in Form einer Dosis oder Mindestdauer der erforderlichen Einwirkung.

13

B. Beim Kläger besteht auch nach den Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) eine Schädigung der Nerven als vom Verordnungstext vorausgesetzte Erkrankung in Form eines TOS, wenngleich das LSG die konkrete Variante dieses Symptoms nicht festgestellt hat (hierzu noch unter C).

14

Bei der BK 2106 handelt es sich um eine sog offene BK-Bezeichnung (vgl Spellbrink, BPUVZ 2012, 360, 362; ders SozSich 2013, 431 f; Bieresborn, NZS 2008, 354, 359), bei der die erforderliche Erkrankung nicht präzise umschrieben, sondern nur eine Krankheitsgruppe, nämlich "Druckschädigungen der Nerven", genannt wird. Anerkennungsfähig sind mithin hier alle Krankheiten dieser Gruppe, die durch die betreffende Einwirkung potentiell verursacht werden können. Um ein bestimmtes Krankheitsbild aus dem Schutzbereich dieser BK ausschließen zu können, muss demgegenüber feststehen, dass entweder diese Krankheit nach dem Willen des Verordnungsgebers nicht vom Schutzbereich der Norm umfasst sein sollte oder durch die jeweilige Einwirkung nicht verursacht werden kann. Ein solcher Ausschluss kann sich nur aus den Verordnungsmaterialien oder der wissenschaftlich festgestellten und allgemein anerkannten Wirkungsweise bestimmter Belastungen oder Expositionen ergeben (vgl Becker in Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky/Heinz, SGB VII, § 9 RdNr 149 f).Dabei genügt es nicht, diejenigen Erkenntnisse zugrundezulegen, die den Verordnungsgeber zur Aufnahme der Krankheit in die BK-Liste bewogen haben, sondern es sind die fortschreitenden Erkenntnisse der Wissenschaft hinsichtlich der Wirkungsweise der genannten Einwirkung zur Bestimmung des Schutzbereichs zugrundezulegen (s BSG vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 240 Nr 1, RdNr 15, zum Kehlkopfkarzinom nach ionisierenden Strahlen).

15

Beim TOS, das auch als neurovaskuläres oder Schultergürtel-Kompressionssyndrom bezeichnet wird, handelt es sich laut ICD-10, G54.1 um eine durch äußeren oder inneren Druck bewirkte Läsion des Plexus brachialis. Dass dieses Erkrankungsbild nach dem Willen des VO-Gebers nicht vom Schutzbereich der BK 2106 erfasst sein soll, lässt sich weder den Verordnungsmaterialien noch der wissenschaftlich festgestellten und allgemein anerkannten Wirkungsweise bestimmter Belastungen oder Expositionen entnehmen. So wird das TOS sowohl in der wissenschaftlichen Begründung (Wissenschaftliche Begründung zur BK Nr 2106: Druckschädigung der Nerven, Bekanntmachung des BMA vom 1.8.2001 - IVa 4-45222-2106; BArbBl 9/2001, S 59-63; 1.3.2.1.) als auch im Merkblatt (Bekanntmachung des BMA vom 1.10.2002, BArbBl 11/2002, S 62) ausdrücklich unter der Rubrik "Nervenschaden an der oberen Extremität" als "Armplexusschaden im Wurzelbereich (C4) C5-Th1" in Form einer "Engpassproblematik im Bereich der Skalenuslücken, der kosto-klavikulären Passage und/oder des Korakoids" aufgelistet. Dies zeigt, dass bei Einführung der BK 2106 mit dem jetzigen Wortlaut der für die wissenschaftliche Begründung von BKen maßgebliche Ärztliche Sachverständigenbeirat - Sektion "Berufskrankheiten" - beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung davon ausging, dass dieses Krankheitsbild vom Schutzbereich der BK 2106 umfasst sein sollte.

16

Zutreffend hat das LSG zwar darauf hingewiesen, dass diese Merkblätter weder verbindliche Konkretisierungen der Tatbestandsvoraussetzungen der BK noch antizipierte Sachverständigengutachten oder eine Dokumentation des Standes der einschlägigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft sind (BSG vom 11.8.1998 - B 2 U 261/97 B - HVBG-Info 1999, 1373). Sie sind jedoch als Interpretationshilfe und zur Ermittlung des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands heranzuziehen (zuletzt BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 20/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8 RdNr 15; BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 6/04 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 5 RdNr 15; BSG vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1, RdNr 17 mwN; BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 85 = NZS 2001, 605, 606; s auch BSG vom 22.8.2000 - B 2 U 34/99 R - SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2).

17

Anhaltspunkte dafür, dass inzwischen neuere wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, nach denen ein TOS nicht durch Druckbelastung verursacht werden kann und dementsprechend als anerkennungsfähiges Krankheitsbild aus dem Schutzbereich der BK 2106 ausscheidet, wurden dem Senat weder vorgetragen noch sind sie gerichtsbekannt. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats sind die die einzelnen Tatbestandsmerkmale der jeweiligen BK unterfütternden allgemeinen (generellen) Tatsachen, die für alle einschlägigen BKen-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind, anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands auch revisionsrechtlich überprüfbar (zuletzt BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 20, B 2 U 10/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 RdNr 20, B 2 U 20/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8 RdNr 33; dort auch mit Nachweisen zur älteren Senatsrechtsprechung und zur Rechtsprechung anderer Senate des BSG). Als aktueller Erkenntnisstand sind solche durch Forschung und praktische Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse anzusehen, die von der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt werden, über die also, von vereinzelten, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, Konsens besteht (vgl zuletzt BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 22; BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291, 295 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20).

18

Der Senat hat bereits in anderem Zusammenhang entschieden, dass einzelne Gegenstimmen nicht geeignet sind, einen einmal gebildeten wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu erschüttern, solange nicht die Mehrheit der Fachwissenschaftler den Erkenntnisstand aufkündigt. Diese Ausführungen bezogen sich zwar auf einen durch schriftliche Konsensempfehlungen konkretisierten wissenschaftlichen Erkenntnisstand (s jeweils zur BK 2108 BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 sowie BSG vom 25.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 22), sie gelten aber auch bei anderen BKen für die in der wissenschaftlichen Begründung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats, in Merkblättern und in der einschlägigen Fachliteratur geäußerten wissenschaftlichen Meinungen. Aus diesen Quellen folgt, dass ein TOS zumindest in den dort genannten Varianten des Krankheitsbildes durch äußeren Druck verursacht werden kann. Die einzige Quelle dafür, dass der dort zum Ausdruck kommende wissenschaftliche Erkenntnisstand veraltet sein könnte und daher nicht zugrunde gelegt werden dürfte, scheint das Gutachten des Dr. F. zu sein. Dieser behauptet ohne kritische Auseinandersetzung mit dem Inhalt der oben aufgeführten anderslautenden wissenschaftlichen Begründung, ein TOS könne ausschließlich durch innere Reibung ohne äußeren Druck verursacht werden. Dieser Aussage ist dann aber letztlich auch das LSG nicht gefolgt, weil es selbst die Verursachung eines TOS durch äußere Belastungen zumindest für möglich hält. Eine Änderung des in der wissenschaftlichen Begründung sowie in dem Merkblatt manifestierten Erkenntnisstands konnte das LSG schließlich auch nicht aus der Aussage des Sachverständigen Dr. K. ableiten, dass kaum Literatur zur Verursachung des TOS durch äußere Druckeinwirkung existiere.

19

C. Der Senat kann mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen aber nicht entscheiden, ob das LSG zu Recht den Ursachenzusammenhang zwischen den gefährdenden Einwirkungen iS der BK 2106 und dem festgestellten TOS verneint hat. Für die Anerkennung einer BK im konkreten Einzelfall ist neben der Kausalität zwischen der versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen (Einwirkungskausalität) ein Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen und der Erkrankung erforderlich. Für die streitige BK 2106 bedeutet dies, dass das beim Kläger festgestellte TOS durch die im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit erfolgte Einwirkung von Druck verursacht worden sein muss. Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung gilt im BKen-Recht, wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung, die Theorie der wesentlichen Bedingung (s zum Arbeitsunfall die Entscheidungen des erkennenden Senats vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 34 ff sowie BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37; zu BKen s BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - juris RdNr 32; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 13 sowie - B 2 U 26/04 R - juris RdNr 17), die zunächst auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht, nach der jedes Ereignis (jede Bedingung) Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Steht die versicherte Tätigkeit als eine der Wirkursachen fest, muss auf der zweiten Stufe die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestands fallenden Gefahr sein. Die Wesentlichkeit der Wirkursache ist zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils die Versicherung begründenden Norm zu beurteilen (zur Theorie der wesentlichen Bedingung: zuletzt eingehend BSG vom 17.12.2015 - B 2 U 8/14 R - ; BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37 sowie BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 = SozR 4-2700 § 11 Nr 1, RdNr 28 ff).

20

Vorliegend kann der Senat mangels ausreichender Feststellungen nicht entscheiden, ob im Fall des Klägers die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine positive Kausalitätsbeurteilung vorliegen, die das LSG - aus seiner Sicht konsequent - hat dahinstehen lassen (dazu unter 1.), sowie ob das LSG zu Recht die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen verneint hat (dazu unter 2.).

21

1. Der Senat kann anhand der Feststellungen des LSG nicht entscheiden, ob die (weiteren) arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine Anerkennung des TOS als BK 2106 gegeben sind. Bei den arbeitstechnischen Voraussetzungen handelt es sich um ein Element der Anspruchsprüfung einer BK, das zwei miteinander in Zusammenhang stehende Aspekte umfasst: das Vorhandensein der hier gegebenen (s oben A.) tatbestandlich vorausgesetzten Einwirkungen und die Kausalität zwischen diesen Einwirkungen und einer Erkrankung (BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 20/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8 RdNr 13; vgl Bieresborn, Die Umsetzung der BK 2108 aus sozialrechtlicher Sicht, in: Grosser/Schiltenwolf/Thomann , Berufskrankheit "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule" , Frankfurt 2014, S 179, 193). Eine wissenschaftlich begründete Ursachenbeurteilung erfordert, dass neben der Feststellung der vorliegenden Gesundheitsstörungen klar festgestellt wird, worin das oder die schädigenden Ereignisse lagen. Dem Urteil des LSG ist lediglich zu entnehmen, dass der Kläger im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit 8 bis 10 Wochen pro Jahr Kernobst mittels einer ca 20 kg Obst fassenden Pflückschürze geerntet hat.

22

Das Urteil des LSG enthält jedoch keine Feststellungen dazu, an welcher Stelle des Körpers die Druckeinwirkung erfolgte, insbesondere ob sich diese in Nähe des unteren Plexus brachialis befindet, den das LSG offenbar als geschädigt ansieht. Ohne diesbezügliche exakte Feststellung des oder der schädigenden Ereignisse und der naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhänge hinsichtlich der geltend gemachten Gesundheitsstörung kann eine zuverlässige Ursachenbeurteilung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und in Abwägung der verschiedenen Gesichtspunkte für die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Ursache nicht erfolgen, weil die Ereignisse und Ursachen nicht zueinander in Verhältnis gesetzt und nicht in die Krankheitsgeschichte des Verletzten eingeordnet werden können (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 30).

23

Dies gilt umso mehr, als nach der einschlägigen arbeitsmedizinischen Literatur für das Vorliegen einer BK 2106 eine eindeutige Beziehung zwischen der Lokalisation des einwirkenden Drucks und dem anatomisch zuzuordnenden klinisch-neurologischen Befund kennzeichnend ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, S 232). Erst wenn diesbezügliche Feststellungen nachgeholt wurden, kann entschieden werden, ob eine Dauer dieser belastenden Tätigkeit von 8 bis 10 Wochen im Jahr bei ebenfalls noch festzustellender Tagesdauer geeignet war, das beim Kläger bestehende Krankheitsbild zu verursachen. Hierbei wird das LSG zu beachten haben, dass weder der Verordnungstext, noch die wissenschaftliche Begründung zur Abänderung des VO-Textes der BK 2106 (Druckschädigung der Nerven, Bekanntmachung des BMA vom 1.8.2001 - IVa 4-45222-2106; BArbBl 9/2001, S 59-63; 1.3.2.1.), das hierzu zuletzt veröffentlichte Merkblatt (Bekanntmachung des BMA vom 1.10.2002, BArbBl 11/2002, S 62) oder die aktuelle Fachliteratur zur BK 2106 Angaben in Hinblick auf Höhe und Intensität (Dosis) der Einwirkung enthalten.

24

Das LSG wird aber auch Feststellungen dazu nachzuholen haben, ob bei dem Kläger - abgesehen vom Tragen der Obstschürze - weitere beruflich veranlasste Bewegungsabläufe vorlagen, die geeignet waren, ein TOS zu verursachen.Sowohl in der wissenschaftlichen Begründung, als auch in dem hierzu zuletzt veröffentlichten Merkblatt sowie der einschlägigen Fachliteratur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, S 235) werden neben "Lastendruck auf der Schulter" auch "repetitive Abduktions- und Adduktionsbewegungen im Schultergelenk" sowie "Überkopfarbeiten mit nach hinten gestrecktem Arm"als bekannte arbeitsbedingte Gelenkbelastungen aufgelistet, die bei Pflücktätigkeiten eines Obstbauern zumindest nicht gänzlich fernliegend erscheinen.

25

Auf das Vorhandensein einer in Höhe und Intensität geeigneten Druckeinwirkung lässt sich hingegen nicht alleine aufgrund des bindend festgestellten Krankheitsbildes des TOS schließen, weil dieses wiederum nicht zwingend durch eine äußere Druckeinwirkung verursacht wird. Vielmehr ergibt sich aus weiteren, dem jeweiligen Rechtsanwender zugänglichen Quellen, dass das TOS durchaus aufgrund innerer Ursachen wie anatomischer Varianten oder sonstiger Dispositionen entstehen kann (Sadeghi-Azandaryani, Das Thoracic-Outlet-Syndrom: Diagnostik, Therapie und Ergebnisse der Münchner Studie, Dissertation München, 2004, S 8 f; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, S 234).

26

2. Der Senat kann mangels ausreichender Feststellungen des LSG ebenso wenig entscheiden, ob die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für die Bejahung des erforderlichen Ursachenzusammenhangs zwischen gefährdenden Einwirkungen iS der BK 2106 und dem beim Kläger festgestellten TOS, dessen Vorliegen das Berufungsgericht als nicht hinreichend wahrscheinlich abgelehnt hat, gegeben sind (dazu unter a). Ferner wird das LSG ggf bei einer erneuten Beweiswürdigung die Anwendbarkeit des § 9 Abs 3 SGB VII zu erwägen haben(dazu unter b).

27

a) Die sogenannten arbeitsmedizinischen Voraussetzungen betreffen ebenfalls zwei Aspekte der Anerkennungsvoraussetzungen, nämlich zum einen das Vorliegen der tatbestandlich vorausgesetzten Krankheit (was hier gegeben ist, s oben B.), zum anderen das Vorliegen eines Schadensbildes, welches mit der rechtlich-wesentlichen Verursachung dieser Krankheit durch die beruflichen Einwirkungen zumindest im Einklang steht (BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 18).

28

Die naturwissenschaftliche Kausalitätsprüfung ist zwar eine der revisionsrechtlichen Bindung fähige tatsächliche Feststellung der Instanzgerichte (vgl Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, § 163 RdNr 9). Eine solche bindende Wirkung besteht jedoch dann nicht, wenn das LSG von einem offenkundig falschen medizinischen Erfahrungssatz ausgegangen ist oder bestehende Erfahrungssätze nicht angewandt hat (vgl BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 RdNr 20, sowie BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - UV-Recht Aktuell 2010, 418) oder eine solche fehlerhafte Anwendung zulässig gerügt wird (vgl hierzu BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 20). Die heranzuziehenden Quellen-, Fachbücher, Standardwerke, Merkblätter des zuständigen Ministeriums, Begründungen des Sachverständigenbeirats, Konsensempfehlungen etc hat das Gericht eigenständig kritisch zu würdigen und auf ihre Aktualität hin - ggf durch Sachverständige - zu überprüfen (vgl BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 100/12 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 24 RdNr 18; BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 69; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 20; vgl auch BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17 mwN).

29

Das LSG hat hierbei die Grenzen der Befugnis zur freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) überschritten. Bei seiner Entscheidungsfindung, ob im Falle des Klägers die Verursachung des TOS durch die durch das Tragen der Obstschürze entstandene Druckbelastung hinreichend wahrscheinlich ist, durfte es nicht davon ausgehen, dass das Merkblatt zur BK 2106 nicht mehr den tatsächlichen aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand wiedergebe und mangels vorhandener weiterer Literatur kein aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand zur Verursachung des TOS durch exogene Einflüsse existiere. Soweit das LSG deshalb nach Beweislastgrundsätzen entschieden hat, verkürzt es in unzulässiger Weise die zu diesem Themenkomplex anzuwendenden medizinischen Erfahrungssätze. Wie oben ausgeführt, werden sowohl in der wissenschaftlichen Begründung zur Abänderung des VO-Textes der BK 2106 als auch in dem hierzu zuletzt veröffentlichten Merkblatt sowie der einschlägigen Fachliteratur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, S 235) jeweils "Lastendruck auf der Schulter" neben "repetitiven Abduktions- und Adduktionsbewegungen im Schultergelenk, Überkopfarbeiten mit nach hinten gestrecktem Arm, Spielen von Streichinstrumenten und damit Gelenkbelastungen" als bekannte arbeitsbedingte Belastungen im Zusammenhang mit typischen morphologischen Schädigungsmöglichkeiten genannt.

30

Soweit das LSG nach den Grundsätzen der sog objektiven Beweislast entschieden hat, vermischt es zudem in unzulässiger Weise die Frage, ob ein konkretes Sachverständigengutachten als verwertbares Beweismittel die Kausalität im Einzelfall stützt mit der Frage, ob bei sich widersprechenden Gutachten mangels aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands letztlich nicht entschieden werden kann, welchem der Gutachten zu folgen ist. Die Grundsätze der objektiven Beweislast (Feststellungslast) greifen erst ein, wenn der Tatrichter keine Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit einer streitigen und entscheidungserheblichen Tatsachenbehauptung gewinnen kann ("non liquet") (vgl zB BSG vom 26.11.1992 - 7 RAr 38/92 - BSGE 71, 256 = SozR 3-4100 § 119 Nr 7, RdNr 23). Im sozialgerichtlichen Verfahren stellt sich die Frage der Beweislastverteilung daher erst, wenn es dem Tatrichter trotz Erfüllung seiner insbesondere durch § 103 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG begründeten Pflicht zur eingehenden Erforschung des Sachverhalts und zur sorgfältigen Würdigung der erhobenen Beweise nicht gelungen ist, eine in tatsächlicher Hinsicht bestehende Ungewissheit zu beseitigen(stRspr, BSG vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - juris RdNr 20; Urteil vom 8.9.2010 - B 11 AL 4/09 R - juris RdNr 17; BSG vom 24.5.2006 - B 11a AL 7/05 R - BSGE 96, 238 = SozR 4-4220 § 6 Nr 4, RdNr 32). Dies gilt auch, wenn der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand im Streit steht, dessen fehlende Existenz mit der Folge einer Beweislastentscheidung erst nach entsprechenden Anstrengungen und der Sichtung staatlicher Merkblätter, Empfehlungen der Fachverbände, wissenschaftlicher Literatur etc festgestellt werden darf (vgl BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 61).

31

Das LSG führt zwar zutreffend aus, dass die Kausalitätsfeststellung nicht alleine auf das Vorliegen einer geeigneten Einwirkung und eines klinisch definierten Krankheitsbildes gestützt werden kann, weil angesichts der multifaktoriellen Entstehung vieler BKen es keinen Automatismus der Bejahung des Ursachenzusammenhangs allein aufgrund des Vorliegens entsprechender Einwirkungen und einer bestimmten Erkrankung gibt (s BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 19 sowie BSG vom 30.1.2007 - B 2 U 15/05 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2 RdNr 23). Es existiert keine zwingende Regel, dass bei fehlender Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexem Krankheitsgeschehen regelmäßig zu einer Anerkennung der BK führen würde (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 20; BSG vom 7.9.2004 - B 2 U 34/03 R - juris RdNr 22; s zur Unfallkausalität beim Arbeitsunfall BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 52). Andererseits ist es grundsätzlich denkbar, dass bei einem klar erkennbaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung dieser alleine für die Bejahung der Kausalität genügt, wenn keine Anhaltspunkte für eine alternative (innere oder äußere) Ursache für die Erkrankung bestehen (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 20; vgl zu typischen Geschehensabläufen beim Arbeitsunfall BSG vom 31.1.2012 - B 2 U 2/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 43 RdNr 30; s auch bereits BSG vom 21.11.1958 - 5 RKn 33/57 - BSGE 8, 245, 247; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr 9 ff; s zum zulässigen Schluss von einer berufsbedingt erhöhten Ansteckungsgefahr auf eine berufliche Ursache der aufgetretenen Infektionskrankheit, wenn neben der Gefährdung durch die versicherte Tätigkeit keine anderen, dem privaten Lebensbereich zuzuordnenden Infektionsrisiken bestanden haben BSG vom 21.3.2006 - B 2 U 19/05 R - juris RdNr 16; vgl zur Verursachung von Meniskusschäden bei Bergleuten BSG vom 27.11.1986 - 5a RKnU 3/85 - SozR 5670 Anl 1 Nr 2102 Nr 2 RdNr 12). Daher ist es weder dem Gutachter noch dem erkennenden Gericht verwehrt, im Einzelfall anhand der Gesamtumstände bei Vorliegen einer für die Schadensverursachung geeigneten Einwirkung sowie einem belastungskonformen Schadensbild bei fehlenden Anhaltspunkten für eine alternative äußere oder innere Verursachung die naturwissenschaftliche Kausalität zu bejahen.

32

Daher wird das LSG nicht nur Feststellungen dazu, an welcher Stelle des Körpers Druck auf den Kläger eingewirkt hat und ob dieser Druck in Höhe und Intensität zur Verursachung des TOS ausreichte, nachzuholen haben, sondern auch dazu, ob im Falle des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass das bei ihm diagnostizierte TOS auch ohne Druckbelastung von außen zB alleine durch innere schicksalhafte oder degenerative Ursachen entstanden ist (vgl BSG vom 27.11.1986 - 5a RKnU 3/85 - SozR 5670 Anl 1 Nr 2102 Nr 2 RdNr 12). Hierzu wird das LSG auch festzustellen haben, welche Variante des TOS beim Kläger besteht und insbesondere an welcher Stelle der Plexus brachialis geschädigt ist. Bereits aus der wissenschaftlichen Begründung und dem Merkblatt ergibt sich - wie bereits ausgeführt -, dass ein durch Druckeinwirkung verursachbares TOS in verschiedenen Varianten bekannt ist, nämlich in Form einer Engpassproblematik im Bereich der Skalenuslücken, der kosto-klavikulären Passage und/oder des Korakoids. Aus der einschlägigen Fachliteratur ergeben sich darüber hinaus weitere Differenzierungen wie das Scalenus-anterior-Syndrom, wenn der Musculus scalenus anterior betroffen ist, sowie das Hyperabduktionssyndrom oder Pectoralis-minor-Syndrom, wenn das Gefäßnervenbündel im Korakopektoralraum betroffen ist. Schließlich ist das Thoracic-inlet-Syndrom als Sonderform des TOS bekannt, das durch die Kompression der Vena subclavia und dadurch entstehende venöse Abflussstörungen verursacht wird (s zum Vorstehenden Sadeghi-Azandaryani, Das Thoracic-Outlet-Syndrom: Diagnostik, Therapie und Ergebnisse der Münchner Studie, Dissertation München, 2004, S 8 f).

33

Erst nach Feststellung der genauen Variante des beim Kläger bestehenden TOS und des Ortes der Druckeinwirkungen lassen sich Aussagen zum Pathomechanismus und damit dazu, ob die Druckeinwirkung überhaupt Wirkursache für das konkrete Erkrankungsbild war, treffen. In diesem Zusammenhang wird das LSG unter Umständen auch den zeitlichen Verlauf der Erkrankung im Verhältnis zum Einwirkungszeitraum zu würdigen haben. Da es selbst vom Vorliegen des Krankheitsbildes TOS ausgeht, wird es nicht den Beweiswert etwaiger positiver Gutachten mit dem Hinweis auf die Stellungnahme von Dr. S. negieren können, der offenkundig das Bestehen des TOS verneint. Auch wird das LSG dem Umstand, dass 2002 bis 2008 nur sechs Verdachtsfälle eines TOS als BK 2106 gemeldet worden sind, worunter sich kein Angehöriger der Berufsgruppe des Klägers befunden hat, keine den Kausalitätsnachweis ausschließende Wirkung beimessen können, weil entscheidend alleine die konkrete Belastung und das Erkrankungsbild sind (vgl aber zu erforderlichen, auf eine bestimmte Berufsgruppe bezogene Erkenntnisse zur Bejahung einer Wie BK nach § 9 Abs 2 SGB VII: BSG vom 18.6.2013 - B 2 U 6/12 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 22 RdNr 17 ff).

34

b) Wäre die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer allein wesentlichen außerberuflichen wie zB einer inneren Verursachung zu verneinen, käme durchaus der Schluss in Betracht, dass eine vorhandene geeignete berufliche Einwirkung - die vom LSG offengelassen wurde - auch ein geeignetes Krankheitsbild verursacht hat. In diesem Zusammenhang wird das LSG auch zu erwägen haben, ob die in § 9 Abs 3 SGB VII vorgegebenen normativen Voraussetzungen in Form des Bestehens einer erhöhten Gefahr der Erkrankung aufgrund besonderer Bedingungen der versicherten Tätigkeit unter Umständen aufgrund der Kumulation verschiedener gefährdender Tätigkeiten iS der BK 2106 gegeben sind.

35

Im Anschluss daran wäre ggf über die Wesentlichkeit der beruflichen Ursache zu entscheiden. Erst wenn die bei versicherten Tätigkeiten erfahrene Einwirkung als eine der Wirkursachen feststeht, kommt es auf der zweiten Stufe darauf an, dass die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr ist. Die Wesentlichkeit der Wirkursache ist zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks des die Unfallversicherung jeweils begründenden normativen Tatbestands zu beurteilen. Die Wesentlichkeit einer Bedingung ist eine reine (im Übrigen nicht durch den Sachverständigen beantwortbare) Rechtsfrage (zur Theorie der wesentlichen Bedingung: zuletzt eingehend BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37 sowie BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 = SozR 4-2700 § 11 Nr 1, RdNr 28 ff).

36

Ist jedoch nicht mehr aufklärbar, ob beim Kläger die Verursachung des TOS in seiner konkreten Ausprägung durch die beruflich erworbene Exposition gegenüber Druck hinreichend wahrscheinlich ist, käme eine Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen hingegen durchaus in Betracht.

37

Das LSG wird auch über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden haben.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. Mai 2014 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr 2108 (BK 2108) der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

2

Der im Jahre 1953 geborene Kläger absolvierte bis Juli 1972 eine Lehre zum Kfz-Mechaniker und arbeitete in diesem Beruf anschließend bis Januar 1979. Danach war er bis zum 15.9.2008 als Schlosser mit der Instandsetzung eines Maschinenparks und der Wartung von Maschinen befasst. Seit 1.10.2008 erhält der Kläger eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit unter Zugrundelegung des Beginns einer Arbeitsunfähigkeit wegen Lumboischialgien am 15.9.2008als Leistungsfall. Im Februar 2009 beantragte der Kläger die Anerkennung einer BK 2108. Die Beklagte lehnte das Vorliegen einer BK 2108 und eines Anspruchs auf Leistungen ab, der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 7.12.2009; Widerspruchsbescheid vom 15.3.2010). Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 3.1.2011 abgewiesen.

3

Das LSG hat auf die Berufung des Klägers nach Durchführung medizinischer Ermittlungen den Gerichtsbescheid aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide verurteilt, das Vorliegen einer BK 2108 anzuerkennen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei während seiner versicherten Tätigkeit Belastungen durch Heben von Lasten iHv insgesamt 9,71 Meganewtonstunden (MNh) ausgesetzt gewesen. Darüber hinaus seien Belastungen in extremer Rumpfbeugehaltung im Umfang von zumindest 8,83 MNh zu berücksichtigen. Eine relevante Belastung im Sinne der BK 2108 sei auch bei einem Beugewinkel von 90 Grad oder etwas weniger gegeben, zumal das Referenzdosismodell der Deutschen Wirbelsäulenstudie (DWS) II bereits Rumpfbeugehaltungen ab 45 Grad einbeziehe. Es ergebe sich weder aus dem Wortlaut der BK 2108 noch aus dem Merkblatt, dass Beugewinkel von ca 90 Grad allenfalls im Bergbau zu finden sowie belastende Tätigkeiten nur zu berücksichtigen seien, sofern sie unter Zwang vorgenommen würden. Der Kläger habe jeweils 3 bis 4 Minuten in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet, womit er insgesamt 30 bis 45 Minuten in einzelnen Arbeitsschichten Belastungen durch extreme Rumpfbeugehaltungen unterlegen, sowie die Mindestschichtanzahl iHv 60 Schichten mit relevanter Wirbelsäulenbelastung pro Jahr erfüllt sei. Mit der Gesamtbelastungsdosis von zumindest 18,54 MNh liege er nicht nur weit über dem in der DWS II offenbar angenommenen Schwellenwert von 7 MNh für Männer, sondern auch über dem vom BSG in seinem Urteil vom 30.10.2007 (B 2 U 4/06 R) vorgeschlagenen Orientierungswert von 12,5 MNh. Beim Kläger bestehe eine bandscheibenbedingte Erkrankung in Form eines chronischen degenerativen Lumbalsyndroms mit pseudoradikulärer Lumboischialgie, die unter Berücksichtigung des späten Manifestationszeitpunktes der Erkrankung, des altersvorauseilenden Verschleißes an der Lendenwirbelsäule (LWS), des Verteilungsmusters der Veränderungen unter Mitbeteiligung der Segmente L3/L4 und L1/L2 bei gleichzeitiger Schwerpunktbildung im beruflich meist belasteten Wirbelsäulenabschnitt sowie mit der eindeutigen Akzentuierung der Umformung im Lendenkreuzbeinübergang im Vergleich zur nicht belasteten Wirbelsäule jedenfalls mitursächlich auf die berufliche Exposition bei der versicherten Tätigkeit kausal zurückzuführen sei. Es liege eine altersüberschreitende Chondrose Grad II im "Segment L 5/5" sowie vom Grad III im Segment L5/S1 vor. Das Schadensbild sei mit schwächer ausgeprägten Bandscheibenschäden an der Halswirbelsäule (HWS) der Konstellation B4 der Konsensempfehlungen (U. Bolm-Audorff et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma Berufskrankheit 2005/3, S 211, 214 ff) zuzuordnen, bei der ein Zusammenhang mit den beruflichen Einwirkungen im Sinne der BK 2108 wahrscheinlich sei. Der Aufgabezwang für die exponierende Tätigkeit sei ab dem 15.9.2008 gesichert.

4

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 9 SGB VII iVm der BK 2108. Zur Begründung führt sie aus, eine Lebensbelastungsdosis des Klägers in Höhe von 18,5 MNh liege nicht vor. Das LSG setze die sog arbeitstechnischen Voraussetzungen in dem Tatbestandsmerkmal "Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung" zu niedrig an. Zum einen müssten hierfür Arbeiten mit einer Rumpfbeuge von mindestens 90 Grad in einer Zwangshaltung erfolgen, zum anderen genüge ein zeitlicher Umfang von wöchentlich 30 bis 45 Minuten keinesfalls den Anforderungen der Regelmäßigkeit, die ca 60 Arbeitsschichten voraussetze. Die vom BSG abgesenkte Gesamtbelastungsdosis von 12,5 MNh für Männer stelle keinen Orientierungswert, sondern ein Ausschlusskriterium dar. Wenn dieser Wert überschritten werde, habe dies keine positive Indizwirkung. Es hätte eine Einzelfallprüfung durchgeführt werden müssen, während das LSG sich mit dem Überschreiten von 12,5 MNh und der Einordnung des Krankheitsbildes in die Kategorie B4 der Konsensempfehlungen zufrieden gegeben habe. Die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 seien zudem durch die BSG-Entscheidung vom 30.10.2007 überholt und nicht mehr durch die daran beteiligten Wissenschaftler und Ärzte autorisiert. Es sei ungewiss, ob die Autoren ihre Konsensempfehlung überhaupt abgegeben hätten, wenn von deutlich niedrigeren beruflichen Belastungen als 25 MNh auszugehen sei.

5

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. Mai 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zu Recht hat das LSG auf die Berufung den die Klage abweisenden Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und das Vorliegen einer BK 2108 festgestellt.

9

Die erhobenen Klagen sind als Anfechtungsklage gegen die ablehnenden Entscheidungen verbunden mit der auf Feststellung einer BK gerichteten Feststellungsklage zulässig (BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151 ff RdNr 10).

10

Der erhobene Anspruch beurteilt sich gemäß § 212 SGB VII nach den Vorschriften des SGB VII, weil nicht ersichtlich ist, dass der Versicherungsfall bereits vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1.1.1997 (Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz vom 7.8.1996, BGBl I 1254) eingetreten sein könnte. Rechtsgrundlage für die Anerkennung der streitigen BK ist § 9 Abs 1 SGB VII iVm Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV vom 31.10.1997 (BGBl I 2623), die lautet: "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können". Nach § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die von der Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist für die Feststellung einer Listen-BK erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang; dazu unter A.) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität, dazu unter B.) und diese Einwirkungen eine Krankheit (dazu unter C.) verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität, dazu unter D.). Schließlich ist Anerkennungsvoraussetzung, dass der Versicherte deshalb seine Tätigkeit aufgeben musste sowie alle gefährdenden Tätigkeiten unterlässt (dazu unter E.). Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist die BK nicht anzuerkennen (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 17). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK. Die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 12; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4, RdNr 16 mwN; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14, RdNr 9 mwN; zuletzt BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 412; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 14).

11

A. Nach den bindenden Feststellungen des LSG absolvierte der Kläger von August 1968 bis Juni 1972 eine Lehre als Kfz-Mechaniker und arbeitete anschließend in diesem Beruf bis Januar 1979. Seitdem war er als Bau- und Instandhaltungsschlosser bis zum Eintritt dauerhafter Arbeitsunfähigkeit am 15.9.2008 tätig. Den Feststellungen lässt sich gerade noch hinreichend entnehmen, dass diese Tätigkeiten im Rahmen eines Arbeitsvertrags erfolgten und der Kläger damit als Beschäftigter iS von § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versichert war.

12

B. Der Kläger unterlag im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit auch den nach dem Tatbestand der BK 2108 vorausgesetzten Einwirkungen. Danach muss der Versicherte aufgrund einer versicherten Tätigkeit entweder langjährig schwer gehoben und getragen oder in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben, ansonsten ist der Tatbestand der BK 2108 nicht erfüllt (zur Bestimmung des Ausmaßes der beruflichen Einwirkungen bei der BK 2108 vgl auch BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/08 R - juris RdNr 23; BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 16 f). Dies zu überprüfen war der Senat trotz des Inhalts der angefochtenen Bescheide nicht gehindert (dazu unter 1.). Die danach tatbestandlich alternativ vorausgesetzten Einwirkungen in Form des schweren Hebens und Tragens (dazu unter 2.) bzw von Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (dazu unter 3.) liegen beim Kläger beide vor. Sie erfolgten zudem langjährig (dazu unter 4.).

13

1. Der Senat ist zunächst nicht gehindert, sowohl die Subsumtion der seitens des LSG festgestellten Einwirkungen unter den Tatbestand der BK 2108, als auch deren Geeignetheit zur Erzeugung eines Bandscheibenschadens zu überprüfen (vgl zur BK 2109 BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 15 ff), obwohl die Beklagte im Rahmen der Begründung des Verwaltungsakts vom 7.12.2009 das Vorliegen der "arbeitstechnischen Voraussetzungen" bejaht hat. Diese Aussage der Beklagten nimmt nicht an der Bindungswirkung des Verwaltungsakts (§ 77 SGG) teil, weil in dem Bescheid durch bindenden Verfügungssatz (Regelung) alleine das Nichtbestehen der BK 2108 sowie von Ansprüchen auf Leistungen geregelt wurde (vgl BSG vom 20.11.1996 - 3 RK 5/96 - BSGE 79, 261, 265; vgl BSG vom 6.2.1958 - 8 RV 449/56 - BSGE 6, 288, 291; BSG vom 21.1.1959 - 11/8 RV 181/57 - BSGE 9, 80, 84; BSG vom 24.2.1960 - 9 RV 286/56 - BSGE 12, 25, 26). Zwar kann auch einem Satz aus der Begründung eines Verwaltungsakts die Bedeutung einer bindenden Feststellung zukommen (BSG vom 3.4.2014 - B 2 U 25/12 R - BSGE 115, 256 = SozR 4-2700 § 136 Nr 6, RdNr 16; BSG vom 20.11.1996 - 3 RK 5/96 - BSGE 79, 261, 265; BSGE 66, 168, 173 = SozR 3-2400 § 7 Nr 1; s zum Verbot der Schlechterstellung - reformatio in peius - BSG vom 20.2.1956 - 10 RV 75/55 - BSGE 2, 225, 228 f; BSG vom 20.4.1961 - 4 RJ 217/59 - BSGE 14, 154, 158; BSG vom 23.4.1964 - 9/11 RV 318/62 - SozR Nr 44 zu § 77 SGG). Bei den sog "arbeitstechnischen Voraussetzungen" handelt es sich aber nur um ein Element der Anspruchsprüfung einer BK, das zwei miteinander in Zusammenhang stehende Aspekte umfasst: das Vorhandensein der tatbestandlich vorausgesetzten Einwirkungen und die potentielle Kausalität zwischen diesen Einwirkungen und einer Erkrankung (vgl Bieresborn, Die Umsetzung der BK 2108 aus sozialrechtlicher Sicht, in: Grosser/Schiltenwolf/Thomann , Berufskrankheit "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule" , Frankfurt 2014, S 179, 193; s auch BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Somit kommt der Feststellung des Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen im Rahmen der Bescheidbegründung, die nicht als selbständiger Verfügungssatz formuliert ist, nicht die Eigenschaft einer bindenden Regelung zu, sondern nur die eines seitens des Gerichts vollständig überprüfbaren Elements der Anspruchsprüfung (s zur Überprüfbarkeit von Berechnungselementen beim Höhenstreit betr das Arbeitslosengeld: BSG vom 18.8.2005 - B 7a AL 4/05 R - SozR 4-1500 § 95 Nr 1 RdNr 13).

14

2. Nach den insoweit unangegriffenen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) unterlag der Kläger im Zeitraum seiner versicherten Tätigkeit Belastungen durch Heben und Tragen von Lasten in Höhe von insgesamt 9,71 MNh (BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 13/05 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 9, SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 4, RdNr 10).

15

3. Darüber hinaus hat das LSG ebenfalls bindend festgestellt, dass der Kläger ca einmal in der Woche Tätigkeiten in Form des Wechsels von Schaufeln und Blechen in einem zeitlichen Umfang von etwa 30 bis 45 Minuten verrichtet hat. Diese Arbeiten erfolgten mit einer Rumpfbeuge von ca 90 Grad. Da es sich hierbei um Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung gehandelt habe, sei der Kläger dadurch einer weiteren Belastung iHv 8,83 MNh ausgesetzt gewesen. Die Subsumtion dieser weiteren Belastung unter den Tatbestand der BK 2108 seitens des LSG ist nicht zu beanstanden. Auch das Tatbestandsmerkmal der BK 2108 "Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung" wird nicht anhand exakter numerischer Einwirkungsgrößen definiert (vgl zu dem insoweit vergleichbaren Problem bei BK 2109 BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 14 sowie zur BK 2108 BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 23 ff), so dass es grundsätzlich Aufgabe der Versicherungsträger und Gerichte ist, unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien (vgl zu den Motiven bei der Aufnahme der BK 2108 in die BKV die amtliche Begründung: BR-Drucks 773/92, S 7) sowie anhand der Vorgaben des vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Merkblatts für die ärztliche Untersuchung zur BK 2108 (BArbBl 10/2006, S 30 ff), die für diese BK vorausgesetzten beruflichen Einwirkungen näher zu konkretisieren, wenn es auch Aufgabe des Verordnungsgebers ist, eine dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechende und für den Rechtsanwender handhabbare gesetzliche Grundlage zu schaffen, die dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot genügt (vgl hierzu insb das Urteil des Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R; BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 28). Den Merkblättern kommt zwar keine rechtliche Verbindlichkeit zu (BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 6/04 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 5 RdNr 15), sie sind jedoch als Interpretationshilfe und zur Ermittlung des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands heranzuziehen (BSG vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1 RdNr 17 mwN).

16

Hinsichtlich der Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung nennt das Merkblatt (BArbBl 10/2006, S 30 ff) Arbeiten in Bodenhöhe oder unter der Standfläche, bei denen es zu einer Beugung des Oberkörpers aus der aufrechten Körperhaltung um ca 90 Grad oder mehr kommt. Ferner zählen danach Arbeiten in Arbeitsräumen dazu, die niedriger als ca 100 cm sind und somit andauernde Zwangshaltungen mit Arbeiten im Knien, Hocken, im Fersensitz oder gebeugter bzw verdrehter Körperhaltung bedingen. Beispielhaft werden unter Nennung weiterer wissenschaftlicher Quellen Berufsgruppen, bei denen solche Tätigkeiten vorkommen, aufgeführt. Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung im Sinne der BK 2108 erfordern - unter Zugrundelegung des Merkblatts als maßgebliche Erkenntnisquelle bzw Interpretationshilfe - weder eine Zwangshaltung (dazu unter a) noch eine Rumpfbeuge von mindestens 90 Grad oder mehr (dazu unter b).

17

a) Sofern die Revision nur solche Tätigkeiten für berücksichtigungsfähig hält, die in einer "Zwangshaltung", also ohne Möglichkeit des Aufrichtens, ausgeübt werden, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Das Erfordernis einer solchen Zwangshaltung lässt sich weder den Materialien noch dem Merkblatt zur BK 2108, weiteren wissenschaftlichen Veröffentlichungen noch sonstigen Hinweisen zur Auslegung des Tatbestands der BK 2108 entnehmen (BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 19). Lediglich beispielhaft werden im Merkblatt Tätigkeiten im Bergbau genannt, ohne dass diese Aufzählung erkennbar abschließend ist und eine Zwangshaltung zwingend vorausgesetzt wird.

18

b) Ebenso wenig ist der Revision darin zu folgen, dass sich nur Tätigkeiten mit einer Rumpfbeuge von mindestens 90 Grad in die Berechnung einbeziehen ließen. Auch Tätigkeiten mit einer etwas weniger als 90 Grad ausgeprägten Rumpfbeuge sind zum einen mit dem Wortlaut des Verordnungstextes, der eine "extreme" und somit eine das Maß der im Alltag gewöhnlich vorkommenden überschreitende Rumpfbeugehaltung verlangt, vereinbar. Sofern das BSG in einer älteren Entscheidung ausgeführt hat, dass unter einer extremen Rumpfbeugehaltung iS der BK Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV eine Beugung des Oberkörpers aus der aufrechten Haltung um mehr als 90 Grad zu verstehen sei (BSG vom 1.7.1997 - 2 BU 106/97 - juris RdNr 7) und sich dieser Auffassung das BVerwG angeschlossen hat (BVerwG vom 16.4.2013 - 2 B 150/11 - juris RdNr 7), liegt diesen Entscheidungen offensichtlich das mittlerweile veraltete Merkblatt zur BK 2108 aus dem Jahre 1993 (BArbBl 3/1993, S 50) zugrunde. Der Senat hat bereits an anderer Stelle klargestellt, dass Grundlage der Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung einer BK stets der im Entscheidungszeitpunkt aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand zu sein hat (BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - juris RdNr 14; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14, SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2103 Nr 1, RdNr 15; BSG vom 27.6 2006 - B 2 U 5/05 R - BSGE 96, 297 = SozR 4-5671 § 6 Nr 2, SozR 4-2700 § 9 Nr 6, RdNr 17; s zum Arbeitsunfall: BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44, RdNr 61).

19

Dies gilt insbesondere bei der Auslegung unbestimmter, die erforderliche Einwirkung bezeichnender Rechtsbegriffe, sofern im Rahmen der möglichen Wortbedeutung die Geeignetheit zur Verursachung des Gesundheitsschadens zu bestimmen ist. Das aktuelle Merkblatt zur BK 2108 (BArbBl 10/2006, S 30 ff) verlangt aber lediglich eine Rumpfbeuge von "ca 90 Grad". Hierbei handelt es sich um einen mittleren Schätzwert, bei dem Abweichungen nach oben und unten gleich verteilt sind (vgl zur Dosis "in der Regel 100 Feinstaubjahre" der BK 4111: BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3, SozR 4-2700 § 9 Nr 20, RdNr 19). Im vorliegenden Fall kommt es mithin nicht darauf an, ob eine Rumpfbeuge von 45 Grad - wie sie in der DWS-Folgestudie bereits als wirbelsäulenschädigend dargestellt wird - mit der möglichen Wortbedeutung des Attributs "extrem" vereinbar wäre (vgl zum Problem der Mindestbelastung bei Heben und Tragen durch Frauen das Senatsurteil vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

20

4. Die wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten erfolgten darüber hinaus - wie tatbestandlich vorausgesetzt - langjährig. Langjährig bedeutet, dass zehn Berufsjahre als die im Durchschnitt untere Grenze der belastenden Tätigkeit zu fordern sind (so wörtlich das aktuelle Merkblatt 2108 BArbBl 2006, Heft 10, S 30, Abschnitt IV; vgl zum Merkmal "langjährig" bei der BK 2109 BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 15; s zur BK 2108 bereits BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, RdNr 10; BSG vom 22.6.2004 - B 2 U 22/03 R - juris RdNr 25; vgl auch: Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 8/2012, Anh zu K § 9 Anl zu BKV BK Nr 2108 - 2110 RdNr 7 mwN; "mindestens 10 Jahre" fordern Ricke in Kasseler Kommentar, Stand 7/2014, § 9 SGB VII RdNr 42; Mehrtens/Brandenburg, BKV, Stand 12/2013, M 2108 Anm 2.2.2.). Auch dieses Merkmal erfüllt der Kläger bei ca 30 Jahren festgestellter wirbelsäulenbelasteter Tätigkeit.

21

Das LSG hat davon ausgehend zu Recht angenommen, dass beim Kläger die Anforderungen an die tatbestandlich vorausgesetzte berufliche Exposition iS der BK 2108 erfüllt sind (BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 21).

22

C. Beim Kläger besteht nach den Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) auch eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS in Form eines chronischen degenerativen Lumbalsyndroms mit pseudoradikulärer Lumboischialgie an vier Lendenbandscheiben mit einer altersüberschreitenden Chondrose Grad III im Segment L5/S1 unter Mitbeteiligung der Segmente L3/L4 und L1/L2 mit Akzentuierung der Umformung im Lendenkreuzbeinübergang. Damit liegt ein dreisegmentaler Schaden der LWS vor. Die zusätzliche Feststellung einer Chondrose Grad II in einem ersichtlich nicht existierenden "Segment L5/5" ist für die Bejahung des erforderlichen Gesundheitsschadens unerheblich. Darüber hinaus existieren demgegenüber schwächer ausgeprägte Bandscheibenschäden an der HWS.

23

D. Die Beurteilung des LSG, dass die festgestellten LWS-Schäden rechtlich wesentlich durch die versicherten Einwirkungen verursacht wurden, ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Für die Anerkennung einer BK ist neben der Kausalität zwischen versicherter Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen (Einwirkungskausalität) ein Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkungen einerseits und der Erkrankung andererseits erforderlich. Für die umstrittene BK 2108 bedeutet dies, dass die LWS-Erkrankung des Klägers durch langjähriges schweres Heben und Tragen bzw Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit verursacht worden sein muss. Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung gilt im Berufskrankheitenrecht, wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung, die Theorie der wesentlichen Bedingung (s zum Arbeitsunfall die Entscheidungen des erkennenden Senats vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 34 ff sowie BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37; zu BKen s BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - juris RdNr 32; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 13 sowie - B 2 U 26/04 R - juris RdNr 17), die zunächst auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht, nach der jedes Ereignis (jede Bedingung) Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Steht die versicherte Tätigkeit als eine der Wirkursachen fest, muss auf der zweiten Stufe die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestands fallenden Gefahr sein. Die Wesentlichkeit der Wirkursache ist zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils begründeten Versicherung zu beurteilen (zur Theorie der wesentlichen Bedingung: zuletzt eingehend BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37 f sowie BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 = SozR 4-2700 § 11 Nr 1, RdNr 28 ff). Vorliegend hat das LSG zu Recht sowohl die (sonstigen) arbeitstechnischen (dazu unter 1.) als auch arbeitsmedizinischen Voraussetzungen (dazu unter 2.) bejaht.

24

1. Unter Zugrundelegung der bindend festgestellten Einwirkungs-Werte iHv 9,71 MNh durch Heben und Tragen von Lasten sowie 8,83 MNh durch Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung ist das LSG in durch das Revisionsgericht nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen auch im Hinblick auf die generelle Eignung der festgestellten Einwirkung zur Krankheitsverursachung im Sinne einer BK 2108 im Falle des Klägers gegeben sind. Die Belastungen der unterschiedlichen Einwirkungsformen "schweres Heben und Tragen" einerseits sowie "Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung" hat das LSG zu Recht addiert (dazu unter a). Zutreffend hat das LSG für die Berechnung der in der Höhe und Intensität zur Erzeugung des Bandscheibenschadens genügenden Einwirkungsbelastung das Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) zugrunde gelegt (dazu unter b). Darüber hinaus erfolgten diese Belastungen auch regelmäßig (dazu unter c). Einer Mindest-Tagesdosis bedurfte es hingegen nicht (dazu unter d).

25

a) Zutreffend hat das LSG eine kumulative Einwirkungs-Belastung iHv 18,54 MNh zugrunde gelegt. Die vom LSG vorgenommene Addition der Belastungen durch Heben und Tragen einerseits sowie Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung andererseits in zeitlicher wie in physischer Hinsicht ist nicht zu beanstanden (s Merkblatt vom 21.9.2006 - BArbBl 2006, Heft 10, S 30, 33 aE). Angesichts der auf dasselbe Zielorgan wirkenden Belastungen, für die der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand feststehende Dosis-Wirkungsbeziehungen annimmt, geht der Senat davon aus, dass diese zusammenzurechnen sind (s zur Addition von Hebe- und Tragebelastung einerseits und Schwingungsbelastung andererseits BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 9/05 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 8 RdNr 21).

26

b) Mit der Heranziehung des MDD zur Bestimmung der für eine Krankheitsverursachung erforderlichen Belastungsdosis folgt das LSG der Rechtsprechung des erkennenden Senats, der seit 2003 (BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23, 27 f = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, RdNr 10; BSG vom 19.8.2003 - B 2 U 1/02 R - USK 2003-219 RdNr 15; BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 18 und zuletzt BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 25) dieses Modell als eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der Nr 2108 Anl BKV mit den unbestimmten Rechtsbegriffen "langjähriges" Heben und Tragen "schwerer" Lasten oder "langjährige" Tätigkeit in "extremer Rumpfbeugehaltung" nur ungenau umschriebenen Einwirkungen angesehen hat. Die aufgrund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis des MDD sind indes nicht als Grenzwerte, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge zu verstehen (s zur Handhabung der hälftigen Orientierungswerte als Mindestbelastungswerte BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 31; BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 25; sowie die Urteile vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R und B 2 U 10/14 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Orientierungswerte sind andererseits keine unverbindlichen Größen, die beliebig unterschritten werden können. Ihre Funktion besteht in dem hier interessierenden Zusammenhang darin, zumindest die Größenordnung festzulegen, ab der die wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten als potentiell gesundheitsschädlich einzustufen sind. Die Mindestbelastungswerte müssen naturgemäß niedriger angesetzt werden, weil sie ihrer Funktion als Ausschlusskriterium auch noch in besonders gelagerten Fällen, etwa beim Zusammenwirken des Hebens und Tragens mit anderen schädlichen Einwirkungen, gerecht werden müssen. Werden die Orientierungswerte jedoch so deutlich unterschritten, dass das Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so ist das Vorliegen einer BK 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang im Einzelfall bedarf (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 19).

27

Der Senat hat deshalb in der soeben genannten Entscheidung seine frühere Rechtsprechung auf der Grundlage der Erkenntnisse der "Deutschen Wirbelsäulenstudie" (www.dguv.de/inhalt/leistungen/versschutz/bk/wirbelsaeule/index.html) weiterentwickelt und entschieden, dass das MDD in seiner Funktion als Konkretisierung des Ausmaßes der für die BK 2108 erforderlichen beruflichen Einwirkung derzeit nicht durch ein anderes gleichermaßen geeignetes Modell ersetzt werden kann. Der Senat hat indes im Lichte der Erkenntnisse der Ergebnisse der DWS I das MDD in mehreren Punkten modifiziert und insbesondere als unteren Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der LWS ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis bei Männern von 25 MNh, also 12,5 MNh, angenommen (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 25).

28

Das LSG hat insoweit zur Berechnung der erforderlichen Mindestbelastungsdosis das MDD zutreffend unter Berücksichtigung der Modifikationen, die dieses durch die Rechtsprechung des Senats erfahren hat, angewandt (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 22; BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 29 ff). Mit einer festgestellten Gesamtbelastungsdosis iHv 18,5 MNh wurde vorliegend der genannte untere Grenzwert erheblich überschritten. Es kommt daher nicht darauf an, ob eine weitere Absenkung im Lichte der Ergebnisse der DWS-Richtwertestudie (DWS II) (korrekte Bezeichnung des Forschungsvorhabens: "Erweiterte Auswertung der Deutschen Wirbelsäulenstudie mit dem Ziel der Ableitung geeigneter Richtwerte", Kurztitel: "DWS-Richtwerteableitung", veröffentlicht unter http://www.dguv.de/ifa/Forschung/Projektverzeichnis/FF-FB_0155A.jsp) angezeigt ist oder mit den Voraussetzungen des § 9 Abs 1 SGB VII unvereinbar wäre(vgl zur Mindestbelastungsdosis bei Frauen Urteil vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

29

c) Auch die erforderliche Regelmäßigkeit der wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten, die sich als Element der arbeitstechnischen Voraussetzungen dem Merkblatt 2006 (BArbBl 2006, S 30 ff Abschnitt IV) entnehmen lässt, ist gegeben. Hierbei reicht es entgegen der Auffassung der Revision aus, dass diese in der ganz überwiegenden Anzahl - mindestens 60 - der Arbeitsschichten erfolgten, ohne dass eine genaue Zeitgrenze pro Arbeitsschicht genannt werden kann (s Merkblatt BArbBl 10/2006, S 30 ff Abschnitt IV aE; vgl BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 15 zur BK 2109). Hintergrund ist, dass bei nicht regelmäßiger Belastung den Bandscheiben genügend Zeit zur Regeneration bleibt und deshalb keine Ursächlichkeit zwischen Druckbelastung und Schädigung besteht (vgl hierzu das Urteil des Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Den Feststellungen des LSG lässt sich gerade noch hinreichend entnehmen, dass der Kläger in mindestens 60 Schichten im Jahr einer relevanten Wirbelsäulenbelastung ausgesetzt war. Auch insoweit ist die vom LSG vorgenommene Addition der Belastungen durch das Heben und Tragen schwerer Lasten und der Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung in zeitlicher wie in physischer Hinsicht - wie bereits dargelegt - nicht zu beanstanden.

30

d) Wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat, lässt sich das Erfordernis des Erreichens einer Mindesttagesdosis anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands nicht begründen. Wie bei der Belastungsdauer können geringere oder fehlende Einwirkungen in einer Arbeitsschicht durch stärkere oder länger dauernde Belastungen in anderen Schichten ausgeglichen werden. Daher ist es nach wie vor nicht zu beanstanden, alle Hebe- und Tragebelastungen, die die Mindestbelastung von 2700 N bei Männern erreichen, entsprechend dem quadratischen Ansatz zu berechnen und aufzuaddieren (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 24; Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 8/2012, Anh zu K § 9 Anl zu BKV BK Nr 2108 - 2110 RdNr 11a, sowie zur BK 2109: BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 15). Dementsprechend steht es der Verursachung der Erkrankung durch die wirbelsäulenbelastende Tätigkeit auch nicht entgegen, dass sich die Gesamtbelastungsdosis über 40 Jahre akkumuliert hat.

31

2. Schließlich hat das LSG in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise das Vorliegen der arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für die Bejahung des Ursachenzusammenhangs zwischen den gefährdenden Einwirkungen im Sinne der BK 2108 und der Bandscheibenerkrankung des Klägers bejaht. Die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen betreffen zwei Aspekte der Anerkennungsvoraussetzungen, nämlich zum einen das Vorliegen der tatbestandlich vorausgesetzten Krankheit, zum anderen das Vorliegen eines Schadensbildes, welches mit der rechtlich-wesentlichen Verursachung dieser Krankheit durch die beruflichen Einwirkungen zumindest im Einklang steht (Bieresborn, Die Umsetzung der BK 2108 aus sozialrechtlicher Sicht, in: Grosser/Schiltenwolf/Thomann , Berufskrankheit "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule" , Frankfurt 2014, S 179, 193, 199). Aus dem Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen kann angesichts der multifaktoriellen Entstehung von bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS nicht automatisch auf das Bestehen der Anspruchsvoraussetzungen der BK 2108 geschlossen werden; vielmehr müssen medizinische Kriterien hinzukommen (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 26; BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 19; BSG vom 30.1.2007 - B 2 U 15/05 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2 RdNr 23; vgl BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 7/05 R - juris RdNr 16 zur BK nach Nr 4302 der Anlage zur BKV; BSG vom 7.9.2004 - B 2 U 34/03 R - juris RdNr 22).

32

Das Berufungsgericht hat zutreffend den wesentlichen Ursachenzusammenhang zwischen den gefährdenden Einwirkungen im Sinne der BK 2108 und der Bandscheibenerkrankung des Klägers unter Anwendung der arbeitsmedizinischen Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 (U. Bolm-Audorff et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma und Berufskrankheit 2005/3, S 211, 214 ff, 228 ff) bejaht. Die Konsensempfehlungen sind nach wie vor eine geeignete Grundlage, um den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand bezüglich bandscheibenbedingter Erkrankungen der LWS zu bestimmen (dazu unter a). Sie können auch dann angewandt werden, wenn der MDD-Orientierungswert für die Gesamtbelastungsdosis nicht erreicht wurde (dazu unter b). Das LSG hat schließlich in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise das von ihm bindend festgestellte Schadensbild unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands als belastungskonform angesehen (dazu unter c).

33

a) Nicht zu beanstanden ist, dass das LSG die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 zugrunde gelegt hat. Diese bilden zur Überzeugung des Senats weiterhin den aktuellen Erkenntnisstand ab. Die naturwissenschaftliche Kausalitätsprüfung ist zwar eine der Bindung fähige tatsächliche Feststellung der Instanzgerichte (vgl Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 163 RdNr 9), jedoch sind nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats die die einzelnen Tatbestandsmerkmale der jeweiligen BK unterfütternden allgemeinen (generellen) Tatsachen, die für alle einschlägigen BK-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind, anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands auch revisionsrechtlich überprüfbar (grundlegend: BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 5/05 R - BSGE 96, 297 = SozR 4-5671 § 6 Nr 2, RdNr 19 sowie BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 23; s auch BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 23; s zur älteren Senatsrechtsprechung, wonach diesbezügliche Feststellungen dem Anwendungsbereich des § 163 SGG zugerechnet wurden: BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 83 = SozR 3-2700 § 9 Nr 4 = SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 4 RdNr 28; BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, RdNr 22, jeweils mwN). Dies muss zunächst jedenfalls immer dann gelten, wenn diese - wie hier - zulässig gerügt werden (vgl BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - juris RdNr 14; s zur Problematik der Überprüfung von allgemeinen Tatsachen auf ihre offensichtliche Unrichtigkeit auch das Urteil des Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Inwieweit in der Rechtsprechung anderer Senate des BSG (zur Überprüfung sog "genereller Tatsachen" in der sonstigen Rechtsprechung des BSG vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 163 RdNr 7 sowie speziell im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung BSG vom 16.6.1999 - B 1 KR 4/98 R - BSGE 84, 90, 94 = SozR 3-1500 § 163 Nr 7, RdNr 17 sowie BSG vom 12.8.2009 - B 3 KR 10/07 R - BSGE 104, 95 = SozR 4-2500 § 135 Nr 4, RdNr 27 und zuletzt BSG vom 12.9.2012 - B 3 KR 10/12 R - BSGE 112, 15, 37 = SozR 4-2500 § 137 Nr 1 RdNr 55; s zu "Rechtstatsachen" BSG vom 25.10.1994 - 3/1 RK 57/93 - SozR 3-1500 § 163 Nr 5, juris RdNr 27, zu "allgemeinkundigen Tatsachen historischer Natur" BSG vom 7.2.1985 - 9a RV 5/83 - BSGE 58, 38, 42 = SozR 3100 § 5 Nr 7, RdNr 17 sowie zu "gerichtskundigen Tatsachen" BSG vom 27.1.1977 - 7 RAr 16/75 - BSGE 43, 124, 127 = SozR 4100 § 41 Nr 28 RdNr 30) eine solche Überprüfung genereller Tatsachen erfolgt, kann hier dahinstehen. Denn jedenfalls im Bereich des Rechts der BKen hat das BSG aufgrund der in den Normtexten der jeweiligen BKen in der Anlage zur BKV regelmäßig vertypisierten wissenschaftlichen Aussagen die Existenz der einschlägigen Erfahrungssätze selbst festzustellen. Das über das Vorliegen von BKen befindende Gericht muss sich folglich Klarheit darüber verschaffen, welches in der streitigen Frage der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist. Die heranzuziehenden Quellen - Fachbücher, Standardwerke, Merkblätter des zuständigen Ministeriums, Begründungen des Sachverständigenbeirats, Konsensempfehlungen etc - hat das jeweilige Gericht eigenständig kritisch zu würdigen und auf ihre Aktualität hin zu überprüfen (vgl BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 100/12 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 24 RdNr 18; BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 68 f; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 20; vgl auch BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17 mwN).

34

Hierbei ist zunächst die Zugrundelegung der Konsensempfehlungen durch das LSG als Orientierungshilfe bei der Beurteilung, ob der Bandscheibenschaden des Klägers nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand durch die festgestellten beruflichen Einwirkungen verursacht wurde, revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. Denn die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 sind nach wie vor eine hinreichende Grundlage für die Bestimmung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands, wie der Senat zuletzt 2009 klargestellt hat (BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - juris RdNr 15). Seitdem wurden zwar in Folge der Veröffentlichung der DWS II Fachaufsätze publiziert, die Zweifel an den Aussagen auch der Konsensempfehlungen äußern. Weder der DWS II noch den sonstigen Veröffentlichungen ist jedoch zu entnehmen, dass die Erkenntnisse der Konsensarbeitsgruppe aus dem Jahre 2005 gerade hinsichtlich der hier zugrunde gelegten Befundkonstellation inzwischen veraltet sein könnten. Sofern vertreten wird, dass inzwischen die Ergebnisse der DWS II die wesentlichen Grundannahmen aus den Konsenskriterien widerlegten, etwa weil die bisher angenommenen Einwirkungsgrößen zu hoch seien, die Lokalisation und Häufigkeit der Verteilung von Bandscheibenschäden zu 96% mit denen der Normalbevölkerung identisch sei, die Auswertungen der DWS II keine deutliche Abhängigkeit der Begleitspondylose von der MDD-Gesamtbelastungsdosis gezeigt habe oder Schäden an der HWS keine Aussagekraft zur Verursachung von LWS-Schäden hätten (M. Kentner und K. Frank, Kommentar zur DWS-Richtwertestudie und Implikationen hinsichtlich BK 2108 - Biomechanik vs. Pathophysiologie, Manuskript, erscheint in ASUMed 8/2015; Linhardt/Grifka, Auswirkungen der Deutschen Wirbelsäulenstudie auf die Berufskrankheit der Lendenwirbelsäule , MedSach 111 <2015>, 20, 21; Bergmann, Bolm-Audorff, Ditchen, Ellegast, Haerting, Kersten, Jäger, Skölziger, Kuß, Morfeld, Schäfer, Seidler, Luttmann, Lumbaler Bandscheibenvorfall mit Radikulärsyndrom und fortgeschrittene Osteochondrose, ZblArbeitsmed 2014, 233 - 238) handelt es sich erkennbar um wissenschaftliche Einzelmeinungen.

35

Die zitierten Publikationen setzen sich zum einen jeweils inhaltlich nicht mit der grundsätzlichen Kritik an der angewandten Methodik der Nachuntersuchung auseinander (s nur Grosser, Ergebnisse der Konsensusarbeitsgruppe zur Begutachtung der BK 2108 - Status quo und Konsequenzen aus der DWS, in: Grosser/Schiltenwolf/Thomann, Berufskrankheit "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule" , Frankfurt 2014, S 84 - 104; Zagrodnik, Fragliche Belastungsdosis, DGUV Forum 2014, Nr 7/8 S 10 - 13), zum anderen schöpfen sie ihre Kritik an den Aussagen der Konsensempfehlungen alleine aus den Ergebnissen der DWS II, und wenden sich im Wesentlichen gegen die Bestimmung und Höhe der Einwirkungsgrößen, nicht aber gegen die Grundaussage der Konsensempfehlungen, dass Bandscheibenschäden aufgrund beruflich erworbener Druckbelastungs-Dosen entstehen können. Der Senat verkennt nicht, dass ein wissenschaftlicher Erkenntnisstand auch dadurch erschüttert werden kann, dass grundlegende und fundierte Zweifel seitens der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler diesem den Boden entziehen, ohne dass sich diese in ihrer Mehrheit auf einen neuen Konsens geeinigt hätten. Einzelne Gegenstimmen sind demgegenüber nicht geeignet, einen einmal gebildeten und sich in schriftlichen Beurteilungskriterien manifestierenden wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu erschüttern, solange nicht die daran beteiligten Autoren in ihrer Mehrheit diesen Konsens in wesentlichen Punkten aufkündigen oder eine (zumindest teilweise) personell anders zusammengesetzte große Mehrheit der mit dieser Materie befassten Fachwissenschaftler diesem Konsens entgegentritt.

36

Dem Senat liegen im Rahmen seiner eigenen Ermittlungen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass die Konstellation B4 der Konsensempfehlungen nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht. Zwar wird hierzu kritisch geäußert, aus Schäden an der HWS könnten keine Aussagen über die Verursachung von Schäden an der LWS durch Druck abgeleitet werden (M. Kentner und K. Frank, Kommentar zur DWS-Richtwertestudie und Implikationen hinsichtlich BK 2108 - Biomechanik vs. Pathophysiologie, Manuskript, erscheint in ASUMed 8/2015). Dies vermag jedoch den Aussagewert der Befundkonstellation B4 nach Überzeugung des Senats nicht zu erschüttern, weil die Konsensempfehlungen gerade davon ausgehen, dass kein belastungstypisches, sondern nur ein belastungskonformes Schadensbild existiert. Damit können bestimmte Befundkonstellationen, in denen andere anatomisch nicht in gleichem Maße druckbelastete Segmente wie die der LWS genauso oder stärker geschädigt sind, den Verursachungszusammenhang nicht ausschließen, sie können allenfalls den Verdacht erzeugen, dass die Schäden der LWS wesentlich auf anlagebedingten Faktoren beruhen.

37

b) Entgegen der Revision ist auch nicht zu beanstanden, dass sich das LSG auf die Aussagen der Konsensempfehlungen stützt, obwohl nach seinen eigenen Feststellungen die nach dem MDD für Männer geforderte Gesamtbelastungsdosis iHv 25 MNh durch den Kläger mit 18,54 MNh nicht erreicht wurde. So wie der erkennende Senat im Recht der BKen nicht gehindert ist, den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu Verursachungszusammenhängen festzustellen, ist er ebenso wenig gehindert, die korrekte Zuordnung des Sachverhalts seitens des Berufungsgerichts unter diesen einschlägigen Erkenntnisstand zu überprüfen. Dies gilt umso mehr, wenn dieser in Konsensempfehlungen verdichtet ist. Bei diesen handelt es sich freilich nicht um einen normativen Text oder ein antizipiertes Sachverständigengutachten, weil die Konsensempfehlungen weder vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber erlassen, noch von unabhängigen und der Neutralität verpflichteten Autoren verfasst wurden (P. Becker, ASUMed 2009, 592, 595). Daher sind sie für Verwaltung, Gerichte oder Gutachter auch nicht unmittelbar verbindlich (Siefert, ASR 2011, 45, 48) und es verbietet sich deren Auslegung unter strikter Anwendung der Regeln der juristischen Methodenlehre (vgl Bieresborn, Die Umsetzung der BK 2108 aus sozialrechtlicher Sicht aaO, S 199). Konsensempfehlungen dienen lediglich zur Erleichterung der Beurteilung im Einzelfall, um typische Befundkonstellationen im Hinblick auf die Kausalbeziehungen unter Zugrundelegung des aktuell wissenschaftlichen Erkenntnisstands einordnen zu können (Duell, Kranig, Palfner, BK-Begutachtungsempfehlungen - Wissen von Experten für Experten, DGUV Forum 2012, Nr 4 S 14, 16). Andererseits muss bei diesem Erkenntnisvorgang überprüfbar bleiben, ob das LSG nach allgemeinem Verständnis den von ihm festgestellten Sachverhalt (noch) vertretbar den in den Konsensempfehlungen aufgeführten Kategorien zugeordnet hat.

38

Nicht zu beanstanden ist im Rahmen des soeben aufgezeigten Prüfumfangs jedenfalls die Aussage des LSG, dass die Konsensempfehlungen bereits bei einem Gesamtbelastungswert von 18,54 MNh Anwendung finden können. Den Konsensempfehlungen selbst lässt sich das Erreichen der MDD-Gesamtbelastungsdosiswerte von 25 MNh jedenfalls nicht als Anwendungsvoraussetzung entnehmen. So nehmen die Konsensempfehlungen nur an wenigen Stellen Bezug auf das MDD. Auf dessen Orientierungswert wird sogar nur an einer Stelle verwiesen, nämlich als Alternative 3 der Konstellation B2, die vorliegend allerdings unerheblich ist, weil sich das LSG zur Anerkennung auf die Alternative 1 in Verbindung mit der Konstellation B4 bezogen hat. Soweit die Konsensempfehlungen unter 1.4 "Zusammenhangsbeurteilung" eine "ausreichende berufliche Belastung" fordern, lässt sich dieser Formulierung nicht entnehmen, dass damit das Erreichen des MDD-Orientierungswertes zur Gesamtbelastungsdosis vorausgesetzt wird. So führen die Autoren der Konsensempfehlungen im Vorspann aus, dass zum Zeitpunkt der Initiierung ihres Projekts die zentrale Frage der Expositionsbeurteilung ebenso wenig gelöst war, wie die der Begutachtung. Erklärtes Ziel ihrer Tätigkeit war die Formulierung konkretisierter Begutachtungskriterien, obwohl konkrete Forschungsergebnisse aus dem Parallelprojekt der DWS, mit dem die Dosis-Wirkungsbeziehungen zwischen beruflichen Belastungen und der Entstehung von bandscheibenbedingten Wirbelsäulenerkrankungen in einer Fallkontrollstudie einer besseren epidemiologischen Klärung zugeführt werden sollten, erst zu einem späteren Zeitpunkt erwartet wurden. Bereits dies spricht dagegen, dass die Konsensempfehlungen die Werte des MDD als Anwendungsbedingung voraussetzen.Vielmehr überlassen sie erkennbar die Beurteilung der ausreichenden Belastungen dem jeweiligen Gutachter, an den diese "Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung" adressiert sind. Jedenfalls folgt hieraus, dass die vom LSG vorgenommene "Interpretation" des Einstiegswerts der Konsensempfehlungen nicht offensichtlich falsch ist (zum Prüfansatz vgl insoweit das Urteil des Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R).

39

c) Es ist ferner nicht zu beanstanden, dass das LSG das Vorliegen der Konstellation B4 der Konsensempfehlungen bejaht hat. Für sämtliche B-Konstellationen wird vorausgesetzt, dass die (gesicherte) bandscheibenbedingte Erkrankung nach ihrer Lokalisation die Segmente L5/S1 und/oder L4/L5 betrifft und eine Ausprägung als Chondrose Grad II oder höher und/oder Vorfall hat. Sofern zusätzlich eine Begleitspondylose besteht (Befundkonstellation B1) gilt der Zusammenhang als wahrscheinlich. Liegt hingegen keine Begleitspondylose vor, so wird nach der ersten Alternative der Befundkonstellation B2 der Zusammenhang dann als wahrscheinlich betrachtet, wenn eine Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben besteht.

40

Nach den bindenden Feststellungen des LSG bestehen beim Kläger Erkrankungen in Form einer altersüberschreitenden Chondrose Grad III im Segment L5/S1 unter Mitbeteiligung der Segmente L3/L4 und L1/L2 mit Akzentuierung der Umformung im Lendenkreuzbeinübergang. Damit liegt nach den nicht mit beachtlichen Rügen angegriffenen Feststellungen des LSG ein jedenfalls drei- und damit mehrsegmentaler Schaden der LWS und damit die Voraussetzungen der B2-Konstellation in der 1. Alternative des ersten Spiegelstrichs vor. Es kommt mithin nicht darauf an, ob auch eine weitere Alternative der B2-Konstellation gegeben ist. Auch die in der auf der B2-Konstellation aufbauenden B4-Konstellation vorausgesetzten schwächer ausgeprägten Bandscheibenschäden an der HWS sind nach den Feststellungen des LSG gegeben. Bei der B4-Konstellation ist nach den Konsensempfehlungen der Zusammenhang wahrscheinlich, weshalb die darauf gestützte Feststellung des Vorliegens einer BK 2108 revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden ist, weil gerade insoweit (betreffend die Konstellation B4) wie ausgeführt - keine wissenschaftlich beachtliche Kritik geübt wird, die die Anwendbarkeit dieser Konstellation insgesamt in Zweifel ziehen könnte (vgl zu den Grenzen der revisionsgerichtlichen Erkenntnismöglichkeiten bei der Zugrundelegung der Konsensempfehlungen Senatsurteile vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R sowie B 2 U 10/14 R -, beide zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

41

E. Schließlich hat der Kläger nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts auch sämtliche wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten unterlassen, weshalb die Revision der Beklagten insgesamt zurückzuweisen war.

42

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. September 2011 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr 2109 der Anlage (seit 1.7.2009 Anlage 1) zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) und die Zahlung einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

2

Der Kläger arbeitete von März 1960 bis Oktober 2003 als Zimmerer bei der Firma S. Holzbau GmbH in G. Seit 1998 befand er sich wegen schmerzhafter Bewegungseinschränkungen der Wirbelsäule in ambulanter orthopädischer Behandlung. Der Rentenversicherungsträger bescheinigte ihm im April 2003 eine chronisch-degenerative Hals- und Lendenwirbelsäulenerkrankung.

3

Im Mai 2004 zeigte der Kläger der Beklagten an, dass er seit Jahren unter erheblichen Einschränkungen des Bewegungsapparates leide, und beantragte, seine Erkrankung als BK anzuerkennen. Mit Bescheid vom 2.2.2005 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aufgrund einer BK nach Nr 2108 der Anlage zur BKV (BK 2108) sowie nach Nr 2109 der Anlage zur BKV (BK 2109) ab, weil die Voraussetzungen dieser BKen nicht gegeben seien. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 27.4.2005).

4

Mit der zum SG Gießen erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Das SG hat den Rechtsstreit wegen Feststellung einer BK 2109 von dem Verfahren wegen Feststellung einer BK 2108 abgetrennt und das Verfahren betreffend die BK 2108 zum Ruhen gebracht. Nach arbeitstechnischen und medizinischen Ermittlungen hat das SG mit Urteil vom 6.7.2007 die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, bei dem Kläger eine BK 2109 anzuerkennen und ihm wegen der Folgen der BK Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH zu zahlen. Der Kläger sei im Rahmen der versicherten Beschäftigung als Zimmerer schädigenden Einwirkungen im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) ausgesetzt gewesen. Die Betätigung als Zimmerer habe in besonderer Weise auf die HWS eingewirkt. Der Kläger leide unter Bandscheibenschäden im Bereich der HWS. Diese seien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch das Tragen schwerer Lasten auf der Schulter in einer Vielzahl von Arbeitsschichten verursacht worden. Die dadurch verursachte MdE betrage 20 vH. Die Beklagte habe dem Kläger eine entsprechende Rente zu zahlen.

5

Gegen das Urteil hat die Beklagte Berufung zum Hessischen LSG eingelegt. Das LSG hat nach Durchführung weiterer Ermittlungen das Urteil des SG aufgehoben und die Klagen abgewiesen. Die Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2109 seien nicht erfüllt. Zur Begründung seines Urteils vom 20.9.2011 hat es ausgeführt, während seiner Tätigkeit als Zimmerer sei der Kläger nicht den erforderlichen beruflichen Einwirkungen ausgesetzt gewesen, die zur Anerkennung einer BK 2109 führen könnten. Der BK-Tatbestand erfordere anhand der Materialien und des vom BMAS herausgegebenen Merkblatts zur ärztlichen Begutachtung der BK eine berufliche Exposition im Rahmen einer mindestens zehnjährigen Tätigkeit mit dem Tragen von Lastgewichten von 50 kg und mehr auf der Schulter. Die Lasten müssten in einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten getragen worden sein. Diese Voraussetzung sei nur gegeben, wenn pro Arbeitsschicht mindestens eine Stunde lang Lasten von 50 kg und mehr auf der Schulter getragen worden seien. Das Tragen der Lasten müsse zugleich mit einer nach vorn und seitwärts erzwungenen Zwangshaltung des Kopfes einhergehen. Diese Voraussetzungen beruhten auf den bei Aufnahme der BK 2109 in die BKV vorliegenden epidemiologischen Studien, nach denen neben der Schwere der Last auch eine nach vorne und seitwärts erzwungene Kopfbeugehaltung erforderlich sei. Da eine Zwangshaltung im Rahmen der Tätigkeit des Klägers nur für wenige Bewegungsabläufe beim Aufnehmen, Ablegen und Weiterreichen von Lasten auf der Schulter und mit einem ganz untergeordneten Anteil der Arbeitszeit bestanden habe, liege eine BK 2109 nicht vor.

6

Der Kläger hat die vom BSG zugelassene Revision eingelegt und vorgetragen, das Urteil des LSG beruhe auf einer unzutreffenden Auslegung und Anwendung des § 9 Abs 1 SGB VII iVm Nr 2109 der Anlage 1 zur BKV. Das Berufungsgericht habe zu Unrecht die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2109 verneint. Insoweit habe es angenommen, für das Tragen von Lasten auf der Schulter sei eine gleichzeitig nach vorn und seitwärts erzwungene Kopfhaltung (Zwangshaltung) erforderlich. Diese Anforderung lasse sich dem Wortlaut des BK-Tatbestands nicht entnehmen. Auch soweit das LSG annehme, dass ein HWS-belastend tätiger Versicherter mindestens eine Stunde (netto) pro Arbeitsschicht Lasten von 50 kg und mehr auf der Schulter getragen haben müsse, lasse sich diese Anforderung weder dem Wortlaut des BK-Tatbestands noch dem Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zur BK 2109 entnehmen.

7

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. September 2011 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 6. Juli 2007 zurückzuweisen.

8

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

9

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht das Urteil des SG aufgehoben und die Klagen abgewiesen. Der Kläger hat keine Ansprüche auf Feststellung einer BK 2109, weil er nicht, wie dort vorausgesetzt, regelmäßig schwere Lasten unter Zwangshaltung des Kopfes getragen hat (1.). Deshalb steht ihm auch kein Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente nach § 56 SGB VII zu (2.). Die erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch (3.).

11

1. Ein Anspruch auf Feststellung einer Berufskrankheit nach Nr 2109 der Anlage 1 zur BKV besteht nicht.

12

a) Nach § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist für die Feststellung einer Listen-BK erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK. Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4, RdNr 16 mwN; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14, RdNr 9 mwN; zuletzt BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 412; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3).

13

In der Anlage 1 zur BKV ist durch die 2. ÄndVO vom 18.12.1992 (BGBl I 2343) unter Nr 2109 folgende BK eingefügt worden und dort aktuell noch wie folgt bezeichnet: "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können."

14

Wie das LSG zutreffend aufgezeigt hat, definiert der Tatbestand der BK 2109 die Tatbestandsmerkmale der erforderlichen beruflichen Einwirkungen nicht anhand exakter numerischer Einwirkungsgrößen. Er verwendet stattdessen unbestimmte Rechtsbegriffe wie "langjährig" oder "schwer" (vgl zu dem insoweit vergleichbaren Problem bei BK 2108 schon: BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/08 R - UV-Recht Aktuell 2009, 287). Der Senat hat allerdings klargestellt, dass der Umstand, dass Rechtsbegriffe in einer BK-Definition auslegungsbedürftig und -fähig sind, nicht das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot verletzt (so schon zur BK 2108: BSG vom 23.3.1999 - B 2 U 12/98 R - BSGE 84, 30 = SozR 3-2200 § 551 Nr 12; BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1; BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/08 R - UV-Recht Aktuell 2009, 287). Vielmehr ist es Aufgabe der Versicherungsträger und Gerichte unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien (vgl zu den Motiven bei der Aufnahme der BK 2109 in die BKV die amtliche Begründung: BR-Drucks 773/92, S 9) sowie anhand der Vorgaben des vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Merkblatts für die ärztliche Untersuchung zur BK 2109 (BArbBl 3/1993, S 53 - im Folgenden: Merkblatt BK 2109), die für diese BK vorausgesetzten beruflichen Einwirkungen näher zu konkretisieren. Solchen Merkblättern kommt zwar keine rechtliche Verbindlichkeit zu (BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 6/04 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 5), sie sind allerdings als Interpretationshilfe und zur Wiedergabe des bei seiner Herausgabe aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands heranzuziehen (BSG vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149, 154 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1 mwN).

15

b) Die unbestimmten Rechtsbegriffe des BK-Tatbestands der BK 2109 sind so zu verstehen, dass eine versicherte Person zur Erfüllung der Voraussetzungen des Tatbestands der BK 2109 den nachfolgend aufgezeigten beruflichen Einwirkungen ausgesetzt gewesen sein muss (vgl zu dem insoweit vergleichbaren Problem bei BK 2108 auch BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/08 R - UV-Recht Aktuell 2009, 287). Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist der Tatbestand der BK 2109 nicht erfüllt (zur Bestimmung des Ausmaßes der beruflichen Einwirkungen bei der BK 2108 vgl auch BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 16 f):

        

1.    

Das Tragen von schweren Lasten auf der Schulter setzt Lastgewichte von 50 kg und mehr voraus (Merkblatt BK 2109, Abschnitt IV Abs 2; Bayerisches LSG vom 13.11.2007 - L 3 U 287/06; Sächsisches LSG vom 30.9.2009 - L 6 U 32/09; LSG Berlin-Brandenburg vom 18.4.2013 - L 3 U 209/10; Mehrtens/Brandenburg, BKV, Stand II/2001, M 2109 Anm 2; Schur/Koch in Lauterbach, UV, Stand 01/2006, § 9 SGB VII Anh IV, 2109 erg Erl Anm 5.b> mwN; aA "40 kg genügen" Becker in Becker et. al., Gesetzliche Unfallversicherung - Kommentar, § 9 - 288 zu BK Nr 2109 Anm 1).

        

2.    

Die Lasten müssen langjährig getragen worden sein. Langjährig bedeutet, dass zehn Berufsjahre als die im Durchschnitt untere Grenze der belastenden Tätigkeit zu fordern ist (so wörtlich das Merkblatt 2109, Abschnitt IV Abs 3). Danach muss die belastende Tätigkeit über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren ausgeübt worden sein (zum Merkmal langjährig auch: Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Anh zu K § 9 Anl zu BKV BK-Nr 2108 - 2110 RdNr 7 mwN; aA "mindestens 10 Jahre" Ricke in Kasseler Kommentar, Stand 10/2011, § 9 SGB VII RdNr 42). Insoweit umschreibt das Merkmal "langjährig" in der Norm nur eine aus Erfahrungswissen gewonnene Dauer der Belastung, die mit "etwa zehn Jahren" angenommen wird (Mehrtens/Brandenburg, BKV, Stand II/2001, M 2109 Anm 2 iVm M 2108 Anm 2.2.2; "in der Regel 10 Jahre" LSG Bremen vom 13.2.1997 - L 2 U 67/96 - HVBG-Info 1997, 1683). Es handelt sich nicht um eine starre Untergrenze. Geringe Unterschreitungen dieses Wertes schließen die Anwendung des BK-Tatbestands daher nicht von vornherein aus; dies gilt besonders in den Fällen, in denen Versicherte Lasten mit noch höherem Gewicht bewegt haben (ähnlich zur BK 2108 schon BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23, 27 f = SozR 4-2700 § 9 Nr 1; BSG vom 22.6.2004 - B 2 U 22/03 R - Juris RdNr 25; Schur/Koch in Lauterbach, UV, Stand 01/2006, § 9 Anh IV, 2108 erg Erl Anm 6.a> mwN). Wird allerdings eine Belastungsdauer von acht Jahren nicht erreicht, ist die BK 2109 ausgeschlossen (keine konkrete Untergrenze nannte der Senat bisher zur BK 2108, ließ aber sieben Jahre und neun Monate als möglicherweise ausreichende Belastung genügen: BSG vom 22.6.2004 - B 2 U 22/03 R - Juris RdNr 25; Becker, SGb 2001, 488, 492, der sieben Jahre als Untergrenze vorschlägt). Bei Belastungen mit einer Dauer von weniger als zehn Jahren ist aber die haftungsbegründende Kausalität sorgfältig zu prüfen.

        

3.    

Erforderlich ist eine Regelmäßigkeit des Tragens schwerer Lasten auf der Schulter, wobei das Tragen schwerer Lasten in der ganz überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten ausreicht, ohne dass eine genaue Zeitgrenze pro Arbeitsschicht genannt werden kann (vgl unter 1.d>). Wie bei der Belastungsdauer (Kriterium 2.) können geringere oder fehlende Einwirkungen in einer Arbeitsschicht durch stärkere oder länger dauernde Belastungen in anderen Schichten ausgeglichen werden. Insoweit lässt sich dem BK-Tatbestand, der Begründung des Verordnungsgebers und dem Merkblatt nur das Erfordernis eines regelmäßigen Tragens nicht aber eines arbeitstäglichen Tragens von schweren Lasten auf der Schulter entnehmen (zum Verzicht auf eine Mindesttagesdosis bei BK 2108 auch BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5; Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 08/2012, Anh zu K § 9 Anl zu BKV BK-Nr 2108 - 2110 RdNr 11a).

        

4.    

Das Tragen schwerer Lasten muss mit einer nach vorn und seitwärts erzwungenen Zwangshaltung einhergehen (vgl dazu unten 1.c>).

        

5.    

Als Folge dieses Zwangs muss die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit tatsächlich erfolgt sein, wie sich dem BK-Tatbestand unmittelbar entnehmen lässt.

16

c) Die soeben unter 1.b) als Nummer 4. bezeichnete Anforderung ergibt sich aus dem Willen des Verordnungsgebers, nur solche Gruppen von Versicherten in den BK-Tatbestand einbeziehen zu wollen, bei denen die außergewöhnliche Belastung der Wirbelsäule durch Heben und Tragen von Lasten mit einer nach vorn und seitwärts erzwungenen Kopfbeugehaltung und gleichzeitiger maximaler Anspannung der Nackenmuskulatur zu einer Hyperlordosierung und auch zu einer Verdrehung der HWS führte (vgl BR-Drucks 773/92, S 8 f). Dies wurde bei Schaffung des BK-Tatbestands zB für die Berufsgruppe der Fleischträger sowie für Träger von Säcken mit entsprechendem Gewicht angenommen. Diese Voraussetzung einer Zwangshaltung erschließt sich auch aus dem Merkblatt BK 2109 (BArbBl 3/1993, S 53), das in Abschnitt I als berufliche Gefahrenquelle "fortgesetztes Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, einhergehend mit einer statischen Belastung der cervikalen Bewegungssegmente und außergewöhnlicher Zwangshaltung der HWS" bezeichnet. An anderer Stelle (Abschnitt IV) ist ausgeführt, für den begründeten Verdacht auf das Vorliegen einer bandscheibenbedingten Erkrankung der BK sei neben dem Ausschluss anderer Krankheitsursachen der Nachweis einer langjährigen, außergewöhnlich intensiven mechanischen Belastung der HWS erforderlich.

17

Es entspricht auch der herrschenden Meinung in Schrifttum und Rechtsprechung, dass die BK 2109 wegen der Einwirkung des Gewichts in Achsrichtung auf die Wirbelsäule einerseits höhere Lastgewichte erfordert als die BK 2108, andererseits das bloße Tragen schwerer Lasten noch nicht zu den hier zu erfassenden Veränderungen der HWS führt. Vielmehr muss das Tragen schwerer Lasten mit einer Zwangshaltung der HWS einhergehen (vgl LSG Berlin-Brandenburg vom 19.1.2012 - L 2 U 134/11; Sächsisches LSG 30.9.2009 - L 6 U 32/09 - Juris RdNr 22; Hessisches LSG vom 12.2.2008 - L 3 U 20/05; LSG Baden-Württemberg vom 22.5.2003 - L 10 U 4524/01; LSG Nordrhein-Westfalen vom 21.1.1997 - L 2 U 231/95 - NZS 1997, 578; aus der Literatur: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete, 17, 1971, 841; Mehrtens/Brandenburg, BKV, Stand II/2001, M 2109 Anm 2; Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 08/2012, Anh zu K § 9 Anl zu BKV BK-Nr 2108 - 2110 RdNr 13; Schönberger et. al., Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, 495; Schur/Koch in Lauterbach, UV, Stand 01/2006, § 9 SGB VII Anh IV, 2109 erg Erl Anm 5.b>; Becker in Becker et. al., Gesetzliche Unfallversicherung - Kommentar, § 9 - 288 zu BK Nr 2109 Anm 1; HVBG , BK-Report 2/03, Wirbelsäulenerkrankungen, 32 f).

18

d) Der vom LSG entwickelten Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des Tatbestands der BK 2109 ist nur insoweit nicht zu folgen, als das Merkmal einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit des Tragens (Kriterium 3 oben unter 1.b > ) schwerer Lasten nur erfüllt werden könne, wenn der Versicherte täglich pro Arbeitsschicht mindestens eine Stunde lang schwere Lasten im Sinne der BK 2109 in Zwangshaltung auf der Schulter getragen habe. Eine solche Mindestbelastungszeit pro Arbeitsschicht lässt sich weder den Materialien noch dem Merkblatt zur BK 2109 noch sonstigen Hinweisen zur Auslegung des Tatbestands der BK 2109 entnehmen.

19

Der Senat verkennt dabei nicht, dass in der Literatur abweichend von der hier vertretenen Auffassung ein einschlägig belastender Anteil des Tragens schwerer Lasten von bis zu 30 vH der Arbeitszeit einer Schicht gefordert wird (vgl Grosser/Seide, Berufsbedingte Erkrankungen der Wirbelsäule in Trauma und Berufskrankheit, 2001, 143; Sächsisches LSG vom 30.9.2009 - L 6 U 32/09 - Juris RdNr 23). Andere Autoren wollen eine geringere Tragezeit pro Arbeitsschicht genügen lassen (Schäfer et. al., Zbl Arbeitsmed 2008, 82; auf die Anzahl von Hüben je Arbeitsschicht stellt ab: Mehrtens/Brandenburg, BKV, Stand II/2001, M 2109 Anm 2). Da aber in den Materialien und dem Merkblatt für die Bestimmung einer konkreten Einwirkungszeit pro Arbeitsschicht keinerlei Anhaltspunkte enthalten sind, ist die Anforderung einer täglichen Mindestarbeitszeit mit dem Tragen schwerer Lasten auf der Schulter nicht begründbar (so auch Schur/Koch in Lauterbach, UV, Stand 01/2006, § 9 SGB VII Anh IV, 2109 erg Erl Anm 5.b>).

20

Erforderlich ist aber eine Regelmäßigkeit des Tragens schwerer Lasten auf der Schulter mit Zwangshaltung, wobei die Einwirkung in der ganz überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten stattfinden muss, auch wenn eine genaue Zeitgrenze pro Arbeitsschicht nicht hergeleitet werden kann.

21

e) Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass beim Kläger die Anforderungen an die berufliche Exposition iS der BK 2109 nicht erfüllt sind, weil es an der Voraussetzung des regelmäßigen Tragens schwerer Lasten in Zwangshaltung fehlt (Kriterien Nr 3 und 4 oben unter 1.b>).

22

Der Kläger hat zwar nach den verstreuten, aber noch hinreichend klaren und nachvollziehbaren Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) in einer den Voraussetzungen der BK 2109 entsprechenden Dauer und Häufigkeit schwere Lasten (über 50 kg) auf der Schulter bewegt (vgl insoweit die Kriterien Nr 1 - 3 oben unter 1.b>).

23

Das Tragen der Lasten ging aber nicht regelmäßig, sondern nur in ganz geringem zeitlichen Umfang mit einer außergewöhnlichen Belastung der HWS im Sinne einer Zwangshaltung des Kopfes einher. Das LSG hat insoweit, da Verfahrensrügen insoweit nicht erhoben worden sind, für den Senat bindend festgestellt (§ 163 SGG), dass der Kläger nur mit einem sehr untergeordneten Anteil der Arbeitszeit als Zimmerer beim Tragen der schweren Lasten eine Zwangshaltung der HWS einnehmen musste. Dies war aber nicht regelmäßig, sondern allenfalls dann der Fall, wenn der Kläger im Rahmen seiner Tätigkeit Lasten (insbesondere Balken) aufnehmen, ablegen oder weiterreichen musste. An anderer Stelle des Urteils ist festgestellt, dass die Zwangshaltung des Kopfes beim Kläger in Bezug auf die ausgeübte Tätigkeit des Zimmerers "äußerst kurzzeitig" war und keineswegs das Tätigkeitsbild prägte. Ausgehend von diesen Feststellungen (§ 163 SGG) war der Kläger den nach BK 2109 erforderlichen beruflichen Einwirkungen im Sinne eines regelmäßigen Tragens schwerer Lasten bei bestehender Zwangshaltung der HWS nicht in hinreichendem Maße ausgesetzt.

24

Das LSG hat es deshalb im Ergebnis zu Recht abgelehnt, beim Kläger das Vorliegen einer BK 2109 anzuerkennen.

25

2. Da der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung einer BK 2109 hat, kann die Beklagte auch nicht verurteilt werden, ihm wegen des Versicherungsfalls "BK 2109" Verletztenrente (§ 56 SGB VII) zu zahlen. Aufgrund der Trennung der Rechtsstreite hat der Senat im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits nur zu entscheiden, ob infolge des Versicherungsfalls der BK 2109 ein Anspruch auf Rente besteht.

26

3. Die Verfahrensrügen des Klägers greifen nicht durch. Der Senat hat oben (unter 1.d>) im Einzelnen begründet, dass dem Tatbestand der BK 2109 nicht entnommen werden kann, dass der Versicherte täglich pro Arbeitsschicht mindestens eine Stunde lang schwere Lasten getragen haben muss. Da die vom LSG angesetzte Stundengrenze pro Arbeitsschicht mithin nicht maßgeblich ist, kommt es auf die gegen die Feststellungen des LSG zu diesem Punkt erhobene Verfahrensrüge nicht mehr an.

27

Soweit der Kläger daneben eine Sachaufklärungsrüge wegen der Verneinung der medizinischen Voraussetzungen der BK 2109 erhoben hat, ist auch diese Rüge unbeachtlich, weil seine Ansprüche nicht erst an den medizinischen Voraussetzungen scheitern. Lediglich beiläufig ist darauf hinzuweisen, dass Maßstab für die objektive Kausalitätsbeurteilung der neueste anerkannte Stand des Erfahrungswissens ist (vgl hierzu zuletzt auch BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 - RdNr 23 f "in der Regel 100 Feinstaubjahre"). Die medizinische Aussage des LSG, dass für eine Anerkennung der BK 2109 oberhalb der Wirbelsegmente C 5/C 6 bis zu C 2/C 3 degenerative Veränderungen zu fordern sind, könnte sich allerdings auf Abschnitt II des Merkblatts BK 2109 stützen. Dort wird ausgeführt, die vor der Aufnahme der BK 2109 in die BKV erstellten epidemiologischen Studien hätten gezeigt, dass bei bestimmten Personengruppen wie zB Fleischträgern insbesondere oberhalb von C 5/C 6 bis zu C 2/C 3 degenerative Veränderungen beobachtet wurden, die bei der Allgemeinbevölkerung weniger häufig anzutreffen waren (vgl auch LSG Nordrhein-Westfalen vom 25.4.2006 - L 2 KN 32/03 U). Hierzu wurde weder geltend gemacht und ist auch nicht ersichtlich, dass dieses dem Merkblatt zugrunde liegende Erfahrungswissen inzwischen überholt sein könnte.

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4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 31. August 2010 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung als Hinterbliebene ihres im Dezember 1999 an den Folgen eines Bronchialkarzinoms verstorbenen Ehemanns (des Versicherten).

2

Der im Jahre 1939 geborene Versicherte war von 1966 bis 1996 als Schlosser bei der Firma B. beschäftigt, die Schlosser- und Schmiedearbeiten für das Baunebengewerbe und kleine Stahlkonstruktionen fertigte. In etwa 30 % seiner Arbeitszeit verrichtete der Versicherte Schweißarbeiten. Bis Ende der 70er Jahre wurden meist unlegierte Baustähle überwiegend im Lichtbogenhandverfahren (LBH) mit Elektrode geschweißt, seit Anfang der 80er Jahre überwiegend im Schutzgasschweißverfahren (Metallaktivgasverfahren - MAG), wobei thoriumhaltige Schweißelektroden beim WIG (Wolfram-Inertgas-Verfahren) verwandt wurden. Ab Anfang der 80er Jahre wurde gelegentlich Edelstahl verschweißt. Dabei kamen basische Elektroden zum Einsatz. Beim Anschleifen der Elektroden fand eine Thorium-Belastung statt. In geringerem Umfang wurde öliges Material verschweißt. Der Versicherte führte auch Schweißarbeiten an verzinkten Teilen aus, wobei er Zinkrauchen ausgesetzt war. Für die Dauer von vier Wochen hatte der Versicherte Umgang mit Asbestzementplatten. Asbestkontakt bestand auch bei der Montage zugeschnittener Eternitplatten und bei einer dreimonatigen Tätigkeit im Klinikum M. Während seines gesamten Berufslebens rauchte der Versicherte zumindest 15 Zigaretten täglich. Die Gesamtnikotinbelastung belief sich von 1960 bis 1999 auf 29,25 Packungsjahre.

3

Der Versicherte verstarb am 18.12.1999 an den Folgen eines im April 1999 erstmals diagnostizierten Bronchialkarzinoms. Die Klägerin beantragte bei der Beklagten am 5.12.2000 sinngemäß die Anerkennung und Entschädigung des Bronchialkarzinoms als Berufskrankheit (BK) ihres verstorbenen Ehemanns, sowie Hinterbliebenenleistungen aus Anlass des Todes. Die Beklagte führte Ermittlungen durch, ua durch Befragung des Arbeitgebers, die Beiziehung von Krankenakten, Ermittlungen des TAD und die Einholung ärztlicher Gutachten (Prof. Dr. R.). Im Bescheid vom 20.11.2001 lehnte die Beklagte sodann die Anerkennung des metastasierenden Bronchialkarzinoms des Versicherten als BK und die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 5.6.2002). Es liege weder eine BK nach Nr 1103, noch nach 4104 oder 4109, noch eine Wie-BK gemäß § 9 Abs 2 SGB VII vor.

4

Hiergegen hat die Klägerin am 3.7.2002 Klage zum SG Marburg erhoben, das ein internistisch-pneumologisches Gutachten des Prof. G. eingeholt und die Klage durch Urteil vom 31.5.2005 abgewiesen hat. Die Klägerin hat Berufung eingelegt. Das LSG hat gemäß § 109 SGG ein Gutachten des Arbeitsmediziners und Internisten Prof. W. und ergänzende Stellungnahmen des Prof. G. und wiederum von Prof. W. eingeholt.

5

Das LSG hat sodann durch Urteil vom 31.8.2010 die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Versicherte sei 1999 an einem Bronchialkarzinom des linken Lungenunterlappens verstorben. Seiner Überzeugung nach sei der Versicherte von 1966 bis 1996 als Schlosser bei der Firma B. infolge seiner versicherten Tätigkeit der lungenschädigenden Einwirkung Chrom VI- und nickeloxidhaltiger Schweißrauche, zinkchromathaltiger Tröpfchenaerosole, von Asbestfaserstaub, ionisierenden Thorium-Verfallsprodukten sowie polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen mit der Leitsubstanz Benzo(a)pyren (BaP) ausgesetzt gewesen, so dass insoweit die Einwirkungskausalität zu bejahen sei. Ohne die Einwirkung dieser Berufsschadstoffe wäre es nicht zum Auftreten der Bronchialkrebserkrankung des Schweregrads und im Alter von 60 Jahren gekommen. Als weitere Ursache trete aus dem privaten Bereich der Nikotinkonsum des Versicherten hinzu. Alle diese Lungenschadstoffe beruflicher wie privater Herkunft stünden nach Überzeugung des Senats als naturwissenschaftliche Ursachen im Sinne der conditio sine qua non Formel fest.

6

BK Nr 4104 scheide aus, weil der Nachweis einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis von 25 Faserjahren nicht erfüllt, BK Nr 4113, weil die dort geforderte Einwirkung von mindestens 100 BaP-Jahren nicht feststellbar sei. Ein Versicherungsfall der BK Nr 4114 (Lungenkrebs durch das Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen Kohlenwasserstoffen …) liege schon deshalb nicht vor, weil nach § 6 Abs 1 BKV hiervon nur Versicherungsfälle ab 1.10.2002 erfasst würden.

7

Keine der übrigen Berufsnoxen habe nach der Theorie der wesentlichen Bedingung allein das Lungenkrebsleiden des Versicherten bewirkt, so dass für die weiteren BK-Ziffern 2402, 4109 und 1103 nicht von einer monokausalen, durch den jeweiligen Schadstoff hervorgerufenen Entstehungsursache auszugehen sei. Die Thorium-Belastung beim WIG-Schweißen habe zu keiner im Rahmen der BK-Ziffer 2402 wesentlichen, lungenschädigenden ionisierenden Strahlenbelastung geführt. Die haftungsbegründende Kausalität sei im Allgemeinen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit monokausal zu begründen, wenn Intensität und Dauer der Einwirkung des jeweiligen Listenstoffes zu einer Risikoverdoppelung geführt hätten. Die Verdoppelungsdosis liege für Lungentumore bei Erwachsenen bei 2 Millionen Mikro-Sievert. Dieser Wert werde nicht erreicht. Dasselbe gelte für die BK Nr 4109 (bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lunge durch Nickel). Der Senat gehe von 288 bzw 540 µg Nickel/m³ x Jahre aus. Damit werde der Wert von 5000 µg Nickel/m³ x Jahre (Verdoppelungsdosis) nicht erreicht. Dasselbe gelte für die Belastung des Versicherten mit Chrom und seinen Verbindungen im Rahmen der BK Nr 1103. Auch hier werde die Verdoppelungsdosis von 2000 µg/m³ x Jahre nicht erreicht.

8

Der Versicherungsfall einer BK Nr 1103 sei auch nicht im Wege einer synkanzerogenen Kombinationswirkung von zumindest fünf lungenschädlichen Berufsschadstoffen zugunsten des Versicherten festzustellen. Denn auch unter Berücksichtigung der allein quantifizierbaren Lungenschadstoffe Chrom VI, Nickel und Asbest sei eine Risikoverdoppelung bzw ein relatives Risiko (RR) von zwei entsprechend einer Verursachungswahrscheinlichkeit (VW) von 0,5 nicht zu begründen, so dass berufliche Kausalfaktoren als wesentliche (Mit-)Ursache der Bronchialkrebserkrankung des Versicherten nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwiesen seien. Grundsätzlich sei von einer synkanzerogenen Wirkung der Stoffe auszugehen, wobei die Bewertung nach der führenden Schweißrauchkomponente, der Chrom VI-Belastung erfolge. Beim Versicherten sei jedoch keine BK Nr 1103 durch Chrom VI-haltige Schweißrauchbestandteile bei synkanzerogener Mitbeteiligung der übrigen Lungenschadstoffe festzustellen. Die Gerichte müssten hier die streitigen Kausalzusammenhänge auf der Grundlage freier Beweiswürdigung mit der geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit feststellen. Auszugehen sei von der sog Wichmann'schen Formel, nach der das RR und die resultierende VW ermittelt werden könnten. Beim Zusammenwirken mehrerer Noxen errechne sich bei Erreichen eines RR von mehr als zwei eine VW von mehr als 50 % entsprechend einer Risikoverdoppelung. Die den Versicherten treffenden Schadstoffe wirkten hier auf dasselbe Organ (Lunge) im Rahmen einer linearen Dosis-Wirkungsbeziehung nach einem additiven Modell ein, so dass die für jeden Stoff ermittelten Bruchteile der Verdoppelungsdosis zu addieren seien. Die Sachverständigen kämen jedoch zu RR-Werten von unter zwei und damit von VW-Werten von unter 0,50, so dass die für eine wesentliche berufliche Mitverursachung zu fordernde Risikoverdopplung hinsichtlich der quantifizierbaren Stoffe Chrom, Nickel und Asbest deutlich verfehlt werde. Eine Anknüpfung an niedrigere Werte, wie etwa das sog Krasney'sche Drittel werde in der herrschenden Literatur und Rechtsprechung zu Recht abgelehnt.

9

Der Versicherte sei darüber hinaus nicht quantifizierbaren Noxen ausgesetzt gewesen, die es allerdings nicht erlaubten, die fehlende Lücke zur Risikoverdopplung zu schließen. Um zur Risikoverdopplung zu gelangen, hätten die nicht quantifizierbaren Belastungen beim Schweißen von Baustahl, durch Zinkchromat, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) und Thorium sowie für die Bystander-Belastung zusätzlich ein RR von 1,57 ergeben müssen, was nicht begründbar sei.

10

Beweiserleichterungen bzw eine Umkehr der Beweislast zugunsten der Klägerin kämen nicht in Betracht. Zwar seien dem Arbeitgeber schwere Versäumnisse anzulasten und die Arbeitsbedingungen nur noch schwer zu rekonstruieren. Eine Abkehr von dem in der UV generell zu fordernden Beweisgrad oder gar eine Umkehr der Beweislast lasse sich hieraus aber nicht ableiten. Dem Berufungsbegehren hätte nur dann entsprochen werden können, wenn der Senat infolge einer Beweiserleichterung die anspruchsbegründende (Mit-)Ursächlichkeit lungenbelastender Berufsschadstoffe für das Auftreten des todesursächlichen Bronchialkarzinoms als erwiesen hätte ansehen können, wovon er sich aus mehreren Gründen nicht habe überzeugen können. Zu den fünf bis sechs synkanzerogenen Lungenschadstoffen seien keine belastbaren Dosis-Wirkungs-Beziehungen veröffentlicht. Falls ein Gericht hier dennoch das Erreichen der Verdoppelungsdosis unterstellen würde, so käme dies einer Umkehr der Beweislast gleich. Aber auch diese würde nicht zum Erfolg führen, weil der private Zigarettenkonsum des Versicherten zu berücksichtigen sei. Es wäre dann immer noch die Frage zu entscheiden, welche Bedeutung der beruflichen Verdoppelung des Risikos im Verhältnis zum durch den privaten Zigarettenkonsum vielfach erhöhten Erkrankungsrisikos zukomme. Der Senat halte für die Zeit vom 21. Lebensjahr (1960) bis zum Todesjahr (1999) des Versicherten den Konsum von mindestens 15 Zigaretten täglich für erwiesen. Aufgrund dieser 29,25 Packungsjahre ergebe sich ein 11-fach erhöhtes Lungenkrebsrisiko.

11

Die Bronchialkrebserkrankung habe schließlich auch nicht als Wie-BK nach § 9 Abs 2 SGB VII anerkannt werden können.

12

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision. Sie rügt eine Verletzung des § 9 Abs 1 SGB VII. Das LSG habe bei den BKen Nr 1103, 2402 und 4109 eine monokausale Verursachung des Bronchialkarzinoms abgelehnt. Es sei jedoch in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch bei fehlender Monokausalität eine oder mehrere dieser Listen-BKen vorliegen könnte (Hinweis auf BSG vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 17), wenn der Schadstoff eine wesentliche Teilursache gewesen sei. Es stelle sich die Rechtsfrage, welche Anforderungen an die Kombinationswirkung von lungenkrebsauslösenden Noxen zu stellen seien. Es seien hier keinesfalls nur quantifizierbare Lungenschadstoffe (wie Chrom VI, Nickel und Asbest) zu berücksichtigen. Zudem könne aus § 9 Abs 1 SGB VII das vom LSG geforderte Kriterium eines Verdoppelungsrisikos nicht abgeleitet werden. Für das Erfordernis eines solchen Verdoppelungsrisikos gebe der Gesetzeswortlaut keinerlei Anhalt. Im Übrigen hätten die Gutachter auch die nicht quantifizierbaren Risiken abgeschätzt. Das LSG habe gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung verstoßen, indem es nur quantifizierbare Einwirkungen berücksichtigt habe. Es hätte zudem aufgeklärt werden müssen, ob der Synergismus auch nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen immer noch als additives Modell zu beschreiben sei. Mit Krasney sei davon auszugehen, dass eine berufliche Teilursache bei einer VW von 0,33 bestehe. Das LSG habe nicht alle zu berücksichtigenden Tatsachen für die Beweisermittlung berücksichtigt. Der vorliegende Fall werde durch eine Kumulation von Besonderheiten (Verschulden des Arbeitgebers; Versäumnisse der beklagten BG) geprägt. Es hätten hier Anknüpfungstatsachen für einen Beweisnotstand ermittelt werden müssen, was ein Vergleich zur zivilrechtlichen Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht zeige.

13

Die Klägerin beantragt,

        

die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 31.08.2010 und des Sozialgerichts Marburg vom 31.05.2005 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung der Regelungen in dem Bescheid vom 20.11.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.06.2002 zu verurteilen, der Klägerin Leistungen aus Anlass des Todes des Versicherten K. zu gewähren.

14

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

15

Sie beruft sich auf das angefochtene Urteil. Das LSG habe allerdings, nachdem es die monokausale Verursachung aller BKen abgelehnt habe, die BK Nr 1103 zusätzlich unter dem Gesichtspunkt geprüft, ob Chrom im Zusammenwirken mit anderen Schadstoffen eine wesentliche Teilursache der Lungenerkrankung des Versicherten darstellen könne. Das LSG habe dabei fälschlicherweise die sog Wichmann'sche Formel benutzt. Das Wichmann'sche Berechnungsmodell dürfe nur auf eine konkrete Stoffkombination angewandt werden, wenn sowohl für die gesundheitsschädigende kanzerogene Wirkung der einzelnen Stoffe als auch für das synergetische Zusammenwirken ausreichende und gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse vorlägen. Das BSG habe aber am 12.1.2010 (B 2 U 5/08 R - aaO) bereits klargestellt, dass es keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die synkanzerogene Wirkung von Chromat, Nickeloxid, Asbest und ionisierenden Strahlen gebe.

Entscheidungsgründe

16

Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung der Entscheidung des LSG und der Zurückverweisung an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

17

Der Senat kann aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht abschließend darüber befinden, ob bei dem Verstorbenen die BKen Nr 1103, 4109 oder 2402 der Anlage 1 zur BKV vorlagen und die Klägerin deshalb einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente hat (im Einzelnen unter 4.). Das LSG ist bei der Prüfung, ob einer der in diesen BKen genannten Arbeitsstoffe wesentliche (Teil-)Ursache der Lungenkrebserkrankung des Versicherten war, von einem Erfahrungssatz (der sog Wichmann'schen Formel) ausgegangen, der für die Frage der (teil-)wesentlichen Verursachung der Erkrankung durch eine der Noxen (isoliert) schon wissenschaftlich/ denklogisch von seinem Ansatz her nicht einschlägig ist. Das LSG hat allerdings zu Recht das Vorliegen einer BK nach Nr 4104, 4113 und 4114 der Anlage 1 zur BKV abschließend verneint (vgl unter 2.). Ebenso hat es das Vorliegen einer sog Wie-BK gemäß § 9 Abs 2 SGB VII mit zutreffenden Erwägungen verneint (hierzu unter 3.).

18

1. Wie der Senat bereits entschieden hat (vgl Urteil vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 26 ff) umfasst der von der Klägerin bestimmte Streitgegenstand das Begehren auf Verurteilung der Beklagten zur Zahlung einer Witwenrente unter jedem rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkt. Diesen Anspruch hat die Beklagte mit den Ablehnungsentscheidungen in ihren Bescheiden verneint. Nach § 63 Abs 1 SGB VII ist Voraussetzung eines jeden Hinterbliebenenrechts(§§ 64 bis 71 SGB VII), dass in der Person des Versicherten ein Versicherungsfall eingetreten war und er infolgedessen verstorben ist. Die Frage, ob ein Versicherungsfall vorgelegen hat und welcher es genau war, ist kein selbstständiger Gegenstand des Verwaltungsverfahrens, über den durch Verwaltungsakt entschieden werden dürfte, sondern nur eine Tatbestandsvoraussetzung des streitgegenständlichen Anspruchs. Wird dieser Anspruch durch negativ feststellenden Verwaltungsakt verneint, ist die Äußerung des Trägers, ein Versicherungsfall, zB eine bestimmte BK oder Wie-BK habe nicht vorgelegen, nur ein unselbstständiges Begründungselement des Verwaltungsakts. Der Hinterbliebene kann sich daher darauf beschränken vorzutragen, beim Versicherten habe irgendein Versicherungsfall (Arbeitsunfall, Listen-BK, Wie-BK) vorgelegen, der dessen Tod herbeigeführt habe. Der Träger muss dann allein darüber entscheiden, ob das vom Hinterbliebenen verfolgte Recht auf Hinterbliebenenleistungen besteht oder nicht besteht.

19

Hingegen ist er schon mangels einer gesetzlichen Ermächtigung nicht befugt, einen feststellenden Verwaltungsakt darüber zu erlassen, ob der Versicherte einen Versicherungsfall erlitten hatte. Es gibt auch keine Anspruchsgrundlage für einen Anspruch des Hinterbliebenen auf eine isolierte Vorabentscheidung des Trägers über das frühere Vorliegen eines Versicherungsfalles beim Versicherten. Hierfür besteht im Übrigen auch kein Bedürfnis, weil nach dem Tod des Versicherten der Eintritt weiterer Versicherungsfälle, deren Folgen voneinander abzugrenzen sein könnten, ausgeschlossen ist. Hier hat die Beklagte zwar mehrfach im Hinblick auf verschiedene Sachverhalte, aber jeweils einheitlich festgestellt, dass die Klägerin keinen Anspruch auf die begehrte Witwenrente habe.

20

2. Die Klägerin hat zunächst keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente wegen des Todes des Versicherten infolge des Versicherungsfalls einer BK Nr 4104, 4113 oder 4114, weil die in den Tatbeständen dieser Normen der Anlage 1 zur BKV explizit benannten Voraussetzungen der jeweiligen BK nicht vorgelegen haben. Aus § 9 Abs 1 SGB VII lassen sich für eine Listen-BK im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten: Die Verrichtung einer versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oä auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben(haftungsbegründende Kausalität; vgl zuletzt BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R und B 2 U 25/10 R; BSG vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 14; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14).

21

Die BK Nr 4104 lautet: "Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs - in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder - in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura oder - bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren". Die BK Nr 4104 scheidet schon deswegen aus, weil bei dem Versicherten nach dem Gesamtzusammenhang der tatsächlichen Feststellungen des LSG weder das Bild einer Asbestose noch einer durch Asbeststaub verursachten Erkrankung der Pleura noch eine Einwirkung von 25 Asbestfaserjahren vorgelegen hat (vgl auch BSG vom 4.12.2001 - B 2 U 37/00 R - SozR 3-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 1).

22

Die BK Nr 4113: "Lungenkrebs durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von mindestens 100 Benzo(a)pyren-Jahren [(µg/m³) x Jahre]" scheidet ebenfalls aus, weil der in der Norm selbst genannte Einwirkungswert von 100 BaP-Jahren nicht erreicht ist.

23

Schließlich scheidet auch BK Nr 4114 "Lungenkrebs durch das Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen" schon deshalb aus, weil der Versicherungsfall nicht gemäß § 6 Abs 1 Satz 1 BKV nach dem 30.9.2002 eingetreten ist.

24

3. Der Versicherte ist am 18.12.1999 auch nicht infolge des Versicherungsfalls einer Wie-BK gemäß § 9 Abs 2 SGB VII verstorben.

25

Nach § 9 Abs 2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der BKV bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK (Wie-BK) als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII erfüllt sind. Diese "Öffnungsklausel" des § 9 Abs 2 SGB VII soll nur die Regelungslücken in der BKV schließen, die sich aus den zeitlichen Abständen zwischen den Änderungen der BKV ergeben. Die Regelung ist aber keine allgemeine Härteklausel, für deren Anwendung es genügen würde, dass im Einzelfall berufsbedingte Einwirkungen die rechtlich wesentliche Ursache einer nicht in der BK-Liste bezeichneten Krankheit sind (vgl BSG vom 30.1.1986 - 2 RU 80/84 - BSGE 59, 295 = SozR 2200 § 551 Nr 27). Vielmehr soll die Anerkennung einer Wie-BK nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen für die Aufnahme der betreffenden Einwirkungs-Krankheits-Kombination in die Liste der BKen (vgl § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII) erfüllt sind, der Verordnungsgeber aber noch nicht tätig geworden ist (vgl BT-Drucks 13/2204, 77 f).

26

Der Versicherungsfall einer Wie-BK ist eingetreten, wenn neben den Voraussetzungen der schädigenden Einwirkungen aufgrund der versicherten Tätigkeit, der Erkrankung und der haftungsbegründenden Kausalität im Einzelfall auch die Voraussetzungen für die Aufnahme der betreffenden Einwirkungs-Krankheits-Kombination in die Liste der BKen nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen erfüllt sind. Der Versicherungsfall der Wie-BK lässt sich zwar nachträglich feststellen, er ist aber objektiv zu dem Zeitpunkt eingetreten, zu dem die Voraussetzungen des § 9 Abs 2 SGB VII gegeben sind(vgl noch zu § 551 Abs 1 Satz 2 RVO: BSG vom 2.12.2008 - B 2 KN 1/08 U R - BSGE 102, 121 = SozR 4-2700 § 9 Nr 12, RdNr 23). Im vorliegenden Fall kam es also entscheidend darauf an, ob es spätestes am 18.12.1999 wissenschaftliche Erkenntnisse gab, nach denen die Erkrankung Lungenkrebs, wenn sie durch die Einwirkungen von Chrom VI- und nickeloxidhaltigen Schweißrauchen, zinkchromathaltigen Tröpfchenaerosolen, Asbest und ionisierenden Thorium-Verfallsprodukten gemeinsam verursacht worden ist, die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die BKV erfüllte. Dies hat der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 12.1.2010 (aaO, RdNr 32 mwN aus der wissenschaftlichen Literatur) für den dort maßgebenden Zeitpunkt des 8.8.2000 verneint. Zu Recht weist die Beklagte darauf hin, dass die hier angefochtene Entscheidung des LSG für den Todeszeitpunkt 18.12.1999 unter diesem Gesichtspunkt nicht zu beanstanden ist.

27

4. Ob der Tod des Versicherten infolge eines Versicherungsfalls nach § 9 Abs 1 SGB VII iVm Nr 1103, 2402 oder 4109 der Anlage 1 zur BKV eingetreten ist, kann der Senat nicht abschließend entscheiden.

28

Diesen BK-Tatbeständen ist gemeinsam, dass sie selbst keine numerische Einwirkungsgröße der jeweiligen Noxe vorsehen. Erfüllen die Einwirkungen eines bestimmten Arbeitsstoffes bereits nicht die in einem BK-Tatbestand selbst genannten Einwirkungsvoraussetzungen, wie hier bei den BKen Nr 4104 und 4113 (soeben unter 2.), so können sie zwar eine Krankheit mitverursacht haben, eine Anerkennung der jeweiligen BK scheidet aber von vornherein aus, weil schon die Mindestanforderungen des jeweiligen BK-Tatbestands nach dessen expliziter Ausformulierung nicht gegeben sind (vgl BSG vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO , RdNr 37).

29

BK Nr 1103 lautet: "Erkrankungen durch Chrom oder seine Verbindungen". BK Nr 2402: "Erkrankungen durch ionisierende Strahlungen" und BK Nr 4109: "Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Nickel". Nach den Feststellungen des LSG ist der Versicherte während seines Arbeitslebens berufsbedingt schädigenden Einwirkungen durch Chrom VI- und nickeloxidhaltige Schweißrauche sowie ionisierenden Thorium-Verfallsprodukten ausgesetzt gewesen. Allerdings hat das LSG für jeden der in den drei genannten Listen-BKen bezeichneten Arbeitsstoffe isoliert betrachtet die haftungsbegründende Kausalität verneint, weil die Einwirkungen nicht die Schwelle des sog Verdoppelungsrisikos überschritten. Hierzu hat die Revision zunächst zu Recht gerügt, dass das LSG mit dem Verdoppelungsrisiko ein nicht unmittelbar aus dem Gesetz abgeleitetes Kriterium zugrunde gelegt hat, ohne im Einzelnen die wissenschaftliche Basis dieses Kriteriums in den Prozess einzuführen (vgl hierzu auch Urteil des Senats vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - RdNr 31). Das LSG wird daher nach einer Zurückverweisung zunächst klarzustellen haben, auf welchem medizinischen Erfahrungssatz die Annahme der jeweiligen Verdoppelungsgrenzwerte für die hier betroffenen BKen beruht (kritisch zur Zugrundelegung des Verdoppelungsrisikos als notwendiges Kriterium für die Einführung einer BK, BSG vom 23.3.1999 - B 2 U 12/98 R - BSGE 84, 30, 37 = SozR 3-2200 § 551 Nr 12 S 42). Nur dann kann auch revisionsrechtlich die Aussage des LSG nachvollzogen werden, dass keiner der Stoffe allein die (ggf in der jeweiligen Listen-BK bezeichnete) Erkrankung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit verursacht habe.

30

Der Senat hat allerdings in seinem Urteil vom 12.1.2010 (B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 34) zu erkennen gegeben, dass für die BK Nr 1103 eine Einwirkung in der Größenordnung von 2000 µg/m³ x Jahre erforderlich sein könnte, die bei dem Versicherten nach den Feststellungen des LSG bei weitem nicht erreicht wurde. Bei der Einwirkung durch ionisierende Strahlen (BK Nr 2402) wird anhand der Einwirkungsdosen die VW in Prozent ermittelt, die bei dem Versicherten nach den Feststellungen des LSG bei 1 vH lag. Bei der BK Nr 4109 könnte eine berufliche Einwirkung durch Nickel von 5000 µg/m³ x Jahre erforderlich sein (vgl BSG Urteil vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 34, wo allerdings die entsprechenden Feststellungen des LSG von der Revision nicht gerügt worden waren).

31

Der Senat hat zudem mehrfach klargestellt, dass eine der Listen-BKen (Nr 1103, 2402 und 4109) nicht nur dann vorliegen kann, wenn die in ihrem Tatbestand genannten Einwirkungen durch einen bestimmten Stoff auf die Gesundheit schon bei isolierter Betrachtungsweise nur je eines Stoffes die im Einzelnen zu definierenden Voraussetzungen erfüllen (grundlegend BSG vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 35). Denn selbst wenn diese Einwirkungen bei isolierter Betrachtung - und ggf nicht zu beanstandender Zugrundelegung des sog Verdoppelungsrisikos oder eines anderen aufgrund wissenschaftlicher Erfahrungssätze begründbaren Kriteriums - die Voraussetzungen an die Einwirkungsdauer, -intensität, -häufigkeit oder -weise nicht erfüllen, können sie dennoch eine wesentliche Teilursache der als BK anerkannten Krankheit nach der Theorie der wesentlichen Bedingung sein (vgl zur Prüfung des Versicherungsfalls einer Listen-BK: BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 33/07 R - BSGE 103, 54 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 5; zur Theorie der wesentlichen Bedingung: zuletzt eingehend BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - RdNr 28 ff; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 13 ff).

32

Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht zunächst auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie, nach der jedes Ereignis (jede Bedingung) Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Erst wenn feststeht, dass ein bestimmtes Ereignis - hier Einwirkungen durch einen Arbeitsstoff - eine naturphilosophische Teilursache der Krankheit ist, stellt sich die Frage nach einer rechtlich wesentlichen Verursachung des Erfolgs durch das Ereignis. Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist in diesem zweiten Schritt zwischen Ursachen zu unterscheiden, denen der Erfolg zugerechnet wird und die für den Erfolg rechtlich unerheblich sind. Als kausal und rechtserheblich werden nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zur konkreten Krankheitsentstehung zum Eintritt des Erfolgs wesentlich mitgewirkt haben. Bei der rein rechtlichen Zurechnungsprüfung der "Wesentlichkeit" einer Bedingung für die Entstehung (oder wesentliche Verschlimmerung) der Krankheit sind also nicht alle Bedingungen zu berücksichtigen, sondern nur jene, die nach den im jeweiligen Entscheidungszeitpunkt anerkannten wissenschaftlichen Erfahrungssätzen notwendige oder hinreichende Bedingungen für den Eintritt einer Krankheit dieser Art sind. Welche Ursache im Einzelfall rechtlich wesentlich ist und welche nicht, muss nach der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs wertend entschieden werden (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 13 f mwN; BSG vom 17.2.2009 - B 2 U 18/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 31 RdNr 12).

33

Auch für die Arbeitsstoffe der hier in Betracht kommenden BKen Nr 1103, 2402, 4109, deren Bezeichnung keine Dosis enthält, ist daher zuerst festzustellen, ob die durch die Verrichtung der versicherten Tätigkeit verursachte konkret festgestellte Einwirkung des Stoffes auf den Versicherten nach den derzeit in der Wissenschaft anerkannten Erfahrungssätzen ihrer Art nach eine notwendige (oder hinreichende) Bedingung (unter Umständen neben anderen notwendigen oder hinreichenden Bedingungen) für die Entstehung einer Krankheit der beim Versicherten festgestellten Art ist. Nur dann ist im konkreten Einzelfall die Krankheit des Versicherten tatsächlich Folge (ggf auch) der durch die versicherte Tätigkeit verursachten Einwirkung. Mithin ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob der Stoff des jeweiligen BK-Tatbestands nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass das Entstehen der Erkrankung entfiele.

34

Ist ein Listenstoff in diesem Sinne ursächlich geworden, ist weiter zu prüfen, ob er eine wesentliche (Teil-)Ursache für den Eintritt der Erkrankung gesetzt hat. Denn die Theorie der wesentlichen Bedingung verlangt bei der Prüfung, ob eine Einwirkung einen wesentlichen Kausalbeitrag gesetzt hat, nicht abstrakt eine mindestens gleichwertige Bedeutung für den Erfolg. Vielmehr lässt sie es zu, ihre "Wesentlichkeit" für die festgestellte Erkrankung auch bei einem naturphilosophisch notwendigen Zusammenwirken mehrerer in der Anlage zur BKV bezeichneter schädigender Einwirkungen zu bejahen. Dem Zusammenwirken einzelner Mitbedingungen in einer Gruppe, die als Kollektiv für einen Erfolg wesentlich ist, kann so viel Eigenbedeutung zukommen, dass auch dem einzelnen Listenstoff des Einwirkungsgemischs wesentliche Bedeutung für den Erfolg im Sinne eines BK-Tatbestands zukommt (vgl BSG vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 38, 21; Becker in MedSach 2005).

35

Falls die Krankheit des Versicherten nach wissenschaftlichen Erfahrungssätzen allein deshalb entstanden ist (Tatsachenfrage), weil mehrere in verschiedenen Tatbeständen der BKV genannte Stoffe nebeneinander als notwendige (oder hinreichende) Bedingungen infolge der Verrichtung einer versicherten Tätigkeit eingewirkt haben, kommt es für jeden einschlägigen BK-Tatbestand darauf an, ob die in ihm genannte und konkret festgestellte (Tatsachenfrage) Stoffeinwirkung im Einzelfall im oben genannten Sinn rechtlich "wesentlich" war.

36

Das LSG hat diesen Zusammenhang erkannt und unter Berufung auf das Urteil des erkennenden Senats vom 12.1.2010 (aaO) geprüft, ob bei dem Versicherten die BK Nr 1103 (Chrom) vorliegt. Im Ansatz richtig ist es davon ausgegangen, dass aufgrund des Zusammenwirkens von Stoffen keine außergesetzliche, neue Gesamt-BK gebildet werden kann. Vielmehr ist jeweils stoffbezogen zu prüfen, ob nicht die Einwirkungen nach jeder der in Betracht kommenden BKen eine rechtlich wesentliche Teilursache für die Lungenerkrankung bilden.

37

Das LSG hat auf der ersten Stufe der Kausalitätsprüfung eine naturwissenschaftlich-philosophisch vorliegende Verursachungsbeziehung (ua) zwischen dem Lungenkrebs des Versicherten und den Noxen Chrom, Nickel und Thorium bejaht, ohne geklärt zu haben, welche Stoffeinwirkungen nach den wissenschaftlich anerkannten Erfahrungssätzen notwendige oder hinreichende Bedingungen der Krankheit des Versicherten waren. Es wendet sich sodann ausschließlich der Prüfung der BK Nr 1103 zu, weil Chrom die "führende Schweißrauchkomponente" gewesen sei. Sodann wird geprüft, ob eine BK Nr 1103 bei "synkanzerogener Mitbeteiligung der übrigen Lungenschadstoffe" festzustellen sei (Urteil S 27). In der Folge wird unter Anwendung der sog Wichmann'schen Formel versucht, den relativen Beitrag der einzelnen Noxen additiv zu ermitteln, um bei Vorliegen einer VW von 0,50 (aller Noxen zusammengenommen) dann ein Vorliegen der BK Nr 1103 (Chrom) in Erwägung zu ziehen.

38

Das LSG hat dabei verkannt, dass das von ihm mehrfach zustimmend zitierte Urteil des LSG Schleswig-Holstein (13.9.2007 - L 1 U 44/03 - Breithaupt 2008, 308) Gegenstand des Revisionsverfahrens B 2 U 5/08 R (Urteil vom 12.1.2010 - aaO) gewesen und von seinem rechtlichen Ansatz her vom BSG für nicht vertretbar erachtet worden ist. Das LSG Schleswig-Holstein hatte die sog Wichmann'sche Formel dazu benutzt, eine (neue) Gesamt-BK bestehend aus den Nr 1103, 4109 und 2402 der BKV zu bilden, die es deshalb für begründbar gehalten hat, weil alle Noxen additiv zusammengenommen die VW von 50 vH überschritten hätten (LSG Schleswig-Holstein, aaO, RdNr 50 ff).

39

Das LSG übernimmt nun für den vorliegenden Fall diesen Berechnungsansatz, um eine "führende" Einzel-BK (hier Nr 1103) für den Fall bejahen zu können, dass zu diesem "führenden" Schadstoff additiv weitere Stoffe hinzukämen, mit denen die VW insgesamt (durch alle einwirkenden Stoffe in additiver Gesamtschau) überschritten werde. Mit einem solchen Vorgehen wird aber in keiner Weise plausibel (aufgrund wissenschaftlicher Erfahrungssätze), wieso zunächst gerade Chrom eine notwendige oder hier sogar hinreichende wesentliche (Teil-)Ursache für den Lungenkrebs des Versicherten gesetzt haben soll und folglich ausschließlich die BK Nr 1103 in Betracht käme. Das LSG hat - ohne nachvollziehbare Begründung - Chrom als "Leitstoff" (wieso nicht Thorium oder Nickel?) gesetzt und ist sodann davon ausgegangen, die BK Nr 1103 bejahen zu können, wenn Chrom in Kombination mit allen anderen Stoffen insgesamt nach der Wichmann'schen Formel zu einer VW von über 50 vH führt. Nach dem Inhalt dieser Formel wäre aber allenfalls belegbar, dass die Summe der in die Formel eingestellten Noxen zu einer Erkrankung geführt haben könnte. Insbesondere hat das LSG nicht mitgeteilt, welcher in der Wissenschaft anerkannte Erfahrungssatz durch die Wichmann'sche Formel ausgedrückt wird. Ohne diese Feststellung der in seiner Folgerung zugrunde gelegten generellen Tatsache kann das Revisionsgericht nicht erkennen, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff der "wesentlichen Teilverursachung" zutreffend ausgelegt hat. Die Frage, welche(r) der drei in BK Nr 1103, 2402 und 4109 genannte(n) Schadstoff(e) (teil-)wesentlich die Erkrankung verursacht haben könnte(n), lässt sich aber mit der Wichmann'schen Formel gerade nicht beantworten.

40

Falls die weiteren Ermittlungen des LSG ergeben, dass alle in Betracht kommenden Noxen naturwissenschaftlich-philosophisch kausal für die Erkrankung waren, so wird es folglich weiter zu prüfen haben, ob die Einwirkungen nach den genannten BKen Nr 1103, 2402, 4109 - jede für sich und nicht alle zusammen im Sinne der Wichmann'schen Formel als Gesamt-BK betrachtet - eine rechtlich wesentliche Teilursache für den Eintritt der Lungenerkrankung waren. Ist auch dies zu bejahen, ist entweder ein Versicherungsfall nach BK Nr 1103 oder BK Nr 2402 oder BK Nr 4109 oder aber mehrere Versicherungsfälle dieser Listen-BKen nebeneinander (nicht kumulativ) gegeben (vgl BSG vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 39). Schließlich ist zu prüfen, ob der Tod des Versicherten infolge dieses Versicherungsfalls oder eines dieser Versicherungsfälle eingetreten ist.

41

Das LSG wird sodann bei Berücksichtigung dieser rechtlichen Maßstäbe auch den Verursachungsbeitrag des Rauchens des Versicherten zu bestimmen haben. Mit dem vom LSG bindend festgestellten Rauchen des Versicherten über einen Zeitraum von 29,25 Packungsjahren ist zunächst mehr als ein Anhaltspunkt für eine andere Verursachung für die Lungenkrebserkrankung des Versicherten gegeben (BSG vom 30.1.2007 - B 2 U 15/05 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2 RdNr 26). Allerdings ist noch zu beurteilen, ob das Rauchen des Versicherten in wertender Betrachtung die rechtlich "allein wesentliche" Ursache der Erkrankung war. Dies wird insbesondere anzunehmen sein, wenn der Verursachungsbeitrag der Einwirkung Rauchen gegenüber den Verursachungsbeiträgen der anderen Noxen deutlich überwiegt. Bergen aber nach den festzustellenden wissenschaftlichen Erkenntnissen die beruflichen Einwirkungen für sich allein ein so hohes Gefährdungspotential, dass sich darauf eine hinreichende VW stützen lässt, so kann es auf das Vorhandensein weiterer belastender Einwirkungen nicht ankommen (BSG aaO, RdNr 27).

42

Das LSG wird auch abschließend über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. September 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger unter Anerkennung einer "mittelgradigen depressiven Störung" als Unfallfolge ab 1.3.1998 Verletztenrente nach einer MdE um 30 vH zu zahlen ist.

2

Der Kläger war ab August 1995 als Gepäckabfertiger bei der damaligen Flughafen AG beschäftigt. Am 13.1.1997 wurde er bei der Ausübung der Beschäftigung zwischen einem Containertransporter sowie einem Gepäckcontainer-Anhänger eingeklemmt. Dadurch wurden sein dritter Finger links und sein Kniegelenk links gequetscht. Folgen dieser Verletzungen lagen über den 18.7.1997 hinaus nicht mehr vor.

3

Der Kläger wurde wegen des Unfalls zunächst ambulant, wegen anhaltender Beschwerden im linken Kniegelenk ab April 1997 in einer Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik stationär behandelt. Danach wurde eine Arbeitserprobung durchgeführt, die wegen gesundheitlicher Beschwerden abgebrochen wurde.

4

Anschließend fand eine Vielzahl von Behandlungen statt, die bis November 1999 überwiegend durch Durchgangsärzte erfolgten und im Auftrag und zulasten der Beklagten durchgeführt wurden. Diese Maßnahmen zur Diagnose und zur Heilbehandlung waren aber rückwirkend betrachtet nur zum Teil durch die Unfallfolgen bedingt. Zum anderen Teil beruhten sie auf unfallunabhängigen Vorschäden am linken Kniegelenk.

5

Der Kläger befand sich unter der Diagnose einer chronifizierten Depression ab März 1998 bei einer Diplom-Psychologin und ab April 1998 bei einem Psychiater in Behandlung. Vom 8.9. bis 3.10.1998 fand eine stationäre Behandlung in einer Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie statt, wo eine Angstneurose mit Panikattacken sowie eine Störung der Impulskontrolle diagnostiziert wurden.

6

Die Beklagte bewilligte dem Kläger einen ersten Vorschuss auf die voraussichtlich zu zahlende Verletztenrente (Vorschussbescheid vom 8.9.1998). Weitere Vorschusszahlungen folgten. Die Beklagte lehnte zunächst dennoch die "Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung über den 18.7.1997 hinaus" ab (Bescheid vom 27.9.2002). Den hiergegen vom Kläger erhobenen Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 11.3.2005 zurück. Später bewilligte und zahlte die Beklagte dem Kläger rückwirkend und durchgängig vom Unfalltag bis zum 30.9.2002 Verletztengeld.

7

Das SG Gießen hat die Beklagte durch Urteil vom 3.7.2008 verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung einer mittelgradigen depressiven Störung als Folge des Arbeitsunfalls ab 19.7.1997 Verletztenrente nach einer MdE um 30 vH zu zahlen.

8

Das Hessische LSG hat der Berufung der Beklagten insoweit stattgegeben, als die Verletztenrente erst am 1.3.1998 beginne, und sie im Übrigen zurückgewiesen (Urteil vom 26.9.2011). Bei dem Kläger liege eine dauerhafte psychische Erkrankung im Sinne einer chronifizierten depressiven Episode vor. Diese sei in "rechtlich-wesentlichem Umfang" durch den Verlauf der Heilbehandlung der unmittelbaren körperlichen Verletzungen aufgrund des Arbeitsunfalls verursacht worden. Die Heilbehandlung sei zwar rückwirkend betrachtet durch erhebliche degenerative Vorschäden bedingt gewesen. Für die Zurechnung mittelbarer Unfallfolgen komme es aber nicht darauf an, dass die Maßnahmen der Heilbehandlung von der Beklagten angeordnet worden seien. Vielmehr reiche es für die Zurechnung im Rahmen des § 11 Abs 1 SGB VII aus, wenn der Unfallversicherungsträger oder der ihm rechtlich zuzuordnende Durchgangsarzt bei seinem Handeln den objektivierbaren Anschein oder den Rechtsschein gesetzt habe, dass die Behandlung oder Untersuchung zur berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung oder zur Untersuchung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls angeordnet werde und der Versicherte der Auffassung sein könne, dass die Heilbehandlung geeignet sei, die Unfallfolgen zu bessern oder zu beseitigen.

9

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und rügt die Verletzung der §§ 11 Abs 1, 56 Abs 1, 72 Abs 1 sowie 74 Abs 2 SGB VII. Das LSG habe durch seine Auslegung § 11 Abs 1 SGB VII verletzt, da als Ursache der Erkrankung letztlich nicht die Durchführung einer Heilbehandlung oder eine Untersuchung zur Klärung des Versicherungsfalls gesehen werde, sondern vielmehr die Art und Weise des Ablaufs der Heilbehandlung, die - jedenfalls aus Sicht des Klägers - zu Problemen geführt habe. Die Zurechnung zu den Unfallfolgen dürfe nicht aufgrund der subjektiven Einschätzung des Klägers erfolgen, weil dieser die Maßnahmen aus seiner Sicht für undurchschaubar halte und sich durch Zuständigkeitsfragen zwischen Ärzten oder Trägern belastet fühle. Unsicherheiten, die aus dem Wechsel der behandelnden Ärzte oder deren Diagnosestellung herrührten, seien aber durch § 11 SGB VII nicht geschützt. Das LSG habe auch weder festgestellt, dass die Maßnahmen zulasten des Unfallversicherungsträgers angeordnet worden seien, noch festgestellt, dass es sich um die Behandlung von Unfallfolgen gehandelt habe, noch dass diese durchgangsärztlich zu ihren Lasten angeordnet worden seien. Darüber hinaus verletze die Festlegung des Rentenbeginns durch das LSG §§ 72 Abs 1, 74 Abs 2 SGB VII, da dem Kläger rückwirkend bis einschließlich 30.9.2002 Verletztengeld gezahlt worden sei. Das Urteil beruhe zudem auf Verfahrensfehlern (Verletzung von §§ 62, 103 SGG).

10

Die Beklagte beantragt,

        

die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. September 2011 und des Sozialgerichts Gießen vom 3. Juli 2008 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

11

Der Kläger beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

12

Er hält das Urteil des LSG für zutreffend. Insbesondere handele es sich bei der diagnostizierten mittelgradigen Depression um eine mittelbare Unfallfolge iS des § 11 SGB VII.

Entscheidungsgründe

13

Die Revision der Beklagten ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung durch das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

In dem Rechtsstreit wegen Feststellung einer Unfallfolge und Zahlung einer Verletztenrente nach einer MdE um 30 vH (1.) kann der Senat auf der Grundlage der vom LSG getroffenen Feststellungen nicht entscheiden, ob und ggf welche psychischen Gesundheitsstörungen gemäß § 8 Abs 1 SGB VII unmittelbar durch den Arbeitsunfall wesentlich verursacht worden sind (2. a>) oder ob und ggf welche psychischen Gesundheitsstörungen als mittelbare Unfallfolgen iSd § 11 Abs 1 SGB VII festzustellen sind (2. b>). Es kann auch nicht abschließend beurteilt werden, ob ein Anspruch auf Verletztenrente iSd § 56 Abs 1 SGB VII besteht (3. a>). Soweit das LSG erneut zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass ein Anspruch auf Verletztenrente gegeben ist, kann ein solcher gemäß § 72 Abs 1 SGB VII nicht für Zeiten vor dem 1.10.2002 bestehen (3. b>).

15

1. Die Beklagte wendet sich mit der Revision gegen das Urteil des LSG, mit dem dieses die Berufung gegen das den Anfechtungsklagen wegen der ablehnenden Verwaltungsakte in den Bescheiden der Beklagten (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG), den Klagen auf Feststellung einer chronifizierten depressiven Episode als Unfallfolge (§ 55 Abs 1 Nr 3 SGG) sowie auf Zahlung einer Verletztenrente (§ 54 Abs 4 SGG)nach einer MdE um 30 vH stattgebende Urteil des SG im Wesentlichen bestätigt hat. Der Senat kann nicht abschließend entscheiden, ob das LSG Bundesrecht verletzt hat, da dessen tatsächliche Feststellungen keine abschließende Beurteilung der geltend gemachten Ansprüche erlauben.

16

Die Beklagte hat (spätestens) in dem angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides festgestellt, dass der Kläger am 13.1.1997 einen Arbeitsunfall mit den Gesundheitserstschäden am dritten Finger links und am Kniegelenk links erlitten hat. Daher richten sich dessen Anfechtungsklagen gegen die Ablehnung eines Anspruchs auf Feststellung einer chronifizierten depressiven Episode als Unfallfolge und die Ablehnung eines Rechts auf Verletztenrente.

17

Mit der Feststellungsklage nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG kann der Kläger den behaupteten materiellen Anspruch auf Feststellung der Unfallfolge durchsetzen, ohne dass er daran durch seine Befugnis zur Erhebung einer Verpflichtungsklage gehindert wäre. Denn er kann zwischen beiden Rechtsschutzformen wählen, weil sie, soweit um Ansprüche auf Feststellung von Unfallfolgen (oder Versicherungsfällen) gestritten wird, grundsätzlich gleich rechtsschutzintensiv sind (vgl BSG Urteil vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274, RdNr 12 f). Für das Begehren auf Verletztenrente hat er die Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs 4 SGG zulässig mit der unechten Leistungsklage auf Gewährung einer Verletztenrente kombiniert.

18

2. Nach § 102 SGB VII haben die Versicherten gegen den zuständigen Unfallversicherungsträger einen Anspruch auf Feststellung einer Unfallfolge (oder eines Versicherungsfalls), wenn ein Gesundheitsschaden durch den Gesundheitserstschaden eines Versicherungsfalls oder infolge der Erfüllung eines Tatbestandes des § 11 SGB VII rechtlich wesentlich verursacht wird. Der Gesundheitsschaden muss sicher feststehen (Vollbeweis) und durch Einordnung in eines der gängigen Diagnosesysteme (zB ICD-10, DSM IV) unter Verwendung der dortigen Schlüssel exakt bezeichnet werden.

19

a) Es steht schon nicht sicher fest, welche Gesundheitsstörung bei dem Kläger genau vorliegt.

20

Zwar steht aufgrund der Feststellungen des LSG fest, dass auf "orthopädisch/chirurgischem und neurologischem" Fachgebiet über den 18.7.1997 hinaus keine Folgen des Arbeitsunfalls vom 13.1.1997 vorliegen. Das LSG hat aber nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit festgestellt, welche psychische Gesundheitsstörung beim Kläger vorliegt, denn die Bezeichnung der Erkran-kung im Tenor weicht von derjenigen in den Gründen ab. Nach den Gründen der Entscheidung liegt beim Kläger eine mittelgradige depressive Episode nach "F 33.1" des ICD-10 vor. Im Tenor hat das LSG dagegen als Unfallfolge eine "mittelgradige depressive Störung" festgestellt.

21

b) Der Senat kann auch nicht abschließend beurteilen, ob eine ggf vorliegende mittelgradige depressive Episode iSv F 33.1 ICD-10 "infolge" des Versicherungsfalls besteht.

22

Das LSG hat nicht geprüft, ob die psychische Gesundheitsstörung eine solche iSd § 8 Abs 1 SGB VII ist. Das wäre anzunehmen, wenn sie unmittelbar durch den beim Versicherungsfall ausgelösten Gesundheitserstschaden verursacht worden ist. Die genau zu bezeichnende Gesundheitsstörung ist also als Unfallfolge festzustellen, wenn im wieder eröffneten Berufungsverfahren festzustellen ist, dass zwischen dem beim Arbeitsunfall vom 13.1.1997 eingetretenen Erstschaden und der psychischen Gesundheitsstörung ein unmittelbarer und rechtlich wesentlicher Ursachenzusammenhang besteht (haftungsausfüllende Kausalität).

23

c) Der Senat kann schon mangels Klarheit über das Vorliegen einer unmittelbaren Unfallfolge auch nicht abschließend entscheiden, ob die psychische Störung dem Versicherungsfall vom 13.1.1997 nach § 11 SGB VII als mittelbare Unfallfolge zuzurechnen ist. Das wird das LSG bei Verneinung einer unmittelbaren Unfallfolge aber zu prüfen haben.

24

Nach § 11 Abs 1 Nr 1 und 3 SGB VII sind Folgen eines Versicherungsfalls auch solche Gesundheitsschäden oder der Tod eines Versicherten, die durch die Durchführung einer Heilbehandlung nach dem SGB VII oder durch Maßnahmen wesentlich verursacht wurden, welche zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls angeordnet wurden. Diese Vorschrift regelt, dass auch solche Gesundheitsschäden, die durch die Erfüllung der in ihr umschriebenen Tatbestände wesentlich verursacht werden, dem Versicherungsfall rechtlich zugerechnet werden. Diese mittelbaren Folgen müssen - anders als nach § 8 Abs 1 SGB VII - nicht durch den Gesundheitserstschaden verursacht worden sein(vgl BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 mwN).

25

Mit dieser Entscheidung hat der Senat seine Rechtsprechung zum früheren Recht fortgeführt. Bereits für die Bejahung des nach § 555 Abs 1 RVO erforderlichen ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall und der Heilbehandlung genügte es, dass der Verletzte, der einen Arbeitsunfall erlitten hat, von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, dass die Heilbehandlung, zu deren Durchführung er sich begeben hat, geeignet ist, der Beseitigung oder Besserung der durch den Arbeitsunfall verursachten Gesundheitsstörungen zu dienen. Schon zu jener Vorschrift hat das BSG entschieden, dass es nicht erforderlich ist, dass die Heilbehandlung wegen Folgen des Arbeitsunfalls objektiv geboten war (BSG vom 24.6.1981 - 2 RU 87/80 - BSGE 52, 57, 58 = SozR 2200 § 555 Nr 5).

26

Hieran ist mit der Maßgabe festzuhalten, dass § 11 Abs 1 SGB VII nun darauf abstellt, dass die Mitwirkung an einer vom Träger angeordneten ärztlichen Maßnahme sich auch dann als versichert erweist, wenn sich später herausstellt, dass in Wirklichkeit kein Versicherungsfall vorlag. Allerdings setzt die Zurechnung eines Gesundheitsschadens, der rechtlich wesentlich durch eine iSv § 11 Abs 1 SGB VII vom Unfallversicherungsträger angeordnete Maßnahme verursacht wurde, die bisherige Rechtsprechung eingrenzend voraus, dass der Träger oder seine Leistungserbringer gegenüber dem durch die Verrichtung einer bestimmten versicherten Tätigkeit Versicherten durch (festgestellte) Handlungen den Anschein begründet haben, die Behandlungs- oder Untersuchungsmaßnahme erfolge zur Behandlung von Unfallfolgen (oder zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalles oder einer Unfallfolge). Hieran hält der Senat auch im Hinblick auf die an seiner Rechtsprechung geäußerte Kritik (vgl Gundolf Wagner in juris PraxisReport 9/12 Anm 2) fest (wie der Senat wohl auch Krasney, in Becker ua, Kommentar zum SGB VII, § 11 RdNr 15; aA auch Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 11 RdNr 3; G. Wagner in jurisPK-SGB VII, § 11 RdNr 15; Holtstraeter in K/S/W, Kommentar zum Sozialrecht, § 11 SGB VII RdNr 2; Rapp in LPK-SGB VII, § 11 RdNr 1; Schmitt, SGB VII, 4. Aufl 2009, § 11 RdNr 4; Schwerdtfeger in Lauterbach, UV-SGB VII, Stand April 2007, § 11 SGB VII RdNr 4).

27

Auch die Prüfung des Ursachenzusammenhangs zwischen einer Gesundheitsstörung und einer der nach § 11 Abs 1 SGB VII tatbestandlichen Maßnahmen erfolgt nach der Theorie der wesentlichen Bedingung. Dabei ist auf einer ersten Prüfungsstufe zu fragen, ob der Versicherungsfall eine naturwissenschaftlich-philosophische Bedingung für den Eintritt der Gesundheitsstörung ist. Dabei ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nach den einschlägigen Erfahrungssätzen nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (aa). Wenn festzustellen ist, dass der Versicherungsfall eine (von möglicherweise vielen) Bedingungen für den Erfolg - hier die psychische Störung - ist, ist auf der ersten Prüfungsstufe weiter zu fragen, ob es für den Eintritt des Erfolgs noch andere Ursachen iS der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie gibt (bb); das können Bedingungen aus dem nicht versicherten Lebensbereich wie zB Vorerkrankungen, Anlagen, nicht versicherte Betätigungen oder Verhaltensweisen sein (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 15). Erst wenn sowohl der Versicherungsfall als auch andere Umstände als Ursachen des Gesundheitsschadens feststehen, ist auf einer zweiten Prüfungsstufe rechtlich wertend zu entscheiden, welche der positiv festzustellenden adäquaten Ursachen für die Gesundheitsstörung die rechtlich "Wesentliche" ist (cc). Dasselbe gilt für die Frage, ob eine MdE vorliegt und im Wesentlichen durch Unfallfolgen verursacht wurde.

28

aa) Der Senat kann nicht entscheiden, ob die Erkrankung des Klägers eine mittelbare Unfallfolge nach § 11 Abs 1 Nr 1 oder Nr 3 SGB VII ist oder keine Unfallfolge war.

29

Ob sich eine medizinische Maßnahme als Durchführung einer Heilbehandlung (§ 11 Abs 1 Nr 1 SGB VII) oder als Maßnahme zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls (§ 11 Abs 1 Nr 3 SGB VII)durch die Beklagte darstellt, beurteilt sich danach, wie der Versicherte ein der Beklagten zuzurechnendes Verhalten bei verständiger Würdigung der objektiven Gegebenheiten zum Zeitpunkt ihrer Durchführung verstehen kann und darf (vgl BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274, RdNr 43).

30

Ob der Kläger zum Zeitpunkt der jeweiligen ärztlichen Behandlungen diese nach den objektiven Gegebenheiten als solche der Beklagten verstehen musste, steht nicht sicher fest. Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 11 Abs 1 SGB VII spricht zwar, dass die fraglichen Maßnahmen durch D-Ärzte und BG-Kliniken veranlasst wurden und die Beklagte deren Kosten trug. Das LSG hat aber nicht mit der gebotenen Deutlichkeit festgestellt, dass die verschiedenen von Ärzten veranlassten Maßnahmen sich nicht nur nach der subjektiven Wahrnehmung des Klägers zur Zeit ihrer Erbringung, sondern auch nach den objektiven Gegebenheiten für den Kläger als Heilbehandlung der Beklagten oder als deren Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls darstellten.

31

bb) Das LSG hat auch keine hinreichenden Feststellungen dazu getroffen, ob und ggf welche anderen Ursachen als der Versicherungsfall das Vorliegen der psychischen Erkrankung naturwissenschaftlich-philosophisch verursacht haben.

32

Aus dem Fehlen solcher Feststellungen kann andererseits nicht gefolgert werden, dass die Verwirklichung eines Tatbestands nach § 11 Abs 1 Nr 1 und 3 SGB VII die einzige Ursache der bestehenden Gesundheitsstörung war. Denn das LSG hat bei der Abwägung der Beiträge, die verschiedene Ursachen für das Entstehen der MdE haben, also auf der (zweiten) Stufe zur Prüfung der "Wesentlichkeit" von (verschiedenen) Ursachen, Vorerkrankungen des Klägers auf psychischem Gebiet sowie das Bestehen weiterer, nicht mit dem Arbeitsunfall in Verbindung stehender Faktoren, zB familiäre Probleme, bejaht. Ohne (ausdrückliche) Feststellung dazu, ob und inwieweit diese nicht dem versicherten Risiko zuzurechnenden Ursachen naturwissenschaftlich-philosophisch wirksam geworden sind, ist das LSG sogleich in die rechtliche Wertung eingetreten und hat den Versicherungsfall als die wesentliche Ursache für das Bestehen der Erkrankung bezeichnet.

33

cc) Falls bei erneuter Prüfung des Klagebegehrens festgestellt werden sollte, dass für die Erkrankung sowohl der Versicherungsfall als auch andere Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne vorliegen, ist nach der Theorie der wesentlichen Bedingung (zweite Stufe) zu prüfen, ob der Versicherungsfall die psychische Störung "wesentlich" verursacht hat. Unter Berücksichtigung der verschiedenen nach Erfahrungssätzen notwendigen oder hinreichenden Ursachen ist abzuwägen, welche von ihnen die rechtlich Wesentliche ist.

34

Bei der Überzeugungsbildung des Tatsachengerichts genügt für die Feststellung des naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachenzusammenhangs der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit (stRspr BSG vom 2.2.1978 - 8 RU 66/77 - BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr 38 S 105 f; BSG vom 30.4.1985 - 2 RU 43/84 - BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr 1 S 3 f). Dieser ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht; allein die Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs genügt dagegen nicht (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 20; BSG vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 3).

35

3. a) Aus den gleichen Gründen kann der Senat nicht entscheiden, ob der Kläger einen Anspruch auf Verletztenrente hat.

36

Gemäß § 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls - hier des anerkannten Arbeitsunfalls vom 13.1.1997 - über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert (MdE) ist, Anspruch auf Rente. Die Höhe der Rente richtet sich ua nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII).

37

Auch insoweit wird das LSG zu prüfen haben, ob eine MdE "infolge" des Arbeitsunfalls besteht. Hierfür gelten die oben zu 2. dargelegten Grundsätze entsprechend.

38

b) Sollte das LSG in dem erneuten Berufungsverfahren einen Anspruch auf Verletztenrente nach § 56 Abs 1 SGB VII bejahen, wird zu beachten sein, dass dieser erst am Tag nach Erlöschen des dem Kläger bewilligten Rechts auf Verletztengeld beginnen kann.

39

Zwar kann der Anspruch auf Verletztenrente - anders als das LSG meint - grundsätzlich bereits am Tag nach dem Versicherungsfall beginnen, wenn bereits zu diesem Zeitpunkt feststeht, dass eine MdE über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus vorliegen wird (zB bei Verlust eines Körperteils) und ein gesetzlich vorrangiger Anspruch nicht besteht.

40

Hier hat das LSG seine Entscheidung aber unter Verletzung von § 72 Abs 1 Nr 1 SGB VII getroffen. Nach dieser Vorschrift beginnt ein Rentenanspruch erst, nachdem der Anspruch auf Verletztengeld geendet hat. Renten werden danach an Versicherte erst von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem der Anspruch auf Verletztengeld geendet hat. Nach dem Wortlaut der Vorschrift kommt es nicht darauf an, ob Verletztengeld gezahlt worden ist, sondern darauf, ob ein Anspruch auf diese Leistung bestand. Die Regelung verfolgt den Zweck, Doppelleistungen aus dem System der GUV, insbesondere den zeitgleichen Bezug von Verletztengeld und Verletztenrente, zu vermeiden.

41

Für die vom Kläger geführte Anfechtungs- und Leistungsklage wegen Verletztenrente ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich. Zu diesem Zeitpunkt stand und steht zwischen den Beteiligten durch Verwaltungsakt bindend fest, dass der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Verletztengeld vom Unfalltag durchgehend bis 30.9.2002 hat. Eine mögliche Verletztenrente (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII) kann daher erst nach dem 30.9.2002, also nach dem Ende des Zeitraums beginnen, für den Verletztengeld zustand (§ 72 Abs 1 Nr 1 SGB VII; § 74 Abs 2 SGB VII ist nicht anwendbar, da der Anspruch auf Verletztengeld nicht aufgrund einer erneuten Arbeitsunfähigkeit infolge Wiedererkrankung eingetreten ist; siehe dazu Kranig in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 74 RdNr 13).

42

4. Da das Urteil des LSG aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen worden ist, bedarf es keiner Entscheidung mehr über die Frage, ob die Beklagte zulässige und begründete Verfahrensrügen gegen das Urteil des LSG erhoben hat.

43

5. Das LSG hat mit der im wiedereröffneten Berufungsverfahren zu treffenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden. Dabei wird ggf zu berücksichtigen sein, dass dem Kläger eine Verletztenrente nicht - wie begehrt - ab Juli 1997, sondern erst ab 1.10.2002 zusteht.

Tenor

Das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 20. Mai 2009 wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Beklagte zu verurteilen ist, der Klägerin Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 50 vH zu zahlen.

2

Die Klägerin befand sich am 15.5.2000 auf dem Weg von ihrer Arbeitsstätte, dem Amt für Landwirtschaft in G, zu ihrer Wohnung. Aufgrund eines Staus musste sie anhalten. Ein Ford Transit fuhr auf ihr stehendes Kraftfahrzeug (Kfz) auf und schob es auf das davor stehende Kfz. Die angeschnallte Klägerin wurde bei dem Unfall nach vorne und wieder zurück geschleudert. Sie konnte am Unfallort mit dem Unfallgegner und der Polizei die Formalitäten abwickeln und fuhr mit dem Pkw nach Hause. Wegen starker Schmerzen an der Wirbelsäule musste sie sich drei Stunden später in die ambulante Notfallbehandlung im Kreiskrankenhaus Meißen begeben. Die Erstdiagnose der dortigen Ärzte lautete: "HWS - Schleudertrauma, Schädelprellung". Vom 19. bis 27.5.2000 schloss sich eine stationäre Krankenhausbehandlung an. In der Folge weiteten sich die Beschwerden aus. Die Beklagte zahlte der Klägerin bis 4.4.2002 Verletztengeld.

3

Mit Schreiben vom 25.1.2001 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie beabsichtige die Einholung eines unfallchirurgischen Haupt- und eines neurologisch-psychiatrischen Zusatzgutachtens. Sie schlug drei namentlich benannte Haupt- sowie einen namentlich benannten Zusatzgutachter, sonst solche der jeweiligen Einrichtung, vor und wies die Klägerin auf ihr Widerspruchsrecht hin. Die Klägerin widersprach den Vorschlägen der Beklagten und schlug vor, das Evangelische Stift St. M. in K. solle mit der Begutachtung beauftragt werden, da sie dort bereits behandelt wurde. Die Beklagte ernannte Prof. Dr. B. vom Evangelischen Stift St. M. zum Hauptgutachter. Auf dessen Veranlassung wurde bei Dr. S. (Dr S) das neurologische Gutachten vom 18.3.2001 eingeholt.

4

Mit Bescheid vom 4.3.2002 erkannte die Beklagte den Unfall als Arbeitsunfall an. In dem Bescheid regelte sie weiter: "Wegen der Folgen des Arbeitsunfalls besteht kein Anspruch auf Rente." Zur Begründung führte sie aus, Unfallfolgen lägen nach ausgeheilter "Zerrung der Halswirbelsäule (HWS) und der Halsweichteile“ nicht mehr vor. Unfallunabhängig bestehe eine Konversionsneurose mit dadurch bedingter Bewegungseinschränkung der HWS, der Schultergelenke sowie Schmerzen im Schulter-Nacken-Bereich. Der Widerspruch der Klägerin blieb im Widerspruchsbescheid vom 2.7.2002 ohne Erfolg.

5

Die Klägerin hat beim SG Dresden Klage erhoben. Sie hat Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 vH begehrt. Mit Schriftsatz vom 13.2.2004 hat die Beklagte dem SG die "Beratungsärztliche Stellungnahme" der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. (Dr H) vom 29.12.2003 vorgelegt, die das SG der klägerischen Seite übersandt hat. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 19.7.2006 abgewiesen. Ein Zusammenhang zwischen den umfangreichen Beschwerden und dem Unfall bestehe nicht. Der Unfall habe über den Zeitpunkt der Zahlung von Verletztengeld hinaus keine objektivierbaren Folgen hinterlassen.

6

Die Klägerin hat gegen das Urteil des SG beim Sächsischen LSG Berufung eingelegt. Sie hat ihr Begehren dahingehend erweitert, dass ihr Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 50 vH zu zahlen sei. Das LSG müsse ein Unfallrekonstruktions- und ein biomechanisches Gutachten einholen, um die Kräfte festzustellen, die auf ihre HWS eingewirkt hätten. Die Diagnose einer Konversionsneurose sei abzulehnen, da sie von einem Orthopäden gestellt worden sei.

7

Das LSG hat die Berufung mit Urteil vom 20.5.2009 zurückgewiesen. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den geltend gemachten Gesundheitsstörungen und dem Unfall habe sich nicht wahrscheinlich machen lassen. Das Unfallgeschehen sei an sich in der Lage gewesen, ein whiplash-syndrome zu verursachen. Die Klägerin habe durch den Arbeitsunfall nicht näher bezeichnete Gesundheitserstschäden erlitten, denn sie sei bei der Kollision erheblichen Beschleunigungskräften ausgesetzt gewesen. Ein solches Trauma bewirke "in der Regel" eine Zerrung im Hirnstamm, was sich in messbaren Versagungszuständen äußern könne. Die Klägerin weise aber nur zum Teil eine spezifische Symptomatik auf. Daneben bestehe eine damit verwandte Symptomatik, welche keineswegs dem Unfallgeschehen zuzuordnen sei. Über die Ursachen des vorhandenen eher untypischen Beschwerdebilds könne nur spekuliert werden. In der Urteilsbegründung hat sich das LSG überwiegend auf eigene Recherchen gestützt und ist den Gerichtsgutachtern, zB Prof. St., ausdrücklich nicht gefolgt. Es sei wahrscheinlich, dass die bestehenden Beschwerden in den Zusammenhang mit den von Dr H dokumentierten gesundheitlichen Auffälligkeiten einzuordnen seien.

8

Die Klägerin hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung von § 8 Abs 1 Satz 1, Abs 2 iVm § 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII. Der Wegeunfall habe zu Gesundheitsfolgeschäden geführt, die eine Verletztenrente nach einer MdE mit wenigstens 50 vH bedingten. Das LSG habe bei der Klägerin Gesundheitsschäden festgestellt. Dagegen habe es eine Konkurrenzursache, also einen Vorschaden, nicht bejaht. Ausdrücklich habe das LSG ein pseudoneurasthenisches Syndrom, eine Konversionsneurose, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung und einen psychischen Konflikt verneint und den Unfall als Gelegenheitsursache ausgeschlossen. Damit seien die Voraussetzungen einer Rentengewährung zu bejahen.

9

Des Weiteren erhebt die Klägerin Verfahrensrügen. Das LSG habe die Berufung nicht aufgrund eigener Auswertung medizinischer Fachliteratur und aufgrund eigenen Erfahrungswissens zurückweisen dürfen. Dies sei aber geschehen, da das Gericht sich weder auf eines der eingeholten gerichtlichen Gutachten gestützt noch ein weiteres ärztliches Zusammenhangsgutachten auf aktuellem wissenschaftlichen Kenntnisstand eingeholt habe. Wenn das LSG sich auf eigene Sachkunde und selbst ausgewertete Veröffentlichungen stützen wolle, müsse es die Klägerin auf seine Kenntnisse und Erfahrungen sowie die herangezogene Literatur hinweisen. Da dies nicht geschehen sei, verletze das Urteil das rechtliche Gehör der Klägerin. Das LSG habe ein Beweisverwertungsverbot nicht beachtet. Es habe sich auf die Stellungnahme der Dr H vom 29.12.2003 gestützt, die aber nicht verwertbar sei. Es könne dahin stehen, ob es sich um eine beratungsärztliche Stellungnahme oder ein Gutachten handele, denn auch als Stellungnahme nehme die Äußerung Bezug auf das Zusatzgutachten des Dr S vom 18.3.2001, das unter Verstoß gegen datenschutzrechtliche Vorschriften eingeholt worden sei. Nach der Rechtsprechung des Senats bestehe deshalb bezüglich des Gutachtens Dr S ein Beweisverwertungsverbot, das sich auf alle weiteren Gutachten und ärztlichen Stellungnahmen erstrecke, die hierauf aufbauten.

10

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sächsischen LSG vom 20. Mai 2009, das Urteil des SG Dresden vom 19. Juli 2006 sowie den ablehnenden Verwaltungsakt im Bescheid der Beklagten vom 4. März 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Juli 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 50 vH seit 5. April 2002 zu zahlen.

11

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

12

Ausgehend von einer Vielzahl in Betracht kommender Erkrankungen fehle es an der Feststellung konkreter Gesundheitsstörungen auf der Grundlage eines üblichen Diagnosesystems und unter Verwendung der dortigen Begriffe und Bezeichnungen. Im Recht der Versicherungsfälle nach dem SGB VII gebe es keine Beweisregel, wonach bei fehlender Alternativursache die versicherte Ursache automatisch die wesentliche Ursache sei (unter Hinweis auf BSG vom 7.9.2004 - B 2 U 34/03 R). Die beratungsfachärztliche Stellungnahme der Dr H sei verwertbar, da die Klägerin von ihrem höchstpersönlichen Widerspruchsrecht keinen Gebrauch gemacht habe. Die Stellungnahme sei beim SG in den Rechtsstreit eingeführt worden. Die Klägerin habe die Nichtverwertbarkeit der Stellungnahme bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem SG nicht gerügt und dadurch ihr Rügerecht verloren.

Entscheidungsgründe

13

Die Revision ist sowohl wegen Verletzung von materiellem Bundesrecht (dazu 1.) als auch wegen durchgreifender Verfahrensrügen (dazu 2.) im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie der darin getroffenen Feststellungen und Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sächsische LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

1. Über die mit der Revision weiterverfolgten Anfechtungsklagen wegen der ablehnenden Verwaltungsakte in den Bescheiden der Beklagten und die Leistungsklage auf Zahlung einer Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 50 vH kann der Senat nicht abschließend entscheiden, da die tatsächlichen Feststellungen des LSG keine abschließende Beurteilung der geltend gemachten Ansprüche erlauben.

15

a) Nach § 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls - hier eines Arbeitsunfalls - über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII). Um das Vorliegen einer MdE beurteilen zu können, ist zunächst zu fragen, ob das aktuelle körperliche oder geistige Leistungsvermögen beeinträchtigt ist. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang dadurch die Arbeitsmöglichkeiten der versicherten Person auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vermindert werden.

16

Die Bemessung des Grades der MdE erfolgt als Tatsachenfeststellung des Gerichts, die dieses gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft(stRspr zB BSG vom 5.9.2006 - B 2 U 25/05 R - SozR 4-2700 § 56 Nr 2). Die zur Bemessung der MdE in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind dabei zu beachten. Sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen ständigem Wandel (BSG vom 22.6.2004 - B 2 U 14/03 R - BSGE 93, 63 = SozR 4-2700 § 56 Nr 1).

17

Vorliegend würde die Einschätzung der MdE der Klägerin voraussetzen, dass der als Arbeitsunfall anerkannte Verkehrsunfall bei der Klägerin eine Beeinträchtigung des Leistungsvermögens hervorgerufen hat. Das Bestehen einer Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens muss ausgehend von konkreten Funktionseinbußen beurteilt werden. Soweit die MdE sich nicht ausnahmsweise unmittelbar aus den Unfallfolgen erschließt, bilden festgestellte und eindeutig nach gängigen Diagnosesystemen konkret zu bezeichnende Krankheiten (BSG 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 22)die Tatsachengrundlage, von der ausgehend die Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Leistungsvermögens auf dem Gebiet des gesamten Erwerbslebens zu beurteilen ist (vgl BSG vom 19.8.2003 - B 2 U 50/02 R - Juris RdNr 23; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 22).

18

Nach diesen Maßstäben kann der Senat über das Bestehen eines Rentenanspruchs der Klägerin nicht entscheiden, da das LSG keine Feststellungen über die bei der Klägerin bestehende MdE getroffen hat. Es verneint zwar eine Reihe von Gesundheitsstörungen der Klägerin und diskutiert eine Reihe anderer als möglicherweise gegeben, stellt aber nicht positiv fest, welche Funktionseinschränkungen aufgrund welcher Gesundheitsstörungen aktuell vorliegen. Deshalb kann der Senat nicht entscheiden, ob und ggf in welchem Umfang die Erwerbsfähigkeit der Klägerin eingeschränkt ist.

19

b) Der Senat kann auch nicht dahingestellt lassen, ob und ggf welche Beeinträchtigungen des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens vorliegen. Auf die Feststellung dieser Tatsachen könnte nur verzichtet werden, wenn der Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und einer vorliegenden MdE sicher auszuschließen wäre. Auch hierzu hat das LSG die erforderlichen Feststellungen nicht getroffen.

20

Voraussetzung eines Rentenanspruchs ist ua, dass der Versicherungsfall die Arbeitsmöglichkeiten von Versicherten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vermindert, bei dem jeweiligen Versicherten also eine MdE verursacht (BSG vom 5.9.2006 - B 2 U 25/05 R - SozR 4-2700 § 56 Nr 2; Burchardt in Becker ua, Gesetzliche Unfallversicherung - Kommentar, § 56 RdNr 11). Zur Feststellung des Ursachenzusammenhangs ist zunächst zu prüfen, ob die MdE durch einen nachgewiesenen Versicherungsfall im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne verursacht worden ist. Bejahendenfalls ist weiter zu fragen, ob auch andere - ebenfalls sicher feststehende - Faktoren, wie Vorerkrankung, Nacherkrankung, innere Ursache usw, im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne kausal für das Bestehen einer MdE geworden sind. Wird die MdE sowohl durch den Versicherungsfall als auch durch andere Faktoren verursacht, ist nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilen, ob die MdE "wesentlich" durch den Versicherungsfall (mit)verursacht worden ist. Für diese Feststellung genügt bei der Überzeugungsbildung des Tatsachengerichts der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit (stRspr BSG vom 2.2.1978 - 8 RU 66/77 - BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr 38 S 105 f; BSG vom 30.4.1985 - 2 RU 43/84 - BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr 1 S 3 f). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden. Allein die Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs genügt dagegen nicht (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, jeweils RdNr 20).

21

Zwar hat das LSG vorliegend den Arbeitsunfall sowie andere Umstände als Ursachen diskutiert, es hat aber nicht festgestellt, dass entweder der Arbeitsunfall oder eine andere Ursache (zB Vorerkrankungen) oder beide Umstände für eine Beeinträchtigung des Leistungsvermögens eine Ursache gesetzt haben.

22

Mithin fehlt es für eine abschließende Entscheidung über den Anspruch auf Rente nach § 56 SGB VII neben der Feststellung einer MdE (oben a) auch daran, dass ein Ursachenzusammenhang zwischen Versicherungsfall und einer möglichen MdE weder festgestellt noch auszuschließen ist (oben b). Daher kann der Senat nicht entscheiden, ob ein Anspruch auf Verletztenrente nach § 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII besteht oder nicht besteht.

23

3. Das Urteil des LSG und die darin getroffenen Feststellungen sind auch wegen zulässig und begründet erhobener Verfahrensrügen aufzuheben.

24

a) Das LSG hat, wie von der Klägerin im Einzelnen dargelegt wurde, deren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt.

25

Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung des Gerichts überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 - SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfG vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188, 190). Wenn ein Gericht - wie hier - eigene Sachkunde bei der Urteilsfindung berücksichtigen will, muss es den Beteiligten die Grundlagen für seine Sachkunde offenbaren. Das Gericht muss darlegen, worauf seine Sachkunde beruht und was diese beinhaltet, damit die Beteiligten dazu Stellung nehmen und ihre Prozessführung hierauf einrichten können (zur Gehörsverletzung bei Unterlassung dieses Hinweises: BSG vom 5.3.2002 - B 2 U 27/01 R - Juris RdNr 20 f mwN).

26

Das LSG hat eine Überraschungsentscheidung getroffen, da es nicht den eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten gefolgt ist, sondern seine Zusammenhangsbeurteilung allein auf eine von ihm selbst unter Auswertung der unfallmedizinischen Literatur entwickelte Beurteilung, also auf eigene Sachkunde, gestützt hat. Vor der Entscheidung hat es die Beteiligten nicht auf das Bestehen eigener medizinischer Sachkunde hingewiesen und ihnen nicht erläutert, was diese beinhaltet. Damit liegt der gerügte Verfahrensfehler vor. Die Entscheidung kann auf dem Verfahrensfehler beruhen, da nicht auszuschließen ist, dass die Klägerin, hätte sie Kenntnis von der Sachkunde des LSG und deren Inhalten erhalten, die von ihr aufgezeigten Einwendungen vorgebracht und dadurch das LSG zu einer anderen Entscheidung gebracht hätte.

27

b) Das LSG hat die Pflicht zur Sachaufklärung (§ 103 SGG) verletzt.

28

Der Senat hat wiederholt entschieden, dass die Frage, ob ein Ursachenzusammenhang - zB zwischen beruflichen Einwirkungen und einer Erkrankung - zu bejahen ist, vom Tatsachengericht unter Zuhilfenahme medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt bestehenden aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu beantworten ist (vgl BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7 RdNr 21). Nichts anderes kann gelten, wenn es bei einem geltend gemachten Rentenanspruch um die Beurteilung geht, ob ein Ursachenzusammenhang zwischen einem Versicherungsfall und einer geltend gemachten MdE besteht.

29

Diesen Anforderungen an die Sachaufklärung ist das LSG nicht gerecht geworden. Zwar hat es medizinische Sachverständigengutachten eingeholt, ist diesen aber nicht gefolgt. Da das LSG nach seiner Rechtsauffassung kein Gutachten eingeholt hatte, das den Ursachenzusammenhang dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechend beurteilte, hätte es (weitere) medizinische Ermittlungen durchführen müssen, die diesen Anforderungen entsprechen. Zwar können die Gerichte zur Entscheidungsfindung auch einschlägige wissenschaftliche Publikationen heranziehen (vgl BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 21). Diese dienen aber regelmäßig nicht der Beurteilung eines Ursachenzusammenhangs durch das Gericht selbst, sondern der kritischen Überprüfung eingeholter Gutachten daraufhin, ob sie dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen.

30

c) Demgegenüber wird das LSG die Stellungnahme der Dr H bei seiner erneuten Beweiswürdigung verwerten dürfen. Denn die weitere von der Klägerin erhobene Verfahrensrüge, diese Stellungnahme sei wegen eines Verstoßes gegen § 200 Abs 2 SGB VII nicht verwertbar, ist unbegründet.

31

Die Klägerin rügt, das LSG habe die Äußerung der Ärztin Dr H vom 29.12.2003 nicht verwerten dürfen, da diese einem Beweisverwertungsverbot unterliege. Auch wenn es sich bei dieser Äußerung um eine beratungsärztliche Stellungnahme handele, sei sie nicht verwertbar, da darin auf das Gutachten des Dr S abgestellt werde, das seinerseits unter Verletzung datenschutzrechtlicher Vorschriften eingeholt worden sei. Aufgrund der Fernwirkung des Beweisverwertungsgebots bezüglich des Gutachtens Dr S sei auch die beratungsärztliche Stellungnahme der Dr H unverwertbar, was sie rechtzeitig gerügt habe.

32

Das LSG durfte und darf die ärztliche Stellungnahme der Dr H verwerten, denn weder hat die Beklagte die Pflicht zur Belehrung über das Widerspruchsrecht (§ 200 Abs 2 Halbs 2 SGB VII; dazu aa) noch hat sie das Auswahlrecht der Klägerin (§ 200 Abs 2 Halbs 1 SGB VII; dazu bb) verletzt.

33

aa) Die Verletzung der Pflicht zur Belehrung über das Widerspruchsrecht nach § 200 Abs 2 Halbs 2 SGB VII iVm § 76 Abs 2 SGB X kann ein Beweisverwertungsverbot auslösen (BSG vom 5.2.2008 - B 2 U 8/07 R - BSGE 100, 25 = SozR 4-2700 § 200 Nr 1, RdNr 50 f). Zwar besteht kein Rechtssatz des Inhalts, dass im Fall einer rechtsfehlerhaften Beweiserhebung die Verwertung der gewonnenen Beweise stets unzulässig ist (vgl BVerfG vom 19.9.2006, 2 BvR 2115/01, BVerfGK 9, 174, 196). Ein Beweisverwertungsverbot ist aber bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen geboten, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen außer Acht gelassen worden sind (vgl BVerfG vom 12.4.2005, 2 BvR 1027/02, BVerfGE 113, 29, 61). Ein solches unmittelbar aus den Grundrechten abgeleitetes Beweisverwertungsverbot ist allerdings nur anzunehmen, wenn der absolute Kernbereich privater Lebensgestaltung berührt ist (vgl BVerfG vom 3.3.2004, 1 BvR 2378/98, BVerfGE 109, 279, 320; BVerfG vom 9.11.2010, 2 BvR 2101/09).

34

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Verletzung der Pflicht zur Belehrung über das Recht, Widerspruch gegen die Weitergabe von Sozialdaten einlegen zu können, den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 1 Abs 1 GG; dazu zuletzt BVerfG vom 21.9.2010, 1 BvR 1865/10) berührt. Aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung dürfte sich kein verfassungsrechtliches Gebot ableiten lassen, die Betroffenen ausdrücklich über ihr gesetzliches Widerspruchsrecht belehren zu müssen. Auch außerhalb des SGB VII können Betroffene der Weitergabe von Sozialdaten widersprechen, wenn diese besonders schutzwürdig sind (§ 76 Abs 2 SGB X). Eine Belehrungspflicht bei jeder Weitergabe von Sozialdaten ist außerhalb des SGB VII nicht geregelt. Verletzungen des Sozialdatenschutzes führen dort vielmehr in erster Linie zu den in §§ 81 f SGB X normierten Rechtsfolgen. Die Regelung des § 200 Abs 2 Halbs 2 SGB VII dürfte daher eine spezifisch verfahrensrechtliche Belehrungspflicht im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung begründen. Eine Verletzung der Belehrungspflicht könnte danach als einfachrechtlicher Verfahrenfehler zu qualifizieren sein (vgl auch Köhler ZFSH/SGB 2009, 451, 455).

35

Vor diesem Hintergrund ist weiter fraglich, ob die Verletzung datenschutzrechtlicher Regelungen ggf nur zum Verbot der Verwertung des rechtswidrig erhobenen Beweismittels führt, oder ob dies Beweisverwertungsverbot - kraft Fernwirkung - sogar auf später erhobene Beweismittel durchschlägt, die auf das unter Verletzung von Datenschutz- oder Verfahrensrechten eingeholte Gutachten Bezug nehmen (so BSG vom 5.2.2008 - B 2 U 8/07 R - BSGE 100, 25 = SozR 4-2700 § 200 Nr 1, RdNr 62 f).

36

Die Annahme einer solchen Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots ist in der Literatur auf Kritik gestoßen (kritisch Bieresborn, Anm zu B 2 U 8/07 R, SGb 2009, 49, 51; Behrens/Froede, NZS 2009, 129, 134; zum Vergleich mit fehlender Belehrungspflicht im Strafrecht: Köhler in ZFSH/SGB 2009, 451, 460 f; "schwer erträglich" Kunze, VSSR 2009, 205, 216; "nicht überzeugend" C. Wagner in jurisPR-SozR 25/2008 Anm 6). Diese Kritik führt vor allem an, dass in der Rechtsprechung des BVerfG und der obersten Gerichtshöfe des Bundes eine Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten in aller Regel abgelehnt wird (vgl BVerfG vom 8.12.2005 - 2 BvR 1686/04 - BVerfGK 7, 61; BGH vom 28.4.1987 - 5 StR 666/86 - BGHSt 34, 362; BGH vom 24.8.1983 - 3 StR 136/83 - BGHSt 32, 68, 71; BGH vom 6.8.1987 - 4 StR 333/87 - BGHSt 35, 32). Diese Kritik sowie die ständige Rechtsprechung dieser Gerichte werden bei erneuter Prüfung der Problematik zu bedenken sein.

37

Vorliegend kommt es auf diese grundsätzlichen Erwägungen nicht an. Das LSG durfte die beratungsärztliche Stellungnahme von Dr H vielmehr schon deshalb verwerten, weil eine Verletzung der Pflicht zur Belehrung über das Widerspruchsrecht nicht vorliegt.

38

Eine Pflicht zur Belehrung über das Widerspruchsrecht besteht nach dem Tatbestand des § 200 Abs 2 SGB VII nur für ärztliche "Gutachten". Auf ärztliche Stellungnahmen von Beteiligten ist die Regelung nicht anwendbar. Dr H hat aber für die Beklagte eine beratungsärztliche Stellungnahme abgegeben. Die Beklagte hat die Ärztin nicht zur Sachverständigen bestellt, sondern nur ihre fachliche Bewertung des Gutachtens eines bestellten Sachverständigen eingeholt. Dr H hat ihre Stellungnahme als beratungsärztliche Äußerung bezeichnet. Auch ihrem Inhalt nach hat sie die Klägerin nicht untersucht und kein Gutachten nach Aktenlage abgegeben. Jeder Beteiligte ist nach dem SGG vielmehr berechtigt, sein Vorbringen auch auf Äußerungen von Beratungsärzten, Hausärzten oder behandelnde Fachärzte zu stützen.

39

Die Stellungnahme der Dr H, in der auf das Gutachten des Dr S hingewiesen wird, ist auch schon deshalb nicht unverwertbar, weil dieses Gutachten seinerseits nicht unter Verletzung der Pflicht zur Belehrung über das Widerspruchsrecht eingeholt wurde.

40

Der Senat hatte auf die zulässig erhobene Verfahrensrüge zu prüfen, ob der geltend gemachte Verfahrensfehler tatsächlich vorliegt und dabei festgestellt, dass die Klägerin vor Einholung des Gutachtens Dr S mit Schreiben vom 25.1.2001 nach § 200 Abs 2 Halbs 2 SGB VII über ihr Widerspruchsrecht belehrt worden war. Die Beklagte schlug der Klägerin mit Schreiben vom 25.1.2001 Gutachter zur Auswahl vor und belehrte sie in demselben Schreiben über ihr Widerspruchsrecht. Diese Belehrung erfolgte zwar nicht in Bezug auf einen namentlich benannten Arzt, hier zB Dr S. Dies ist nach dem Wortlaut der Vorschrift aber auch nicht geboten, denn diese fordert eine im Zusammenhang mit dem Vorschlag von Gutachtern oder deren Beauftragung zu erteilende Belehrung über das Widerspruchsrecht nach § 76 Abs 2 SGB X. Diesen Anforderungen genügte die Beklagte, als sie die Klägerin allgemein, rechtzeitig und vollständig darüber belehrt hat, dass ihre Sozialdaten an die zu beauftragenden Gutachter weitergegeben werde und sie der Weitergabe der Daten widersprechen kann.

41

bb) Die Beklagte hat auch nicht das Auswahlrecht der Klägerin (§ 200 Abs 2 Halbs 1 SGB VII) verletzt.

42

Der Senat ließ in der Entscheidung vom 5.2.2008 (B 2 U 8/07 R, BSGE 100, 25 = SozR 4-2700 § 200 Nr 1) offen, ob die Verletzung des Auswahlrechts (§ 200 Abs 2 Halbs 1 SGB VII) ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht (BSG aaO, RdNr 57). Inzwischen hat er entschieden, dass die Verletzung des Auswahlrechts nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führt, wenn der Betroffene die Verletzung des Auswahlrechts nicht rechtzeitig rügt (Rügeobliegenheit). Durch die Rüge wird der Unfallversicherungsträger in die Lage versetzt, die eingetretene Rechtsverletzung zu beseitigen sowie zeitnah und nach Maßgabe der §§ 20, 67 ff SGB X, 200 f SGB VII neue Ermittlungen durchzuführen, um dem Beschleunigungsgebot aus § 9 Satz 2 SGB X entsprechend zügig über geltend gemachte Ansprüche zu entscheiden(§ 2 Abs 2 SGB I). Hier kann aber dahingestellt bleiben, ob die anwaltlich vertretene Klägerin rechtzeitig die Verletzung des Auswahlrechts bei Einholung des Gutachtens Dr S gerügt und der Begutachtung durch diesen Arzt widersprochen hätte (vgl auch BSG vom 20.7.2010 - B 2 U 17/09 R - Juris RdNr 33 f; zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen), denn die Beklagte hat schon das Auswahlrecht der Klägerin nicht verletzt.

43

Zwar dürfte das Auswahlrecht der Versicherten nach § 200 Abs 2 Halbs 1 SGB VII auch bezüglich der Zusatzgutachter zu beachten sein(vgl Dahm in Lauterbach, UV , Stand August 2009, § 200 RdNr 17 mwN). Die Verletzung kommt in Betracht, denn die Beklagte hat der Klägerin nicht mehrere namentlich benannte Zusatzgutachter vorgeschlagen. Das Auswahlrecht der Klägerin ist dennoch nicht verletzt, denn der Vorschlag mehrerer Zusatzgutachter zur Auswahl war im vorliegenden Fall entbehrlich ("soll").

44

Der Verzicht der Beklagten auf Benennung von mehreren Zusatzgutachtern zur Auswahl war nicht rechtswidrig, denn es lag ein atypischer Fall vor. Die Beklagte teilte der Klägerin mit, dass die Einholung eines orthopädischen und eines Haupt- und eines neurologisch-psychiatrischen Zusatzgutachtens beabsichtigt sei. Hierzu schlug sie der Klägerin drei Hauptgutachter und einen Zusatzgutachter zur Auswahl vor. Die Klägerin wandte sich gegen die Begutachtung durch einen der vorgeschlagenen Gutachter und teilte mit, sie wolle durch einen Arzt des Evangelischen Stifts St. M. in K. begutachtet werden. Die Beklagte folgte dem Vorschlag der Klägerin und beauftragte Chefarzt Prof. Dr. B. vom Evangelischen Stift St. M. mit dem Hauptgutachten. Sie bat ihn, bei einem namentlich nicht benannten Arzt ein neurologisch-psychiatrisches Zusatzgutachten einzuholen. Der Hauptgutachter wählte Dr S als Zusatzgutachter aus und beauftragte ihn.

45

Zur Erreichung der mit der Vorschlagspflicht verfolgten Zwecke war es vorliegend nicht geboten, der Klägerin mehrere Zusatzgutachter zur Auswahl zu benennen. § 200 Abs 2 Halbs 1 SGB VII bezweckt die Gewährleistung eines transparenten Verfahrens, die Bereitstellung eines Pools von Gutachtern und die Sicherung des Datenschutzes(BT-Drucks 13/4853, S 22). Möglicherweise dient die Regelung, ohne dass dies allerdings Erwähnung in der Gesetzesbegründung gefunden hätte, auch der Verhinderung einer Übermacht des Unfallversicherungsträgers im Verfahren (so der Senat im Urteil vom 5.2.2008 aaO, RdNr 37 bis 39; kritisch dazu Kunze, VSSR 2009, 205, 209 f).

46

Die Versicherte schlug der Beklagten selbst vor, die Begutachtung solle in einer von ihr gewählten Einrichtung erfolgen. Die Beklagte folgte dem Vorschlag. Sie musste, da die Einrichtung weit außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs lag, dort keinen Pool von zur Begutachtung kompetenten Ärzten vorhalten. Die Beklagte nahm auch keinen Einfluss auf die Auswahl der Person des Zusatzgutachters, denn sie überließ die Auswahl dem von der Klägerin gewünschten Hauptgutachter und griff nicht in die Auswahl des Zusatzgutachters ein (vgl auch Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Januar 2011, § 200 SGB VII Anm 4.3; kritisch C. Wagner in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII § 200 RdNr 39). Vorliegend kommt hinzu, dass Dr S kein Hauptgutachten erstattet hat, sondern als Zusatzgutachter für den Hauptgutachter tätig geworden ist. Die Beauftragung eines vom Versicherten gewünschten Arztes löst auch kein weiteres/neues Auswahlverfahren aus.

47

Nach allem ist die Verfahrensrüge der Klägerin unbegründet; das LSG durfte und darf die Stellungnahme der Dr H verwerten.

48

4. In dem wieder eröffneten Berufungsverfahren wird das LSG aktuelle medizinische Gutachten zu der Frage einzuholen haben, ob konkret zu bezeichnende Gesundheitsstörungen vorliegen, die zu bestimmten Funktionseinschränkungen führen, die bei der Klägerin eine MdE verursachen. Soweit dies zu bejahen ist, ist weiter gutachtlich zu klären, ob zwischen Versicherungsfall und der MdE ein Ursachenzusammenhang besteht und ob daneben andere Ursachen die MdE begründen. Falls mehrere Ursachen für die MdE festgestellt werden, wird zu beurteilen sein, ob der Arbeitsunfall für den Eintritt der MdE eine rechtlich wesentliche Ursache war. Dabei ist das LSG nicht gehindert, die von der Beklagten erhobenen Gutachten und die von ihr vorgelegten beratungsärztlichen Stellungnahmen zu verwerten.

49

5. Das LSG hat in der einheitlich zu treffenden Kostenentscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

(1) Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, daß die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind. In der Rechtsverordnung kann ferner bestimmt werden, inwieweit Versicherte in Unternehmen der Seefahrt auch in der Zeit gegen Berufskrankheiten versichert sind, in der sie an Land beurlaubt sind.

(1a) Beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ein Ärztlicher Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten gebildet. Der Sachverständigenbeirat ist ein wissenschaftliches Gremium, das das Bundesministerium bei der Prüfung der medizinischen Erkenntnisse zur Bezeichnung neuer und zur Erarbeitung wissenschaftlicher Stellungnahmen zu bestehenden Berufskrankheiten unterstützt. Bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin wird eine Geschäftsstelle eingerichtet, die den Sachverständigenbeirat bei der Erfüllung seiner Arbeit organisatorisch und wissenschaftlich, insbesondere durch die Erstellung systematischer Reviews, unterstützt. Das Nähere über die Stellung und die Organisation des Sachverständigenbeirats und der Geschäftsstelle regelt die Bundesregierung in der Rechtsverordnung nach Absatz 1.

(2) Die Unfallversicherungsträger haben eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Absatz 1 Satz 2 erfüllt sind.

(2a) Krankheiten, die bei Versicherten vor der Bezeichnung als Berufskrankheiten bereits entstanden waren, sind rückwirkend frühestens anzuerkennen

1.
in den Fällen des Absatzes 1 als Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die Bezeichnung in Kraft getreten ist,
2.
in den Fällen des Absatzes 2 wie eine Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vorgelegen haben; hat der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten eine Empfehlung für die Bezeichnung einer neuen Berufskrankheit beschlossen, ist für die Anerkennung maßgebend der Tag der Beschlussfassung.

(3) Erkranken Versicherte, die infolge der besonderen Bedingungen ihrer versicherten Tätigkeit in erhöhtem Maße der Gefahr der Erkrankung an einer in der Rechtsverordnung nach Absatz 1 genannten Berufskrankheit ausgesetzt waren, an einer solchen Krankheit und können Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden, wird vermutet, daß diese infolge der versicherten Tätigkeit verursacht worden ist.

(3a) Der Unfallversicherungsträger erhebt alle Beweise, die zur Ermittlung des Sachverhalts erforderlich sind. Dabei hat er neben den in § 21 Absatz 1 Satz 1 des Zehnten Buches genannten Beweismitteln auch Erkenntnisse zu berücksichtigen, die er oder ein anderer Unfallversicherungsträger an vergleichbaren Arbeitsplätzen oder zu vergleichbaren Tätigkeiten gewonnen hat. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen die Ermittlungen zu den Einwirkungen während der versicherten Tätigkeit dadurch erschwert sind, dass der Arbeitsplatz des Versicherten nicht mehr oder nur in veränderter Gestaltung vorhanden ist. Die Unfallversicherungsträger sollen zur Erfüllung der Aufgaben nach den Sätzen 2 und 3 einzeln oder gemeinsam tätigkeitsbezogene Expositionskataster erstellen. Grundlage für diese Kataster können die Ergebnisse aus systematischen Erhebungen, aus Ermittlungen in Einzelfällen sowie aus Forschungsvorhaben sein. Die Unfallversicherungsträger können außerdem Erhebungen an vergleichbaren Arbeitsplätzen durchführen.

(4) Besteht für Versicherte, bei denen eine Berufskrankheit anerkannt wurde, die Gefahr, dass bei der Fortsetzung der versicherten Tätigkeit die Krankheit wiederauflebt oder sich verschlimmert und lässt sich diese Gefahr nicht durch andere geeignete Mittel beseitigen, haben die Unfallversicherungsträger darauf hinzuwirken, dass die Versicherten die gefährdende Tätigkeit unterlassen. Die Versicherten sind von den Unfallversicherungsträgern über die mit der Tätigkeit verbundenen Gefahren und mögliche Schutzmaßnahmen umfassend aufzuklären. Zur Verhütung einer Gefahr nach Satz 1 sind die Versicherten verpflichtet, an individualpräventiven Maßnahmen der Unfallversicherungsträger teilzunehmen und an Maßnahmen zur Verhaltensprävention mitzuwirken; die §§ 60 bis 65a des Ersten Buches gelten entsprechend. Pflichten der Unternehmer und Versicherten nach dem Zweiten Kapitel und nach arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften bleiben hiervon unberührt. Kommen Versicherte ihrer Teilnahme- oder Mitwirkungspflicht nach Satz 3 nicht nach, können die Unfallversicherungsträger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder die Leistung einer danach erstmals festzusetzenden Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder den Anteil einer Rente, der auf eine danach eingetretene wesentliche Änderung im Sinne des § 73 Absatz 3 zurückgeht, bis zur Nachholung der Teilnahme oder Mitwirkung ganz oder teilweise versagen. Dies setzt voraus, dass infolge der fehlenden Teilnahme oder Mitwirkung der Versicherten die Teilhabeleistungen erforderlich geworden sind oder die Erwerbsminderung oder die wesentliche Änderung eingetreten ist; § 66 Absatz 3 und § 67 des Ersten Buches gelten entsprechend.

(5) Soweit Vorschriften über Leistungen auf den Zeitpunkt des Versicherungsfalls abstellen, ist bei Berufskrankheiten auf den Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Behandlungsbedürftigkeit oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, auf den Beginn der rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit abzustellen.

(6) Die Bundesregierung regelt durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates

1.
Voraussetzungen, Art und Umfang von Leistungen zur Verhütung des Entstehens, der Verschlimmerung oder des Wiederauflebens von Berufskrankheiten,
2.
die Mitwirkung der für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen bei der Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind; dabei kann bestimmt werden, daß die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen berechtigt sind, Zusammenhangsgutachten zu erstellen sowie zur Vorbereitung ihrer Gutachten Versicherte zu untersuchen oder auf Kosten der Unfallversicherungsträger andere Ärzte mit der Vornahme der Untersuchungen zu beauftragen,
3.
die von den Unfallversicherungsträgern für die Tätigkeit der Stellen nach Nummer 2 zu entrichtenden Gebühren; diese Gebühren richten sich nach dem für die Begutachtung erforderlichen Aufwand und den dadurch entstehenden Kosten.

(7) Die Unfallversicherungsträger haben die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständige Stelle über den Ausgang des Berufskrankheitenverfahrens zu unterrichten, soweit ihre Entscheidung von der gutachterlichen Stellungnahme der zuständigen Stelle abweicht.

(8) Die Unfallversicherungsträger wirken bei der Gewinnung neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere zur Fortentwicklung des Berufskrankheitenrechts mit; sie sollen durch eigene Forschung oder durch Beteiligung an fremden Forschungsvorhaben dazu beitragen, den Ursachenzusammenhang zwischen Erkrankungshäufigkeiten in einer bestimmten Personengruppe und gesundheitsschädlichen Einwirkungen im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit aufzuklären. Die Verbände der Unfallversicherungsträger veröffentlichen jährlich einen gemeinsamen Bericht über ihre Forschungsaktivitäten und die Forschungsaktivitäten der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Bericht erstreckt sich auf die Themen der Forschungsvorhaben, die Höhe der aufgewendeten Mittel sowie die Zuwendungsempfänger und Forschungsnehmer externer Projekte.

(9) Die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen dürfen zur Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind, Daten verarbeiten sowie zur Vorbereitung von Gutachten Versicherte untersuchen, soweit dies im Rahmen ihrer Mitwirkung nach Absatz 6 Nr. 2 erforderlich ist; sie dürfen diese Daten insbesondere an den zuständigen Unfallversicherungsträger übermitteln. Die erhobenen Daten dürfen auch zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren gespeichert, verändert, genutzt, übermittelt oder in der Verarbeitung eingeschränkt werden. Soweit die in Satz 1 genannten Stellen andere Ärzte mit der Vornahme von Untersuchungen beauftragen, ist die Übermittlung von Daten zwischen diesen Stellen und den beauftragten Ärzten zulässig, soweit dies im Rahmen des Untersuchungsauftrages erforderlich ist.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 13. Juli 2010 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung einer Infektion der Klägerin mit dem Hepatitis C-Virus (HCV) als Berufskrankheit (BK) nach Nr 3101 der Anlage (seit 1.7.2009 Anlage 1) der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV; im Folgenden: BK 3101) streitig.

2

Die 1940 geborene Klägerin war seit Oktober 1995 als Altenpflegehelferin im Altenzentrum B. beschäftigt. Sie wurde im Wesentlichen im Bereich "Betreutes Wohnen" eingesetzt. Zu ihren Aufgaben gehörte das Waschen, Baden und Rasieren der Pflegebedürftigen. Sie hatte Katheterbeutel zu wechseln sowie Wundbehandlungen und Bluttests durchzuführen. Außerdem gab sie einer Heimbewohnerin in den Monaten April und Mai 1999 87 Insulinspritzen, ohne zum Spritzen berechtigt zu sein. Eine überdurchschnittliche Durchseuchung der Heimbewohner mit dem HCV ließ sich nicht feststellen.

3

Im August 1999 wurde bei der Klägerin eine HCV-Infektion diagnostiziert. Auf eine ärztliche Anzeige wegen des Verdachts des Vorliegens einer BK 3101 lehnte die Beklagte es ab, diese BK anzuerkennen und Leistungen zu erbringen. Bei der Klägerin habe kein besonders erhöhtes Verletzungsrisiko bestanden (Bescheid vom 4.12.2000; Widerspruchsbescheid vom 27.6.2001).

4

Das SG Frankfurt am Main hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29.10.2002). Das Hessische LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 13.7.2010). Die Klägerin sei einem gesteigerten, nicht aber einem besonders erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt gewesen. Entgegen den gutachtlichen Ausführungen von Prof. Dr. C. könne nicht von einer im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung erhöhten Durchseuchung des Altenzentrums ausgegangen werden. HCV-Infektionen von Bewohnern des Altenheims seien nicht bekannt. Wegen sich widersprechender Studien existiere auch kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass in Pflegestationen von Altenheimen eine besondere Infektionsgefahr bestehe. Aktuelle Zahlen zum Durchseuchungsrisiko in Pflegeheimen gebe es nach der vom Gericht eingeholten Auskunft des Instituts der F. vom 3.8.2009 ebenfalls nicht. Eine besondere Ansteckungsgefahr sei auch nicht mit den von der Klägerin konkret ausgeübten Tätigkeiten verbunden gewesen. Zwar habe wegen des nahezu täglichen Umgangs mit Insulinspritzen zweifellos ein Infektionsrisiko bestanden. Risikomindernd wirke sich aber aus, dass die Einwegspritzen durch die Klägerin ordnungsgemäß entsorgt worden seien, ohne die Schutzkappe wieder aufzustecken. Insulinspritzen würden auch nur subkutan und nicht intravenös verabreicht. Wegen der von Prof. Dr. C. bestätigten geringeren Kanülendicke der Insulinspritzen im Vergleich zu "normalen" Hohlnadeln komme es schließlich zu einer geringeren Blutübertragung.

5

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin einen Verstoß gegen die Pflicht zur Amtsermittlung gemäß § 103 SGG und die Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG. Das LSG hätte in Erfahrung bringen müssen, wie viele der von ihr betreuten Personen mit dem HCV infiziert gewesen seien. Auch hätte es wegen der von Prof. Dr. C. bestätigten deutlich erhöhten Infektionsgefahr des Ärzte- und Pflegepersonals aktuelle Informationen über die Seroprävalenz in Alten- und Pflegeheimen einholen müssen. Der vom Berufungsgericht berücksichtigte Durchseuchungsgrad der Gesamtbevölkerung beruhe auf einer Stichprobenerhebung unter Ausschluss von besonders gefährdeten Personen in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Justizvollzugsanstalten. Abgesehen davon hätte das Fehlen einer virologischen Untersuchung der Heimbewohner zu einer Beweiserleichterung führen müssen. Bei der Würdigung der Übertragungsgefahr sei nicht berücksichtigt worden, dass Gummihandschuhe nur "in der Regel" benutzt worden seien und auch von kontaminierten Gegenständen ein Infektionsrisiko ausgehe. Die Gefahr von Mikroläsionen sowie die Umstände des Verabreichens und der Entsorgung der Einwegspritzen seien nicht ermittelt worden. Weshalb bei 87 Inokulationsereignissen nicht von einer "häufig" aufgetretenen Gefahr gesprochen werden könne und eine Vergleichbarkeit mit Tätowierungen ausscheide, sei nicht dargelegt worden.

6

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 13. Juli 2010 und des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 29. Oktober 2002 sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. Dezember 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2001 aufzuheben und festzustellen, dass die bei ihr vorliegende Hepatitis C-Erkrankung eine Berufskrankheit nach Nr 3101 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung ist.

7

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision, mit der nur noch die Feststellung der BK 3101 begehrt wird, ist nicht begründet.

10

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist insoweit eine kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und § 55 Abs 1 Nr 1 SGG), mit der unter Aufhebung der Ablehnungsentscheidung der Beklagten die gerichtliche Feststellung begehrt wird, dass die Hepatitis C-Infektion der Klägerin eine BK 3101 ist. Ein Versicherter, dem gegenüber ein Träger der gesetzlichen Unfallversicherung durch Verwaltungsakt entschieden hat, dass ein Anspruch auf Feststellung einer bestimmten BK nicht gegeben ist, kann deren Vorliegen als Grundlage in Frage kommender Leistungsansprüche vorab im Wege einer Kombination von Anfechtungs- und Verpflichtungs- oder Feststellungsklage klären lassen (vgl BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4 BKV, jeweils RdNr 11 mwN; BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Zwar hat die Klägerin vor dem SG und LSG die Verpflichtung der Beklagten zur Anerkennung der BK 3101 beantragt. Dieser Übergang von der Verpflichtungs- zur Feststellungsklage beruht aber auf einer nach § 99 Abs 3 SGG uneingeschränkt zulässigen Antragsänderung (BSG vom 25.2.1997 - 12 RK 4/96 - BSGE 80, 102, 103 = SozR 3-2500 § 5 Nr 33 S 129 mwN).

11

Die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung ihrer Hepatitis C-Infektion als BK 3101. Insoweit ist die Verwaltungsentscheidung der Beklagten im Bescheid vom 4.12.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.6.2001 rechtmäßig und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt.

12

Der Anspruch der Klägerin richtet sich nach den Vorschriften des SGB VII sowie des auf seiner Grundlage erlassenen Rechts, weil ihre HCV-Infektion im August 1999 festgestellt worden ist und der geltend gemachte Versicherungsfall damit nach dem Inkrafttreten des SGB VII am 1.1.1997 eingetreten sein soll (Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 SGB VII).

13

Nach § 9 Abs 1 SGB VII sind BKen Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet (Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden (Satz 1). Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann BKen auf bestimmte Gefährdungsbereiche beschränken oder mit dem Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten versehen (Satz 2).

14

Für die Feststellung einer Listen-BK ist danach im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und die Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK. Dabei gilt für die Überzeugungsbildung des Tatsachengerichts hinsichtlich der "versicherten Tätigkeit", der "Verrichtung", der "Einwirkungen" und der "Krankheit" der Beweisgrad des Vollbeweises, also der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit. Für die Überzeugungsbildung vom Vorliegen der naturphilosophischen Ursachenzusammenhänge und der rechtlich zu bewertenden Wesentlichkeit einer notwendigen Bedingung genügt indes der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4 BKV, jeweils RdNr 16 mwN und - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14 BKV, jeweils RdNr 9 mwN; BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen).

15

Die BKV umschreibt den Tatbestand der BK 3101 wie folgt: "Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war". Die Voraussetzungen dieses Tatbestandes iVm § 9 Abs 1 SGB VII sind nach den für den Senat bindenden(§ 163 SGG) tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht erfüllt. Die Klägerin war zwar seit Oktober 1995 als Altenpflegehelferin eines Altenzentrums beschäftigt und damit im Gesundheitsdienst tätig sowie nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versichert. Hepatitis C ist auch eine Infektionskrankheit. Die Klägerin war aber keinen "Einwirkungen" iS einer besonders erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt. Diese beurteilt sich nach dem Grad der Durchseuchung des versicherten Tätigkeitsbereichs und dem Übertragungsrisiko der im Gefahrenbereich vorgenommenen Verrichtungen (dazu 1.). Anhand beider Kriterien hat das LSG das Vorliegen einer besonders erhöhten Infektionsgefahr verneint (dazu 2.). Die Rüge der Klägerin, dabei habe das Berufungsgericht gegen die Pflicht zur Amtsermittlung verstoßen und die Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten, greift nicht durch (dazu 3.).

16

1. Eine besondere Ansteckungsgefahr kann sich im Einzelfall aufgrund der Durchseuchung des Umfelds der Tätigkeit oder der Übertragungsgefahr der ausgeübten Verrichtungen ergeben. Der Grad der Durchseuchung ist sowohl hinsichtlich der kontaktierten Personen als auch der Objekte festzustellen, mit oder an denen zu arbeiten ist. Lässt sich das Ausmaß der Durchseuchung nicht aufklären, kann aber das Vorliegen eines Krankheitserregers im Arbeitsumfeld nicht ausgeschlossen werden, ist vom Durchseuchungsgrad der Gesamtbevölkerung auszugehen. Das weitere Kriterium der mit der versicherten Tätigkeit verbundenen Übertragungsgefahr richtet sich nach dem Übertragungsmodus der jeweiligen Infektionskrankheit sowie der Art, der Häufigkeit und der Dauer der vom Versicherten verrichteten gefährdenden Handlungen.

17

Eine schlichte Infektionsgefahr genügt nicht. Vielmehr wird eine (zT typisierend nach Tätigkeitsbereichen) besonders erhöhte Infektionsgefahr vorausgesetzt (§ 9 Abs 1 Satz 2 Halbs 1 SGB VII). Deshalb kommt es darauf an, welche einzelnen Arbeitshandlungen im Hinblick auf den Übertragungsweg besonders gefährdend sind. Die Durchseuchung des Arbeitsumfeldes auf der einen und die Übertragungsgefahr der versicherten Verrichtungen auf der anderen Seite stehen in einer Wechselbeziehung zueinander (dazu kritisch Kunze, VSSR 4/2010, S 283, 298 ff). An den Grad der Durchseuchung können umso niedrigere Anforderungen gestellt werden, je gefährdender die spezifischen Arbeitsbedingungen sind. Je weniger hingegen die Arbeitsvorgänge mit dem Risiko der Infektion behaftet sind, umso mehr erlangt das Ausmaß der Durchseuchung an Bedeutung. Erscheint eine Infektion nicht ausgeschlossen, ist im Wege einer Gesamtbetrachtung der Durchseuchung und der Übertragungsgefahr festzustellen, ob sich im Einzelfall eine Infektionsgefahr ergibt, die nicht nur geringfügig gegenüber der Allgemeingefahr erhöht ist (BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4 BKV, jeweils RdNr 22 f). Damit bedarf es der tatsächlichen Feststellungen zum Vorliegen einer konkret erhöhten Infektionsgefahr. Dies beinhaltet Feststellungen zu der Frage, ob die Verrichtungen der Klägerin sie mit einer infizierten Person oder einem durchseuchten Objektbereich in Berührung gebracht haben oder ob die Verrichtungen im Hinblick auf den Übertragungsmodus der Hepatitis C-Infektion sowie ihrer Art, Häufigkeit und Dauer nach besonders infektionsgefährdend waren (BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 33/07 R - BSGE 103, 54 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 5 BKV, jeweils RdNr 19).

18

2. Einem solchen besonders erhöhten Infektionsrisiko war die Klägerin nicht ausgesetzt. Das Berufungsgericht hat zwar nicht die Möglichkeit der Infektion mit dem HCV, aber eine erhöhte Durchseuchung im Altenzentrum ausgeschlossen. Damit ist der Grad der Durchseuchung bezüglich HCV-Antikörper in der Gesamtbevölkerung maßgebend, der mindestens ca 0,4 bis 0,7 vH beträgt (vgl Potthoff/Schüler/Wedemeyer/Manns, Epidemiologie der Virushepatitis A, B und C, in Selmair/Manns, Virushepatitis als Berufskrankheit, 2. Aufl, S 18; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, S 717; Robert Koch Institut, Epidemiologisches Bulletin 29/2011 S 267). Auf der Grundlage einer Arbeitgeberauskunft hat das LSG festgestellt, dass HCV-Infektionen von Heimbewohnern nicht bekannt geworden sind. Die Stellungnahme der F. vom 3.8.2009 hat ergeben, dass aktuelle Zahlen zum Durchseuchungsrisiko in Pflegeheimen nicht existieren. Daher ist nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) für die Annahme eines deutlich überdurchschnittlichen Durchseuchungsgrades im Altenzentrum B. kein Raum.

19

Die erforderliche besondere Infektionsgefahr lässt sich auch nicht auf die Übertragungsgefahr der ausgeübten Tätigkeiten zurückführen, wie das LSG aufgrund der von ihm festgestellten Arbeitsvorgänge der Klägerin sowie des Gutachtens von Prof. Dr. C. und der Zeugenvernehmung angenommen hat. Die Klägerin war im Wesentlichen im Bereich "Betreutes Wohnen" eingesetzt und trug bei den Verrichtungen der Grundpflege, der Wundbehandlung und den Bluttests regelmäßig Gummihandschuhe. Eine Nadelstichverletzung ist nicht festgestellt. Bei maximal 87 Inokulationsvorgängen wurden Insulinspritzen mit einer im Vergleich zu anderen Hohlnadelspritzen dünneren Injektionskanüle verwendet, die mit einem geringeren Blutaustausch einhergehen. Sie sind ordnungsgemäß entsorgt worden, ohne die Schutzkappe wieder aufzustecken. Die Klägerin ist danach weder aufgrund einer erhöhten Durchseuchung noch infolge ihrer Arbeitsverrichtungen besonders infektionsgefährdet tätig gewesen.

20

3. Diese Feststellungen des LSG binden den Senat (§ 163 SGG), weil sie nicht mit zulässig erhobenen Verfahrensrügen angegriffen worden sind. Eine ordnungsgemäße Verfahrensrüge setzt die Bezeichnung der Tatsachen voraus, die den behaupteten Mangel ergeben (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) und aus denen die Möglichkeit folgt, dass das Gericht ohne die geltend gemachte Verfahrensverletzung anders entschieden hätte. Das Revisionsgericht muss in die Lage versetzt werden, sich allein anhand der Revisionsbegründung ein Urteil darüber zu bilden, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann (BSG vom 23.8.2007 - B 4 RS 3/06 R - SozR 4-8570 § 1 Nr 16 RdNr 31). Diesen Anforderungen wird die Revisionsbegründung nicht gerecht.

21

a) Die Rüge der Klägerin, das LSG habe gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) verstoßen, ist nicht ordnungsgemäß erhoben. Sie hätte insoweit aufzeigen müssen, dass sich das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen. Dabei ist darzulegen, inwiefern nach den dem LSG vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen und medizinischen Sachverhalt aus seiner rechtlichen Sicht erkennbar offen geblieben sind und damit zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts zwingende Veranlassung bestanden hat und die so zu ermittelnden Tatsachen nach der Rechtsauffassung des LSG entscheidungserheblich sind. Außerdem ist anzugeben, wann und in welcher Form die zu ermittelnden Tatsachen in der Berufungsinstanz vorgebracht wurden (BSG vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - Juris RdNr 69 f).

22

Das Vorbringen der Klägerin, das LSG hätte die Anzahl der von ihr betreuten, mit dem HCV infizierten Personen in Erfahrung bringen und die Gefahr von Mikroläsionen sowie die Umstände des Verabreichens und der Entsorgung der Einwegspritzen ermitteln müssen, genügt diesen Anforderungen nicht. Es hätte nicht nur der Bezeichnung der zu ermittelnden Tatsachen bedurft, sondern vor allem auch der weiteren Darlegung, inwieweit diese Tatsachen bereits in der Berufungsinstanz so vorgebracht wurden, dass sich das LSG auf Grund des Berufungsvorbringens trotz der eingeholten Auskünfte zur Durchseuchung und den Arbeitsbedingungen im Altenzentrum zu einer weiteren Tatsachenermittlung hätte gedrängt fühlen müssen.

23

b) Auch die Rüge der Klägerin, das Berufungsgericht habe die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten, ist unzulässig. Die Beweiswürdigung des LSG ist nur eingeschränkt überprüfbar. Da das Tatsachengericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet, ist diese Vorschrift nur dann verletzt, wenn das Gericht gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstoßen oder das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt hat. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen muss im Einzelnen dargelegt werden (BSG vom 31.5.2005 - B 2 U 12/04 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 2 RdNr 9). Daran fehlt es hier.

24

Die Klägerin hat kein Denkgesetz benannt, gegen das das LSG verstoßen haben soll. Es hätte aufgezeigt werden müssen, dass das Berufungsgericht zu einer bestimmten, aus seiner Sicht erheblichen Frage aus den gesamten rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten nur eine Folgerung hätte ziehen können, jede andere nicht folgerichtig "denkbar" ist und das Gericht die allein in Betracht kommende nicht gesehen hat (vgl BSG vom 11.6.2003 - B 5 RJ 52/02 R - Juris RdNr 13 mwN). Dass und weshalb die Feststellung der BK 3101 die einzig denkbare Folgerung gewesen sein soll, legt die Revision indes nicht dar.

25

Mit ihrem Vorbringen, das LSG habe Pflegestationen in Altenheimen als nicht besonders hepatitisgefährdend angesehen und daher einen Durchseuchungsgrad der Gesamtbevölkerung von 0,5 bis 0,7 vH angenommen, ist auch ein fehlerhaft angewendeter Erfahrungssatz nicht aufgezeigt worden. Es trifft zwar zu, dass der vom Robert Koch Institut 1998 durchgeführte "BundesGesundheitssurvey" Personen aus Heil- und Pflegeanstalten, Krankenhäusern sowie Justizvollzugsanstalten nicht umfasst (vgl Schreier/Höhne, Hepatitis C - Epidemiologie und Prävention, Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 6/2001 S 554, 555). Aus einer durch diese Personengruppen bedingten höheren Durchseuchungsrate in der Gesamtbevölkerung folgt aber noch nicht zwingend eine deutlich höhere Durchseuchung gerade in den genannten Einrichtungen. Anhaltspunkte dafür, dass der vom LSG herangezogene Erfahrungssatz, dass Pflegeeinrichtungen in Altenheimen nicht als besonders hepatitisgefährdend angesehen werden können, nach Verfahren oder Inhalt falsch festgestellt worden wäre, sind nicht ersichtlich (vgl Schreier/Höhne aaO S 558, wonach in mehreren internationalen Studien eine signifikant höhere Durchseuchung bei Ärzten, Zahnärzten und sonstigen Beschäftigten im Gesundheitswesen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung nicht festzustellen war). In einem solchen Fall besteht für das Revisionsgericht keine rechtliche Veranlassung, das Bestehen und den Inhalt des vom LSG festgestellten Erfahrungssatzes ohne eine zulässig erhobene Verfahrens- oder Inhaltsrüge selbst von Amts wegen zu prüfen (vgl BSG vom 5.7.2011- B 2 U 17/10 R - Juris RdNr 31 mwN). Zu Ermittlungen ohne konkrete Anhaltspunkte "ins Blaue hinein" besteht auch unter verfassungsrechtlichen Erwägungen keine Verpflichtung (vgl BVerfG vom 9.10.2007 - 2 BvR 1268/03 , Juris RdNr 19).

26

Aus dem Vortrag der Klägerin, bei der Würdigung der Übertragungsgefahr habe Beachtung finden müssen, dass Gummihandschuhe nur "in der Regel" benutzt worden seien und von kontaminierten Gegenständen ein Infektionsrisiko ausgehe, wird nicht deutlich, dass hierdurch das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht hinreichend berücksichtigt worden wäre. Die weitere zitierte Begründung des LSG, dass Umstände teils risikosteigernd teils risikomindernd gewertet worden seien, macht gerade die durchgeführte Gesamtwürdigung deutlich. Inwieweit Gegenstände kontaminiert gewesen seien und dass das Tatsachengericht dem Sachverständigengutachten nicht gefolgt wäre, ohne die Abweichung ausreichend begründet zu haben, ist nicht dargetan. Im Kern zieht die Klägerin für sich trotz der vom LSG festgestellten Tatsachen den Schluss, dass sich ein erhöhtes Infektionsrisiko begründen lasse. Eine formgerechte Rüge der Verletzung der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung liegt indes nicht vor, wenn die Revision ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des LSG setzt (BSG vom 23.8.2007 - B 4 RS 3/06 R - SozR 4-8570 § 1 Nr 16 RdNr 33).

27

Unabhängig davon ist beiläufig anzumerken, dass unter Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Übertragungsformen des HCV auch kein Überschreiten der Grenzen der freien Beweiswürdigung durch das LSG festzustellen ist. Das HCV wird parenteral durch direkten Blut- oder Schleimhautkontakt übertragen (vgl Böhm/Jilg, Die Stabilität und Dauer der Infektiosität von Hepatitis A-Viren, Hepatitis B-Viren und Hepatitis C-Viren außerhalb des menschlichen Organismus als wichtige Kriterien für die Beurteilung des berufsbedingten Infektionsrisikos, in Selmair/Manns aaO, S 120). Im Gesundheitswesen ist die Nadelstichverletzung insbesondere mit einer Hohlnadel daher ein geeigneter Übertragungsweg, der ein besonders hohes Übertragungsrisiko beinhaltet, weil hier regelmäßig der Transfer relativ großer Mengen frischen Blutes möglich ist (vgl Trautwein/Manns, Vorgehen nach Nadelstichverletzung bei Hepatitis B- und C-Infektion in der Klinik, in Selmair/Manns aaO, S 145; Remé, Arbeitsmedizinische Grundlagen für die Konkretisierung von Beweiserleichterungen im Berufskrankheitenfeststellungsverfahren - Fallgruppen und Einzelfallermittlungen, in Selmair/Manns aaO, S 190; Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO, S 718; Mehrtens/Brandenburg, BKV, M 3101 RdNr 13.2). Die Injektionskanülen von Insulinspritzen sind aber dünner als andere Hohlnadeln. Das Beweisergebnis des LSG, dass gerade unter Berücksichtigung der geringeren Kanülendicke keine besondere Infektionsgefahr bestehe, ist daher in sich schlüssig und widerspruchsfrei.

28

Dabei hat das LSG zutreffend den von der Klägerin zu führenden Vollbeweis der "Einwirkungen" iS einer besonders erhöhten Infektionsgefahr gefordert. Die geltend gemachten Beweisschwierigkeiten rechtfertigen weder eine Beweislastumkehr noch die Annahme eines Beweisnotstandes und eine daraus abzuleitende Notwendigkeit zu Beweiserleichterungen. Typische Beweisschwierigkeiten, die sich aus den Besonderheiten des Einzelfalles ergeben, sind im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Eine allgemeingültige Beweiserleichterung für den Fall des Beweisnotstandes würde dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) widersprechen (BSG Urteil vom 7.9.2004 - B 2 U 25/03 R - Juris RdNr 17 mwN).

29

Der Einwand der Klägerin, dass nach dem Urteil des Senats vom 2.4.2009 (B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4 BKV) selbst bei zehn Nadelstichverletzungen und einem Infektionsrisiko von 0,13 vH eine erhöhte Infektionsgefahr in Betracht komme, sofern die Wahrscheinlichkeit einer Infektion in der Allgemeinbevölkerung noch geringer sei, das LSG aber mindestens 87 Inokulationsereignisse festgestellt habe, führt zu keinem anderen Ergebnis. Abgesehen davon, dass dort nicht der Senat, sondern der beteiligte Unfallversicherungsträger ein Infektionsrisiko von 0,13 vH errechnet hatte, wird dabei übersehen, dass sich die erhöhte Infektionsgefahr auf die konkreten Arbeitsverrichtungen zurückführen lassen muss. Als Spritzen hat die Klägerin aber keine dickeren Hohlnadeln, sondern dünne Insulinnadeln verwendet.

30

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27. März 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Anerkennung der Berufskrankheit "Druckschädigung der Nerven" nach der Nummer 2106 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BK 2106).

2

Der 1952 geborene Kläger war seit 1970 als mithelfendes Familienmitglied auf einem Obstbauernhof erwerbstätig. 1985 übernahm er dieses Unternehmen und führte es bis 2004. Im Jahre 2002 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass er seit 1997 an Beschwerden im Bereich des Halses und der linken Schulter mit Ausstrahlung in den linken Arm und Brustkorb leide, was er auf seine berufliche Tätigkeit zurückführe. Die Beklagte lehnte die Anerkennung einer BK 2106 ab (Bescheid vom 7.10.2003, Widerspruchsbescheid vom 1.2.2005).

3

Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 5.5.2010 die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, das Thoracic-Outlet-Syndrom (TOS) ab 10.11.2005 als BK 2106 anzuerkennen und den Kläger mit einer Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH zu entschädigen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG durch Urteil vom 27.3.2014 den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben sowie die Klage ab- und die Anschlussberufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Beim Kläger lasse sich das Vorliegen einer BK 2106 nicht feststellen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in der ersten Instanz sei zwar davon auszugehen, dass beim Kläger ein TOS vorliege. Zweifelhaft erscheine hingegen, ob der Kläger die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2106 erfülle. Letztlich könnten diese Zweifel jedoch dahinstehen, weil das beim Kläger festgestellte TOS nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch seine Tätigkeit als Obstbauer und insbesondere nicht durch das Tragen einer Pflückschürze bei der Apfelernte verursacht worden sei. Es spreche insbesondere gegen den ursächlichen Zusammenhang, dass das TOS nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. F. kein Störungsbild sei, bei dem die Nervenfasern durch direkte Einwirkung von außen geschädigt werden, sondern es sich vielmehr um ein Engpasssyndrom handele. Die Besonderheit des TOS liege darin, dass die Reibung nicht durch Druck von außen, sondern durch die körpereigenen Strukturen selbst verursacht werde, während die unter die BK 2106 fallenden Krankheitsbilder typischerweise durch eine Bedrückung des Nerven in Gelenknähe bedingt durch die unphysiologische Beanspruchung des Gelenks geprägt seien. Die anders lautende Einschätzung des Sachverständigen Dr. K. überzeuge nicht, weil dieser selbst dargelegt habe, dass es in der medizinischen Wissenschaft kaum Literatur zur Beurteilung exogener Einflüsse auf die Verursachung eines TOS gebe. Dies erlaube zwar nicht den Umkehrschluss, dass die Entstehung eines TOS durch äußere Belastung nicht möglich sei. Für die Anerkennung einer BK 2106 genüge die bloße Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs jedoch nicht. Nach der Rechtsprechung des BSG sei bei der Beurteilung von Ursachenzusammenhängen der jeweils neueste anerkannte Stand des einschlägigen Erfahrungswissens zugrundezulegen. Wenn sich nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Amtsermittlung ein solcher von der Mehrheit der Fachwissenschaftler anerkannter neuester Erfahrungsstand nicht feststellen lasse, komme grundsätzlich eine Entscheidung nach Beweislast in Betracht. Der Kläger trage hier die Beweislast für die berufliche Verursachung seiner Erkrankung. Dass das Merkblatt zur BK 2106 auch das Krankheitsbild des TOS als durch arbeitsbedingte Belastungen verursachte Druckschädigung der Nerven nenne, führe nicht zu einer anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage. Den Merkblättern komme nur die Bedeutung einer Informationsquelle für die Praxis zu, ohne dass sie rechtliche Verbindlichkeit hätten. Schließlich spreche gegen eine Verursachung des beim Kläger vorliegenden TOS durch seine frühere Tätigkeit als Obstbauer, dass nach den Angaben der Beklagten in den Jahren 2002 bis 2008 zwar sechs Verdachtsfälle eines TOS als BK 2106 der DGUV gemeldet worden seien, sich hierunter jedoch kein Angehöriger der Berufsgruppe des Klägers befunden habe. Bei gleichartigen Arbeitsmethoden sei hinsichtlich des Einsatzes von Pflückschürzen statistisch mit dem Auftreten weiterer TOS-Erkrankungen zu rechnen gewesen.

4

Der Kläger rügt mit seiner Revision eine Verletzung des § 9 Abs 1 SGB VII iVm BK 2106. Das LSG habe sein Urteil im Wesentlichen auf das in erster Instanz eingeholte Gutachten des Dr. F. gestützt, nach dem das Vorliegen der BK 2106 einen Druck von außen voraussetze. Damit habe das LSG zu Unrecht die Formulierung "Druckschädigung der Nerven" ausschließlich einer Druckeinwirkung von außen gleichgestellt. Tatsächlich habe der Verordnungsgeber Nervenschädigungen sowohl durch Druck von außen als auch von innen berücksichtigen wollen, wie der wissenschaftlichen Begründung des Ärztlichen Sachverständigenrates beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Sektion Berufskrankheiten vom 1.8.2001 zu entnehmen sei. Unter Ziffer 3 dieser wissenschaftlichen Begründung werde das TOS ausdrücklich als typisches Krankheitsbild der BK 2106 genannt. Soweit es sich auf die Stellungnahme des Dr. S. stütze, der das Vorliegen eines TOS verneint habe, habe das LSG nicht ohne Verstoß gegen die Denkgesetze einerseits das Vorliegen eines TOS annehmen, andererseits aber deren Ablehnung als BK mit der Auffassung des Dr. S. begründen können. Auch der Verweis auf die Statistiken der DGUV habe angesichts der Vielzahl an Berufsgruppen, bei denen das Vorliegen eines beruflich bedingten TOS in Betracht komme, keinerlei Aussagekraft.

5

Der Kläger beantragt,

1.    

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27. März 2014 aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

2.    

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 5. Mai 2010 zu ändern und ihm Verletztenrente in Höhe von mehr als 25 vH zu bewilligen.

6

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Zutreffend sei das LSG davon ausgegangen, dass ein TOS in der Ausprägung des Syndroms der kosto-klavikulären Enge nicht zu den von der BK 2106 erfassten Krankheiten zähle, weil dieses nicht durch Druck von außen, sondern durch körpereigene Strukturen verursacht werde. Im Übrigen komme weder der wissenschaftlichen Begründung noch den Merkblättern rechtliche Verbindlichkeit zu.

Entscheidungsgründe

8

Die statthafte und zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen für eine abschließende Entscheidung durch den Senat nicht aus. Weder lässt sich danach beurteilen, welchen versicherten Einwirkungen iS der BK 2106 der Kläger im Einzelnen unterlegen ist noch ob diese nach dem neuesten Stand der medizinischen Wissenschaft geeignet waren, das beim Kläger bestehende (aber noch näher zu spezifizierende) TOS zu verursachen, das ebenfalls in seiner konkreten Ausprägung nicht festgestellt ist.

9

Die erhobenen Klagen sind als Anfechtungsklage gegen die ablehnenden Entscheidungen in dem Bescheid vom 7.10.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1.2.2005, verbunden mit der auf Feststellung einer BK gerichteten Klage und der auf Verurteilung zu der abgelehnten Rentenzahlung gerichteten unechten Leistungsklage zulässig (BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 14).

10

Rechtsgrundlage für die Anerkennung der BK ist § 9 Abs 1 SGB VII iVm BK 2106. BK 2106 (in der mit Wirkung vom 1.10.2002 geltenden Fassung vom 5.9.2002 ) lautet: "Druckschädigungen der Nerven". Nach § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist für die Feststellung einer Listen-BK (Versicherungsfall) erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität ) und diese Einwirkungen eine Krankheit (dazu unter B) verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität ). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (zuletzt Urteile des erkennenden Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 10, B 2 U 10/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 RdNr 11 sowie B 2 U 20/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8 RdNr 10; s auch BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 12; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4, RdNr 16 mwN; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14, RdNr 9 mwN; BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 412; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 14). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK, wohl aber für eine Leistung (Leistungsfall).

11

A. Nach den bindenden Feststellungen des LSG arbeitete der Kläger neben seiner Beschäftigung als Schriftsetzer und medizinisch-technischer Assistent seit 1970 als mithelfendes Familienmitglied auf einem Obstbauernhof, den er zum 1.10.1985 übernahm und bis 2004 führte. Er war daher bei dieser Tätigkeit "Versicherter" iS von zunächst § 2 Abs 1 Nr 5b SGB VII und sodann § 2 Abs 1 Nr 5a SGB VII.

12

Den Feststellungen des LSG lässt sich noch hinreichend entnehmen, dass der Kläger während seiner versicherten Tätigkeit der durch das Tatbestandsmerkmal "Druckschädigung ..." in der BK 2106 vorausgesetzten Einwirkung "Druck" in Form des Tragens einer mit bis zu 20 kg Äpfel gefüllten Pflückschürze während 8 bis 10 Wochen im Jahr unterlag. Der Tatbestand der BK 2106 enthält darüber hinaus keine normativen Vorgaben in Form einer Dosis oder Mindestdauer der erforderlichen Einwirkung.

13

B. Beim Kläger besteht auch nach den Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) eine Schädigung der Nerven als vom Verordnungstext vorausgesetzte Erkrankung in Form eines TOS, wenngleich das LSG die konkrete Variante dieses Symptoms nicht festgestellt hat (hierzu noch unter C).

14

Bei der BK 2106 handelt es sich um eine sog offene BK-Bezeichnung (vgl Spellbrink, BPUVZ 2012, 360, 362; ders SozSich 2013, 431 f; Bieresborn, NZS 2008, 354, 359), bei der die erforderliche Erkrankung nicht präzise umschrieben, sondern nur eine Krankheitsgruppe, nämlich "Druckschädigungen der Nerven", genannt wird. Anerkennungsfähig sind mithin hier alle Krankheiten dieser Gruppe, die durch die betreffende Einwirkung potentiell verursacht werden können. Um ein bestimmtes Krankheitsbild aus dem Schutzbereich dieser BK ausschließen zu können, muss demgegenüber feststehen, dass entweder diese Krankheit nach dem Willen des Verordnungsgebers nicht vom Schutzbereich der Norm umfasst sein sollte oder durch die jeweilige Einwirkung nicht verursacht werden kann. Ein solcher Ausschluss kann sich nur aus den Verordnungsmaterialien oder der wissenschaftlich festgestellten und allgemein anerkannten Wirkungsweise bestimmter Belastungen oder Expositionen ergeben (vgl Becker in Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky/Heinz, SGB VII, § 9 RdNr 149 f).Dabei genügt es nicht, diejenigen Erkenntnisse zugrundezulegen, die den Verordnungsgeber zur Aufnahme der Krankheit in die BK-Liste bewogen haben, sondern es sind die fortschreitenden Erkenntnisse der Wissenschaft hinsichtlich der Wirkungsweise der genannten Einwirkung zur Bestimmung des Schutzbereichs zugrundezulegen (s BSG vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 240 Nr 1, RdNr 15, zum Kehlkopfkarzinom nach ionisierenden Strahlen).

15

Beim TOS, das auch als neurovaskuläres oder Schultergürtel-Kompressionssyndrom bezeichnet wird, handelt es sich laut ICD-10, G54.1 um eine durch äußeren oder inneren Druck bewirkte Läsion des Plexus brachialis. Dass dieses Erkrankungsbild nach dem Willen des VO-Gebers nicht vom Schutzbereich der BK 2106 erfasst sein soll, lässt sich weder den Verordnungsmaterialien noch der wissenschaftlich festgestellten und allgemein anerkannten Wirkungsweise bestimmter Belastungen oder Expositionen entnehmen. So wird das TOS sowohl in der wissenschaftlichen Begründung (Wissenschaftliche Begründung zur BK Nr 2106: Druckschädigung der Nerven, Bekanntmachung des BMA vom 1.8.2001 - IVa 4-45222-2106; BArbBl 9/2001, S 59-63; 1.3.2.1.) als auch im Merkblatt (Bekanntmachung des BMA vom 1.10.2002, BArbBl 11/2002, S 62) ausdrücklich unter der Rubrik "Nervenschaden an der oberen Extremität" als "Armplexusschaden im Wurzelbereich (C4) C5-Th1" in Form einer "Engpassproblematik im Bereich der Skalenuslücken, der kosto-klavikulären Passage und/oder des Korakoids" aufgelistet. Dies zeigt, dass bei Einführung der BK 2106 mit dem jetzigen Wortlaut der für die wissenschaftliche Begründung von BKen maßgebliche Ärztliche Sachverständigenbeirat - Sektion "Berufskrankheiten" - beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung davon ausging, dass dieses Krankheitsbild vom Schutzbereich der BK 2106 umfasst sein sollte.

16

Zutreffend hat das LSG zwar darauf hingewiesen, dass diese Merkblätter weder verbindliche Konkretisierungen der Tatbestandsvoraussetzungen der BK noch antizipierte Sachverständigengutachten oder eine Dokumentation des Standes der einschlägigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft sind (BSG vom 11.8.1998 - B 2 U 261/97 B - HVBG-Info 1999, 1373). Sie sind jedoch als Interpretationshilfe und zur Ermittlung des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands heranzuziehen (zuletzt BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 20/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8 RdNr 15; BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 6/04 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 5 RdNr 15; BSG vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1, RdNr 17 mwN; BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 85 = NZS 2001, 605, 606; s auch BSG vom 22.8.2000 - B 2 U 34/99 R - SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2).

17

Anhaltspunkte dafür, dass inzwischen neuere wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, nach denen ein TOS nicht durch Druckbelastung verursacht werden kann und dementsprechend als anerkennungsfähiges Krankheitsbild aus dem Schutzbereich der BK 2106 ausscheidet, wurden dem Senat weder vorgetragen noch sind sie gerichtsbekannt. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats sind die die einzelnen Tatbestandsmerkmale der jeweiligen BK unterfütternden allgemeinen (generellen) Tatsachen, die für alle einschlägigen BKen-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind, anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands auch revisionsrechtlich überprüfbar (zuletzt BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 20, B 2 U 10/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 RdNr 20, B 2 U 20/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8 RdNr 33; dort auch mit Nachweisen zur älteren Senatsrechtsprechung und zur Rechtsprechung anderer Senate des BSG). Als aktueller Erkenntnisstand sind solche durch Forschung und praktische Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse anzusehen, die von der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt werden, über die also, von vereinzelten, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, Konsens besteht (vgl zuletzt BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 22; BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291, 295 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20).

18

Der Senat hat bereits in anderem Zusammenhang entschieden, dass einzelne Gegenstimmen nicht geeignet sind, einen einmal gebildeten wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu erschüttern, solange nicht die Mehrheit der Fachwissenschaftler den Erkenntnisstand aufkündigt. Diese Ausführungen bezogen sich zwar auf einen durch schriftliche Konsensempfehlungen konkretisierten wissenschaftlichen Erkenntnisstand (s jeweils zur BK 2108 BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 sowie BSG vom 25.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 22), sie gelten aber auch bei anderen BKen für die in der wissenschaftlichen Begründung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats, in Merkblättern und in der einschlägigen Fachliteratur geäußerten wissenschaftlichen Meinungen. Aus diesen Quellen folgt, dass ein TOS zumindest in den dort genannten Varianten des Krankheitsbildes durch äußeren Druck verursacht werden kann. Die einzige Quelle dafür, dass der dort zum Ausdruck kommende wissenschaftliche Erkenntnisstand veraltet sein könnte und daher nicht zugrunde gelegt werden dürfte, scheint das Gutachten des Dr. F. zu sein. Dieser behauptet ohne kritische Auseinandersetzung mit dem Inhalt der oben aufgeführten anderslautenden wissenschaftlichen Begründung, ein TOS könne ausschließlich durch innere Reibung ohne äußeren Druck verursacht werden. Dieser Aussage ist dann aber letztlich auch das LSG nicht gefolgt, weil es selbst die Verursachung eines TOS durch äußere Belastungen zumindest für möglich hält. Eine Änderung des in der wissenschaftlichen Begründung sowie in dem Merkblatt manifestierten Erkenntnisstands konnte das LSG schließlich auch nicht aus der Aussage des Sachverständigen Dr. K. ableiten, dass kaum Literatur zur Verursachung des TOS durch äußere Druckeinwirkung existiere.

19

C. Der Senat kann mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen aber nicht entscheiden, ob das LSG zu Recht den Ursachenzusammenhang zwischen den gefährdenden Einwirkungen iS der BK 2106 und dem festgestellten TOS verneint hat. Für die Anerkennung einer BK im konkreten Einzelfall ist neben der Kausalität zwischen der versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen (Einwirkungskausalität) ein Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen und der Erkrankung erforderlich. Für die streitige BK 2106 bedeutet dies, dass das beim Kläger festgestellte TOS durch die im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit erfolgte Einwirkung von Druck verursacht worden sein muss. Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung gilt im BKen-Recht, wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung, die Theorie der wesentlichen Bedingung (s zum Arbeitsunfall die Entscheidungen des erkennenden Senats vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 34 ff sowie BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37; zu BKen s BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - juris RdNr 32; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 13 sowie - B 2 U 26/04 R - juris RdNr 17), die zunächst auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht, nach der jedes Ereignis (jede Bedingung) Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Steht die versicherte Tätigkeit als eine der Wirkursachen fest, muss auf der zweiten Stufe die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestands fallenden Gefahr sein. Die Wesentlichkeit der Wirkursache ist zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils die Versicherung begründenden Norm zu beurteilen (zur Theorie der wesentlichen Bedingung: zuletzt eingehend BSG vom 17.12.2015 - B 2 U 8/14 R - ; BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37 sowie BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 = SozR 4-2700 § 11 Nr 1, RdNr 28 ff).

20

Vorliegend kann der Senat mangels ausreichender Feststellungen nicht entscheiden, ob im Fall des Klägers die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine positive Kausalitätsbeurteilung vorliegen, die das LSG - aus seiner Sicht konsequent - hat dahinstehen lassen (dazu unter 1.), sowie ob das LSG zu Recht die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen verneint hat (dazu unter 2.).

21

1. Der Senat kann anhand der Feststellungen des LSG nicht entscheiden, ob die (weiteren) arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine Anerkennung des TOS als BK 2106 gegeben sind. Bei den arbeitstechnischen Voraussetzungen handelt es sich um ein Element der Anspruchsprüfung einer BK, das zwei miteinander in Zusammenhang stehende Aspekte umfasst: das Vorhandensein der hier gegebenen (s oben A.) tatbestandlich vorausgesetzten Einwirkungen und die Kausalität zwischen diesen Einwirkungen und einer Erkrankung (BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 20/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8 RdNr 13; vgl Bieresborn, Die Umsetzung der BK 2108 aus sozialrechtlicher Sicht, in: Grosser/Schiltenwolf/Thomann , Berufskrankheit "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule" , Frankfurt 2014, S 179, 193). Eine wissenschaftlich begründete Ursachenbeurteilung erfordert, dass neben der Feststellung der vorliegenden Gesundheitsstörungen klar festgestellt wird, worin das oder die schädigenden Ereignisse lagen. Dem Urteil des LSG ist lediglich zu entnehmen, dass der Kläger im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit 8 bis 10 Wochen pro Jahr Kernobst mittels einer ca 20 kg Obst fassenden Pflückschürze geerntet hat.

22

Das Urteil des LSG enthält jedoch keine Feststellungen dazu, an welcher Stelle des Körpers die Druckeinwirkung erfolgte, insbesondere ob sich diese in Nähe des unteren Plexus brachialis befindet, den das LSG offenbar als geschädigt ansieht. Ohne diesbezügliche exakte Feststellung des oder der schädigenden Ereignisse und der naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhänge hinsichtlich der geltend gemachten Gesundheitsstörung kann eine zuverlässige Ursachenbeurteilung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und in Abwägung der verschiedenen Gesichtspunkte für die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Ursache nicht erfolgen, weil die Ereignisse und Ursachen nicht zueinander in Verhältnis gesetzt und nicht in die Krankheitsgeschichte des Verletzten eingeordnet werden können (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 30).

23

Dies gilt umso mehr, als nach der einschlägigen arbeitsmedizinischen Literatur für das Vorliegen einer BK 2106 eine eindeutige Beziehung zwischen der Lokalisation des einwirkenden Drucks und dem anatomisch zuzuordnenden klinisch-neurologischen Befund kennzeichnend ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, S 232). Erst wenn diesbezügliche Feststellungen nachgeholt wurden, kann entschieden werden, ob eine Dauer dieser belastenden Tätigkeit von 8 bis 10 Wochen im Jahr bei ebenfalls noch festzustellender Tagesdauer geeignet war, das beim Kläger bestehende Krankheitsbild zu verursachen. Hierbei wird das LSG zu beachten haben, dass weder der Verordnungstext, noch die wissenschaftliche Begründung zur Abänderung des VO-Textes der BK 2106 (Druckschädigung der Nerven, Bekanntmachung des BMA vom 1.8.2001 - IVa 4-45222-2106; BArbBl 9/2001, S 59-63; 1.3.2.1.), das hierzu zuletzt veröffentlichte Merkblatt (Bekanntmachung des BMA vom 1.10.2002, BArbBl 11/2002, S 62) oder die aktuelle Fachliteratur zur BK 2106 Angaben in Hinblick auf Höhe und Intensität (Dosis) der Einwirkung enthalten.

24

Das LSG wird aber auch Feststellungen dazu nachzuholen haben, ob bei dem Kläger - abgesehen vom Tragen der Obstschürze - weitere beruflich veranlasste Bewegungsabläufe vorlagen, die geeignet waren, ein TOS zu verursachen.Sowohl in der wissenschaftlichen Begründung, als auch in dem hierzu zuletzt veröffentlichten Merkblatt sowie der einschlägigen Fachliteratur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, S 235) werden neben "Lastendruck auf der Schulter" auch "repetitive Abduktions- und Adduktionsbewegungen im Schultergelenk" sowie "Überkopfarbeiten mit nach hinten gestrecktem Arm"als bekannte arbeitsbedingte Gelenkbelastungen aufgelistet, die bei Pflücktätigkeiten eines Obstbauern zumindest nicht gänzlich fernliegend erscheinen.

25

Auf das Vorhandensein einer in Höhe und Intensität geeigneten Druckeinwirkung lässt sich hingegen nicht alleine aufgrund des bindend festgestellten Krankheitsbildes des TOS schließen, weil dieses wiederum nicht zwingend durch eine äußere Druckeinwirkung verursacht wird. Vielmehr ergibt sich aus weiteren, dem jeweiligen Rechtsanwender zugänglichen Quellen, dass das TOS durchaus aufgrund innerer Ursachen wie anatomischer Varianten oder sonstiger Dispositionen entstehen kann (Sadeghi-Azandaryani, Das Thoracic-Outlet-Syndrom: Diagnostik, Therapie und Ergebnisse der Münchner Studie, Dissertation München, 2004, S 8 f; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, S 234).

26

2. Der Senat kann mangels ausreichender Feststellungen des LSG ebenso wenig entscheiden, ob die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für die Bejahung des erforderlichen Ursachenzusammenhangs zwischen gefährdenden Einwirkungen iS der BK 2106 und dem beim Kläger festgestellten TOS, dessen Vorliegen das Berufungsgericht als nicht hinreichend wahrscheinlich abgelehnt hat, gegeben sind (dazu unter a). Ferner wird das LSG ggf bei einer erneuten Beweiswürdigung die Anwendbarkeit des § 9 Abs 3 SGB VII zu erwägen haben(dazu unter b).

27

a) Die sogenannten arbeitsmedizinischen Voraussetzungen betreffen ebenfalls zwei Aspekte der Anerkennungsvoraussetzungen, nämlich zum einen das Vorliegen der tatbestandlich vorausgesetzten Krankheit (was hier gegeben ist, s oben B.), zum anderen das Vorliegen eines Schadensbildes, welches mit der rechtlich-wesentlichen Verursachung dieser Krankheit durch die beruflichen Einwirkungen zumindest im Einklang steht (BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 18).

28

Die naturwissenschaftliche Kausalitätsprüfung ist zwar eine der revisionsrechtlichen Bindung fähige tatsächliche Feststellung der Instanzgerichte (vgl Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, § 163 RdNr 9). Eine solche bindende Wirkung besteht jedoch dann nicht, wenn das LSG von einem offenkundig falschen medizinischen Erfahrungssatz ausgegangen ist oder bestehende Erfahrungssätze nicht angewandt hat (vgl BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 RdNr 20, sowie BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - UV-Recht Aktuell 2010, 418) oder eine solche fehlerhafte Anwendung zulässig gerügt wird (vgl hierzu BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 20). Die heranzuziehenden Quellen-, Fachbücher, Standardwerke, Merkblätter des zuständigen Ministeriums, Begründungen des Sachverständigenbeirats, Konsensempfehlungen etc hat das Gericht eigenständig kritisch zu würdigen und auf ihre Aktualität hin - ggf durch Sachverständige - zu überprüfen (vgl BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 100/12 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 24 RdNr 18; BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 69; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 20; vgl auch BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17 mwN).

29

Das LSG hat hierbei die Grenzen der Befugnis zur freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) überschritten. Bei seiner Entscheidungsfindung, ob im Falle des Klägers die Verursachung des TOS durch die durch das Tragen der Obstschürze entstandene Druckbelastung hinreichend wahrscheinlich ist, durfte es nicht davon ausgehen, dass das Merkblatt zur BK 2106 nicht mehr den tatsächlichen aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand wiedergebe und mangels vorhandener weiterer Literatur kein aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand zur Verursachung des TOS durch exogene Einflüsse existiere. Soweit das LSG deshalb nach Beweislastgrundsätzen entschieden hat, verkürzt es in unzulässiger Weise die zu diesem Themenkomplex anzuwendenden medizinischen Erfahrungssätze. Wie oben ausgeführt, werden sowohl in der wissenschaftlichen Begründung zur Abänderung des VO-Textes der BK 2106 als auch in dem hierzu zuletzt veröffentlichten Merkblatt sowie der einschlägigen Fachliteratur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, S 235) jeweils "Lastendruck auf der Schulter" neben "repetitiven Abduktions- und Adduktionsbewegungen im Schultergelenk, Überkopfarbeiten mit nach hinten gestrecktem Arm, Spielen von Streichinstrumenten und damit Gelenkbelastungen" als bekannte arbeitsbedingte Belastungen im Zusammenhang mit typischen morphologischen Schädigungsmöglichkeiten genannt.

30

Soweit das LSG nach den Grundsätzen der sog objektiven Beweislast entschieden hat, vermischt es zudem in unzulässiger Weise die Frage, ob ein konkretes Sachverständigengutachten als verwertbares Beweismittel die Kausalität im Einzelfall stützt mit der Frage, ob bei sich widersprechenden Gutachten mangels aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands letztlich nicht entschieden werden kann, welchem der Gutachten zu folgen ist. Die Grundsätze der objektiven Beweislast (Feststellungslast) greifen erst ein, wenn der Tatrichter keine Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit einer streitigen und entscheidungserheblichen Tatsachenbehauptung gewinnen kann ("non liquet") (vgl zB BSG vom 26.11.1992 - 7 RAr 38/92 - BSGE 71, 256 = SozR 3-4100 § 119 Nr 7, RdNr 23). Im sozialgerichtlichen Verfahren stellt sich die Frage der Beweislastverteilung daher erst, wenn es dem Tatrichter trotz Erfüllung seiner insbesondere durch § 103 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG begründeten Pflicht zur eingehenden Erforschung des Sachverhalts und zur sorgfältigen Würdigung der erhobenen Beweise nicht gelungen ist, eine in tatsächlicher Hinsicht bestehende Ungewissheit zu beseitigen(stRspr, BSG vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - juris RdNr 20; Urteil vom 8.9.2010 - B 11 AL 4/09 R - juris RdNr 17; BSG vom 24.5.2006 - B 11a AL 7/05 R - BSGE 96, 238 = SozR 4-4220 § 6 Nr 4, RdNr 32). Dies gilt auch, wenn der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand im Streit steht, dessen fehlende Existenz mit der Folge einer Beweislastentscheidung erst nach entsprechenden Anstrengungen und der Sichtung staatlicher Merkblätter, Empfehlungen der Fachverbände, wissenschaftlicher Literatur etc festgestellt werden darf (vgl BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 61).

31

Das LSG führt zwar zutreffend aus, dass die Kausalitätsfeststellung nicht alleine auf das Vorliegen einer geeigneten Einwirkung und eines klinisch definierten Krankheitsbildes gestützt werden kann, weil angesichts der multifaktoriellen Entstehung vieler BKen es keinen Automatismus der Bejahung des Ursachenzusammenhangs allein aufgrund des Vorliegens entsprechender Einwirkungen und einer bestimmten Erkrankung gibt (s BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 19 sowie BSG vom 30.1.2007 - B 2 U 15/05 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2 RdNr 23). Es existiert keine zwingende Regel, dass bei fehlender Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexem Krankheitsgeschehen regelmäßig zu einer Anerkennung der BK führen würde (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 20; BSG vom 7.9.2004 - B 2 U 34/03 R - juris RdNr 22; s zur Unfallkausalität beim Arbeitsunfall BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 52). Andererseits ist es grundsätzlich denkbar, dass bei einem klar erkennbaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung dieser alleine für die Bejahung der Kausalität genügt, wenn keine Anhaltspunkte für eine alternative (innere oder äußere) Ursache für die Erkrankung bestehen (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 20; vgl zu typischen Geschehensabläufen beim Arbeitsunfall BSG vom 31.1.2012 - B 2 U 2/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 43 RdNr 30; s auch bereits BSG vom 21.11.1958 - 5 RKn 33/57 - BSGE 8, 245, 247; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr 9 ff; s zum zulässigen Schluss von einer berufsbedingt erhöhten Ansteckungsgefahr auf eine berufliche Ursache der aufgetretenen Infektionskrankheit, wenn neben der Gefährdung durch die versicherte Tätigkeit keine anderen, dem privaten Lebensbereich zuzuordnenden Infektionsrisiken bestanden haben BSG vom 21.3.2006 - B 2 U 19/05 R - juris RdNr 16; vgl zur Verursachung von Meniskusschäden bei Bergleuten BSG vom 27.11.1986 - 5a RKnU 3/85 - SozR 5670 Anl 1 Nr 2102 Nr 2 RdNr 12). Daher ist es weder dem Gutachter noch dem erkennenden Gericht verwehrt, im Einzelfall anhand der Gesamtumstände bei Vorliegen einer für die Schadensverursachung geeigneten Einwirkung sowie einem belastungskonformen Schadensbild bei fehlenden Anhaltspunkten für eine alternative äußere oder innere Verursachung die naturwissenschaftliche Kausalität zu bejahen.

32

Daher wird das LSG nicht nur Feststellungen dazu, an welcher Stelle des Körpers Druck auf den Kläger eingewirkt hat und ob dieser Druck in Höhe und Intensität zur Verursachung des TOS ausreichte, nachzuholen haben, sondern auch dazu, ob im Falle des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass das bei ihm diagnostizierte TOS auch ohne Druckbelastung von außen zB alleine durch innere schicksalhafte oder degenerative Ursachen entstanden ist (vgl BSG vom 27.11.1986 - 5a RKnU 3/85 - SozR 5670 Anl 1 Nr 2102 Nr 2 RdNr 12). Hierzu wird das LSG auch festzustellen haben, welche Variante des TOS beim Kläger besteht und insbesondere an welcher Stelle der Plexus brachialis geschädigt ist. Bereits aus der wissenschaftlichen Begründung und dem Merkblatt ergibt sich - wie bereits ausgeführt -, dass ein durch Druckeinwirkung verursachbares TOS in verschiedenen Varianten bekannt ist, nämlich in Form einer Engpassproblematik im Bereich der Skalenuslücken, der kosto-klavikulären Passage und/oder des Korakoids. Aus der einschlägigen Fachliteratur ergeben sich darüber hinaus weitere Differenzierungen wie das Scalenus-anterior-Syndrom, wenn der Musculus scalenus anterior betroffen ist, sowie das Hyperabduktionssyndrom oder Pectoralis-minor-Syndrom, wenn das Gefäßnervenbündel im Korakopektoralraum betroffen ist. Schließlich ist das Thoracic-inlet-Syndrom als Sonderform des TOS bekannt, das durch die Kompression der Vena subclavia und dadurch entstehende venöse Abflussstörungen verursacht wird (s zum Vorstehenden Sadeghi-Azandaryani, Das Thoracic-Outlet-Syndrom: Diagnostik, Therapie und Ergebnisse der Münchner Studie, Dissertation München, 2004, S 8 f).

33

Erst nach Feststellung der genauen Variante des beim Kläger bestehenden TOS und des Ortes der Druckeinwirkungen lassen sich Aussagen zum Pathomechanismus und damit dazu, ob die Druckeinwirkung überhaupt Wirkursache für das konkrete Erkrankungsbild war, treffen. In diesem Zusammenhang wird das LSG unter Umständen auch den zeitlichen Verlauf der Erkrankung im Verhältnis zum Einwirkungszeitraum zu würdigen haben. Da es selbst vom Vorliegen des Krankheitsbildes TOS ausgeht, wird es nicht den Beweiswert etwaiger positiver Gutachten mit dem Hinweis auf die Stellungnahme von Dr. S. negieren können, der offenkundig das Bestehen des TOS verneint. Auch wird das LSG dem Umstand, dass 2002 bis 2008 nur sechs Verdachtsfälle eines TOS als BK 2106 gemeldet worden sind, worunter sich kein Angehöriger der Berufsgruppe des Klägers befunden hat, keine den Kausalitätsnachweis ausschließende Wirkung beimessen können, weil entscheidend alleine die konkrete Belastung und das Erkrankungsbild sind (vgl aber zu erforderlichen, auf eine bestimmte Berufsgruppe bezogene Erkenntnisse zur Bejahung einer Wie BK nach § 9 Abs 2 SGB VII: BSG vom 18.6.2013 - B 2 U 6/12 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 22 RdNr 17 ff).

34

b) Wäre die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer allein wesentlichen außerberuflichen wie zB einer inneren Verursachung zu verneinen, käme durchaus der Schluss in Betracht, dass eine vorhandene geeignete berufliche Einwirkung - die vom LSG offengelassen wurde - auch ein geeignetes Krankheitsbild verursacht hat. In diesem Zusammenhang wird das LSG auch zu erwägen haben, ob die in § 9 Abs 3 SGB VII vorgegebenen normativen Voraussetzungen in Form des Bestehens einer erhöhten Gefahr der Erkrankung aufgrund besonderer Bedingungen der versicherten Tätigkeit unter Umständen aufgrund der Kumulation verschiedener gefährdender Tätigkeiten iS der BK 2106 gegeben sind.

35

Im Anschluss daran wäre ggf über die Wesentlichkeit der beruflichen Ursache zu entscheiden. Erst wenn die bei versicherten Tätigkeiten erfahrene Einwirkung als eine der Wirkursachen feststeht, kommt es auf der zweiten Stufe darauf an, dass die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr ist. Die Wesentlichkeit der Wirkursache ist zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks des die Unfallversicherung jeweils begründenden normativen Tatbestands zu beurteilen. Die Wesentlichkeit einer Bedingung ist eine reine (im Übrigen nicht durch den Sachverständigen beantwortbare) Rechtsfrage (zur Theorie der wesentlichen Bedingung: zuletzt eingehend BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37 sowie BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 = SozR 4-2700 § 11 Nr 1, RdNr 28 ff).

36

Ist jedoch nicht mehr aufklärbar, ob beim Kläger die Verursachung des TOS in seiner konkreten Ausprägung durch die beruflich erworbene Exposition gegenüber Druck hinreichend wahrscheinlich ist, käme eine Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen hingegen durchaus in Betracht.

37

Das LSG wird auch über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden haben.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 31. Januar 2013 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr 2108 (BK 2108) der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

2

Die 1947 geborene Klägerin war seit 1986 als Beschäftigte einer Garten- und Landschaftsbau GmbH tätig, wobei sie insbesondere bei Anpflanzungsarbeiten im Autobahnbau Bäume und Solitärsträucher mit Ballen mit einem Gewicht von 20 bis 50 kg, manchmal 70 kg, bewegen musste. Im Jahre 2003 beantragte sie bei der Beklagten die Anerkennung einer BK 2108 und gab an, dass sie ihre Tätigkeit wegen Rückenbeschwerden im Sommer 2002 habe aufgeben müssen. Durch Bescheid vom 7.9.2004 stellte die Beklagte fest, dass keine BK nach Nr 2108 der BK-Liste vorliege. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 14.12.2004). Durch Urteil vom 19.6.2006 hat das SG die Klage abgewiesen.

3

Das LSG hat nach Durchführung arbeitstechnischer und medizinischer Ermittlungen die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 31.1.2013 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klägerin zwar im Zeitraum zwischen 1986 und 2002 einer kumulativen Belastung von 18,5 Meganewtonstunden (MNh), also mehr als dem Lebensdosisrichtwert nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) für Frauen von 17 MNh, ausgesetzt gewesen sei, weshalb die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt seien. Die Klägerin leide auch an einer monosegmentalen bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS in Form eines Bandscheibenprolapses im Segment L5/S1. Es bestehe jedoch keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass diese Erkrankung der LWS durch die Berufstätigkeit zumindest als wesentliche Teilursache hervorgerufen worden sei. Die Spondylose übersteige im Nativröntgenbild entsprechend Ziffer 1.2 A der Konsensempfehlungen (U. Bolm-Audorff et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma und Berufskrankheit 2005/3 S 211, 214 ff) nicht das alterstypische Maß. Daneben liege eine beginnende Chondrose der HWS geringer als an der LWS vor. Damit sei die Konstellation B3 der Konsensempfehlungen gegeben, weil ein monosegmentaler Befund ohne Begleitspondylose vorliege, keine konkurrierenden Ursachenfaktoren ersichtlich seien und keines der in der Konstellation B2 genannten Zusatzkriterien erfüllt sei. Für ein besonderes Gefährdungspotenzial durch hohe Belastungsspitzen iS der B2-Konstellation ergäben sich aus den Berechnungen des Präventionsdienstes der Beklagten keinerlei Anhaltspunkte. Bei der Klägerin liege auch das weitere Zusatzkriterium der B2-Konstellation der besonders intensiven Belastung mit Erreichen des Richtwertes für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren nicht vor. Unter Zugrundelegung ihrer eigenen Angaben sei eine Belastung iHv maximal 8,42 MNh in einem Zeitraum von zehn Jahren, dh iHv 49,53 % des nach dem MDD angenommenen Richtwertes für die Lebensdosis bei Frauen, nachgewiesen. Die B2-Konstellation sei vom Wortlaut her eindeutig und lasse es nicht zu, einen halbierten Bezugswert statt den in den Konsensempfehlungen bezeichneten Bezugswert von 17 MNh für Frauen zugrunde zu legen. Dass sich ein Konsens dahingehend gebildet hätte, bei monosegmentalen Schadensbildern von Zusatzkriterien abzusehen, sei nicht ersichtlich. Nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft spreche bei der Konstellation B3 deutlich mehr gegen als für einen Zusammenhang zwischen beruflicher Belastung und bandscheibenbedingter Erkrankung der Wirbelsäule.

4

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision eine Verletzung des § 9 Abs 1 SGB VII iVm Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV. Die Auffassung des LSG, bei der Konstellation B3 des sog Konsensmodells spreche nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft mehr gegen als für einen Zusammenhang zwischen beruflicher Belastung und bandscheibenbedingter Erkrankung der Wirbelsäule, sei rechtsfehlerhaft. Aus dem Konsensmodell ließen sich für die Konstellation B3 gerade keine Schlussfolgerungen ableiten. Es treffe nicht zu, dass bei einer Reduzierung der Anforderungen an eine besonders intensive Belastung auf die Hälfte des Dosiswertes das Konsensmodell seinen Sinn verliere. Das BSG habe die Dosiswerte halbiert, um den Erkenntnissen der Wirbelsäulenforschung Rechnung zu tragen. Diese habe zu dem Ergebnis geführt, dass bandscheibenbedingte Erkrankungen der Wirbelsäule auch bei Unterschreitung der im MDD vorgeschlagenen Orientierungswerte beruflich verursacht sein könnten. Die Ergebnisse der Deutschen Wirbelsäulen-Studie deuteten darauf hin, dass auch unterhalb des Orientierungswertes nach dem MDD ein erhöhtes Risiko für bandscheibenbedingte Erkrankungen bestehen könnte. Es biete sich an, die Reduzierung des Dosiswerts um die Hälfte im Sinne der Rechtsprechung des BSG aus dem Jahre 2007 auch hier zu übernehmen.

5

Die Klägerin beantragt,

        

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 31. Januar 2013 sowie das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 19. Juni 2006 und den Bescheid der Beklagten vom 7. September 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 2004 aufzuheben und festzustellen, dass bei der Klägerin seit dem 12. März 2003 eine Berufskrankheit nach der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV besteht.

6

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

7

Eine Übertragung der Rechtsprechung des BSG zur Halbierung des Richtwertes für die Gesamtbelastungsdosis auf das Kriterium der Konstellation B2 der Konsensvereinbarungen würde diese insgesamt infrage stellen. Selbst bei einer Halbierung des Richtwertes für die Gesamtbelastungsdosis und einer Übertragung auf das zweitbenannte Kriterium der Konstellation B2 werde dieser Wert durch die Klägerin mit 8,42 MNh nicht erreicht. Anhaltspunkte für ein besonderes Gefährdungspotential durch hohe Belastungsspitzen im Sinne des drittbenannten Kriteriums seien nicht festgestellt worden. Zwar bestehe bei Vorliegen der Konstellation B3 bezüglich der Zusammenhangsbeurteilung kein Konsens, jedoch stimme das Ergebnis des LSG mit der überwiegenden Meinung der Teilnehmer der Arbeitsgruppe sowie der Rechtsprechung überein.

Entscheidungsgründe

8

Die statthafte und zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), weil die vom LSG festgestellten Tatsachen für eine abschließende Entscheidung durch den Senat nicht ausreichen. Weder lässt sich danach beurteilen, ob der isolierte Bandscheibenvorfall der Klägerin unter Zugrundelegung des neuesten Standes der medizinischen Wissenschaft ohne die in der Konstellation B2 genannten Zusatzkriterien durch schweres Heben- und Tragen verursacht wurde, noch ob die erforderliche Regelmäßigkeit der Einwirkungen gegeben ist.

9

Die erhobenen Klagen sind als Anfechtungsklage gegen die ablehnenden Entscheidungen verbunden mit der auf Feststellung einer BK gerichteten Feststellungsklage zulässig (BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151 ff RdNr 10).

10

Der erhobene Anspruch beurteilt sich gemäß § 212 SGB VII nach den Vorschriften des SGB VII, weil nicht ersichtlich ist, dass der Versicherungsfall bereits vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1.1.1997 (Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz vom 7.8.1996, BGBl I 1254) eingetreten sein könnte. Rechtsgrundlage für die Anerkennung der streitigen BK ist § 9 Abs 1 SGB VII iVm Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV vom 31.10.1997 (BGBl I 2623), die lautet: "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können". Nach § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist für die Feststellung einer Listen-BK erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) sowie dass eine Krankheit vorliegt (dazu unter A.). Des Weiteren muss die Krankheit durch die Einwirkungen verursacht worden sein (haftungsbegründende Kausalität ). Schließlich ist Anerkennungsvoraussetzung, dass der Versicherte deshalb seine Tätigkeit aufgeben musste sowie alle gefährdenden Tätigkeiten unterlässt. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist die BK nicht anzuerkennen (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 17). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK. Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 12; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4, RdNr 16 mwN; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14, RdNr 9 mwN; zuletzt BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 412; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 14).

11

A.1. Die Klägerin war vom 1.8.1986 bis Sommer 2002 in einer Firma für Garten- und Landschaftsbau als Arbeitnehmerin tätig. Sie war damit als "Beschäftigte" iS von § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versichert.

12

2. Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) unterlag die Klägerin in diesem Zeitraum bei der Ausübung der Beschäftigung einer kumulativen Einwirkungs-Belastung in Form von Hebe- und Tragevorgängen iHv 18,5 MNh (vgl zur Feststellung der tatbestandlich vorausgesetzten Einwirkung in Form von Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 20/14 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

13

3. Diese Belastungen erfolgten - wie der Tatbestand der BK 2108 voraussetzt - auch langjährig, nämlich von 1986 bis 2002 und damit 16 Jahre. Langjährig bedeutet, dass zehn Berufsjahre als im Durchschnitt untere Grenze der belastenden Tätigkeit zu fordern sind (so wörtlich das aktuelle Merkblatt 2108, BArbBl 2006, Heft 10, S 30, Abschnitt IV; vgl zum Merkmal "langjährig" bei der BK 2109 BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 15; s zur BK 2108 bereits BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, RdNr 10; BSG vom 22.6.2004 - B 2 U 22/03 R - juris RdNr 25; vgl auch: Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 08/2012, Anh zu K § 9 Anl zu BKV BK Nr 2108 - 2110 RdNr 7 mwN; Ricke in Kasseler Kommentar, Stand 5/2014, § 9 SGB VII RdNr 42; Mehrtens/Brandenburg, BKV, Stand 12/13, M 2108 Anm 2.2.2).

14

4. Nach den weiteren Feststellungen des LSG leidet die Klägerin an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS. Bei ihr liegt im Segment L5/S1 ein altersuntypischer Befund in Form eines Bandscheibenprolapses vor. Darüber hinaus sind keine altersuntypischen Veränderungen auch nicht in Form einer Spondylose vorhanden. An die Feststellung dieses monosegmentalen Befundes ist der Senat mangels zulässiger Rügen gebunden (§ 163 SGG).

15

B. Der Senat kann hingegen mangels hinreichender Tatsachengrundlage nicht entscheiden, ob das LSG zu Recht den Ursachenzusammenhang zwischen gefährdenden Einwirkungen iS der BK 2108 und der Bandscheibenerkrankung der Klägerin verneint hat. Für die Anerkennung einer BK ist neben der Kausalität zwischen versicherter Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen (Einwirkungskausalität) ein Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkungen und der Erkrankung erforderlich. Für die umstrittene BK 2108 bedeutet dies, dass die Lendenwirbelsäulenerkrankung der Klägerin durch langjähriges schweres Heben und Tragen bzw Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung im Rahmen ihrer versicherten Tätigkeit verursacht worden sein muss. Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung gilt im Berufskrankheitenrecht, wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung, die Theorie der wesentlichen Bedingung (siehe zum Arbeitsunfall die Entscheidungen des erkennenden Senats vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 34 ff sowie BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37; zu BKen s BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - juris RdNr 32; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 13 sowie - B 2 U 26/04 R - juris RdNr 17), die zunächst auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht, nach der jedes Ereignis (jede Bedingung) Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Steht die versicherte Tätigkeit als eine der Wirkursachen fest, muss auf der zweiten Stufe die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr sein. Die Wesentlichkeit der Wirkursache ist zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils begründeten Versicherung zu beurteilen (zur Theorie der wesentlichen Bedingung: zuletzt eingehend BSG, vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37 f sowie BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 = SozR 4-2700 § 11 Nr 1, RdNr 28 ff).

16

Vorliegend ist das LSG in durch das Revisionsgericht nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass die Klägerin einer in der Höhe zur Erzeugung des Bandscheibenschadens genügenden Einwirkungsbelastung unterlag (dazu unter 1). Mangels ausreichender Feststellungen kann der Senat jedoch nicht entscheiden, ob die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für eine positive Kausalitätsbeurteilung gegeben sind (dazu unter 2.). Ebenso wenig kann der Senat aufgrund der Feststellungen entscheiden, ob die erforderliche Regelmäßigkeit der wirbelsäulenbelastenden Tätigkeit vorliegt (dazu unter 3).

17

1. Unter Zugrundelegung des bindend festgestellten Einwirkungs-Wertes iHv 18,5 MNh ist das LSG ausgehend vom MDD zutreffend davon ausgegangen, dass die versicherten Einwirkungen durch schweres Heben und Tragen, denen die Klägerin unterlag, in der Höhe ausreichten, um einen Bandscheibenschaden zu verursachen. Mit der Heranziehung des MDD zur Bestimmung der für eine Krankheitsverursachung erforderlichen Belastungsdosis folgt das LSG der Rechtsprechung des erkennenden Senats, der seit 2003 (BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, RdNr 11 ff; BSG vom 19.8.2003 - B 2 U 1/02 R - USK 2003-219 RdNr 15; BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 18 und zuletzt BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 25) dieses Modell als eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der BK 2108 mit den unbestimmten Rechtsbegriffen "langjähriges" Heben und Tragen "schwerer" Lasten oder "langjährige" Tätigkeit in "extremer Rumpfbeugehaltung" nur ungenau und allenfalls nur richtungsweisend umschriebenen Einwirkungen angesehen hat. Die auf Grund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis des MDD sind nicht als Grenzwerte, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge zu verstehen (s zur Handhabung der hälftigen Orientierungswerte als Mindestbelastungswerte BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 31; BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 25; sowie die Urteile vom 23.4.2015 - B 2 U 20/14 R und B 2 U 10/14 R, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Für Frauen legt das MDD als Gesamtbelastungsdosis 17 MNh fest, die mit den bindend festgestellten 18,5 MNh sogar überschritten werden, sodass es im hier zu entscheidenden Fall nicht darauf ankommt, ob bereits ein geringerer, ggf hälftiger Wert dieses Orientierungswertes ausreichen würde, um von einem erhöhten Erkrankungsrisiko auszugehen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen nicht mehr verzichtet werden kann (vgl für Männer BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 25). Es kommt deshalb auch nicht drauf an, ob aufgrund der mittlerweile vorliegenden Ergebnisse der DWS-Richtwertestudie (DWS II; "Erweiterte Auswertung der Deutschen Wirbelsäulenstudie mit dem Ziel der Ableitung geeigneter Richtwerte", Kurztitel: "DWS-Richtwerteableitung", veröffentlicht unter http://www.dguv.de/ifa/Forschung/Projektverzeichnis/ FF-FB_0155A.jsp) eine weitere Absenkung der Orientierungswerte angezeigt ist. Der Senat weist aber in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gemäß § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII generelle Voraussetzung für die Einführung eines BK-Tatbestandes die gruppenspezifische Risikoerhöhung gegenüber der Gesamtbevölkerung ist, deren Annahme jedenfalls bei Werten iHv 3 MNh bedenklich erscheint(s nur Kranig, Was schadet den Bandscheiben?, DGUV Forum 2013, Nr 6 S 27, 31; vgl auch LSG Baden-Württemberg vom 25.9.2008 - L 10 U 5965/06 - Breith 2009, 307, RdNr 34 ff).

18

2. Der Senat kann allerdings nicht entscheiden, ob die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für die Bejahung des erforderlichen Ursachenzusammenhangs zwischen gefährdenden Einwirkungen iS der BK 2108 und der Bandscheibenerkrankung der Klägerin, die das Berufungsgericht verneint hat, vorliegen, weil hierfür die Feststellungen des LSG nicht ausreichen. Während die sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK zum einen das Vorhandensein der tatbestandlich vorausgesetzten Einwirkungen, zum anderen die potentielle Kausalität zwischen diesen Einwirkungen und einer Erkrankung beinhalten, betreffen die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen ebenfalls zwei Aspekte der Anerkennungsvoraussetzungen, nämlich zum einen das Vorliegen der tatbestandlich vorausgesetzten Krankheit, zum anderen das Vorliegen eines Schadensbildes, welches mit der rechtlich-wesentlichen Verursachung dieser Krankheit durch die beruflichen Einwirkungen zumindest im Einklang steht (Bieresborn, Die Umsetzung der BK 2108 aus sozialrechtlicher Sicht, in: Grosser/Schiltenwolf/Thomann , Berufskrankheit "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule" , Frankfurt 2014, S 179, 193, 199). Aus dem Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen kann angesichts der multifaktoriellen Entstehung von bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 26) nicht automatisch auf das Bestehen der Anspruchsvoraussetzungen der BK 2108 geschlossen werden; vielmehr müssen medizinische Kriterien hinzukommen (BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 19; BSG vom 30.1.2007 - B 2 U 15/05 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2, RdNr 23; vgl BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 7/05 R - juris RdNr 16 zur BK nach Nr 4302 der Anlage zur BKV; BSG vom 7.9.2004 - B 2 U 34/03 R - juris RdNr 22).

19

Das Berufungsgericht hat in nicht zu beanstandender Weise bei der Bestimmung des maßgeblichen aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands sowohl die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 zugrunde gelegt (dazu unter a) als auch das festgestellte Schadensbild diesen Erkenntnissen zugeordnet, mit dem Ergebnis, dass ein belastungskonformes Schadensbild iS der Konsensempfehlungen nicht vorliegt (dazu unter b). Hingegen ist die Aussage des Berufungsgerichts, in Fällen der B3-Konstellation spreche mehr gegen als für eine Verursachung durch die spezifischen beruflichen Einwirkungen iS der BK 2108 nicht haltbar (dazu unter c). Ob bei der festgestellten Befundkonstellation ein Anspruch auf Anerkennung einer BK 2108 besteht, kann der Senat mangels hinreichender Feststellungen dazu, ob nach dem neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstand Umstände vorliegen, die ausnahmsweise trotz Fehlens der B2-Zusatzkriterien der Konsensempfehlungen den Verursachungszusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und LWS-Schaden stützen, nicht entscheiden, weshalb der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist (dazu unter d).

20

a) Nicht zu beanstanden ist, dass das LSG die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 (U. Bolm-Audorff et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma und Berufskrankheit 2005/3, S 211, 216 ff, 228 ff) zugrunde gelegt hat. Diese bilden nach Überzeugung des Senats weiterhin den aktuellen Erkenntnisstand ab.Die naturwissenschaftliche Kausalitätsprüfung ist zwar eine der Bindung fähige tatsächliche Feststellung der Instanzgerichte (vgl Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 163 RdNr 9), jedoch sind nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats die die einzelnen Tatbestandsmerkmale der jeweiligen BK unterfütternden allgemeinen (generellen) Tatsachen, die für alle einschlägigen BK-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind, anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands auch revisionsrechtlich überprüfbar (grundlegend: BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 5/05 R - BSGE 96, 297 = SozR 4-5671 § 6 Nr 2, RdNr 19 sowie BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 23; s auch BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 23; s zur älteren Senatsrechtsprechung, wonach diesbezügliche Feststellungen dem Anwendungsbereich des § 163 SGG zugerechnet wurden: BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 83 = SozR 3-2700 § 9 Nr 4 = SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 4, juris RdNr 28; BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, RdNr 15, jeweils mwN). Dies muss zunächst jedenfalls immer dann gelten, wenn diese - wie hier - zulässig gerügt werden (vgl BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - juris RdNr 15; s zur Problematik der Überprüfung von allgemeinen Tatsachen auf ihre offensichtliche Unrichtigkeit auch das Urteil des Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Inwieweit in der Rechtsprechung anderer Senate des BSG (zur Überprüfung sog "genereller Tatsachen" in der sonstigen Rechtsprechung des BSG vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 163 RdNr 7 sowie speziell im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung BSG vom 16.6.1999 - B 1 KR 4/98 R - BSGE 84, 90, 94 = SozR 3-1500 § 163 Nr 7, juris RdNr 17 sowie BSG vom 12.8.2009 - B 3 KR 10/07 R - BSGE 104, 95 = SozR 4-2500 § 139 Nr 4, RdNr 27 und zuletzt BSG vom 12.9.2012 - B 3 KR 10/12 R - BSGE 112, 15 = SozR 4-2500 § 137 Nr 1, RdNr 55; s zu "Rechtstatsachen" BSG vom 25.10.1994 - 3/1 RK 57/93 - SozR 3-1500 § 163 Nr 5, juris RdNr 27, zu "allgemeinkundigen Tatsachen historischer Natur" BSG vom 7.2.1985 - 9a RV 5/83 - BSGE 58, 38, 42 = SozR 3100 § 5 Nr 7, juris RdNr 17 sowie zu "gerichtskundigen Tatsachen" BSG vom 27.1.1977 - 7 RAr 16/75 - BSGE 43, 124, 127 = SozR 4100 § 41 Nr 28, juris RdNr 30) eine solche Überprüfung genereller Tatsachen erfolgt, kann hier dahinstehen. Denn jedenfalls im Bereich des Rechts der BKen hat das BSG aufgrund der in den Normtexten der jeweiligen BKen in der Anlage zur BKV regelmäßig vertypisierten wissenschaftlichen Aussagen die Existenz der einschlägigen Erfahrungssätze selbst festzustellen. Das über das Vorliegen von BKen befindende Gericht muss sich folglich Klarheit darüber verschaffen, welches in der streitigen Frage der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist. Die heranzuziehenden Quellen, Fachbücher, Standardwerke, Merkblätter des zuständigen Ministeriums, Begründungen des Sachverständigenbeirats, Konsensempfehlungen etc hat das jeweilige Gericht eigenständig kritisch zu würdigen und auf ihre Aktualität hin ggf durch Sachverständige zu überprüfen (vgl BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 100/12 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 24 RdNr 18; BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 68 f; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 20; vgl auch BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20; Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17 mwN).

21

Hierbei ist zunächst die Zugrundelegung der Konsensempfehlungen durch das LSG als Orientierungshilfe bei der Beurteilung, ob der Bandscheibenschaden der Klägerin nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand durch die festgestellten beruflichen Einwirkungen verursacht wurde, revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. Denn die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 sind nach wie vor eine hinreichende Grundlage für die Bestimmung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands, wie der Senat zuletzt 2009 klargestellt hat (BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - juris RdNr 15). Seitdem wurden zwar in Folge der Veröffentlichung der DWS II Fachaufsätze publiziert, die Zweifel an den Aussagen auch der Konsensempfehlungen äußern. Weder aus der DWS II noch den sonstigen Veröffentlichungen ist jedoch zu entnehmen, dass die Erkenntnisse der Konsensarbeitsgruppe aus dem Jahre 2005 gerade hinsichtlich der hier zugrunde gelegten Befundkonstellation inzwischen veraltet sein könnten. Sofern vertreten wird, dass inzwischen die Ergebnisse der DWS II die wesentlichen Grundannahmen aus den Konsenskriterien widerlegten, etwa weil die bisher angenommenen Einwirkungsgrößen zu hoch seien, die Lokalisation und Häufigkeit der Verteilung von Bandscheibenschäden zu 96 % mit denen der Normalbevölkerung identisch sei, die Auswertungen der DWS II keine deutliche Abhängigkeit der Begleitspondylose von der MDD-Gesamtbelastungsdosis gezeigt habe oder Schäden an der HWS keine Aussagekraft zur Verursachung von LWS-Schäden hätten (M. Kentner und K. Frank, Kommentar zur DWS-Richtwertestudie und Implikationen hinsichtlich BK 2108 - Biomechanik vs. Pathophysiologie, Manuskript, erscheint in ASUMed 8/2015); Linhardt/Grifka, Auswirkungen der Deutschen Wirbelsäulenstudie auf die Berufskrankheit der Lendenwirbelsäule , MedSach 111 <2015>, 20, 21; Bergmann, Bolm-Audorff, Ditchen, Ellegast, Haerting, Kersten, Jäger, Skölziger, Kuß, Morfeld, Schäfer, Seidler, Luttmann, Lumbaler Bandscheibenvorfall mit Radikulärsyndrom und fortgeschrittene Osteochondrose, ZblArbeitsmed 2014, 233 - 238) handelt es sich erkennbar um wissenschaftliche Einzelmeinungen.

22

Die zitierten Publikationen setzen sich zum einen jeweils inhaltlich nicht mit der grundsätzlichen Kritik an der angewandten Methodik der Nachuntersuchung auseinander (s nur Grosser, Ergebnisse der Konsensusarbeitsgruppe zur Begutachtung der BK 2108 - Status quo und Konsequenzen aus der DWS, in: Grosser/Schiltenwolf/Thomann, Berufskrankheit "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule" , Frankfurt 2014, S 84 - 104; Zagrodnik, Fragliche Belastungsdosis, DGUV Forum 2014, Nr 7/8 S 10 - 13), zum anderen schöpfen sie ihre Kritik an den Aussagen der Konsensempfehlungen alleine aus den Ergebnissen der DWS II, und wenden sich im Wesentlichen gegen die Bestimmung und Höhe der Einwirkungsgrößen, nicht aber gegen die Grundaussage der Konsensempfehlungen, dass Bandscheibenschäden aufgrund beruflich erworbener Druckbelastungs-Dosen entstehen können. Der Senat verkennt nicht, dass ein wissenschaftlicher Erkenntnisstand auch dadurch erschüttert werden kann, dass grundlegende und fundierte Zweifel seitens der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler diesem den Boden entziehen, ohne dass sich diese in ihrer Mehrheit auf einen neuen Konsens geeinigt hätten. Einzelne Gegenstimmen sind demgegenüber nicht geeignet, einen einmal gebildeten und sich in schriftlichen Beurteilungskriterien manifestierenden wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu erschüttern, solange nicht die daran beteiligten Autoren in ihrer Mehrheit diesen Konsens in wesentlichen Punkten aufkündigen oder eine (zumindest teilweise) personell anders zusammengesetzte große Mehrheit von mit dieser Materie befassten Fachwissenschaftlern diesem Konsens entgegentritt.

23

b) Sofern das LSG davon ausgeht, dass bei der Klägerin keine Befundkonstellation besteht, für die die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 eine Anerkennungsempfehlung aussprechen, ist dies ebenfalls nicht zu beanstanden. So wie der erkennende Senat im Recht der BKen nicht gehindert ist, den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu Verursachungszusammenhängen festzustellen, ist er ebenso wenig gehindert, die korrekte Zuordnung des Sachverhalts seitens des Berufungsgerichts unter diesen einschlägigen Erkenntnisstand zu überprüfen. Dies gilt umso mehr, wenn dieser in Konsensempfehlungen verdichtet ist. Bei diesen handelt es sich freilich nicht um einen normativen Text oder ein antizipiertes Sachverständigengutachten, weil die Konsensempfehlungen weder vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber erlassen noch von unabhängigen und der Neutralität verpflichteten Autoren verfasst wurden (P. Becker, ASUMed 2009, 592, 595). Daher sind sie für Verwaltung, Gerichte oder Gutachter auch nicht unmittelbar verbindlich (Siefert, ASR 2011, 45, 48) und es verbietet sich deren Auslegung unter strikter Anwendung der Regeln der juristischen Methodenlehre (vgl Bieresborn, Die Umsetzung der BK 2108 aus sozialrechtlicher Sicht aaO; S 199).Konsensempfehlungen dienen lediglich zur Erleichterung der Beurteilung im Einzelfall, um typische Befundkonstellationen im Hinblick auf die Kausalbeziehungen unter Zugrundelegung des aktuell wissenschaftlichen Erkenntnisstandes einordnen zu können (Duell, Kranig, Palfner, BK-Begutachtungsempfehlungen - Wissen von Experten für Experten, DGUV Forum 2012, Nr 4 S 14, 16). Andererseits muss bei diesem Erkenntnisvorgang überprüfbar bleiben, ob das LSG nach allgemeinem Verständnis den von ihm festgestellten Sachverhalt (noch) vertretbar den in den Konsensempfehlungen aufgeführten Kategorien zugeordnet hat.

24

Nicht zu beanstanden ist im Rahmen des soeben aufgezeigten Prüfumfangs jedenfalls die Aussage des LSG, dass bei der Klägerin keine Befundkonstellation besteht, für die die Konsensempfehlungen eine Anerkennungsempfehlung aussprechen. Für sämtliche B-Konstellationen wird dort vorausgesetzt, dass die (gesicherte) bandscheibenbedingte Erkrankung nach ihrer Lokalisation die Segmente L5/S1 und/oder L4/L5 betrifft und eine Ausprägung als Chondrose Grad II oder höher und/oder als Vorfall hat. Sofern zusätzlich eine Begleitspondylose besteht (Befundkonstellation B1) gilt der Zusammenhang als wahrscheinlich. Liegt hingegen - wie hier nach den bindenden Feststellungen des LSG - keine Begleitspondylose vor, so wird der Zusammenhang nach den Konsensempfehlungen ua dann als wahrscheinlich betrachtet, wenn eine Höhenminderung und/oder ein Prolaps an mehreren Bandscheiben besteht (Befundkonstellation "B2" 1. Spiegelstrich 1. Alt). Alternativ müssen bei nur monosegmentaler/m Chondrose/Vorfall in L5/S1 oder L4/L5 im MRT in mindestens zwei angrenzenden Segmenten "black discs" vorliegen (Befundkonstellation "B2" 1. Spiegelstrich, 2. Alt). Als weitere Alternativen genügt für die Konstellation B2 entweder das Bestehen einer besonders intensiven Belastung, wobei hierfür als "Anhaltspunkt" das Erreichen des "Richtwertes für die Lebensdosis" in weniger als 10 Jahren (Befundkonstellation "B2" 2. Spiegelstrich), oder ein besonderes Gefährdungspotenzial durch hohe Belastungsspitzen, wofür als "Anhaltspunkt" das Erreichen der Hälfte des "MDD-Tagesdosis-Richtwertes" durch hohe Belastungsspitzen (Frauen ab 4 1/2 kN) verlangt wird (Befundkonstellation "B2" 3. Spiegelstrich). Nach den bindenden, weil nicht mit zulässigen Rügen angegriffenen Feststellungen des LSG liegen die tatsächlichen Voraussetzungen keiner dieser Alternativen der Befundkonstellation B2 vor. Insbesondere hat das LSG bei fehlender Begleitspondylose lediglich einen - keinesfalls ausreichenden - monosegmentalen Befund sowie das Fehlen von black discs in zwei benachbarten Segmenten festgestellt. Es kommt daher für den vorliegenden Fall nicht darauf an, ob als "Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben" (Befundkonstellation "B2" 1. Spiegelstrich, 1. Alt) auch ein bisegmentaler Befund ausreichen würde (so LSG Sachsen vom 21.6.2010 - L 2 U 170/08 LW - juris, das Gegenstand des Urteils des erkennenden Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - ist; anders Hessisches LSG vom 27.3.2012 - L 3 U 81/11 - juris). Auch kommt es im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob im Rahmen der Anwendung der Befundkonstellation B2 2. Spiegelstrich für die dort erwähnte "Lebensdosis" das Erreichen der hälftigen MDD-Dosis genügt (vgl ebenfalls das Urteil des erkennenden Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, in dem der Senat im Ergebnis die dahingehende Interpretation der Konsensempfehlungen durch das LSG als nicht offensichtlich falsch angesehen hat).

25

Das LSG hat freilich im vorliegenden Fall für den Senat bindend (§ 163 SGG) eine Belastung durch schweres Heben und Tragen innerhalb von 10 Jahren von maximal 8,42 MNh und damit nur iHv 49,53 % des nach dem MDD angenommenen Richtwertes für die Lebensdosis bei Frauen festgestellt, womit selbst der hälftige MDD-Wert nicht erreicht wurde. Anhaltspunkte dafür, dass auf Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands die rechtlich wesentliche Verursachung eines monosegmentalen Bandscheibenprolaps im Segment L5/S1 durch die in der BK 2108 genannten Einwirkungen bei Erreichen einer Gesamtbelastungsdosis iHv 8,42 MNh in einem Zeitraum von 10 Jahren ohne die sonstigen Zusatzerfordernisse der B2-Konstellation als hinreichend wahrscheinlich angenommen werden könnte, sind dem Senat nicht bekannt. Das LSG ist jedenfalls diesbezüglich bei Anwendung der Konsensempfehlungen weder von einem erkennbar falschen medizinischen Erfahrungssatz ausgegangen, noch hat es einen dem Senat bekannten oder vorgetragenen vorhandenen Erfahrungssatz nicht angewandt, als es unter Zugrundelegung der B3-Konstellation das Vorliegen einer mit einer Anerkennungsempfehlung konsentierten Befundkonstellation nach den Konsensempfehlungen verneint hat (vgl hierzu insbesondere das Urteil des Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, sowie BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 27).

26

c) Soweit die Klägerin allerdings geltend macht, das LSG habe bei der Ablehnung des Ursachenzusammenhangs die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) überschritten, weil es davon ausgegangen ist, bei Vorliegen der Konstellation B3 spreche deutlich mehr gegen als für den Zusammenhang zwischen beruflicher Belastung und bandscheibenbedingter Erkrankung, hat sie zulässig und zutreffend die Anwendung eines nicht existierenden Erfahrungssatzes gerügt. Ein solcher Erfahrungssatz, wie ihn das LSG angenommen hat, ist nicht allgemeinkundig oder dem Senat gerichtsbekannt. Soweit weder eine Begleitspondylose noch eines der zuvor genannten Zusatzkriterien der Konstellation B2 vorliegen und keine konkurrierenden Faktoren erkennbar sind, war die Einschätzung des Zusammenhangs durch die Arbeitsgruppenteilnehmer der Konsensarbeitsgruppe offensichtlich unterschiedlich und es wurde folglich auch keine Anerkennungsempfehlung ausgesprochen (U. Bolm-Audorff et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma und Berufskrankheit 2005/3, S 211, 221 f).Dieser fehlende Konsens in der Arbeitsgruppe kann aber nicht so gedeutet werden, dass damit eine Anerkennung des Verursachungszusammenhangs im Einzelfall unmöglich wäre. Zwar wird die Schlussfolgerung des LSG häufig zutreffen, jedoch ist die vom LSG zugrunde gelegte generelle Aussage wissenschaftlich nicht belegt, so dass es im Einzelfall nicht ausgeschlossen und dementsprechend jeweils erst im Rahmen der Amtsermittlung festzustellen ist, ob individuelle, dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechende Umstände vorliegen, die im konkreten Einzelfall den Ursachenzusammenhang als hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen(BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 52). Dies lässt sich anhand der tatsächlichen Feststellungen des LSG indes nicht beurteilen, das - von seiner Rechtsansicht her konsequent - die Ermittlungen bereits mit der Bejahung der Konstellation B3 beendet hat. Das LSG wird daher erst zu ermitteln haben, ob es einen nach dem neuesten Stand der medizinischen Wissenschaft anerkannten Erfahrungssatz gibt, nach dem isolierte Bandscheibenvorfälle ohne die in der Konstellation B2 genannten Zusatzkriterien durch schweres Heben und Tragen verursacht werden können.

27

3. Für den Fall, dass ein solcher Erfahrungssatz feststellbar ist, wird das LSG auch weitere Feststellungen dazu treffen müssen, ob die erforderliche Regelmäßigkeit der Einwirkungen gegeben ist. Die von der Klägerin während ihrer Berufstätigkeit ausgeführten Hebe- und Tragevorgänge erfolgten in der Regel bei saisonbedingten Anpflanzungstätigkeiten, ohne dass sich der zeitliche Umfang bzw die Häufigkeit dieser Tätigkeiten den Urteilsgründen entnehmen lässt. Die Regelmäßigkeit der Einwirkung durch Heben und Tragen bzw Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung ist kein geschriebenes Tatbestandsmerkmal der BK 2108, sondern lässt sich als Bestandteil der arbeitstechnischen Voraussetzungen dem Merkblatt 2006 (BArbBl 2006 Nr 10, S 30 ff, Abschnitt IV) entnehmen. Hintergrund ist, dass bei nicht regelmäßiger Belastung den Bandscheiben genügend Zeit zur Regeneration bleibt und deshalb keine Ursächlichkeit zwischen Druckbelastung und Schädigung besteht. Hierfür reicht es aber aus, dass die wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten in der ganz überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten erfolgten, ohne dass eine genaue Zeitgrenze pro Arbeitsschicht genannt werden kann. Vorausgesetzt wird, dass der Betroffene mindestens 60 Schichten im Jahr mit relevanter Wirbelsäulenbelastung ausgesetzt war. Wie bei der Belastungsdauer können geringere oder fehlende Einwirkungen in einer Arbeitsschicht durch stärkere oder länger dauernde Belastungen in anderen Schichten ausgeglichen werden (zum Verzicht auf eine Mindesttagesdosis bei BK 2108 auch BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 24; Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 08/2012, Anh zu K § 9 Anl zu BKV BK Nr 2108 - 2110 RdNr 11a, sowie zur BK 2109: BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 15). In tatsächlicher Hinsicht hat das LSG insoweit nur festgestellt, dass die wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten im genannten Umfang insbesondere bei Anpflanzungsarbeiten an der Autobahn erfolgt sind. Insoweit wird das LSG ggf die Feststellung nachzuholen haben, ob diese Anpflanzungsarbeiten mindestens 60 Schichten umfassten, oder ob die Klägerin weitere diesen Kriterien entsprechende wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten ausführte.

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Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Das Bundessozialgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 31. Januar 2013 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr 2108 (BK 2108) der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

2

Die 1947 geborene Klägerin war seit 1986 als Beschäftigte einer Garten- und Landschaftsbau GmbH tätig, wobei sie insbesondere bei Anpflanzungsarbeiten im Autobahnbau Bäume und Solitärsträucher mit Ballen mit einem Gewicht von 20 bis 50 kg, manchmal 70 kg, bewegen musste. Im Jahre 2003 beantragte sie bei der Beklagten die Anerkennung einer BK 2108 und gab an, dass sie ihre Tätigkeit wegen Rückenbeschwerden im Sommer 2002 habe aufgeben müssen. Durch Bescheid vom 7.9.2004 stellte die Beklagte fest, dass keine BK nach Nr 2108 der BK-Liste vorliege. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 14.12.2004). Durch Urteil vom 19.6.2006 hat das SG die Klage abgewiesen.

3

Das LSG hat nach Durchführung arbeitstechnischer und medizinischer Ermittlungen die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 31.1.2013 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klägerin zwar im Zeitraum zwischen 1986 und 2002 einer kumulativen Belastung von 18,5 Meganewtonstunden (MNh), also mehr als dem Lebensdosisrichtwert nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) für Frauen von 17 MNh, ausgesetzt gewesen sei, weshalb die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt seien. Die Klägerin leide auch an einer monosegmentalen bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS in Form eines Bandscheibenprolapses im Segment L5/S1. Es bestehe jedoch keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass diese Erkrankung der LWS durch die Berufstätigkeit zumindest als wesentliche Teilursache hervorgerufen worden sei. Die Spondylose übersteige im Nativröntgenbild entsprechend Ziffer 1.2 A der Konsensempfehlungen (U. Bolm-Audorff et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma und Berufskrankheit 2005/3 S 211, 214 ff) nicht das alterstypische Maß. Daneben liege eine beginnende Chondrose der HWS geringer als an der LWS vor. Damit sei die Konstellation B3 der Konsensempfehlungen gegeben, weil ein monosegmentaler Befund ohne Begleitspondylose vorliege, keine konkurrierenden Ursachenfaktoren ersichtlich seien und keines der in der Konstellation B2 genannten Zusatzkriterien erfüllt sei. Für ein besonderes Gefährdungspotenzial durch hohe Belastungsspitzen iS der B2-Konstellation ergäben sich aus den Berechnungen des Präventionsdienstes der Beklagten keinerlei Anhaltspunkte. Bei der Klägerin liege auch das weitere Zusatzkriterium der B2-Konstellation der besonders intensiven Belastung mit Erreichen des Richtwertes für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren nicht vor. Unter Zugrundelegung ihrer eigenen Angaben sei eine Belastung iHv maximal 8,42 MNh in einem Zeitraum von zehn Jahren, dh iHv 49,53 % des nach dem MDD angenommenen Richtwertes für die Lebensdosis bei Frauen, nachgewiesen. Die B2-Konstellation sei vom Wortlaut her eindeutig und lasse es nicht zu, einen halbierten Bezugswert statt den in den Konsensempfehlungen bezeichneten Bezugswert von 17 MNh für Frauen zugrunde zu legen. Dass sich ein Konsens dahingehend gebildet hätte, bei monosegmentalen Schadensbildern von Zusatzkriterien abzusehen, sei nicht ersichtlich. Nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft spreche bei der Konstellation B3 deutlich mehr gegen als für einen Zusammenhang zwischen beruflicher Belastung und bandscheibenbedingter Erkrankung der Wirbelsäule.

4

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision eine Verletzung des § 9 Abs 1 SGB VII iVm Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV. Die Auffassung des LSG, bei der Konstellation B3 des sog Konsensmodells spreche nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft mehr gegen als für einen Zusammenhang zwischen beruflicher Belastung und bandscheibenbedingter Erkrankung der Wirbelsäule, sei rechtsfehlerhaft. Aus dem Konsensmodell ließen sich für die Konstellation B3 gerade keine Schlussfolgerungen ableiten. Es treffe nicht zu, dass bei einer Reduzierung der Anforderungen an eine besonders intensive Belastung auf die Hälfte des Dosiswertes das Konsensmodell seinen Sinn verliere. Das BSG habe die Dosiswerte halbiert, um den Erkenntnissen der Wirbelsäulenforschung Rechnung zu tragen. Diese habe zu dem Ergebnis geführt, dass bandscheibenbedingte Erkrankungen der Wirbelsäule auch bei Unterschreitung der im MDD vorgeschlagenen Orientierungswerte beruflich verursacht sein könnten. Die Ergebnisse der Deutschen Wirbelsäulen-Studie deuteten darauf hin, dass auch unterhalb des Orientierungswertes nach dem MDD ein erhöhtes Risiko für bandscheibenbedingte Erkrankungen bestehen könnte. Es biete sich an, die Reduzierung des Dosiswerts um die Hälfte im Sinne der Rechtsprechung des BSG aus dem Jahre 2007 auch hier zu übernehmen.

5

Die Klägerin beantragt,

        

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 31. Januar 2013 sowie das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 19. Juni 2006 und den Bescheid der Beklagten vom 7. September 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 2004 aufzuheben und festzustellen, dass bei der Klägerin seit dem 12. März 2003 eine Berufskrankheit nach der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV besteht.

6

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

7

Eine Übertragung der Rechtsprechung des BSG zur Halbierung des Richtwertes für die Gesamtbelastungsdosis auf das Kriterium der Konstellation B2 der Konsensvereinbarungen würde diese insgesamt infrage stellen. Selbst bei einer Halbierung des Richtwertes für die Gesamtbelastungsdosis und einer Übertragung auf das zweitbenannte Kriterium der Konstellation B2 werde dieser Wert durch die Klägerin mit 8,42 MNh nicht erreicht. Anhaltspunkte für ein besonderes Gefährdungspotential durch hohe Belastungsspitzen im Sinne des drittbenannten Kriteriums seien nicht festgestellt worden. Zwar bestehe bei Vorliegen der Konstellation B3 bezüglich der Zusammenhangsbeurteilung kein Konsens, jedoch stimme das Ergebnis des LSG mit der überwiegenden Meinung der Teilnehmer der Arbeitsgruppe sowie der Rechtsprechung überein.

Entscheidungsgründe

8

Die statthafte und zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), weil die vom LSG festgestellten Tatsachen für eine abschließende Entscheidung durch den Senat nicht ausreichen. Weder lässt sich danach beurteilen, ob der isolierte Bandscheibenvorfall der Klägerin unter Zugrundelegung des neuesten Standes der medizinischen Wissenschaft ohne die in der Konstellation B2 genannten Zusatzkriterien durch schweres Heben- und Tragen verursacht wurde, noch ob die erforderliche Regelmäßigkeit der Einwirkungen gegeben ist.

9

Die erhobenen Klagen sind als Anfechtungsklage gegen die ablehnenden Entscheidungen verbunden mit der auf Feststellung einer BK gerichteten Feststellungsklage zulässig (BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151 ff RdNr 10).

10

Der erhobene Anspruch beurteilt sich gemäß § 212 SGB VII nach den Vorschriften des SGB VII, weil nicht ersichtlich ist, dass der Versicherungsfall bereits vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1.1.1997 (Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz vom 7.8.1996, BGBl I 1254) eingetreten sein könnte. Rechtsgrundlage für die Anerkennung der streitigen BK ist § 9 Abs 1 SGB VII iVm Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV vom 31.10.1997 (BGBl I 2623), die lautet: "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können". Nach § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist für die Feststellung einer Listen-BK erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) sowie dass eine Krankheit vorliegt (dazu unter A.). Des Weiteren muss die Krankheit durch die Einwirkungen verursacht worden sein (haftungsbegründende Kausalität ). Schließlich ist Anerkennungsvoraussetzung, dass der Versicherte deshalb seine Tätigkeit aufgeben musste sowie alle gefährdenden Tätigkeiten unterlässt. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist die BK nicht anzuerkennen (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 17). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK. Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 12; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4, RdNr 16 mwN; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14, RdNr 9 mwN; zuletzt BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 412; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 14).

11

A.1. Die Klägerin war vom 1.8.1986 bis Sommer 2002 in einer Firma für Garten- und Landschaftsbau als Arbeitnehmerin tätig. Sie war damit als "Beschäftigte" iS von § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versichert.

12

2. Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) unterlag die Klägerin in diesem Zeitraum bei der Ausübung der Beschäftigung einer kumulativen Einwirkungs-Belastung in Form von Hebe- und Tragevorgängen iHv 18,5 MNh (vgl zur Feststellung der tatbestandlich vorausgesetzten Einwirkung in Form von Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 20/14 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

13

3. Diese Belastungen erfolgten - wie der Tatbestand der BK 2108 voraussetzt - auch langjährig, nämlich von 1986 bis 2002 und damit 16 Jahre. Langjährig bedeutet, dass zehn Berufsjahre als im Durchschnitt untere Grenze der belastenden Tätigkeit zu fordern sind (so wörtlich das aktuelle Merkblatt 2108, BArbBl 2006, Heft 10, S 30, Abschnitt IV; vgl zum Merkmal "langjährig" bei der BK 2109 BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 15; s zur BK 2108 bereits BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, RdNr 10; BSG vom 22.6.2004 - B 2 U 22/03 R - juris RdNr 25; vgl auch: Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 08/2012, Anh zu K § 9 Anl zu BKV BK Nr 2108 - 2110 RdNr 7 mwN; Ricke in Kasseler Kommentar, Stand 5/2014, § 9 SGB VII RdNr 42; Mehrtens/Brandenburg, BKV, Stand 12/13, M 2108 Anm 2.2.2).

14

4. Nach den weiteren Feststellungen des LSG leidet die Klägerin an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS. Bei ihr liegt im Segment L5/S1 ein altersuntypischer Befund in Form eines Bandscheibenprolapses vor. Darüber hinaus sind keine altersuntypischen Veränderungen auch nicht in Form einer Spondylose vorhanden. An die Feststellung dieses monosegmentalen Befundes ist der Senat mangels zulässiger Rügen gebunden (§ 163 SGG).

15

B. Der Senat kann hingegen mangels hinreichender Tatsachengrundlage nicht entscheiden, ob das LSG zu Recht den Ursachenzusammenhang zwischen gefährdenden Einwirkungen iS der BK 2108 und der Bandscheibenerkrankung der Klägerin verneint hat. Für die Anerkennung einer BK ist neben der Kausalität zwischen versicherter Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen (Einwirkungskausalität) ein Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkungen und der Erkrankung erforderlich. Für die umstrittene BK 2108 bedeutet dies, dass die Lendenwirbelsäulenerkrankung der Klägerin durch langjähriges schweres Heben und Tragen bzw Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung im Rahmen ihrer versicherten Tätigkeit verursacht worden sein muss. Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung gilt im Berufskrankheitenrecht, wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung, die Theorie der wesentlichen Bedingung (siehe zum Arbeitsunfall die Entscheidungen des erkennenden Senats vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 34 ff sowie BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37; zu BKen s BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - juris RdNr 32; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 13 sowie - B 2 U 26/04 R - juris RdNr 17), die zunächst auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht, nach der jedes Ereignis (jede Bedingung) Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Steht die versicherte Tätigkeit als eine der Wirkursachen fest, muss auf der zweiten Stufe die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr sein. Die Wesentlichkeit der Wirkursache ist zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils begründeten Versicherung zu beurteilen (zur Theorie der wesentlichen Bedingung: zuletzt eingehend BSG, vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37 f sowie BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 = SozR 4-2700 § 11 Nr 1, RdNr 28 ff).

16

Vorliegend ist das LSG in durch das Revisionsgericht nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass die Klägerin einer in der Höhe zur Erzeugung des Bandscheibenschadens genügenden Einwirkungsbelastung unterlag (dazu unter 1). Mangels ausreichender Feststellungen kann der Senat jedoch nicht entscheiden, ob die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für eine positive Kausalitätsbeurteilung gegeben sind (dazu unter 2.). Ebenso wenig kann der Senat aufgrund der Feststellungen entscheiden, ob die erforderliche Regelmäßigkeit der wirbelsäulenbelastenden Tätigkeit vorliegt (dazu unter 3).

17

1. Unter Zugrundelegung des bindend festgestellten Einwirkungs-Wertes iHv 18,5 MNh ist das LSG ausgehend vom MDD zutreffend davon ausgegangen, dass die versicherten Einwirkungen durch schweres Heben und Tragen, denen die Klägerin unterlag, in der Höhe ausreichten, um einen Bandscheibenschaden zu verursachen. Mit der Heranziehung des MDD zur Bestimmung der für eine Krankheitsverursachung erforderlichen Belastungsdosis folgt das LSG der Rechtsprechung des erkennenden Senats, der seit 2003 (BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, RdNr 11 ff; BSG vom 19.8.2003 - B 2 U 1/02 R - USK 2003-219 RdNr 15; BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 18 und zuletzt BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 25) dieses Modell als eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der BK 2108 mit den unbestimmten Rechtsbegriffen "langjähriges" Heben und Tragen "schwerer" Lasten oder "langjährige" Tätigkeit in "extremer Rumpfbeugehaltung" nur ungenau und allenfalls nur richtungsweisend umschriebenen Einwirkungen angesehen hat. Die auf Grund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis des MDD sind nicht als Grenzwerte, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge zu verstehen (s zur Handhabung der hälftigen Orientierungswerte als Mindestbelastungswerte BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 31; BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 25; sowie die Urteile vom 23.4.2015 - B 2 U 20/14 R und B 2 U 10/14 R, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Für Frauen legt das MDD als Gesamtbelastungsdosis 17 MNh fest, die mit den bindend festgestellten 18,5 MNh sogar überschritten werden, sodass es im hier zu entscheidenden Fall nicht darauf ankommt, ob bereits ein geringerer, ggf hälftiger Wert dieses Orientierungswertes ausreichen würde, um von einem erhöhten Erkrankungsrisiko auszugehen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen nicht mehr verzichtet werden kann (vgl für Männer BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 25). Es kommt deshalb auch nicht drauf an, ob aufgrund der mittlerweile vorliegenden Ergebnisse der DWS-Richtwertestudie (DWS II; "Erweiterte Auswertung der Deutschen Wirbelsäulenstudie mit dem Ziel der Ableitung geeigneter Richtwerte", Kurztitel: "DWS-Richtwerteableitung", veröffentlicht unter http://www.dguv.de/ifa/Forschung/Projektverzeichnis/ FF-FB_0155A.jsp) eine weitere Absenkung der Orientierungswerte angezeigt ist. Der Senat weist aber in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gemäß § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII generelle Voraussetzung für die Einführung eines BK-Tatbestandes die gruppenspezifische Risikoerhöhung gegenüber der Gesamtbevölkerung ist, deren Annahme jedenfalls bei Werten iHv 3 MNh bedenklich erscheint(s nur Kranig, Was schadet den Bandscheiben?, DGUV Forum 2013, Nr 6 S 27, 31; vgl auch LSG Baden-Württemberg vom 25.9.2008 - L 10 U 5965/06 - Breith 2009, 307, RdNr 34 ff).

18

2. Der Senat kann allerdings nicht entscheiden, ob die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für die Bejahung des erforderlichen Ursachenzusammenhangs zwischen gefährdenden Einwirkungen iS der BK 2108 und der Bandscheibenerkrankung der Klägerin, die das Berufungsgericht verneint hat, vorliegen, weil hierfür die Feststellungen des LSG nicht ausreichen. Während die sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK zum einen das Vorhandensein der tatbestandlich vorausgesetzten Einwirkungen, zum anderen die potentielle Kausalität zwischen diesen Einwirkungen und einer Erkrankung beinhalten, betreffen die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen ebenfalls zwei Aspekte der Anerkennungsvoraussetzungen, nämlich zum einen das Vorliegen der tatbestandlich vorausgesetzten Krankheit, zum anderen das Vorliegen eines Schadensbildes, welches mit der rechtlich-wesentlichen Verursachung dieser Krankheit durch die beruflichen Einwirkungen zumindest im Einklang steht (Bieresborn, Die Umsetzung der BK 2108 aus sozialrechtlicher Sicht, in: Grosser/Schiltenwolf/Thomann , Berufskrankheit "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule" , Frankfurt 2014, S 179, 193, 199). Aus dem Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen kann angesichts der multifaktoriellen Entstehung von bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 26) nicht automatisch auf das Bestehen der Anspruchsvoraussetzungen der BK 2108 geschlossen werden; vielmehr müssen medizinische Kriterien hinzukommen (BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 19; BSG vom 30.1.2007 - B 2 U 15/05 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2, RdNr 23; vgl BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 7/05 R - juris RdNr 16 zur BK nach Nr 4302 der Anlage zur BKV; BSG vom 7.9.2004 - B 2 U 34/03 R - juris RdNr 22).

19

Das Berufungsgericht hat in nicht zu beanstandender Weise bei der Bestimmung des maßgeblichen aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands sowohl die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 zugrunde gelegt (dazu unter a) als auch das festgestellte Schadensbild diesen Erkenntnissen zugeordnet, mit dem Ergebnis, dass ein belastungskonformes Schadensbild iS der Konsensempfehlungen nicht vorliegt (dazu unter b). Hingegen ist die Aussage des Berufungsgerichts, in Fällen der B3-Konstellation spreche mehr gegen als für eine Verursachung durch die spezifischen beruflichen Einwirkungen iS der BK 2108 nicht haltbar (dazu unter c). Ob bei der festgestellten Befundkonstellation ein Anspruch auf Anerkennung einer BK 2108 besteht, kann der Senat mangels hinreichender Feststellungen dazu, ob nach dem neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstand Umstände vorliegen, die ausnahmsweise trotz Fehlens der B2-Zusatzkriterien der Konsensempfehlungen den Verursachungszusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und LWS-Schaden stützen, nicht entscheiden, weshalb der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist (dazu unter d).

20

a) Nicht zu beanstanden ist, dass das LSG die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 (U. Bolm-Audorff et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma und Berufskrankheit 2005/3, S 211, 216 ff, 228 ff) zugrunde gelegt hat. Diese bilden nach Überzeugung des Senats weiterhin den aktuellen Erkenntnisstand ab.Die naturwissenschaftliche Kausalitätsprüfung ist zwar eine der Bindung fähige tatsächliche Feststellung der Instanzgerichte (vgl Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 163 RdNr 9), jedoch sind nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats die die einzelnen Tatbestandsmerkmale der jeweiligen BK unterfütternden allgemeinen (generellen) Tatsachen, die für alle einschlägigen BK-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind, anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands auch revisionsrechtlich überprüfbar (grundlegend: BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 5/05 R - BSGE 96, 297 = SozR 4-5671 § 6 Nr 2, RdNr 19 sowie BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 23; s auch BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 23; s zur älteren Senatsrechtsprechung, wonach diesbezügliche Feststellungen dem Anwendungsbereich des § 163 SGG zugerechnet wurden: BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 83 = SozR 3-2700 § 9 Nr 4 = SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 4, juris RdNr 28; BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, RdNr 15, jeweils mwN). Dies muss zunächst jedenfalls immer dann gelten, wenn diese - wie hier - zulässig gerügt werden (vgl BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - juris RdNr 15; s zur Problematik der Überprüfung von allgemeinen Tatsachen auf ihre offensichtliche Unrichtigkeit auch das Urteil des Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Inwieweit in der Rechtsprechung anderer Senate des BSG (zur Überprüfung sog "genereller Tatsachen" in der sonstigen Rechtsprechung des BSG vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 163 RdNr 7 sowie speziell im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung BSG vom 16.6.1999 - B 1 KR 4/98 R - BSGE 84, 90, 94 = SozR 3-1500 § 163 Nr 7, juris RdNr 17 sowie BSG vom 12.8.2009 - B 3 KR 10/07 R - BSGE 104, 95 = SozR 4-2500 § 139 Nr 4, RdNr 27 und zuletzt BSG vom 12.9.2012 - B 3 KR 10/12 R - BSGE 112, 15 = SozR 4-2500 § 137 Nr 1, RdNr 55; s zu "Rechtstatsachen" BSG vom 25.10.1994 - 3/1 RK 57/93 - SozR 3-1500 § 163 Nr 5, juris RdNr 27, zu "allgemeinkundigen Tatsachen historischer Natur" BSG vom 7.2.1985 - 9a RV 5/83 - BSGE 58, 38, 42 = SozR 3100 § 5 Nr 7, juris RdNr 17 sowie zu "gerichtskundigen Tatsachen" BSG vom 27.1.1977 - 7 RAr 16/75 - BSGE 43, 124, 127 = SozR 4100 § 41 Nr 28, juris RdNr 30) eine solche Überprüfung genereller Tatsachen erfolgt, kann hier dahinstehen. Denn jedenfalls im Bereich des Rechts der BKen hat das BSG aufgrund der in den Normtexten der jeweiligen BKen in der Anlage zur BKV regelmäßig vertypisierten wissenschaftlichen Aussagen die Existenz der einschlägigen Erfahrungssätze selbst festzustellen. Das über das Vorliegen von BKen befindende Gericht muss sich folglich Klarheit darüber verschaffen, welches in der streitigen Frage der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist. Die heranzuziehenden Quellen, Fachbücher, Standardwerke, Merkblätter des zuständigen Ministeriums, Begründungen des Sachverständigenbeirats, Konsensempfehlungen etc hat das jeweilige Gericht eigenständig kritisch zu würdigen und auf ihre Aktualität hin ggf durch Sachverständige zu überprüfen (vgl BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 100/12 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 24 RdNr 18; BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 68 f; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 20; vgl auch BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20; Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17 mwN).

21

Hierbei ist zunächst die Zugrundelegung der Konsensempfehlungen durch das LSG als Orientierungshilfe bei der Beurteilung, ob der Bandscheibenschaden der Klägerin nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand durch die festgestellten beruflichen Einwirkungen verursacht wurde, revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. Denn die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 sind nach wie vor eine hinreichende Grundlage für die Bestimmung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands, wie der Senat zuletzt 2009 klargestellt hat (BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - juris RdNr 15). Seitdem wurden zwar in Folge der Veröffentlichung der DWS II Fachaufsätze publiziert, die Zweifel an den Aussagen auch der Konsensempfehlungen äußern. Weder aus der DWS II noch den sonstigen Veröffentlichungen ist jedoch zu entnehmen, dass die Erkenntnisse der Konsensarbeitsgruppe aus dem Jahre 2005 gerade hinsichtlich der hier zugrunde gelegten Befundkonstellation inzwischen veraltet sein könnten. Sofern vertreten wird, dass inzwischen die Ergebnisse der DWS II die wesentlichen Grundannahmen aus den Konsenskriterien widerlegten, etwa weil die bisher angenommenen Einwirkungsgrößen zu hoch seien, die Lokalisation und Häufigkeit der Verteilung von Bandscheibenschäden zu 96 % mit denen der Normalbevölkerung identisch sei, die Auswertungen der DWS II keine deutliche Abhängigkeit der Begleitspondylose von der MDD-Gesamtbelastungsdosis gezeigt habe oder Schäden an der HWS keine Aussagekraft zur Verursachung von LWS-Schäden hätten (M. Kentner und K. Frank, Kommentar zur DWS-Richtwertestudie und Implikationen hinsichtlich BK 2108 - Biomechanik vs. Pathophysiologie, Manuskript, erscheint in ASUMed 8/2015); Linhardt/Grifka, Auswirkungen der Deutschen Wirbelsäulenstudie auf die Berufskrankheit der Lendenwirbelsäule , MedSach 111 <2015>, 20, 21; Bergmann, Bolm-Audorff, Ditchen, Ellegast, Haerting, Kersten, Jäger, Skölziger, Kuß, Morfeld, Schäfer, Seidler, Luttmann, Lumbaler Bandscheibenvorfall mit Radikulärsyndrom und fortgeschrittene Osteochondrose, ZblArbeitsmed 2014, 233 - 238) handelt es sich erkennbar um wissenschaftliche Einzelmeinungen.

22

Die zitierten Publikationen setzen sich zum einen jeweils inhaltlich nicht mit der grundsätzlichen Kritik an der angewandten Methodik der Nachuntersuchung auseinander (s nur Grosser, Ergebnisse der Konsensusarbeitsgruppe zur Begutachtung der BK 2108 - Status quo und Konsequenzen aus der DWS, in: Grosser/Schiltenwolf/Thomann, Berufskrankheit "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule" , Frankfurt 2014, S 84 - 104; Zagrodnik, Fragliche Belastungsdosis, DGUV Forum 2014, Nr 7/8 S 10 - 13), zum anderen schöpfen sie ihre Kritik an den Aussagen der Konsensempfehlungen alleine aus den Ergebnissen der DWS II, und wenden sich im Wesentlichen gegen die Bestimmung und Höhe der Einwirkungsgrößen, nicht aber gegen die Grundaussage der Konsensempfehlungen, dass Bandscheibenschäden aufgrund beruflich erworbener Druckbelastungs-Dosen entstehen können. Der Senat verkennt nicht, dass ein wissenschaftlicher Erkenntnisstand auch dadurch erschüttert werden kann, dass grundlegende und fundierte Zweifel seitens der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler diesem den Boden entziehen, ohne dass sich diese in ihrer Mehrheit auf einen neuen Konsens geeinigt hätten. Einzelne Gegenstimmen sind demgegenüber nicht geeignet, einen einmal gebildeten und sich in schriftlichen Beurteilungskriterien manifestierenden wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu erschüttern, solange nicht die daran beteiligten Autoren in ihrer Mehrheit diesen Konsens in wesentlichen Punkten aufkündigen oder eine (zumindest teilweise) personell anders zusammengesetzte große Mehrheit von mit dieser Materie befassten Fachwissenschaftlern diesem Konsens entgegentritt.

23

b) Sofern das LSG davon ausgeht, dass bei der Klägerin keine Befundkonstellation besteht, für die die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 eine Anerkennungsempfehlung aussprechen, ist dies ebenfalls nicht zu beanstanden. So wie der erkennende Senat im Recht der BKen nicht gehindert ist, den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu Verursachungszusammenhängen festzustellen, ist er ebenso wenig gehindert, die korrekte Zuordnung des Sachverhalts seitens des Berufungsgerichts unter diesen einschlägigen Erkenntnisstand zu überprüfen. Dies gilt umso mehr, wenn dieser in Konsensempfehlungen verdichtet ist. Bei diesen handelt es sich freilich nicht um einen normativen Text oder ein antizipiertes Sachverständigengutachten, weil die Konsensempfehlungen weder vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber erlassen noch von unabhängigen und der Neutralität verpflichteten Autoren verfasst wurden (P. Becker, ASUMed 2009, 592, 595). Daher sind sie für Verwaltung, Gerichte oder Gutachter auch nicht unmittelbar verbindlich (Siefert, ASR 2011, 45, 48) und es verbietet sich deren Auslegung unter strikter Anwendung der Regeln der juristischen Methodenlehre (vgl Bieresborn, Die Umsetzung der BK 2108 aus sozialrechtlicher Sicht aaO; S 199).Konsensempfehlungen dienen lediglich zur Erleichterung der Beurteilung im Einzelfall, um typische Befundkonstellationen im Hinblick auf die Kausalbeziehungen unter Zugrundelegung des aktuell wissenschaftlichen Erkenntnisstandes einordnen zu können (Duell, Kranig, Palfner, BK-Begutachtungsempfehlungen - Wissen von Experten für Experten, DGUV Forum 2012, Nr 4 S 14, 16). Andererseits muss bei diesem Erkenntnisvorgang überprüfbar bleiben, ob das LSG nach allgemeinem Verständnis den von ihm festgestellten Sachverhalt (noch) vertretbar den in den Konsensempfehlungen aufgeführten Kategorien zugeordnet hat.

24

Nicht zu beanstanden ist im Rahmen des soeben aufgezeigten Prüfumfangs jedenfalls die Aussage des LSG, dass bei der Klägerin keine Befundkonstellation besteht, für die die Konsensempfehlungen eine Anerkennungsempfehlung aussprechen. Für sämtliche B-Konstellationen wird dort vorausgesetzt, dass die (gesicherte) bandscheibenbedingte Erkrankung nach ihrer Lokalisation die Segmente L5/S1 und/oder L4/L5 betrifft und eine Ausprägung als Chondrose Grad II oder höher und/oder als Vorfall hat. Sofern zusätzlich eine Begleitspondylose besteht (Befundkonstellation B1) gilt der Zusammenhang als wahrscheinlich. Liegt hingegen - wie hier nach den bindenden Feststellungen des LSG - keine Begleitspondylose vor, so wird der Zusammenhang nach den Konsensempfehlungen ua dann als wahrscheinlich betrachtet, wenn eine Höhenminderung und/oder ein Prolaps an mehreren Bandscheiben besteht (Befundkonstellation "B2" 1. Spiegelstrich 1. Alt). Alternativ müssen bei nur monosegmentaler/m Chondrose/Vorfall in L5/S1 oder L4/L5 im MRT in mindestens zwei angrenzenden Segmenten "black discs" vorliegen (Befundkonstellation "B2" 1. Spiegelstrich, 2. Alt). Als weitere Alternativen genügt für die Konstellation B2 entweder das Bestehen einer besonders intensiven Belastung, wobei hierfür als "Anhaltspunkt" das Erreichen des "Richtwertes für die Lebensdosis" in weniger als 10 Jahren (Befundkonstellation "B2" 2. Spiegelstrich), oder ein besonderes Gefährdungspotenzial durch hohe Belastungsspitzen, wofür als "Anhaltspunkt" das Erreichen der Hälfte des "MDD-Tagesdosis-Richtwertes" durch hohe Belastungsspitzen (Frauen ab 4 1/2 kN) verlangt wird (Befundkonstellation "B2" 3. Spiegelstrich). Nach den bindenden, weil nicht mit zulässigen Rügen angegriffenen Feststellungen des LSG liegen die tatsächlichen Voraussetzungen keiner dieser Alternativen der Befundkonstellation B2 vor. Insbesondere hat das LSG bei fehlender Begleitspondylose lediglich einen - keinesfalls ausreichenden - monosegmentalen Befund sowie das Fehlen von black discs in zwei benachbarten Segmenten festgestellt. Es kommt daher für den vorliegenden Fall nicht darauf an, ob als "Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben" (Befundkonstellation "B2" 1. Spiegelstrich, 1. Alt) auch ein bisegmentaler Befund ausreichen würde (so LSG Sachsen vom 21.6.2010 - L 2 U 170/08 LW - juris, das Gegenstand des Urteils des erkennenden Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - ist; anders Hessisches LSG vom 27.3.2012 - L 3 U 81/11 - juris). Auch kommt es im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob im Rahmen der Anwendung der Befundkonstellation B2 2. Spiegelstrich für die dort erwähnte "Lebensdosis" das Erreichen der hälftigen MDD-Dosis genügt (vgl ebenfalls das Urteil des erkennenden Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, in dem der Senat im Ergebnis die dahingehende Interpretation der Konsensempfehlungen durch das LSG als nicht offensichtlich falsch angesehen hat).

25

Das LSG hat freilich im vorliegenden Fall für den Senat bindend (§ 163 SGG) eine Belastung durch schweres Heben und Tragen innerhalb von 10 Jahren von maximal 8,42 MNh und damit nur iHv 49,53 % des nach dem MDD angenommenen Richtwertes für die Lebensdosis bei Frauen festgestellt, womit selbst der hälftige MDD-Wert nicht erreicht wurde. Anhaltspunkte dafür, dass auf Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands die rechtlich wesentliche Verursachung eines monosegmentalen Bandscheibenprolaps im Segment L5/S1 durch die in der BK 2108 genannten Einwirkungen bei Erreichen einer Gesamtbelastungsdosis iHv 8,42 MNh in einem Zeitraum von 10 Jahren ohne die sonstigen Zusatzerfordernisse der B2-Konstellation als hinreichend wahrscheinlich angenommen werden könnte, sind dem Senat nicht bekannt. Das LSG ist jedenfalls diesbezüglich bei Anwendung der Konsensempfehlungen weder von einem erkennbar falschen medizinischen Erfahrungssatz ausgegangen, noch hat es einen dem Senat bekannten oder vorgetragenen vorhandenen Erfahrungssatz nicht angewandt, als es unter Zugrundelegung der B3-Konstellation das Vorliegen einer mit einer Anerkennungsempfehlung konsentierten Befundkonstellation nach den Konsensempfehlungen verneint hat (vgl hierzu insbesondere das Urteil des Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, sowie BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 27).

26

c) Soweit die Klägerin allerdings geltend macht, das LSG habe bei der Ablehnung des Ursachenzusammenhangs die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) überschritten, weil es davon ausgegangen ist, bei Vorliegen der Konstellation B3 spreche deutlich mehr gegen als für den Zusammenhang zwischen beruflicher Belastung und bandscheibenbedingter Erkrankung, hat sie zulässig und zutreffend die Anwendung eines nicht existierenden Erfahrungssatzes gerügt. Ein solcher Erfahrungssatz, wie ihn das LSG angenommen hat, ist nicht allgemeinkundig oder dem Senat gerichtsbekannt. Soweit weder eine Begleitspondylose noch eines der zuvor genannten Zusatzkriterien der Konstellation B2 vorliegen und keine konkurrierenden Faktoren erkennbar sind, war die Einschätzung des Zusammenhangs durch die Arbeitsgruppenteilnehmer der Konsensarbeitsgruppe offensichtlich unterschiedlich und es wurde folglich auch keine Anerkennungsempfehlung ausgesprochen (U. Bolm-Audorff et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma und Berufskrankheit 2005/3, S 211, 221 f).Dieser fehlende Konsens in der Arbeitsgruppe kann aber nicht so gedeutet werden, dass damit eine Anerkennung des Verursachungszusammenhangs im Einzelfall unmöglich wäre. Zwar wird die Schlussfolgerung des LSG häufig zutreffen, jedoch ist die vom LSG zugrunde gelegte generelle Aussage wissenschaftlich nicht belegt, so dass es im Einzelfall nicht ausgeschlossen und dementsprechend jeweils erst im Rahmen der Amtsermittlung festzustellen ist, ob individuelle, dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechende Umstände vorliegen, die im konkreten Einzelfall den Ursachenzusammenhang als hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen(BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 52). Dies lässt sich anhand der tatsächlichen Feststellungen des LSG indes nicht beurteilen, das - von seiner Rechtsansicht her konsequent - die Ermittlungen bereits mit der Bejahung der Konstellation B3 beendet hat. Das LSG wird daher erst zu ermitteln haben, ob es einen nach dem neuesten Stand der medizinischen Wissenschaft anerkannten Erfahrungssatz gibt, nach dem isolierte Bandscheibenvorfälle ohne die in der Konstellation B2 genannten Zusatzkriterien durch schweres Heben und Tragen verursacht werden können.

27

3. Für den Fall, dass ein solcher Erfahrungssatz feststellbar ist, wird das LSG auch weitere Feststellungen dazu treffen müssen, ob die erforderliche Regelmäßigkeit der Einwirkungen gegeben ist. Die von der Klägerin während ihrer Berufstätigkeit ausgeführten Hebe- und Tragevorgänge erfolgten in der Regel bei saisonbedingten Anpflanzungstätigkeiten, ohne dass sich der zeitliche Umfang bzw die Häufigkeit dieser Tätigkeiten den Urteilsgründen entnehmen lässt. Die Regelmäßigkeit der Einwirkung durch Heben und Tragen bzw Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung ist kein geschriebenes Tatbestandsmerkmal der BK 2108, sondern lässt sich als Bestandteil der arbeitstechnischen Voraussetzungen dem Merkblatt 2006 (BArbBl 2006 Nr 10, S 30 ff, Abschnitt IV) entnehmen. Hintergrund ist, dass bei nicht regelmäßiger Belastung den Bandscheiben genügend Zeit zur Regeneration bleibt und deshalb keine Ursächlichkeit zwischen Druckbelastung und Schädigung besteht. Hierfür reicht es aber aus, dass die wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten in der ganz überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten erfolgten, ohne dass eine genaue Zeitgrenze pro Arbeitsschicht genannt werden kann. Vorausgesetzt wird, dass der Betroffene mindestens 60 Schichten im Jahr mit relevanter Wirbelsäulenbelastung ausgesetzt war. Wie bei der Belastungsdauer können geringere oder fehlende Einwirkungen in einer Arbeitsschicht durch stärkere oder länger dauernde Belastungen in anderen Schichten ausgeglichen werden (zum Verzicht auf eine Mindesttagesdosis bei BK 2108 auch BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 24; Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 08/2012, Anh zu K § 9 Anl zu BKV BK Nr 2108 - 2110 RdNr 11a, sowie zur BK 2109: BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 15). In tatsächlicher Hinsicht hat das LSG insoweit nur festgestellt, dass die wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten im genannten Umfang insbesondere bei Anpflanzungsarbeiten an der Autobahn erfolgt sind. Insoweit wird das LSG ggf die Feststellung nachzuholen haben, ob diese Anpflanzungsarbeiten mindestens 60 Schichten umfassten, oder ob die Klägerin weitere diesen Kriterien entsprechende wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten ausführte.

28

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. Mai 2014 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr 2108 (BK 2108) der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

2

Der im Jahre 1953 geborene Kläger absolvierte bis Juli 1972 eine Lehre zum Kfz-Mechaniker und arbeitete in diesem Beruf anschließend bis Januar 1979. Danach war er bis zum 15.9.2008 als Schlosser mit der Instandsetzung eines Maschinenparks und der Wartung von Maschinen befasst. Seit 1.10.2008 erhält der Kläger eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit unter Zugrundelegung des Beginns einer Arbeitsunfähigkeit wegen Lumboischialgien am 15.9.2008als Leistungsfall. Im Februar 2009 beantragte der Kläger die Anerkennung einer BK 2108. Die Beklagte lehnte das Vorliegen einer BK 2108 und eines Anspruchs auf Leistungen ab, der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 7.12.2009; Widerspruchsbescheid vom 15.3.2010). Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 3.1.2011 abgewiesen.

3

Das LSG hat auf die Berufung des Klägers nach Durchführung medizinischer Ermittlungen den Gerichtsbescheid aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide verurteilt, das Vorliegen einer BK 2108 anzuerkennen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei während seiner versicherten Tätigkeit Belastungen durch Heben von Lasten iHv insgesamt 9,71 Meganewtonstunden (MNh) ausgesetzt gewesen. Darüber hinaus seien Belastungen in extremer Rumpfbeugehaltung im Umfang von zumindest 8,83 MNh zu berücksichtigen. Eine relevante Belastung im Sinne der BK 2108 sei auch bei einem Beugewinkel von 90 Grad oder etwas weniger gegeben, zumal das Referenzdosismodell der Deutschen Wirbelsäulenstudie (DWS) II bereits Rumpfbeugehaltungen ab 45 Grad einbeziehe. Es ergebe sich weder aus dem Wortlaut der BK 2108 noch aus dem Merkblatt, dass Beugewinkel von ca 90 Grad allenfalls im Bergbau zu finden sowie belastende Tätigkeiten nur zu berücksichtigen seien, sofern sie unter Zwang vorgenommen würden. Der Kläger habe jeweils 3 bis 4 Minuten in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet, womit er insgesamt 30 bis 45 Minuten in einzelnen Arbeitsschichten Belastungen durch extreme Rumpfbeugehaltungen unterlegen, sowie die Mindestschichtanzahl iHv 60 Schichten mit relevanter Wirbelsäulenbelastung pro Jahr erfüllt sei. Mit der Gesamtbelastungsdosis von zumindest 18,54 MNh liege er nicht nur weit über dem in der DWS II offenbar angenommenen Schwellenwert von 7 MNh für Männer, sondern auch über dem vom BSG in seinem Urteil vom 30.10.2007 (B 2 U 4/06 R) vorgeschlagenen Orientierungswert von 12,5 MNh. Beim Kläger bestehe eine bandscheibenbedingte Erkrankung in Form eines chronischen degenerativen Lumbalsyndroms mit pseudoradikulärer Lumboischialgie, die unter Berücksichtigung des späten Manifestationszeitpunktes der Erkrankung, des altersvorauseilenden Verschleißes an der Lendenwirbelsäule (LWS), des Verteilungsmusters der Veränderungen unter Mitbeteiligung der Segmente L3/L4 und L1/L2 bei gleichzeitiger Schwerpunktbildung im beruflich meist belasteten Wirbelsäulenabschnitt sowie mit der eindeutigen Akzentuierung der Umformung im Lendenkreuzbeinübergang im Vergleich zur nicht belasteten Wirbelsäule jedenfalls mitursächlich auf die berufliche Exposition bei der versicherten Tätigkeit kausal zurückzuführen sei. Es liege eine altersüberschreitende Chondrose Grad II im "Segment L 5/5" sowie vom Grad III im Segment L5/S1 vor. Das Schadensbild sei mit schwächer ausgeprägten Bandscheibenschäden an der Halswirbelsäule (HWS) der Konstellation B4 der Konsensempfehlungen (U. Bolm-Audorff et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma Berufskrankheit 2005/3, S 211, 214 ff) zuzuordnen, bei der ein Zusammenhang mit den beruflichen Einwirkungen im Sinne der BK 2108 wahrscheinlich sei. Der Aufgabezwang für die exponierende Tätigkeit sei ab dem 15.9.2008 gesichert.

4

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 9 SGB VII iVm der BK 2108. Zur Begründung führt sie aus, eine Lebensbelastungsdosis des Klägers in Höhe von 18,5 MNh liege nicht vor. Das LSG setze die sog arbeitstechnischen Voraussetzungen in dem Tatbestandsmerkmal "Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung" zu niedrig an. Zum einen müssten hierfür Arbeiten mit einer Rumpfbeuge von mindestens 90 Grad in einer Zwangshaltung erfolgen, zum anderen genüge ein zeitlicher Umfang von wöchentlich 30 bis 45 Minuten keinesfalls den Anforderungen der Regelmäßigkeit, die ca 60 Arbeitsschichten voraussetze. Die vom BSG abgesenkte Gesamtbelastungsdosis von 12,5 MNh für Männer stelle keinen Orientierungswert, sondern ein Ausschlusskriterium dar. Wenn dieser Wert überschritten werde, habe dies keine positive Indizwirkung. Es hätte eine Einzelfallprüfung durchgeführt werden müssen, während das LSG sich mit dem Überschreiten von 12,5 MNh und der Einordnung des Krankheitsbildes in die Kategorie B4 der Konsensempfehlungen zufrieden gegeben habe. Die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 seien zudem durch die BSG-Entscheidung vom 30.10.2007 überholt und nicht mehr durch die daran beteiligten Wissenschaftler und Ärzte autorisiert. Es sei ungewiss, ob die Autoren ihre Konsensempfehlung überhaupt abgegeben hätten, wenn von deutlich niedrigeren beruflichen Belastungen als 25 MNh auszugehen sei.

5

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. Mai 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zu Recht hat das LSG auf die Berufung den die Klage abweisenden Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und das Vorliegen einer BK 2108 festgestellt.

9

Die erhobenen Klagen sind als Anfechtungsklage gegen die ablehnenden Entscheidungen verbunden mit der auf Feststellung einer BK gerichteten Feststellungsklage zulässig (BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151 ff RdNr 10).

10

Der erhobene Anspruch beurteilt sich gemäß § 212 SGB VII nach den Vorschriften des SGB VII, weil nicht ersichtlich ist, dass der Versicherungsfall bereits vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1.1.1997 (Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz vom 7.8.1996, BGBl I 1254) eingetreten sein könnte. Rechtsgrundlage für die Anerkennung der streitigen BK ist § 9 Abs 1 SGB VII iVm Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV vom 31.10.1997 (BGBl I 2623), die lautet: "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können". Nach § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die von der Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist für die Feststellung einer Listen-BK erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang; dazu unter A.) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität, dazu unter B.) und diese Einwirkungen eine Krankheit (dazu unter C.) verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität, dazu unter D.). Schließlich ist Anerkennungsvoraussetzung, dass der Versicherte deshalb seine Tätigkeit aufgeben musste sowie alle gefährdenden Tätigkeiten unterlässt (dazu unter E.). Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist die BK nicht anzuerkennen (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 17). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK. Die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 12; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4, RdNr 16 mwN; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14, RdNr 9 mwN; zuletzt BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 412; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 14).

11

A. Nach den bindenden Feststellungen des LSG absolvierte der Kläger von August 1968 bis Juni 1972 eine Lehre als Kfz-Mechaniker und arbeitete anschließend in diesem Beruf bis Januar 1979. Seitdem war er als Bau- und Instandhaltungsschlosser bis zum Eintritt dauerhafter Arbeitsunfähigkeit am 15.9.2008 tätig. Den Feststellungen lässt sich gerade noch hinreichend entnehmen, dass diese Tätigkeiten im Rahmen eines Arbeitsvertrags erfolgten und der Kläger damit als Beschäftigter iS von § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versichert war.

12

B. Der Kläger unterlag im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit auch den nach dem Tatbestand der BK 2108 vorausgesetzten Einwirkungen. Danach muss der Versicherte aufgrund einer versicherten Tätigkeit entweder langjährig schwer gehoben und getragen oder in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben, ansonsten ist der Tatbestand der BK 2108 nicht erfüllt (zur Bestimmung des Ausmaßes der beruflichen Einwirkungen bei der BK 2108 vgl auch BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/08 R - juris RdNr 23; BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 16 f). Dies zu überprüfen war der Senat trotz des Inhalts der angefochtenen Bescheide nicht gehindert (dazu unter 1.). Die danach tatbestandlich alternativ vorausgesetzten Einwirkungen in Form des schweren Hebens und Tragens (dazu unter 2.) bzw von Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (dazu unter 3.) liegen beim Kläger beide vor. Sie erfolgten zudem langjährig (dazu unter 4.).

13

1. Der Senat ist zunächst nicht gehindert, sowohl die Subsumtion der seitens des LSG festgestellten Einwirkungen unter den Tatbestand der BK 2108, als auch deren Geeignetheit zur Erzeugung eines Bandscheibenschadens zu überprüfen (vgl zur BK 2109 BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 15 ff), obwohl die Beklagte im Rahmen der Begründung des Verwaltungsakts vom 7.12.2009 das Vorliegen der "arbeitstechnischen Voraussetzungen" bejaht hat. Diese Aussage der Beklagten nimmt nicht an der Bindungswirkung des Verwaltungsakts (§ 77 SGG) teil, weil in dem Bescheid durch bindenden Verfügungssatz (Regelung) alleine das Nichtbestehen der BK 2108 sowie von Ansprüchen auf Leistungen geregelt wurde (vgl BSG vom 20.11.1996 - 3 RK 5/96 - BSGE 79, 261, 265; vgl BSG vom 6.2.1958 - 8 RV 449/56 - BSGE 6, 288, 291; BSG vom 21.1.1959 - 11/8 RV 181/57 - BSGE 9, 80, 84; BSG vom 24.2.1960 - 9 RV 286/56 - BSGE 12, 25, 26). Zwar kann auch einem Satz aus der Begründung eines Verwaltungsakts die Bedeutung einer bindenden Feststellung zukommen (BSG vom 3.4.2014 - B 2 U 25/12 R - BSGE 115, 256 = SozR 4-2700 § 136 Nr 6, RdNr 16; BSG vom 20.11.1996 - 3 RK 5/96 - BSGE 79, 261, 265; BSGE 66, 168, 173 = SozR 3-2400 § 7 Nr 1; s zum Verbot der Schlechterstellung - reformatio in peius - BSG vom 20.2.1956 - 10 RV 75/55 - BSGE 2, 225, 228 f; BSG vom 20.4.1961 - 4 RJ 217/59 - BSGE 14, 154, 158; BSG vom 23.4.1964 - 9/11 RV 318/62 - SozR Nr 44 zu § 77 SGG). Bei den sog "arbeitstechnischen Voraussetzungen" handelt es sich aber nur um ein Element der Anspruchsprüfung einer BK, das zwei miteinander in Zusammenhang stehende Aspekte umfasst: das Vorhandensein der tatbestandlich vorausgesetzten Einwirkungen und die potentielle Kausalität zwischen diesen Einwirkungen und einer Erkrankung (vgl Bieresborn, Die Umsetzung der BK 2108 aus sozialrechtlicher Sicht, in: Grosser/Schiltenwolf/Thomann , Berufskrankheit "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule" , Frankfurt 2014, S 179, 193; s auch BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Somit kommt der Feststellung des Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen im Rahmen der Bescheidbegründung, die nicht als selbständiger Verfügungssatz formuliert ist, nicht die Eigenschaft einer bindenden Regelung zu, sondern nur die eines seitens des Gerichts vollständig überprüfbaren Elements der Anspruchsprüfung (s zur Überprüfbarkeit von Berechnungselementen beim Höhenstreit betr das Arbeitslosengeld: BSG vom 18.8.2005 - B 7a AL 4/05 R - SozR 4-1500 § 95 Nr 1 RdNr 13).

14

2. Nach den insoweit unangegriffenen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) unterlag der Kläger im Zeitraum seiner versicherten Tätigkeit Belastungen durch Heben und Tragen von Lasten in Höhe von insgesamt 9,71 MNh (BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 13/05 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 9, SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 4, RdNr 10).

15

3. Darüber hinaus hat das LSG ebenfalls bindend festgestellt, dass der Kläger ca einmal in der Woche Tätigkeiten in Form des Wechsels von Schaufeln und Blechen in einem zeitlichen Umfang von etwa 30 bis 45 Minuten verrichtet hat. Diese Arbeiten erfolgten mit einer Rumpfbeuge von ca 90 Grad. Da es sich hierbei um Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung gehandelt habe, sei der Kläger dadurch einer weiteren Belastung iHv 8,83 MNh ausgesetzt gewesen. Die Subsumtion dieser weiteren Belastung unter den Tatbestand der BK 2108 seitens des LSG ist nicht zu beanstanden. Auch das Tatbestandsmerkmal der BK 2108 "Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung" wird nicht anhand exakter numerischer Einwirkungsgrößen definiert (vgl zu dem insoweit vergleichbaren Problem bei BK 2109 BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 14 sowie zur BK 2108 BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 23 ff), so dass es grundsätzlich Aufgabe der Versicherungsträger und Gerichte ist, unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien (vgl zu den Motiven bei der Aufnahme der BK 2108 in die BKV die amtliche Begründung: BR-Drucks 773/92, S 7) sowie anhand der Vorgaben des vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Merkblatts für die ärztliche Untersuchung zur BK 2108 (BArbBl 10/2006, S 30 ff), die für diese BK vorausgesetzten beruflichen Einwirkungen näher zu konkretisieren, wenn es auch Aufgabe des Verordnungsgebers ist, eine dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechende und für den Rechtsanwender handhabbare gesetzliche Grundlage zu schaffen, die dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot genügt (vgl hierzu insb das Urteil des Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R; BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 28). Den Merkblättern kommt zwar keine rechtliche Verbindlichkeit zu (BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 6/04 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 5 RdNr 15), sie sind jedoch als Interpretationshilfe und zur Ermittlung des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands heranzuziehen (BSG vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1 RdNr 17 mwN).

16

Hinsichtlich der Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung nennt das Merkblatt (BArbBl 10/2006, S 30 ff) Arbeiten in Bodenhöhe oder unter der Standfläche, bei denen es zu einer Beugung des Oberkörpers aus der aufrechten Körperhaltung um ca 90 Grad oder mehr kommt. Ferner zählen danach Arbeiten in Arbeitsräumen dazu, die niedriger als ca 100 cm sind und somit andauernde Zwangshaltungen mit Arbeiten im Knien, Hocken, im Fersensitz oder gebeugter bzw verdrehter Körperhaltung bedingen. Beispielhaft werden unter Nennung weiterer wissenschaftlicher Quellen Berufsgruppen, bei denen solche Tätigkeiten vorkommen, aufgeführt. Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung im Sinne der BK 2108 erfordern - unter Zugrundelegung des Merkblatts als maßgebliche Erkenntnisquelle bzw Interpretationshilfe - weder eine Zwangshaltung (dazu unter a) noch eine Rumpfbeuge von mindestens 90 Grad oder mehr (dazu unter b).

17

a) Sofern die Revision nur solche Tätigkeiten für berücksichtigungsfähig hält, die in einer "Zwangshaltung", also ohne Möglichkeit des Aufrichtens, ausgeübt werden, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Das Erfordernis einer solchen Zwangshaltung lässt sich weder den Materialien noch dem Merkblatt zur BK 2108, weiteren wissenschaftlichen Veröffentlichungen noch sonstigen Hinweisen zur Auslegung des Tatbestands der BK 2108 entnehmen (BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 19). Lediglich beispielhaft werden im Merkblatt Tätigkeiten im Bergbau genannt, ohne dass diese Aufzählung erkennbar abschließend ist und eine Zwangshaltung zwingend vorausgesetzt wird.

18

b) Ebenso wenig ist der Revision darin zu folgen, dass sich nur Tätigkeiten mit einer Rumpfbeuge von mindestens 90 Grad in die Berechnung einbeziehen ließen. Auch Tätigkeiten mit einer etwas weniger als 90 Grad ausgeprägten Rumpfbeuge sind zum einen mit dem Wortlaut des Verordnungstextes, der eine "extreme" und somit eine das Maß der im Alltag gewöhnlich vorkommenden überschreitende Rumpfbeugehaltung verlangt, vereinbar. Sofern das BSG in einer älteren Entscheidung ausgeführt hat, dass unter einer extremen Rumpfbeugehaltung iS der BK Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV eine Beugung des Oberkörpers aus der aufrechten Haltung um mehr als 90 Grad zu verstehen sei (BSG vom 1.7.1997 - 2 BU 106/97 - juris RdNr 7) und sich dieser Auffassung das BVerwG angeschlossen hat (BVerwG vom 16.4.2013 - 2 B 150/11 - juris RdNr 7), liegt diesen Entscheidungen offensichtlich das mittlerweile veraltete Merkblatt zur BK 2108 aus dem Jahre 1993 (BArbBl 3/1993, S 50) zugrunde. Der Senat hat bereits an anderer Stelle klargestellt, dass Grundlage der Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung einer BK stets der im Entscheidungszeitpunkt aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand zu sein hat (BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - juris RdNr 14; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14, SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2103 Nr 1, RdNr 15; BSG vom 27.6 2006 - B 2 U 5/05 R - BSGE 96, 297 = SozR 4-5671 § 6 Nr 2, SozR 4-2700 § 9 Nr 6, RdNr 17; s zum Arbeitsunfall: BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44, RdNr 61).

19

Dies gilt insbesondere bei der Auslegung unbestimmter, die erforderliche Einwirkung bezeichnender Rechtsbegriffe, sofern im Rahmen der möglichen Wortbedeutung die Geeignetheit zur Verursachung des Gesundheitsschadens zu bestimmen ist. Das aktuelle Merkblatt zur BK 2108 (BArbBl 10/2006, S 30 ff) verlangt aber lediglich eine Rumpfbeuge von "ca 90 Grad". Hierbei handelt es sich um einen mittleren Schätzwert, bei dem Abweichungen nach oben und unten gleich verteilt sind (vgl zur Dosis "in der Regel 100 Feinstaubjahre" der BK 4111: BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3, SozR 4-2700 § 9 Nr 20, RdNr 19). Im vorliegenden Fall kommt es mithin nicht darauf an, ob eine Rumpfbeuge von 45 Grad - wie sie in der DWS-Folgestudie bereits als wirbelsäulenschädigend dargestellt wird - mit der möglichen Wortbedeutung des Attributs "extrem" vereinbar wäre (vgl zum Problem der Mindestbelastung bei Heben und Tragen durch Frauen das Senatsurteil vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

20

4. Die wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten erfolgten darüber hinaus - wie tatbestandlich vorausgesetzt - langjährig. Langjährig bedeutet, dass zehn Berufsjahre als die im Durchschnitt untere Grenze der belastenden Tätigkeit zu fordern sind (so wörtlich das aktuelle Merkblatt 2108 BArbBl 2006, Heft 10, S 30, Abschnitt IV; vgl zum Merkmal "langjährig" bei der BK 2109 BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 15; s zur BK 2108 bereits BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, RdNr 10; BSG vom 22.6.2004 - B 2 U 22/03 R - juris RdNr 25; vgl auch: Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 8/2012, Anh zu K § 9 Anl zu BKV BK Nr 2108 - 2110 RdNr 7 mwN; "mindestens 10 Jahre" fordern Ricke in Kasseler Kommentar, Stand 7/2014, § 9 SGB VII RdNr 42; Mehrtens/Brandenburg, BKV, Stand 12/2013, M 2108 Anm 2.2.2.). Auch dieses Merkmal erfüllt der Kläger bei ca 30 Jahren festgestellter wirbelsäulenbelasteter Tätigkeit.

21

Das LSG hat davon ausgehend zu Recht angenommen, dass beim Kläger die Anforderungen an die tatbestandlich vorausgesetzte berufliche Exposition iS der BK 2108 erfüllt sind (BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 21).

22

C. Beim Kläger besteht nach den Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) auch eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS in Form eines chronischen degenerativen Lumbalsyndroms mit pseudoradikulärer Lumboischialgie an vier Lendenbandscheiben mit einer altersüberschreitenden Chondrose Grad III im Segment L5/S1 unter Mitbeteiligung der Segmente L3/L4 und L1/L2 mit Akzentuierung der Umformung im Lendenkreuzbeinübergang. Damit liegt ein dreisegmentaler Schaden der LWS vor. Die zusätzliche Feststellung einer Chondrose Grad II in einem ersichtlich nicht existierenden "Segment L5/5" ist für die Bejahung des erforderlichen Gesundheitsschadens unerheblich. Darüber hinaus existieren demgegenüber schwächer ausgeprägte Bandscheibenschäden an der HWS.

23

D. Die Beurteilung des LSG, dass die festgestellten LWS-Schäden rechtlich wesentlich durch die versicherten Einwirkungen verursacht wurden, ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Für die Anerkennung einer BK ist neben der Kausalität zwischen versicherter Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen (Einwirkungskausalität) ein Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkungen einerseits und der Erkrankung andererseits erforderlich. Für die umstrittene BK 2108 bedeutet dies, dass die LWS-Erkrankung des Klägers durch langjähriges schweres Heben und Tragen bzw Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit verursacht worden sein muss. Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung gilt im Berufskrankheitenrecht, wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung, die Theorie der wesentlichen Bedingung (s zum Arbeitsunfall die Entscheidungen des erkennenden Senats vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 34 ff sowie BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37; zu BKen s BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - juris RdNr 32; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 13 sowie - B 2 U 26/04 R - juris RdNr 17), die zunächst auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht, nach der jedes Ereignis (jede Bedingung) Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Steht die versicherte Tätigkeit als eine der Wirkursachen fest, muss auf der zweiten Stufe die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestands fallenden Gefahr sein. Die Wesentlichkeit der Wirkursache ist zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils begründeten Versicherung zu beurteilen (zur Theorie der wesentlichen Bedingung: zuletzt eingehend BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37 f sowie BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 = SozR 4-2700 § 11 Nr 1, RdNr 28 ff). Vorliegend hat das LSG zu Recht sowohl die (sonstigen) arbeitstechnischen (dazu unter 1.) als auch arbeitsmedizinischen Voraussetzungen (dazu unter 2.) bejaht.

24

1. Unter Zugrundelegung der bindend festgestellten Einwirkungs-Werte iHv 9,71 MNh durch Heben und Tragen von Lasten sowie 8,83 MNh durch Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung ist das LSG in durch das Revisionsgericht nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen auch im Hinblick auf die generelle Eignung der festgestellten Einwirkung zur Krankheitsverursachung im Sinne einer BK 2108 im Falle des Klägers gegeben sind. Die Belastungen der unterschiedlichen Einwirkungsformen "schweres Heben und Tragen" einerseits sowie "Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung" hat das LSG zu Recht addiert (dazu unter a). Zutreffend hat das LSG für die Berechnung der in der Höhe und Intensität zur Erzeugung des Bandscheibenschadens genügenden Einwirkungsbelastung das Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) zugrunde gelegt (dazu unter b). Darüber hinaus erfolgten diese Belastungen auch regelmäßig (dazu unter c). Einer Mindest-Tagesdosis bedurfte es hingegen nicht (dazu unter d).

25

a) Zutreffend hat das LSG eine kumulative Einwirkungs-Belastung iHv 18,54 MNh zugrunde gelegt. Die vom LSG vorgenommene Addition der Belastungen durch Heben und Tragen einerseits sowie Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung andererseits in zeitlicher wie in physischer Hinsicht ist nicht zu beanstanden (s Merkblatt vom 21.9.2006 - BArbBl 2006, Heft 10, S 30, 33 aE). Angesichts der auf dasselbe Zielorgan wirkenden Belastungen, für die der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand feststehende Dosis-Wirkungsbeziehungen annimmt, geht der Senat davon aus, dass diese zusammenzurechnen sind (s zur Addition von Hebe- und Tragebelastung einerseits und Schwingungsbelastung andererseits BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 9/05 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 8 RdNr 21).

26

b) Mit der Heranziehung des MDD zur Bestimmung der für eine Krankheitsverursachung erforderlichen Belastungsdosis folgt das LSG der Rechtsprechung des erkennenden Senats, der seit 2003 (BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23, 27 f = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, RdNr 10; BSG vom 19.8.2003 - B 2 U 1/02 R - USK 2003-219 RdNr 15; BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 18 und zuletzt BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 25) dieses Modell als eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der Nr 2108 Anl BKV mit den unbestimmten Rechtsbegriffen "langjähriges" Heben und Tragen "schwerer" Lasten oder "langjährige" Tätigkeit in "extremer Rumpfbeugehaltung" nur ungenau umschriebenen Einwirkungen angesehen hat. Die aufgrund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis des MDD sind indes nicht als Grenzwerte, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge zu verstehen (s zur Handhabung der hälftigen Orientierungswerte als Mindestbelastungswerte BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 31; BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 25; sowie die Urteile vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R und B 2 U 10/14 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Orientierungswerte sind andererseits keine unverbindlichen Größen, die beliebig unterschritten werden können. Ihre Funktion besteht in dem hier interessierenden Zusammenhang darin, zumindest die Größenordnung festzulegen, ab der die wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten als potentiell gesundheitsschädlich einzustufen sind. Die Mindestbelastungswerte müssen naturgemäß niedriger angesetzt werden, weil sie ihrer Funktion als Ausschlusskriterium auch noch in besonders gelagerten Fällen, etwa beim Zusammenwirken des Hebens und Tragens mit anderen schädlichen Einwirkungen, gerecht werden müssen. Werden die Orientierungswerte jedoch so deutlich unterschritten, dass das Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so ist das Vorliegen einer BK 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang im Einzelfall bedarf (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 19).

27

Der Senat hat deshalb in der soeben genannten Entscheidung seine frühere Rechtsprechung auf der Grundlage der Erkenntnisse der "Deutschen Wirbelsäulenstudie" (www.dguv.de/inhalt/leistungen/versschutz/bk/wirbelsaeule/index.html) weiterentwickelt und entschieden, dass das MDD in seiner Funktion als Konkretisierung des Ausmaßes der für die BK 2108 erforderlichen beruflichen Einwirkung derzeit nicht durch ein anderes gleichermaßen geeignetes Modell ersetzt werden kann. Der Senat hat indes im Lichte der Erkenntnisse der Ergebnisse der DWS I das MDD in mehreren Punkten modifiziert und insbesondere als unteren Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der LWS ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis bei Männern von 25 MNh, also 12,5 MNh, angenommen (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 25).

28

Das LSG hat insoweit zur Berechnung der erforderlichen Mindestbelastungsdosis das MDD zutreffend unter Berücksichtigung der Modifikationen, die dieses durch die Rechtsprechung des Senats erfahren hat, angewandt (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 22; BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R - juris RdNr 29 ff). Mit einer festgestellten Gesamtbelastungsdosis iHv 18,5 MNh wurde vorliegend der genannte untere Grenzwert erheblich überschritten. Es kommt daher nicht darauf an, ob eine weitere Absenkung im Lichte der Ergebnisse der DWS-Richtwertestudie (DWS II) (korrekte Bezeichnung des Forschungsvorhabens: "Erweiterte Auswertung der Deutschen Wirbelsäulenstudie mit dem Ziel der Ableitung geeigneter Richtwerte", Kurztitel: "DWS-Richtwerteableitung", veröffentlicht unter http://www.dguv.de/ifa/Forschung/Projektverzeichnis/FF-FB_0155A.jsp) angezeigt ist oder mit den Voraussetzungen des § 9 Abs 1 SGB VII unvereinbar wäre(vgl zur Mindestbelastungsdosis bei Frauen Urteil vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

29

c) Auch die erforderliche Regelmäßigkeit der wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten, die sich als Element der arbeitstechnischen Voraussetzungen dem Merkblatt 2006 (BArbBl 2006, S 30 ff Abschnitt IV) entnehmen lässt, ist gegeben. Hierbei reicht es entgegen der Auffassung der Revision aus, dass diese in der ganz überwiegenden Anzahl - mindestens 60 - der Arbeitsschichten erfolgten, ohne dass eine genaue Zeitgrenze pro Arbeitsschicht genannt werden kann (s Merkblatt BArbBl 10/2006, S 30 ff Abschnitt IV aE; vgl BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 15 zur BK 2109). Hintergrund ist, dass bei nicht regelmäßiger Belastung den Bandscheiben genügend Zeit zur Regeneration bleibt und deshalb keine Ursächlichkeit zwischen Druckbelastung und Schädigung besteht (vgl hierzu das Urteil des Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Den Feststellungen des LSG lässt sich gerade noch hinreichend entnehmen, dass der Kläger in mindestens 60 Schichten im Jahr einer relevanten Wirbelsäulenbelastung ausgesetzt war. Auch insoweit ist die vom LSG vorgenommene Addition der Belastungen durch das Heben und Tragen schwerer Lasten und der Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung in zeitlicher wie in physischer Hinsicht - wie bereits dargelegt - nicht zu beanstanden.

30

d) Wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat, lässt sich das Erfordernis des Erreichens einer Mindesttagesdosis anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands nicht begründen. Wie bei der Belastungsdauer können geringere oder fehlende Einwirkungen in einer Arbeitsschicht durch stärkere oder länger dauernde Belastungen in anderen Schichten ausgeglichen werden. Daher ist es nach wie vor nicht zu beanstanden, alle Hebe- und Tragebelastungen, die die Mindestbelastung von 2700 N bei Männern erreichen, entsprechend dem quadratischen Ansatz zu berechnen und aufzuaddieren (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 24; Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 8/2012, Anh zu K § 9 Anl zu BKV BK Nr 2108 - 2110 RdNr 11a, sowie zur BK 2109: BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 15). Dementsprechend steht es der Verursachung der Erkrankung durch die wirbelsäulenbelastende Tätigkeit auch nicht entgegen, dass sich die Gesamtbelastungsdosis über 40 Jahre akkumuliert hat.

31

2. Schließlich hat das LSG in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise das Vorliegen der arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für die Bejahung des Ursachenzusammenhangs zwischen den gefährdenden Einwirkungen im Sinne der BK 2108 und der Bandscheibenerkrankung des Klägers bejaht. Die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen betreffen zwei Aspekte der Anerkennungsvoraussetzungen, nämlich zum einen das Vorliegen der tatbestandlich vorausgesetzten Krankheit, zum anderen das Vorliegen eines Schadensbildes, welches mit der rechtlich-wesentlichen Verursachung dieser Krankheit durch die beruflichen Einwirkungen zumindest im Einklang steht (Bieresborn, Die Umsetzung der BK 2108 aus sozialrechtlicher Sicht, in: Grosser/Schiltenwolf/Thomann , Berufskrankheit "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule" , Frankfurt 2014, S 179, 193, 199). Aus dem Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen kann angesichts der multifaktoriellen Entstehung von bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS nicht automatisch auf das Bestehen der Anspruchsvoraussetzungen der BK 2108 geschlossen werden; vielmehr müssen medizinische Kriterien hinzukommen (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - BSGE 99, 162 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, RdNr 26; BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 19; BSG vom 30.1.2007 - B 2 U 15/05 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2 RdNr 23; vgl BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 7/05 R - juris RdNr 16 zur BK nach Nr 4302 der Anlage zur BKV; BSG vom 7.9.2004 - B 2 U 34/03 R - juris RdNr 22).

32

Das Berufungsgericht hat zutreffend den wesentlichen Ursachenzusammenhang zwischen den gefährdenden Einwirkungen im Sinne der BK 2108 und der Bandscheibenerkrankung des Klägers unter Anwendung der arbeitsmedizinischen Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 (U. Bolm-Audorff et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma und Berufskrankheit 2005/3, S 211, 214 ff, 228 ff) bejaht. Die Konsensempfehlungen sind nach wie vor eine geeignete Grundlage, um den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand bezüglich bandscheibenbedingter Erkrankungen der LWS zu bestimmen (dazu unter a). Sie können auch dann angewandt werden, wenn der MDD-Orientierungswert für die Gesamtbelastungsdosis nicht erreicht wurde (dazu unter b). Das LSG hat schließlich in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise das von ihm bindend festgestellte Schadensbild unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands als belastungskonform angesehen (dazu unter c).

33

a) Nicht zu beanstanden ist, dass das LSG die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 zugrunde gelegt hat. Diese bilden zur Überzeugung des Senats weiterhin den aktuellen Erkenntnisstand ab. Die naturwissenschaftliche Kausalitätsprüfung ist zwar eine der Bindung fähige tatsächliche Feststellung der Instanzgerichte (vgl Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 163 RdNr 9), jedoch sind nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats die die einzelnen Tatbestandsmerkmale der jeweiligen BK unterfütternden allgemeinen (generellen) Tatsachen, die für alle einschlägigen BK-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind, anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands auch revisionsrechtlich überprüfbar (grundlegend: BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 5/05 R - BSGE 96, 297 = SozR 4-5671 § 6 Nr 2, RdNr 19 sowie BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 23; s auch BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 23; s zur älteren Senatsrechtsprechung, wonach diesbezügliche Feststellungen dem Anwendungsbereich des § 163 SGG zugerechnet wurden: BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 83 = SozR 3-2700 § 9 Nr 4 = SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 4 RdNr 28; BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, RdNr 22, jeweils mwN). Dies muss zunächst jedenfalls immer dann gelten, wenn diese - wie hier - zulässig gerügt werden (vgl BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - juris RdNr 14; s zur Problematik der Überprüfung von allgemeinen Tatsachen auf ihre offensichtliche Unrichtigkeit auch das Urteil des Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Inwieweit in der Rechtsprechung anderer Senate des BSG (zur Überprüfung sog "genereller Tatsachen" in der sonstigen Rechtsprechung des BSG vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 163 RdNr 7 sowie speziell im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung BSG vom 16.6.1999 - B 1 KR 4/98 R - BSGE 84, 90, 94 = SozR 3-1500 § 163 Nr 7, RdNr 17 sowie BSG vom 12.8.2009 - B 3 KR 10/07 R - BSGE 104, 95 = SozR 4-2500 § 135 Nr 4, RdNr 27 und zuletzt BSG vom 12.9.2012 - B 3 KR 10/12 R - BSGE 112, 15, 37 = SozR 4-2500 § 137 Nr 1 RdNr 55; s zu "Rechtstatsachen" BSG vom 25.10.1994 - 3/1 RK 57/93 - SozR 3-1500 § 163 Nr 5, juris RdNr 27, zu "allgemeinkundigen Tatsachen historischer Natur" BSG vom 7.2.1985 - 9a RV 5/83 - BSGE 58, 38, 42 = SozR 3100 § 5 Nr 7, RdNr 17 sowie zu "gerichtskundigen Tatsachen" BSG vom 27.1.1977 - 7 RAr 16/75 - BSGE 43, 124, 127 = SozR 4100 § 41 Nr 28 RdNr 30) eine solche Überprüfung genereller Tatsachen erfolgt, kann hier dahinstehen. Denn jedenfalls im Bereich des Rechts der BKen hat das BSG aufgrund der in den Normtexten der jeweiligen BKen in der Anlage zur BKV regelmäßig vertypisierten wissenschaftlichen Aussagen die Existenz der einschlägigen Erfahrungssätze selbst festzustellen. Das über das Vorliegen von BKen befindende Gericht muss sich folglich Klarheit darüber verschaffen, welches in der streitigen Frage der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist. Die heranzuziehenden Quellen - Fachbücher, Standardwerke, Merkblätter des zuständigen Ministeriums, Begründungen des Sachverständigenbeirats, Konsensempfehlungen etc - hat das jeweilige Gericht eigenständig kritisch zu würdigen und auf ihre Aktualität hin zu überprüfen (vgl BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 100/12 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 24 RdNr 18; BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 68 f; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 20; vgl auch BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17 mwN).

34

Hierbei ist zunächst die Zugrundelegung der Konsensempfehlungen durch das LSG als Orientierungshilfe bei der Beurteilung, ob der Bandscheibenschaden des Klägers nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand durch die festgestellten beruflichen Einwirkungen verursacht wurde, revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. Denn die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 sind nach wie vor eine hinreichende Grundlage für die Bestimmung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands, wie der Senat zuletzt 2009 klargestellt hat (BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - juris RdNr 15). Seitdem wurden zwar in Folge der Veröffentlichung der DWS II Fachaufsätze publiziert, die Zweifel an den Aussagen auch der Konsensempfehlungen äußern. Weder der DWS II noch den sonstigen Veröffentlichungen ist jedoch zu entnehmen, dass die Erkenntnisse der Konsensarbeitsgruppe aus dem Jahre 2005 gerade hinsichtlich der hier zugrunde gelegten Befundkonstellation inzwischen veraltet sein könnten. Sofern vertreten wird, dass inzwischen die Ergebnisse der DWS II die wesentlichen Grundannahmen aus den Konsenskriterien widerlegten, etwa weil die bisher angenommenen Einwirkungsgrößen zu hoch seien, die Lokalisation und Häufigkeit der Verteilung von Bandscheibenschäden zu 96% mit denen der Normalbevölkerung identisch sei, die Auswertungen der DWS II keine deutliche Abhängigkeit der Begleitspondylose von der MDD-Gesamtbelastungsdosis gezeigt habe oder Schäden an der HWS keine Aussagekraft zur Verursachung von LWS-Schäden hätten (M. Kentner und K. Frank, Kommentar zur DWS-Richtwertestudie und Implikationen hinsichtlich BK 2108 - Biomechanik vs. Pathophysiologie, Manuskript, erscheint in ASUMed 8/2015; Linhardt/Grifka, Auswirkungen der Deutschen Wirbelsäulenstudie auf die Berufskrankheit der Lendenwirbelsäule , MedSach 111 <2015>, 20, 21; Bergmann, Bolm-Audorff, Ditchen, Ellegast, Haerting, Kersten, Jäger, Skölziger, Kuß, Morfeld, Schäfer, Seidler, Luttmann, Lumbaler Bandscheibenvorfall mit Radikulärsyndrom und fortgeschrittene Osteochondrose, ZblArbeitsmed 2014, 233 - 238) handelt es sich erkennbar um wissenschaftliche Einzelmeinungen.

35

Die zitierten Publikationen setzen sich zum einen jeweils inhaltlich nicht mit der grundsätzlichen Kritik an der angewandten Methodik der Nachuntersuchung auseinander (s nur Grosser, Ergebnisse der Konsensusarbeitsgruppe zur Begutachtung der BK 2108 - Status quo und Konsequenzen aus der DWS, in: Grosser/Schiltenwolf/Thomann, Berufskrankheit "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule" , Frankfurt 2014, S 84 - 104; Zagrodnik, Fragliche Belastungsdosis, DGUV Forum 2014, Nr 7/8 S 10 - 13), zum anderen schöpfen sie ihre Kritik an den Aussagen der Konsensempfehlungen alleine aus den Ergebnissen der DWS II, und wenden sich im Wesentlichen gegen die Bestimmung und Höhe der Einwirkungsgrößen, nicht aber gegen die Grundaussage der Konsensempfehlungen, dass Bandscheibenschäden aufgrund beruflich erworbener Druckbelastungs-Dosen entstehen können. Der Senat verkennt nicht, dass ein wissenschaftlicher Erkenntnisstand auch dadurch erschüttert werden kann, dass grundlegende und fundierte Zweifel seitens der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler diesem den Boden entziehen, ohne dass sich diese in ihrer Mehrheit auf einen neuen Konsens geeinigt hätten. Einzelne Gegenstimmen sind demgegenüber nicht geeignet, einen einmal gebildeten und sich in schriftlichen Beurteilungskriterien manifestierenden wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu erschüttern, solange nicht die daran beteiligten Autoren in ihrer Mehrheit diesen Konsens in wesentlichen Punkten aufkündigen oder eine (zumindest teilweise) personell anders zusammengesetzte große Mehrheit der mit dieser Materie befassten Fachwissenschaftler diesem Konsens entgegentritt.

36

Dem Senat liegen im Rahmen seiner eigenen Ermittlungen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass die Konstellation B4 der Konsensempfehlungen nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht. Zwar wird hierzu kritisch geäußert, aus Schäden an der HWS könnten keine Aussagen über die Verursachung von Schäden an der LWS durch Druck abgeleitet werden (M. Kentner und K. Frank, Kommentar zur DWS-Richtwertestudie und Implikationen hinsichtlich BK 2108 - Biomechanik vs. Pathophysiologie, Manuskript, erscheint in ASUMed 8/2015). Dies vermag jedoch den Aussagewert der Befundkonstellation B4 nach Überzeugung des Senats nicht zu erschüttern, weil die Konsensempfehlungen gerade davon ausgehen, dass kein belastungstypisches, sondern nur ein belastungskonformes Schadensbild existiert. Damit können bestimmte Befundkonstellationen, in denen andere anatomisch nicht in gleichem Maße druckbelastete Segmente wie die der LWS genauso oder stärker geschädigt sind, den Verursachungszusammenhang nicht ausschließen, sie können allenfalls den Verdacht erzeugen, dass die Schäden der LWS wesentlich auf anlagebedingten Faktoren beruhen.

37

b) Entgegen der Revision ist auch nicht zu beanstanden, dass sich das LSG auf die Aussagen der Konsensempfehlungen stützt, obwohl nach seinen eigenen Feststellungen die nach dem MDD für Männer geforderte Gesamtbelastungsdosis iHv 25 MNh durch den Kläger mit 18,54 MNh nicht erreicht wurde. So wie der erkennende Senat im Recht der BKen nicht gehindert ist, den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu Verursachungszusammenhängen festzustellen, ist er ebenso wenig gehindert, die korrekte Zuordnung des Sachverhalts seitens des Berufungsgerichts unter diesen einschlägigen Erkenntnisstand zu überprüfen. Dies gilt umso mehr, wenn dieser in Konsensempfehlungen verdichtet ist. Bei diesen handelt es sich freilich nicht um einen normativen Text oder ein antizipiertes Sachverständigengutachten, weil die Konsensempfehlungen weder vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber erlassen, noch von unabhängigen und der Neutralität verpflichteten Autoren verfasst wurden (P. Becker, ASUMed 2009, 592, 595). Daher sind sie für Verwaltung, Gerichte oder Gutachter auch nicht unmittelbar verbindlich (Siefert, ASR 2011, 45, 48) und es verbietet sich deren Auslegung unter strikter Anwendung der Regeln der juristischen Methodenlehre (vgl Bieresborn, Die Umsetzung der BK 2108 aus sozialrechtlicher Sicht aaO, S 199). Konsensempfehlungen dienen lediglich zur Erleichterung der Beurteilung im Einzelfall, um typische Befundkonstellationen im Hinblick auf die Kausalbeziehungen unter Zugrundelegung des aktuell wissenschaftlichen Erkenntnisstands einordnen zu können (Duell, Kranig, Palfner, BK-Begutachtungsempfehlungen - Wissen von Experten für Experten, DGUV Forum 2012, Nr 4 S 14, 16). Andererseits muss bei diesem Erkenntnisvorgang überprüfbar bleiben, ob das LSG nach allgemeinem Verständnis den von ihm festgestellten Sachverhalt (noch) vertretbar den in den Konsensempfehlungen aufgeführten Kategorien zugeordnet hat.

38

Nicht zu beanstanden ist im Rahmen des soeben aufgezeigten Prüfumfangs jedenfalls die Aussage des LSG, dass die Konsensempfehlungen bereits bei einem Gesamtbelastungswert von 18,54 MNh Anwendung finden können. Den Konsensempfehlungen selbst lässt sich das Erreichen der MDD-Gesamtbelastungsdosiswerte von 25 MNh jedenfalls nicht als Anwendungsvoraussetzung entnehmen. So nehmen die Konsensempfehlungen nur an wenigen Stellen Bezug auf das MDD. Auf dessen Orientierungswert wird sogar nur an einer Stelle verwiesen, nämlich als Alternative 3 der Konstellation B2, die vorliegend allerdings unerheblich ist, weil sich das LSG zur Anerkennung auf die Alternative 1 in Verbindung mit der Konstellation B4 bezogen hat. Soweit die Konsensempfehlungen unter 1.4 "Zusammenhangsbeurteilung" eine "ausreichende berufliche Belastung" fordern, lässt sich dieser Formulierung nicht entnehmen, dass damit das Erreichen des MDD-Orientierungswertes zur Gesamtbelastungsdosis vorausgesetzt wird. So führen die Autoren der Konsensempfehlungen im Vorspann aus, dass zum Zeitpunkt der Initiierung ihres Projekts die zentrale Frage der Expositionsbeurteilung ebenso wenig gelöst war, wie die der Begutachtung. Erklärtes Ziel ihrer Tätigkeit war die Formulierung konkretisierter Begutachtungskriterien, obwohl konkrete Forschungsergebnisse aus dem Parallelprojekt der DWS, mit dem die Dosis-Wirkungsbeziehungen zwischen beruflichen Belastungen und der Entstehung von bandscheibenbedingten Wirbelsäulenerkrankungen in einer Fallkontrollstudie einer besseren epidemiologischen Klärung zugeführt werden sollten, erst zu einem späteren Zeitpunkt erwartet wurden. Bereits dies spricht dagegen, dass die Konsensempfehlungen die Werte des MDD als Anwendungsbedingung voraussetzen.Vielmehr überlassen sie erkennbar die Beurteilung der ausreichenden Belastungen dem jeweiligen Gutachter, an den diese "Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung" adressiert sind. Jedenfalls folgt hieraus, dass die vom LSG vorgenommene "Interpretation" des Einstiegswerts der Konsensempfehlungen nicht offensichtlich falsch ist (zum Prüfansatz vgl insoweit das Urteil des Senats vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R).

39

c) Es ist ferner nicht zu beanstanden, dass das LSG das Vorliegen der Konstellation B4 der Konsensempfehlungen bejaht hat. Für sämtliche B-Konstellationen wird vorausgesetzt, dass die (gesicherte) bandscheibenbedingte Erkrankung nach ihrer Lokalisation die Segmente L5/S1 und/oder L4/L5 betrifft und eine Ausprägung als Chondrose Grad II oder höher und/oder Vorfall hat. Sofern zusätzlich eine Begleitspondylose besteht (Befundkonstellation B1) gilt der Zusammenhang als wahrscheinlich. Liegt hingegen keine Begleitspondylose vor, so wird nach der ersten Alternative der Befundkonstellation B2 der Zusammenhang dann als wahrscheinlich betrachtet, wenn eine Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben besteht.

40

Nach den bindenden Feststellungen des LSG bestehen beim Kläger Erkrankungen in Form einer altersüberschreitenden Chondrose Grad III im Segment L5/S1 unter Mitbeteiligung der Segmente L3/L4 und L1/L2 mit Akzentuierung der Umformung im Lendenkreuzbeinübergang. Damit liegt nach den nicht mit beachtlichen Rügen angegriffenen Feststellungen des LSG ein jedenfalls drei- und damit mehrsegmentaler Schaden der LWS und damit die Voraussetzungen der B2-Konstellation in der 1. Alternative des ersten Spiegelstrichs vor. Es kommt mithin nicht darauf an, ob auch eine weitere Alternative der B2-Konstellation gegeben ist. Auch die in der auf der B2-Konstellation aufbauenden B4-Konstellation vorausgesetzten schwächer ausgeprägten Bandscheibenschäden an der HWS sind nach den Feststellungen des LSG gegeben. Bei der B4-Konstellation ist nach den Konsensempfehlungen der Zusammenhang wahrscheinlich, weshalb die darauf gestützte Feststellung des Vorliegens einer BK 2108 revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden ist, weil gerade insoweit (betreffend die Konstellation B4) wie ausgeführt - keine wissenschaftlich beachtliche Kritik geübt wird, die die Anwendbarkeit dieser Konstellation insgesamt in Zweifel ziehen könnte (vgl zu den Grenzen der revisionsgerichtlichen Erkenntnismöglichkeiten bei der Zugrundelegung der Konsensempfehlungen Senatsurteile vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R sowie B 2 U 10/14 R -, beide zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

41

E. Schließlich hat der Kläger nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts auch sämtliche wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten unterlassen, weshalb die Revision der Beklagten insgesamt zurückzuweisen war.

42

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

(1) Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, daß die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind. In der Rechtsverordnung kann ferner bestimmt werden, inwieweit Versicherte in Unternehmen der Seefahrt auch in der Zeit gegen Berufskrankheiten versichert sind, in der sie an Land beurlaubt sind.

(1a) Beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ein Ärztlicher Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten gebildet. Der Sachverständigenbeirat ist ein wissenschaftliches Gremium, das das Bundesministerium bei der Prüfung der medizinischen Erkenntnisse zur Bezeichnung neuer und zur Erarbeitung wissenschaftlicher Stellungnahmen zu bestehenden Berufskrankheiten unterstützt. Bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin wird eine Geschäftsstelle eingerichtet, die den Sachverständigenbeirat bei der Erfüllung seiner Arbeit organisatorisch und wissenschaftlich, insbesondere durch die Erstellung systematischer Reviews, unterstützt. Das Nähere über die Stellung und die Organisation des Sachverständigenbeirats und der Geschäftsstelle regelt die Bundesregierung in der Rechtsverordnung nach Absatz 1.

(2) Die Unfallversicherungsträger haben eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Absatz 1 Satz 2 erfüllt sind.

(2a) Krankheiten, die bei Versicherten vor der Bezeichnung als Berufskrankheiten bereits entstanden waren, sind rückwirkend frühestens anzuerkennen

1.
in den Fällen des Absatzes 1 als Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die Bezeichnung in Kraft getreten ist,
2.
in den Fällen des Absatzes 2 wie eine Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vorgelegen haben; hat der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten eine Empfehlung für die Bezeichnung einer neuen Berufskrankheit beschlossen, ist für die Anerkennung maßgebend der Tag der Beschlussfassung.

(3) Erkranken Versicherte, die infolge der besonderen Bedingungen ihrer versicherten Tätigkeit in erhöhtem Maße der Gefahr der Erkrankung an einer in der Rechtsverordnung nach Absatz 1 genannten Berufskrankheit ausgesetzt waren, an einer solchen Krankheit und können Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden, wird vermutet, daß diese infolge der versicherten Tätigkeit verursacht worden ist.

(3a) Der Unfallversicherungsträger erhebt alle Beweise, die zur Ermittlung des Sachverhalts erforderlich sind. Dabei hat er neben den in § 21 Absatz 1 Satz 1 des Zehnten Buches genannten Beweismitteln auch Erkenntnisse zu berücksichtigen, die er oder ein anderer Unfallversicherungsträger an vergleichbaren Arbeitsplätzen oder zu vergleichbaren Tätigkeiten gewonnen hat. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen die Ermittlungen zu den Einwirkungen während der versicherten Tätigkeit dadurch erschwert sind, dass der Arbeitsplatz des Versicherten nicht mehr oder nur in veränderter Gestaltung vorhanden ist. Die Unfallversicherungsträger sollen zur Erfüllung der Aufgaben nach den Sätzen 2 und 3 einzeln oder gemeinsam tätigkeitsbezogene Expositionskataster erstellen. Grundlage für diese Kataster können die Ergebnisse aus systematischen Erhebungen, aus Ermittlungen in Einzelfällen sowie aus Forschungsvorhaben sein. Die Unfallversicherungsträger können außerdem Erhebungen an vergleichbaren Arbeitsplätzen durchführen.

(4) Besteht für Versicherte, bei denen eine Berufskrankheit anerkannt wurde, die Gefahr, dass bei der Fortsetzung der versicherten Tätigkeit die Krankheit wiederauflebt oder sich verschlimmert und lässt sich diese Gefahr nicht durch andere geeignete Mittel beseitigen, haben die Unfallversicherungsträger darauf hinzuwirken, dass die Versicherten die gefährdende Tätigkeit unterlassen. Die Versicherten sind von den Unfallversicherungsträgern über die mit der Tätigkeit verbundenen Gefahren und mögliche Schutzmaßnahmen umfassend aufzuklären. Zur Verhütung einer Gefahr nach Satz 1 sind die Versicherten verpflichtet, an individualpräventiven Maßnahmen der Unfallversicherungsträger teilzunehmen und an Maßnahmen zur Verhaltensprävention mitzuwirken; die §§ 60 bis 65a des Ersten Buches gelten entsprechend. Pflichten der Unternehmer und Versicherten nach dem Zweiten Kapitel und nach arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften bleiben hiervon unberührt. Kommen Versicherte ihrer Teilnahme- oder Mitwirkungspflicht nach Satz 3 nicht nach, können die Unfallversicherungsträger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder die Leistung einer danach erstmals festzusetzenden Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder den Anteil einer Rente, der auf eine danach eingetretene wesentliche Änderung im Sinne des § 73 Absatz 3 zurückgeht, bis zur Nachholung der Teilnahme oder Mitwirkung ganz oder teilweise versagen. Dies setzt voraus, dass infolge der fehlenden Teilnahme oder Mitwirkung der Versicherten die Teilhabeleistungen erforderlich geworden sind oder die Erwerbsminderung oder die wesentliche Änderung eingetreten ist; § 66 Absatz 3 und § 67 des Ersten Buches gelten entsprechend.

(5) Soweit Vorschriften über Leistungen auf den Zeitpunkt des Versicherungsfalls abstellen, ist bei Berufskrankheiten auf den Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Behandlungsbedürftigkeit oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, auf den Beginn der rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit abzustellen.

(6) Die Bundesregierung regelt durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates

1.
Voraussetzungen, Art und Umfang von Leistungen zur Verhütung des Entstehens, der Verschlimmerung oder des Wiederauflebens von Berufskrankheiten,
2.
die Mitwirkung der für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen bei der Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind; dabei kann bestimmt werden, daß die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen berechtigt sind, Zusammenhangsgutachten zu erstellen sowie zur Vorbereitung ihrer Gutachten Versicherte zu untersuchen oder auf Kosten der Unfallversicherungsträger andere Ärzte mit der Vornahme der Untersuchungen zu beauftragen,
3.
die von den Unfallversicherungsträgern für die Tätigkeit der Stellen nach Nummer 2 zu entrichtenden Gebühren; diese Gebühren richten sich nach dem für die Begutachtung erforderlichen Aufwand und den dadurch entstehenden Kosten.

(7) Die Unfallversicherungsträger haben die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständige Stelle über den Ausgang des Berufskrankheitenverfahrens zu unterrichten, soweit ihre Entscheidung von der gutachterlichen Stellungnahme der zuständigen Stelle abweicht.

(8) Die Unfallversicherungsträger wirken bei der Gewinnung neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere zur Fortentwicklung des Berufskrankheitenrechts mit; sie sollen durch eigene Forschung oder durch Beteiligung an fremden Forschungsvorhaben dazu beitragen, den Ursachenzusammenhang zwischen Erkrankungshäufigkeiten in einer bestimmten Personengruppe und gesundheitsschädlichen Einwirkungen im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit aufzuklären. Die Verbände der Unfallversicherungsträger veröffentlichen jährlich einen gemeinsamen Bericht über ihre Forschungsaktivitäten und die Forschungsaktivitäten der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Bericht erstreckt sich auf die Themen der Forschungsvorhaben, die Höhe der aufgewendeten Mittel sowie die Zuwendungsempfänger und Forschungsnehmer externer Projekte.

(9) Die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen dürfen zur Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind, Daten verarbeiten sowie zur Vorbereitung von Gutachten Versicherte untersuchen, soweit dies im Rahmen ihrer Mitwirkung nach Absatz 6 Nr. 2 erforderlich ist; sie dürfen diese Daten insbesondere an den zuständigen Unfallversicherungsträger übermitteln. Die erhobenen Daten dürfen auch zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren gespeichert, verändert, genutzt, übermittelt oder in der Verarbeitung eingeschränkt werden. Soweit die in Satz 1 genannten Stellen andere Ärzte mit der Vornahme von Untersuchungen beauftragen, ist die Übermittlung von Daten zwischen diesen Stellen und den beauftragten Ärzten zulässig, soweit dies im Rahmen des Untersuchungsauftrages erforderlich ist.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. Januar 2014 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig ist die Versorgung der Klägerin mit einer Silikonfingerprothese für den Zeigefinger ihrer rechten Hand.

2

Der 1966 geborenen Klägerin wurde das Endglied des Zeigefingers der rechten Hand amputiert. Am 2.2.2011 beantragte sie bei der beklagten Krankenkasse die Versorgung mit einer individuell angefertigten Silikonfingerprothese unter Vorlage einer entsprechenden ärztlichen Verordnung sowie eines Kostenvoranschlags eines Sanitätshauses in Höhe von 3513,77 Euro und Fotografien ihrer Hand. Sie trug vor, sie arbeite mit Kundenkontakt am Flughafenschalter und fühle sich in der Öffentlichkeit starrenden Blicken ausgesetzt. Beim Musizieren, beim Modellbau sowie bei der Bedienung der Tastatur und der Maus ihres Computers am Arbeitsplatz und zu Hause beeinträchtige sie das fehlende Fingerglied, und die Silikonprothese biete ihr einen erheblichen Funktionsgewinn. Zudem sei es ohne den Schutz durch eine Fingerprothese äußerst schmerzhaft, wenn der Finger beim Greifen an Gegenstände stoße.

3

Nach Einholung eines sozialmedizinischen Gutachtens lehnte die Beklagte den Antrag ab, da die Klägerin durch den Verlust des Zeigefingerendgliedes nicht wesentlich beeinträchtigt sei, und die Fingerepithese funktionell weitgehend unbedeutend bleibe. Im Vordergrund stehe der kosmetische Aspekt, der eine Kostenzusage nicht rechtfertigen könne. Eine evtl Druckschmerzhaftigkeit könne durch eine Schutzkappe oder Verbandmaterial vermindert werden (Bescheid vom 11.4.2011, Widerspruchsbescheid vom 1.9.2011).

4

Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 5.12.2012); das LSG die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 24.1.2014): Körperersatzstücke wie Fingerprothesen seien auf den unmittelbaren Ausgleich der Behinderung durch den Ersatz des fehlenden Körperteils und dessen ausgefallene Funktionen gerichtet. Bei der Fingerprothese gehe es um das Grundbedürfnis einer möglichst sicheren Greif-, Halte- und Führungsfunktion der Hand. Auch im Bereich des unmittelbaren Behinderungsausgleichs hätten die Krankenkassen aber nicht für solche Innovationen aufzukommen, die keine wesentlichen Gebrauchsvorteile bewirkten und sich auf einen besseren Komfort oder eine bessere Optik beschränkten. Einen wesentlichen Gebrauchsvorteil habe die Klägerin weder vorgetragen noch sei dies den Unterlagen zu entnehmen.

5

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V. Sie begehre eine Naturalfingerprothese mit der weitestgehend individuellen Anpassung an die gesunde Hand und mit der besten Griffigkeit. Denn es sei ein möglichst weitgehender Behinderungsausgleich geschuldet, der sowohl die Erhaltung der Vollständigkeit und Unversehrtheit des Körpers an sich umfasse, als auch die Vermeidung einer Stigmatisierung. Darüber hinaus biete ihr die Fingerprothese im gesamten täglichen Leben Gebrauchsvorteile, weil die im Wesentlichen durch Daumen und Zeigefinger gestaltete Greiffunktion der Hand durch die Verkürzung des Zeigefingers erheblich eingeschränkt werde.

6

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. Januar 2014 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 5. Dezember 2012 zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 11. April 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für eine Naturalfingerprothese zu übernehmen.

7

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Sie ist der Auffassung, der Klägerin stehe generell kein Anspruch auf eine Fingerprothese zu, auch nicht auf eine weniger hochwertige Ausführung im Sinne einer Basisversorgung. Es handele sich bei den Fingerprothesen, die grundsätzlich aus Silikon hergestellt würden, immer um steife Fingerstücke, die auf den Amputationsstumpf aufgesetzt würden. Dadurch komme es zu keinem wesentlichen Funktionsgewinn. Manche Tätigkeiten seien mit einem steifen künstlichen Fingergelenk weniger gut durchführbar, als ohne diese Prothese. Gerade eine verbesserte Feinmotorik sei mit der Prothese wegen der fehlenden Nerven nicht erreichbar. In der Amputationsstelle seien dagegen noch Nerven vorhanden.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision ist unbegründet, die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, die Klägerin mit einer Fingerprothese zu versorgen.

10

1. Rechtsgrundlage des ungeachtet des auf Kostenübernahme lautenden Antrags der Sache nach geltend gemachten Sachleistungsanspruchs ist § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V in der ab 1.4.2007 geltenden Fassung von Art 1 Nr 17 Buchst a GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vom 26.3.2007 (BGBl I 378). Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Dabei besteht ein Anspruch auf Versorgung mit Blick auf die "Erforderlichkeit im Einzelfall" nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüber hinausgehende Leistungen darf die Krankenkasse gemäß § 12 Abs 1 SGB V nicht bewilligen(vgl BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 11 - zweisitziges Elektrofahrzeug; BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 40 - Unterschenkel-Sportprothese; BSGE 107, 44 = SozR 4-2500 § 33 Nr 31 - Treppensteighilfe). Nicht entscheidend für den Versorgungsanspruch ist, ob das begehrte Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis (§ 139 SGB V) gelistet ist, denn es handelt sich bei diesem Verzeichnis nicht um eine abschließende Regelung im Sinne einer Positivliste (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16, 20, 27; BSGE 99, 197 = SozR 4-2500 § 33 Nr 16, RdNr 20; vgl zum Ganzen auch BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 45 - Perücke; BSG Urteil vom 8.7.2015 - B 3 KR 5/14 R - CGMS, vorgesehen für SozR 4, jeweils mwN).

11

2. Der Hilfsmittelbegriff wird seit dem Inkrafttreten des SGB IX (durch Art 1 des Gesetzes vom 19.6.2001, BGBl I 1046) zum 1.7.2001 für alle Träger von Leistungen der medizinischen Rehabilitation (§ 6 Abs 1, § 5 Nr 1 SGB IX) durch § 31 Abs 1 SGB IX einheitlich definiert. Danach versteht der Gesetzgeber unter Hilfsmitteln Körperersatzstücke sowie orthopädische und andere Hilfsmittel. Erfasst werden alle Hilfen, die von den Leistungsempfängern getragen oder mitgeführt oder bei einem Wohnungswechsel mitgenommen werden können und unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls erforderlich sind, um (1.) einer drohenden Behinderung vorzubeugen, (2.) den Erfolg einer Heilbehandlung zu sichern oder (3.) eine Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens auszugleichen, soweit sie nicht allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens sind. Da sich die Zuständigkeit und die Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe gemäß § 7 Satz 2 SGB IX nach den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen richten, ergibt sich der Rechtsanspruch der Versicherten weiterhin aus § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V. Bei der Definition des Hilfsmittelbegriffs in der medizinischen Rehabilitation hat sich der Gesetzgeber an der Rechtsprechung des BSG zum Hilfsmittelbegriff in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) orientiert. Eine Ausweitung der Leistungspflicht der GKV war bei der Hilfsmittelversorgung aber mit der Einführung des SGB IX nicht beabsichtigt (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 45 - Perücke; BSG Urteil vom 8.7.2015 - B 3 KR 5/14 R - CGMS, vorgesehen für SozR 4, jeweils mwN).

12

Die begehrte Fingerprothese gehört zu den Körperersatzstücken. Unerheblich ist, ob dieses Fingerendgliedersatzstück als "Prothese" oder als "Epithese" bezeichnet wird, denn diese Begriffe sind nicht eindeutig voneinander abgrenzbar. In der Regel werden unter "Prothesen" Körperersatzstücke aller Art verstanden (vgl zB Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 266. Aufl 2014), während mit dem Begriff der "Epithesen" - abgeleitet von dem griechischen Wort für "Herauflegen" - individuell modellierte Ersatzstücke aus Kunststoff, Silikonen, Gelatine ua zur Deckung von Oberflächendefekten, insbesondere im Gesicht bezeichnet werden (vgl zB Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 266. Aufl 2014; nach Zetkin/Schaldach, Lexikon der Medizin, 16. Aufl 1998, handelt es sich bei Epithesen um Kunststoffprothesen zum Ausgleich von Oberflächendefekten, welche äußerlich aufgelegt, aufgeklebt oder mit knöchern verankerten Stiften fixiert werden). Jedenfalls soweit damit - wie hier- ein fehlendes Körperstück ersetzt wird, kann auch mit dem Begriff der Epithese ein Körperersatzstück bezeichnet werden.

13

Da Körperersatzstücke bereits im Wortlaut des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V und des § 31 Abs 1 SGB IX ausdrücklich aufgeführt sind, erübrigen sich bezüglich der begehrten Fingerendgliedprothese weitere Ausführungen zur Hilfsmitteleigenschaft oder eine Abgrenzung von den allgemeinen Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens.

14

3. Ein Anspruchsausschluss nach § 34 Abs 4 Satz 1 SGB V greift nicht ein. Nach dieser Vorschrift (idF durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vom 20.12.1991, BGBl I 2325) kann das Bundesministerium für Gesundheit durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Heil- und Hilfsmittel von geringem oder umstrittenem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis bestimmen, deren Kosten die Krankenkasse nicht übernimmt. In der auf Grund dieser Ermächtigung erlassenen Verordnung über Hilfsmittel von geringem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 13.12.1989 (BGBl I 2237), die in der Fassung der Verordnung vom 17.1.1995 (BGBl I 44) gilt, sind Fingerprothesen oder Fingerepithesen nicht erfasst.

15

4. Der Anspruch auf Versorgung mit einem Hilfsmittel gegen die GKV setzt darüber hinaus das Vorliegen der Voraussetzungen einer der in § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V sowie in § 31 Abs 1 SGB IX teleologisch differenzierten Versorgungsvarianten voraus; dh das Hilfsmittel muss der Vorbeugung einer drohenden Behinderung, der Sicherung des Erfolgs einer Krankenbehandlung oder dem Ausgleich einer Behinderung dienen.

16

Die von der Klägerin begehrte Fingerprothese dient keinem dieser Zwecke. Die Variante "Abwendung einer drohenden Behinderung" kommt nach der Sachlage ohnehin nicht in Betracht. Das Hilfsmittel dient auch weder dem Ausgleich einer Behinderung (dazu a)) noch der Sicherung des Erfolgs einer Krankenbehandlung (dazu b)). Aus diesen Gründen hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf eine weniger hochwertige Fingerprothese (dazu c)).

17

a) Als Körperersatzstück soll die Fingerprothese im Bereich des unmittelbaren Behinderungsausgleichs eingesetzt werden, in dem die GKV die Erhaltung, Wiederherstellung oder Verbesserung einer beeinträchtigten Körperfunktion zu bewirken hat (dazu aa)). Das Fehlen des Zeigefingerendgliedes stellt aber allenfalls eine ganz geringfügige Behinderung (zum Begriff der Behinderung siehe bb)) der Klägerin dar. Soweit überhaupt Handfunktionen beeinträchtigt sind, können diese durch die begehrte Fingerprothese nicht in einer dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechenden Weise ausgeglichen werden (dazu cc)). Eine Behinderung der Klägerin ergibt sich auch nicht aus der äußerlichen Wirkung des fehlenden Fingergliedes, da hier keine teilhaberechtlich relevante erhebliche oder außergewöhnliche Auffälligkeit vorliegt (dazu dd)).

18

aa) Hinsichtlich der Bestimmung eines Hilfsmittels zum Ausgleich einer Behinderung iS des § 33 Abs 1 Satz 1 dritte Variante SGB V wird zwischen dem unmittelbaren und dem mittelbaren Behinderungsausgleich unterschieden. Beim unmittelbaren Behinderungsausgleich dient das Hilfsmittel unmittelbar dem Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst, während im Bereich des mittelbaren Behinderungsausgleichs das Hilfsmittel zum Ausgleich der direkten und indirekten Behinderungsfolgen eingesetzt wird. Diese Differenzierung ist notwendig, weil unter Einbeziehung einer historischen Betrachtung unzweifelhaft ist, dass der Ausfall einer Körperfunktion den Krankheitsbegriff in der GKV erfüllt, und es daher zum Aufgabenbereich der GKV gehört, ausgefallene oder beeinträchtigte Körperfunktionen soweit wie möglich wiederherzustellen oder zu verbessern. Beim mittelbaren Behinderungsausgleich geht es demgegenüber darum, einem behinderten Menschen, dessen Beeinträchtigung durch medizinische Leistungen einschließlich des Einsatzes von Hilfsmitteln nicht weiter behoben werden kann, das Leben mit den Folgen dieser Beeinträchtigung zu erleichtern. Dabei liegt es auf der Hand, dass es nicht Aufgabe der GKV ist, jegliche Behinderungsfolgen in allen Lebensbereichen auszugleichen. So ist es beispielsweise Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme, einen Ausgleich für spezielle berufliche Anforderungen zu schaffen. Es kann auch nicht Aufgabe der GKV sein, alle Auswirkungen der Behinderung etwa im Hinblick auf spezielle Sport- oder Freizeitinteressen durch Hilfsmittel auszugleichen. Auch nach dem der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen gewidmeten SGB IX ist die GKV nur für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie für unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, nicht aber für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und für Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zuständig (§ 6 Abs 1 Nr 1, § 5 SGB IX). Um hier den Aufgabenbereich der GKV abzugrenzen, ist ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich von der Krankenkasse nach ständiger Rechtsprechung des Senats nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mindert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören danach das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (stRspr, vgl zB BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 30 RdNr 12 - Lichtsignalanlage; BSG Urteil vom 8.7.2015 - B 3 KR 5/14 R - CGMS, vorgesehen für SozR 4, jeweils mwN). Zu Wertungswidersprüchen führt die Differenzierung zwischen dem unmittelbaren und dem mittelbaren Behinderungsausgleich nicht, da die durch den unmittelbaren Behinderungsausgleich bewirkte Erhaltung, Wiederherstellung oder Verbesserung einer beeinträchtigten Körperfunktion bereits als solche ein Grundbedürfnis darstellt. Beim unmittelbaren Behinderungsausgleich kommt daher der Frage nach der Erfüllung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens erst dann Bedeutung zu, wenn es nicht um die erstmalige Behebung eines Funktionsdefizits geht und auch nicht um die reine Ersatzbeschaffung, sondern um die Versorgung eines für den Behinderungsausgleich bereits ausreichend ausgestatteten Versicherten mit einem zweiten Hilfsmittel gleicher Art als Zweitausstattung, als Ausstattung für einen speziellen Zweck in Abgrenzung zur Ausstattung für das tägliche Leben oder mit einem technisch weiterentwickelten Hilfsmittel. Dabei kommt es auf den Umfang der mit dem neuen Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile an (zB computergestütztes statt mechanisches Kniegelenksystem). Dem Gegenstand nach besteht für den unmittelbaren ebenso wie für den mittelbaren Behinderungsausgleich Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch auf eine Optimalversorgung. Deshalb besteht kein Anspruch auf ein teureres Hilfsmittel, soweit die kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell in gleicher Weise geeignet ist (stRspr, vgl zB BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 26; BSGE 116, 120 = SozR 4-2500 § 33 Nr 42, RdNr 16 ff - Rauchwarnmelder; BSG Urteil vom 8.7.2015 - B 3 KR 5/14 R - CGMS, vorgesehen für SozR 4, jeweils mwN); anderenfalls sind die Mehrkosten gemäß § 33 Abs 1 Satz 5 SGB V(ebenso § 31 Abs 3 SGB IX) von dem Versicherten selbst zu tragen. Demgemäß haben die Krankenkassen nicht für solche "Innovationen" aufzukommen, die keine wesentlichen Gebrauchsvorteile für den Versicherten bewirken, sondern sich auf einen bloß besseren Komfort im Gebrauch oder eine bessere Optik beschränken (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 44 - C-Leg; BSGE 116, 120 = SozR 4-2500 § 33 Nr 42, RdNr 16 bis 20 - Rauchwarnmelder; BSG Urteil vom 8.7.2015 - B 3 KR 5/14 R - CGMS, vorgesehen für SozR 4, mwN).

19

bb) Allein aus dem Umstand, dass durch die Fingerprothese unmittelbar ein fehlendes Körperglied ersetzt wird und es daher um einen unmittelbaren Ausgleich einer körperlichen Beeinträchtigung geht, ergibt sich aber noch nicht, dass die Klägerin wegen des fehlenden Fingerendgliedes "behindert" ist. Vielmehr wird der Begriff der Behinderung in § 2 Abs 1 SGB IX ausdrücklich gesetzlich definiert und diese Begriffsdefinition gilt gemäß § 5 Nr 1, § 6 Abs 1 Nr 1 und § 31 SGB IX auch für das SGB V und damit für die Krankenkassen. Nach § 2 Abs 1 SGB IX sind Menschen teilhaberechtlich behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist(Satz 1). Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist (Satz 2). Dabei entspricht der erste Teil der Definition der "Behinderung" iS des § 2 Abs 1 Satz 1 SGB IX, also die dauerhaft regelwidrige Körperfunktion bzw das Funktionsdefizit, dem herkömmlichen rein medizinischen Behinderungsbegriff, während der zweite Teil der Definition, also die Teilhabebeeinträchtigung als Folge des Funktionsdefizits, die durch das SGB IX erfolgte Erweiterung des herkömmlichen Behinderungsbegriffs darstellt(vgl dazu auch Löbner, Der gesetzliche Behinderungsbegriff im Wandel der Zeit, Behindertenrecht 2015, 1 ff; vgl zum Ganzen auch BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 45 - Perücke; BSG Urteil vom 8.7.2015 - B 3 KR 5/14 R - CGMS, vorgesehen für SozR 4). Der Betonung der Teilhabebeeinträchtigung auch unter dem Gesichtspunkt, dass sich eine (körperliche, seelische oder geistige) Abweichung von der Regel insbesondere deshalb für die Betroffenen nachteilig auswirkt, weil die Umwelt im Hinblick auf die Bedürfnisse von Menschen ohne diese Abweichung gestaltet wird, kommt mit Rücksicht auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und dem sich aus Art 1 Abs 2 UN-BRK ergebenden Begriff der Behinderung besondere Bedeutung zu. Danach zählen zu den Menschen mit Behinderungen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. An diesem Begriff orientiert sich auch die Rechtsprechung des EuGH (vgl EuGH Urteil vom 18.12.2014 - C-354/13 - RdNr 59 - zur Kündigung wegen Adipositas). Danach wird Behinderung nicht als ein fest definiertes Konzept verstanden, sondern ist dynamisch und von den jeweiligen Wechselbeziehungen mit umweltbezogenen und personenbedingten Kontextfaktoren abhängig (Präambel lit. e) und Art 1 Abs 2 UN-BRK). Der Behinderungsbegriff entwickelt sich somit fortlaufend weiter und passt sich an die jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungen an. Daher ist jeweils im konkreten Einzelfall zu überprüfen, ob eine Beeinträchtigung der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe vorliegt. Schließlich ist zwar die Regelwidrigkeit und die Funktionsstörung nach medizinischen Maßstäben zu beurteilen, die Beeinträchtigung der Teilhabe kann jedoch auch nach soziologischen und pädagogischen Maßstäben bestimmt werden (vgl hierzu auch Papadopoulou, Anmerkung zu EuGH Urteil vom 18.12.2014 - C 354/13, Forum B, Beitrag B9-2015 unter www.reha-recht.de, 10.7.2015).

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cc) Durch das Fehlen des Zeigefingerendgliedes werden die Handfunktionen der Klägerin allenfalls geringfügig beeinträchtigt. Soweit dies bereits zu einer Teilhabebeeinträchtigung führt, kann diese jedenfalls nicht durch die begehrte Fingerprothese in einer dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechenden Weise ausgeglichen werden.

21

Regelmäßig tritt durch das Fehlen des Zeigefingerendgliedes allenfalls eine ganz geringe Funktionsbeeinträchtigung der Greif- und Haltefunktion der Hand ein. Diese bleibt bei der Feststellung des Grades einer Behinderung (vgl § 69 Abs 1 SGB IX iVm der Rechtsverordnung nach § 30 Abs 16 Bundesversorgungsgesetz - BVG) sowie bei der Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen nach dem BVG (vgl § 30 Abs 1 BVG iVm der Rechtsverordnung nach § 30 Abs 16 BVG) unberücksichtigt. Nach § 30 Abs 1 BVG ist der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Nach der Anlage zu § 2 der Rechtsverordnung, die nach § 30 Abs 16 BVG für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales erlassen wurde(Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 - VersMedV), werden der GdS und der Grad der Behinderung (GdB) nach gleichen Grundsätzen bemessen. Beide Begriffe haben die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben zum Inhalt. GdS und GdB sind ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens (Teil A 2. der Anlage zu § 2 VersMedV). Anhaltswerte für den GdS und den GdB enthält die in Teil B der Anlage zu § 2 VersMedV aufgeführte GdS-Tabelle. Danach führt der Verlust des Zeigefingers, Mittelfingers, Ringfingers oder Kleinfingers, auch mit Teilen des dazugehörigen Mittelhandknochens zu einem GdS/GdB von 10, der Verlust eines Daumens zu dem GdS/GdB von 25, aber der Verlust des Daumenendgliedes zu einem GdS/GdB von 0 (vgl unter 18.13 Schäden der oberen Gliedmaßen Teil B der Anlage zu § 2 VersMedV). Führt schon der Verlust des Daumenendgliedes nicht zu einem GdS/GdB, kann der Verlust des Zeigefingerendgliedes allenfalls mit ganz geringen Funktionsbeeinträchtigungen verbunden sein. Denn der Daumen hat die wichtigste Funktion unter den Fingern, weshalb sein Verlust zu einem erheblich höheren GdS/GdB führt als der Verlust eines anderen Fingers.

22

Die Klägerin wird durch das Fehlen des Zeigefingerendgliedes auch nicht in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft gehindert. Auch wenn sie durch die Verkürzung des Zeigefingers möglicherweise die von ihr angegebenen filigranen Greifbewegungen beim Musizieren, beim Modellbauen oder bei der Bedienung einer Computer-Tastatur oder der Maus nicht so uneingeschränkt und geschickt ausführen kann wie mit einem unversehrten Zeigefinger, so kann die begehrte Fingerprothese diese allenfalls minimale Funktions- und Teilhabebeeinträchtigung weder ausgleichen noch verringern. Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht den insoweit überzeugenden Ausführungen im Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung gefolgt ist und hierzu kein weiteres Gutachten eingeholt hat. Denn es ist nachvollziehbar, dass eine unbewegliche Fingerendgliedprothese bei den von der Klägerin angegebenen filigranen Greifbewegungen beim Musizieren, beim Modellbauen und bei der Bedienung einer Computer-Tastatur oder der Maus keine Gebrauchsvorteile bietet, die über die Nutzung einer entsprechend angefertigten Schutzkappe hinausgehen.

23

Das gleiche gilt für die von der Klägerin angegebenen Schmerzen beim Anstoßen des betroffenen Fingers an Gegenständen. Mit Empfindungsstörungen an den Fingern, besonders an Daumen und Zeigefinger, kann sogar eine wesentliche Beeinträchtigung der Gebrauchsfähigkeit der Hand verbunden sein, und Fingerstümpfe im Mittel- und Endgelenk können eine schmerzhafte Narbenbildung und ungünstige Weichteildeckung zeigen (vgl unter 18.13 Schäden der oberen Gliedmaßen Teil B der Anlage zu § 2 VersMedV). Doch stellt die begehrte Fingerprothese keine dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechende Versorgungsmöglichkeit zur Abwendung oder Verringerung von Schmerzen im Fingerstumpf dar. Denn ein Schutz vor Schmerzen beim Anstoßen an Gegenständen kann wirtschaftlicher durch eine Schutzkappe erreicht werden.

24

dd) Die Klägerin wird in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auch nicht durch eine erhebliche oder außergewöhnliche äußerliche Auffälligkeit beeinträchtigt. Eine solche teilhaberechtlich relevante äußerliche Auffälligkeit liegt erst dann vor, wenn der Betroffene aufgrund seines Erscheinungsbildes zum Objekt besonderer Beachtung anderer wird, er sich nicht mehr frei und unbefangen unter Mitmenschen bewegen kann und daher sein Rückzug aus dem Leben in der Gesellschaft droht (vgl BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 45 - Perücke).

25

Der Verlust des Zeigefingerendgliedes ist nach den Feststellungen des LSG bei der Klägerin jedoch weder eine erhebliche noch eine außergewöhnliche Auffälligkeit. Die Klägerin wird schon deshalb nicht zum Objekt besonderer Beachtung anderer, weil die Abweichung vom Normalzustand nur bei einem Blick auf die betroffene Hand sichtbar wird, die Abweichung dort nur das letzte Glied eines Fingers betrifft und es letztlich lediglich um eine Verkürzung, nicht um eine besondere Wunde oder außergewöhnliche Verwachsung oder sonstige Anomalie geht. Der Verlust dieses Fingerendgliedes kann allenfalls die Wirkung einer kleineren ästhetischen Unregelmäßigkeit entfalten, deren Beseitigung bzw Kaschierung als kosmetische Maßnahme ohne Krankheitswert in die Eigenverantwortung des Betroffenen fällt. Das freie und unbefangene Bewegen unter Mitmenschen wird dadurch nicht eingeschränkt. Ein Anspruch gegen die Krankenkasse auf die Herstellung eines völlig unversehrten Körperbildes kann dadurch nicht ausgelöst werden.

26

Insoweit ergeben sich zwischen Männern und Frauen keine Unterschiede. Während ein haarloser Kopf in der Öffentlichkeit unterschiedliche Reaktionen hervorruft, je nachdem ob ein Mann oder eine Frau betroffen ist (vgl dazu BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 45 - Perücke), löst der Verlust eines Fingergliedes nicht generell nach Geschlecht unterscheidbare Reaktionen aus. Beim Haarverlust beruht dies darauf, dass dieser bei Männern - im Gegensatz zu Frauen - ab einem bestimmten Alter ein natürlicher Vorgang ist. Bezüglich des Verlustes eines Fingergliedes bestehen solche von der Natur vorgegebenen Unterschiede zwischen Männern und Frauen nicht. Entscheidend für die Reaktionen der Öffentlichkeit auf den Verlust eines Fingergliedes sind daher in erster Linie Form, Ausmaß und Aussehen der Anomalie im Handbereich, nicht das Geschlecht des Betroffenen.

27

Der Umstand, dass die Klägerin den Verlust ihres Zeigefinderendgliedes offenbar als psychische Belastung empfindet, kann nicht den Anspruch auf die Versorgung mit einer Fingerprothese auslösen; denn es kommt auf die Erforderlichkeit des Hilfsmittels zur Beseitigung einer objektiv eingetretenen entstellenden Wirkung an (vgl zuletzt BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 45 - Perücke, mwN; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 20 RdNr 14). Selbst ein Zustand mit Krankheitswert würde die Krankenkasse lediglich zu medizinisch notwendigen Behandlungsmaßnahmen verpflichten und nicht dazu, jede vom Versicherten gewünschte, von ihm für optimal gehaltene Maßnahme zur Heilung oder Linderung des krankhaften Zustands zu gewähren. Daran hat auch das am 1.7.2001 in Kraft getretene SGB IX nichts geändert, denn in Bezug auf die Zuständigkeit des Leistungsträgers und die Leistungsvoraussetzungen verweist § 7 Satz 2 SGB IX ausdrücklich auf die speziellen Leistungsgesetze, hier also das SGB V(BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 2 RdNr 8). Danach sind die Ansprüche des Versicherten auf diejenigen Maßnahmen begrenzt, die nach objektiven Maßstäben als ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich anzusehen sind und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§ 12 Abs 1 SGB V).

28

b) Ein Anspruch kommt auch nicht zur Sicherung des Erfolgs einer Krankenbehandlung in Betracht. Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte nur dann Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Zum Anspruch auf Krankenbehandlung gehört auch die Versorgung mit Hilfsmitteln (§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V). Den Krankheiten gleichgestellt sind in weitgehendem Umfang Behinderungen (vgl § 2 Abs 1 SGB IX, § 33 SGB V). Das Gesetz macht keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Krankheiten im engeren Sinne, bei denen die Betonung auf dem regelmäßig nur vorübergehenden Charakter einer als überwindbar angesehenen Gesundheitsbeeinträchtigung liegt, und Behinderungen, die als weitgehend unabänderlich vor allem unter dem Gesichtspunkt des Ausgleichs für eine dauerhaft regelwidrige Körperfunktion die Leistungspflicht begründen können (BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 2 RdNr 6).

29

Unter einer Krankheit iS des § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V wird allgemein ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand verstanden, der ärztlicher Heilbehandlung bedarf oder - zugleich oder allein - den Betroffenen arbeitsunfähig macht(stRspr vgl zuletzt BSG Urteil vom 22.4.2015 - B 3 KR 3/14 R - Juris, mwN; sowie zB BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 10; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 4; BSGE 85, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr 11 S 38). Da aber nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit auch Krankheitswert zukommt, hat die Rechtsprechung diese Grundvoraussetzung dahingehend präzisiert, dass eine Krankheit nur vorliegt, wenn der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt (vgl zuletzt BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 45 - Perücke mwN; sowie BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 11 - zu Brustangleichungsoperationen; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 6 - zu kosmetischen Brustvergrößerungen; BSGE 93, 94 = SozR 4-2500 § 13 Nr 4, RdNr 16 - zu Feuermalen der Haut; BSGE 82, 158, 163 f = SozR 3-2500 § 39 Nr 5 S 29 f - zu einer Hodenprothese; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 2 zur Dauerpigmentierung bei fehlenden Augenbrauen und Wimpern). Der Gesetzgeber selbst hat bewusst davon abgesehen, den Begriff der Krankheit im Gesetz zu definieren, da sein Inhalt ständigen Änderungen unterliegt. Stattdessen hat er in der Gesetzbegründung Bezug genommen auf die herrschende Rechtsprechung und Praxis (Begründung des Entwurfs zum Gesundheits-Reformgesetz, BT-Drucks 11/2237, S 170). Trotz der vom Gesetzgeber angenommenen ständigen Änderungen des Krankheitsbegriffs ist aber die grundlegende Begriffsdefinition gleich geblieben. Die Anpassung an die fortschreitende medizinische Entwicklung erfolgt in der Regel im Rahmen der einzelnen Begriffsmerkmale. Die Ausweitung der therapeutischen Möglichkeiten schlägt sich insbesondere in dem Begriffsmerkmal der "Behandlungsbedürftigkeit" nieder (Fahlbusch in jurisPK-SGB V, 2. Aufl 2012, § 27 RdNr 31 und 42 mwN).

30

Der krankenversicherungsrechtliche Krankheitsbegriff ist enger als der Krankheitsbegriff im allgemein-medizinischen Sinne, der jede "Störung der Lebensvorgänge in Organen oder im gesamten Organismus mit der Folge von subjektiv empfundenen bzw objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen oder seelischen Veränderungen" bzw "eine definierbare Einheit typischer ätiologisch, morphologisch, symptomatisch oder nosologisch beschreibbarer Erscheinungen, die als eine bestimmte Erkrankung verstanden werden" umfasst. Bei dem medizinischen Krankheitsbegriff kommt es insbesondere auf Behandlungsbedürftigkeit bzw Arbeitsunfähigkeit nicht an. Ebenfalls nicht maßgeblich für das Krankenversicherungsrecht ist der weite sozialpolitische Krankheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation, die den Gegenbegriff der Gesundheit definiert als "Zustand völligen körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohlempfindens" (vgl BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 45 - Perücke; Fahlbusch, aaO, § 27 RdNr 34).

31

Das Fehlen des Zeigefingerendgliedes kann schon deshalb nicht als behandlungsbedürftige Krankheit bewertet werden, weil es - wie ausgeführt - nicht zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Körperfunktionen führt und zudem weder die Fingerprothese noch ein anderes Mittel der Krankenbehandlung der Klägerin das verlorene Zeigefingerendglied wieder zu beschaffen oder die insoweit geringfügig beeinträchtigte Körperfunktion auszugleichen vermag. Zur Behandlung möglicherweise beim Anstoßen an Gegenständen auftretender Schmerzen, denen danach Krankheitswert zukommen kann, reicht eine entsprechend angefertigte Schutzkappe aus. Auch bei der Sicherung des Erfolgs einer Krankenbehandlung ist das nach § 12 Abs 1 SGB V für alle Leistungen der GKV geltende Wirtschaftlichkeitsgebot zu berücksichtigen. Wie bereits zur Behinderung dargelegt, zeigt das Fehlen des Zeigefingerendgliedes bei der Klägerin auch keine entstellende Wirkung und ist daher auch unter diesem Gesichtspunkt nicht krankheitswertig.

32

c) Ohne entsprechende Gebrauchsvorteile und ohne den Ausgleich einer Teilhabebeeinträchtigung bewirken zu können, überschreitet die begehrte Fingerprothese die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung.Die letztlich auf einen bloß besseren Komfort und vor allem eine bessere Optik beschränkten Vorteile der Fingerendgliedprothese lösen auch dann keine Leistungspflicht der Krankenkasse aus, wenn durch das Hilfsmittel unmittelbar ein fehlendes Körperteil ersetzt wird. Nach dem Wortlaut des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V sowie des § 31 Abs 1 SGB IX fallen auch Körperersatzstücke nicht ohne Weiteres in die Leistungspflicht der Krankenversicherung, sondern nur unter den Voraussetzungen einer der drei teleologisch differenzierten Versorgungsvarianten: zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung, zur Sicherung des Erfolgs einer Krankenbehandlung oder zum Ausgleich einer Behinderung. Der Leistungsanspruch ergibt sich - soweit ausnahmsweise mit dem fehlenden Körperglied keine Funktionsbeeinträchtigung verbunden ist - nicht bereits zur Wiederherstellung der vollständigen körperlichen Integrität bzw eines vollständigen, unversehrten Körpers.

33

Liegt - wie hier - allenfalls eine unwesentliche Funktionsbeeinträchtigung vor und kann die Funktion durch das begehrte Hilfsmittel nicht weiter verbessert oder ausgeglichen werden, kann das Hilfsmittel nicht zum Behinderungsausgleich oder zur Sicherung des Erfolgs einer Krankenbehandlung erforderlich sein. Deshalb ist auch eine weniger hochwertige Fingerprothese nicht vom Versorgungsanspruch umfasst, solange damit kein funktioneller Nachteilsausgleich verbunden ist, weil die Prothese keine wesentlichen Gebrauchsvorteile, sondern lediglich einen besseren Komfort und eine bessere Optik als beispielsweise eine Schutzkappe bietet. Dem Vorbringen der Klägerin lässt sich nicht entnehmen, dass ihr Begehren hilfsweise auch eine solche Schutzkappe umfassen sollte. Dies hätte die Klägerin deutlicher zum Ausdruck bringen und hierzu insbesondere ihre Empfindungsstörungen genauer darlegen und ggf seitens der Beklagten genauer prüfen lassen müssen. Es ist ihr allerdings nicht verwehrt, dies in einem neuen Verfahren noch zu tun. Sollte sich eine Schutzkappe als erforderlich erweisen, könnte die Klägerin auch von der Möglichkeit nach § 33 Abs 1 Satz 5 SGB V Gebrauch machen und die Fingerprothese als höherwertiges Hilfsmittel wählen, wenn sie die damit verbundenen Mehrkosten selbst trägt und die Fingerendgliedprothese im Hinblick auf die Schmerzempfindlichkeit denselben Schutz bietet, wie eine Schutzkappe.

34

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 9. September 2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Kosten des Verfahrens sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Versorgung mit einer beidseitigen Mamma-Augmentationsplastik (MAP).

2

Die 1984 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin leidet an dem Camurati-Engelmann-Syndrom (CES), einer autosomal-dominant vererbten Erkrankung, die durch Ossifikationsstörungen geprägt ist. Das CES wirkte sich bei der Klägerin auch in einer deutlichen Verzögerung der Pubertät aus, weshalb die Ärzte die Klägerin ab dem 20. Lebensjahr mit einem Hormonersatzpräparat behandelten. Gleichwohl kam es zu keiner Brustentwicklung (präpubertäre Brust, Tanner-Stadium B2); lediglich die Mamillen entsprechen denen einer erwachsenen Frau. Die Beklagte lehnte nach gutachtlichen Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK), die nur eine kosmetische Indikation sahen, die Versorgung der Klägerin mit einer beidseitigen MAP ab (Bescheid vom 24.9.2012, Widerspruchsbescheid vom 24.1.2013). Mit ihrer Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Das SG hat die Beklagte verurteilt, die Klägerin mit einer MAP zu versorgen. Eine vollständig fehlende Brustanlage stelle eine behandlungsbedürftige Krankheit dar, weil das geschlechtstypische Erscheinungsbild der Frau schwer beeinträchtigt sei. Auch gebiete der allgemeine Gleichheitssatz, dass Frauen, bei denen es krankheitsbedingt zu keiner Brustentwicklung komme, nicht anders behandelt werden dürften als Frauen, die eine Brustrekonstruktion nach krebsbedingter Brustamputation (Mastektomie) erhielten. Die Kosten letzterer übernähmen aber die KKn, obwohl die Brustrekonstruktion nicht der Behandlung des Brustkrebses diene. Auch verwiesen die KKn die davon betroffenen Frauen nicht auf eine Psychotherapie anstelle der Brustrekonstruktion (Urteil vom 9.9.2015).

3

Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 27 Abs 1 S 1 SGB V. Mit der begehrten MAP würden weder - insoweit nicht vorhandene - körperliche Krankheitsbeschwerden des CES gelindert noch fehlende Körperfunktionen wiederhergestellt oder substituiert. Auch liege keine Entstellung im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung vor. Schließlich handele es sich bei einer Brustrekonstruktion nach vorausgegangener karzinombedingter Mastektomie um einen wesentlich anderen Sachverhalt. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum MAP-Anspruch von Mann-zu-Frau-Transsexuellen sei auf den vorliegenden Sachverhalt nicht entsprechend anwendbar.

4

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 9. September 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das SG die Beklagte verurteilt, eine beidseitige MAP als Naturalleistung zu gewähren. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen dahingehenden Anspruch.

8

1. Entgegen der Auffassung des SG stellt eine fehlende Brustanlage nicht schon für sich genommen eine behandlungsbedürftige Krankheit dar. Die fehlende Brustanlage ist zwar eine Krankheit (dazu a), eine MAP ist aber keine geeignete Therapie dieser Krankheit (dazu b). Eine behandlungsbedürftige Entstellung liegt nicht vor (dazu c). Die Brustoperation ist auch zur Behandlung einer - vom SG nicht festgestellten - psychischen Erkrankung nicht notwendig (dazu d). Die Klägerin kann schließlich nach dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG) iVm § 27 Abs 1 S 1 SGB V keinen Anspruch deswegen für sich herleiten, weil Versicherte nach krankheitsbedingter, namentlich krebsbedingter Mastektomie einen Anspruch auf Brustrekonstruktion haben(dazu e). Die Voraussetzungen, nach denen Mann-zu-Frau-Transsexuelle Anspruch auf Versorgung mit einer MAP haben, sind hier ohnehin nicht erfüllt (dazu f).

9

a) Die Klägerin kann nach § 27 Abs 1 S 1 SGB V Krankenbehandlung verlangen, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Krankheit im Sinne dieser Norm ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (stRspr, vgl zB BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 24 RdNr 9; BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 10; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 4; BSGE 85, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr 11 S 38; BSGE 72, 96, 98 = SozR 3-2200 § 182 Nr 14 S 64, jeweils mwN).

10

Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder dass er an einer Abweichung vom Regelfall leidet, die entstellend wirkt (stRspr, vgl zB BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14 LS und RdNr 13 f; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 6; BSGE 93, 94 = SozR 4-2500 § 13 Nr 4, RdNr 16; zu einer Hodenprothese BSGE 82, 158, 163 f = SozR 3-2500 § 39 Nr 5 S 29 f; vgl auch BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 45 S 253 f). Die Klägerin ist in der Körperfunktion, Stillen zu können, dadurch beeinträchtigt, dass sie über keine Brust mit Drüsengewebe verfügt (vgl BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 5).

11

b) Die begehrte Operation dient jedoch nicht dazu, die Funktionsbeeinträchtigung des Stillens zu behandeln. Weder soll die MAP durch fehlendes Drüsengewebe verursachte physiologische Funktionsausfälle beheben noch ist sie dazu objektiv geeignet. Vielmehr soll die MAP lediglich das Erscheinungsbild der Klägerin verändern.

12

c) Das Erscheinungsbild der Klägerin ist nicht behandlungsbedürftig. Die bei der Klägerin vorhandene anatomische Abweichung wirkt nicht entstellend.

13

aa) Um eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede körperliche Abnormität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und damit zugleich erwarten lässt, dass Betroffene ständig viele Blicke auf sich ziehen, zum Objekt besonderer Beachtung anderer werden und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen drohen, sodass deren Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist (vgl BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14 LS und RdNr 13; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 45 S 253 f).

14

Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein: Es genügt nicht allein ein markantes Gesicht oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die Ausbildung eines sechsten Fingers an einer Hand. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt (vgl BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 14; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 6). Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Rechtsordnung im Interesse der Eingliederung behinderter Menschen fordert, dass Nichtbehinderte ihre Wahrnehmung von Behinderung korrigieren müssen (vgl BSG SozR 3-3870 § 48 Nr 2 S 5 f). Die Rechtsprechung hat als Beispiele für eine Entstellung zB das Fehlen natürlichen Kopfhaares bei einer Frau (vgl BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 45 S 253 f) oder eine Wangenatrophie (vgl LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 2.5.2002 - L 5 KR 93/01 - KRS 02.021) oder Narben im Lippenbereich angenommen oder erörtert (vgl BSG SozR 3-1750 § 372 Nr 1). Dagegen hat der erkennende Senat bei der Fehlanlage eines Hodens eines männlichen Versicherten eine Entstellung nicht einmal für erörterungswürdig angesehen (vgl BSGE 82, 158, 163 f = SozR 3-2500 § 39 Nr 5) und eine Entstellung bei fehlender oder wenig ausgeprägter Brustanlage unter Berücksichtigung der außerordentlichen Vielfalt in Form und Größe der weiblichen Brust revisionsrechtlich abgelehnt (BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 6). Die Feststellung, dass im Einzelfall ein Versicherter wegen einer körperlichen Anormalität an einer Entstellung leidet, ist in erster Linie Tatfrage (vgl BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 6; BSG SozR 3-1750 § 372 Nr 1).

15

bb) Nach diesen Maßstäben ergibt sich bei der Klägerin keine Behandlungsbedürftigkeit wegen Entstellung. Allerdings hat das SG ausgehend von seiner unzutreffenden Rechtsauffassung, das vollständige Fehlen der weiblichen Brust sei in jedem Fall eine behandlungsbedürftige Krankheit (ähnlich, aber ebenfalls unzutreffend LSG Hamburg Urteil vom 2.5.2012 - L 1 KR 38/10 - Juris RdNr 23: bei Brustasymmetrie aufgrund eines Poland-Syndroms liege immer eine durch Brustaufbau zu behandelnde Krankheit vor), keine ausdrückliche Feststellung dazu getroffen, dass die Klägerin entstellt ist. Dem Gesamtzusammenhang der den Senat bindenden, nicht mit Verfahrensrügen angreifbaren Feststellungen (§ 161 Abs 4, § 163 SGG) des SG ist jedoch zu entnehmen, dass bei der Klägerin eine als Entstellung zu bewertende körperliche Auffälligkeit in Alltagssituationen für außenstehende Dritte nicht zu erkennen ist und damit die Erheblichkeitsschwelle nicht erreicht wird. Das entspricht auch der zitierten Rechtsprechung des erkennenden Senats.

16

d) Eine mögliche - vom SG im Sinne eines psychischen Leidens nicht festgestellte - psychische Belastung der Klägerin aufgrund ihres Erscheinungsbildes rechtfertigt ebenfalls keinen operativen Eingriff auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats können psychische Leiden einen Anspruch auf eine Operation zum Brustaufbau nicht begründen (vgl BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 18; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 7 ff). Hieran hält der Senat fest. Nichts anderes ergibt sich, wenn die fehlende Brustanlage zwar - wie hier - auch den Ausfall einer körperlichen Funktion mit sich bringt, durch den Eingriff aber nicht die Funktion wiederhergestellt, sondern nur das äußere, nicht entstellte Erscheinungsbild korrigiert werden soll.

17

e) Entgegen der Ansicht der Klägerin ergibt sich nichts Abweichendes aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG) im Hinblick auf Patientinnen, die sich - insbesondere im Rahmen einer Therapie von Brustkrebs - aus kurativen Gründen einer Mastektomie unterziehen und Anspruch auf eine Brustrekonstruktion mittels MAP haben.

18

Der Gleichheitssatz ist nur dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (vgl BVerfGE 133, 1 RdNr 44 mwN). So verhält es sich hier nicht. Der Anspruch einer Versicherten auf MAP-Versorgung nach Mastektomie etwa aufgrund eines Mammakarzinoms ist darin begründet, dass der Anspruch auf Krankenbehandlung durch ärztliches Handeln vorrangig darauf gerichtet ist, Erkrankte unter Wahrung ihrer körperlichen Integrität zu heilen. Wird zur Behandlung in den Körper eingegriffen, ist dieser möglichst - als Teil der einheitlichen ärztlichen Heilbehandlung - wiederherzustellen, sei es mit körpereigenem oder mit körperfremdem Material. Diese Fälle unterscheiden sich grundlegend von Eingriffen in einen nicht behandlungsbedürftigen natürlichen Körperzustand, um das nicht entstellte äußere Erscheinungsbild zu ändern.

19

f) Die Rechtsprechung des erkennenden Senats zum Anspruch auf MAP-Versorgung bei Mann-zu-Frau-Transsexualismus ist durch die Besonderheiten dieser gesetzlich besonders geregelten Krankheit geprägt und grundsätzlich nicht auf andere Sachverhalte wie den hier vorliegenden oder auch vergleichbare Fälle mit psychischer Erkrankung übertragbar (vgl nur BSGE 111, 289 = SozR 4-2500 § 27 Nr 23, RdNr 10 ff; offengelassen für die Intersexualität BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 24 RdNr 13).

20

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, daß die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind. In der Rechtsverordnung kann ferner bestimmt werden, inwieweit Versicherte in Unternehmen der Seefahrt auch in der Zeit gegen Berufskrankheiten versichert sind, in der sie an Land beurlaubt sind.

(1a) Beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ein Ärztlicher Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten gebildet. Der Sachverständigenbeirat ist ein wissenschaftliches Gremium, das das Bundesministerium bei der Prüfung der medizinischen Erkenntnisse zur Bezeichnung neuer und zur Erarbeitung wissenschaftlicher Stellungnahmen zu bestehenden Berufskrankheiten unterstützt. Bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin wird eine Geschäftsstelle eingerichtet, die den Sachverständigenbeirat bei der Erfüllung seiner Arbeit organisatorisch und wissenschaftlich, insbesondere durch die Erstellung systematischer Reviews, unterstützt. Das Nähere über die Stellung und die Organisation des Sachverständigenbeirats und der Geschäftsstelle regelt die Bundesregierung in der Rechtsverordnung nach Absatz 1.

(2) Die Unfallversicherungsträger haben eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Absatz 1 Satz 2 erfüllt sind.

(2a) Krankheiten, die bei Versicherten vor der Bezeichnung als Berufskrankheiten bereits entstanden waren, sind rückwirkend frühestens anzuerkennen

1.
in den Fällen des Absatzes 1 als Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die Bezeichnung in Kraft getreten ist,
2.
in den Fällen des Absatzes 2 wie eine Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vorgelegen haben; hat der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten eine Empfehlung für die Bezeichnung einer neuen Berufskrankheit beschlossen, ist für die Anerkennung maßgebend der Tag der Beschlussfassung.

(3) Erkranken Versicherte, die infolge der besonderen Bedingungen ihrer versicherten Tätigkeit in erhöhtem Maße der Gefahr der Erkrankung an einer in der Rechtsverordnung nach Absatz 1 genannten Berufskrankheit ausgesetzt waren, an einer solchen Krankheit und können Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden, wird vermutet, daß diese infolge der versicherten Tätigkeit verursacht worden ist.

(3a) Der Unfallversicherungsträger erhebt alle Beweise, die zur Ermittlung des Sachverhalts erforderlich sind. Dabei hat er neben den in § 21 Absatz 1 Satz 1 des Zehnten Buches genannten Beweismitteln auch Erkenntnisse zu berücksichtigen, die er oder ein anderer Unfallversicherungsträger an vergleichbaren Arbeitsplätzen oder zu vergleichbaren Tätigkeiten gewonnen hat. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen die Ermittlungen zu den Einwirkungen während der versicherten Tätigkeit dadurch erschwert sind, dass der Arbeitsplatz des Versicherten nicht mehr oder nur in veränderter Gestaltung vorhanden ist. Die Unfallversicherungsträger sollen zur Erfüllung der Aufgaben nach den Sätzen 2 und 3 einzeln oder gemeinsam tätigkeitsbezogene Expositionskataster erstellen. Grundlage für diese Kataster können die Ergebnisse aus systematischen Erhebungen, aus Ermittlungen in Einzelfällen sowie aus Forschungsvorhaben sein. Die Unfallversicherungsträger können außerdem Erhebungen an vergleichbaren Arbeitsplätzen durchführen.

(4) Besteht für Versicherte, bei denen eine Berufskrankheit anerkannt wurde, die Gefahr, dass bei der Fortsetzung der versicherten Tätigkeit die Krankheit wiederauflebt oder sich verschlimmert und lässt sich diese Gefahr nicht durch andere geeignete Mittel beseitigen, haben die Unfallversicherungsträger darauf hinzuwirken, dass die Versicherten die gefährdende Tätigkeit unterlassen. Die Versicherten sind von den Unfallversicherungsträgern über die mit der Tätigkeit verbundenen Gefahren und mögliche Schutzmaßnahmen umfassend aufzuklären. Zur Verhütung einer Gefahr nach Satz 1 sind die Versicherten verpflichtet, an individualpräventiven Maßnahmen der Unfallversicherungsträger teilzunehmen und an Maßnahmen zur Verhaltensprävention mitzuwirken; die §§ 60 bis 65a des Ersten Buches gelten entsprechend. Pflichten der Unternehmer und Versicherten nach dem Zweiten Kapitel und nach arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften bleiben hiervon unberührt. Kommen Versicherte ihrer Teilnahme- oder Mitwirkungspflicht nach Satz 3 nicht nach, können die Unfallversicherungsträger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder die Leistung einer danach erstmals festzusetzenden Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder den Anteil einer Rente, der auf eine danach eingetretene wesentliche Änderung im Sinne des § 73 Absatz 3 zurückgeht, bis zur Nachholung der Teilnahme oder Mitwirkung ganz oder teilweise versagen. Dies setzt voraus, dass infolge der fehlenden Teilnahme oder Mitwirkung der Versicherten die Teilhabeleistungen erforderlich geworden sind oder die Erwerbsminderung oder die wesentliche Änderung eingetreten ist; § 66 Absatz 3 und § 67 des Ersten Buches gelten entsprechend.

(5) Soweit Vorschriften über Leistungen auf den Zeitpunkt des Versicherungsfalls abstellen, ist bei Berufskrankheiten auf den Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Behandlungsbedürftigkeit oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, auf den Beginn der rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit abzustellen.

(6) Die Bundesregierung regelt durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates

1.
Voraussetzungen, Art und Umfang von Leistungen zur Verhütung des Entstehens, der Verschlimmerung oder des Wiederauflebens von Berufskrankheiten,
2.
die Mitwirkung der für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen bei der Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind; dabei kann bestimmt werden, daß die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen berechtigt sind, Zusammenhangsgutachten zu erstellen sowie zur Vorbereitung ihrer Gutachten Versicherte zu untersuchen oder auf Kosten der Unfallversicherungsträger andere Ärzte mit der Vornahme der Untersuchungen zu beauftragen,
3.
die von den Unfallversicherungsträgern für die Tätigkeit der Stellen nach Nummer 2 zu entrichtenden Gebühren; diese Gebühren richten sich nach dem für die Begutachtung erforderlichen Aufwand und den dadurch entstehenden Kosten.

(7) Die Unfallversicherungsträger haben die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständige Stelle über den Ausgang des Berufskrankheitenverfahrens zu unterrichten, soweit ihre Entscheidung von der gutachterlichen Stellungnahme der zuständigen Stelle abweicht.

(8) Die Unfallversicherungsträger wirken bei der Gewinnung neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere zur Fortentwicklung des Berufskrankheitenrechts mit; sie sollen durch eigene Forschung oder durch Beteiligung an fremden Forschungsvorhaben dazu beitragen, den Ursachenzusammenhang zwischen Erkrankungshäufigkeiten in einer bestimmten Personengruppe und gesundheitsschädlichen Einwirkungen im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit aufzuklären. Die Verbände der Unfallversicherungsträger veröffentlichen jährlich einen gemeinsamen Bericht über ihre Forschungsaktivitäten und die Forschungsaktivitäten der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Bericht erstreckt sich auf die Themen der Forschungsvorhaben, die Höhe der aufgewendeten Mittel sowie die Zuwendungsempfänger und Forschungsnehmer externer Projekte.

(9) Die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen dürfen zur Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind, Daten verarbeiten sowie zur Vorbereitung von Gutachten Versicherte untersuchen, soweit dies im Rahmen ihrer Mitwirkung nach Absatz 6 Nr. 2 erforderlich ist; sie dürfen diese Daten insbesondere an den zuständigen Unfallversicherungsträger übermitteln. Die erhobenen Daten dürfen auch zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren gespeichert, verändert, genutzt, übermittelt oder in der Verarbeitung eingeschränkt werden. Soweit die in Satz 1 genannten Stellen andere Ärzte mit der Vornahme von Untersuchungen beauftragen, ist die Übermittlung von Daten zwischen diesen Stellen und den beauftragten Ärzten zulässig, soweit dies im Rahmen des Untersuchungsauftrages erforderlich ist.

Gegenstand der Berufsausbildung sind mindestens die Vermittlung der folgenden Fertigkeiten und Kenntnisse:

1.
Berufsbildung, Arbeits- und Tarifrecht,
2.
Aufbau und Organisation des Ausbildungsbetriebes,
3.
Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit,
4.
Umweltschutz,
5.
Kontrollieren, Warten und Pflegen der Fahrzeuge,
6.
Vorbereiten und Durchführen der Beförderung,
7.
Verkehrssicherheit, Führen von Fahrzeugen auf öffentlichen Straßen,
8.
Rechtsvorschriften im Straßenverkehr,
9.
Kundenorientiertes Verhalten,
10.
Verhalten nach Unfällen und Zwischenfällen,
11.
Betriebliche Planung und Logistik,
12.
Beförderungsbezogene Kostenrechnung und Vertragsabwicklung,
13.
Qualitätssichernde Maßnahmen.

(1) Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, daß die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind. In der Rechtsverordnung kann ferner bestimmt werden, inwieweit Versicherte in Unternehmen der Seefahrt auch in der Zeit gegen Berufskrankheiten versichert sind, in der sie an Land beurlaubt sind.

(1a) Beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ein Ärztlicher Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten gebildet. Der Sachverständigenbeirat ist ein wissenschaftliches Gremium, das das Bundesministerium bei der Prüfung der medizinischen Erkenntnisse zur Bezeichnung neuer und zur Erarbeitung wissenschaftlicher Stellungnahmen zu bestehenden Berufskrankheiten unterstützt. Bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin wird eine Geschäftsstelle eingerichtet, die den Sachverständigenbeirat bei der Erfüllung seiner Arbeit organisatorisch und wissenschaftlich, insbesondere durch die Erstellung systematischer Reviews, unterstützt. Das Nähere über die Stellung und die Organisation des Sachverständigenbeirats und der Geschäftsstelle regelt die Bundesregierung in der Rechtsverordnung nach Absatz 1.

(2) Die Unfallversicherungsträger haben eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Absatz 1 Satz 2 erfüllt sind.

(2a) Krankheiten, die bei Versicherten vor der Bezeichnung als Berufskrankheiten bereits entstanden waren, sind rückwirkend frühestens anzuerkennen

1.
in den Fällen des Absatzes 1 als Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die Bezeichnung in Kraft getreten ist,
2.
in den Fällen des Absatzes 2 wie eine Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vorgelegen haben; hat der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten eine Empfehlung für die Bezeichnung einer neuen Berufskrankheit beschlossen, ist für die Anerkennung maßgebend der Tag der Beschlussfassung.

(3) Erkranken Versicherte, die infolge der besonderen Bedingungen ihrer versicherten Tätigkeit in erhöhtem Maße der Gefahr der Erkrankung an einer in der Rechtsverordnung nach Absatz 1 genannten Berufskrankheit ausgesetzt waren, an einer solchen Krankheit und können Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden, wird vermutet, daß diese infolge der versicherten Tätigkeit verursacht worden ist.

(3a) Der Unfallversicherungsträger erhebt alle Beweise, die zur Ermittlung des Sachverhalts erforderlich sind. Dabei hat er neben den in § 21 Absatz 1 Satz 1 des Zehnten Buches genannten Beweismitteln auch Erkenntnisse zu berücksichtigen, die er oder ein anderer Unfallversicherungsträger an vergleichbaren Arbeitsplätzen oder zu vergleichbaren Tätigkeiten gewonnen hat. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen die Ermittlungen zu den Einwirkungen während der versicherten Tätigkeit dadurch erschwert sind, dass der Arbeitsplatz des Versicherten nicht mehr oder nur in veränderter Gestaltung vorhanden ist. Die Unfallversicherungsträger sollen zur Erfüllung der Aufgaben nach den Sätzen 2 und 3 einzeln oder gemeinsam tätigkeitsbezogene Expositionskataster erstellen. Grundlage für diese Kataster können die Ergebnisse aus systematischen Erhebungen, aus Ermittlungen in Einzelfällen sowie aus Forschungsvorhaben sein. Die Unfallversicherungsträger können außerdem Erhebungen an vergleichbaren Arbeitsplätzen durchführen.

(4) Besteht für Versicherte, bei denen eine Berufskrankheit anerkannt wurde, die Gefahr, dass bei der Fortsetzung der versicherten Tätigkeit die Krankheit wiederauflebt oder sich verschlimmert und lässt sich diese Gefahr nicht durch andere geeignete Mittel beseitigen, haben die Unfallversicherungsträger darauf hinzuwirken, dass die Versicherten die gefährdende Tätigkeit unterlassen. Die Versicherten sind von den Unfallversicherungsträgern über die mit der Tätigkeit verbundenen Gefahren und mögliche Schutzmaßnahmen umfassend aufzuklären. Zur Verhütung einer Gefahr nach Satz 1 sind die Versicherten verpflichtet, an individualpräventiven Maßnahmen der Unfallversicherungsträger teilzunehmen und an Maßnahmen zur Verhaltensprävention mitzuwirken; die §§ 60 bis 65a des Ersten Buches gelten entsprechend. Pflichten der Unternehmer und Versicherten nach dem Zweiten Kapitel und nach arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften bleiben hiervon unberührt. Kommen Versicherte ihrer Teilnahme- oder Mitwirkungspflicht nach Satz 3 nicht nach, können die Unfallversicherungsträger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder die Leistung einer danach erstmals festzusetzenden Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder den Anteil einer Rente, der auf eine danach eingetretene wesentliche Änderung im Sinne des § 73 Absatz 3 zurückgeht, bis zur Nachholung der Teilnahme oder Mitwirkung ganz oder teilweise versagen. Dies setzt voraus, dass infolge der fehlenden Teilnahme oder Mitwirkung der Versicherten die Teilhabeleistungen erforderlich geworden sind oder die Erwerbsminderung oder die wesentliche Änderung eingetreten ist; § 66 Absatz 3 und § 67 des Ersten Buches gelten entsprechend.

(5) Soweit Vorschriften über Leistungen auf den Zeitpunkt des Versicherungsfalls abstellen, ist bei Berufskrankheiten auf den Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Behandlungsbedürftigkeit oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, auf den Beginn der rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit abzustellen.

(6) Die Bundesregierung regelt durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates

1.
Voraussetzungen, Art und Umfang von Leistungen zur Verhütung des Entstehens, der Verschlimmerung oder des Wiederauflebens von Berufskrankheiten,
2.
die Mitwirkung der für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen bei der Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind; dabei kann bestimmt werden, daß die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen berechtigt sind, Zusammenhangsgutachten zu erstellen sowie zur Vorbereitung ihrer Gutachten Versicherte zu untersuchen oder auf Kosten der Unfallversicherungsträger andere Ärzte mit der Vornahme der Untersuchungen zu beauftragen,
3.
die von den Unfallversicherungsträgern für die Tätigkeit der Stellen nach Nummer 2 zu entrichtenden Gebühren; diese Gebühren richten sich nach dem für die Begutachtung erforderlichen Aufwand und den dadurch entstehenden Kosten.

(7) Die Unfallversicherungsträger haben die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständige Stelle über den Ausgang des Berufskrankheitenverfahrens zu unterrichten, soweit ihre Entscheidung von der gutachterlichen Stellungnahme der zuständigen Stelle abweicht.

(8) Die Unfallversicherungsträger wirken bei der Gewinnung neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere zur Fortentwicklung des Berufskrankheitenrechts mit; sie sollen durch eigene Forschung oder durch Beteiligung an fremden Forschungsvorhaben dazu beitragen, den Ursachenzusammenhang zwischen Erkrankungshäufigkeiten in einer bestimmten Personengruppe und gesundheitsschädlichen Einwirkungen im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit aufzuklären. Die Verbände der Unfallversicherungsträger veröffentlichen jährlich einen gemeinsamen Bericht über ihre Forschungsaktivitäten und die Forschungsaktivitäten der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Bericht erstreckt sich auf die Themen der Forschungsvorhaben, die Höhe der aufgewendeten Mittel sowie die Zuwendungsempfänger und Forschungsnehmer externer Projekte.

(9) Die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen dürfen zur Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind, Daten verarbeiten sowie zur Vorbereitung von Gutachten Versicherte untersuchen, soweit dies im Rahmen ihrer Mitwirkung nach Absatz 6 Nr. 2 erforderlich ist; sie dürfen diese Daten insbesondere an den zuständigen Unfallversicherungsträger übermitteln. Die erhobenen Daten dürfen auch zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren gespeichert, verändert, genutzt, übermittelt oder in der Verarbeitung eingeschränkt werden. Soweit die in Satz 1 genannten Stellen andere Ärzte mit der Vornahme von Untersuchungen beauftragen, ist die Übermittlung von Daten zwischen diesen Stellen und den beauftragten Ärzten zulässig, soweit dies im Rahmen des Untersuchungsauftrages erforderlich ist.

(1) Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten.

(2) Verbotswidriges Handeln schließt einen Versicherungsfall nicht aus.

Gegenstand der Berufsausbildung sind mindestens die Vermittlung der folgenden Fertigkeiten und Kenntnisse:

1.
Berufsbildung, Arbeits- und Tarifrecht,
2.
Aufbau und Organisation des Ausbildungsbetriebes,
3.
Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit,
4.
Umweltschutz,
5.
Kontrollieren, Warten und Pflegen der Fahrzeuge,
6.
Vorbereiten und Durchführen der Beförderung,
7.
Verkehrssicherheit, Führen von Fahrzeugen auf öffentlichen Straßen,
8.
Rechtsvorschriften im Straßenverkehr,
9.
Kundenorientiertes Verhalten,
10.
Verhalten nach Unfällen und Zwischenfällen,
11.
Betriebliche Planung und Logistik,
12.
Beförderungsbezogene Kostenrechnung und Vertragsabwicklung,
13.
Qualitätssichernde Maßnahmen.

Das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist für Versicherte, Leistungsempfänger einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger, behinderte Menschen oder deren Sonderrechtsnachfolger nach § 56 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch kostenfrei, soweit sie in dieser jeweiligen Eigenschaft als Kläger oder Beklagte beteiligt sind. Nimmt ein sonstiger Rechtsnachfolger das Verfahren auf, bleibt das Verfahren in dem Rechtszug kostenfrei. Den in Satz 1 und 2 genannten Personen steht gleich, wer im Falle des Obsiegens zu diesen Personen gehören würde. Leistungsempfängern nach Satz 1 stehen Antragsteller nach § 55a Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative gleich. § 93 Satz 3, § 109 Abs. 1 Satz 2, § 120 Absatz 1 Satz 2 und § 192 bleiben unberührt. Die Kostenfreiheit nach dieser Vorschrift gilt nicht in einem Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2).

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.