Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 24. Jan. 2019 - L 17 U 123/14

bei uns veröffentlicht am24.01.2019
vorgehend
Sozialgericht Bayreuth, S 11 U 22/11, 18.02.2014

Gericht

Bayerisches Landessozialgericht

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 18. Februar 2014 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 1317 der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BK 1317) und einer Berufskrankheitenfolge.

Der Kläger ist 1958 geboren. Er war zunächst vom 01.09.1973 bis 09.09.1980 als Werkzeugmacher bei der L. GmbH tätig, ab 10.09.1980 bis Ende 2005 in der Wartung und Instandhaltung von Löt-Anlagen. Hierbei hatte der Kläger Umgang mit Lötmaterial, Flussmitteln bzw. Lösungsmitteln. Zum Januar 2016 wechselte der Kläger in die Abteilung Musterbau, wo er mit den genannten Materialen nicht mehr in Kontakt kam.

Am 11.06.2007 erstattete die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. bei der Beklagten eine ärztliche Anzeige bei Verdacht auf das Vorliegen einer durch langjährige Lösungsmittelexposition verursachten toxischen Erkrankung des Klägers. Beim Kläger bestehe eine Augenmuskelparese mit deutlicher Gesichtsfeldeinengung, die innerhalb der letzten Monate deutlich zugenommen habe. Die Augenmuskellähmung sei erstmals im Sommer 2005 aufgetreten.

Die Beklagte zog ärztliche Unterlagen über den Kläger bei und holte verschiedene Auskünfte, u.a. vom Arbeitgeber und dem Kläger selbst, zu dessen Arbeitsplatzbelastung ein. Danach hatte der Kläger ab 1980 als Lötmaschinenwart Kontakt zu lösemittelbasierenden Fluss- und Reinigungsmitteln (Isopropanol, Ethanol). Dabei soll der Kläger nach Angaben des Arbeitgebers im Zeitraum 1982 bis 1987 Reinigungsarbeiten mit Trihaltigen Lösemitteln durchgeführt haben. Der Arbeitgeber konnte keine genaueren Angaben über den verwandten Stoff machen. Im Zeitraum 1980 bis 1987 sei der Kläger ca. 8 Stunden pro Schicht und von 1987 bis Ende 2005 ca. 4 Stunden pro Schicht bei seiner Tätigkeit der Einwirkung von Fluss- und Lösemitteln ausgesetzt gewesen. Der Kläger gab bei seiner Befragung an, im Zeitraum 1980 bis 1988 Reinigungstätigkeiten durchgeführt zu haben. Hierbei sei wahrscheinlich Trichlorethen zum Einsatz gekommen. Der Kontakt zum Reinigungsmittel habe über Haut und Luft bestanden. Genaue Angaben zum verwandten Reinigungsmittel konnte auch der Kläger nicht machen, ebenso wenig ein ehemaliger Vorgesetzter des Klägers und ein Mitarbeiter. Die Reinigungstätigkeiten haben nach Angaben des Klägers ca. 1 bis 2 Stunden pro Schicht gedauert.

Daneben führte der Präventionsdienst der Beklagten noch Ermittlungen zu einer Bleiexposition des Klägers zur Prüfung einer BK nach Nr. 1101 der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BK 1101) durch.

Die Beklagte holte nunmehr ein wissenschaftlich begründetes arbeitsmedizinisches Fachgutachten des Professor Dr. N. (N) vom 27.05.2010 ein. Er stellte die Diagnosen: Okulomotorische Hirnnervenparesen bei cerebraler Mikroangiopathie, koronare Herzerkrankung, Adipositas. Die beim Kläger bestehenden Hirnnervenparesen seien nicht toxikologischer Natur. Ein Zusammenhang mit der beruflichen Exposition des Klägers gegenüber organischen Lösungsmitteln sei nicht gegeben. Der Kläger sei bis 1988 neurotoxisch wirkenden Lösungsmitteln ausgesetzt gewesen. Diese Exposition liege aber zu lange zurück, um die ab 2005 beim Kläger aufgetretene Symptomatik zu erklären. Vielmehr würden sich die beim Kläger bestehenden neurologischen Symptome durch die vorliegende zerebrale Mikroangiopathie erklären. Es lägen weder eine BK 1101 noch eine BK nach der Nr. 1302 der Berufskrankheiten-Verordnung (BK 1302) oder eine BK 1317 vor.

Mit Bescheid vom 16.07.2010 lehnte es die Beklagte ab, beim Kläger eine BK 1317 oder eine BK 1302 anzuerkennen. Die beim Kläger vorliegende Augenmuskelparese mit Gesichtsfeldeinengung stelle keine Berufskrankheitenfolge dar.

Gegen den Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein.

Die Beklagte holte eine ergänzende arbeitsmedizinische Stellungnahme des N vom 22.11.2010 ein und wies mit Widerspruchsbescheid vom 21.01.2011 den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben. Das SG hat die Akten der Beklagten, die ärztlichen Unterlagen der DRV Bund, die Schwerbehindertenakten, Röntgenbilder und MRT-Aufnahmen, die Krankenblätter des Bezirksklinikums B-Stadt und die Unterlagen des den Kläger behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. D. zum Verfahren beigezogen und einen Befundbericht der Augenärzte Dres. M. eingeholt.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines wissenschaftlich begründeten arbeits- und sozialmedizinischen Fachgutachtens des Professor Dr. D. (D) vom 14.12.2011 mit ergänzender Stellungnahme vom 01.02.2012. Dieser ist zu dem Ergebnis gekommen, dass beim Kläger der Ablauf eines vaskulären cerebralen Prozesses als gesichert gelten könne. Hingegen sei eine durch Expositionen am Arbeitsplatz toxisch bedingte Erkrankung des Klägers nicht wahrscheinlich. Ein isolierter Befall der Hirnnerven könne allenfalls durch eine Exposition gegenüber Trichlorethylen verursacht werden. Eine 15-jährige Latenzzeit bis zum Erkrankungsbeginn entspräche aber nicht dem Stand der Wissenschaft. Eine BK 1302 oder eine BK 1317 lägen nicht vor.

Mit Gerichtsbescheid vom 18.02.2014 hat das SG die Klage abgewiesen.

Dagegen hat der Kläger Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt.

Am 15.07.2014 hat der Senat mit den Beteiligten einen Termin zur Erörterung des Sach- und Rechtslage durchgeführt. Der Kläger hat im weiteren Verfahrensverlauf vorgetragen, gegenüber Lötstopplack exponiert gewesen zu sein, der im Zeitraum 2004-2008 von der Firma L. eingesetzt worden sei. Zudem hat er auf eine Untersuchung des BGIA-Instituts vom 13.02.2008 und eine gaschromatographisch-massenspektrometrische Analyse der bei der Pyrolyse von Leiterplatten entstehenden Produkte verwiesen.

Der Senat hat daraufhin Beweis erhoben durch Einholung eines arbeitsmedizinischen Gutachtens des D nach Aktenlage vom 21.08.2015. Dieser hat darauf hingewiesen, dass nach beiden vorliegenden Gutachten die zweifelsfreie Diagnosesicherung einer Berufskrankheit nicht gegeben sei. Nach dem Stand der Wissenschaft seien die bei der Pyrolyse entstehenden Produkte nicht als potentiell gefährlich für die Entwicklung lösemittelbedingter Erkrankungen anzusehen. In dem vom Kläger benannten Lötstopplack seien zwar neurotoxische Kohlenwasserstoffe enthalten. Die Toxizität dieser Verbindungen sei allerdings nicht sehr hoch, wie sich aus dem sehr hohen MAK-Wert ablesen lasse. Eine derart intensive Exposition beim Umgang mit Lötstopplack, dass sie potentiell gesundheitsgefährdend würde, sei aus arbeitsmedizinischer Sicht kaum vorstellbar. In einer weiteren gutachterlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 17.12.2015 hat D nochmals darauf hingewiesen, dass eine toxische Enzephalopathie beim Kläger nicht zweifelsfrei diagnostiziert werden könne. Zudem hat er in einer ergänzenden Stellungnahme nach Aktenlage vom 01.03.2016 ausgeführt, dass sich das Vorliegen einer toxischen Polyneuropathie beim Kläger ebenfalls nicht diagnostisch sichern lasse.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) wurde der Umweltmediziner Professor Dr. E. (F) mit ärztlich-wissenschaftlichem Sachverständigengutachten nach Aktenlage vom 15.10.2016 gehört. F führt aus, dass die beim Kläger vorliegende zerebrale Mikroangiopathie mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch multiple Schadstoffeinwirkungen beruflich veranlasst sei. Die BK 1317 betreffe ausdrücklich die Wirkung von Gemischen, wie sie hier vorliege, wobei keine Grenzwerte existieren würden und auch keine massive Exposition gefordert werde. Eine Auftrennung der Mitwirkungsanteile der einzelnen Stoffe in diesem chemischen Gemisch sei mit Bezug auf die kombinierte Wirkung nicht ratsam. Auch eine Bleibelastung des Klägers müsse berücksichtigt werden. Eine toxische Enzephalopathie sei beim Kläger bislang nicht ausreichend diagnostisch gesichert. Es gebe aber zahlreiche Umstände, die für die Diagnose einer toxischen Enzephalopathie und für die Diagnose einer toxischen Polyneuropathie sprächen. Umstände, die gegen diese Diagnose sprächen, liegen laut F nicht vor. Laut F komme in der Schlussfolgerung eine BK 1317 ebenso zur Anerkennung als Berufskrankheit infrage wie die BK 1302, nicht aber die BK 1101. Sollten Zweifel bestehen, sei den intensiven Zusammenhängen in der Krankheitsgeschichte des Klägers eine Anerkennung wie eine Berufskrankheit angemessen. Auf Antrag des Klägers hat F am 31.05.2017 eine ergänzende gutachtliche Stellungnahme abgegeben, in der er sich nochmals zur Toxizität von Gemischen aus Lösungsmitteln, verdünnerähnlichen und bleihaltigen Substanzen, insbesondere aber auch von Trichlorethen äußert. Insbesondere sei der Kläger infolge einer frühkindlichen Exposition gegenüber Blei bis ins jugendliche Alter hinein besonders sensitiv gegenüber solchen Gemischen gewesen. Es sei daher ohne Bedeutung, wenn sich aus Blutuntersuchungen des Klägers eine Konzentration solcher Substanzen unterhalb des BAT-Wertes oder sogar unterhalb des Wertes der Normalbevölkerung ergeben habe. Personen mit Defiziten bestimmter metabolischer Funktionen zur Entgiftung hätten allgemein eine höhere Empfänglichkeit.

Der Senat hat sodann - im Rahmen eines neurologischen Hauptgutachtens (s. dazu sogleich) - ein neuropsychologisches Zusatzgutachten der Diplom-Psychologin G. (G) vom 10.01.2018 eingeholt. Danach liegen beim Kläger gemessen an der normalen Leistungsfähigkeit eines Unversehrten gleichen Alters und Geschlechts mittelgradige Beeinträchtigungen auf neuropsychologischem Fachgebiet vor. Die geistigen, affektiven und körperlichen Beschwerden seien vom Kläger ausnahmslos auf die Exposition mit toxischen Substanzen zurückgeführt worden. Bei den Einschränkungen handele es sich um typische Defizite einer toxischen Hirnschädigung. Sie könnten jedoch wissenschaftskonform auch durch eine Mikroangiopathie, das vorliegende Schlafapnoesyndrom oder die depressive Episode erklärt werden.

Am 25.01.2018 hat der Präventionsdienst der Beklagten eine weitere Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition des Klägers im Sinne der BK 1317 vorgelegt. Hierfür wurden die Sicherheitsfachkraft der L. GmbH sowie ein ehemaliger Vorgesetzter des Klägers, ein ehemaliger Arbeitskollege des Klägers und ein ehemaliger Betriebsrat befragt. Laut Präventionsdienst ließe sich belegen, dass der Kläger im Zeitraum September 1980 bis etwa 1989 praktisch arbeitstäglich im Mittel etwa 2 Stunden massiv gegenüber 1,1,1-Trichlorethan und/oder Methylenchlorid und/oder Trichlorethylen exponiert gewesen sei, wobei die Aufnahme sowohl über die Atemwege als auch über die Haut erfolgt sei. Zusätzlich habe eine inhalative Belastung durch Alkohol (Ethanol oder Isopropanol) des Klägers bei Aufenthalten an den Lötanlagen aus den eingesetzten Flussmitteln bis 2006 fortbestanden. Die vorliegenden Messwerte aus dem Jahr 2008 sprächen für die Einhaltung der geltenden Arbeitsplatzgrenzen. Es sei daher im Zeitraum zwischen 1980 und 2006 von einer permanenten Inhalation von geringen Mengen an Alkoholdampf auszugehen. Eine Exposition des Klägers gegenüber weiteren Stoffen im Sinne der BK 1317 habe nicht festgestellt werden können. Am 17.04.2018 und am 22.06.2018 hat sich der Präventionsdienst der Beklagten aufgrund von Einwendungen des Klägers nochmals geäußert und seine Einschätzung nochmals erläutert.

Am 30.04.2018 hat der ärztliche Sachverständige Dr. G. (L) im Auftrag des Senats ein fachneurologisches Gutachten erstattet. Er kommt zu dem Ergebnis, dass beim Kläger - neben einem Schlaf-Apnoe-Syndrom und einer depressiven Erkrankung - eine Schädigung zweier okulomotorischer Hirnnerven (N. abducens links sowie N. trochlearis re.) sowie eine partielle Schädigung der Sehnerven (Nervus opticus) beidseits sowie eine Enzephalopathie mit mittelgradigen neuropsychologischen Einschränkungen vorlägen. Die Diagnose einer Polyneuropathie könne aufgrund der durchgeführten neurologischen Messungen nicht gestellt werden. Die Ursache für die Schädigung der beiden okulomotorischen Hirnnerven sei beim Kläger vaskulärer Natur. Hierfür spreche das Vorliegen von vaskulären Risikofaktoren beim Kläger wie arterieller Bluthochdruck, Hypercholesterinämie, arteriosklerotische Herzerkrankung sowie die diagnostizierte zerebrale Mikroangiopathie. Zudem könne zwar die Exposition gegenüber Trichlorethen eine Schädigung okulomotorischer Hirnnerven verursachen, allerdings würden nach dem Stand der Wissenschaft in diesem Fall, wie von N bereits ausführlich dargestellt, Hirnnervenausfälle innerhalb von 24 Stunden auftreten. Die beim Kläger vorliegende Enzephalopathie sowie die Schädigung des Sehnervs seien mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ebenfalls auf die vorliegende zerebrale Mikroangiopathie zurückzuführen. Es liege die typische Konstellation einer arteriosklerotischen Enzephalopathie vor. Zudem sei eine relevante Exposition des Klägers gegenüber Toluol, die eventuell ebenfalls eine Enzephalopathie, wie sie sich im kernspintomographischen Befund des Klägers bildlich darstellt, verursachen könnte, beim Kläger nicht belegt. Eine Exposition des Klägers gegenüber Methanol, die theoretisch zu einer Schädigung der Sehnerven führen könnte, sei ebenfalls nicht belegt. Die gesicherte Diagnose einer toxischen Neuropathie oder einer toxischen Enzephalopathie sei nicht möglich.

Nachdem der Kläger eine von ihm eingeholte Äußerung des ärztlichen Sachverständigen F vom 29.07.2018 vorgelegt hat, hat der ärztliche Sachverständige L am 13.12.2018 eine ergänzende gutachtliche Stellungnahme zu den darin vorgetragenen Einwendungen gegen sein Gutachten vom 30.04.2018 abgegeben. Er ist bei seiner gutachtlichen Bewertung verblieben.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 18.02.2014 sowie den Bescheid vom 16.07.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 21.01.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, eine Augenmuskelparese mit Gesichtsfeldeinengung bzw. eine Polyneuropathie und / oder eine Enzephalopathie als Berufskrankheit nach der Nr. 1317 der Berufskrankheiten-Liste anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.

Gründe

I.

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Streitgegenständlich ist ausweislich des Berufungsantrags des Klägers nur noch die Anerkennung einer BK 1317 mit einer Augenmuskelparese mit Gesichtsfeldeinengung als Berufskrankheitenfolge.

Verfahrensgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 16.07.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.01.2011 (§ 95 SGG). Mit diesen Bescheiden hat es die Beklagte u.a. abgelehnt, beim Kläger eine BK 1317 mit der Berufskrankheitenfolge einer Augenmuskelparese mit Gesichtsfeldeinengung anzuerkennen.

II.

Die Berufung ist nicht begründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer BK 1317 und folglich auch nicht auf Anerkennung einer daraus resultierenden Berufskrankheitenfolge „Augenmuskelparese mit Gesichtsfeldeinengung“. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 16.07.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.01.2011 ist somit rechtmäßig ergangen, der Kläger ist nicht in seinen Rechten verletzt.

Berufskrankheiten sind nach § 7 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Versicherungsfälle. Gemäß § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können (§ 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII).

Gemäß diesen Vorgaben lassen sich bei einer Listen-BK im Regelfall - und auch hier - folgende Tatbestandsmerkmale ableiten: Die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zur Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität) und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dass die berufsbedingte Erkrankung gegebenenfalls den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllenden Kausalität), ist keine Bedingung für die Feststellung einer Listen-BK (std. Rechtsprechung des BSG, vgl. u.a. BSG vom 20.03.2018 - B 2 U 5/16 R, juris Rn. 12; vom 27.06.2017 - B 2 U 17/15 R, juris Rn. 13 jeweils m.w.N.).

Die streitgegenständliche BK 1317 wird vom Verordnungsgeber folgendermaßen be-zeichnet: „Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische“. Nach dem Tatbestand der BK 1317 muss also der Versicherte auf Grund der Verrichtung einer versicherten Tätigkeit der Einwirkung von organischen Lösungsmitteln oder deren Gemische auf seinen Körper ausgesetzt gewesen sein. Durch die der versicherten Tätigkeit zuzurechnende Einwirkung müssen eine Polyneuropathie oder eine Enzephalopathie entstanden sein und noch bestehen. Zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung muss ein sachlicher Zusammenhang und zwischen dieser Einwirkung und der Erkrankung muss ein (wesentlicher) Ursachenzusammenhang bestehen.

Die „versicherte Tätigkeit“, die „Verrichtung“, die „Einwirkungen“ und die „Krankheit“ müssen im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (vgl. u.a. BSG vom 20.03.2018 - B 2 U 5/16 R, juris Rn. 12; vom 27.06.2017 - B 2 U 17/15 R, juris Rn. 13 jeweils m.w.N.). Für den Vollbeweis ist keine absolute, jeden möglichen Zweifel und jede Möglichkeit des Gegenteils ausschließende Gewissheit zu fordern, vielmehr genügt für die entsprechende richterliche Überzeugung ein der Gewissheit nahekommender Grad von Wahrscheinlichkeit (BSG vom 27.03.1958 - 8 RV 387/55, juris Rn. 16). Die volle Überzeugung wird als gegeben angesehen, wenn eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, d.h. eine Wahrscheinlichkeit besteht, die nach der Lebenserfahrung praktisch der Gewissheit gleichkommt, weil sie bei jedem vernünftigen, die Lebensverhältnisse klar überschauenden Menschen keine Zweifel mehr bestehen lässt (BSG vom 27.04.1972 - 2 RU 147/71, juris Rn. 30, Keller in Meyer Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128 Rn. 3b m.w.N.). Um eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zu bejahen, muss absolut mehr dafür als dagegen sprechen. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich eine anderen Möglichkeit ausscheiden und nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung der Möglichkeit einer beruflichen Verursachung nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber den anderen in Frage kommenden Möglichkeiten ein so deutliches Übergewicht zukommt, dass darauf die richterliche Überzeugung gestützt werden kann (s. dazu u.a. BSG vom 21.03.2006 - B 2 U 19/05 R, juris Rn. 16; vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01 B, juris Rn. 4 m.w.N.; vom 02.02.1978 - 8 RU 66/77, juris Rn. 13). Die Beweisanforderungen bei der hinreichenden Wahrscheinlichkeit sind somit höher als bei der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (Glaubhaftmachung im Sinne eines Beweismaßstabs, vgl. dazu BSG vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01 B, juris Rn. 5). Überwiegende Wahrscheinlichkeit bedeutet die gute Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können; dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet (vgl. BSG vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01 B, juris Rn. 5 und Orientierungssatz; vom 14.12.2006 - B 4 R 29/06 R, juris Rn. 116; vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R, juris Rn. 36; Keller, a.a.O., Rn. 3d m.w.N.; zum Zivilrecht BGH vom 11.09.2003 - IX ZB 37/03, juris Rn. 8; vom 15.06.1994 - IV ZB 6/94).

1. Die sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen liegen vor. Zur vollen Überzeugung des Senats steht fest, dass der Kläger im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit von 1980 bis Ende 2005 Einwirkungen i.S.d. der BK 1317 ausgesetzt war. Dies ergibt sich u.a. aus den Angaben des Klägers im Fragebogen vom 05.09.2007 und aus seinen Angaben anlässlich einer Besprechung mit dem Präventionsdienst der Beklagten am 16.10.2008 am ehemaligen Arbeitsplatz, wobei der Kläger eine handschriftliche Übersicht über seine Tätigkeiten und die dabei erfolgten Einwirkungen im Betrieb vorgelegt hat. An der Richtigkeit der Angaben hat der Senat keine Zweifel. Der Kläger war im Rahmen dieser Einwirkungen im Zeitraum 1980 bis 1989 bei Reinigungstätigkeiten einer massiven inhalativen und cutanen Einwirkung von 1,1,1-Trichlorethan ausgesetzt. Zwar hat der Kläger in seiner schriftlichen Aufzeichnung selbst lediglich den Zeitraum 1982 bis 1988 angegeben; auch die genaue Bezeichnung des verwendeten Reinigungsmittels lässt sich nicht mehr eruieren. Jedoch liegen die Feststellungen des Präventionsdienstes im Rahmen nochmaliger Ermittlungen - siehe dazu die Stellungnahme Arbeitsplatzexposition von 25.01.2018 - vor, bei denen die Angaben von ehemaligen Mitarbeitern des Klägers und der Sicherheitsfachkraft des Beschäftigungsbetriebs Berücksichtigung fanden sowie Wasseranalysen ausgewertet wurden. Aufgrund dieser Feststellungen konnte sich der Senat im Vollbeweis davon überzeugen, dass der Kläger schon ab 1980 und noch bis 1989 tri-haltige Reinigungsmittel im Betrieb verwendet hat. Nach diesem Zeitraum war der Kläger weiterhin der Einwirkung von Lösungsmitteln im Rahmen von Lötprozessen und insbesondere der dabei verwandten Flussmitteln 500-6B, 500-13, 450-13, ELR 3420, Pro 15 J, Pro 15 J-4, Pro 341, Pro 321 der Firmen Stanol, Felder und Arden ausgesetzt. Die verwendeten Flussmittel sind durch Stofflisten des Beschäftigungsbetriebs belegt.

Die Feststellung von Mindestdosen der Exposition ist für die Annahme des Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erforderlich. Das auch insofern den Stand der Wissenschaft wiedergebende Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 1317 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (Bek. des BGMS, BArbBl 3/2005, S. 49) verweist hierzu in Ziffer I. nur auf die entsprechenden Gefahrenquellen, d.h. es benennt die als gesichert neurotoxisch eingestuften Lösungsmittel, ihr Vorkommen und die Arbeiten, bei denen die Gefahr der Aufnahme dieser Stoffe durch den Körper besteht, ohne diesbezüglich irgendwelche Mindestanforderungen festzusetzen.

2. Die Gesundheitsstörungen Polyneuropathie (dazu unter a) oder Enzephalopathie (dazu unter b) i.S.d. BK 1317 sind - den durch die Literatur und die gehörten Sachverständigen vermittelten aktuellen Stand der Wissenschaft zugrunde legend - nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegeben.

a. Vorliegend ist bereits keine Polyneuropathie im weiteren Sinn - vgl. ICD-10 G60-G64 - gegeben, so dass es nicht darauf ankommt, ob sie medizinisch als „durch toxische Agenzien verursacht“ klassifiziert werden kann. Nur klarstellend stellt der Senat daher fest, dass die in der BK 1317 bezeichnete Krankheit „Polyneuropathie“ als „Polyneuropathie durch sonstige toxische Agenzien“ i.S.d. internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10. Revision (ICD-10, Version 2019) G 62.2 (im Folgenden: toxische Polyneuropathie) zu verstehen ist, dass die toxische Polyneuropathie im Vollbeweis gegeben und dann - als weitere Voraussetzung der Anerkennung der BK - mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die in der BK 1317 genannten Stoffe (organische Lösungsmittel oder deren Gemische) verursacht sein muss.

Der aktuelle Stand der medizinischen Wissenschaft zum Vorliegen einer Polyneuropathie i.S.d. BK 1317 stellt sich wie folgt dar:

Die Polyneuropathie wird in ICD-10 unter den Punkten G60-G64 zusammen mit sonstigen Krankheiten des peripheren Nervensystems geführt. ICD-10 G62.2 benennt speziell eine Polyneuropathie durch sonstige toxische Agenzien (soll das toxische Agens angegeben werden, ist eine zusätzliche Schlüsselnummer nach Kapitel XX der ICD-10 zu benutzen). Die Formulierung „sonstige“ dient hierbei der Abgrenzung zur arzneimittelinduzierten Polyneuropathie (ICD-10 G62.0) und zur Alkohol-Polyneuropathie (ICD-10 G62.1). Diese durch sonstige toxische Agenzien hervorgerufene Polyneuropathie ist als Krankheit i.S.d. BK 1317 zugrunde zu legen. Dafür spricht insbesondere auch das einschlägige Merkblatt zur BK 1317 (a.a.O.), das die Polyneuropathie i.S. dieser BK dahingehend spezifiziert, dass typisch für eine neurotoxische Polyneuropathie arm- und beinbetonte, sensible, motorische oder sensomotorische Ausfälle mit strumpf- oder handschuhförmiger Verteilung sind. Asymmetrische, multifokale, rein motorische oder autonome Neuropathien schließen eine Verursachung durch Lösungsmittel weitgehend aus. Polyneuropathien i.S. der BK 1317 sind also nur durch sonstige toxische Agenzien hervorgerufene distal-symmetrische Polyneuropathien, nicht aber asymmetrisch-multifokale Polyneuropathien (vgl. Bayerisches Landessozialgericht v. 16.12.2014 - L 18 U 364/12 ZVW, juris Rn. 27).

Unabhängig von der Frage der Verursachung lässt sich beim Kläger eine Polyneuropathie (im weiteren Sinn) schon diagnostisch nicht sichern, so dass beim Kläger auch keine durch sonstige toxische Agenzien hervorgerufene Polyneuropathie (ICD-10 G 62.2) vorliegt. Zu dieser Einschätzung gelangt der Senat aufgrund der Gutachten des ärztlichen Sachverständigen D und des ärztlichen Sachverständigen L. Der ärztliche Sachverständige D weist hierbei darauf hin, dass die beim Kläger vorliegende okulomotorische Hirnnervenparese schon definitionsgemäß nicht unter den Begriff der Polyneuropathie fällt, weil nur ein Hirnnerv beidseits betroffen ist. Im Übrigen entspräche das Krankheitsbild auch nicht dem - oben beschriebenen - Krankheitsbild einer toxischen Polyneuropathie. Auch würden die Kriterien für die Diagnose einer toxischen Polyneuropathie wie ein für das toxische Agens typisches klinisches Ausfallmuster oder eine gesicherte Exposition mit Dosisabhängigkeit des Auftretens und des Schweregrades nicht erfüllt. Auch der ärztliche Sachverständige L verneint die Diagnose einer Polyneuropathie. Denn bei der ambulanten Untersuchung des Klägers hätten sich entsprechende Veränderungen in der Nervenmessung nicht feststellen lassen. Soweit der ärztliche Sachverständige F in seinem Gutachten vom 15.10.2016 demgegenüber ausführt, für die Diagnose einer toxischen Polyneuropathie sprächen eine craniale Neuropathie neben der direkten pränarkotischen Wirkung auf Hirnnerven, brennende und kribbelnde Missempfindungen in Armen und Beinen, Pelzigkeit bzw. Taubheit in Armen und Beinen, Kraftlosigkeit bei gleichzeitigen Schmerzen in Armen und Beinen, vegetative Symptome wie Schweißausbrüche beim Essen und anschließendes Sodbrennen, Durchfallneigung und Verstopfung als ständige Begleiter der täglichen Nahrungsaufnahme, überzeugt das nicht. F belegt die von ihm genannten Diagnosen bzw. Symptome bereits nicht mit entsprechenden Befunden, sondern geht offensichtlich nur von den in den Akten wiedergegebenen anamnestischen Angaben des Klägers aus. Darüber hinaus weist der ärztliche Sachverständige L darauf hin, dass pränarkotische Symptome bei einer toxischen Wirkung auf das zentrale Nervensystem entstünden, nicht aber bei einer Einwirkung auf die Hirnnerven. Die genannten Symptome wie Schweißausbrüche, Sodbrennen, Durchfallneigung und Verstopfung seien keine spezifischen Symptome einer Polyneuropathie. Überdies konnten - wie bereits ausgeführt - bei der Nervenmessung durch den ärztlichen Sachverständigen L Nervenschädigungen im Sinne einer Polyneuropathie, die beim Kläger brennende und kribbelnde Missempfindungen in Armen und Beinen, Pelzigkeit bzw. Taubheit in Armen und Beinen und Kraftlosigkeit verursachen könnten, nicht festgestellt werden.

b. Wie bei der Polyneuropathie geht der Senat auch bei der Enzephalopathie i.S.d. BK 1317 davon aus, dass die in der BK 1317 bezeichnete Krankheit „Enzephalopathie“ als „toxische Enzephalopathie“ zu verstehen ist. Das einschlägige Merkblatt des zuständigen Bundesministeriums, das den von den Gerichten zu berücksichtigenden aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zur jeweiligen BK wiedergibt (vgl. dazu Bayerisches Landessozialgericht v. 04.02.2015 - L 2 U 430/12, juris Rn. 42), legt - ohne diesbezügliche nähere Begründung - seinen Ausführungen ebenfalls dieses Verständnis des Begriffs „Enzephalopathie“ zugrunde (Merkblatt zur BK 1317, a.a.O., u.a. S. 4 oben). Die toxische Enzephalopathie muss im Vollbeweis gegeben und dann - als weitere Voraussetzung der Anerkennung der BK - mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die in der BK 1317 genannten Stoffe (organische Lösungsmittel oder deren Gemische) verursacht sein.

Dass in der BK 1317 nur die toxische Enzephalopathie angesprochen ist, folgt aus der grammatischen, systematischen, historischen und teleologischen Auslegung der in der Verordnung vorgenommenen BK-Bezeichnung. Der Begriff „Enzephalopathie“ fungiert lediglich als Sammelbezeichnung für krankhafte Gehirnveränderungen, ohne dass damit eine Aussage über die Krankheitsursache verbunden wäre (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 267. Auflage 2017, Seite 510: „Erkrankung oder Schädigung des Gehirns vielfältiger Ätiologie“). Unterschieden wird etwa in die hypoxische, die vaskuläre, die posttraumatische oder die angeborene Enzephalopathie (vgl. Pschyrembel a.a.O.), die von der BK 1317 ganz offensichtlich nicht erfasst werden sollen. Einen Anknüpfungspunkt für die Eingrenzung des Enzephalopathiebegriffs im Sinne der BK 1317 bietet die Klassifizierung der ICD 10, die den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft widerspiegelt. Die ICD 10 benennt unter Punkt G92 die toxische Enzephalopathie und fordert, falls das toxische Agens angegeben werden soll, eine zusätzliche Schlüsselnummer nach Kapitel XX ICD 10 zu benutzen. Kapitel XX ermöglicht die Klassifizierung von Umständen als Ursache von Vergiftungen und anderen schädlichen Einwirkungen und verweist auch auf die Schlüsselnummern aus dem Kapitel 19 betreffend „Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen (S00 - T98)“. Das Klassifizierungssystem der ICD 10 zeigt, dass eine dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechende Eingrenzung des Enzephalopathiebegriffs der BK 1317 als toxische Enzephalopathie im Sinne der ICD 10 G 92 möglich und sinnvoll ist. Diese Eingrenzung entspricht auch dem Willen des Verordnungsgebers, wie er im einschlägigen Merkblatt zur BK 1317 (a.a.O.) zum Ausdruck kommt. Dieses Merkblatt des zuständigen Bundesministeriums gibt - wie bereits ausgeführt - den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand wieder und ist daher für die Bewertung der Krankheit zu beachten (vgl. LSG Bayern, a.a.O.). Dort wird die Einteilung der (im Merkblatt ausschließlich behandelten) toxischen Enzephalopathie in unterschiedliche Schweregrade erläutert. Auch werden als Differentialdiagnose zur Erkrankung i.S.d. BK 1317 explizit z.B. Multiinfarkt-Demenz und Morbus Alzheimer genannt (vgl. ICD 10 G 31.2), die ebenfalls unter den (in der BK 1317 nicht gemeinten) weiten medizinischen Begriff der Enzephalopathie fallen. Unter einer toxischen Enzephalopathie ist nach alledem eine nicht entzündliche Erkrankung oder Schädigung des Gehirns zu verstehen, die ihre Ursache in einer akuten oder chronischen Schädigung durch giftige Substanzen hat (vgl. Bayerisches Landessozialgericht v. 16.12.2014 - L 18 U 364/12 ZVW, juris Rn. 39).

Nach dem Merkblatt zur BK 1317 (a.a.O., S. 4) äußert sich eine Enzephalopathie i.S.d. BK 1317 durch diffuse Störungen der Hirnfunktion. Konzentrations- und Merkschwächen, Auffassungsschwierigkeiten, Denkstörungen, Persönlichkeitsveränderungen oft mit Antriebsarmut, Reizbarkeit und Affektstörungen verbunden, stünden im Vordergrund. Eingeteilt werde die toxische Enzephalopathie in verschiedene Schweregrade I, IIa, IIb, III. Toxische Enzephalopathien träten in der Regel noch während des Expositionszeitraumes auf. Auch Jahre nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit sei eine Zunahme der subjektiven Beschwerden sowie eine Verschlechterung der Ergebnisse psychologischer Testverfahren und der neurologischen Untersuchungsergebnisse möglich. Aus alledem folgt ausweislich des Merkblatts zur BK 1317 (a.a.O., S. 4 f.), dass die klinische Diagnose der lösungsmittelbedingten Enzephalopathie auch mehrere Jahre nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit erstmals gestellt werden kann. Die lösungsmittelbedingte Enzephalopathie kann sich nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit bessern, konstant bleiben oder verschlechtern. Eine Persistenz oder eine Verschlechterung der Erkrankung nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit schließt eine Verursachung durch Lösungsmittel nicht aus. Die Diagnose stützt sich auf die anamnestischen Angaben und den psychopathologischen Befund. Wichtige anamnestische Hinweise sind Alkoholintoleranz und häufige pränarkotische Symptome im unmittelbaren Zusammenhang mit der Lösungsmittelexposition (Benommenheit, Trunkenheit, Müdigkeit, Übelkeit, Brechreiz, aber auch Zustände von Euphorie). Der psychopathologische Befund muss durch psychologische Testverfahren objektiviert werden, die das Alter des Patienten berücksichtigen. Neurophysiologische Untersuchungen (EEG, evozierte Potentiale, Nervenleitgeschwindigkeit) sowie bildgebende Verfahren (Computertomogramm, Kernspintomogramm) ergeben bei den lösungsmittelverursachten Enzephalopathien in der Regel Normalbefunde. Sie sind jedoch für die Differentialdiagnostik von Bedeutung. Erhöhte Werte im Biomonitoring (Lösungsmittel oder deren Metabolite im Blut oder Urin) können die Diagnose stützen (vgl. Merkblatt zur BK 1317, a.a.O., Punkt III Toxische Enzephalopathie).

Unter Beachtung dieser Maßgaben kann sich der Senat, sachverständig beraten durch D und L nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon überzeugen, dass beim Kläger eine toxische Enzephalopathie nach ICD-10 G92 und somit eine BK 1317 vorliegt.

aa. Zur vollen Überzeugung des Senats leidet der Kläger an einer zerebralen Mikroangiopathie, die in der ICD-10 nach I67.9 als zerebrovaskuläre Krankheit, nicht näher bezeichnet, klassifiziert ist. Das Vorliegen diese Erkrankung ist zwischen den Gutachtern N, D, F und L auch unstrittig. Diese Erkrankung des Klägers wird unter anderem durch ein entsprechendes Krankheitsbild, das Vorliegen einer koronaren Herzerkrankung sowie einer arteriellen Hypertonie und krankheitsspezifische computer- und kernspintomographischem Befunde belegt. Der ärztliche Sachverständige L weist insoweit ergänzend darauf hin, dass allenfalls eine relevante jahrelange Exposition mit Toluol zu ähnlichen Veränderungen des Gehirns, wie sie in der MRT beim Kläger nachgewiesen seien, führen könnte. Dies hätten Untersuchungen an Personen, die einen langjährigen inhalativen Missbrauch von stark Toluolhaltigen Lösungsmitteln betrieben hätten, ergeben. Allerdings könne beim Kläger eine relevante Belastung mit Toluol nicht festgestellt werden. Die Möglichkeit einer toxischen Verursachung einer Mikroangiopathie ist, wie der ärztliche Sachverständige L ausführt, wissenschaftlich nicht belegt. Sie ergibt sich auch nicht aus dem aktuellen BK-Report der DGUV zur BK 1317 (1/2018) oder aus dem (oben zitierten) Merkblatt zur BK 1317.

Neben dem Vorliegen einer zerebralen Mikroangiopathie ist beim Kläger zudem ein Schlafapnoe-Syndrom, eine Adipositas und eine depressive Episode (ICD 10 F32.) diagnostiziert (siehe dazu das neuropsychologische Zusatzgutachten der G vom 10.01.2018 sowie das Gutachten des L vom 23.04.2018 mit ergänzender Stellungnahme vom 13.12.2018).

bb. Eine Erkrankung des Klägers an einer toxischen Enzephalopathie (ICD-10 G92) ist im Vollbeweis nicht zu belegen. Zwar hat G in ihrem neuropsychologischen Ergänzungsgutachten vom 10.01.2018 festgestellt, dass beim Kläger kognitive und emotionale Beeinträchtigungen vorliegen, wie sie auch als typische Defizite einer toxischen Hirnschädigung auftreten. Allerdings könnten diese Beeinträchtigungen wissenschaftskonform auch durch die beim Kläger vorliegende Mikroangiopathie, das Schlafapnoesyndrom und die depressive Episode erklärt werden. So hat auch der ärztliche Sachverständige D in seiner Stellungnahme vom 17.12.2015 darauf hingewiesen, dass durch ein neuropsychologisches Gutachten nur das Ausmaß und die Folgen eines Krankheitsbildes zu quantifizieren sei, hingegen für die Ursächlichkeit keine zusätzlichen Erkenntnisse bringe. Eine Hirnschädigung durch Gefäßprozesse könne zu den gleichen Folgen führen wie eine toxische Enzephalopathie. Insoweit sehen die ärztlichen Sachverständigen N, D und L die beim Kläger vorliegenden neurologischen Symptome bzw. kognitiven und emotionalen Beeinträchtigungen als ausreichend durch das vorliegende Schlafapnoe-Syndrom und die depressive Episode, insbesondere aber durch die zerebrale Mikroangiopathie im Sinne einer arteriosklerotischen mikroangiopathischen Enzephalopathie - so der ärztliche Sachverständige L. - erklärt. Dies gilt insbesondere für die vom ärztlichen Sachverständigen F (nach Aktenlage) benannten Symptome „Konzentrationsprobleme, Merkschwäche, Gedächtnisaussetzer, Wortfindungsstörungen, Sprachstörungen, Verwirrtheit, Probleme bei Texterfassung, Schlafstörungen bei unruhigem Schlaf, tagsüber ständige Müdigkeit.“ Die Gesundheitsstörungen Schlafapnoe-Syndrom, depressive Episode und zerebrale Mikroangiopathie fallen, worauf der ärztliche Sachverständige L zutreffend hinweist, im Übrigen auch unter die im aktuellen BK-Report der DGUV zur BK 1317 (1/2018) genannten Differenzialdiagnosen zur toxischen Enzephalopathie. Soweit der ärztliche Sachverständige F darüber hinaus ausführt, für das Vorliegen der Diagnose einer toxischen Enzephalopathie sprächen auch die altersmäßig vorverlegte sexuelle Dysfunktion des Klägers seit dem 45. Lebensjahr, ataktische Symptome, Stolpern beim Laufen, Anecken z.B. an Türrahmen, Treppenstolpern, Blasenstörung und Inkontinenz, Okulomotoriusstörung einseitig, dadurch bedingte Doppelbilder und Gesichtsfeldeinschränkung, belegt er diese Diagnosen und Symptome nicht anhand ärztlicher Befunde. Zudem weist der ärztliche Sachverständige L darauf hin, dass es sich bei den von F genannten Symptomen nicht um (typische) Symptome einer toxischen Enzephalopathie handelt. Dies ergibt sich auch im Vergleich mit dem vom Senat zitierten (siehe oben) Merkblatt zur BK 1317. Im Übrigen mangelt es dem Gutachten des ärztlichen Sachverständigen F an einer Auseinandersetzung mit möglichen Alternativursachen der von ihm beschriebenen Symptomatik beim Kläger.

Erhöhte Werte im Biomonitoring (Lösungsmittel oder deren Metabolite im Blut oder Urin), die für eine toxische Enzephalopathie sprechen könnten, wurden beim Kläger auch nicht festgestellt, insbesondere nicht bei Laboruntersuchungen am 16.06.2005. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger nach seinen eigenen Angaben noch der Einwirkung durch Lösungsmitteln im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit - Wartung und Instandhaltung von Lötanlagen - ausgesetzt. Gegen das Vorliegen einer toxischen Enzephalopathie beim Kläger spricht auch - worauf der Gutachter N hinweist -, dass eine Schädigung anderer Organe durch Lösemittel beim Kläger nicht belegt ist. Die bereits erwähnten Laboruntersuchungen am 16.06.2005 ergaben für die Leber des Klägers Normalwerte. Der Gutachter N sowie der ärztliche Sachverständige D weisen zudem darauf hin, dass beim Kläger - insbesondere während der festgestellten Exposition gegenüber einem neurotoxischen Lösemittel in den achtziger Jahren - keine pränarkotischen Beschwerden am Arbeitsplatz dokumentiert sind. Von den beiden Gutachtern wird zudem darauf hingewiesen, dass ein erstmaliges Auftreten von Symptomen einer Enzephalopathie ca. 14 Jahre nach Expositionsende (gegenüber 1,1,1-Trichlorethan) - Auftreten von Doppelbildern im Rahmen der Augenerkrankung des Klägers - toxikologisch nicht plausibel sei. Eine solche Latenzzeit entspräche, so die ärztlichen Sachverständigen D und L, nicht dem Stand der Wissenschaft zur neurotoxischen Wirkung von Trihaltigen Lösemitteln. Zwar kann nach dem Merkblatt zur BK 1317 (siehe oben) die klinische Diagnose der lösungsmittelbedingten Enzephalopathie auch mehrere Jahre nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit erstmals gestellt werden. Einem derart gegenüber dem Expositionsende zeitlich verzögerten Auftreten von möglichen Symptomen einer toxischen Enzephalopathie kommt aber Indizwirkung gegen die Annahme einer toxischen Enzephalopathie im Wege des Vollbeweises zu.

Soweit der Kläger auch noch nach 1989 gegenüber Lösemitteln exponiert war, spricht dies ebenfalls nicht für das Vorliegen einer toxischen Enzephalopathie. Denn sowohl der Gutachter N als auch der ärztliche Sachverständige D haben in ihren arbeitsmedizinischen Gutachten dargelegt, dass eine Exposition gegenüber Lösemitteln für diesen Zeitraum allenfalls gegenüber den in den Flussmitteln enthaltenen Bestandteilen Ethanol und Isopropanol vorgelegen habe. Nur Ethanol werde als Listenstoff der BK 1317 benannt. Eine gesundheitsgefährdende toxische Belastung des Klägers am Arbeitsplatz sei aber insoweit nicht zu belegen. Bei im Jahr 2008 an zwei Arbeitstagen durchgeführten Gefahrstoffmessungen am früheren Arbeitsplatzes des Klägers habe das Messergebnis für Ethanol 1% des zulässigen Grenzwerts betragen. Eine Belastung durch andere Lösemittel sei nicht zu ermitteln gewesen, auch nicht durch Erhitzung der im Beschäftigungsbetrieb des Klägers produzierten Leiterplatten. Der ärztliche Sachverständige D weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine Exposition gegenüber Pyrolyseprodukten nach dem Stand der Wissenschaft schon nicht als potentielle Gefahr für die Entwicklung lösemittelbedingter Erkrankungen anerkannt sei. Aus Untersuchungen solcher Produkte könne auch nicht auf die Belastung des Betroffenen geschlossen werden. Der ärztliche Sachverständige L, der im Übrigen die Ausführungen von N und D bestätigt, führt hierzu ergänzend aus, dass bei einer Untersuchung der Pyrolyseprodukte der im ehemaligen Beschäftigungsbetrieb des Klägers verwendeten Leiterplatten keine Substanzen gefunden worden seien, die im Merkblatt zur BK 1317 (siehe dazu oben) als potentielle neurotoxische Substanzen gelistet seien. Auch aus der vom Kläger angeführten Exposition gegenüber Lötstopplack ergibt sich keine derartige Gefährdung. Der ärztliche Sachverständige D weist darauf hin, dass die Toxizität dieser Verbindung nicht sehr hoch sei. Für eine potentiell gesundheitsgefährdende Exposition sei somit ein derart intensiver Umgang mit dem Lack erforderlich, dass dies aus arbeitsmedizinischer Sicht kaum vorstellbar sei. Ein solcher ist im vorliegenden Fall auch nicht zur Überzeugung des Senats belegt. Im Übrigen konnte bei den durchgeführten Blutuntersuchungen keine besondere Belastung des Klägers durch toxische Stoffe festgestellt werden. Insgesamt ist eine relevante Exposition des Klägers gegenüber neurotoxischen organischen Lösemitteln für den Zeitraum nach 1989 nicht und damit auch nicht zur vollen Überzeugung des Senats nachweisbar.

Nach alledem kann sich der Senat nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon überzeugen, dass beim Kläger eine toxische Enzephalopathie nach ICD-10 G92 vorliegt, und damit auch nicht, dass eine BK 1317 beim Kläger gegeben ist. Hieraus folgt auch, dass die beim Kläger gegebene Augenmuskelparese mit Gesichtsfeldeinengung nicht als Berufskrankheitenfolge anzuerkennen ist.

Nur hilfsweise weist der Senat darauf hin, dass eine andere Entscheidung auch nicht möglich wäre, wenn man den in der Bezeichnung der BK 1317 vom Verordnungsgeber verwandten Begriff der „Enzephalopathie“ nicht als toxische Enzephalopathie nach Maßgabe der ICD-10 verstehen würde, sondern lediglich als medizinische Sammelbezeichnung für krankhafte Gehirnveränderungen unterschiedlicher Ursache und Ausprägung. Denn auch in diesem Fall können die oben dargelegten Gesichtspunkte nicht die Überzeugung des Senats begründen, dass eine so verstandene Enzephalopathie des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf toxische Einwirkungen am Arbeitsplatz zurückzuführen ist.

Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 18.02.2014 ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.

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(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

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(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254) - SGB 7 | § 2 Versicherung kraft Gesetzes


(1) Kraft Gesetzes sind versichert 1. Beschäftigte,2. Lernende während der beruflichen Aus- und Fortbildung in Betriebsstätten, Lehrwerkstätten, Schulungskursen und ähnlichen Einrichtungen,3. Personen, die sich Untersuchungen, Prüfungen oder ähnliche

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254) - SGB 7 | § 6 Freiwillige Versicherung


(1) Auf schriftlichen oder elektronischen Antrag können sich versichern 1. Unternehmer und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner; ausgenommen sind Haushaltsführende, Unternehmer von nicht gewerbsmäßig betriebenen Binnenfisch

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 95


Hat ein Vorverfahren stattgefunden, so ist Gegenstand der Klage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat.

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(1) Die Satzung kann bestimmen, daß und unter welchen Voraussetzungen sich die Versicherung erstreckt auf1.Unternehmer und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner,2.Personen, die sich auf der Unternehmensstätte aufhalten; § 2

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254) - SGB 7 | § 9 Berufskrankheit


(1) Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254) - SGB 7 | § 7 Begriff


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(1) Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten.

(2) Verbotswidriges Handeln schließt einen Versicherungsfall nicht aus.

(1) Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, daß die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind. In der Rechtsverordnung kann ferner bestimmt werden, inwieweit Versicherte in Unternehmen der Seefahrt auch in der Zeit gegen Berufskrankheiten versichert sind, in der sie an Land beurlaubt sind.

(1a) Beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ein Ärztlicher Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten gebildet. Der Sachverständigenbeirat ist ein wissenschaftliches Gremium, das das Bundesministerium bei der Prüfung der medizinischen Erkenntnisse zur Bezeichnung neuer und zur Erarbeitung wissenschaftlicher Stellungnahmen zu bestehenden Berufskrankheiten unterstützt. Bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin wird eine Geschäftsstelle eingerichtet, die den Sachverständigenbeirat bei der Erfüllung seiner Arbeit organisatorisch und wissenschaftlich, insbesondere durch die Erstellung systematischer Reviews, unterstützt. Das Nähere über die Stellung und die Organisation des Sachverständigenbeirats und der Geschäftsstelle regelt die Bundesregierung in der Rechtsverordnung nach Absatz 1.

(2) Die Unfallversicherungsträger haben eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Absatz 1 Satz 2 erfüllt sind.

(2a) Krankheiten, die bei Versicherten vor der Bezeichnung als Berufskrankheiten bereits entstanden waren, sind rückwirkend frühestens anzuerkennen

1.
in den Fällen des Absatzes 1 als Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die Bezeichnung in Kraft getreten ist,
2.
in den Fällen des Absatzes 2 wie eine Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vorgelegen haben; hat der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten eine Empfehlung für die Bezeichnung einer neuen Berufskrankheit beschlossen, ist für die Anerkennung maßgebend der Tag der Beschlussfassung.

(3) Erkranken Versicherte, die infolge der besonderen Bedingungen ihrer versicherten Tätigkeit in erhöhtem Maße der Gefahr der Erkrankung an einer in der Rechtsverordnung nach Absatz 1 genannten Berufskrankheit ausgesetzt waren, an einer solchen Krankheit und können Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden, wird vermutet, daß diese infolge der versicherten Tätigkeit verursacht worden ist.

(3a) Der Unfallversicherungsträger erhebt alle Beweise, die zur Ermittlung des Sachverhalts erforderlich sind. Dabei hat er neben den in § 21 Absatz 1 Satz 1 des Zehnten Buches genannten Beweismitteln auch Erkenntnisse zu berücksichtigen, die er oder ein anderer Unfallversicherungsträger an vergleichbaren Arbeitsplätzen oder zu vergleichbaren Tätigkeiten gewonnen hat. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen die Ermittlungen zu den Einwirkungen während der versicherten Tätigkeit dadurch erschwert sind, dass der Arbeitsplatz des Versicherten nicht mehr oder nur in veränderter Gestaltung vorhanden ist. Die Unfallversicherungsträger sollen zur Erfüllung der Aufgaben nach den Sätzen 2 und 3 einzeln oder gemeinsam tätigkeitsbezogene Expositionskataster erstellen. Grundlage für diese Kataster können die Ergebnisse aus systematischen Erhebungen, aus Ermittlungen in Einzelfällen sowie aus Forschungsvorhaben sein. Die Unfallversicherungsträger können außerdem Erhebungen an vergleichbaren Arbeitsplätzen durchführen.

(4) Besteht für Versicherte, bei denen eine Berufskrankheit anerkannt wurde, die Gefahr, dass bei der Fortsetzung der versicherten Tätigkeit die Krankheit wiederauflebt oder sich verschlimmert und lässt sich diese Gefahr nicht durch andere geeignete Mittel beseitigen, haben die Unfallversicherungsträger darauf hinzuwirken, dass die Versicherten die gefährdende Tätigkeit unterlassen. Die Versicherten sind von den Unfallversicherungsträgern über die mit der Tätigkeit verbundenen Gefahren und mögliche Schutzmaßnahmen umfassend aufzuklären. Zur Verhütung einer Gefahr nach Satz 1 sind die Versicherten verpflichtet, an individualpräventiven Maßnahmen der Unfallversicherungsträger teilzunehmen und an Maßnahmen zur Verhaltensprävention mitzuwirken; die §§ 60 bis 65a des Ersten Buches gelten entsprechend. Pflichten der Unternehmer und Versicherten nach dem Zweiten Kapitel und nach arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften bleiben hiervon unberührt. Kommen Versicherte ihrer Teilnahme- oder Mitwirkungspflicht nach Satz 3 nicht nach, können die Unfallversicherungsträger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder die Leistung einer danach erstmals festzusetzenden Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder den Anteil einer Rente, der auf eine danach eingetretene wesentliche Änderung im Sinne des § 73 Absatz 3 zurückgeht, bis zur Nachholung der Teilnahme oder Mitwirkung ganz oder teilweise versagen. Dies setzt voraus, dass infolge der fehlenden Teilnahme oder Mitwirkung der Versicherten die Teilhabeleistungen erforderlich geworden sind oder die Erwerbsminderung oder die wesentliche Änderung eingetreten ist; § 66 Absatz 3 und § 67 des Ersten Buches gelten entsprechend.

(5) Soweit Vorschriften über Leistungen auf den Zeitpunkt des Versicherungsfalls abstellen, ist bei Berufskrankheiten auf den Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Behandlungsbedürftigkeit oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, auf den Beginn der rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit abzustellen.

(6) Die Bundesregierung regelt durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates

1.
Voraussetzungen, Art und Umfang von Leistungen zur Verhütung des Entstehens, der Verschlimmerung oder des Wiederauflebens von Berufskrankheiten,
2.
die Mitwirkung der für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen bei der Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind; dabei kann bestimmt werden, daß die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen berechtigt sind, Zusammenhangsgutachten zu erstellen sowie zur Vorbereitung ihrer Gutachten Versicherte zu untersuchen oder auf Kosten der Unfallversicherungsträger andere Ärzte mit der Vornahme der Untersuchungen zu beauftragen,
3.
die von den Unfallversicherungsträgern für die Tätigkeit der Stellen nach Nummer 2 zu entrichtenden Gebühren; diese Gebühren richten sich nach dem für die Begutachtung erforderlichen Aufwand und den dadurch entstehenden Kosten.

(7) Die Unfallversicherungsträger haben die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständige Stelle über den Ausgang des Berufskrankheitenverfahrens zu unterrichten, soweit ihre Entscheidung von der gutachterlichen Stellungnahme der zuständigen Stelle abweicht.

(8) Die Unfallversicherungsträger wirken bei der Gewinnung neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere zur Fortentwicklung des Berufskrankheitenrechts mit; sie sollen durch eigene Forschung oder durch Beteiligung an fremden Forschungsvorhaben dazu beitragen, den Ursachenzusammenhang zwischen Erkrankungshäufigkeiten in einer bestimmten Personengruppe und gesundheitsschädlichen Einwirkungen im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit aufzuklären. Die Verbände der Unfallversicherungsträger veröffentlichen jährlich einen gemeinsamen Bericht über ihre Forschungsaktivitäten und die Forschungsaktivitäten der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Bericht erstreckt sich auf die Themen der Forschungsvorhaben, die Höhe der aufgewendeten Mittel sowie die Zuwendungsempfänger und Forschungsnehmer externer Projekte.

(9) Die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen dürfen zur Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind, Daten verarbeiten sowie zur Vorbereitung von Gutachten Versicherte untersuchen, soweit dies im Rahmen ihrer Mitwirkung nach Absatz 6 Nr. 2 erforderlich ist; sie dürfen diese Daten insbesondere an den zuständigen Unfallversicherungsträger übermitteln. Die erhobenen Daten dürfen auch zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren gespeichert, verändert, genutzt, übermittelt oder in der Verarbeitung eingeschränkt werden. Soweit die in Satz 1 genannten Stellen andere Ärzte mit der Vornahme von Untersuchungen beauftragen, ist die Übermittlung von Daten zwischen diesen Stellen und den beauftragten Ärzten zulässig, soweit dies im Rahmen des Untersuchungsauftrages erforderlich ist.

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1.
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Personen, die sich Untersuchungen, Prüfungen oder ähnlichen Maßnahmen unterziehen, die aufgrund von Rechtsvorschriften zur Aufnahme einer versicherten Tätigkeit oder infolge einer abgeschlossenen versicherten Tätigkeit erforderlich sind, soweit diese Maßnahmen vom Unternehmen oder einer Behörde veranlaßt worden sind,
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behinderte Menschen, die in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen, bei einem anderen Leistungsanbieter nach § 60 des Neunten Buches oder in Blindenwerkstätten im Sinne des § 226 des Neunten Buches oder für diese Einrichtungen in Heimarbeit tätig sind,
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Personen, die
a)
Unternehmer eines landwirtschaftlichen Unternehmens sind und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner,
b)
im landwirtschaftlichen Unternehmen nicht nur vorübergehend mitarbeitende Familienangehörige sind,
c)
in landwirtschaftlichen Unternehmen in der Rechtsform von Kapital- oder Personenhandelsgesellschaften regelmäßig wie Unternehmer selbständig tätig sind,
d)
ehrenamtlich in Unternehmen tätig sind, die unmittelbar der Sicherung, Überwachung oder Förderung der Landwirtschaft überwiegend dienen,
e)
ehrenamtlich in den Berufsverbänden der Landwirtschaft tätig sind,
wenn für das Unternehmen die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft zuständig ist.
6.
Hausgewerbetreibende und Zwischenmeister sowie ihre mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner,
7.
selbständig tätige Küstenschiffer und Küstenfischer, die zur Besatzung ihres Fahrzeugs gehören oder als Küstenfischer ohne Fahrzeug fischen und regelmäßig nicht mehr als vier Arbeitnehmer beschäftigen, sowie ihre mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner,
8.
a)
Kinder während des Besuchs von Tageseinrichtungen, deren Träger für den Betrieb der Einrichtungen der Erlaubnis nach § 45 des Achten Buches oder einer Erlaubnis aufgrund einer entsprechenden landesrechtlichen Regelung bedürfen, während der Betreuung durch geeignete Tagespflegepersonen im Sinne von § 23 des Achten Buches sowie während der Teilnahme an vorschulischen Sprachförderungskursen, wenn die Teilnahme auf Grund landesrechtlicher Regelungen erfolgt,
b)
Schüler während des Besuchs von allgemein- oder berufsbildenden Schulen und während der Teilnahme an unmittelbar vor oder nach dem Unterricht von der Schule oder im Zusammenwirken mit ihr durchgeführten Betreuungsmaßnahmen,
c)
Studierende während der Aus- und Fortbildung an Hochschulen,
9.
Personen, die selbständig oder unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich im Gesundheitswesen oder in der Wohlfahrtspflege tätig sind,
10.
Personen, die
a)
für Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts oder deren Verbände oder Arbeitsgemeinschaften, für die in den Nummern 2 und 8 genannten Einrichtungen oder für privatrechtliche Organisationen im Auftrag oder mit ausdrücklicher Einwilligung, in besonderen Fällen mit schriftlicher Genehmigung von Gebietskörperschaften ehrenamtlich tätig sind oder an Ausbildungsveranstaltungen für diese Tätigkeit teilnehmen,
b)
für öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften und deren Einrichtungen oder für privatrechtliche Organisationen im Auftrag oder mit ausdrücklicher Einwilligung, in besonderen Fällen mit schriftlicher Genehmigung von öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften ehrenamtlich tätig sind oder an Ausbildungsveranstaltungen für diese Tätigkeit teilnehmen,
11.
Personen, die
a)
von einer Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts zur Unterstützung einer Diensthandlung herangezogen werden,
b)
von einer dazu berechtigten öffentlichen Stelle als Zeugen zur Beweiserhebung herangezogen werden,
12.
Personen, die in Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen oder im Zivilschutz unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich tätig sind oder an Ausbildungsveranstaltungen dieser Unternehmen einschließlich der satzungsmäßigen Veranstaltungen, die der Nachwuchsförderung dienen, teilnehmen,
13.
Personen, die
a)
bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisten oder einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retten,
b)
Blut oder körpereigene Organe, Organteile oder Gewebe spenden oder bei denen Voruntersuchungen oder Nachsorgemaßnahmen anlässlich der Spende vorgenommen werden,
c)
sich bei der Verfolgung oder Festnahme einer Person, die einer Straftat verdächtig ist oder zum Schutz eines widerrechtlich Angegriffenen persönlich einsetzen,
d)
Tätigkeiten als Notärztin oder Notarzt im Rettungsdienst ausüben, wenn diese Tätigkeiten neben
aa)
einer Beschäftigung mit einem Umfang von regelmäßig mindestens 15 Stunden wöchentlich außerhalb des Rettungsdienstes oder
bb)
einer Tätigkeit als zugelassener Vertragsarzt oder als Arzt in privater Niederlassung
ausgeübt werden,
14.
Personen, die
a)
nach den Vorschriften des Zweiten oder des Dritten Buches der Meldepflicht unterliegen, wenn sie einer besonderen, an sie im Einzelfall gerichteten Aufforderung der Bundesagentur für Arbeit, des nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 des Zweiten Buches zuständigen Trägers oder eines nach § 6a des Zweiten Buches zugelassenen kommunalen Trägers nachkommen, diese oder eine andere Stelle aufzusuchen,
b)
an einer Maßnahme teilnehmen, wenn die Person selbst oder die Maßnahme über die Bundesagentur für Arbeit, einen nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 des Zweiten Buches zuständigen Träger oder einen nach § 6a des Zweiten Buches zugelassenen kommunalen Träger gefördert wird,
15.
Personen, die
a)
auf Kosten einer Krankenkasse oder eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung oder der landwirtschaftlichen Alterskasse stationäre oder teilstationäre Behandlung oder stationäre, teilstationäre oder ambulante Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erhalten,
b)
zur Vorbereitung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auf Aufforderung eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung oder der Bundesagentur für Arbeit einen dieser Träger oder eine andere Stelle aufsuchen,
c)
auf Kosten eines Unfallversicherungsträgers an vorbeugenden Maßnahmen nach § 3 der Berufskrankheiten-Verordnung teilnehmen,
d)
auf Kosten eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung, der landwirtschaftlichen Alterskasse oder eines Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung an Präventionsmaßnahmen teilnehmen,
16.
Personen, die bei der Schaffung öffentlich geförderten Wohnraums im Sinne des Zweiten Wohnungsbaugesetzes oder im Rahmen der sozialen Wohnraumförderung bei der Schaffung von Wohnraum im Sinne des § 16 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 des Wohnraumförderungsgesetzes oder entsprechender landesrechtlicher Regelungen im Rahmen der Selbsthilfe tätig sind,
17.
Pflegepersonen im Sinne des § 19 Satz 1 und 2 des Elften Buches bei der Pflege eines Pflegebedürftigen mit mindestens Pflegegrad 2 im Sinne der §§ 14 und 15 Absatz 3 des Elften Buches; die versicherte Tätigkeit umfasst pflegerische Maßnahmen in den in § 14 Absatz 2 des Elften Buches genannten Bereichen sowie Hilfen bei der Haushaltsführung nach § 18 Absatz 5a Satz 3 Nummer 2 des Elften Buches.

(1a) Versichert sind auch Personen, die nach Erfüllung der Schulpflicht auf der Grundlage einer schriftlichen Vereinbarung im Dienst eines geeigneten Trägers im Umfang von durchschnittlich mindestens acht Wochenstunden und für die Dauer von mindestens sechs Monaten als Freiwillige einen Freiwilligendienst aller Generationen unentgeltlich leisten. Als Träger des Freiwilligendienstes aller Generationen geeignet sind inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts oder unter § 5 Abs. 1 Nr. 9 des Körperschaftsteuergesetzes fallende Einrichtungen zur Förderung gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Zwecke (§§ 52 bis 54 der Abgabenordnung), wenn sie die Haftpflichtversicherung und eine kontinuierliche Begleitung der Freiwilligen und deren Fort- und Weiterbildung im Umfang von mindestens durchschnittlich 60 Stunden je Jahr sicherstellen. Die Träger haben fortlaufende Aufzeichnungen zu führen über die bei ihnen nach Satz 1 tätigen Personen, die Art und den Umfang der Tätigkeiten und die Einsatzorte. Die Aufzeichnungen sind mindestens fünf Jahre lang aufzubewahren.

(2) Ferner sind Personen versichert, die wie nach Absatz 1 Nr. 1 Versicherte tätig werden. Satz 1 gilt auch für Personen, die während einer aufgrund eines Gesetzes angeordneten Freiheitsentziehung oder aufgrund einer strafrichterlichen, staatsanwaltlichen oder jugendbehördlichen Anordnung wie Beschäftigte tätig werden.

(3) Absatz 1 Nr. 1 gilt auch für

1.
Personen, die im Ausland bei einer amtlichen Vertretung des Bundes oder der Länder oder bei deren Leitern, Mitgliedern oder Bediensteten beschäftigt und in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 4 Absatz 1 Satz 2 des Sechsten Buches pflichtversichert sind,
2.
Personen, die
a)
im Sinne des Entwicklungshelfer-Gesetzes Entwicklungsdienst oder Vorbereitungsdienst leisten,
b)
einen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst „weltwärts” im Sinne der Richtlinie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vom 1. August 2007 (BAnz. 2008 S. 1297) leisten,
c)
einen Internationalen Jugendfreiwilligendienst im Sinne der Richtlinie Internationaler Jugendfreiwilligendienst des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 20. Dezember 2010 (GMBl S. 1778) leisten,
3.
Personen, die
a)
eine Tätigkeit bei einer zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Organisation ausüben und deren Beschäftigungsverhältnis im öffentlichen Dienst während dieser Zeit ruht,
b)
als Lehrkräfte vom Auswärtigen Amt durch das Bundesverwaltungsamt an Schulen im Ausland vermittelt worden sind oder
c)
für ihre Tätigkeit bei internationalen Einsätzen zur zivilen Krisenprävention als Sekundierte nach dem Sekundierungsgesetz abgesichert werden.
Die Versicherung nach Satz 1 Nummer 3 Buchstabe a und c erstreckt sich auch auf Unfälle oder Krankheiten, die infolge einer Verschleppung oder einer Gefangenschaft eintreten oder darauf beruhen, dass der Versicherte aus sonstigen mit seiner Tätigkeit zusammenhängenden Gründen, die er nicht zu vertreten hat, dem Einflussbereich seines Arbeitgebers oder der für die Durchführung seines Einsatzes verantwortlichen Einrichtung entzogen ist. Gleiches gilt, wenn Unfälle oder Krankheiten auf gesundheitsschädigende oder sonst vom Inland wesentlich abweichende Verhältnisse bei der Tätigkeit oder dem Einsatz im Ausland zurückzuführen sind. Soweit die Absätze 1 bis 2 weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Tätigkeit voraussetzen, gelten sie abweichend von § 3 Nr. 2 des Vierten Buches für alle Personen, die die in diesen Absätzen genannten Tätigkeiten im Inland ausüben; § 4 des Vierten Buches gilt entsprechend. Absatz 1 Nr. 13 gilt auch für Personen, die im Ausland tätig werden, wenn sie im Inland ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

(4) Familienangehörige im Sinne des Absatzes 1 Nr. 5 Buchstabe b sind

1.
Verwandte bis zum dritten Grade,
2.
Verschwägerte bis zum zweiten Grade,
3.
Pflegekinder (§ 56 Abs. 2 Nr. 2 des Ersten Buches)
der Unternehmer, ihrer Ehegatten oder ihrer Lebenspartner.

(1) Die Satzung kann bestimmen, daß und unter welchen Voraussetzungen sich die Versicherung erstreckt auf

1.
Unternehmer und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner,
2.
Personen, die sich auf der Unternehmensstätte aufhalten; § 2 Absatz 3 Satz 4 erster Halbsatz gilt entsprechend,
3.
Personen, die
a)
im Ausland bei einer staatlichen deutschen Einrichtung beschäftigt werden,
b)
im Ausland von einer staatlichen deutschen Einrichtung anderen Staaten zur Arbeitsleistung zur Verfügung gestellt werden;
Versicherungsschutz besteht nur, soweit die Personen nach dem Recht des Beschäftigungsstaates nicht unfallversichert sind,
4.
ehrenamtlich Tätige und bürgerschaftlich Engagierte,
5.
Kinder und Jugendliche während der Teilnahme an Sprachförderungskursen, wenn die Teilnahme auf Grund landesrechtlicher Regelungen erfolgt.

(2) Absatz 1 gilt nicht für

1.
Haushaltsführende,
2.
Unternehmer von nicht gewerbsmäßig betriebenen Binnenfischereien oder Imkereien und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner,
3.
Personen, die aufgrund einer vom Fischerei- oder Jagdausübungsberechtigten erteilten Erlaubnis als Fischerei- oder Jagdgast fischen oder jagen,
4.
Reeder, die nicht zur Besatzung des Fahrzeugs gehören, und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner.

(1) Auf schriftlichen oder elektronischen Antrag können sich versichern

1.
Unternehmer und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner; ausgenommen sind Haushaltsführende, Unternehmer von nicht gewerbsmäßig betriebenen Binnenfischereien, von nicht gewerbsmäßig betriebenen Unternehmen nach § 123 Abs. 1 Nr. 2 und ihre Ehegatten oder Lebenspartner sowie Fischerei- und Jagdgäste,
2.
Personen, die in Kapital- oder Personenhandelsgesellschaften regelmäßig wie Unternehmer selbständig tätig sind,
3.
gewählte oder beauftragte Ehrenamtsträger in gemeinnützigen Organisationen,
4.
Personen, die in Verbandsgremien und Kommissionen für Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften sowie anderen selbständigen Arbeitnehmervereinigungen mit sozial- oder berufspolitischer Zielsetzung (sonstige Arbeitnehmervereinigungen) ehrenamtlich tätig sind oder an Ausbildungsveranstaltungen für diese Tätigkeit teilnehmen,
5.
Personen, die ehrenamtlich für Parteien im Sinne des Parteiengesetzes tätig sind oder an Ausbildungsveranstaltungen für diese Tätigkeit teilnehmen.
In den Fällen des Satzes 1 Nummer 3 kann auch die Organisation, für die die Ehrenamtsträger tätig sind, oder ein Verband, in dem die Organisation Mitglied ist, den Antrag stellen; eine namentliche Bezeichnung der Versicherten ist in diesen Fällen nicht erforderlich. In den Fällen des Satzes 1 Nummer 4 und 5 gilt Satz 2 entsprechend.

(2) Die Versicherung beginnt mit dem Tag, der dem Eingang des Antrags folgt. Die Versicherung erlischt, wenn der Beitrag oder Beitragsvorschuß binnen zwei Monaten nach Fälligkeit nicht gezahlt worden ist. Eine Neuanmeldung bleibt so lange unwirksam, bis der rückständige Beitrag oder Beitragsvorschuß entrichtet worden ist.

(1) Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, daß die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind. In der Rechtsverordnung kann ferner bestimmt werden, inwieweit Versicherte in Unternehmen der Seefahrt auch in der Zeit gegen Berufskrankheiten versichert sind, in der sie an Land beurlaubt sind.

(1a) Beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ein Ärztlicher Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten gebildet. Der Sachverständigenbeirat ist ein wissenschaftliches Gremium, das das Bundesministerium bei der Prüfung der medizinischen Erkenntnisse zur Bezeichnung neuer und zur Erarbeitung wissenschaftlicher Stellungnahmen zu bestehenden Berufskrankheiten unterstützt. Bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin wird eine Geschäftsstelle eingerichtet, die den Sachverständigenbeirat bei der Erfüllung seiner Arbeit organisatorisch und wissenschaftlich, insbesondere durch die Erstellung systematischer Reviews, unterstützt. Das Nähere über die Stellung und die Organisation des Sachverständigenbeirats und der Geschäftsstelle regelt die Bundesregierung in der Rechtsverordnung nach Absatz 1.

(2) Die Unfallversicherungsträger haben eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Absatz 1 Satz 2 erfüllt sind.

(2a) Krankheiten, die bei Versicherten vor der Bezeichnung als Berufskrankheiten bereits entstanden waren, sind rückwirkend frühestens anzuerkennen

1.
in den Fällen des Absatzes 1 als Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die Bezeichnung in Kraft getreten ist,
2.
in den Fällen des Absatzes 2 wie eine Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, in dem die neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vorgelegen haben; hat der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten eine Empfehlung für die Bezeichnung einer neuen Berufskrankheit beschlossen, ist für die Anerkennung maßgebend der Tag der Beschlussfassung.

(3) Erkranken Versicherte, die infolge der besonderen Bedingungen ihrer versicherten Tätigkeit in erhöhtem Maße der Gefahr der Erkrankung an einer in der Rechtsverordnung nach Absatz 1 genannten Berufskrankheit ausgesetzt waren, an einer solchen Krankheit und können Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden, wird vermutet, daß diese infolge der versicherten Tätigkeit verursacht worden ist.

(3a) Der Unfallversicherungsträger erhebt alle Beweise, die zur Ermittlung des Sachverhalts erforderlich sind. Dabei hat er neben den in § 21 Absatz 1 Satz 1 des Zehnten Buches genannten Beweismitteln auch Erkenntnisse zu berücksichtigen, die er oder ein anderer Unfallversicherungsträger an vergleichbaren Arbeitsplätzen oder zu vergleichbaren Tätigkeiten gewonnen hat. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen die Ermittlungen zu den Einwirkungen während der versicherten Tätigkeit dadurch erschwert sind, dass der Arbeitsplatz des Versicherten nicht mehr oder nur in veränderter Gestaltung vorhanden ist. Die Unfallversicherungsträger sollen zur Erfüllung der Aufgaben nach den Sätzen 2 und 3 einzeln oder gemeinsam tätigkeitsbezogene Expositionskataster erstellen. Grundlage für diese Kataster können die Ergebnisse aus systematischen Erhebungen, aus Ermittlungen in Einzelfällen sowie aus Forschungsvorhaben sein. Die Unfallversicherungsträger können außerdem Erhebungen an vergleichbaren Arbeitsplätzen durchführen.

(4) Besteht für Versicherte, bei denen eine Berufskrankheit anerkannt wurde, die Gefahr, dass bei der Fortsetzung der versicherten Tätigkeit die Krankheit wiederauflebt oder sich verschlimmert und lässt sich diese Gefahr nicht durch andere geeignete Mittel beseitigen, haben die Unfallversicherungsträger darauf hinzuwirken, dass die Versicherten die gefährdende Tätigkeit unterlassen. Die Versicherten sind von den Unfallversicherungsträgern über die mit der Tätigkeit verbundenen Gefahren und mögliche Schutzmaßnahmen umfassend aufzuklären. Zur Verhütung einer Gefahr nach Satz 1 sind die Versicherten verpflichtet, an individualpräventiven Maßnahmen der Unfallversicherungsträger teilzunehmen und an Maßnahmen zur Verhaltensprävention mitzuwirken; die §§ 60 bis 65a des Ersten Buches gelten entsprechend. Pflichten der Unternehmer und Versicherten nach dem Zweiten Kapitel und nach arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften bleiben hiervon unberührt. Kommen Versicherte ihrer Teilnahme- oder Mitwirkungspflicht nach Satz 3 nicht nach, können die Unfallversicherungsträger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder die Leistung einer danach erstmals festzusetzenden Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder den Anteil einer Rente, der auf eine danach eingetretene wesentliche Änderung im Sinne des § 73 Absatz 3 zurückgeht, bis zur Nachholung der Teilnahme oder Mitwirkung ganz oder teilweise versagen. Dies setzt voraus, dass infolge der fehlenden Teilnahme oder Mitwirkung der Versicherten die Teilhabeleistungen erforderlich geworden sind oder die Erwerbsminderung oder die wesentliche Änderung eingetreten ist; § 66 Absatz 3 und § 67 des Ersten Buches gelten entsprechend.

(5) Soweit Vorschriften über Leistungen auf den Zeitpunkt des Versicherungsfalls abstellen, ist bei Berufskrankheiten auf den Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Behandlungsbedürftigkeit oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, auf den Beginn der rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit abzustellen.

(6) Die Bundesregierung regelt durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates

1.
Voraussetzungen, Art und Umfang von Leistungen zur Verhütung des Entstehens, der Verschlimmerung oder des Wiederauflebens von Berufskrankheiten,
2.
die Mitwirkung der für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen bei der Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind; dabei kann bestimmt werden, daß die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen berechtigt sind, Zusammenhangsgutachten zu erstellen sowie zur Vorbereitung ihrer Gutachten Versicherte zu untersuchen oder auf Kosten der Unfallversicherungsträger andere Ärzte mit der Vornahme der Untersuchungen zu beauftragen,
3.
die von den Unfallversicherungsträgern für die Tätigkeit der Stellen nach Nummer 2 zu entrichtenden Gebühren; diese Gebühren richten sich nach dem für die Begutachtung erforderlichen Aufwand und den dadurch entstehenden Kosten.

(7) Die Unfallversicherungsträger haben die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständige Stelle über den Ausgang des Berufskrankheitenverfahrens zu unterrichten, soweit ihre Entscheidung von der gutachterlichen Stellungnahme der zuständigen Stelle abweicht.

(8) Die Unfallversicherungsträger wirken bei der Gewinnung neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere zur Fortentwicklung des Berufskrankheitenrechts mit; sie sollen durch eigene Forschung oder durch Beteiligung an fremden Forschungsvorhaben dazu beitragen, den Ursachenzusammenhang zwischen Erkrankungshäufigkeiten in einer bestimmten Personengruppe und gesundheitsschädlichen Einwirkungen im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit aufzuklären. Die Verbände der Unfallversicherungsträger veröffentlichen jährlich einen gemeinsamen Bericht über ihre Forschungsaktivitäten und die Forschungsaktivitäten der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Bericht erstreckt sich auf die Themen der Forschungsvorhaben, die Höhe der aufgewendeten Mittel sowie die Zuwendungsempfänger und Forschungsnehmer externer Projekte.

(9) Die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen dürfen zur Feststellung von Berufskrankheiten sowie von Krankheiten, die nach Absatz 2 wie Berufskrankheiten zu entschädigen sind, Daten verarbeiten sowie zur Vorbereitung von Gutachten Versicherte untersuchen, soweit dies im Rahmen ihrer Mitwirkung nach Absatz 6 Nr. 2 erforderlich ist; sie dürfen diese Daten insbesondere an den zuständigen Unfallversicherungsträger übermitteln. Die erhobenen Daten dürfen auch zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren gespeichert, verändert, genutzt, übermittelt oder in der Verarbeitung eingeschränkt werden. Soweit die in Satz 1 genannten Stellen andere Ärzte mit der Vornahme von Untersuchungen beauftragen, ist die Übermittlung von Daten zwischen diesen Stellen und den beauftragten Ärzten zulässig, soweit dies im Rahmen des Untersuchungsauftrages erforderlich ist.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 4. November 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf Feststellung einer Gonarthrose des linken Knies als Berufskrankheit nach Nr 2112 der Anl 1 zur BKV (in Zukunft: BK 2112) ab dem 30.1.2004 hat.

2

Der im Juli 1947 geborene Kläger war während des Arbeitslebens bis Anfang September 2002 Kniebelastungen mit einer kumulativen Einwirkungsdauer von 14 840 Stunden ausgesetzt. Im September 2002 lagen bei ihm ua nach der Klassifikation von Kellgren eine lateral betonte Gonarthrose Grad III des rechten Knies sowie Retropatellararthrosen Grad III bis IV beiderseits vor. Chronische Kniegelenksbeschwerden oder Funktionsstörungen des linken Knies ließen sich erst nach dem 30.9.2002 nachweisen. Im Jahre 2010 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Feststellung einer BK 2112.

3

Die Beklagte lehnte die Gewährung von Leistungen ab, ua weil die Gonarthrose bereits vor dem Stichtag (30.9.2002) vorgelegen habe (Bescheid vom 11.1.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.8.2011). Das SG hat beide Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass der Kläger seit dem 30.1.2004 an einer BK 2112 am linken Kniegelenk leide (Urteil vom 27.8.2013).

4

Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 4.11.2015). Am rechten Kniegelenk sei eine Gonarthrose bereits vor dem 1.10.2002 sowohl in röntgenologischer als auch in klinischer Hinsicht gesichert. Dieser Erkrankungsbeginn wirke auch auf das linke Knie, obgleich Beschwerden und Funktionsstörungen dort erst nach dem 30.9.2002 belegt seien. Nach der Rechtsprechung des BSG handele es sich um eine einheitliche BK, wenn gleichartige Gesundheitsschäden an verschiedenen Organen auf dieselbe gefährdende Tätigkeit zurückzuführen seien. Führe eine einheitliche berufliche Belastung (Exposition), die sich gleichermaßen auf mehrere Zielorgane auswirke, zu einem Erkrankungsbeginn an einem Zielorgan vor dem Stichtag, sei die Annahme eines "Versicherungsfalls" nach dem Stichtag ausgeschlossen. Für diese Auffassung spreche auch, dass bei Feststellung einer BK 2112 aufgrund zunächst einseitig bestehender Symptomatik und späterem Hinzutreten einer klinischen und röntgenologischen Symptomatik am anderen Kniegelenk auch keine weitere BK anzuerkennen. Es wäre dann aufgrund einer wesentlichen Änderung nach § 48 SGB X lediglich eine weitere Folge des Versicherungsfalls anzuerkennen (und allenfalls eine ggf gewährte Verletztenrente zu erhöhen). Nur in Ausnahmefällen sei es zu rechtfertigen, das Vorliegen einer weiteren, gleichen BK festzustellen, etwa wenn nach dem Eintritt der Erkrankung an einem Zielorgan noch zusätzliche berufliche Einwirkungen im Sinne der entsprechenden BK erfolgten und dann im weiteren Verlauf an einem anderen Zielorgan eine entsprechende Erkrankung auftrete.

5

Der Kläger rügt mit seiner Revision die Verletzung des § 9 Abs 1 S 1, Abs 5 SGB VII iVm § 6 BKV. Das Wesen paariger Gelenke sei es eben, nicht eins zu sein. Selbst wenn in der Regel davon auszugehen sei, dass bei beidseitigem Knien und vergleichbarer Kniebelastung eine Gonarthrose beidseitig auftrete, sei auch eine ungleiche Betroffenheit möglich und schließe nicht per se die Anerkennung der BK 2112 im Einzelfall aus. Daher sei die Manifestation des Beschwerdebildes am rechten Kniegelenk vor dem 1.10.2002 nicht als einheitliche Erkrankung beider Kniegelenke vor dem Stichtag aufzufassen, sodass der unstreitig nicht anerkennungsfähige Schaden rechts nicht zum Ausschluss bzw "Verbrauch" des erst nach dem Stichtag eingetretenen Schadens links führe.

6

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 4. November 2015 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 27. August 2013 zurückzuweisen.

7

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und entschieden, dass keine BK 2112 des linken Kniegelenks ab dem 30.1.2004 festzustellen ist. Der Versicherungsfall der Gonarthrose ist beim Kläger am rechten Knie bereits vor dem 1.10.2002 eingetreten, sodass eine Anerkennung der Gonarthrose am linken Knie nach der Übergangsvorschrift des § 6 BKV nicht mehr möglich ist.

9

Maßgeblich ist hier die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 3 S 1 BKV idF der Vierten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (4. BKVÄndVO) vom 10.7.2017 (BGBl I 2299), die während des Revisionsverfahrens am 1.8.2017 (Art 2 aaO) in Kraft trat und § 6 Abs 2 S 1 BKV idF der 3. BKVÄndVO vom 22.12.2014 (BGBl I 2397) ersetzte, der noch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz gegolten hatte. Treten - wie hier - Rechtsänderungen nach der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz ein, so sind sie in der Revisionsinstanz zu berücksichtigen, wenn das neue Gesetz nach seinem zeitlichen Geltungswillen das streitige Rechtsverhältnis erfassen will (stRspr, vgl Senatsurteil vom 27.10.1976 - 2 RU 127/74 - BSGE 43, 1,5 = SozR 1500 § 131 Nr 4 sowie BSG vom 18.2.2016 - B 3 P 2/14 R - SozR 4-3300 § 42 Nr 1 mwN). Das ist vorliegend der Fall. Denn mit Art 1 Nr 1 Buchst b der 4. BKVÄndVO verschob die Verordnungsgeberin den bisherigen § 6 Abs 2 S 1 BKV ohne geltungserhaltende Übergangsregelung wortidentisch in den § 6 Abs 3 S 1 BKV, der seitdem alle streitigen Rechtsverhältnisse, soweit sie BKen nach Nr 2112 betreffen, regelt.

10

§ 6 Abs 3 S 1 BKV idF der 4. BKVÄndVO lautet: "Leiden Versicherte am 1. Juli 2009 an einer Krankheit nach Nummer 2112, 4114 oder 4115 der Anlage 1, ist diese auf Antrag als Berufskrankheit anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 30. September 2002 eingetreten ist." Bei dem Kläger lag der Versicherungsfall der BK 2112 bereits im September 2002 - und damit vor dem Stichtag des § 6 Abs 3 S 1 BKV - vor, weil zu diesem Zeitpunkt eine Gonarthrose am rechten Knie bereits voll ausgeprägt war(vgl hierzu unter 1.). Damit kommt im vorliegenden Fall eine Anerkennung eines (weiteren) Versicherungsfalls der Gonarthrose zum 30.1.2004 bezogen nur auf das linke Knie nicht mehr in Betracht (hierzu unter 2.).

11

1. Bei dem Kläger lag bereits im September 2002 der Versicherungsfall der Gonarthrose am rechten Knie vor.

12

Rechtsgrundlage für die Anerkennung einer BK ist § 9 Abs 1 SGB VII iVm BK 2112. Nach § 9 Abs 1 S 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als solche bezeichnet hat (sog Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Nach ständiger Senatsrechtsprechung ist für die Feststellung einer Listen-BK (Versicherungsfall) erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG vom 17.12.2015 - B 2 U 11/14 R - BSGE 120, 230 = SozR 4-2700 § 9 Nr 26, RdNr 10 und vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 10 und - B 2 U 10/14 R - BSGE 118, 255 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 RdNr 11 sowie - B 2 U 20/14 R - BSGE 118, 267 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8, RdNr 10 jeweils mwN). Der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht (BSG vom 15.5.2012 - B 2 U 31/11 R - NZS 2012, 909, Juris RdNr 34 mwN) und ernste Zweifel ausscheiden (BSG vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 3 RdNr 20). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK, wohl aber für eine Leistung (Leistungsfall).

13

Der Versicherungsfall einer Listen-BK setzt somit voraus, dass die Bundesregierung als Verordnungsgeberin die Krankheit als BK in der Anl 1 der BKV bezeichnet hat und sämtliche Merkmale dieses Tatbestandes erfüllt sind (vgl BSG vom 17.5.2011 - B 2 U 19/10 R - SozR 4-5671 § 6 Nr 5 RdNr 11 und vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 17 RdNr 12). Die Bundesregierung hat die BK 2112 mit Art 1 Nr 3 Buchst c der Zweiten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (2. BKVÄndVO) vom 11.6.2009 (BGBl I 1273) mit Wirkung zum 1.7.2009 (Art 2 aaO) in die Anl 1 der BKV eingefügt. Die BK 2112 hat folgenden Wortlaut: "Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbare Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13 000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht".

14

Eine Gonarthrose iS der BK 2112 iVm § 6 Abs 3 S 1 BKVO lag nach dem Gesamtzusammenhang der den Senat gemäß § 163 SGG bindenden, weil nicht mit Verfahrensrügen angefochtenen Feststellungen des LSG bereits im September 2002 und damit vor dem maßgeblichen Stichtag 30.9.2002 vor.

15

Dem steht nicht entgegen, dass § 6 Abs 3 S 1 BKV von einem "Versicherungsfall nach dem 30.9.2002" spricht. Denn die Verordnungsgeberin verwendet den Begriff des Versicherungsfalls nicht iSd gesetzlichen Bedeutung des § 7 Abs 1 SGB VII, sondern untechnisch und gleichbedeutend mit "Erkrankung"(BSG vom 17.5.2011- B 2 U 19/10 R - SozR 4-5671 § 6 Nr 5 RdNr 15). Der Versicherungsfall einer BK kann erst dann eintreten, wenn die BK durch Aufnahme in die Anl 1 zur BKV überhaupt rechtlich existent geworden ist. Die BK 2112 ist aber erst mit Wirkung zum 1.7.2009 (Art 2 der 2. BKVÄndVO) in die Anl 1 zur BKV aufgenommen worden und damit in Kraft getreten, sodass ein davor eingetretener Versicherungsfall ausscheidet. Folglich kann bei wirkungserhaltender Auslegung (vgl dazu zB Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl 1991, S 444; Kramer, Juristische Methodenlehre, 5. Aufl 2016, S 109; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2017, § 5 RdNr 53; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2016, RdNr 327) des § 6 Abs 3 S 1 BKV mit dem dort verwendeten Begriff des Versicherungsfalls nur der "Erkrankungsfall" gemeint sein(BSG vom 17.5.2011 - B 2 U 19/10 R - SozR 4-5671 § 6 Nr 5 RdNr 15).

16

Der Erkrankungsfall der "Gonarthrose" tritt ein, sobald ein Kniegelenk die diagnostischen Krite-rien dieser Krankheit erfüllt, weil es sich bei den Verschleißerscheinungen an den Kniegelenken um einen einheitlichen Erkrankungsfall handelt. Der Versicherungsfall der Gonarthrose setzt mithin nicht voraus, dass an beiden Knien eine Erkrankung vorliegt. Dafür spricht bereits, dass der Tatbestand der BK 2112 knieübergreifend von einer "Gonarthrose" spricht, ohne dabei zwischen den beiden Kniegelenken zu differenzieren, und gleichzeitig für die Verschleißerkrankung beider Kniegelenke dieselbe Krankheitsbezeichnung verwendet. Zudem entspricht es der Systematik der GUV, mehrere Gesundheitsstörungen - selbst wenn es sich um medizinisch voneinander unabhängige Gesundheitsschäden handelt - als eine einheitliche BK und damit auch als einheitlichen Erkrankungsfall zu behandeln, wenn sie auf derselben Ursache bzw wesentlichen Bedingung beruhen, dh auf ein und dieselbe gefährdende Tätigkeit zurückzuführen sind (BSG vom 18.12.1990 - 8 RKnU 2/90 - SozR 3-2200 § 592 Nr 1 und vom 24.8.1978 - 5 RKnU 6/77 - SozR 5677 Anl 1 Nr 42 Nr 1).

17

Der Erkrankungsfall der BK 2112 - die "Gonarthrose" - lag betreffend das rechte Knie im September 2002 vor, was letztlich auch vom Kläger selbst nicht in Frage gestellt wird. Hierfür müssen die Kriterien vorliegen, die nach den aktuellen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Diagnose sichern. Das Recht knüpft damit an den medizinischen Diagnosebegriff und die dazu entwickelten Kriterien an (s BSG vom 27.6.2017 - B 2 U 17/15 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3102 Nr 1 sowie vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 22, vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20 und vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1, RdNr 15 zum Kehlkopfkarzinom nach ionisierenden Strahlen). Dabei sind zur Ermittlung des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands und als Interpretationshilfe die Merkblätter heranzuziehen (BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 20/14 R - BSGE 118, 267 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8 RdNr 15, vom 12.4.2005 - B 2 U 6/04 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 5 RdNr 8 vom 2.5.2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 85; BSG vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1, RdNr 17 mwN), auch wenn sie weder verbindliche Konkretisierungen der Tatbestandsvoraussetzungen der BK noch antizipierte Sachverständigengutachten oder eine Dokumentation des Standes der einschlägigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft sind (BSG vom 27.6.2017 - B 2 U 17/15 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3102 Nr 1 sowie vom 11.8.1998 - B 2 U 261/97 B - HVBG-INFO 1999, 1373).

18

Nach dem Merkblatt zur BK 2112 (Bekanntmachung des BMGS vom 30.12.2009, GMBl 2010, 98) hat die Diagnose einer Gonarthrose folgende Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen:

-       

chronische Kniegelenksbeschwerden,

-       

Funktionsstörungen bei der orthopädischen Untersuchung in Form einer eingeschränkten Streckung oder Beugung im Kniegelenk und

-       

die röntgenologische Diagnose einer Gonarthrose entsprechend Grad 2 - 4 der Klassifikation von Kellgren ua.

19

Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG wurden diese Diagnosekriterien am Stichtag (30.9.2002) erfüllt, auch wenn das LSG seine "Subsumtion" nicht in allen Nuancen im Urteil wiedergegeben hat.

20

2. Dass beim Kläger später - zum 30.1.2004 - auch am linken Knie ein voll ausgeprägtes Krankheitsbild der Gonarthrose auftrat, vermag nichts daran zu ändern, dass der Versicherungsfall der Gonarthrose iS des § 6 Abs 3 S 1 BKV bezogen auf das rechte Knie bereits vor dem Stichtag vorlag, weshalb eine Anerkennung einer BK 2112 nur des linken Knies zu diesem späteren Zeitpunkt nicht mehr möglich ist. Zum Zustand des linken Knies am Stichtag hat das LSG bindend festgestellt, dass "zeitnah zum röntgenologischen Nachweis einer entsprechenden Arthrose im September 2002 keine funktionellen Beeinträchtigungen in Form von chronischen Kniegelenksbeschwerden oder Funktionsstörungen aktenkundig" sind und der Vollbeweis einer Gonarthrose links am 30.9.2002 somit nicht erbracht ist.

21

Dies ändert freilich nichts daran, dass bezogen auf das rechte Knie der Erkrankungsfall der Gonarthrose vor dem Stichtag bindend festgestellt ist (s soeben unter 1.) und damit die "Erkrankung Gonarthrose" iS der BK 2112 insgesamt bereits vor dem Stichtag vorlag. Wie ausgeführt, setzt die BK 2112 nicht zwingend voraus, dass beide Knie gleichzeitig erkranken. Die Frage, ob bei einer sukzessiven Erkrankung beider Knie versicherungsrechtlich ein einheitlicher Erkrankungsfall vorliegt, kann nur mit Blick auf die gefährdende Tätigkeit (die schädigenden Einwirkungen) beantwortet werden (BSG vom 18.12.1990 - 8 RKnU 2/90 - SozR 3-2200 § 592 Nr 1 und vom 24.8.1978 - 5 RKnU 6/77 - SozR 5677 Anl 1 Nr 42 Nr 1). Es kommt mithin darauf an, ob die Gonarthrose des einen Knies auf denselben oder aber auf anderen, davon unabhängigen Belastungen als die Gonarthrose des anderen Knies beruht. Auch wenn faktisch und in aller Regel nur die gesamte Kniebelastung während des Arbeitslebens zu "einer kumulativen Einwirkungsdauer … von mindestens 13 000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht" führen wird, ist - jedenfalls theoretisch - nicht völlig auszuschließen, dass sich in besonders gelagerten Einzelfällen feststellen lässt, dass die Schäden an den einzelnen Knien auf voneinander unabhängige Einwirkungen zurückzuführen sind, sodass sie ausnahmsweise als selbständige Erkrankungsfälle anzusehen wären. So erwähnt auch das Merkblatt zur BK 2112 in der Bekanntmachung des BMGS vom 30.12.2009, GMBl 2010, 98, zB überwiegend einseitige Kniebelastungen (ebenso zutreffend SG München vom 23.9.2015 - S 33 U 572/12). Im vorliegenden Fall trifft das jedoch nicht zu. Die vom Kläger ausgeübten gefährdenden Tätigkeiten bilden eine Einheit und können nur insgesamt sowohl für die Gonarthrose rechts als auch links ursächlich sein, weil die kumulative Einwirkungsdauer von mindestens 13 000 Stunden nach den unangefochtenen und damit bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) lediglich um 1840 Stunden überschritten ist und der Kläger nach dem Jahre 2002 seine Tätigkeit offenbar vollständig aufgegeben hat. Eine erneute nur das linke Knie schädigende Exposition nach der Gonarthrose am rechten Knie scheidet daher aus. Eine damit nur in Frage kommende Belastungsdosis von 1840 Stunden genügt indes nicht, um überhaupt denkbar einen eigenständigen Erkrankungsfall nach dem 1.10.2002 isoliert herbeizuführen. Wären die Gonarthrosen an beiden Knien hier sukzessive, aber beide nach dem Stichtag eingetreten, so wäre für das linke Knie nur eine Erhöhung der MdE gemäß § 48 Abs 1 SGB X als Folge der bereits anerkannten Gonarthrose rechts in Betracht gekommen und gerade keine Anerkennung einer zweiten, neuen BK 2112, weil es insofern an der hinreichenden Kniebelastung (Exposition) gefehlt hätte.

22

Der Senat hat im Übrigen keine Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Übergangsvorschrift des § 6 Abs 3 S 1 BKV. Bei der Einführung neuer BKen darf der Verordnungsgeber die Anerkennung von Erkrankungen, die vor einem Stichtag liegen, grundsätzlich ausschließen (BSG vom 24.2.2000 - B 2 U 43/98 - SozR 3-2200 § 551 Nr 14). Das BVerfG hat (Beschluss vom 9.10.2000 - 1 BvR 791/95 - SozR 3-2200 § 551 Nr 15) die Vereinbarkeit solcher Stichtagsregelungen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG grundsätzlich bestätigt (vgl BVerfG vom 9.10.2000 - 1 BvR 791/95 - SozR 3-2200 § 551 Nr 15; vgl auch BVerfG vom 23.6.2005 - 1 BvR 235/00 - SozR 4-1100 Art 3 Nr 32 sowie Senatsurteil vom 27.6.2006 - B 2 U 5/05 R - BSGE 96, 297 = SozR 4-5671 § 6 Nr 2). Anhaltspunkte dafür, dass der hier gewählte Stichtag nicht sachgemäß sein könnte, sind nicht ersichtlich; der Kläger hat hierzu auch nichts vorgetragen. Vielmehr erscheint dieser Stichtag schon wegen der schwierigen Feststellung medizinischer Sachverhalte "im Nachhinein" sachgerecht. Dies zeigt auch die vorliegende Fallgestaltung, denn das rechte Knie des Klägers wurde bereits 2003 vollständig prothetisch versorgt und weitere medizinische Unterlagen waren nicht mehr vorhanden.

23

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs 1 SGG.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. April 2015 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf Feststellung einer Lyme-Borreliose als Berufskrankheit (BK) nach Nr 3102 der Anl 1 zur BK-Verordnung (; "Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten", nachfolgend BK 3102) bei nachgewiesener Borrelieninfektion hat.

2

Der im Jahre 1959 geborene Kläger ist als forstwirtschaftlicher Unternehmer bei der Beklagten unfallversichert und bewirtschaftet seit Jahren regelmäßig seinen 4,28 ha großen Wald. Ihm ist seit 1998 ein Schilddrüsenmedikament verordnet, das als Nebenwirkung Herzrhythmusstörungen hervorrufen kann. Eine entsprechende Verdachtsdiagnose wurde Mitte 2003 erstmals gestellt. Im Dezember 2007 ließ er sich wegen eines seit mehr als zwei Monaten bestehenden Vorhofflimmerns stationär behandeln.

3

Im Juni 2008 stellte sich der Kläger wegen eines Zeckenbisses bei seinem Hausarzt vor, dem er bereits Mitte 2007 über einen Zeckenstich am Hals berichtet hatte. Laut Laborbericht waren im Immunoblot wenige spezifische Antikörper gegen Borrelia burgdorferi nachweisbar inklusive Spätmarker; der serologische Befund passe sowohl zu einer Serumnarbe nach ausgeheilter Infektion als auch zu einer aktiven Infektion der Stadien II oder III. Daraufhin wurde wegen nicht ganz ausgeschlossener Borreliose mit kardialer Beteiligung eine Antibiotikabehandlung für drei Wochen eingeleitet und später mittels Infusionstherapie für zwei Wochen wiederholt, ohne dass sich eine Besserung einstellte.

4

2010 teilte der Kläger der Rechtsvorgängerin der Beklagten mit, er habe im Mai 2007 nach Arbeiten im eigenen Wald einen Zeckenbiss bemerkt; Hautveränderungen seien in der Umgebung der Stichstelle nicht aufgetreten. Die Beklagte verneinte das Vorliegen einer BK 3102 sowie Ansprüche auf Leistungen (Bescheid vom 18.1.2011). Nachdem der Kläger im Widerspruchsverfahren den Arztbrief eines sog Borreliosezentrums vorgelegt hatte, wies die Beklagte den Widerspruch zurück, weil dessen Befunde schulmedizinisch und wissenschaftlich nicht anerkannt seien (Widerspruchsbescheid vom 22.9.2011).

5

Das SG hat die Klage nach Einholung von Sachverständigengutachten abgewiesen, weil Hinweise auf eine krankheitsaktive Borreliose fehlten und der Antikörperbefund allein noch keine Krankheit iS der BKV sei (Urteil vom 28.10.2013). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 15.4.2015): Der Kläger sei bei seiner versicherten Tätigkeit als Forstwirt einem deutlich erhöhten Infektionsrisiko für Borreliose ausgesetzt gewesen. Eine Lyme-Borreliose sei bei ihm aber nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorhanden; insbesondere reiche die nachgewiesene Borrelieninfektion allein nicht aus, um eine BK 3102 anzuerkennen. Krankheit iS des § 9 SGB VII sei ein regelwidriger Zustand des Körpers, des Geistes oder der Seele. Dagegen führe weder die bloße Aufnahme von Erregern in den Körper noch die körpereigene Bildung von Antikörpern gegen diesen Erreger zu einem regelwidrigen Gesundheitszustand und damit zu einer Krankheit iS des BK-Rechts. Vielmehr sei neben den Einwirkungen und der durchaus positiven und wünschenswerten Abwehr der Erreger eine negative körperliche Reaktion mit Krankheitswert erforderlich, die den Beschreibungen der jeweiligen BK-Tatbestände bzw den hierzu erlassenen Merkblättern und wissenschaftlichen Begründungen entspreche. Unter Berücksichtigung des Verordnungstextes, der Entstehungsgeschichte und des Gesamtzusammenhangs setze die Feststellung einer Lyme-Borreliose als BK 3102 den labortechnischen Nachweis einer Borrelieninfektion und einen klinischen Befund voraus, der zum Krankheitsbild der Borreliose passe. Zwar sei hier eine Borrelieninfektion serologisch bewiesen. Allein der positive Nachweis borrelienspezifischer Antikörper belege aber keine aktive Infektion mit dem Bakterium Borrelia burgdorferi, weil nach der entsprechenden Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zur Neuroborreliose, auf die das Merkblatt ua verweise, Borrelieninfektionen mit asymptomatischer Serokonversion vorkämen und über Jahre anhaltende erhöhte Antikörpertiter (in Serum oder Liquor) nach ausreichend behandelter Borreliose bei gesunden Personen keine Seltenheit darstellten. Der überwiegenden Mehrzahl infizierter Personen gelinge es, die Infektion mit der eigenen Immunabwehr durch Bildung der ggf jahrzehntelang messbaren Antikörper erfolgreich abzuwehren, sodass sie zu keinem Zeitpunkt an Borreliose erkrankten. Man spreche in diesen Fällen von einer sog Seronarbe. Soweit das Merkblatt als typische Krankheitsbilder einer Lyme-Borreliose ua "wandernde Arthralgien" und "Herzbeschwerden" benenne, hätten die beim Kläger vorhandenen Gelenkbeschwerden und Herzrhythmusstörungen andere Ursachen. Die Gelenkbeschwerden seien auf degenerative Veränderungen zurückzuführen. Das Vorhofflimmern sei für eine Lyme-Karditis völlig untypisch, trete in der Altersgruppe des Klägers häufig ohne benennbare Ursache auf und habe sich erst vier Monate nach dem angeschuldigten Zeckenstich manifestiert, zudem sei eine zweimalige Antibiotikatherapie erfolglos geblieben und es bestünden Schilddrüsenprobleme mit entsprechender Medikation, die als Nebenwirkung typischerweise Herzrhythmusstörungen hervorrufe.

6

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen (§ 9 SGB VII iVm Nr 3102 der Anl 1 zur BKV) und sinngemäß auch formellen Rechts (§ 128 Abs 1 S 1 SGG): Schon aufgrund der Borrelieninfektion liege eine feststellungsfähige BK vor. Denn unter Krankheit sei ein regelwidriger Körper- und Geisteszustand zu verstehen. Regelwidrig sei ein Körperzustand, der von der Norm abweiche, die dem Leitbild des gesunden Menschen entspreche. Hierfür sei es notwendig, dass die Aufnahme einer schädigenden Substanz in den Organismus zu negativen körperlichen Reaktionen mit Krankheitswert führe. Dies sei der Fall, wenn entsprechende Antikörper nachgewiesen seien, die das Immunsystem als Reaktion auf bestimmte Stoffe bilde. Dagegen sei die Rechtsansicht des LSG zu weitgehend, neben der Existenz von Antikörpern auch den Vollbeweis einer Infektionskrankheit zu fordern. Denn nach der Rechtsprechung des BSG sei zB auch die bloße HIV-Infektion bereits eine als BK anzuerkennende Erkrankung. Aber auch bei Zugrundelegung der Auffassung des LSG könne man sich auch auf den Standpunkt stellen, dass mit den Herzrhythmusstörungen bereits das Stadium II der Borreliose-Erkrankung erreicht und die Krankheit somit ausgebrochen sei, wie den einschlägigen Ausführungen des Robert Koch-Instituts entnommen werden könne.

7

Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. April 2015 und des Sozialgerichts Landshut vom 28. Oktober 2013 aufzuheben sowie den Bescheid vom 18. Januar 2011 und den Widerspruchsbescheid vom 22. September 2011 aufzuheben und eine Borreliose als Berufskrankheit nach Nr 3102 der Anl 1 zur BKV festzustellen.

8

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Die Gelenkbeschwerden des Klägers beruhten nicht auf einem Borrelienkontakt, sondern auf degenerativen Veränderungen. Auch die Herzrhythmusstörungen seien kein Ausdruck dafür, dass bereits das Stadium II der Borreliose-Erkrankung erreicht sei. Soweit sich die Revisionsbegründung auf den gegenteiligen Standpunkt stelle, habe sie eine Verletzung der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG)nicht formgerecht gerügt. Die erhöhten Antikörperwerte belegten eine Inkorporation von Infektionserregern und damit den Tatbestand der Exposition, aber nicht den Versicherungsfall. Der Nachweis von Antikörpern habe für sich gesehen keinen Krankheitswert. Würde man der Argumentation des Klägers folgen, wäre jeder, der den Ausbruch einer Infektionskrankheit durch sein Immunsystem erfolgreich abgewendet habe, gleichwohl krank. Jedenfalls sei das Vorhandensein von Antikörpern gegen Borrelia burgdorferi ohne krankheitsaktive Borreliose für die Unfallversicherung irrelevant.

Entscheidungsgründe

10

A. Die Revision ist zulässig, soweit sie sich gegen die Anwendung materiellen Rechts wendet. Dagegen berücksichtigt das Rechtsmittel nicht ausreichend, dass Verfahrensverstöße grundsätzlich nur auf Rüge geprüft werden, die bis zum Ablauf der Begründungsfrist - vorliegend am 23.11.2015 - ordnungsgemäß erhoben sein muss (§ 202 S 1 SGG iVm § 557 Abs 3 S 2 ZPO).

11

Soweit die Revisionsbegründung ausführt, "man könnte sich allerdings auch auf den Standpunkt stellen, dass … mit den bei dem Kläger diagnostizierten Herzrhythmusstörungen bereits das Stadium II der Borreliose-Erkrankung erreicht" sei, macht sie sinngemäß eine Verletzung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) geltend, worauf die Beklagte zutreffend hinweist. Eine formgerechte Verfahrensrüge liegt indes nicht vor, weil die Revision lediglich ihre Beweiswürdigung alternativ an die Stelle derjenigen des LSG setzt und ihren Standpunkt unausgesprochen als vorzugswürdig bezeichnet. Dies reicht für eine formgerechte Rüge der Verletzung des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht aus (BSG Urteile vom 7.2.2006 - B 2 U 31/04 R - SozR 4-2700 § 63 Nr 3 RdNr 24 und vom 7.12.2004 - B 1 KR 10/03 R - Juris RdNr 18). Denn dem Revisionsgericht ist es nicht gestattet, unter mehreren möglichen Beweiswürdigungen eine Wahl zu treffen oder diese sonst zu bewerten (stRspr, vgl nur BSG Urteile vom 7.4.1987 - 11b RAr 56/86 - SozR 1500 § 164 Nr 31 S 50, vom 19.12.2001 - B 11 AL 50/01 R - Juris RdNr 16 und vom 23.7.2015 - B 5 R 32/14 R - Juris RdNr 10). Stattdessen hätte die Revisionsbegründung entweder aufzeigen müssen, dass das LSG das "Gesamtergebnis des Verfahrens" unzureichend berücksichtigt hat, oder schlüssig darlegen müssen, dass der festgestellte Sachverhalt nur eine Folgerung erlaubt, jede andere nicht denkbar ist und das Gericht gerade die einzig denkbare Schlussfolgerung nicht gezogen, mithin gegen Denkgesetze verstoßen hat. Da dies nicht geschehen ist, ist das BSG an die gegenteiligen Feststellungen des LSG gebunden (§ 163 SGG), wonach die Herzrhythmusstörungen gerade keine Erscheinungsform einer Lyme-Borreliose sind.

12

B. Die im Übrigen zulässige Revision ist unbegründet, sodass sie zurückzuweisen ist (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Zu Recht hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen, weil die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 Var 1, § 55 Abs 1 Nr 1, § 56 SGG) unbegründet ist. Die Entscheidung der Beklagten in dem Bescheid vom 18.1.2011, die Feststellung einer BK 3102 abzulehnen, und der Widerspruchsbescheid vom 22.9.2011 sind rechtmäßig.

13

Rechtsgrundlage für die Anerkennung einer BK ist § 9 Abs 1 SGB VII iVm BK 3102. Nach § 9 Abs 1 S 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Nach ständiger Senatsrechtsprechung ist für die Feststellung einer Listen-BK (Versicherungsfall) erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" iS des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG Urteile vom 17.12.2015 - B 2 U 11/14 R - BSGE 120, 230 = SozR 4-2700 § 9 Nr 26, RdNr 10 mwN, vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 10 und - B 2 U 10/14 R - BSGE 118, 255 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 RdNr 11 sowie - B 2 U 20/14 R - BSGE 118, 267 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8, RdNr 10; s auch BSG Urteile vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 12, vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4, RdNr 16 mwN, vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14, RdNr 9 mwN, vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 412, vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151 RdNr 14 sowie vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 14). Der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht (BSG Urteil vom 15.5.2012 - B 2 U 31/11 R - Juris RdNr 34 mwN) und ernste Zweifel ausscheiden (BSG Urteil vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 3 RdNr 20). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK, wohl aber für eine Leistung (Leistungsfall).

14

Der Verordnungsgeber hat die BK 3102 unter der Abschnittsüberschrift "Durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten sowie Tropenkrankheiten" wie folgt bezeichnet: "Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten". Die Voraussetzungen dieses Tatbestandes iVm § 9 Abs 1 SGB VII sind nicht erfüllt, weil der Kläger nicht an seiner solchen "Krankheit" leidet. Deshalb kann dahinstehen, ob dem LSG auch insoweit zu folgen gewesen wäre, als es für die "Einwirkung" keinen konkreten Nachweis von Zeckenstichen gerade bei der versicherten Tätigkeit gefordert, sondern es für ausreichend erachtet hat, dass der Kläger als Forstwirt generell "einem deutlich erhöhten Infektionsrisiko für Borreliose" ausgesetzt gewesen ist. Anders als bei der BK 3101, die für den Nachweis der Einwirkung bei Infektionskrankheiten von Versicherten im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium eine "besondere Infektionsgefahr" schon tatbestandlich voraussetzt (hierzu BSG Urteile vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4 und - B 2 U 33/07 R - BSGE 103, 54 = SozR 4-5671 Anl 1 3101 Nr 5 sowie vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151), ist die erforderliche Einwirkung in der hier zu beurteilenden BK 3102 vom Verordnungsgeber offengelassen und gerade nicht definiert worden. Der vom LSG offensichtlich beabsichtigte Verzicht auf die Feststellung jeder konkreten Einwirkung und das bloße Abstellen auf die abstrakte Gefahr des Arbeitens im Wald in einem Gebiet mit regional erhöhtem Zeckenbefall dürfte aber den Anforderungen einer im Vollbeweis festzustellenden Einwirkung kaum mehr genügen (vgl hierzu Bieresborn, NZS 2008, 354). Letztlich kann dies aber dahinstehen, weil bei dem Kläger schon keine Krankheit iS der BK 3102 vorliegt.

15

Bei der BK 3102 handelt es sich um eine sog offene BK-Bezeichnung (vgl Spellbrink, BPUVZ 2012, 360, 362; ders SozSich 2013, 431 f; Bieresborn, NZS 2008, 354, 359), bei der die erforderliche Erkrankung nicht präzise umschrieben, sondern nur eine Krankheitsgruppe, nämlich "von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten", genannt wird. Anerkennungsfähig sind mithin hier alle Krankheiten dieser Gruppe, die durch die betreffende Einwirkung potentiell verursacht werden können. Um ein bestimmtes Krankheitsbild aus dem Schutzbereich dieser BK ausschließen zu können, muss demgegenüber feststehen, dass entweder diese Krankheit nach dem Willen des Verordnungsgebers nicht vom Schutzbereich der Norm umfasst sein sollte oder durch die jeweilige Einwirkung nicht verursacht werden kann (vgl iE BSG Urteil vom 17.12.2015 - B 2 U 11/14 R - BSGE 120, 230 = SozR, aaO, RdNr 14), was bei der Lyme-Borreliose nicht der Fall ist, die hier allein als eine anerkanntermaßen von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheit in Betracht kommt.

16

Werden - wie vorliegend - die Rechtsbegriffe "durch Infektionserreger … verursachte Krankheiten" und "von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten" durch einen fachmedizinischen Diagnosebegriff ("Lyme-Borreliose") ausgefüllt, so bedeutet dies, dass diesem Diagnosebegriff der Bedeutungs- bzw Sinngehalt zukommt, den ihm der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand beimisst: Es müssen die Diagnosekriterien vorliegen, die krankheitsbeweisend sind, also nach den aktuellen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft erfüllt sein müssen, um die Diagnose zu sichern. Das Recht knüpft damit an den medizinischen Diagnosebegriff und die dazu entwickelten Kriterien an, die die überwiegende Mehrheit der Fachmediziner, die auf dem jeweils in Betracht kommenden Gebiet über spezielle Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, wissenschaftlich fundiert vertreten ( s BSG Urteil vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1, RdNr 15, zum Kehlkopfkarzinom nach ionisierenden Strahlen; vgl zuletzt BSG Urteile vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 22 und vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20). Auf dieser Grundlage ist der Kläger nicht an einer Lyme-Borreliose erkrankt (nachfolgend 1.). Die Borrelieninfektion als solche stellt keine von Tieren auf Menschen übertragbare "Krankheit" im Rechtssinne dar (nachfolgend 2.). Sie liegt auch nicht deshalb vor, weil die behandelnden Ärzte aufgrund des Verdachts, es könnte eine Lyme-Borreliose bestehen, Laborbefunde erhoben und Therapiemaßnahmen in Form einer zweimaligen Antibiotikatherapie eingeleitet haben (nachfolgend 3.).

17

1. Der Kläger leidet nicht an einer Lyme-Borreliose, weil deren medizinisch-diagnostischen Kriterien nicht erfüllt sind. Auf der Grundlage der medizinischen Beweisaufnahme und unter Heranziehung der aktuellen S1-Leitlinie der DGN (zur Neuroborreliose, Stand September 2012, AWMF-Registernummer 030/071, S 2) hat das LSG für das BSG bindend festgestellt (§ 163 Halbs 1 SGG), dass die Diagnose einer Lyme-Borreliose sowohl den (indirekten) Erregernachweis mittels Laboruntersuchung (Serodiagnostik, Antikörpernachweis) als auch den Nachweis einer typischen klinischen Symptomatik erfordert. Dass diese Diagnosekriterien nicht (mehr) dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen, ist weder mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen gerügt worden (§ 163 Halbs 2 SGG)noch für den Senat offenkundig (zur insofern bestehenden Prüfungskompetenz vgl BSG Urteil vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 20 mwN). Die Feststellung einer Lyme-Borreliose als BK 3102 setzt mithin voraus, dass ihre typischen klinischen Symptome und die Borrelieninfektion im Vollbeweis belegt sind und diese Leitsymptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf der Borrelieninfektion beruhen. Das LSG hat den (indirekten) Erregernachweis für erbracht erachtet (nachfolgend a) und das Vorliegen von klinischen Symptomen beschrieben, die für eine Borreliose-Erkrankung typisch sind (nachfolgend b). Es hat jedoch die hinreichende Wahrscheinlichkeit zwischen der nachgewiesenen Borrelieninfektion und den Gelenkbeschwerden bzw Herzrhythmusstörungen rechtsfehlerfrei verneint (nachfolgend c).

18

a) Das LSG hat unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Beweisaufnahme wegen der nachweislich erhöhten IgG-Antikörper-Werte im Antikörper-Suchtest IgG-ELISA und im Bestätigungstest IgG-Immunoblot einen Kontakt des Immunsystems mit Borrelia burgdorferi zu einem unbekannten Zeitpunkt und damit eine Borrelieninfektion bejaht.

19

b) Zum Krankheitsbild einer Lyme-Borreliose zählen nach der Lfd Nr 15 des Anhangs zum Merkblatt der BK 3102 (Bekanntmachung des BMGS vom 1.9.2003, BArbBl 10/2003, 26) ua "Erythema migrans", "wandernde Arthralgien", "Arthritis" sowie "Herzbeschwerden". Die Merkblätter sind zur Ermittlung des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands und als Interpretationshilfe heranzuziehen (BSG Urteile vom 23.4.2015 - B 2 U 20/14 R - BSGE 118, 267 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8 RdNr 15, vom 12.4.2005 - B 2 U 6/04 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 5 RdNr 8, vom 2.5.2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 85; BSG Urteil vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1, RdNr 17 mwN), auch wenn sie weder verbindliche Konkretisierungen der Tatbestandsvoraussetzungen der BK noch antizipierte Sachverständigengutachten oder eine Dokumentation des Standes der einschlägigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft sind (BSG Beschluss vom 11.8.1998 - B 2 U 261/97 B - HVBG-INFO 1999, 1373), was auch das LSG nicht verkannt hat. Hautveränderungen iS einer Wanderröte (Erythema migrans) hat der Kläger nach den Feststellungen des LSG weder selbst bemerkt noch sind sie ärztlich dokumentiert. Auch fehlt der Nachweis von Schwellungszuständen und Gelenkergüssen als Zeichen einer manifesten Arthritis (Gelenkentzündung). Dagegen liegen wiederkehrende (rezidivierende) Gelenkbeschwerden ("Arthralgien") vor, die nicht auf eine bestimmte Körperstelle beschränkt sind, sondern nach Angaben des Hausarztes vor allem im Lendenwirbelsäulenbereich ("Lumbalgie"), in der Nacken-Schulter-Arm-Region ("Cervicobrachialgie") sowie dem rechten Ellenbogen (Epicondylitis humeri radialis, sog Tennisellenbogen) auftreten und damit als "wandernd" bezeichnet werden können. Darüber hinaus leidet der Kläger unter "Vorhofflimmern mit absoluter Arrhythmie" und damit auch an "Herzbeschwerden".

20

c) Unter Berufung auf den Hausarzt und das internistische Sachverständigengutachten ist das LSG indes ohne Rechtsfehler zu dem Ergebnis gelangt, dass im Fall des Klägers gerade nicht mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang zwischen der Borrelieninfektion und den beschriebenen Gelenkbeschwerden in mehreren Körperregionen spricht, sondern ein solcher wegen der gleichfalls nachgewiesenen degenerativen Veränderungen (Bandscheibenvorfall L5/S1, Bandscheibenschaden C5/6) ernsthaft bezweifelt werden muss. Ebenfalls ist es revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das LSG den Zusammenhang zwischen der Borrelieninfektion und dem Vorhofflimmern mit absoluter Arrhythmie verneint hat, weil diese Erkrankung für eine Lyme-Karditis völlig untypisch ist, in der Altersgruppe des Klägers häufig ohne benennbare Ursache auftritt, sich erst vier Monate nach dem Zeckenstich manifestiert hat, eine zweimalige Antibiotikatherapie erfolglos geblieben ist und Schilddrüsenprobleme mit entsprechender Medikation bestehen, die als Nebenwirkung Herzrhythmusstörungen hervorrufen kann.

21

2. Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich die symptomlose Borrelieninfektion als solche nicht unter den unfallversicherungsrechtlichen Begriff der "Krankheit" iS des § 9 Abs 1 S 1 SGB VII und der BK 3102 subsumieren. Gesetz- und Verordnungsgeber haben den im Recht der BKen vorausgesetzten Krankheitsbegriff nicht näher festgelegt, sondern von einer Definition abgesehen, weil der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt ständige Änderungen dessen bewirkt, was als "Krankheit" erkannt werden kann (BSG Urteil vom 30.9.2015 - B 3 KR 14/14 R - SozR 4-2500 § 33 Nr 48 RdNr 29; Hauck, NJW 2016, 2695, 2700). In der Sozialversicherung umschreiben Rechtsprechung (BSG Urteile vom 24.7.1985 - 9b RU 36/83 - SozR 5670 Anl 1 Nr 3102 Nr 1, vom 26.11.1987 - 2 RU 20/87 - SozR 2200 § 551 Nr 31, vom 30.9.2015, aaO sowie zuletzt vom 8.3.2016 - B 1 KR 35/15 R - SozR 4-2500 § 27 Nr 28 RdNr 9 mwN) und Literatur (Becker, SGb 2010, 131, 135; Brandenburg in jurisPK-SGB VII, 2. Aufl 2014, § 9 RdNr 50; Knispel, SGb 2016, 632; Koch in Lauterbach, Unfallversicherung, Stand November 2016, § 9 RdNr 54; Mehrtens/Brandenburg, BKV, § 9 SGB VII Anm 6; Ricke in Kasseler Kommentar, SGB VII, Stand 1.12.2016, § 9 RdNr 9; Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand Februar 2017, K § 9 RdNr 8a; Schmitt, SGB VII, 4. Aufl 2009, § 9 RdNr 5; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und BK, 9. Aufl 2017, S 66; Spellbrink, SR 2014, 140, 143) Krankheit auch im BK-Recht als regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, wovon die Beteiligten und die Vorinstanzen ebenfalls ausgehen.

22

"Regelwidrig" ist jeder Zustand, der von der Norm abweicht (normativer Krankheitsbegriff), die ihrerseits durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägt ist (BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 28 RdNr 9 und SozR 4-2500 § 33 Nr 48 RdNr 29). "Gesundheit" wiederum ist derjenige Zustand, der dem Einzelnen die Ausübung der (aller) körperlichen Funktionen ermöglicht (BSG aaO). Folglich kommt nicht jeder körperlichen Regelwidrigkeit (hier: Vorhandensein von Antikörpern gegen Borrelia burgdorferi) Krankheitswert im Rechtssinne zu (BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 28 RdNr 10). Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird (funktioneller Krankheitsbegriff). Ausgehend von diesem normativ-funktionellen Krankheitsbegriff reicht die bloße Aufnahme schädigender Substanzen (zB Infektionserreger, Asbest, Quarzstaub) in den Körper allein im Regelfall nicht aus (anders offenbar LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.5.2014 - L 3 U 228/12 - Juris RdNr 41 f und Bayerisches LSG Urteil vom 13.12.1989 - L 10 U 144/88 - Juris, zur BK 1101). Vielmehr ist es grundsätzlich notwendig, dass diese Einwirkung über zunächst rein innerkörperliche Reaktionen (iS normabweichender physiologischer oder biologischer Prozesse) oder Strukturveränderungen hinaus zu (irgend)einer Funktionsstörung führt (zB leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf, vgl dazu BSG Urteil vom 11.1.1989 - 8 RKnU 1/88 - SozR 2200 § 551 Nr 34). Diese Auffassung wird durch die Gesetzessystematik des BK-Rechts bestätigt (dazu ausführlich Mehrtens/Brandenburg, aaO, § 9 Anm 6.3). Denn das Gesetz unterscheidet zwischen einer bereits eingetretenen BK, einer individuell drohenden - also noch nicht eingetretenen - BK sowie der generellen Gesundheitsgefahr am Arbeitsplatz. Dementsprechend differenziert das Unfallversicherungsrecht zwischen der Generalprävention (§§ 14 ff SGB VII) zur Vermeidung von schädigenden Einwirkungen auf die Versicherten am Arbeitsplatz, den individualpräventiven Maßnahmen nach § 3 BKV bei einer drohenden Gefahr der Entstehung, der Verschlimmerung oder des Wiederauflebens einer BK sowie Maßnahmen(Heilbehandlung, berufliche Rehabilitation, Entschädigung, §§ 26 ff SGB VII) bei einer anerkannten BK. Die individualpräventiven Maßnahmen nach § 3 BKV stehen somit an der Nahtstelle zwischen stattgehabter Einwirkung und dem Eintritt des Versicherungsfalls. Eine Schadstoffinkorporierung, zu der auch die Aufnahme von Krankheitserregern zählt, kann im Einzelfall die Voraussetzung einer drohenden Gefahr iS des § 3 BKV erfüllen, wenn die Gefahr des Eintritts eine mehr als entfernte Möglichkeit darstellt. Aus der normativen Differenzierung zwischen drohender BK iS des § 3 BKV und eingetretener BK iS des § 9 SGB VII folgt zugleich, dass die bloße Aufnahme eines schädlichen Stoffes grundsätzlich der erstgenannten Fallgruppe zuzuordnen ist(Mehrtens/Brandenburg, aaO).

23

Hier führte die Aufnahme von Borrelia burgdorferi in den Organismus des Klägers zu einer körperlichen Abwehrreaktion des Immunsystems, die laborchemisch belegbar ist. Damit waren jedoch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Störungen irgendwelcher Körperfunktionen verbunden; die Gelenkbeschwerden und Herzrhythmusstörungen hatten - wie unter 1. dargestellt - nach den bindenden Feststellungen des LSG andere Ursachen. Hat die körpereigene Immunabwehr des Klägers nach der Aufnahme von Borrelia burgdorferi das Auftreten von Funktionsstörungen gerade verhindert und ist die Infektion deshalb stumm (symptomlos, asymptomatisch) verlaufen, so liegt keine "Krankheit" im Rechtssinne und damit kein Versicherungsfall (§ 7 Abs 1 SGB VII)in der gesetzlichen Unfallversicherung vor. Mit dem positiven Ergebnis im Antikörper-Suchtest IgG-ELISA und im Bestätigungstest IgG-Immunoblot ist somit allenfalls eine körperliche Einwirkung, nicht jedoch eine (Berufs-)"Krankheit" belegt. Zu Recht weist die Beklagte darauf hin, dass niemand, dessen Immunsystem den Ausbruch einer Infektionskrankheit erfolgreich abgewendet habe, gleichwohl als "krank" im Rechtssinne bezeichnet werden könne. Vielmehr tritt der Versicherungsfall der BK erst ein, wenn die Infektionskrankheit zu Funktionsstörungen führt, weil die körpereigene Immunabwehr überfordert ist.

24

Soweit die Revision geltend macht, das BSG (Urteil vom 18.11.1997 - 2 RU 15/97 - Juris RdNr 19: "HIV-Infektion ist eine Infektionskrankheit") sei bereits bei der nachgewiesenen Infektion mit dem HI-Virus vom Vorliegen einer BK 3101 ausgegangen, lässt sie unbeachtet, dass es nach einer HIV-Infektion meist zu ersten Krankheitszeichen (zB Fieber, Nachtschweiß, Abgeschlagenheit, Hautausschläge, Gelenkschmerzen usw) kommt und die medizinische Wissenschaft daher konsequenterweise bereits von einer akuten "HIV-Krankheit" (nicht gleichbedeutend mit "AIDS") spricht (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, HIV und AIDS, Heft 31 Juni 2006, Robert Koch-Institut in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt, S 8), während die Infektion mit Borrelia burgdorferi typischerweise symptomlos verläuft. Zudem handelt es sich bei der Ansteckung mit dem HI-Virus um eine Infektion, die ohne ärztliche Behandlung zu einer lebensbedrohlichen AIDS-Erkrankung führen kann, weil das körpereigene Immunsystem allein regelmäßig nicht in der Lage ist, die Infektionserreger vollständig abzuwehren (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, aaO). Dagegen erkrankt die Mehrzahl der Menschen mit dem Nachweis borrelienspezifischer Antikörper nicht an Borreliose, weil es ihrer Immunabwehr - wie hier - gelingt, die Infektion erfolgreich zu bekämpfen. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die sich auf das Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme und auf die aktuelle S1-Leitlinie der DGN (zur Neuroborreliose, Stand September 2012, AWMF-Registernummer 030/071, S 2) stützen, kommen borrelienspezifische Antikörper auch bei gesunden Personen vor, sodass ihr serologischer Nachweis allein noch keine aktive Infektion mit aktiven Borrelia burgdorferi belegt.

25

3. Soweit die Rechtsprechung in einem Einzelfall schon den bloßen Krankheitsverdacht als "Krankheit" iS des BK-Rechts angesehen hat, ohne dass schon akute Funktionsbeeinträchtigungen vorlagen (BSG Urteil vom 24.7.1985 - 9b RU 36/83 - SozR 5670 Anl 1 Nr 3102 Nr 1), vermag dies an dem gefundenen Ergebnis nichts zu ändern. In dem genannten Fall (BSG Urteil vom 24.7.1985, aaO) hatte der als Forstwart beschäftigte Kläger ohne Schutzhandschuhe ein an Tollwut erkranktes Reh zerwirkt. Auf die darauf erfolgte Tollwutimpfung erkrankte der Kläger an mit Wahrscheinlichkeit auf diese Impfung zurückzuführenden Herzbeschwerden. Das BSG hat insofern die Notwendigkeit der "Heilbehandlung" (Impfung) aufgrund des bloßen Krankheitsverdachts bejaht. In einer vergleichbaren Situation befand sich der Kläger hier im Juni 2008, nachdem Herzrhythmusstörungen aufgetreten, die serologischen Laborbefunde positiv gewesen waren und sein Hausarzt "wegen nicht ganz ausgeschlossener Borreliose mit kardialer Beteiligung" eine medikamentöse Antibiotikabehandlung für drei Wochen einleitete, die später mittels Infusionstherapie für zwei Wochen wiederholt wurde. Dies ändert aber nichts daran, dass die "Krankheit" iS des jeweiligen Tatbestands der in der Anl 1 zur BKV aufgelisteten Krankheiten für die isolierte Feststellung einer BK jeweils iS des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen muss. Ein bloßer Krankheitsverdacht, der sich rückblickend nicht bestätigt hat, kann daher nicht zu der hier erstrebten und mit der Revision verfolgten Feststellung einer BK führen, wenngleich für die aufgrund des "Verdachts" durchgeführten Diagnosemaßnahmen etc eine Zuständigkeit der Beklagten - etwa auch gemäß § 3 BKV- gegeben sein kann.

26

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 4. November 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf Feststellung einer Gonarthrose des linken Knies als Berufskrankheit nach Nr 2112 der Anl 1 zur BKV (in Zukunft: BK 2112) ab dem 30.1.2004 hat.

2

Der im Juli 1947 geborene Kläger war während des Arbeitslebens bis Anfang September 2002 Kniebelastungen mit einer kumulativen Einwirkungsdauer von 14 840 Stunden ausgesetzt. Im September 2002 lagen bei ihm ua nach der Klassifikation von Kellgren eine lateral betonte Gonarthrose Grad III des rechten Knies sowie Retropatellararthrosen Grad III bis IV beiderseits vor. Chronische Kniegelenksbeschwerden oder Funktionsstörungen des linken Knies ließen sich erst nach dem 30.9.2002 nachweisen. Im Jahre 2010 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Feststellung einer BK 2112.

3

Die Beklagte lehnte die Gewährung von Leistungen ab, ua weil die Gonarthrose bereits vor dem Stichtag (30.9.2002) vorgelegen habe (Bescheid vom 11.1.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.8.2011). Das SG hat beide Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass der Kläger seit dem 30.1.2004 an einer BK 2112 am linken Kniegelenk leide (Urteil vom 27.8.2013).

4

Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 4.11.2015). Am rechten Kniegelenk sei eine Gonarthrose bereits vor dem 1.10.2002 sowohl in röntgenologischer als auch in klinischer Hinsicht gesichert. Dieser Erkrankungsbeginn wirke auch auf das linke Knie, obgleich Beschwerden und Funktionsstörungen dort erst nach dem 30.9.2002 belegt seien. Nach der Rechtsprechung des BSG handele es sich um eine einheitliche BK, wenn gleichartige Gesundheitsschäden an verschiedenen Organen auf dieselbe gefährdende Tätigkeit zurückzuführen seien. Führe eine einheitliche berufliche Belastung (Exposition), die sich gleichermaßen auf mehrere Zielorgane auswirke, zu einem Erkrankungsbeginn an einem Zielorgan vor dem Stichtag, sei die Annahme eines "Versicherungsfalls" nach dem Stichtag ausgeschlossen. Für diese Auffassung spreche auch, dass bei Feststellung einer BK 2112 aufgrund zunächst einseitig bestehender Symptomatik und späterem Hinzutreten einer klinischen und röntgenologischen Symptomatik am anderen Kniegelenk auch keine weitere BK anzuerkennen. Es wäre dann aufgrund einer wesentlichen Änderung nach § 48 SGB X lediglich eine weitere Folge des Versicherungsfalls anzuerkennen (und allenfalls eine ggf gewährte Verletztenrente zu erhöhen). Nur in Ausnahmefällen sei es zu rechtfertigen, das Vorliegen einer weiteren, gleichen BK festzustellen, etwa wenn nach dem Eintritt der Erkrankung an einem Zielorgan noch zusätzliche berufliche Einwirkungen im Sinne der entsprechenden BK erfolgten und dann im weiteren Verlauf an einem anderen Zielorgan eine entsprechende Erkrankung auftrete.

5

Der Kläger rügt mit seiner Revision die Verletzung des § 9 Abs 1 S 1, Abs 5 SGB VII iVm § 6 BKV. Das Wesen paariger Gelenke sei es eben, nicht eins zu sein. Selbst wenn in der Regel davon auszugehen sei, dass bei beidseitigem Knien und vergleichbarer Kniebelastung eine Gonarthrose beidseitig auftrete, sei auch eine ungleiche Betroffenheit möglich und schließe nicht per se die Anerkennung der BK 2112 im Einzelfall aus. Daher sei die Manifestation des Beschwerdebildes am rechten Kniegelenk vor dem 1.10.2002 nicht als einheitliche Erkrankung beider Kniegelenke vor dem Stichtag aufzufassen, sodass der unstreitig nicht anerkennungsfähige Schaden rechts nicht zum Ausschluss bzw "Verbrauch" des erst nach dem Stichtag eingetretenen Schadens links führe.

6

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 4. November 2015 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 27. August 2013 zurückzuweisen.

7

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und entschieden, dass keine BK 2112 des linken Kniegelenks ab dem 30.1.2004 festzustellen ist. Der Versicherungsfall der Gonarthrose ist beim Kläger am rechten Knie bereits vor dem 1.10.2002 eingetreten, sodass eine Anerkennung der Gonarthrose am linken Knie nach der Übergangsvorschrift des § 6 BKV nicht mehr möglich ist.

9

Maßgeblich ist hier die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 3 S 1 BKV idF der Vierten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (4. BKVÄndVO) vom 10.7.2017 (BGBl I 2299), die während des Revisionsverfahrens am 1.8.2017 (Art 2 aaO) in Kraft trat und § 6 Abs 2 S 1 BKV idF der 3. BKVÄndVO vom 22.12.2014 (BGBl I 2397) ersetzte, der noch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz gegolten hatte. Treten - wie hier - Rechtsänderungen nach der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz ein, so sind sie in der Revisionsinstanz zu berücksichtigen, wenn das neue Gesetz nach seinem zeitlichen Geltungswillen das streitige Rechtsverhältnis erfassen will (stRspr, vgl Senatsurteil vom 27.10.1976 - 2 RU 127/74 - BSGE 43, 1,5 = SozR 1500 § 131 Nr 4 sowie BSG vom 18.2.2016 - B 3 P 2/14 R - SozR 4-3300 § 42 Nr 1 mwN). Das ist vorliegend der Fall. Denn mit Art 1 Nr 1 Buchst b der 4. BKVÄndVO verschob die Verordnungsgeberin den bisherigen § 6 Abs 2 S 1 BKV ohne geltungserhaltende Übergangsregelung wortidentisch in den § 6 Abs 3 S 1 BKV, der seitdem alle streitigen Rechtsverhältnisse, soweit sie BKen nach Nr 2112 betreffen, regelt.

10

§ 6 Abs 3 S 1 BKV idF der 4. BKVÄndVO lautet: "Leiden Versicherte am 1. Juli 2009 an einer Krankheit nach Nummer 2112, 4114 oder 4115 der Anlage 1, ist diese auf Antrag als Berufskrankheit anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 30. September 2002 eingetreten ist." Bei dem Kläger lag der Versicherungsfall der BK 2112 bereits im September 2002 - und damit vor dem Stichtag des § 6 Abs 3 S 1 BKV - vor, weil zu diesem Zeitpunkt eine Gonarthrose am rechten Knie bereits voll ausgeprägt war(vgl hierzu unter 1.). Damit kommt im vorliegenden Fall eine Anerkennung eines (weiteren) Versicherungsfalls der Gonarthrose zum 30.1.2004 bezogen nur auf das linke Knie nicht mehr in Betracht (hierzu unter 2.).

11

1. Bei dem Kläger lag bereits im September 2002 der Versicherungsfall der Gonarthrose am rechten Knie vor.

12

Rechtsgrundlage für die Anerkennung einer BK ist § 9 Abs 1 SGB VII iVm BK 2112. Nach § 9 Abs 1 S 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als solche bezeichnet hat (sog Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Nach ständiger Senatsrechtsprechung ist für die Feststellung einer Listen-BK (Versicherungsfall) erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG vom 17.12.2015 - B 2 U 11/14 R - BSGE 120, 230 = SozR 4-2700 § 9 Nr 26, RdNr 10 und vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 10 und - B 2 U 10/14 R - BSGE 118, 255 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 RdNr 11 sowie - B 2 U 20/14 R - BSGE 118, 267 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8, RdNr 10 jeweils mwN). Der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht (BSG vom 15.5.2012 - B 2 U 31/11 R - NZS 2012, 909, Juris RdNr 34 mwN) und ernste Zweifel ausscheiden (BSG vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 3 RdNr 20). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK, wohl aber für eine Leistung (Leistungsfall).

13

Der Versicherungsfall einer Listen-BK setzt somit voraus, dass die Bundesregierung als Verordnungsgeberin die Krankheit als BK in der Anl 1 der BKV bezeichnet hat und sämtliche Merkmale dieses Tatbestandes erfüllt sind (vgl BSG vom 17.5.2011 - B 2 U 19/10 R - SozR 4-5671 § 6 Nr 5 RdNr 11 und vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 17 RdNr 12). Die Bundesregierung hat die BK 2112 mit Art 1 Nr 3 Buchst c der Zweiten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (2. BKVÄndVO) vom 11.6.2009 (BGBl I 1273) mit Wirkung zum 1.7.2009 (Art 2 aaO) in die Anl 1 der BKV eingefügt. Die BK 2112 hat folgenden Wortlaut: "Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbare Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13 000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht".

14

Eine Gonarthrose iS der BK 2112 iVm § 6 Abs 3 S 1 BKVO lag nach dem Gesamtzusammenhang der den Senat gemäß § 163 SGG bindenden, weil nicht mit Verfahrensrügen angefochtenen Feststellungen des LSG bereits im September 2002 und damit vor dem maßgeblichen Stichtag 30.9.2002 vor.

15

Dem steht nicht entgegen, dass § 6 Abs 3 S 1 BKV von einem "Versicherungsfall nach dem 30.9.2002" spricht. Denn die Verordnungsgeberin verwendet den Begriff des Versicherungsfalls nicht iSd gesetzlichen Bedeutung des § 7 Abs 1 SGB VII, sondern untechnisch und gleichbedeutend mit "Erkrankung"(BSG vom 17.5.2011- B 2 U 19/10 R - SozR 4-5671 § 6 Nr 5 RdNr 15). Der Versicherungsfall einer BK kann erst dann eintreten, wenn die BK durch Aufnahme in die Anl 1 zur BKV überhaupt rechtlich existent geworden ist. Die BK 2112 ist aber erst mit Wirkung zum 1.7.2009 (Art 2 der 2. BKVÄndVO) in die Anl 1 zur BKV aufgenommen worden und damit in Kraft getreten, sodass ein davor eingetretener Versicherungsfall ausscheidet. Folglich kann bei wirkungserhaltender Auslegung (vgl dazu zB Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl 1991, S 444; Kramer, Juristische Methodenlehre, 5. Aufl 2016, S 109; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2017, § 5 RdNr 53; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2016, RdNr 327) des § 6 Abs 3 S 1 BKV mit dem dort verwendeten Begriff des Versicherungsfalls nur der "Erkrankungsfall" gemeint sein(BSG vom 17.5.2011 - B 2 U 19/10 R - SozR 4-5671 § 6 Nr 5 RdNr 15).

16

Der Erkrankungsfall der "Gonarthrose" tritt ein, sobald ein Kniegelenk die diagnostischen Krite-rien dieser Krankheit erfüllt, weil es sich bei den Verschleißerscheinungen an den Kniegelenken um einen einheitlichen Erkrankungsfall handelt. Der Versicherungsfall der Gonarthrose setzt mithin nicht voraus, dass an beiden Knien eine Erkrankung vorliegt. Dafür spricht bereits, dass der Tatbestand der BK 2112 knieübergreifend von einer "Gonarthrose" spricht, ohne dabei zwischen den beiden Kniegelenken zu differenzieren, und gleichzeitig für die Verschleißerkrankung beider Kniegelenke dieselbe Krankheitsbezeichnung verwendet. Zudem entspricht es der Systematik der GUV, mehrere Gesundheitsstörungen - selbst wenn es sich um medizinisch voneinander unabhängige Gesundheitsschäden handelt - als eine einheitliche BK und damit auch als einheitlichen Erkrankungsfall zu behandeln, wenn sie auf derselben Ursache bzw wesentlichen Bedingung beruhen, dh auf ein und dieselbe gefährdende Tätigkeit zurückzuführen sind (BSG vom 18.12.1990 - 8 RKnU 2/90 - SozR 3-2200 § 592 Nr 1 und vom 24.8.1978 - 5 RKnU 6/77 - SozR 5677 Anl 1 Nr 42 Nr 1).

17

Der Erkrankungsfall der BK 2112 - die "Gonarthrose" - lag betreffend das rechte Knie im September 2002 vor, was letztlich auch vom Kläger selbst nicht in Frage gestellt wird. Hierfür müssen die Kriterien vorliegen, die nach den aktuellen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Diagnose sichern. Das Recht knüpft damit an den medizinischen Diagnosebegriff und die dazu entwickelten Kriterien an (s BSG vom 27.6.2017 - B 2 U 17/15 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3102 Nr 1 sowie vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 22, vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20 und vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1, RdNr 15 zum Kehlkopfkarzinom nach ionisierenden Strahlen). Dabei sind zur Ermittlung des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands und als Interpretationshilfe die Merkblätter heranzuziehen (BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 20/14 R - BSGE 118, 267 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8 RdNr 15, vom 12.4.2005 - B 2 U 6/04 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 5 RdNr 8 vom 2.5.2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 85; BSG vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1, RdNr 17 mwN), auch wenn sie weder verbindliche Konkretisierungen der Tatbestandsvoraussetzungen der BK noch antizipierte Sachverständigengutachten oder eine Dokumentation des Standes der einschlägigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft sind (BSG vom 27.6.2017 - B 2 U 17/15 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3102 Nr 1 sowie vom 11.8.1998 - B 2 U 261/97 B - HVBG-INFO 1999, 1373).

18

Nach dem Merkblatt zur BK 2112 (Bekanntmachung des BMGS vom 30.12.2009, GMBl 2010, 98) hat die Diagnose einer Gonarthrose folgende Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen:

-       

chronische Kniegelenksbeschwerden,

-       

Funktionsstörungen bei der orthopädischen Untersuchung in Form einer eingeschränkten Streckung oder Beugung im Kniegelenk und

-       

die röntgenologische Diagnose einer Gonarthrose entsprechend Grad 2 - 4 der Klassifikation von Kellgren ua.

19

Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG wurden diese Diagnosekriterien am Stichtag (30.9.2002) erfüllt, auch wenn das LSG seine "Subsumtion" nicht in allen Nuancen im Urteil wiedergegeben hat.

20

2. Dass beim Kläger später - zum 30.1.2004 - auch am linken Knie ein voll ausgeprägtes Krankheitsbild der Gonarthrose auftrat, vermag nichts daran zu ändern, dass der Versicherungsfall der Gonarthrose iS des § 6 Abs 3 S 1 BKV bezogen auf das rechte Knie bereits vor dem Stichtag vorlag, weshalb eine Anerkennung einer BK 2112 nur des linken Knies zu diesem späteren Zeitpunkt nicht mehr möglich ist. Zum Zustand des linken Knies am Stichtag hat das LSG bindend festgestellt, dass "zeitnah zum röntgenologischen Nachweis einer entsprechenden Arthrose im September 2002 keine funktionellen Beeinträchtigungen in Form von chronischen Kniegelenksbeschwerden oder Funktionsstörungen aktenkundig" sind und der Vollbeweis einer Gonarthrose links am 30.9.2002 somit nicht erbracht ist.

21

Dies ändert freilich nichts daran, dass bezogen auf das rechte Knie der Erkrankungsfall der Gonarthrose vor dem Stichtag bindend festgestellt ist (s soeben unter 1.) und damit die "Erkrankung Gonarthrose" iS der BK 2112 insgesamt bereits vor dem Stichtag vorlag. Wie ausgeführt, setzt die BK 2112 nicht zwingend voraus, dass beide Knie gleichzeitig erkranken. Die Frage, ob bei einer sukzessiven Erkrankung beider Knie versicherungsrechtlich ein einheitlicher Erkrankungsfall vorliegt, kann nur mit Blick auf die gefährdende Tätigkeit (die schädigenden Einwirkungen) beantwortet werden (BSG vom 18.12.1990 - 8 RKnU 2/90 - SozR 3-2200 § 592 Nr 1 und vom 24.8.1978 - 5 RKnU 6/77 - SozR 5677 Anl 1 Nr 42 Nr 1). Es kommt mithin darauf an, ob die Gonarthrose des einen Knies auf denselben oder aber auf anderen, davon unabhängigen Belastungen als die Gonarthrose des anderen Knies beruht. Auch wenn faktisch und in aller Regel nur die gesamte Kniebelastung während des Arbeitslebens zu "einer kumulativen Einwirkungsdauer … von mindestens 13 000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht" führen wird, ist - jedenfalls theoretisch - nicht völlig auszuschließen, dass sich in besonders gelagerten Einzelfällen feststellen lässt, dass die Schäden an den einzelnen Knien auf voneinander unabhängige Einwirkungen zurückzuführen sind, sodass sie ausnahmsweise als selbständige Erkrankungsfälle anzusehen wären. So erwähnt auch das Merkblatt zur BK 2112 in der Bekanntmachung des BMGS vom 30.12.2009, GMBl 2010, 98, zB überwiegend einseitige Kniebelastungen (ebenso zutreffend SG München vom 23.9.2015 - S 33 U 572/12). Im vorliegenden Fall trifft das jedoch nicht zu. Die vom Kläger ausgeübten gefährdenden Tätigkeiten bilden eine Einheit und können nur insgesamt sowohl für die Gonarthrose rechts als auch links ursächlich sein, weil die kumulative Einwirkungsdauer von mindestens 13 000 Stunden nach den unangefochtenen und damit bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) lediglich um 1840 Stunden überschritten ist und der Kläger nach dem Jahre 2002 seine Tätigkeit offenbar vollständig aufgegeben hat. Eine erneute nur das linke Knie schädigende Exposition nach der Gonarthrose am rechten Knie scheidet daher aus. Eine damit nur in Frage kommende Belastungsdosis von 1840 Stunden genügt indes nicht, um überhaupt denkbar einen eigenständigen Erkrankungsfall nach dem 1.10.2002 isoliert herbeizuführen. Wären die Gonarthrosen an beiden Knien hier sukzessive, aber beide nach dem Stichtag eingetreten, so wäre für das linke Knie nur eine Erhöhung der MdE gemäß § 48 Abs 1 SGB X als Folge der bereits anerkannten Gonarthrose rechts in Betracht gekommen und gerade keine Anerkennung einer zweiten, neuen BK 2112, weil es insofern an der hinreichenden Kniebelastung (Exposition) gefehlt hätte.

22

Der Senat hat im Übrigen keine Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Übergangsvorschrift des § 6 Abs 3 S 1 BKV. Bei der Einführung neuer BKen darf der Verordnungsgeber die Anerkennung von Erkrankungen, die vor einem Stichtag liegen, grundsätzlich ausschließen (BSG vom 24.2.2000 - B 2 U 43/98 - SozR 3-2200 § 551 Nr 14). Das BVerfG hat (Beschluss vom 9.10.2000 - 1 BvR 791/95 - SozR 3-2200 § 551 Nr 15) die Vereinbarkeit solcher Stichtagsregelungen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG grundsätzlich bestätigt (vgl BVerfG vom 9.10.2000 - 1 BvR 791/95 - SozR 3-2200 § 551 Nr 15; vgl auch BVerfG vom 23.6.2005 - 1 BvR 235/00 - SozR 4-1100 Art 3 Nr 32 sowie Senatsurteil vom 27.6.2006 - B 2 U 5/05 R - BSGE 96, 297 = SozR 4-5671 § 6 Nr 2). Anhaltspunkte dafür, dass der hier gewählte Stichtag nicht sachgemäß sein könnte, sind nicht ersichtlich; der Kläger hat hierzu auch nichts vorgetragen. Vielmehr erscheint dieser Stichtag schon wegen der schwierigen Feststellung medizinischer Sachverhalte "im Nachhinein" sachgerecht. Dies zeigt auch die vorliegende Fallgestaltung, denn das rechte Knie des Klägers wurde bereits 2003 vollständig prothetisch versorgt und weitere medizinische Unterlagen waren nicht mehr vorhanden.

23

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs 1 SGG.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. April 2015 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf Feststellung einer Lyme-Borreliose als Berufskrankheit (BK) nach Nr 3102 der Anl 1 zur BK-Verordnung (; "Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten", nachfolgend BK 3102) bei nachgewiesener Borrelieninfektion hat.

2

Der im Jahre 1959 geborene Kläger ist als forstwirtschaftlicher Unternehmer bei der Beklagten unfallversichert und bewirtschaftet seit Jahren regelmäßig seinen 4,28 ha großen Wald. Ihm ist seit 1998 ein Schilddrüsenmedikament verordnet, das als Nebenwirkung Herzrhythmusstörungen hervorrufen kann. Eine entsprechende Verdachtsdiagnose wurde Mitte 2003 erstmals gestellt. Im Dezember 2007 ließ er sich wegen eines seit mehr als zwei Monaten bestehenden Vorhofflimmerns stationär behandeln.

3

Im Juni 2008 stellte sich der Kläger wegen eines Zeckenbisses bei seinem Hausarzt vor, dem er bereits Mitte 2007 über einen Zeckenstich am Hals berichtet hatte. Laut Laborbericht waren im Immunoblot wenige spezifische Antikörper gegen Borrelia burgdorferi nachweisbar inklusive Spätmarker; der serologische Befund passe sowohl zu einer Serumnarbe nach ausgeheilter Infektion als auch zu einer aktiven Infektion der Stadien II oder III. Daraufhin wurde wegen nicht ganz ausgeschlossener Borreliose mit kardialer Beteiligung eine Antibiotikabehandlung für drei Wochen eingeleitet und später mittels Infusionstherapie für zwei Wochen wiederholt, ohne dass sich eine Besserung einstellte.

4

2010 teilte der Kläger der Rechtsvorgängerin der Beklagten mit, er habe im Mai 2007 nach Arbeiten im eigenen Wald einen Zeckenbiss bemerkt; Hautveränderungen seien in der Umgebung der Stichstelle nicht aufgetreten. Die Beklagte verneinte das Vorliegen einer BK 3102 sowie Ansprüche auf Leistungen (Bescheid vom 18.1.2011). Nachdem der Kläger im Widerspruchsverfahren den Arztbrief eines sog Borreliosezentrums vorgelegt hatte, wies die Beklagte den Widerspruch zurück, weil dessen Befunde schulmedizinisch und wissenschaftlich nicht anerkannt seien (Widerspruchsbescheid vom 22.9.2011).

5

Das SG hat die Klage nach Einholung von Sachverständigengutachten abgewiesen, weil Hinweise auf eine krankheitsaktive Borreliose fehlten und der Antikörperbefund allein noch keine Krankheit iS der BKV sei (Urteil vom 28.10.2013). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 15.4.2015): Der Kläger sei bei seiner versicherten Tätigkeit als Forstwirt einem deutlich erhöhten Infektionsrisiko für Borreliose ausgesetzt gewesen. Eine Lyme-Borreliose sei bei ihm aber nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorhanden; insbesondere reiche die nachgewiesene Borrelieninfektion allein nicht aus, um eine BK 3102 anzuerkennen. Krankheit iS des § 9 SGB VII sei ein regelwidriger Zustand des Körpers, des Geistes oder der Seele. Dagegen führe weder die bloße Aufnahme von Erregern in den Körper noch die körpereigene Bildung von Antikörpern gegen diesen Erreger zu einem regelwidrigen Gesundheitszustand und damit zu einer Krankheit iS des BK-Rechts. Vielmehr sei neben den Einwirkungen und der durchaus positiven und wünschenswerten Abwehr der Erreger eine negative körperliche Reaktion mit Krankheitswert erforderlich, die den Beschreibungen der jeweiligen BK-Tatbestände bzw den hierzu erlassenen Merkblättern und wissenschaftlichen Begründungen entspreche. Unter Berücksichtigung des Verordnungstextes, der Entstehungsgeschichte und des Gesamtzusammenhangs setze die Feststellung einer Lyme-Borreliose als BK 3102 den labortechnischen Nachweis einer Borrelieninfektion und einen klinischen Befund voraus, der zum Krankheitsbild der Borreliose passe. Zwar sei hier eine Borrelieninfektion serologisch bewiesen. Allein der positive Nachweis borrelienspezifischer Antikörper belege aber keine aktive Infektion mit dem Bakterium Borrelia burgdorferi, weil nach der entsprechenden Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zur Neuroborreliose, auf die das Merkblatt ua verweise, Borrelieninfektionen mit asymptomatischer Serokonversion vorkämen und über Jahre anhaltende erhöhte Antikörpertiter (in Serum oder Liquor) nach ausreichend behandelter Borreliose bei gesunden Personen keine Seltenheit darstellten. Der überwiegenden Mehrzahl infizierter Personen gelinge es, die Infektion mit der eigenen Immunabwehr durch Bildung der ggf jahrzehntelang messbaren Antikörper erfolgreich abzuwehren, sodass sie zu keinem Zeitpunkt an Borreliose erkrankten. Man spreche in diesen Fällen von einer sog Seronarbe. Soweit das Merkblatt als typische Krankheitsbilder einer Lyme-Borreliose ua "wandernde Arthralgien" und "Herzbeschwerden" benenne, hätten die beim Kläger vorhandenen Gelenkbeschwerden und Herzrhythmusstörungen andere Ursachen. Die Gelenkbeschwerden seien auf degenerative Veränderungen zurückzuführen. Das Vorhofflimmern sei für eine Lyme-Karditis völlig untypisch, trete in der Altersgruppe des Klägers häufig ohne benennbare Ursache auf und habe sich erst vier Monate nach dem angeschuldigten Zeckenstich manifestiert, zudem sei eine zweimalige Antibiotikatherapie erfolglos geblieben und es bestünden Schilddrüsenprobleme mit entsprechender Medikation, die als Nebenwirkung typischerweise Herzrhythmusstörungen hervorrufe.

6

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen (§ 9 SGB VII iVm Nr 3102 der Anl 1 zur BKV) und sinngemäß auch formellen Rechts (§ 128 Abs 1 S 1 SGG): Schon aufgrund der Borrelieninfektion liege eine feststellungsfähige BK vor. Denn unter Krankheit sei ein regelwidriger Körper- und Geisteszustand zu verstehen. Regelwidrig sei ein Körperzustand, der von der Norm abweiche, die dem Leitbild des gesunden Menschen entspreche. Hierfür sei es notwendig, dass die Aufnahme einer schädigenden Substanz in den Organismus zu negativen körperlichen Reaktionen mit Krankheitswert führe. Dies sei der Fall, wenn entsprechende Antikörper nachgewiesen seien, die das Immunsystem als Reaktion auf bestimmte Stoffe bilde. Dagegen sei die Rechtsansicht des LSG zu weitgehend, neben der Existenz von Antikörpern auch den Vollbeweis einer Infektionskrankheit zu fordern. Denn nach der Rechtsprechung des BSG sei zB auch die bloße HIV-Infektion bereits eine als BK anzuerkennende Erkrankung. Aber auch bei Zugrundelegung der Auffassung des LSG könne man sich auch auf den Standpunkt stellen, dass mit den Herzrhythmusstörungen bereits das Stadium II der Borreliose-Erkrankung erreicht und die Krankheit somit ausgebrochen sei, wie den einschlägigen Ausführungen des Robert Koch-Instituts entnommen werden könne.

7

Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. April 2015 und des Sozialgerichts Landshut vom 28. Oktober 2013 aufzuheben sowie den Bescheid vom 18. Januar 2011 und den Widerspruchsbescheid vom 22. September 2011 aufzuheben und eine Borreliose als Berufskrankheit nach Nr 3102 der Anl 1 zur BKV festzustellen.

8

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Die Gelenkbeschwerden des Klägers beruhten nicht auf einem Borrelienkontakt, sondern auf degenerativen Veränderungen. Auch die Herzrhythmusstörungen seien kein Ausdruck dafür, dass bereits das Stadium II der Borreliose-Erkrankung erreicht sei. Soweit sich die Revisionsbegründung auf den gegenteiligen Standpunkt stelle, habe sie eine Verletzung der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG)nicht formgerecht gerügt. Die erhöhten Antikörperwerte belegten eine Inkorporation von Infektionserregern und damit den Tatbestand der Exposition, aber nicht den Versicherungsfall. Der Nachweis von Antikörpern habe für sich gesehen keinen Krankheitswert. Würde man der Argumentation des Klägers folgen, wäre jeder, der den Ausbruch einer Infektionskrankheit durch sein Immunsystem erfolgreich abgewendet habe, gleichwohl krank. Jedenfalls sei das Vorhandensein von Antikörpern gegen Borrelia burgdorferi ohne krankheitsaktive Borreliose für die Unfallversicherung irrelevant.

Entscheidungsgründe

10

A. Die Revision ist zulässig, soweit sie sich gegen die Anwendung materiellen Rechts wendet. Dagegen berücksichtigt das Rechtsmittel nicht ausreichend, dass Verfahrensverstöße grundsätzlich nur auf Rüge geprüft werden, die bis zum Ablauf der Begründungsfrist - vorliegend am 23.11.2015 - ordnungsgemäß erhoben sein muss (§ 202 S 1 SGG iVm § 557 Abs 3 S 2 ZPO).

11

Soweit die Revisionsbegründung ausführt, "man könnte sich allerdings auch auf den Standpunkt stellen, dass … mit den bei dem Kläger diagnostizierten Herzrhythmusstörungen bereits das Stadium II der Borreliose-Erkrankung erreicht" sei, macht sie sinngemäß eine Verletzung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) geltend, worauf die Beklagte zutreffend hinweist. Eine formgerechte Verfahrensrüge liegt indes nicht vor, weil die Revision lediglich ihre Beweiswürdigung alternativ an die Stelle derjenigen des LSG setzt und ihren Standpunkt unausgesprochen als vorzugswürdig bezeichnet. Dies reicht für eine formgerechte Rüge der Verletzung des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht aus (BSG Urteile vom 7.2.2006 - B 2 U 31/04 R - SozR 4-2700 § 63 Nr 3 RdNr 24 und vom 7.12.2004 - B 1 KR 10/03 R - Juris RdNr 18). Denn dem Revisionsgericht ist es nicht gestattet, unter mehreren möglichen Beweiswürdigungen eine Wahl zu treffen oder diese sonst zu bewerten (stRspr, vgl nur BSG Urteile vom 7.4.1987 - 11b RAr 56/86 - SozR 1500 § 164 Nr 31 S 50, vom 19.12.2001 - B 11 AL 50/01 R - Juris RdNr 16 und vom 23.7.2015 - B 5 R 32/14 R - Juris RdNr 10). Stattdessen hätte die Revisionsbegründung entweder aufzeigen müssen, dass das LSG das "Gesamtergebnis des Verfahrens" unzureichend berücksichtigt hat, oder schlüssig darlegen müssen, dass der festgestellte Sachverhalt nur eine Folgerung erlaubt, jede andere nicht denkbar ist und das Gericht gerade die einzig denkbare Schlussfolgerung nicht gezogen, mithin gegen Denkgesetze verstoßen hat. Da dies nicht geschehen ist, ist das BSG an die gegenteiligen Feststellungen des LSG gebunden (§ 163 SGG), wonach die Herzrhythmusstörungen gerade keine Erscheinungsform einer Lyme-Borreliose sind.

12

B. Die im Übrigen zulässige Revision ist unbegründet, sodass sie zurückzuweisen ist (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Zu Recht hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen, weil die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 Var 1, § 55 Abs 1 Nr 1, § 56 SGG) unbegründet ist. Die Entscheidung der Beklagten in dem Bescheid vom 18.1.2011, die Feststellung einer BK 3102 abzulehnen, und der Widerspruchsbescheid vom 22.9.2011 sind rechtmäßig.

13

Rechtsgrundlage für die Anerkennung einer BK ist § 9 Abs 1 SGB VII iVm BK 3102. Nach § 9 Abs 1 S 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Nach ständiger Senatsrechtsprechung ist für die Feststellung einer Listen-BK (Versicherungsfall) erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" iS des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG Urteile vom 17.12.2015 - B 2 U 11/14 R - BSGE 120, 230 = SozR 4-2700 § 9 Nr 26, RdNr 10 mwN, vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 10 und - B 2 U 10/14 R - BSGE 118, 255 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6 RdNr 11 sowie - B 2 U 20/14 R - BSGE 118, 267 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8, RdNr 10; s auch BSG Urteile vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 12, vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4, RdNr 16 mwN, vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14, RdNr 9 mwN, vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 412, vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151 RdNr 14 sowie vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 RdNr 14). Der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht (BSG Urteil vom 15.5.2012 - B 2 U 31/11 R - Juris RdNr 34 mwN) und ernste Zweifel ausscheiden (BSG Urteil vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 3 RdNr 20). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK, wohl aber für eine Leistung (Leistungsfall).

14

Der Verordnungsgeber hat die BK 3102 unter der Abschnittsüberschrift "Durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten sowie Tropenkrankheiten" wie folgt bezeichnet: "Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten". Die Voraussetzungen dieses Tatbestandes iVm § 9 Abs 1 SGB VII sind nicht erfüllt, weil der Kläger nicht an seiner solchen "Krankheit" leidet. Deshalb kann dahinstehen, ob dem LSG auch insoweit zu folgen gewesen wäre, als es für die "Einwirkung" keinen konkreten Nachweis von Zeckenstichen gerade bei der versicherten Tätigkeit gefordert, sondern es für ausreichend erachtet hat, dass der Kläger als Forstwirt generell "einem deutlich erhöhten Infektionsrisiko für Borreliose" ausgesetzt gewesen ist. Anders als bei der BK 3101, die für den Nachweis der Einwirkung bei Infektionskrankheiten von Versicherten im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium eine "besondere Infektionsgefahr" schon tatbestandlich voraussetzt (hierzu BSG Urteile vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4 und - B 2 U 33/07 R - BSGE 103, 54 = SozR 4-5671 Anl 1 3101 Nr 5 sowie vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - NZS 2012, 151), ist die erforderliche Einwirkung in der hier zu beurteilenden BK 3102 vom Verordnungsgeber offengelassen und gerade nicht definiert worden. Der vom LSG offensichtlich beabsichtigte Verzicht auf die Feststellung jeder konkreten Einwirkung und das bloße Abstellen auf die abstrakte Gefahr des Arbeitens im Wald in einem Gebiet mit regional erhöhtem Zeckenbefall dürfte aber den Anforderungen einer im Vollbeweis festzustellenden Einwirkung kaum mehr genügen (vgl hierzu Bieresborn, NZS 2008, 354). Letztlich kann dies aber dahinstehen, weil bei dem Kläger schon keine Krankheit iS der BK 3102 vorliegt.

15

Bei der BK 3102 handelt es sich um eine sog offene BK-Bezeichnung (vgl Spellbrink, BPUVZ 2012, 360, 362; ders SozSich 2013, 431 f; Bieresborn, NZS 2008, 354, 359), bei der die erforderliche Erkrankung nicht präzise umschrieben, sondern nur eine Krankheitsgruppe, nämlich "von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten", genannt wird. Anerkennungsfähig sind mithin hier alle Krankheiten dieser Gruppe, die durch die betreffende Einwirkung potentiell verursacht werden können. Um ein bestimmtes Krankheitsbild aus dem Schutzbereich dieser BK ausschließen zu können, muss demgegenüber feststehen, dass entweder diese Krankheit nach dem Willen des Verordnungsgebers nicht vom Schutzbereich der Norm umfasst sein sollte oder durch die jeweilige Einwirkung nicht verursacht werden kann (vgl iE BSG Urteil vom 17.12.2015 - B 2 U 11/14 R - BSGE 120, 230 = SozR, aaO, RdNr 14), was bei der Lyme-Borreliose nicht der Fall ist, die hier allein als eine anerkanntermaßen von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheit in Betracht kommt.

16

Werden - wie vorliegend - die Rechtsbegriffe "durch Infektionserreger … verursachte Krankheiten" und "von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten" durch einen fachmedizinischen Diagnosebegriff ("Lyme-Borreliose") ausgefüllt, so bedeutet dies, dass diesem Diagnosebegriff der Bedeutungs- bzw Sinngehalt zukommt, den ihm der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand beimisst: Es müssen die Diagnosekriterien vorliegen, die krankheitsbeweisend sind, also nach den aktuellen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft erfüllt sein müssen, um die Diagnose zu sichern. Das Recht knüpft damit an den medizinischen Diagnosebegriff und die dazu entwickelten Kriterien an, die die überwiegende Mehrheit der Fachmediziner, die auf dem jeweils in Betracht kommenden Gebiet über spezielle Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, wissenschaftlich fundiert vertreten ( s BSG Urteil vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1, RdNr 15, zum Kehlkopfkarzinom nach ionisierenden Strahlen; vgl zuletzt BSG Urteile vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 22 und vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20). Auf dieser Grundlage ist der Kläger nicht an einer Lyme-Borreliose erkrankt (nachfolgend 1.). Die Borrelieninfektion als solche stellt keine von Tieren auf Menschen übertragbare "Krankheit" im Rechtssinne dar (nachfolgend 2.). Sie liegt auch nicht deshalb vor, weil die behandelnden Ärzte aufgrund des Verdachts, es könnte eine Lyme-Borreliose bestehen, Laborbefunde erhoben und Therapiemaßnahmen in Form einer zweimaligen Antibiotikatherapie eingeleitet haben (nachfolgend 3.).

17

1. Der Kläger leidet nicht an einer Lyme-Borreliose, weil deren medizinisch-diagnostischen Kriterien nicht erfüllt sind. Auf der Grundlage der medizinischen Beweisaufnahme und unter Heranziehung der aktuellen S1-Leitlinie der DGN (zur Neuroborreliose, Stand September 2012, AWMF-Registernummer 030/071, S 2) hat das LSG für das BSG bindend festgestellt (§ 163 Halbs 1 SGG), dass die Diagnose einer Lyme-Borreliose sowohl den (indirekten) Erregernachweis mittels Laboruntersuchung (Serodiagnostik, Antikörpernachweis) als auch den Nachweis einer typischen klinischen Symptomatik erfordert. Dass diese Diagnosekriterien nicht (mehr) dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen, ist weder mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen gerügt worden (§ 163 Halbs 2 SGG)noch für den Senat offenkundig (zur insofern bestehenden Prüfungskompetenz vgl BSG Urteil vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 20 mwN). Die Feststellung einer Lyme-Borreliose als BK 3102 setzt mithin voraus, dass ihre typischen klinischen Symptome und die Borrelieninfektion im Vollbeweis belegt sind und diese Leitsymptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf der Borrelieninfektion beruhen. Das LSG hat den (indirekten) Erregernachweis für erbracht erachtet (nachfolgend a) und das Vorliegen von klinischen Symptomen beschrieben, die für eine Borreliose-Erkrankung typisch sind (nachfolgend b). Es hat jedoch die hinreichende Wahrscheinlichkeit zwischen der nachgewiesenen Borrelieninfektion und den Gelenkbeschwerden bzw Herzrhythmusstörungen rechtsfehlerfrei verneint (nachfolgend c).

18

a) Das LSG hat unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Beweisaufnahme wegen der nachweislich erhöhten IgG-Antikörper-Werte im Antikörper-Suchtest IgG-ELISA und im Bestätigungstest IgG-Immunoblot einen Kontakt des Immunsystems mit Borrelia burgdorferi zu einem unbekannten Zeitpunkt und damit eine Borrelieninfektion bejaht.

19

b) Zum Krankheitsbild einer Lyme-Borreliose zählen nach der Lfd Nr 15 des Anhangs zum Merkblatt der BK 3102 (Bekanntmachung des BMGS vom 1.9.2003, BArbBl 10/2003, 26) ua "Erythema migrans", "wandernde Arthralgien", "Arthritis" sowie "Herzbeschwerden". Die Merkblätter sind zur Ermittlung des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands und als Interpretationshilfe heranzuziehen (BSG Urteile vom 23.4.2015 - B 2 U 20/14 R - BSGE 118, 267 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8 RdNr 15, vom 12.4.2005 - B 2 U 6/04 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 5 RdNr 8, vom 2.5.2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 85; BSG Urteil vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1, RdNr 17 mwN), auch wenn sie weder verbindliche Konkretisierungen der Tatbestandsvoraussetzungen der BK noch antizipierte Sachverständigengutachten oder eine Dokumentation des Standes der einschlägigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft sind (BSG Beschluss vom 11.8.1998 - B 2 U 261/97 B - HVBG-INFO 1999, 1373), was auch das LSG nicht verkannt hat. Hautveränderungen iS einer Wanderröte (Erythema migrans) hat der Kläger nach den Feststellungen des LSG weder selbst bemerkt noch sind sie ärztlich dokumentiert. Auch fehlt der Nachweis von Schwellungszuständen und Gelenkergüssen als Zeichen einer manifesten Arthritis (Gelenkentzündung). Dagegen liegen wiederkehrende (rezidivierende) Gelenkbeschwerden ("Arthralgien") vor, die nicht auf eine bestimmte Körperstelle beschränkt sind, sondern nach Angaben des Hausarztes vor allem im Lendenwirbelsäulenbereich ("Lumbalgie"), in der Nacken-Schulter-Arm-Region ("Cervicobrachialgie") sowie dem rechten Ellenbogen (Epicondylitis humeri radialis, sog Tennisellenbogen) auftreten und damit als "wandernd" bezeichnet werden können. Darüber hinaus leidet der Kläger unter "Vorhofflimmern mit absoluter Arrhythmie" und damit auch an "Herzbeschwerden".

20

c) Unter Berufung auf den Hausarzt und das internistische Sachverständigengutachten ist das LSG indes ohne Rechtsfehler zu dem Ergebnis gelangt, dass im Fall des Klägers gerade nicht mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang zwischen der Borrelieninfektion und den beschriebenen Gelenkbeschwerden in mehreren Körperregionen spricht, sondern ein solcher wegen der gleichfalls nachgewiesenen degenerativen Veränderungen (Bandscheibenvorfall L5/S1, Bandscheibenschaden C5/6) ernsthaft bezweifelt werden muss. Ebenfalls ist es revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das LSG den Zusammenhang zwischen der Borrelieninfektion und dem Vorhofflimmern mit absoluter Arrhythmie verneint hat, weil diese Erkrankung für eine Lyme-Karditis völlig untypisch ist, in der Altersgruppe des Klägers häufig ohne benennbare Ursache auftritt, sich erst vier Monate nach dem Zeckenstich manifestiert hat, eine zweimalige Antibiotikatherapie erfolglos geblieben ist und Schilddrüsenprobleme mit entsprechender Medikation bestehen, die als Nebenwirkung Herzrhythmusstörungen hervorrufen kann.

21

2. Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich die symptomlose Borrelieninfektion als solche nicht unter den unfallversicherungsrechtlichen Begriff der "Krankheit" iS des § 9 Abs 1 S 1 SGB VII und der BK 3102 subsumieren. Gesetz- und Verordnungsgeber haben den im Recht der BKen vorausgesetzten Krankheitsbegriff nicht näher festgelegt, sondern von einer Definition abgesehen, weil der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt ständige Änderungen dessen bewirkt, was als "Krankheit" erkannt werden kann (BSG Urteil vom 30.9.2015 - B 3 KR 14/14 R - SozR 4-2500 § 33 Nr 48 RdNr 29; Hauck, NJW 2016, 2695, 2700). In der Sozialversicherung umschreiben Rechtsprechung (BSG Urteile vom 24.7.1985 - 9b RU 36/83 - SozR 5670 Anl 1 Nr 3102 Nr 1, vom 26.11.1987 - 2 RU 20/87 - SozR 2200 § 551 Nr 31, vom 30.9.2015, aaO sowie zuletzt vom 8.3.2016 - B 1 KR 35/15 R - SozR 4-2500 § 27 Nr 28 RdNr 9 mwN) und Literatur (Becker, SGb 2010, 131, 135; Brandenburg in jurisPK-SGB VII, 2. Aufl 2014, § 9 RdNr 50; Knispel, SGb 2016, 632; Koch in Lauterbach, Unfallversicherung, Stand November 2016, § 9 RdNr 54; Mehrtens/Brandenburg, BKV, § 9 SGB VII Anm 6; Ricke in Kasseler Kommentar, SGB VII, Stand 1.12.2016, § 9 RdNr 9; Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand Februar 2017, K § 9 RdNr 8a; Schmitt, SGB VII, 4. Aufl 2009, § 9 RdNr 5; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und BK, 9. Aufl 2017, S 66; Spellbrink, SR 2014, 140, 143) Krankheit auch im BK-Recht als regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, wovon die Beteiligten und die Vorinstanzen ebenfalls ausgehen.

22

"Regelwidrig" ist jeder Zustand, der von der Norm abweicht (normativer Krankheitsbegriff), die ihrerseits durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägt ist (BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 28 RdNr 9 und SozR 4-2500 § 33 Nr 48 RdNr 29). "Gesundheit" wiederum ist derjenige Zustand, der dem Einzelnen die Ausübung der (aller) körperlichen Funktionen ermöglicht (BSG aaO). Folglich kommt nicht jeder körperlichen Regelwidrigkeit (hier: Vorhandensein von Antikörpern gegen Borrelia burgdorferi) Krankheitswert im Rechtssinne zu (BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 28 RdNr 10). Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird (funktioneller Krankheitsbegriff). Ausgehend von diesem normativ-funktionellen Krankheitsbegriff reicht die bloße Aufnahme schädigender Substanzen (zB Infektionserreger, Asbest, Quarzstaub) in den Körper allein im Regelfall nicht aus (anders offenbar LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.5.2014 - L 3 U 228/12 - Juris RdNr 41 f und Bayerisches LSG Urteil vom 13.12.1989 - L 10 U 144/88 - Juris, zur BK 1101). Vielmehr ist es grundsätzlich notwendig, dass diese Einwirkung über zunächst rein innerkörperliche Reaktionen (iS normabweichender physiologischer oder biologischer Prozesse) oder Strukturveränderungen hinaus zu (irgend)einer Funktionsstörung führt (zB leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf, vgl dazu BSG Urteil vom 11.1.1989 - 8 RKnU 1/88 - SozR 2200 § 551 Nr 34). Diese Auffassung wird durch die Gesetzessystematik des BK-Rechts bestätigt (dazu ausführlich Mehrtens/Brandenburg, aaO, § 9 Anm 6.3). Denn das Gesetz unterscheidet zwischen einer bereits eingetretenen BK, einer individuell drohenden - also noch nicht eingetretenen - BK sowie der generellen Gesundheitsgefahr am Arbeitsplatz. Dementsprechend differenziert das Unfallversicherungsrecht zwischen der Generalprävention (§§ 14 ff SGB VII) zur Vermeidung von schädigenden Einwirkungen auf die Versicherten am Arbeitsplatz, den individualpräventiven Maßnahmen nach § 3 BKV bei einer drohenden Gefahr der Entstehung, der Verschlimmerung oder des Wiederauflebens einer BK sowie Maßnahmen(Heilbehandlung, berufliche Rehabilitation, Entschädigung, §§ 26 ff SGB VII) bei einer anerkannten BK. Die individualpräventiven Maßnahmen nach § 3 BKV stehen somit an der Nahtstelle zwischen stattgehabter Einwirkung und dem Eintritt des Versicherungsfalls. Eine Schadstoffinkorporierung, zu der auch die Aufnahme von Krankheitserregern zählt, kann im Einzelfall die Voraussetzung einer drohenden Gefahr iS des § 3 BKV erfüllen, wenn die Gefahr des Eintritts eine mehr als entfernte Möglichkeit darstellt. Aus der normativen Differenzierung zwischen drohender BK iS des § 3 BKV und eingetretener BK iS des § 9 SGB VII folgt zugleich, dass die bloße Aufnahme eines schädlichen Stoffes grundsätzlich der erstgenannten Fallgruppe zuzuordnen ist(Mehrtens/Brandenburg, aaO).

23

Hier führte die Aufnahme von Borrelia burgdorferi in den Organismus des Klägers zu einer körperlichen Abwehrreaktion des Immunsystems, die laborchemisch belegbar ist. Damit waren jedoch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Störungen irgendwelcher Körperfunktionen verbunden; die Gelenkbeschwerden und Herzrhythmusstörungen hatten - wie unter 1. dargestellt - nach den bindenden Feststellungen des LSG andere Ursachen. Hat die körpereigene Immunabwehr des Klägers nach der Aufnahme von Borrelia burgdorferi das Auftreten von Funktionsstörungen gerade verhindert und ist die Infektion deshalb stumm (symptomlos, asymptomatisch) verlaufen, so liegt keine "Krankheit" im Rechtssinne und damit kein Versicherungsfall (§ 7 Abs 1 SGB VII)in der gesetzlichen Unfallversicherung vor. Mit dem positiven Ergebnis im Antikörper-Suchtest IgG-ELISA und im Bestätigungstest IgG-Immunoblot ist somit allenfalls eine körperliche Einwirkung, nicht jedoch eine (Berufs-)"Krankheit" belegt. Zu Recht weist die Beklagte darauf hin, dass niemand, dessen Immunsystem den Ausbruch einer Infektionskrankheit erfolgreich abgewendet habe, gleichwohl als "krank" im Rechtssinne bezeichnet werden könne. Vielmehr tritt der Versicherungsfall der BK erst ein, wenn die Infektionskrankheit zu Funktionsstörungen führt, weil die körpereigene Immunabwehr überfordert ist.

24

Soweit die Revision geltend macht, das BSG (Urteil vom 18.11.1997 - 2 RU 15/97 - Juris RdNr 19: "HIV-Infektion ist eine Infektionskrankheit") sei bereits bei der nachgewiesenen Infektion mit dem HI-Virus vom Vorliegen einer BK 3101 ausgegangen, lässt sie unbeachtet, dass es nach einer HIV-Infektion meist zu ersten Krankheitszeichen (zB Fieber, Nachtschweiß, Abgeschlagenheit, Hautausschläge, Gelenkschmerzen usw) kommt und die medizinische Wissenschaft daher konsequenterweise bereits von einer akuten "HIV-Krankheit" (nicht gleichbedeutend mit "AIDS") spricht (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, HIV und AIDS, Heft 31 Juni 2006, Robert Koch-Institut in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt, S 8), während die Infektion mit Borrelia burgdorferi typischerweise symptomlos verläuft. Zudem handelt es sich bei der Ansteckung mit dem HI-Virus um eine Infektion, die ohne ärztliche Behandlung zu einer lebensbedrohlichen AIDS-Erkrankung führen kann, weil das körpereigene Immunsystem allein regelmäßig nicht in der Lage ist, die Infektionserreger vollständig abzuwehren (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, aaO). Dagegen erkrankt die Mehrzahl der Menschen mit dem Nachweis borrelienspezifischer Antikörper nicht an Borreliose, weil es ihrer Immunabwehr - wie hier - gelingt, die Infektion erfolgreich zu bekämpfen. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die sich auf das Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme und auf die aktuelle S1-Leitlinie der DGN (zur Neuroborreliose, Stand September 2012, AWMF-Registernummer 030/071, S 2) stützen, kommen borrelienspezifische Antikörper auch bei gesunden Personen vor, sodass ihr serologischer Nachweis allein noch keine aktive Infektion mit aktiven Borrelia burgdorferi belegt.

25

3. Soweit die Rechtsprechung in einem Einzelfall schon den bloßen Krankheitsverdacht als "Krankheit" iS des BK-Rechts angesehen hat, ohne dass schon akute Funktionsbeeinträchtigungen vorlagen (BSG Urteil vom 24.7.1985 - 9b RU 36/83 - SozR 5670 Anl 1 Nr 3102 Nr 1), vermag dies an dem gefundenen Ergebnis nichts zu ändern. In dem genannten Fall (BSG Urteil vom 24.7.1985, aaO) hatte der als Forstwart beschäftigte Kläger ohne Schutzhandschuhe ein an Tollwut erkranktes Reh zerwirkt. Auf die darauf erfolgte Tollwutimpfung erkrankte der Kläger an mit Wahrscheinlichkeit auf diese Impfung zurückzuführenden Herzbeschwerden. Das BSG hat insofern die Notwendigkeit der "Heilbehandlung" (Impfung) aufgrund des bloßen Krankheitsverdachts bejaht. In einer vergleichbaren Situation befand sich der Kläger hier im Juni 2008, nachdem Herzrhythmusstörungen aufgetreten, die serologischen Laborbefunde positiv gewesen waren und sein Hausarzt "wegen nicht ganz ausgeschlossener Borreliose mit kardialer Beteiligung" eine medikamentöse Antibiotikabehandlung für drei Wochen einleitete, die später mittels Infusionstherapie für zwei Wochen wiederholt wurde. Dies ändert aber nichts daran, dass die "Krankheit" iS des jeweiligen Tatbestands der in der Anl 1 zur BKV aufgelisteten Krankheiten für die isolierte Feststellung einer BK jeweils iS des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen muss. Ein bloßer Krankheitsverdacht, der sich rückblickend nicht bestätigt hat, kann daher nicht zu der hier erstrebten und mit der Revision verfolgten Feststellung einer BK führen, wenngleich für die aufgrund des "Verdachts" durchgeführten Diagnosemaßnahmen etc eine Zuständigkeit der Beklagten - etwa auch gemäß § 3 BKV- gegeben sein kann.

26

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, soweit sie die Gewährung von Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und Jugend der Klägerin betrifft.

Die zweitinstanzlich erhobene Klage betreffend Folgen körperlicher Misshandlung wird abgewiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

2

Die 1949 geborene Klägerin lebte bis 1962 bei ihrer Mutter und deren zweiten Ehemann H. Stiefvater). Der Vater der Klägerin hatte sich kurz nach der Geburt der Klägerin von deren Mutter getrennt. Gegen den Stiefvater wurde offenbar aufgrund des Verdachts, seine eigene Tochter sexuell missbraucht zu haben, ein Ermittlungsverfahren durchgeführt. Nach dem Tod des Stiefvaters im März 1962 wurde die Klägerin vom Jugendamt aus dem Haushalt der Mutter herausgenommen und ihrem Vater, der wieder geheiratet hatte, zugeführt.

3

Im Mai 1967 erstattete die Klägerin gegen ihren Vater eine Strafanzeige. Dieser habe sie im vergangenen halben Jahr immer wieder unzüchtig berührt. Der Vater wurde offenbar verhaftet und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Klägerin zunächst dem Jugendamt der Stadt K. und ab August 1967 der Evangelischen Jugendhilfe des Amtes für Diakonie K. übertragen. Bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres arbeitete die Klägerin in der Heimküche eines Altersheims, wo sie anscheinend auch wohnte. Nach dem späteren Erwerb des Hauptschulabschlusses und verschiedenen Erwerbstätigkeiten heiratete die Klägerin im Jahre 1976 und gebar zwischen 1977 und 1981 drei Kinder.

4

Anlässlich einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation in der P.-Klinik B. im Jahr 2000 wurde bei der Klägerin neben einer mittelgradigen depressiven Episode erstmals eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Im Anschluss an diese Maßnahme nahm die Klägerin eine ambulante Psychotherapie bei der psychologischen Psychotherapeutin S. auf. Diese äußerte den Verdacht einer dissoziativen Identitätsstörung die im Jahr 2002 durch die Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. bestätigt wurde.

5

Im Mai 2005 beantragte die Klägerin beim Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie die Gewährung von Gewaltopferentschädigung, weil sie in ihrer Kindheit von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht und von ihrem Vater sexuell belästigt worden sei. Zur Begründung legte sie das Ergebnis ihrer Recherchen sowie Unterlagen vor, die sie unter Mitwirkung ihrer Therapeutin zusammengetragen hatte. Von dort wurde die Angelegenheit im Juni 2005 wegen des angegebenen Tatorts in K. zuständigkeitshalber an das Versorgungsamt M. abgegeben. Dieses Amt holte einen Befundbericht der Psychotherapeutin S. sowie Berichte der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. ein. Zudem befragte das Amt schriftlich Frau C., die in der Zeit von 1969 bis 1972 als Sozialarbeiterin im Amt für Diakonie tätig und kurze Zeit mit der Pflegschaft der Klägerin befasst war. Ferner zog es die von der Evangelischen Jugend- und Familienhilfe K. eV archivierte Akte der Klägerin über die Pflegschaft der Klägerin sowie die Schwerbehindertenakte des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie bei, das mit Bescheid vom 30.8.2005 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 wegen einer psychischen Behinderung ab Mai 2005 festgestellt hatte.

6

Mit Bescheid vom 3.1.2006 des Versorgungsamts M. in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 17.7.2006 wurde der Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG abgelehnt. Es sei nicht nachgewiesen, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 OEG geworden sei. Weder der sexuelle Missbrauch durch den Stiefvater noch die sexuelle Belästigung durch den leiblichen Vater seien nachgewiesen. Selbst unter Heranziehung der Beweiserleichterung des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) sei ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf die Klägerin nicht anzunehmen.

7

Das von der Klägerin daraufhin angerufene Sozialgericht Lüneburg (SG) hat von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. F. ein im Juli 2007 erstattetes nervenärztliches Gutachten mit einem unter Mithilfe des psychologischen Psychotherapeuten Dr. B. erstellten testpsychologischen Zusatzgutachten eingeholt. Der Sachverständige diagnostizierte eine dissoziative Identitätsstörung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH. Er vertrat die Auffassung, dass aufgrund des eindeutigen Vorliegens einer dissoziativen Identitätsstörung nach herrschender wissenschaftlicher Lehre ein frühkindlicher sexueller Missbrauch als Ursache für die Störung anzunehmen sei.

8

Mit Urteil vom 8.11.2007 hat das SG die noch gegen das Land Nordrhein-Westfalen gerichtete Klage abgewiesen, weil nicht im Sinne des notwendigen Vollbeweises feststellbar sei, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Auch unter Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG sei nicht anzunehmen, dass ein derartiger Angriff auf die Klägerin in ihrer Kindheit stattgefunden habe, weil von einer Glaubhaftigkeit der Schilderungen der Klägerin nicht ausgegangen werden könne. Schließlich sei der vom Sachverständigen gezogene Rückschluss von der vorliegenden Erkrankung auf deren Ursache nicht zulässig.

9

Das von der Klägerin mit der Berufung angerufene Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat weitere medizinische Unterlagen eingeholt, ua den Rehabilitations-Entlassungsbericht der P.-Klinik B. vom 26.7.2000 sowie das für die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover in einem Rentenverfahren erstellte Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr. T. vom 18.1.2005. Außerdem hat sich das LSG von der Dipl. Psychologin D. ein Glaubhaftigkeitsgutachten vom 19.4.2011 über die Klägerin erstatten lassen. Danach ist die Aussage der Klägerin bezüglich des dargelegten Missbrauchs durch den Stiefvater (1961 bis 1962) und den Vater (1963 bis 1967) nicht glaubhaft. Zwar liege keine bewusste Falschaussage vor, es bestünden aber Hinweise, dass die Angaben der Klägerin sich erst unter suggestiven Bedingungen entwickelt hätten.

10

Mit Urteil vom 16.9.2011 hat das LSG die zuletzt gegen den beklagten Landschaftsverband gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Seine Entscheidung hat es auf folgende Erwägungen gestützt:

Das Gericht sehe sich nicht in der Lage, einen sexuellen Missbrauch der Klägerin durch deren Stiefvater und/oder eine sexuelle Belästigung durch deren leiblichen Vater und damit einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG anzunehmen. Der von der Klägerin behauptete sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung sei zur Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen. Unmittelbare Tatzeugen seien nicht vorhanden. Stiefvater, Mutter und Vater der Klägerin seien bereits verstorben. Urkunden, wie etwa staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten etc, seien nicht mehr vorhanden. Andere Beweismittel, die die Angaben der Klägerin bestätigen könnten, seien nicht ersichtlich. Der sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung könne auch nicht aus der medizinischen Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung gefolgert werden.
Schließlich lasse sich ein sexueller Missbrauch bzw eine sexuelle Belästigung auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung nach § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 KOVVfG annehmen. Zwar komme die Beweiserleichterung (Glaubhaftmachung) zugunsten der Klägerin zur Anwendung, weil es weder Zeugen noch sonstige zum Beweis geeignete Unterlagen zu den von der Klägerin behaupteten Taten gebe. Die entsprechenden Behauptungen der Klägerin seien jedoch nicht glaubhaft. Dies ergebe sich zum einen aus dem eingeholten Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. und zum anderen auch aus eigenen Erwägungen des Senats zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin. Ein Anspruch auf Opferentschädigung ergebe sich aus im Wesentlichen gleichen Überlegungen auch nicht aus der Behauptung der Klägerin, von ihrem Vater einmal krankenhausreif geschlagen worden zu sein.

11

Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass der Anspruch der Klägerin "wahrscheinlich" auch an den Voraussetzungen des § 10a OEG scheitern würde. Für Taten in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 könnten die Opfer nur dann Entschädigung nach dem OEG erhalten, wenn sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt seien, also ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 50 vorliege. Nach dem Schwerbehindertenrecht sei indes nur ein GdB von 30 anerkannt. Dem Gutachten des Dr. F. sei nicht zu folgen, weil er keinerlei Begründung dafür gegeben habe, dass die "MdE 50" betrage. Im Ergebnis könne dies jedoch dahinstehen.

12

Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Soweit das LSG davon ausgehe, dass keine Beweismittel mehr vorhanden seien, sei § 103 SGG verletzt. Sie, die Klägerin, habe dem LSG gegenüber die Vernehmung ihrer Halbschwester als Zeitzeugin angeboten. Soweit das LSG sage, dass aus der Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung nicht auf deren Ursache rückgeschlossen werden könne, stehe dies im Widerspruch zu der Aussage des erstinstanzlich eingeholten ärztlichen Gutachtens. Zudem sei nach der Entscheidung des BSG vom 18.10.1995 - 9/9a RVg 4/92 - ein derartiger Rückschluss durchaus ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn die herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft die geltend gemachte Belastung allgemein für geeignet halte, bestimmte Krankheiten hervorzurufen. Nach dem Gutachten des Dr. F. sei nach heute herrschender wissenschaftlicher Lehrmeinung ein entsprechender Rückschluss hier möglich.

13

Im Hinblick auf das zweitinstanzlich eingeholte aussagepsychologische Gutachten sei bisher ungeklärt, ob ein derartiges Gutachten überhaupt "die Entscheidung des Gerichts ersetzen darf". Bezüglich der vom LSG als eigene Erwägungen bezeichneten Gründe zur fehlenden Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen (fehlende Aussagekonstanz) habe das LSG nicht beachtet, dass sie an einer dissoziativen Identitätsstörung leide.

14

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 sowie des Sozialgerichts Lüneburg vom 8. November 2007 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 3. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2006 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter sowie einer schweren körperlichen Misshandlung Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz iVm dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.

15

Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

16

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

17

Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland auf deren Antrag hin beigeladen (Beschluss vom 29.1.2013). Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

18

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

19

Die Revision der Klägerin ist zulässig.

20

Sie ist vom BSG zugelassen worden und damit statthaft (§ 160 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat bei der Einlegung und Begründung der Revision Formen und Fristen eingehalten (§ 164 Abs 1 und 2 SGG). Die Revisionsbegründung genügt den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch nach dem OEG auf zahlreiche schädigende Vorgänge stützt. Demnach ist der Streitgegenstand derart teilbar, dass die Zulässigkeit und Begründetheit der Revision für jeden durch einen abgrenzbaren Sachverhalt bestimmten Teil gesondert zu prüfen ist (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9 V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3). Dabei bietet es sich hier an, die verschiedenen Vorgänge in zwei Gruppen zusammenzufassen, nämlich einen über Jahre andauernden sexuellen Missbrauch und eine körperliche Misshandlung.

21

Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs rügt die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) durch das LSG, weil das Gericht ihre Halbschwester nicht als Zeitzeugin vernommen habe. Als weitere Verletzung der Sachaufklärungspflicht betrachtet die Klägerin die Einholung und Verwertung eines aussagepsychologischen Gutachtens durch das LSG, und zwar auch in Bezug auf die behauptete einmalige schwere körperliche Misshandlung durch ihren Vater. Als Verletzung der Sachaufklärungspflicht und Überschreitung der Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung rügt die Klägerin, dass das LSG entgegen dem erstinstanzlich eingeholten psychiatrischen Gutachten nicht davon ausgegangen sei, dass aus der Art ihrer jetzigen Erkrankung auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit und Jugend rückgeschlossen werden könne. Die Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung habe das LSG auch im Rahmen von ihm so bezeichneter eigener Erwägungen überschritten. Insgesamt rügt die Klägerin zusätzlich eine Verletzung des materiellen Beweisrechts, weil sich das LSG bei Anwendung des § 15 KOVVfG nicht an die danach geltenden Grundsätze der Glaubhaftmachung gehalten habe.

22

Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter betrifft. Hinsichtlich geltend gemachter Folgen einer schweren körperlichen Misshandlung durch den Vater führt die Revision insoweit zu einer Änderung des Urteils des LSG, als die darauf bezogene zweitinstanzlich erhobene Klage abgewiesen wird.

23

Stillschweigend aber zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass bereits während des Berufungsverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiv legitimiert ist (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 20 mwN). Denn § 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung(= Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW 482) hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung sowie der Opferentschädigung auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG verstößt (vgl hierzu Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21, und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann, sodass sich die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGG)ab 1.1.2008 gemäß § 6 Abs 1 OEG gegen den für die Klägerin örtlich zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu richten hat.

24

Obwohl auch der Revisionsantrag der Klägerin auf die Bewilligung einer "Opferentschädigung" gerichtet ist, legt der Senat den erhobenen Anspruch im wohlverstandenen Interesse der Klägerin dahin aus, dass diese die Gewährung von Beschädigtenrente begehrt (vgl § 123 SGG). Der wörtlich gestellte Leistungsantrag wäre nämlich unzulässig. Zwar kann im sozialgerichtlichen Verfahren die Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG auf jede nach dem materiellen Recht vorgesehene Leistung gerichtet werden. Die beanspruchte Leistung muss indes genau bezeichnet werden (BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 5). Der Begriff Opferentschädigung betrifft aber keine bestimmte Leistung, sondern umfasst alle nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG zur Verfügung stehenden Leistungen (vgl § 1 Abs 1 OEG iVm § 9 BVG). Selbst wenn nach den Umständen des Falles als "Opferentschädigung" nur Geldleistungen in Betracht kämen, kann nach der Rechtsprechung des Senats ein dann immer noch zu unbestimmter Ausspruch nicht Gegenstand eines Grundurteils nach § 130 SGG sein(Urteil vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R - USK 99140 S 816 f; Urteil vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R - BSGE 88, 240, 246 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 S 90; Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12).

25

Soweit das LSG erstmals über einen Anspruch der Klägerin nach dem OEG/BVG wegen der Folgen einer einmaligen schweren körperlichen Misshandlung durch ihren Vater entschieden hat, handelt es sich um eine Entscheidung über eine erst im Laufe des Berufungsverfahrens erhobene Klage. Diese Klage ist schon deshalb unzulässig, weil über den Anspruch insoweit noch keine Verwaltungsentscheidung vorliegt. Das LSG hat sich mit diesem Streitpunkt nicht gesondert befasst. Insoweit ist das Urteil des LSG klarstellend dahin abzuändern, dass diese Klage abgewiesen wird.

26

Für einen Anspruch der Klägerin auf eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:

Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs 1 S 1 OEG gegeben sind(vgl hierzu BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.

27

In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

28

Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Dabei hat der erkennende Senat je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie des erkennenden Senats ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist er in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 36 mwN).

29

In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Für den Senat ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein(BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 8 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 23 f, und - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 28 f). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten. Eine Erstreckung dieses Begriffsverständnisses auf andere Fallgruppen hat das BSG bislang abgelehnt (vgl BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 RdNr 12).

30

Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iS des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs 1 S 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs 2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.

31

Zum "Mobbing" als einem sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes hat der erkennende Senat entschieden, dass bei einzelnen "Mobbing"-Aktivitäten die Schwelle zur strafbaren Handlung und somit zum kriminellen Unrecht überschritten sein kann; tätliche Angriffe liegen allerdings nur vor, wenn auf den Körper des Opfers gezielt eingewirkt wird, wie zB durch einen Fußtritt (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 278 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 72).

32

Auch in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, in denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, ist maßgeblich auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib und Leben des Opfers abzustellen. Die Grenze der Wortlautinterpretation hinsichtlich des Begriffs des tätlichen Angriffs sieht der Senat jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 44 mwN). So ist beim "Stalking" die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - erst überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen das Opfer begangen und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 69 mwN).

33

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang hier: tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

34

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN).

35

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit iS des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

36

Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).

37

Soweit die Klägerin Beschädigtenrente nach dem OEG wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter beansprucht, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung unmöglich. Entgegen der bisherigen Diktion auch des LSG ist nicht zwischen einem sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und einer sexuellen Belästigung durch den Vater zu unterscheiden, sondern einheitlich von einem sexuellen Missbrauch zu sprechen. Denn strafrechtlich wird so nicht differenziert. Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von Kindern (Personen unter vierzehn Jahren) setzt § 176 StGB "sexuelle Handlungen" voraus. Ebenso stellt § 177 StGB betreffend andere Personen "sexuelle Handlungen" unter Strafe. Als solche werden alle Einwirkungen auf ein Kind oder eine über vierzehn Jahre alte Person verstanden, die mit sexuell bezogenem Körperkontakt einhergehen (s nur Fischer, StGB, 59. Aufl 2012, § 177 RdNr 49), sodass darunter auch die bisher als sexuelle Belästigung bezeichneten Handlungen des Vaters der Klägerin fallen. Die von der Klägerin ihrem Stiefvater und ihrem Vater zur Last gelegten schädigenden Vorgänge werden zwar von § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst. Es fehlen jedoch hinreichende verwertbare Tatsachenfeststellungen.

38

Den behaupteten sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und später durch den Vater der Klägerin hat das LSG nicht als nachgewiesen erachtet. Diese Beurteilung vermag der Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu bestätigen. Denn sie beruht auf einer Auslegung des § 15 S 1 KOVVfG, die der Senat nicht teilt.

39

Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl bereits BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6).

40

Diesen Kriterien hat das LSG zwar Rechnung getragen, indem es eine Anwendbarkeit des § 15 S 1 KOVVfG angenommen hat. Der Anwendung dieser Vorschrift steht hier auch nicht der Umstand entgegen, dass das LSG verpflichtet war, die von der Klägerin benannte Zeugin R. zu vernehmen, denn diese ist nicht als Tatzeugin, sondern als Zeitzeugin benannt worden. Die Verpflichtung zu ihrer Vernehmung folgt indes aus § 103 SGG, denn ausgehend von seiner materiellen Rechtsansicht zur Anwendbarkeit des § 15 KOVVfG hätte sich das LSG zu deren Vernehmung gedrängt fühlen müssen. Die Angaben der Zeugin R. sind nämlich von erheblicher Relevanz im Rahmen der Prüfung einer Glaubhaftmachung des sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch ihren Stiefvater H. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG über ein Ermittlungsverfahren gegen H. wegen eines sexuellen Missbrauchs seiner eigenen Tochter könnte es sich bei der Zeugin um die Tochter des H. handeln, die möglicherweise selbst von diesem sexuell missbraucht worden ist. Ihren Angaben kann somit auch hinsichtlich des behaupteten sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch H. erhebliche Bedeutung zukommen.

41

Obwohl das LSG den § 15 S 1 KOVVfG herangezogen hat, lassen seine Ausführungen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es dabei den von dieser Vorschrift eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde gelegt hat. Aus der einschränkungslosen Bezugnahme auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 lässt sich eher der Schluss ziehen, dass das LSG insoweit einen unzutreffenden, nämlich zu strengen Beweismaßstab angewendet hat. Diese Sachlage gibt dem Senat Veranlassung, grundsätzlich auf die Verwendung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten in Verfahren betreffend Ansprüche nach dem OEG einzugehen.

42

Die Einholung und Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten zulässig.

43

Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 118 RdNr 11b). Dies gilt auch für die Einholung eines sog Glaubhaftigkeitsgutachtens. Dabei handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Da eine solche Beurteilung an sich zu den Aufgaben eines Tatrichters gehört, kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BGH aaO, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22). Ob eine derartige Beweiserhebung erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9 = Juris RdNr 22). Die Entscheidung, ob eine solche Fallgestaltung vorliegt und ob daher ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen ist, beurteilt und trifft das Tatsachengericht im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG. Fußt seine Entscheidung auf einem hinreichenden Grund, so ist deren Überprüfung dem Revisionsgericht entzogen (vgl BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9 = Juris RdNr 20, 23).

44

Von Seiten des Gerichts muss im Zusammenhang mit der Einholung, vor allem aber mit der anschließenden Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens stets beachtet werden, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49). In einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung trifft der Sachverständige erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt. Durch das Gutachten vermittelt er dem Gericht daher auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f). Die umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliegt sodann dem Gericht.

45

Aus den Ausführungen in dem Urteil des LSG NRW vom 28.11.2007 (- L 10 VG 13/06 - Juris RdNr 25) ergeben sich keine Hinweise auf die Unzulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialrechtlichen Verfahren. Vielmehr hat das LSG NRW hierbei lediglich die Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts gerügt, das anstelle der Vernehmung der durch die dortige Klägerin benannten Zeugen ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte (ua mit der Beweisfrage "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - dh es darf kein begründbarer Zweifel bestehen - fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs - in welchem Zeitraum, in welcher Weise - geworden ist?"; Juris RdNr 9). Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn das LSG NRW zum einen die Vernehmung der Zeugen gefordert und zum anderen festgestellt hat, dass die an die Sachverständigen gestellte Frage keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich sei, sondern dass das Gericht diese Tatsache selbst aufzuklären habe. Ausdrücklich zu aussagepsychologischen Gutachten hat das LSG NRW ferner zutreffend festgestellt, auch bei diesen dürfe dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden habe oder nicht. Vielmehr dürfe dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprächen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhten (LSG NRW, aaO, Juris RdNr 25 aE). Aus diesen Ausführungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, das LSG NRW gehe grundsätzlich davon aus, dass in sozialrechtlichen Verfahren keine Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt und berücksichtigt werden könnten.

46

Für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten gelten auch im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts zunächst die Grundsätze, die der BGH in der Entscheidung vom 30.7.1999 (1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellt hat. Mit dieser Entscheidung hat der BGH die wissenschaftlichen Standards und Methoden für die psychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zusammengefasst. Nicht das jeweilige Prozessrecht schafft diese Anforderungen (zum Straf- und Strafprozessrecht: Fabian/Greuel/Stadler, StV 1996, 347 f), vielmehr handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse der Aussagepsychologie (vgl Vogl, NJ 1999, 603), die Glaubhaftigkeitsgutachten allgemein zu beachten haben, damit diese überhaupt belastbar sind und verwertet werden können (so auch BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f; vgl grundlegend hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 48 ff; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 16 ff). Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten stellen sich wie folgt dar (vgl zum Folgenden BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167 ff mwN; basierend ua auf dem Gutachten von Steller/Volbert, wiedergegeben in Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46 ff):

Bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen besteht das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer bestimmten Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet (gedanklich) also zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese (Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46, 61; den Begriff der Nullhypothese sowie das Ausgehen von dieser kritisierend Stanislawski/Blumer, Streit 2000, 65, 67 f). Der Sachverständige bildet dazu neben der "Wirklichkeitshypothese" (die Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert) die Gegenhypothese, die Aussage sei unwahr. Bestehen mehrere Möglichkeiten, aus welchen Gründen eine Aussage keinen Erlebnishintergrund haben könnte, hat der Sachverständige bezogen auf den konkreten Einzelfall passende Null- bzw Alternativhypothesen zu bilden (vgl beispielhaft hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 52 f; ebenso, zudem mit den jeweiligen diagnostischen Bezügen Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 61 ff). Die Bildung relevanter, also auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmter Hypothesen ist von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. Im weiteren Verlauf hat der Sachverständige jede einzelne Alternativhypothese darauf zu untersuchen, ob diese mit den erhobenen Fakten in Übereinstimmung stehen kann; wird dies für sämtliche Null- bzw Alternativhypothesen verneint, gilt die Wirklichkeitshypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.

47

Die zentralen psychologischen Konstrukte, die den Begriff der Glaubhaftigkeit - aus psychologischer Sicht - ausfüllen und somit die Grundstruktur der psychodiagnostischen Informationsaufnahme und -verarbeitung vorgeben, sind Aussagetüchtigkeit (verfügt die Person über die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen zur Erstattung einer verwertbaren Aussage?), Aussagequalität (weist die Aussage Merkmale auf, die in erlebnisfundierten Schilderungen zu erwarten sind?) sowie Aussagevalidität (liegen potentielle Störfaktoren vor, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können?). Erst wenn die Aussagetüchtigkeit bejaht wird, kann der mögliche Erlebnisbezug der Aussage unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Validität untersucht werden (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49; zur eventuell erforderlichen Hinzuziehung eines Psychiaters zur Bewertung der Aussagetüchtigkeit Schumacher, StV 2003, 641 ff). Das abschließende gutachterliche Urteil über die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann niemals allein auf einer einzigen Konstruktebene (zB der Ebene der Aussagequalität) erfolgen, sondern erfordert immer eine integrative Betrachtung der Befunde in Bezug auf sämtliche Ebenen (Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 62).

48

Die wesentlichen methodischen Mittel, die der Sachverständige zur Überprüfung der gebildeten Hypothesen anzuwenden hat, sind die - die Aussagequalität überprüfende - Aussageanalyse (Inhalts- und Konstanzanalyse) und die - die Aussagevalidität betreffende - Fehlerquellen-, Motivations- sowie Kompetenzanalyse. Welche dieser Analyseschritte mit welcher Gewichtung durchzuführen sind, ergibt sich aus den zuvor gebildeten Null- bzw Alternativhypothesen; bei der Abgrenzung einer wahren Darstellung von einer absichtlichen Falschaussage sind andere Analysen erforderlich als bei deren Abgrenzung von einer subjektiv wahren, aber objektiv nicht zutreffenden, auf Scheinerinnerungen basierenden Darstellung (vgl hierzu Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 17 ff).

49

Diese Prüfungsschritte müssen nicht in einer bestimmten Prüfungsstrategie angewendet werden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau. Die einzelnen Elemente der Begutachtung müssen auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden (vgl BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f). Es ist vielmehr ausreichend, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung des Gutachtens ergibt, dass der Sachverständige das dargestellte methodische Grundprinzip angewandt hat. Vor allem muss überprüfbar sein, auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist.

50

Die aufgrund der dargestellten methodischen Vorgehensweise, insbesondere aufgrund des Ausgehens von der sog Nullhypothese, vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu SG Fulda Urteil vom 30.6.2008 - S 6 VG 16/06 - Juris RdNr 33 aE; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07 - Juris RdNr 36; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.6.2012 - L 4 VG 13/09 - Juris RdNr 44 ff; offenlassend, aber Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese äußernd LSG Baden-Württemberg Urteil vom 15.12.2011 - L 6 VG 584/11 - ZFSH/SGB 2012, 203, 206) überzeugen nicht.

51

Nach derzeitigen Erkenntnissen gibt es für einen psychologischen Sachverständigen keine Alternative zu dem beschriebenen Vorgehen. Der Erlebnisbezug einer Aussage ist nicht anders als durch systematischen Ausschluss von Alternativhypothesen zur Wahrannahme zu belegen (Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 20, 22). Nach dem gegenwärtigen psychologischen Kenntnisstand kann die Wirklichkeitshypothese selbst nicht überprüft werden, da eine erlebnisbasierte Aussage eine hohe, aber auch eine niedrige Aussagequalität haben kann. Die Prüfung hat daher an der Unwahrhypothese bzw ihren möglichen Alternativen anzusetzen. Erst wenn sämtliche Unwahrhypothesen ausgeschlossen werden können, ist die Wahrannahme belegt (vgl Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 22). Zudem hat diese Vorgehensweise zur Folge, dass sämtliche Unwahrhypothesen geprüft werden, womit ein ausgewogenes Analyseergebnis erzielt werden kann (Schoreit, StV 2004, 284, 286).

52

Es ist zutreffend, dass dieses methodische Vorgehen ein recht strenges Verfahren der Aussageprüfung darstellt (so auch Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 205), denn die Tatsache, dass eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet nicht zwingend, dass diese Hypothese tatsächlich zutrifft. Gleichwohl würde das Gutachten in einem solchen Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass eine wahre Aussage nicht belegt werden kann. Insoweit korrespondieren das methodische Grundprinzip der Aussagepsychologie und die rechtlichen Anforderungen in Strafverfahren besonders gut miteinander (vgl dazu Volbert, aaO S 20). Denn auch die Unschuldsvermutung hat zugunsten des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten. Durch beide Prinzipien soll auf jeden Fall vermieden werden, dass eine tatsächlich nicht zutreffende Aussage als glaubhaft klassifiziert wird. Zwar soll möglichst auch der andere Fehler unterbleiben, dass also eine wahre Aussage als nicht zutreffend bewertet wird. In Zweifelsfällen gilt aber eine klare Entscheidungspriorität (vgl Volbert, aaO): Bestehen noch Zweifel hinsichtlich einer Unwahrhypothese, kann diese also nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so gilt der Erlebnisbezug der Aussage als nicht bewiesen und die Aussage als nicht glaubhaft.

53

Diese Konsequenz führt nicht dazu, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialrechtlichen Entschädigungsverfahren nach dem OEG als Beweismittel schlichtweg ungeeignet sind. Soweit der Vollbeweis gilt, ist damit die Anwendung dieser methodischen Prinzipien der Aussagepsychologie ohne Weiteres zu vereinbaren. Denn dabei gilt eine Tatsache erst dann als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Bestehen in einem solchen Verfahren noch Zweifel daran, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist, weil eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, geht dies zu Lasten des Klägers bzw der Klägerin (von der Zulässigkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten ausgehend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08 - Juris RdNr 24 ff; LSG NRW Urteil vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05 - Juris RdNr 24; ebenso, jedoch bei Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG Bayerisches LSG Urteil vom 30.6.2005 - L 15 VG 13/02 - Juris RdNr 40; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05 - Juris RdNr 34 sowie Urteil vom 16.9.2011 - L 10 VG 26/07 - Juris RdNr 38 ff).

54

Die grundsätzliche Bejahung der Beweiseignung von Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialen Entschädigungsrecht wird auch dadurch gestützt, dass nach der dargestellten hypothesengeleiteten Methodik - unter Einschluss der sog Nullhypothese - erstattete Gutachten nicht nur in Strafverfahren Anwendung finden, sondern auch in Zivilverfahren (vgl BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527, 2528 f; Saarländisches OLG Urteil vom 13.7.2011 - 1 U 32/08 - Juris RdNr 50 ff) und in arbeitsrechtlichen Verfahren (vgl LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.7.2011 - 26 Sa 1269/10 - Juris RdNr 64 ff). In diesen Verfahren ist der Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw der Voraussetzungen für einen Kündigungsgrund (zumeist eine erhebliche Pflichtverletzung) ebenfalls erforderlich.

55

Soweit allerdings nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG eine Glaubhaftmachung ausreicht, ist ein nach der dargestellten Methodik erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ohne Weiteres geeignet, zur Entscheidungsfindung des Gerichts beizutragen. Das folgt schon daraus, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, während ein aussagepsychologischer Sachverständiger diese Angaben erst dann als glaubhaft ansieht, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen kann. Da ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten den Vollbeweis ermöglichen soll, muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines solchen Gutachtens nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können.

56

Will sich ein Gericht auch bei Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen, so hat es den Sachverständigen mithin auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten kann. Dabei sind auch die Beweisfragen entsprechend zu fassen. Im Falle von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen lautet die übergeordnete psychologische Untersuchungsfragestellung: "Können die Angaben aus aussagepsychologischer Sicht als mit (sehr) hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden?" (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/ Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49). Demgegenüber sollte dann, wenn eine Glaubhaftmachung ausreicht, darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können.

57

Damit das Gericht den rechtlichen Begriff der Glaubhaftmachung in eigener Beweiswürdigung ausfüllen kann und nicht durch die Feststellung einer Glaubhaftigkeit seitens des Sachverständigen festgelegt ist, könnte es insoweit hilfreich sein, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergibt (für eine solche Vorgehensweise im Asylverfahren vgl Lösel/Bender, Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd 7, 2001, S 175, 184). Denn dem Tatsachengericht ist am ehesten gedient, wenn der psychologische Sachverständige im Rahmen des Möglichen die Wahrscheinlichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgrade für die unterschiedlichen Hypothesen darstellt.

58

Diesen Maßgaben wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG ohne Weiteres auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 gestützt. Dieses Glaubhaftigkeitsgutachten ist vom LSG zu den Fragen eingeholt worden:

59

Ist die Aussage der Klägerin bezüglich der dargelegten schädigenden Ereignisse (Missbrauch durch den Stiefvater H. 1961 - 1962; Missbrauch durch den Vater 1963 - 1967) glaubhaft? Wenn ja, auf welchen aussagepsychologischen Kriterien beruht die Glaubhaftigkeit zu den unmittelbaren schädigenden Ereignissen? Wenn nein, nach welchen aussagepsychologischen Kriterien ist die Glaubhaftigkeit für die unmittelbaren schädigenden Ereignisse nicht erreicht oder auszuweisen?

60

Ein Hinweis auf den im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ist dabei nach Aktenlage nicht erfolgt. Dementsprechend lässt das Gutachten der Sachverständigen D. nicht erkennen, dass sich diese der daraus folgenden Besonderheiten bewusst gewesen ist. Vielmehr hat die Sachverständige in dem Abschnitt 3 ("Methodik der Begutachtung und Hypothesenbildung") festgestellt, dass es sich bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung um einen Hypothesen geleiteten Prüfprozess handele ("Wahrheits-Hypothese" und "Unwahr-Hypothese"). Dabei hat die Sachverständige auf Veröffentlichungen von Volbert (Beurteilung von Aussagen über Traumata. Erinnerungen und ihre psychologische Bewertung - Forensisch-psychologische Praxis 2004 und Volbert/Steller, Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit, 2004) hingewiesen (S 15 f des Gutachtens).

61

Da das Berufungsurteil mithin bei der Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG offenbar auf einer Tatsachenwürdigung beruht, der ein unzutreffender Beweismaßstab zugrunde liegt, vermag der erkennende Senat die Beurteilung des LSG zu diesem Punkt nicht zu bestätigen.

62

Auf dieser nicht tragfähigen Tatsachenwürdigung beruht die Entscheidung des LSG. Das gilt auch in Anbetracht des Umstandes, dass das LSG seine Auffassung von der fehlenden "Glaubhaftigkeit" der Behauptungen der Klägerin zusätzlich auf eigene Erwägungen gestützt hat. Denn diese Erwägungen tragen die Entscheidung des LSG nicht allein. Vielmehr hat das LSG diese Ausführungen nur ergänzend gemacht ("nicht nur auf das Glaubhaftigkeitsgutachten, sondern auch auf eigene Erwägungen"), sodass das Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. nach der Diktion des LSG für dessen Tatsachenwürdigung maßgebend ist.

63

Der erkennende Senat sieht sich zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG veranlasst (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), weil die jetzt nach zutreffenden Beweismaßstäben vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (§ 163 SGG).

64

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 08.09.2004 wird zurückgewiesen.

II. Die Kosten des Revisionsverfahrens vor dem Bundessozialgericht B 2 U 100/12 B trägt die Staatskasse. Ansonsten haben die Beteiligten einander außergerichtliche Aufwendungen nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nummer 1317 (Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische) bzw. nach den Nummern 1302 und 1303 der Anlage I zur Berufskrankheitenverordnung (BK 1317 bzw. BK 1302 und BK 1303).

Am 26.04.2001 ging bei der Beklagten eine ärztliche Anzeige des Nervenarztes Dr. B. über eine Berufskrankheit des Klägers ein, in der ausgeführt wird, der Kläger leide an einer Neuropathie, einer schweren Myopathie, einer schweren Ataxie, einer schweren Leistungsminderung und zunehmenden chemischen Überempfindlichkeit.

Der Kläger war von 1970 bis 1987 als selbstständiger Landwirt, von 1987 bis 1989 als Keramikarbeiter und von 1989 bis 1992 als Lkw-Fahrer tätig. Ab 1992 war er bei der Firma H. GmbH (H) als Maschinenführer beschäftigt. Er kam dort mit Härtern, Leim und Lösungsmitteln sowie Lärm in Kontakt. Im November 2000 gab er diese Tätigkeit auf.

Die Beklagte zog ein Krankheitsverzeichnis der Krankenkasse sowie verschiedene Befundberichte bei, unter anderem Reha-Entlassungsberichte der Rentenversicherung vom 07.04.1998 und vom 10.04.2000. Sie zog die Sicherheitsdatenblätter der Stoffe bei, mit denen der Kläger an seinem Arbeitsplatz bei Hin Berührung gekommen war (insbesondere Dynomel L-425, L-435 und Härter H-467, H-469). Zudem holte sie eine Stellungnahme des Facharztes für Arbeitsmedizin Dr. L. ein. Das Gewerbeaufsichtsamt W-Stadt gab am 20.09.2001 eine gewerbeärztliche Stellungnahme durch Dr. R. ab.

Mit Bescheid vom 08.11.2001 (Widerspruchsbescheid vom 14.12.2001) lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit der BK-Zifferngruppe 13, insbesondere der BK 1317, unter Hinweis auf die Stellungnahme des staatlichen Gewerbearztes ab.

Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhoben. Das SG hat ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Sozialmedizin Prof. Dr. E. vom 10.03.2003 eingeholt. Auf Veranlassung des SG hat Prof. Dr. D. ein arbeitsmedizinisches Gutachten vom 12.05.2003 erstattet. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 08.09.2004 abgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger am 09.11.2004 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Der Senat hat ein arbeitsmedizinisches Gutachten des Prof. Dr. D. vom 27.07.2006 und ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. C. vom 17.09.2007 (mit ergänzenden gutachtlichen Stellungnahmen vom 01.02.2011 und vom 30.08.2011) sowie auf Vorschlag des Gutachters ein psychologisches Zusatzgutachten des Diplom-Psychologen J. F. vom 31.07.2007 eingeholt. Auf Antrag des Klägers hat der Senat auf der Grundlage des § 109 SGG ein Gutachten der Dr. K. vom 06.05.2009 (mit ergänzender, von der Klägerseite vorgelegter Stellungnahme vom 22.01.2010) erstatten lassen. Die Klägerseite hat eine „gutachterliche Stellungnahme zur Darstellung des Standes der Wissenschaft in Sachen BK 1317“ des Diplom-Chemikers und „Impulsgebers für den Ersatz des Merkblattes in Sachen BK 1317“ Dr. M. vom 21.09.2010 (mit Ergänzung vom 12.04.2011) vorgelegt.

Mit Urteil vom 30.11.2011 hat der Senat die Berufung zurückgewiesen. Auf die Beschwerde des Klägers hat das Bundessozialgericht (BSG) mit Beschluss vom 24.07.2012, B 2 U 100/12 B, das Urteil vom 30.11.2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurück verwiesen; das LSG hätte den im Termin nochmals protokollierten Anträgen des Klägers vom 14.04.2010 und 15.11.2011 nachkommen und weitere Fragen an den Sachverständigen zulassen müssen. Der Senat hat daraufhin eine ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. E. vom 03.01.2013 eingeholt und den Gutachter Dr. C. am 12.03.2013 und am 16.10.2013 zu den Fragen des Klägers angehört.

Der Kläger führt aus, zwar hätten aufgrund eines Unfalls im September 1990 mit einer Schädigung der Halswirbelsäule gesundheitliche Beeinträchtigungen vorgelegen, diese hätten allerdings nicht zu einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit geführt. Vielmehr sei er aufgrund dieser Beeinträchtigungen lediglich nicht mehr in der Lage gewesen, als Lkw-Fahrer zu arbeiten. Die Beeinträchtigungen hätten nach Aufnahme der Tätigkeit bei H deutlich zugenommen und schließlich im Jahre 2000 zur völligen Arbeitsunfähigkeit geführt. Es wäre erforderlich gewesen, den Arbeitsplatz des Klägers zu überprüfen und festzustellen, mit welchen Stoffen dieser in Berührung gekommen sei und mit welcher Intensität. Er habe auch auf 2 Arbeitskollegen verwiesen, die unter den gleichen Bedingungen gearbeitet und bereits nach kurzer Zeit dieselben Beschwerden gehabt hätten. Diese hätten als Zeugen gehört werden müssen. Als Folge der Tätigkeit bei H liege eine Polyneuropathie und eine Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische gemäß der Listen-Nummer 1317 vor. Bei der Beurteilung einer Berufskrankheit sei vom neuesten Stand der Wissenschaft auszugehen. Dieser werde vorliegend durch die Stellungnahmen des Dr. M. dargestellt. Soweit Dr. C. von guter klinischer Praxis spreche, sei dies unerheblich, da allein auf den Stand der Wissenschaft abzustellen sei. Diesen wende Dr. C. allerdings nicht an, da er ihn unzutreffend interpretiere. So finde sich im Merkblatt nichts zu den Messwerten, die nach Dr. C. eine toxische Verursachung der Polyneuropathie ausschließen würden. Auch dazu, dass das Verhalten des Patienten Testergebnisse relativieren könnte, finde sich im Merkblatt nichts. Auch nehme Dr. C. im Gegensatz zum Merkblatt an, dass Nervenleitgeschwindigkeitsmessungen der Sicherung der Diagnose Polyneuropathie dienen könnten. Hier kreiere Dr. C. ein eigenes Diagnosekriterium. Die Kausalität der Exposition für den Eintritt des Gesundheitsschadens werde vermutet. Auch könne Dr. C. letztlich die toxische Schädigung auch nicht ausschließen. Die Diagnosekriterien seien im Merkblatt eindeutig festgelegt. Eine Interpretation durch den Sachverständigen habe nicht stattzufinden. Bei der Exposition komme es nach dem Merkblatt nicht auf Grenzwerte an. Unter Ziffer III. des Merkblattes seien die Diagnosekriterien festgelegt. Lediglich Dr. K. habe ihr Gutachten nach den Diagnosekriterien erstellt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 08.09.2004 sowie den Bescheid vom 08.11.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.12.2001 aufzuheben und festzustellen, dass beim Kläger eine Berufskrankheit nach der BK-Nr. 1302, 1303 und 1317 der Anlage zu Berufskrankheitenverordnung vorliegt,

hilfsweise,

weitere Ermittlungen durchzuführen nach Maßgabe des Schriftsatzes vom 16.12.2014.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 08.09.2004 zurück zuweisen.

Die Beklagte hat eine Stellungnahme des Dr. L. und eine Stellungnahme des Facharztes für Neurologie Psychiatrie und Psychotherapie Dr. D. vom 11.01.2010 vorgelegt. Sie vertritt die Auffassung, Krankheitsbefunde im Sinne dieser BK könnten nicht festgestellt werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Gerichtsakten aller Instanzen verwiesen.

Gründe

Die Berufung des Klägers wurde form- und fristgerecht erhoben und ist auch ansonsten zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Sie ist aber unbegründet.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 08.11.2001 (Widerspruchsbescheid vom 14.12.2001), mit dem die Beklagte die Anerkennung einer BK „nach der Zifferngruppe 13“, „insbesondere Nummer 1317“ der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung abgelehnt hat. Zu Recht hat das SG die dagegen zulässigerweise erhobene kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§§ 54 Abs. 1, 55 Abs. 1 SGG) abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer BK 1317 oder 1302, 1303.

Berufskrankheiten sind nach § 7 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Versicherungsfälle. Berufskrankheiten sind dabei Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Eine BK 1317 ist eine Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische (BArbBl. 3/2005, S. 49). Eine BK 1302 liegt vor bei Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe, eine BK 1303 bei Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe und Styrol.

Für die Listen-BKen 1317 und 1302, 1303 lassen sich folgende Tatbestandsmerkmale ableiten: Die Verrichtung der - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale „versicherte Tätigkeit“, „Verrichtung“, „Einwirkungen“ und „Krankheit“ müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen (zum Erfordernis des Vollbeweise siehe BSG, Urteil vom 02.02.1978, 8 RU 66/77; Bayer. LSG, Urteil vom 01.07.2009, L 2 U 243/06; vom 06.11.2013, L 2 U 558/10; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.12.2009, L 2 U 202/07; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 02.11.2009, L 6 U 131/05). Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteile vom 27.06.2006, B 2 U 20/04 R und vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R). Um eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges zu bejahen, muss absolut mehr für als gegen die jeweilige Tatsache sprechen. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, das ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden und nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung deutlich mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (BSG, Beschluss vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B, juris Rn. 4 m.w.N.; BSG, Urteil vom 02.02.1978, 8 RU 66/77, juris Rn. 13). Die Beweisanforderungen bei der hinreichenden Wahrscheinlichkeit sind höher als bei der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (Glaubhaftmachung im Sinne eines Beweismaßes, vgl. dazu BSG, Beschluss vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B, juris Rn. 5). Überwiegende Wahrscheinlichkeit bedeutet die gute Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können; dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet (vgl. BSG vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B, juris Rn. 5 und Orientierungssatz; vom 14.12.2006, B 4 R 29/06, juris Rn. 116; vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 36; Keller, a.a.O., Rn. 3d m.w.N.; zum Zivilrecht BGH vom 11.09.2003, IX ZB 37/03, juris Rn. 8; vom 15.06.1994, IV ZB 6/94).

Der bei der Beklagten gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versicherte Kläger macht in erster Linie das Vorliegen einer BK 1317 der Anlage zur BKV geltend. Für diese BK ergibt sich aus den dargelegten Maßgaben im Besonderen, dass - neben den sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen (dazu unter 1.) - die in Nr. 1317 der Anlage I zur BKV die dort genannten Gesundheitsstörungen Polyneuropathie oder Enzephalopathie (dazu unten 2.) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, d.h. im Vollbeweis gegeben sein müssen. Für den Ursachenzusammenhang zwischen der Einwirkung durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische und den Gesundheitsstörungen (deren Vorliegen unterstellt, siehe unter 3.) genügt der geringere Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit (BSG vom 08.08.2001, a.a.O.).

1. Die sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen liegen vor. Zur vollen Überzeugung des Senats steht fest, dass der Kläger im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit von 1992 bis 2000 Einwirkungen i.S.d. der BK 1317 ausgesetzt war. Dies ergibt sich aus den Angaben des Klägers im Fragebogen zu seinem beruflichen Werdegang, an deren Richtigkeit der Senat keine Zweifel hat. Danach war der Kläger in diesem Zeitraum bei der Firma H. als Maschinenführer tätig, wo er mit Härtern, Leim und Lösungsmitteln in Kontakt gekommen ist. Auch die gewerbeärztliche Stellungnahme des Dr. R., Gewerbeaufsichtsamt W-Stadt, vom 20.09.2001 geht davon aus, dass ein Kontakt zu Leimen und Härtern, Lacken und Farben seit 1992 bestanden habe, in den zuvor ausgeübten Tätigkeiten eine Belastung im Sinne einer BK 1317 aber nicht plausibel sei. Dasselbe gilt für die von der Klägerseite vorgelegte „gutachterliche Stellungnahme zur Darstellung des Standes der Wissenschaft in Sachen BK 1317“ des Diplom-Chemikers Dr. M. vom 21.09.2010 (mit Ergänzung vom 12.04.2011). Die Feststellung von Mindestdosen der Exposition ist nicht erforderlich. Das auch insofern den Stand der Wissenschaft wiedergebende Merkblatt (Bek. des BGMS, BArbBl 2005, H3, S. 49) verweist hierzu in Ziffer I. nur auf die entsprechenden Gefahrenquellen, d.h es benennt die als gesichert neurotoxisch eingestuften Lösungsmittel, ihr Vorkommen und die Arbeiten, bei denen die Gefahr der Aufnahme dieser Stoffe durch den Körper besteht, ohne irgendwelche diesbezügliche Mindestanforderungen festzusetzen. Es besteht im Übrigen auch zwischen den Beteiligten und allen medizinischen Sachverständigen Einigkeit, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 1317 erfüllt sind. Die einzig in eine andere Richtung gehende, wage Einschätzung des Dr. L. vom 27.08.2001, es ergäbe sich kein schlüssiges Bild, wenn man den Fall von der Schadstoffexposition her aufwickle, vermag Zweifel am Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht zu begründen. Es bedarf daher insofern keiner weiteren Aufklärung des Sachverhalts, etwa durch Einholung eines toxikologischen Gutachtens.

2. Die Gesundheitsstörungen Polyneuropathie (dazu unter a) oder Enzephalopathie (dazu unter b) i.S.d. BK 1317 der Anlage zur BKV sind - den durch die Literatur und die gehörten Sachverständigen vermittelten aktuellen Stand der Wissenschaft zugrunde legend - nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegeben.

a. Die Gesundheitsstörung Polyneuropathie liegt nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor.

aa. Der aktuelle Stand der medizinischen Wissenschaft zum Vorliegen einer Polyneuropathie i.S.d. BK 1317 stellt sich wie folgt dar:

Die Polyneuropathie wird in der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme von 2012 (ICD-10) unter Punkt G 60-64 zusammen mit sonstigen Krankheiten des peripheren Nervensystems geführt. Die ICD 10 G 62.2 benennt speziell eine Polyneuropathie durch sonstige toxische Agenzien. Diese ist als Krankheit i.S.d. BK 1317 zugrunde zu legen und bedarf noch weiterer Präzisierung. Das einschlägige Merkblatt (aaO) zur BK 1317 spezifiziert die Polyneuropathie i.S. dieser BK dahingehend, dass typisch für eine neurotoxische Polyneuropathie arm- und beinbetonte, sensible, motorische oder sensomotorische Ausfälle mit strumpf- oder handschuhförmiger Verteilung sind. Asymetrische, multifokale, rein motorische oder autonome Neuropathien schließen eine Verursachung durch Lösungsmittel weitgehend aus. Polyneuropathien i.S. der BK 1317 sind also nur distal-symmetrische Polyneuropathien, nicht aber asymmetrisch-multifokale Polyneuropathien. Auch Dr. C. hat bei der Anhörung durch den Senat am 13.10.2013 nochmals in überzeugender Weise erläutert, dass Nervenschädigungen vom multifokalen Typ gegen eine toxische Genese sprechen und dass bei distal-symmetrischen Polyneuropathien typischerweise auf beiden Seiten krankhaft veränderte Nervenleitgeschwindigkeiten und auch typische klinische Symptome bestehen müssten. Neuere, insbesondere von den dargelegten Grundsätzen abweichende Erkenntnisse sind nicht ersichtlich, wurden insbesondere auch nicht durch den im Revisionsverfahren unter dem Gesichtspunkt des geänderten Merkblatts nochmals gehörten Prof. Dr. E. mitgeteilt. Was die vom Kläger kritisierte Erwähnung der „guten klinischen Praxis“ durch Dr. C. betrifft, wird - wie sich aus dem Zusammenhang der Äußerung ergibt - lediglich der Umstand thematisiert, dass die Diagnose einer Polyneuropathie auf der Anamnese und dem klinischen Befund basiert. Entgegen der Auffassung des Klägers wird dadurch der wissenschaftliche Wert der Ausführungen des Dr. C. in keiner Weise geschmälert.

bb. Die Gesundheitsstörung Polyneuropathie i.S.d BK 1317 liegt nicht mit der zu fordernden an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit vor.

Eine belangvolle Schädigung peripherer Nerven im Sinne einer toxischen Polyneuropathie hat Prof. Dr. E., Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Sozialmedizin (Gutachten vom 10.03.2003), nicht festgestellt. Er hat in den Normbereich einzuordnende Messergebnisse für den Nervus peroneus, den Nervus tibialis und den Nervus suralis rechts gefunden ebenso wie regelrechte F-Wellen und kommt zu dem zusammenfassenden Ergebnis, dass die von Dr. B. genannten Diagnosen für das neurologisch-psychiatrische Gebiet nicht bestätigt werden könnten. Eine Neuropathie, eine schwere Myopathie oder eine schwere Ataxie hat er nicht festgestellt. Prof. Dr. E. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 03.01.2013 mitgeteilt, dass sich durch die Änderung des Merkblattes im Jahre 2005, die nach seiner ursprünglichen Begutachtung erfolgte, keine neuen Gesichtspunkte ergeben haben, die vorliegend für die Feststellung einer Polyneuropathie belangvoll wären.

Die Einschätzungen des Prof. Dr. E. stimmen überein mit den Ergebnissen der von der Beklagten eingeholten und noch innerhalb des Expositionszeitraums erstellten Entlassungsberichte (EB) der Rentenversicherung vom 07.04.1998 und vom 10.04.2000. Daraus ergibt sich, dass der Kläger wegen eines chronisch rezidivierenden HWS-Syndroms und eines statisch-funktionellen LWS-Syndroms in Behandlung gewesen ist und neurologische Reiz- und Ausfallerscheinungen nicht feststellbar waren (EB vom 07.04.1998, zum neurologischen Befund Punkt 6. 3), „an den oberen und unteren Extremitäten waren sensible Qualitäten, Reflexe und Motorik seitengleich normal. Ein Hinweis auf gestörte Koordinationsfähigkeit ließ sich nicht finden. Lasègue-Zeichen beidseits negativ“ (EB vom 10.04.2000, Punkt 6. 3).

Die Einschätzung von Prof. Dr. E. wird durch die Ausführungen des Neurologen und Psychiaters Dr. C. bestätigt. Dessen vom Senat eingeholtes Gutachten vom 17.09.2007 (mit ergänzenden gutachtlichen Stellungnahmen vom 01.02.2011 und vom 30.08.2011) kommt zu dem Ergebnis, es finde sich keine typische distal-symmetrische Polyneuropathie.

Er sah in seinem auf der Untersuchung vom Juli 2007 basierenden Gutachten vom 17.09.2007, also 7 Jahre nach Beendigung der Exposition, in der Verteilung der beim Kläger gemessenen krankhaft gestörten elektro-physiologischen Messparameter zwar insgesamt Hinweise für eine diskrete Schädigung der linken peripheren Nervenbahnen an Arm und Bein. Diese interpretiert Dr. C. aber als eher vom multifokalen Typ als vom distal-symmetrischen Typ, da sie an unterschiedlichen Orten und damit nicht gleichzeitig vorkamen. Dies spricht gegen eine toxische Genese und damit gegen das Vorliegen einer toxischen Polyneuropathie, da bei dieser Ursache typischerweise auf beiden Seiten krankhaft veränderte Nervenleitgeschwindigkeiten und auch typische klinische Symptome bestehen müssten. Diese Einschätzung überzeugt, sie stimmt insbesondere mit den im Merkblatt zur BK-Nr. 1317 dargelegten Grundsätzen überein. Beim Kläger liegt daher ein entzündliches oder auch autoimmunes Geschehen vor, aber keine toxische Neuropathie i.S.d. BK 1317.

Für eine mit einer Polyneuropathie in irgendeiner Weise zusammenhängende Muskelerkrankung gibt es keine Anhaltspunkte, die von Dr. B. gestellte Diagnose einer Ataxie (Störung der Koordination von Bewegungsabläufen) ist nicht nachvollziehen. Der Neurologe und Psychiater Dr. C. hat bei der Untersuchung vom 25.07.2007 in den oberen Extremitäten keine Kraftminderung und auch keine körperlich-motorischen Koordinationsdefizite gefunden. Die elektro-physiologischen Untersuchungen zeigten für die oberen Extremitäten links eine verzögerte Nervenleitgeschwindigkeit, eine mäßiggradige F-Welle und bei den sensiblen NLG eine im Seitenvergleich verminderte Amplitude. Daraus ist mit dem Gutachter der Schluss einer subklinischen gemischten Schädigung der Nervenleitung im Bereich der Armplexus links mit einer axonalen Schädigung zu ziehen. In den unteren Extremitäten fand Dr. C. Hinweise auf eine linksseitige Plexusläsion mit diskreter demyelinisierender Schädigung und leicht bis mittelgradiger axonaler Schädigung.

Die Erklärungsversuche der Dr. K. zu der für die Feststellung einer Polyneuropathie angeblich fehlenden Relevanz der Asymmetrie der Ausfallerscheinungen überzeugen nicht; jedenfalls führen sie keinen Überzeugungsgrad des Senats herbei, der eine Bejahung einer Polyneuropathie i.S.d BK 1317 rechtfertigt. Dr. K. will die Asymmetrie der Ausfallerscheinungen in einem Zusammenhang mit dem Schleudertrauma der Halswirbelsäule und der lumbalen beidseitigen radikulären Symptomatik sehen. Hierzu weist Dr. C. in nachvollziehbarer Weise darauf hin, dass die von Dr. K. im klinischen Befund festgehaltene deutliche Kraftminderung des linken Armes und der gleichseitigen Hand entweder für eine Beeinträchtigung motorischer Nervenwurzeln infolge des (schon vor Aufnahme der gefährdenden Tätigkeit i.S.d. BK 1317 erlittenen) HWS-Traumas sprechen oder als weitere Möglichkeit der Entstehung dieser Symptome eine fokale Schädigung des Gehirns in Betracht zu ziehen ist. Wie Dr. C. erläutert, bedeutet fokal in diesem Zusammenhang, dass die Schädigung aufgrund der neuroanatomischen Grundlagen eindeutig in die rechte Gehirnhälfte lokalisiert werden müsste, was gerade das Gegenteil einer diffusen generalisierten Enzephalopathie sei. Nur letztere spräche, wie unter 2b noch auszuführen sein wird, für eine lösungsmittelbedingte Schädigung. Bei der Anhörung im Termin vom 13.10.2013 hat Dr. C. in diesem Zusammenhang nochmals darauf hingewiesen, dass die von ihm festgestellten Messwerte „SSEP“ dafür sprechen, dass eine relevante Schädigung der HWS (durch den Unfall von 1990) ausgeschlossen werden kann, da eine Verzögerung dieser Messwerte nicht habe festgestellt werden können. Eine bleibende Schädigung der Nerven in diesem Bereich hätte aber eine deutliche zeitliche Verzögerung nach sich ziehen müssen. Dr. C. stellt daher zutreffend fest, dass beim Kläger eine asymmetrisch-multifokale und nicht eine distal-symmetrische Polyneuropathie vorliegt und diese nicht durch eine lumbal radikuläre Symptomatik beeinflusst ist.

Der vom Kläger vorgelegten Stellungnahme des Diplomchemikers Dr. M. vom 12.04.2011 und vom 21.09.2010 kann der Senat keine Anhaltspunkte entnehmen, die für die Annahme des Vorliegens einer Polyneuropathie des Klägers i.S.d BK 1317 sprechen. Wegen der rechtlichen Maßgaben, zu denen sich Dr. M. geäußert hat, wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen. Zu den medizinischen Fragen, zur Testpsychologie und insbesondere zu der zu fordernden Symmetrie der Ausfälle, hat Dr. M. die Aussagen der Dr. K. übernommen und sich sonst nicht weiter geäußert; diese Fragen betreffen auch nicht sein Fachgebiet.

Die Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Homöopathie Dr. K. kommt in ihrem Gutachten vom 06.05.2009 mit ergänzender, von der Klägerseite vorgelegter Stellungnahme vom 22.01.2010 im Übrigen auch nur zu dem Ergebnis, eine toxisch bedingte Polyneuropathie liege mit hoher Wahrscheinlichkeit vor, was wie ausgeführt aus rechtlichen Gründen für deren Bejahung im Rahmen der Feststellung einer BK 1317 nicht ausreicht.

2b. Auch die Gesundheitsstörung Enzephalopathie i.S.d BK 1317 der Anlage zur BKV liegt nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor.

aa. Der aktuelle Stand der medizinischen Wissenschaft zum Vorliegen einer Enzephalopathie i.S.d. BK 1317 stellt sich wie folgt dar:

Die ICD-10 benennt unter G 92 die toxische Enzephalopathie, die als Krankheit i.S.d. BK 1317 zugrunde zu legen ist und noch weiterer Präzisierung bedarf. Unter einer toxischen Enzephalopathie versteht man eine nicht-entzündliche Erkrankung oder Schädigung des Gehirns (Enzephalopathie), die Ihre Ursache in einer akuten oder chronischen Schädigung durch giftige Substanzen hat (http://www...de/...html). Nach dem einschlägigen Merkblatt (a.a.O.) äußert sich eine Enzephalopathie i.S.d. BK 1317 durch diffuse Störungen der Hirnfunktion. Konzentrations- und Merkschwächen, Auffassungsschwierigkeiten, Denkstörungen, Persönlichkeitsveränderungen oft mit Antriebsarmut, Reizbarkeit und Affektstörungen verbunden, stehen im Vordergrund. Der psychopathologische Befund muss durch psychologische Testverfahren objektiviert werden, die das Alter des Patienten berücksichtigen. Wichtige anamnestische Hinweise sind Alkoholintoleranz und häufige pränarkotische Symptome im unmittelbaren Zusammenhang mit der Lösungsmittelexposition (Benommenheit, Trunkenheit, Müdigkeit, Übelkeit, Brechreiz, aber auch Zustände von Euphorie). Die Diagnose einer Enzephalopathie stützt sich, wie Dr. C. erläutert hat, auf die anamnestischen Angaben, den psychopathologischen Befund sowie die Ergebnisse von Testverfahren.

Eingeteilt wird die toxische Enzephalopathie in verschiedene Schweregrade. Toxische Enzephalopathien treten in der Regel noch während des Expositionszeitraumes auf. Die klinische Diagnose kann allerdings auch noch Jahre nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit gestellt werden (vgl. Merkblatt, Punkt III).

bb. Auch die Gesundheitsstörung Enzephalopathie i.S.d. BK 1317 liegt beim Kläger nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor.

Eine Enzephalopathie haben weder der vom SG gehörte neurologische Gutachter Prof. Dr. E. noch der vom Senat bestellte neurologische Gutachter Dr. C. (unter Beachtung der Feststellungen des Diplom-Psychologen F.) diagnostiziert.

Wie bereits zur Neuropathie ausgeführt kommt Prof. Dr. E., Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Sozialmedizin, in seinem Gutachten vom 10.03.2003 zu dem zusammenfassenden Ergebnis, dass die von Dr. B. genannten Diagnosen für das neurologisch-psychiatrische Gebiet nicht bestätigt werden können. Eine schwere Myopathie oder eine schwere Ataxie, die auf eine Enzephalopathie hindeuten könnten, hat Prof. Dr. E. nicht feststellen können. Auch eine schwere Leistungsminderung konnte er nicht feststellen, selbst wenn eine leichte Leistungseinschränkung beim Kläger aufgrund der bestehenden Gesundheitsstörungen mit chronischen Kopfschmerzen bei auch chronischen Wirbelsäulenbeschwerden und überlagernden reaktiven depressiven Störungen bestünde. Eine die Exposition wesentlich überdauernde Verschlimmerung von Kopfschmerzen hat Prof. Dr. E. nicht als wahrscheinlich eingeordnet. Nur die vorübergehende Verstärkung von Kopfschmerzen erklärte er mit der Belastung durch Lösungsmittel. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 03.01.2013 hat Prof. Dr. E. mitgeteilt, dass sich durch die Änderung des Merkblattes im Jahre 2005, die nach seiner ursprünglichen Begutachtung erfolgte, vorliegend keine neuen Gesichtspunkte ergeben haben, die für die Feststellung einer Enzephalopathie belangvoll wären.

Die den notwendigen Überzeugungsgrad ausschließenden Zweifel des Senats am Vorliegen einer Enzephalopathie ergeben sich auch aus den Feststellungen des Neurologen und Psychiaters Dr. C.. Der Sachverständige kommt, das geänderte Merkblatt zur BK 1317 zugrunde legend, in seinem Gutachten vom 17.09.2007 (mit ergänzenden gutachtlichen Stellungnahmen vom 01.02.2011 und vom 30.08.2011) zu dem überzeugenden Ergebnis, dass sich keine Enzephalopathie findet. Die Untersuchungen des Dr. C. haben eine leichtgradige kognitive Einbuße ergeben, die vor allem auf eine verminderte psychophysische Belastbarkeit und Ausdauer hinweist. Diese steht eher in Zusammenhang mit einer möglichen depressiven Störung (die beim Kläger bereits 1990 und damit vor Beginn der Exposition erstmals diagnostiziert wurde) als mit einer reinen hirnorganisch bedingten kognitiven Störung, wie Dr. C. übereinstimmend mit Prof. Dr. E. ausführt. Eine toxische Ursache dieser Einbuße ist unwahrscheinlich. In diesem Sinne bezeichnet Prof. Dr. E. die im Rahmen der Testung durch den Diplom-Psychologen K. am 09.02.2001 testpsychologisch erfassten Hirnleistungsstörungen des Klägers als unspezifisch und nicht hinweisend auf eine Hirnschädigung.

Auch aus den vom Diplom-Psychologen F. vom 26. bis 28.07.2007 durchgeführten neuropsychologischen Tests kann Dr. C. keine eindeutigen Hinweise für einen deutlichen Hirnabbau oder Hinweise für eine allgemein beginnende oder fortschreitende Abbauerkrankung (Enzephalopathie) erkennen. Dr. C. fand im EEG eine normale Alpha-Grundaktivität 8/Sekunde mit einer einmaligen dysrhythmischen Gruppe bilateral sowie vereinzelten Theta- und Deltawellen im Sinne von flüchtigen Funktionsstörungen. Dr. C. bezeichnet diese flüchtigen Funktionsstörungen als noch im Bereich des Normalen anzusehen, die mit der geklagten verminderten Belastbarkeit und vorzeitiger und gehäufter Ermüdung korrelieren. Dr. C. führt überzeugend aus, dass für eine eindeutige leichte Allgemeinveränderung, wie sie auch zum Beispiel bei einer Enzephalopathie und einer diffusen Hirnschädigung bestehen können, definitionsgemäß eine deutlichere Verlangsamung der Grundaktivität und eine Blockadereaktion verlangt werden, die sich im EEG nicht gefunden haben. Dabei verkennt der Senat nicht, dass das Fehlen von Auffälligkeiten im EEG nach dem Merkblatt kein Ausschlusskriterium für das Vorliegen einer toxischen Enzephalopathie ist. Die von Dr. C. festgestellten flüchtigen Funktionsstörungen sind aber auch nicht beweisend für eine toxische Enzephalopathie.

Aus den Feststellungen des Diplom-Psychologen F. und des Dr. C. lassen sich jedenfalls keine Persönlichkeitsveränderungen oder Leistungseinschränkungen erkennen, die für den Schweregrad IIA einer (toxischen) Enzephalopathie i.S.d. Merkblatts sprechen. Soweit der Kläger anamnestisch Leistungseinschränkungen benannt hat (die allenfalls für den Schweregrad Ieiner toxischen Enzephalopathie sprechen könnten) hat der Senat erhebliche Zweifel an den Angaben des Klägers. Nach den Feststellungen des Diplom-Psychologen F. stehen Testergebnisse und Untersuchungsverhalten des Klägers im Widerspruch. Die in den Testverfahren teilweise gezeigten erheblichen Einschränkungen im Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsbereich müssten sich, wie Diplom-Psychologe F. nachvollziehbar ausführt, stark behindernd auf die Alltagsbewältigung auswirken, was der Psychologe aber nicht beobachten konnte. So ist der Kläger u. a. stets pünktlich und selbstständig zu vereinbarten Terminen erschienen und konnte sich an Geschehnisse, Gegebenheiten und Absprachen des Vortags erinnern. Zudem hat der Kläger im Gespräch mit dem Diplom-Psychologen F. nicht psychisch verlangsamt gewirkt, was aufgrund der Verlangsamung in den Testverfahren der Fall hätte sein müssen. Somit ist zum einen der Nachweis testpsychologischer Leistungsbeeinträchtigungen nicht erbracht. Zum anderen sind aber auch die Angaben des Klägers zu seinen Einschränkungen selbst in Zweifel zu ziehen. Dies deckt sich im Übrigen auch mit dem Verhalten des Klägers in den verschiedenen Terminen vor dem Senat, wo er z. B. bei der Anhörung des Sachverständigen am 16.10.2013 der Verhandlung über mehrere Stunden problemlos folgen und sich dann durch gezielte Fragen auch selbst einbringen konnte.

Auch der vom Kläger vorgelegten Stellungnahme des Dr. M. lassen sich keine Hinweise für das Vorliegen einer Enzephalopathie entnehmen. Es gilt insoweit das oben zur Polyneuropathie Gesagte entsprechend.

Aus den sonstigen aktenkundigen ärztlichen Angaben bzw. Stellungnahmen ergibt sich kein Hinweis auf eine Erkrankung i.S.d. BK 1317.

Die Ausführungen der auf Antrag des Klägers vom Senat gehörten Dr. K., Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Homöopathie, in ihrem Gutachten vom 06.05.2009 (mit ergänzender, von der Klägerseite vorgelegter Stellungnahme vom 22.01.2010) überzeugen nicht. Sie vertritt die Auffassung, es läge eine toxische Enzephalopathie des Schweregrades 2B (und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch eine toxisch bedingte Polyneuropathie) vor. Die Gutachterin führt aus, ein Vergleich der bereits am 06. und 07.01.2001 erhobenen Testergebnisse mit den am 16.02.2009 erhobenen psychologischen Befundergebnissen weise auf eine Progredienz der mentalen Ausfallerscheinungen hin. Es sei eindeutig von einem progredienten hirnorganischen Prozess auszugehen. Es seien eindeutig arbeits- und stoffbezogene Wirkungen beim Kläger zu verzeichnen mit Benommenheit, Übelkeit, Luftnot, Kribbelparesthesien an Händen und Füßen, Hinterkopfschmerz als akute Symptome sowie Hirnleistungsschwäche, Schlafstörungen und Geruchsempfindlichkeit als chronische Erscheinungen. Dr. K. zieht die oben genannten Schlussfolgerungen aus einem Vergleich der bei Professor Dr. E. erzielten Ergebnisse mit dem Ergebnis aus dem Jahre 2007 in C-Stadt; dort hätten sich erstmals gesicherte Hinweise für eine periphere neurologische Ausfallerscheinung mit Beeinträchtigung der motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit gefunden. Daraus ergibt sich jedoch keine entsprechende volle Überzeugung des Senats vom Vorliegen einer Enzephalopathie. Wie Dr. C. zutreffend ausführt, kann eine geringfügige Verlangsamung der Grundtätigkeit im EEG nicht als neurophysiologisches Korrelat für eine fortschreitende Hirnleistungsbeeinträchtigung bewertet werden, da hierzu eine deutlichere Verlangsamung zu fordern wäre. Soweit Dr. K. auf den mehrfach erfolgten Nachweis testpsychologischer Leistungsminderungen verweist, ist dieser Nachweis nach den obigen Ausführungen gerade nicht zur Überzeugung des Senats erbracht. Der Einschätzung des Dr. C., dass die testdiagnostische und klinische Feststellung einer kognitiven Beeinträchtigung in bestimmten Leistungsbereichen nicht automatisch bedeutet, dass eine Enzephalopathie vorliegt, ist in vollem Umfang zuzustimmen.

Zusammenfassend kann der Senat aus den dargestellten Gründen keine volle Überzeugung für das Vorliegen einer Polyneuropathie oder einer Enzephalopathie i.S.d. BK 1317 gewinnen.

3. Zum Ursachenzusammenhang ist das Folgende auszuführen:

Wie bereits bei der Prüfung des Vorliegens einer Gesundheitsstörung i.S.d. BK 1317 deutlich wurde, nimmt das entsprechende Merkblatt keine deutliche Trennung zwischen den Gesundheitsstörungen Polyneuropathie bzw. Enzephalopathie als solche und der Verursachung und Kausalitätsfragen vor. So wird die Polyneuropathie als neurotoxische gekennzeichnet und ausgeführt, asymetrische, multifokale, rein motorische oder autonome Neuropathien schlößen eine Verursachung durch Lösungsmittel weitgehend aus. Auch die Enzephalopathie wird im Merkblatt als toxische Enzephalopathie bezeichnet, wobei sich die Diagnose auf die anamnestischen Angaben und den psychopathologischen Befund stützt, aber auch differentialdiagnostische Überlegungen anzustellen sind. Daher ist - im Hinblick auf die vom Senat bereits nicht festgestellten Gesundheitsstörungen hilfsweise - auszuführen, dass eine (insofern unterstellte) Polyneuropathie oder Enzephalopathie vorliegend nicht mit dem notwendigen Wahrscheinlichkeitsgrad auf berufliche Einwirkungen zurückzuführen wäre. Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine Kausalität ergibt sich insbesondere nicht aus der von der Klägerseite vorgelegten „gutachterlichen Stellungnahme zur Darstellung des Standes der Wissenschaft in Sachen BK 1317“ des Diplom-Chemikers Dr. M. vom 21.09.2010 (mit Ergänzung vom 12.04.2011). Auch wenn man mit Dr. M. davon ausgeht, dass der Kläger einen Risikoberuf in der Halle ausgeübt und einen besonders intensiven Kontakt gehabt hat, dass die Neurotoxizität der Lösemitteln Ethanol und Methanol anerkannt und dass ein Schaden eingetreten ist, ergeben sich - die oben dargelegten Grundsätze zugrunde legend - Zweifel an einer solchen Ursächlichkeit in einem Maße, das die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit der Verursachung einer Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel und deren Gemische ausschließt.

Diese Zweifel resultieren - was die Polyneuropathie betrifft - insbesondere aus dem vom Senat eingeholten Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. C. vom 17.09.2007 (mit ergänzenden gutachtlichen Stellungnahmen vom 01.02.2011 und vom 30.08.2011) und aus dessen Anhörung durch den Senat am 13.10.2013. Dr. C. hat in überzeugender Weise erläutert, dass beim Kläger keine distal-symmetrische Polyneuropathie vorliegt. Wie bereits ausgeführt bedeutet dies, dass eine Nervenschädigung nicht mit dem notwendigen Wahrscheinlichkeitsgrad auf eine berufsbedingte Langzeiteinwirkung durch Lösungsmittel zurückzuführen und die berufliche Tätigkeit des Klägers ist daher nicht als wesentliche Teilursache zu werten wäre.

Was die Enzephalopathie betrifft, lassen sich jedenfalls keine Persönlichkeitsveränderungen oder Leistungseinschränkungen erkennen, die für den (nach dem Merkblatt) erforderlichen Schweregrad IIA einer toxischen Enzephalopathie kennzeichnend sind. Dies ergibt sich in eindeutiger Weise aus den oben bereits dargelegten Feststellungen des Dipl.-Psych. F. und des Dr. C. und den beschriebenen erheblichen Zweifeln an der Richtigkeit der Angaben des Klägers zu seinen Leistungsdefiziten.

Eine Vermutung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Exposition und einer Erkrankung wie von der Klägerseite behauptet, besteht nicht und wird auch vom Merkblatt nicht konstituiert. Insbesondere existiert keine Vermutung, dass Beschwerden bzw. Leistungseinschränkungen etwa im kognitiven Bereich auf eine Exposition gegenüber Lösungsmitteln beruhen. Diese Vermutung wird auch nicht durch § 9 Abs. 3 SGB VII fingiert, da vorliegend Anhaltspunkte für außerberufliche Ursachenzusammenhänge für die Beschwerden des Klägers bestehen. Hier ist insbesondere die bereits 1990 diagnostizierte Depression zu nennen. Schon gar nicht besteht der in den Stellungnahmen des Dr. M. suggerierte Automatismus zwischen Exposition und Ursachenzusammenhang. Weder Vermutung noch Automatismus im vorgenannten Sinne lassen sich insbesondere dem Merkblatt zur BK 1317 entnehmen, das nur Anhaltspunkte für das Vorliegen einer toxischen Enzephalopathie aufzeigt und im Übrigen auf differentialdiagnostische Krankheitsbilder verweist. Umgekehrt müssen, wie Dr. C. unter Hinweis auf den Stand der Wissenschaft (unter Inbezugnahme insbesondere von Widder/Gaidzik, Begutachtung in der Neurologie, 2. Aufl. 2011, 515 f.) ausführt, differentialdiagnostisch gerade auch andere Ursachen berücksichtigt werden.

4. Den weiteren vom Kläger gestellten (Beweis-)Anträgen musste der Senat nicht nachgehen. Dabei lässt der Senat dahinstehen, ob es sich bei den gestellten Fragen überhaupt um wirksame Beweisanträge handelt, insbesondere ob die klägerischen Beweisthemen durch die pauschalisierende Inbezugnahme aller möglichen Schriftsätze hinreichend bestimmt ist, ob die Anträge also in prozessordnungsgerechter Weise formuliert wurden, das Beweisthema ordnungsgemäß angegeben und wenigstens umrissen wurde, was die Beweisaufnahme ergeben soll (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 18.12.1997, 5 BH (J) 14/97; Leitherer in: Meyer-Ladewig / Keller / Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 160 Rn. 18 a). Sie gehen jedenfalls aus den folgenden Gründen ins Leere:

Den Anträgen vom 04.11.2003 und vom 07.03.2008 betreffend Nachermittlungen zu den Arbeitsbedingungen in der Zeit vom 10/1992 bis 11/2000, Einvernahme von Arbeitskollegen als Zeugen und Beiziehung von Verwaltungsakten der Beklagten, betreffend diese Zeugen, musste der Senat nicht nachgehen, weil die Exposition des Klägers gegenüber Lösungsmitteln im Sinne der BK 1317 vom Senat bejaht wird. Sie ist im Übrigen auch unstrittig. Eine bestimmte Konzentration der Lösungsmittel ist nicht Voraussetzung für die Anerkennung einer BK 1317 (vgl. dazu Hessisches LSG, Urteil vom 06.07.2007, L 7 U 8/06). Die Beklagte hat daher schon in einem Schriftsatz vom 09.01.2004 hinreichende Anhaltspunkte dafür bejaht, dass der Kläger schädigenden Einwirkungen im Sinne der BK 1317 ausgesetzt gewesen ist.

Die mit Schriftsätzen vom 15.10.2009, 27.10.2009 und 14.04.2010 geforderte ergänzende Anhörung der nach § 109 SGG ernannten Gutachterin Dr. K. war nach den Regelungen dieser Vorschrift sowie des § 103 SGG nicht notwendig. Der Sachverhalt ist, insbesondere auch nach den ergänzenden Anhörungen des Sachverständigen Dr. C. vom 12.03.2013 und am 16.10.2013, erschöpfend aufgeklärt.

Soweit der Kläger im Schriftsatz vom 14.04.2010 die Vorlage der Beratungsarztverträge mit Dr. L. und Dr. D. beantragt hat, lässt der Senat offen, ob es sich um einen zulässigen Beweisantrag im oben dargestellten Sinn handelt. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 16.09.2010 die Niederschriften über die Belehrung und Verpflichtung des Dr. L. vom 20.07.1995 und des Dr. D. vom 30.04.2003 vorgelegt. Deren Status als Beratungsarzt steht damit zur vollen Überzeugung des Senats fest. Bei den von der Beklagten vorgelegten Äußerungen von Dr. L. vom 05.08.2009 und von Dr. D. vom 11.01.2010 handelt es sich um Parteivortrag der Beklagten und nicht um gutachtliche Stellungnahmen im Sinne des § 200 SGB VII. Das Vorbringen wurde vom Senat (und auch vom Gutachter Dr. C.) auch in diesem Sinne gewürdigt.

Eine im Schriftsatz vom 29.11.2013 erneut beantragte Anhörung des Dr. M. und des Prof. Dr. W. war schon deshalb nicht erforderlich, weil es sich bei diesen weder um nach § 106 SGG noch um nach § 109 SGG vom Senat beauftragte Gutachter handelt. Soweit sie als sachverständige Zeugen gehört werden sollen, fehlt es bereits an der Benennung eines geeigneten Beweisthemas. Dr. M. und Prof. Dr. W. haben den Kläger selbst nie untersucht, so dass auch deswegen nicht erkennbar ist, wozu sie zeugenschaftliche Angaben machen könnten.

Den in den Schriftsätzen vom 14.04.2010 und 15.11.2011 enthaltenen Anträgen auf Anhörung des Diplom-Psychologen F. ist der Senat durch Anhörung des Hauptgutachters Dr. C. nachgekommen. Dieser hat am 12.03.2013 und am 16.10.2013 zu allen Fragen des Klägers auch zur Testpsychologie Stellung genommen. Der Kläger hat nicht dargelegt, dass danach noch Fragen offen geblieben sind.

Mangels Nachweis des Vorliegens einer toxischen Polyneuropathie bzw. Enzephalopathie i.S.d. BK 1317 waren weitere Ermittlungen zur Exposition des Klägers gegenüber organischen Lösungsmitteln oder deren Gemischen nicht erforderlich.

Für das Vorliegen der Voraussetzungen einer BK 1302 oder 1303 ergeben sich aus dem Akteninhalt, insbesondere aus den eingeholten sachverständigen Äußerungen, keine Anhaltspunkte, so dass auch in diese Richtung gehende weitere Ermittlungen nicht geboten waren. Insbesondere liegen beim Kläger keine toxischen Erkrankungen vor, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die Einwirkung durch Halogenkohlenwasserstoffe (vgl. dazu das Merkblatt zur BK 1302, Bek. des BMA vom 29.03.1985, BArbBl 1985, H.6 S.55, Punkt III) oder Benzol (vgl. dazu das Merkblatt zur BK 1303, Bek. des BMA vom 24.02.1964, BArbBl Fachteil Arbeitsschutz 1964, 30 Punkt III, mit Ergänzung Bek. des BMA vom 22.08.1994, BArbBl 10/94, S.139 ff, Punkt III) zurückzuführen sind.

Die Berufung gegen das klageabweisende Urteil war nach alledem zurück zuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Revisionszulassungsgründe im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG sind nicht gegeben.

Tenor

I.

Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 14. September 2012 wird zurückgewiesen.

II.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin wegen ihrer Tätigkeit als Flugbegleiterin Anspruch auf Feststellung einer Berufskrankheit nach Nr. 4302 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) hat.

Die Berufskrankheit (BK) Nr. 4302 lautet: Durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Die 1971 in der ehemaligen DDR geborene Klägerin war zunächst nach Ausbildung und Maschinenbaustudium (1990/1991) vom 15.05.1991 bis 18.02.1996 als Versicherungsvertreterin und Einrichtungsberaterin tätig und ab 19.02.1996 bei der C. Flugdienst GmbH als Flugbegleiterin, bis 2000 als Vollzeitkraft, ab 2001/2002 in Teilzeit von 75% und ab 2003 in Teilzeit von 50%, nämlich 6 Monate im Jahr.

Daneben arbeitete sie von 2000 bis 2003 als Fitnesstrainerin in Fitnesscentern in H-Stadt, absolvierte von Oktober 2002 bis April 2008 ein Studium der Bewegungswissenschaft an der Universität H-Stadt mit Abschluss als Diplom-Sportwissenschaftlerin und Bewegungstherapeutin und arbeitete vom 01.09.2006 bis 01.09.2007 als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Honorarkraft der Universität H-Stadt. Ab 10.05.2008 war sie als Flugbegleiterin arbeitsunfähig und wurde mit Wirkung zum 15.10.2008 für dauerhaft flugdienstuntauglich erklärt. Von September bis November 2009 arbeitete sie als Angestellte eines Fitness-Centers und war etwa ab 01.05.2010 selbstständig tätig als Sportwissenschaftlerin und Bewegungstherapeutin sowie zusätzlich freiberuflich in Fitnesscentern.

Am 27.06.2008 ging bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden ebenfalls bezeichnet als Beklagte) eine ärztliche Anzeige des Betriebsmediziners Dr. G. auf Verdacht einer Berufskrankheit ein unter Hinweis auf eine BK Nr. 1307. Die Klägerin leide unter Atemnot, bronchialer Reizung, Kopfschmerzen und Herzrasen, wobei erstmals Beschwerden im Februar 2007 aufgetreten seien.

Der Präventionsdienst sah zunächst keinen begründeten Verdacht für eine BK Nr. 1307, leitete aber Ermittlungen wegen einer Atemwegserkrankung ein. Auf die von der DAK Krankenkasse mitgeteilten Arbeitsunfähigkeitszeiten und Eintragungen im Ausweis für Arbeit und Sozialversicherung der DDR wird Bezug genommen.

Ferner wird auf die Angaben der Klägerin zu ihren Tätigkeiten und Beschwerden verwiesen. Die Klägerin schilderte insbesondere Atemnot in Ruhe und Belastung, oberflächliches Atmen, Kurzatmigkeit, Stechen im Brustbereich, Beklemmung und Engegefühl. Sie habe nie geraucht. Bei der Arbeit als Flugbegleiterin hätten Öle, Kerosin, Dämpfe, Enteisungsmittel, Gase, Verbrennungsrückstände, Ozon und Kohlenmonoxid auf sie eingewirkt, insbesondere in der Kabinenluft. Auf die Frage, wann Atembeschwerden verstärkt aufträten, kreuzte sie an „am Tage, während der Arbeit“, „nach der Arbeit, auch nachts“, „zu unterschiedlichen Zeiten“ sowie „auch in arbeitsfreier Zeit (Wochenende, Urlaub)“.

Der Internist und Lungenfacharzt Dr. T. berichtete mit Schreiben vom 22.09.2008 und 19.11.2008, dass die Klägerin parallel zu ihrem Sportstudium als Flugbegleiterin tätig sei und unter Luftnotattacken unklarer Genese leide. Erstmals im Mai 2008 sei bei der Arbeit plötzliche Luftnot mit thorakalem Engegefühl aufgetreten und am Tag danach ein Luftnotgefühl beim Joggen. Einen eindeutig pathologischen Befund habe er nicht feststellen können, insbesondere keine Erhöhung des zentralen Atemwegswiderstands, keine Überblähung und kein Nachweis für eine bronchiale Hyperreagibilität im Methacholintest. Die Volumina waren normal mobilisierbar, die Ergospirometrie ergab eine altersentsprechend normale Belastbarkeit ohne Hinweis auf atemmechanische Leistungslimitierung oder pulmonale Diffusionsstörung. Bei einem unter Peak-Flow-Protokollierung durchgeführtem Flug seien erneut die beschriebenen Beschwerden aufgetreten, ohne eindeutige Zeichen einer Obstruktion.

Auf die Bodyplethysmographie vom 17.07.2008, die CT-Aufnahmen der Nasennebenhöhlen vom 04.09.2007 bzw. des Thorax und Oberbauchs vom 24.06.2008 ohne pathologischen Befund der Lunge sowie die Berichte der Kolleginnen der Klägerin über die durchgeführten Flüge unter Peak-Flow-Protokollierung am 02.08.2008 (Hin- und Rückflug H-Stadt - P., Dauer knapp 2,5 h) wird Bezug genommen. Danach beklagte die Klägerin bei dem Flug eine Stunde nach dem Start Herzrasen, Kopfschmerzen, später Schmerzen im Brustkorb („Lungenschmerzen“) bei schneller und oberflächlicher Atmung, Kribbeln in den Fingern, Augenflimmern und eine beginnende Migräneattacke.

Der Betriebsarzt Dr. G. berichtete mit Schreiben vom 23.09.2008, dass sich die Klägerin erstmals im August 2007 vorgestellt habe, weil seit einiger Zeit migräneartige Kopfschmerzen regelmäßig während und nach Flugeinsätzen bestünden. Im Mai 2008 habe sie über zwei Ereignisse an Bord berichtet, mit Atemnot, Thoraxbeklemmung und substernalem Druckgefühl sowie späteren heftigen Kopfschmerzen, wobei der bereitgestellte Notsauerstoff die Beschwerden gelindert habe. Die Klägerin habe berichtet, dass in den Boeing 757-Flugzeugen, auf denen sie ausschließlich eingesetzt werde, häufig der Geruch nach verbrannten Öl auftrete wegen Verbrennungsrückständen von Motorölen mit Trikresylphosphat (TCP). Nach ihren Recherchen würden Verunreinigungen der Kabinenluft sowohl neurologische Beschwerden (Kopfschmerzen) als auch pulmologische Beschwerden (Asthma etc.) verursachen. Das vom Lungenfacharzt verordnete Asthmaspray habe ihr bei weiteren Flugeinsätzen nur wenig bis gar nicht geholfen. Dr. G. führte aus, dass die vorgelegten peak-flow-Protokolle nach seiner Einschätzung keine signifikanten Veränderungen während der Flüge zeigen würden.

Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 25.03.2009 ein. Danach war die Versicherte zu Beginn ihrer Tätigkeit auf DC 10 (McDonnell Douglas) und Boeing 757-200, dann weit überwiegend auf B 757-300 eingesetzt, in Teilzeit (6 Monate im Jahr), wobei Langstreckenflüge nur etwa 2-5 mal pro Jahr erfolgt seien. Auf die beigefügte Flugstundenübersicht aus dem Jahr 2007 wurde verwiesen, die laut Klägerin für vorangegangene Jahre vergleichbar sei. Die Klägerin sei weitgehend in Flugzeugen ohne Ozonkonvertern eingesetzt und damit Ozonwerten in der Größenordnung des ehemaligen Grenzwertes (0,1 ppm bzw. 0,2 mg/m3 ) ausgesetzt gewesen, was als oxidatives Reizgas schon in niedrigen Konzentrationen auf Augen, Nase, Rachenraum und Lunge schädigend einwirke mit Wirkungsschwelle für Reizeffekte bei 0,1 ppm und signifikanten Veränderungen in der Lungenfunktion im Fall längere Expositionen (z. B. 6,6 Std.) bei 0,08 ppm. Eine Gefährdung im Sinne der BK Nr. 4302 liege wegen der Ozon-Einwirkung vor, mit jeweils kurzzeitigen, aber häufigen Grenzwertüberschreitungen. Ferner sei die Klägerin gelegentlich Gerüchen von thermisch belasteten oder pyrolisierten Ölen, Enteisungsmitteln (in der Regel Glykole) und Kerosin ausgesetzt gewesen.

Nach Beteiligung des Gewerbearztes lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 07.05.2009 die Anerkennung der Berufskrankheit Nr. 4302 und Leistungsansprüche ab. Die im Rahmen eines Fluges durchgeführte Peak-Flow-Messung habe kein eindeutiges Zeichen einer Obstruktion ergeben und es habe keine Erhöhung des zentralen Atemwegswiderstandes, keine Überblähung und kein eindeutiger Nachweis einer bronchialen Hyperreagibilität festgestellt werden können. Damit lägen die medizinischen Voraussetzungen der BK Nr. 4302 nicht vor. Hinsichtlich der BK Nr. 1307 ergehe gesonderter Bescheid.

Den Widerspruch des Klägerbevollmächtigten vom 22.05.2009, der nicht begründet wurde, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.12.2009 zurück.

Zur Begründung der am 05.01.2010 beim Sozialgericht München (SG) erhobenen Klage hat der Klägerbevollmächtigte am 22.03.2011 auf Untersuchungen über Triaryl- und Trialkylphoshaten in filterdeponiertem Kabinenluftstaub eines Verkehrsflugzeugs sowie des sogenannten „Aerotoxischen Syndroms“ hingewiesen und ausgeführt, dass die Belastung der Kabinenluft mit Verbrennungsprodukten der im Triebwerk verwandten Hydrauliköle chemisch-irritativ und toxisch wirkten. Außerdem entstünden durch den Phosphorsäureester TCP beim unbeabsichtigten Austreten der Hydrauliköle und der Oxidation auf heißen Turbinenteilen stark toxische Stoffe, die generell Noxen der BK 4302 seien. Die Folge sei die bei der Klägerin vorliegende Atemwegsobstruktion, wahrscheinlich verbunden mit einer Lungenüberblähung.

Die Beklagte teilte mit Schreiben vom 05.04.2011 mit, dass die Ermittlungen bezüglich Trikresylphosphat (TCP) bereits in einem gesonderten Verfahren zur BK Nr. 1307 geführt würden und kein Anlass für eine Entscheidung über eine Wie-BK nach § 9 Abs. 2 SGB VII bestünde.

Das SG hat Befundberichte und Unterlagen der behandelnden Ärzte der Klägerin eingeholt, insbesondere von Dr. T., des Internisten Dr. M. von der Universitätsklinik E., des Betriebsarztes Dr. G., des Neurologen Dr. H. vom 25.06.2008, des Internisten und Kardiologen Dr. Graf von K. vom 17.05.2010 sowie des Allgemeinmediziners Dr. N. vom 12.12.2010.

Bei notärztlicher Behandlung in der Uniklinik E. am 19.07.2008 wegen seit zwei Stunden stechendem oberflächlichem Schmerz am Sternum, auslösbar durch Druck auf das Sternum, hat keine Dyspnoe oder Obstruktion bestanden bei kardiopulmonal unauffälligem Befund. Eine sichere Diagnose war nicht möglich; ein Verdacht auf Intercostalneuralgie wurde geäußert.

Der Betriebsarzt Dr. G. hat im Bericht vom 30.03.2010 ausgeführt, dass auch nach Untersuchungen durch Neurologen, Lungenfacharzt und Kardiologen nur Verdachtsdiagnosen gestellt werden konnten, nämlich auf MCS (multiple chemical sensitivity) oder Somatisierungsstörung mit asthmoiden Beschwerden und Migräne.

Der Neurologe Dr. H. hat im Arztbrief vom 26.05.2008 über psychologische Belastungsfaktoren berichtet bei unauffälligem neurologischen Befund. Die Beschwerden seien keinem organischen Krankheitsbild zuzuordnen; eine funktionelle Genese sei hochwahrscheinlich bei Angst- und Panikreaktionen bzw. psychosomatischer Funktionsstörung.

Dr. Graf von K. führte über Behandlungen im August und September 2008 aus, dass kein Hinweis auf eine strukturelle Herzkrankheit bestanden habe bei guter linksventrikulärer Pumpfunktion und guter körperlicher Leistungsfähigkeit; im Langzeit-EKG habe sich in einer Phase subjektiver Tachykardien eine geringe Häufung ventrikulärer Extrasystolen gezeigt. Die Klägerin hatte über stark wechselnde Leistungsfähigkeit berichtet, so dass häufiger das Joggen wegen Dypnose und thorakaler Enge abgebrochen werden müsse. Bei Auftreten eines stechenden punktuellen retrosternalen Schmerz abends nach dem Hinlegen habe sie die Universitätsklinik E. aufgesucht (Bericht s. o.), ohne kardiologischen Befund.

Anschließend hat das SG ein Gutachten des Arbeitsmediziners, Internisten, Lungenfacharztes und Umweltmediziner Prof. Dr. N. vom 21.10.2011 eingeholt mit Untersuchung der Klägerin am 05.07.2011.

Die Klägerin hat weiterhin das Auftreten von Atemnot, Herzrasen und Müdigkeit, extreme Erschöpfung, Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen sowie fehlende Leistungsfähigkeit z. B. als Bewegungs- und Sporttherapeutin beklagt. Den bisherigen Leistungssport könne sie nur noch bedingt ausüben. Eine Beschwerdebesserung sei nach Aufgabe der Tätigkeit als Flugbegleiterin nicht eingetreten; eine leichte Besserung sei nach Einleitung einer Entgiftungsbehandlung zu verzeichnen. Bei Untersuchung sind Thorax und Lunge unauffällig gewesen, die Lungenfunktionsprüfung hat einen Normalbefund ohne obstruktive oder restriktive Ventilationsstörung ergeben bei normalem zentralen Atemwegswiderstand, ohne Überblähung und ohne Einengung der kleinen Atemwege. Die Diffusionskapazität und die Stickstoffmonoxidwerte in der Ausatemluft sind normal gewesen. Der Methacholintest hat eine leichtgradige bronchiale Hyperreagibilität ergeben. Die cardiopulmonale Leistungsfähigkeit sei im Vergleich zu Sollwerten der Normalbevölkerung leichtgradig, im Vergleich zu Hochleistungssportlern mittel- bis höhergradig eingeschränkt.

Prof. Dr. N. hat eine somatoforme Störung von Herz und Atmung, ein chronisches Schmerzsyndrom, eine Manifestation als Idiopathic Environmental Intolerances sowie eine leichtgradige bronchiale Hyperreagibilität diagnostiziert. Eine BK Nr. 4302 liege nicht vor.

Zwar seien Effekte von Ozon auf das Atemwegssystem und seine reizende Wirkung auf Nase-, Augen- und Rachenraum wissenschaftlich gut belegt. Langzeiteffekte seien aber nur bei extrem hohen Expositionen bzw. im Rahmen unfallartiger Ereignisse zu erwarten. Daher könnten die Effekte hinsichtlich Atmung und Kreislauf und die von der Klägerin geschilderte Beschwerdesymptomatik nicht auf die Ozonwirkung zurückgeführt werden. Relevant sei auch, dass die Klägerin während ihrer Tätigkeit als Flugbegleiterin niemals über konjunktivale oder nasale Reizungen geklagt habe und im Bericht über den Testflug keine nachweisbaren Atemwegsobstruktionen und keine nasalen oder konjunktivalen Reizzustände dokumentiert seien. Von den behandelnden Pneumologen sei 2008 eine bronchiale Hyperreagibilität nicht nachgewiesen worden; die Lungenfunktionsprüfung habe keine Obstruktion gezeigt und die Diffusionskapazität sei uneingeschränkt gewesen. Die im Rahmen kardiologischer Untersuchungen erwähnte und bei eigener Untersuchung festgestellte grenzwertige bronchiale Hyperreagibilität sei in der Bevölkerung weit verbreitet. Darunter litten bis zu 20% der Bevölkerung. Zudem sei sie oft bei Hochleistungssportlern nachweisbar. In der Lungenfunktionsprüfung sei aber keine zentrale Obstruktion, Überblähung oder Einengung der kleinen Atemwege aufgetreten und damit keine Hinweis für eine typische Asthmasymptomatik. Eine eindeutige chronisch obstruktive Atemwegserkrankung habe bei der Kläger nachweislich weder während ihrer Tätigkeit als Flugbegleiterin noch in der Folgezeit vorgelegen. Soweit in der wissenschaftlichen Literatur toxische Effekte durch Verbrennungsrückstände in der Kabinenluft von Flugzeugen diskutiert würden, beträfen diese im Wesentlichen neurologische Symptome. Dagegen gebe es keine Hinweise auf die Verursachung einer Atemwegsobstruktion bei Flugpersonal durch Öldämpfe oder TCP.

Auf Anregung der Klägerseite zur Entscheidung im schriftlichen Verfahren hat das SG die Beteiligten zur Entscheidung mit Gerichtsbescheid angehört und mit Gerichtsbescheid vom 14.09.2012 die Klage abgewiesen. Prof. Dr. N. habe überzeugend aufgeschlüsselt, weshalb bei der Klägerin keine obstruktive Atemwegserkrankung festzustellen sei bei normalen Lungenwerten und nur geringgradiger bronchialer Hyperreagibilität. Das in der wissenschaftlichen Literatur diskutierte aerotoxische Syndrom durch Exposition von TCP sei angesichts vorwiegend neurotoxischer Wirkungen nicht im vorliegenden Verfahren, sondern in dem noch anhängigen Verfahren bezüglich der Berufskrankheit Nr. 1307 abzuhandeln.

Gegen den am 24.09.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Klägerbevollmächtigte am 22.10.2012 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Gehe man davon aus, dass eine BK Nr. 4302 ausschließlich in Frage komme, wenn im Sinne des Vollbeweises eine Atemwegsobstruktion festgestellt sei, fehle es an der im Vollbeweis gesicherten haftungsausfüllenden Kausalität. Zu einem anderen arbeitsmedizinisch begründbaren Ergebnis komme man, wenn man mit dem Arbeitsmediziner Prof. Dr. B. von einer „synoptischen Betrachtungsweise“ ausgehe. Nicht ausreichend geprüft worden sei, ob die früheren klinischen Symptome der Klägerin vor Feststellung ihrer Fluguntauglichkeit nicht doch die überwiegend geforderte Atemwegsobstruktion bestätigen würden.

Das LSG hat dem Klägerbevollmächtigten einen ausführlichen richterlichen Hinweis vom 22.08.2013 übersandt zu den Voraussetzungen zur Anerkennung einer Berufskrankheit nach der BSG-Rechtsprechung, die Notwendigkeit des Nachweises der obstruktiven Atemwegserkrankung im Vollbeweis für die Anerkennung der BK Nr. 4302 und die Beurteilung der gutachterlichen Ausführungen von Prof. Dr. N. im vorliegenden Fall. Für einen Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist Frist gesetzt worden.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 26.09.2013 weiterhin die Zurückweisung der Berufung beantragt, auf das überzeugende Gutachten von Prof. N. hingewiesen und mitgeteilt, dass der Bescheid vom 24.01.2012 über die Ablehnung einer BK Nr. 1307 der Anlage 1 zur BKV mangels Widerspruchs bestandskräftig geworden ist. Auf die Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 20.12.2011 hat die Beklagte hingewiesen.

Auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung hin hat der Klägerbevollmächtigte eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren angeregt. Sowohl der Klägerbevollmächtigte als auch die Beklagte haben ausdrücklich mit Schreiben vom 28.01.2015 bzw. 02.02.2015 Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren erklärt.

Der Klägerbevollmächtigte beantragte,

den Gerichtsbescheid vom 14.09.2012 und die Bescheide der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Berufskrankheit der Klägerin anzuerkennen.

Die Beklagte beantragte,

die Berufung zurückzuweisen.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten und des Sozialgerichts sowie die Akte des LSG Bezug genommen.

Gründe

A) Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung erweist sich als unbegründet. Mit ausdrücklichem schriftlichen Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG konnte der Senat die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren treffen.

Die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist hinsichtlich der begehrten Anerkennung einer BK Nr. 4302 der Anlage 1 zur BKV zulässig. Berufung und Klage erweisen sich aber als unbegründet, denn bei der Klägerin liegt keine BK Nr. 4302 der Anlage 1 zur BKV vor, wie sich zur Überzeugung des Senats nach durchgeführter Beweisaufnahme ergibt.

Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VII) begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII).

In der Gruppe „43 Obstruktive Atemwegserkrankungen“ erfasst die Liste unter Nr. 4302 „Durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können“.

Grundvoraussetzung für die Anerkennung der BK Nr. 4302 ist daher das Vorliegen einer obstruktiven Atemwegserkrankung. Zwischen der versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen muss ein innerer /sachlicher Zusammenhang und zwischen diesen Einwirkungen und der Erkrankung muss ein (wesentlicher) Ursachenzusammenhang bestehen. Der Versicherte muss darüber hinaus gezwungen gewesen sein, alle gefährdenden Tätigkeiten aufzugeben. Als Folge dieses Unterlassungszwangs muss die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit tatsächlich erfolgt sein. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, liegt die BK nicht vor (vgl. Urteil des BSG vom 30.10. 2007 - B 2 U 4/06 R - Juris sowie Urteile vom 18.11.2008 unter dem Az. B 2 U 14/07 R und B 2 U 14/08 R - jeweils zitiert nach Juris).

Über die allgemeine berufliche Gefährdung hinaus muss als wahrscheinlich nachgewiesen sein, dass im konkreten Fall die berufliche Tätigkeit wesentliche (Mit-) Ursache für die Gesundheitsstörungen war (vgl. hierzu BSG SozR 2200 § 551 Nr. 1 und 18). Nach der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung maßgeblichen Theorie der wesentlichen Bedingung sind dabei nur solche Ursachen rechtserheblich, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (vgl. BSG vom 30.01.2007, Az. B 2 U 23/05 R; vom 02.04.2009, Az.: B 2 U 9/08 R).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) müssen die „versicherte Tätigkeit“, die „Verrichtung“, die „Einwirkungen“ und die „Krankheit“ im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - nachgewiesen sein. Nur für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (BSG vom 15.09.2011 - B 2 U 25/10 R - Juris RdNr. 14 m. w. N.). Diese liegt vor, wenn nach aktueller wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen den Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38).

Für die Bewertung der Krankheit und des Ursachenzusammenhangs zwischen beruflichen Belastungen und BK ist der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand zu berücksichtigen; daher sind neben der Begründung des Verordnungsgebers auch die Merkblätter des zuständigen Bundesministeriums zu beachten, die Leitlinien der entsprechenden medizinischen Fachgesellschaften sowie im Bereich der BK Nr. 4302 die sogenannte Reichenhaller Empfehlung (Empfehlung für die Begutachtung der Berufskrankheiten der Nummern 1315 (ohne Alveolitis), 4301 und 4302 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) - DGUV - Stand November 2012).

Die Anerkennung der BK Nr. 4302 der Anlage 1 der BKV setzt daher voraus, dass eine obstruktive Atemwegserkrankung im Vollbeweis nachgewiesen ist. Kopfschmerzen, Herzpalpitationen, Müdigkeit, Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen oder allgemeine Leistungsschwäche sind keine Erkrankungen im Sinne dieser BK. Die BK 4302 der Anlage 1 zur BKV erfasst nicht ohne Weiteres ein eventuelles „aerotoxisches Syndrom“, das sich im Übrigen vorwiegend durch neurologische Wirkungen auszeichnet.

Nach dem Gutachten von Prof. Dr. N. weist aber weder die von ihm erhobene noch die früher beschriebene klinische Symptomatik auf ein Asthma bronchiale oder auf eine chronisch obstruktive Bronchitis hin. Eine eindeutige chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung lag bei der Klägerin laut Prof. N. selbst unter Auswertung der vorliegenden Unterlagen zu früheren Untersuchungen weder während der Tätigkeit der Klägerin als Flugbegleiterin noch in der Folgezeit vor. In der Bodyplethysmographie zeigten sich keine Hinweise auf zentrale Obstruktion, Überblähung oder Einengung der kleinen Atemwege. Auch 2008 wurde nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen pneumologisch in der Lungenfunktionsanalyse keine Obstruktion oder Diffusionsstörung festgestellt und selbst eine bronchiale Hyperreagibilität ließ sich damals bei durchgeführtem Methacholintest nicht nachweisen. In durchgeführten Peak-Flow-Kontrollen an Bord während der Testflüge waren selbst nach Beurteilung der damals behandelnden Ärzte keine asthmatypischen Reaktionen nachweisbar.

Soweit in späteren kardiologischen Untersuchungen eine grenzwertige bzw. leichtgradige bronchiale Hyperreagibilität genannt wurde bzw. soweit Prof. Dr. N. drei Jahre nach Berufsaufgabe bei der eigenen Untersuchung am 05.07.2011 durch Methacholintest eine leichte bronchiale Hyperreagibilität festgestellt hat, hat er überzeugend einen Ursachenzusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit verneint und auf die weite Verbreitung dieses Krankheitsbildes in der Allgemeinbevölkerung und insbesondere bei Hochleistungssportlern hingewiesen. Die Klägerin hat nach eigenen Angaben durchaus Leistungssport betrieben und war Norddeutsche Meisterin im Fitnesssport.

Ferner hat Prof. N. überzeugend ausgeführt, dass die von der Klägerin geschilderten pulmonalen und kardialen Beschwerden nicht schlüssig auf die Ozonbelastung zurückgeführt werden können. Denn Langzeiteffekte sind nur bei extrem hohen Expositionen bzw. im Rahmen unfallartiger Ereignisse zu erwarten. Dabei hat Prof. N. berücksichtigt, dass die Klägerin während ihrer Tätigkeit als Flugbegleiterin niemals über konjunktivale oder nasale Reizungen geklagt hat und im Bericht über den Testflug keine nachweisbaren Atemwegsobstruktionen und keine nasalen oder konjunktivalen Reizzustände dokumentiert worden sind.

Insbesondere hatte die Klägerin bei Untersuchung durch Prof. N. am 05.07.2011 angegeben, dass nach Berufsaufgabe 2008 subjektiv kaum Verbesserungen eingetreten sind und dass sie weiterhin - fast drei Jahren nach Berufsaufgabe als Flugbegleiterin - unter diesen Beschwerden leidet, nur leicht gebessert durch eine „Entgiftungsbehandlung“. Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass geltend gemachte Beschwerden 2008 auch in der Freizeit aufgetreten sind, z. B. plötzlich beim Joggen oder abends nach dem Hinlegen als plötzlich einsetzender retrosternaler Druck. Trotz umfassender zeitnaher Untersuchungen vermochte keiner der behandelnden Ärzte die Symptome einem organischen Krankheitsbild zuzuordnen; insbesondere konnte der Lungenfacharzt keine obstruktive Atemwegserkrankung sichern.

Darüber hinaus hat Prof. N. dargelegt, dass in der wissenschaftlichen Literatur Hinweise auf Verursachung einer Atemwegsobstruktion bei Flugpersonal durch Trikresylphosphat fehlen. Dies wird durch die Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 20.12.2011 im Verwaltungsverfahren zur BK Nr. 1307 bestätigt, wonach TCP keine Reizungen der Atmung herbeiführt. Der Senat kann im Rahmen dieses Verfahren offenlassen, ob die geschilderten übrigen Symptome von einer anderen BK erfasst werden.

Es fehlt daher nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. N. somit schon am Nachweis einer obstruktiven Atemwegserkrankung. Ferner können die beklagten Atembeschwerden bzw. das Druck- und Engegefühl der Brust nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die berufliche Tätigkeit als Flugbegleiterin als Ursache zurückgeführt werden.

Ob bei der Klägerin eine andere Berufskrankheit der Anlage 1 zur BKV oder eine Wie-Berufskrankheit im Sinne von § 9 Abs. 2 SGB VII vorliegt, unterliegt nicht der Prüfung im vorliegenden Berufungsverfahren. Insbesondere ist der Bescheid der Beklagten vom 24.01.2012, mit dem die Beklagte eine BK Nr. 1307 (Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen) abgelehnt hat, nicht Gegenstand des Klage- oder Berufungsverfahrens geworden, weil er den Bescheid vom 07.05.2009, der ausschließlich die BK Nr. 4302 und damit einen anderen Streitgegenstand betrifft, weder abgeändert noch ersetzt hat (§ 96 SGG).

B) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

C) Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 08.09.2004 wird zurückgewiesen.

II. Die Kosten des Revisionsverfahrens vor dem Bundessozialgericht B 2 U 100/12 B trägt die Staatskasse. Ansonsten haben die Beteiligten einander außergerichtliche Aufwendungen nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nummer 1317 (Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische) bzw. nach den Nummern 1302 und 1303 der Anlage I zur Berufskrankheitenverordnung (BK 1317 bzw. BK 1302 und BK 1303).

Am 26.04.2001 ging bei der Beklagten eine ärztliche Anzeige des Nervenarztes Dr. B. über eine Berufskrankheit des Klägers ein, in der ausgeführt wird, der Kläger leide an einer Neuropathie, einer schweren Myopathie, einer schweren Ataxie, einer schweren Leistungsminderung und zunehmenden chemischen Überempfindlichkeit.

Der Kläger war von 1970 bis 1987 als selbstständiger Landwirt, von 1987 bis 1989 als Keramikarbeiter und von 1989 bis 1992 als Lkw-Fahrer tätig. Ab 1992 war er bei der Firma H. GmbH (H) als Maschinenführer beschäftigt. Er kam dort mit Härtern, Leim und Lösungsmitteln sowie Lärm in Kontakt. Im November 2000 gab er diese Tätigkeit auf.

Die Beklagte zog ein Krankheitsverzeichnis der Krankenkasse sowie verschiedene Befundberichte bei, unter anderem Reha-Entlassungsberichte der Rentenversicherung vom 07.04.1998 und vom 10.04.2000. Sie zog die Sicherheitsdatenblätter der Stoffe bei, mit denen der Kläger an seinem Arbeitsplatz bei Hin Berührung gekommen war (insbesondere Dynomel L-425, L-435 und Härter H-467, H-469). Zudem holte sie eine Stellungnahme des Facharztes für Arbeitsmedizin Dr. L. ein. Das Gewerbeaufsichtsamt W-Stadt gab am 20.09.2001 eine gewerbeärztliche Stellungnahme durch Dr. R. ab.

Mit Bescheid vom 08.11.2001 (Widerspruchsbescheid vom 14.12.2001) lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit der BK-Zifferngruppe 13, insbesondere der BK 1317, unter Hinweis auf die Stellungnahme des staatlichen Gewerbearztes ab.

Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhoben. Das SG hat ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Sozialmedizin Prof. Dr. E. vom 10.03.2003 eingeholt. Auf Veranlassung des SG hat Prof. Dr. D. ein arbeitsmedizinisches Gutachten vom 12.05.2003 erstattet. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 08.09.2004 abgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger am 09.11.2004 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Der Senat hat ein arbeitsmedizinisches Gutachten des Prof. Dr. D. vom 27.07.2006 und ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. C. vom 17.09.2007 (mit ergänzenden gutachtlichen Stellungnahmen vom 01.02.2011 und vom 30.08.2011) sowie auf Vorschlag des Gutachters ein psychologisches Zusatzgutachten des Diplom-Psychologen J. F. vom 31.07.2007 eingeholt. Auf Antrag des Klägers hat der Senat auf der Grundlage des § 109 SGG ein Gutachten der Dr. K. vom 06.05.2009 (mit ergänzender, von der Klägerseite vorgelegter Stellungnahme vom 22.01.2010) erstatten lassen. Die Klägerseite hat eine „gutachterliche Stellungnahme zur Darstellung des Standes der Wissenschaft in Sachen BK 1317“ des Diplom-Chemikers und „Impulsgebers für den Ersatz des Merkblattes in Sachen BK 1317“ Dr. M. vom 21.09.2010 (mit Ergänzung vom 12.04.2011) vorgelegt.

Mit Urteil vom 30.11.2011 hat der Senat die Berufung zurückgewiesen. Auf die Beschwerde des Klägers hat das Bundessozialgericht (BSG) mit Beschluss vom 24.07.2012, B 2 U 100/12 B, das Urteil vom 30.11.2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurück verwiesen; das LSG hätte den im Termin nochmals protokollierten Anträgen des Klägers vom 14.04.2010 und 15.11.2011 nachkommen und weitere Fragen an den Sachverständigen zulassen müssen. Der Senat hat daraufhin eine ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. E. vom 03.01.2013 eingeholt und den Gutachter Dr. C. am 12.03.2013 und am 16.10.2013 zu den Fragen des Klägers angehört.

Der Kläger führt aus, zwar hätten aufgrund eines Unfalls im September 1990 mit einer Schädigung der Halswirbelsäule gesundheitliche Beeinträchtigungen vorgelegen, diese hätten allerdings nicht zu einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit geführt. Vielmehr sei er aufgrund dieser Beeinträchtigungen lediglich nicht mehr in der Lage gewesen, als Lkw-Fahrer zu arbeiten. Die Beeinträchtigungen hätten nach Aufnahme der Tätigkeit bei H deutlich zugenommen und schließlich im Jahre 2000 zur völligen Arbeitsunfähigkeit geführt. Es wäre erforderlich gewesen, den Arbeitsplatz des Klägers zu überprüfen und festzustellen, mit welchen Stoffen dieser in Berührung gekommen sei und mit welcher Intensität. Er habe auch auf 2 Arbeitskollegen verwiesen, die unter den gleichen Bedingungen gearbeitet und bereits nach kurzer Zeit dieselben Beschwerden gehabt hätten. Diese hätten als Zeugen gehört werden müssen. Als Folge der Tätigkeit bei H liege eine Polyneuropathie und eine Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische gemäß der Listen-Nummer 1317 vor. Bei der Beurteilung einer Berufskrankheit sei vom neuesten Stand der Wissenschaft auszugehen. Dieser werde vorliegend durch die Stellungnahmen des Dr. M. dargestellt. Soweit Dr. C. von guter klinischer Praxis spreche, sei dies unerheblich, da allein auf den Stand der Wissenschaft abzustellen sei. Diesen wende Dr. C. allerdings nicht an, da er ihn unzutreffend interpretiere. So finde sich im Merkblatt nichts zu den Messwerten, die nach Dr. C. eine toxische Verursachung der Polyneuropathie ausschließen würden. Auch dazu, dass das Verhalten des Patienten Testergebnisse relativieren könnte, finde sich im Merkblatt nichts. Auch nehme Dr. C. im Gegensatz zum Merkblatt an, dass Nervenleitgeschwindigkeitsmessungen der Sicherung der Diagnose Polyneuropathie dienen könnten. Hier kreiere Dr. C. ein eigenes Diagnosekriterium. Die Kausalität der Exposition für den Eintritt des Gesundheitsschadens werde vermutet. Auch könne Dr. C. letztlich die toxische Schädigung auch nicht ausschließen. Die Diagnosekriterien seien im Merkblatt eindeutig festgelegt. Eine Interpretation durch den Sachverständigen habe nicht stattzufinden. Bei der Exposition komme es nach dem Merkblatt nicht auf Grenzwerte an. Unter Ziffer III. des Merkblattes seien die Diagnosekriterien festgelegt. Lediglich Dr. K. habe ihr Gutachten nach den Diagnosekriterien erstellt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 08.09.2004 sowie den Bescheid vom 08.11.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.12.2001 aufzuheben und festzustellen, dass beim Kläger eine Berufskrankheit nach der BK-Nr. 1302, 1303 und 1317 der Anlage zu Berufskrankheitenverordnung vorliegt,

hilfsweise,

weitere Ermittlungen durchzuführen nach Maßgabe des Schriftsatzes vom 16.12.2014.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 08.09.2004 zurück zuweisen.

Die Beklagte hat eine Stellungnahme des Dr. L. und eine Stellungnahme des Facharztes für Neurologie Psychiatrie und Psychotherapie Dr. D. vom 11.01.2010 vorgelegt. Sie vertritt die Auffassung, Krankheitsbefunde im Sinne dieser BK könnten nicht festgestellt werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Gerichtsakten aller Instanzen verwiesen.

Gründe

Die Berufung des Klägers wurde form- und fristgerecht erhoben und ist auch ansonsten zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Sie ist aber unbegründet.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 08.11.2001 (Widerspruchsbescheid vom 14.12.2001), mit dem die Beklagte die Anerkennung einer BK „nach der Zifferngruppe 13“, „insbesondere Nummer 1317“ der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung abgelehnt hat. Zu Recht hat das SG die dagegen zulässigerweise erhobene kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§§ 54 Abs. 1, 55 Abs. 1 SGG) abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer BK 1317 oder 1302, 1303.

Berufskrankheiten sind nach § 7 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Versicherungsfälle. Berufskrankheiten sind dabei Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Eine BK 1317 ist eine Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische (BArbBl. 3/2005, S. 49). Eine BK 1302 liegt vor bei Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe, eine BK 1303 bei Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe und Styrol.

Für die Listen-BKen 1317 und 1302, 1303 lassen sich folgende Tatbestandsmerkmale ableiten: Die Verrichtung der - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale „versicherte Tätigkeit“, „Verrichtung“, „Einwirkungen“ und „Krankheit“ müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen (zum Erfordernis des Vollbeweise siehe BSG, Urteil vom 02.02.1978, 8 RU 66/77; Bayer. LSG, Urteil vom 01.07.2009, L 2 U 243/06; vom 06.11.2013, L 2 U 558/10; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.12.2009, L 2 U 202/07; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 02.11.2009, L 6 U 131/05). Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteile vom 27.06.2006, B 2 U 20/04 R und vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R). Um eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges zu bejahen, muss absolut mehr für als gegen die jeweilige Tatsache sprechen. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, das ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden und nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung deutlich mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (BSG, Beschluss vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B, juris Rn. 4 m.w.N.; BSG, Urteil vom 02.02.1978, 8 RU 66/77, juris Rn. 13). Die Beweisanforderungen bei der hinreichenden Wahrscheinlichkeit sind höher als bei der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (Glaubhaftmachung im Sinne eines Beweismaßes, vgl. dazu BSG, Beschluss vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B, juris Rn. 5). Überwiegende Wahrscheinlichkeit bedeutet die gute Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können; dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet (vgl. BSG vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B, juris Rn. 5 und Orientierungssatz; vom 14.12.2006, B 4 R 29/06, juris Rn. 116; vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 36; Keller, a.a.O., Rn. 3d m.w.N.; zum Zivilrecht BGH vom 11.09.2003, IX ZB 37/03, juris Rn. 8; vom 15.06.1994, IV ZB 6/94).

Der bei der Beklagten gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versicherte Kläger macht in erster Linie das Vorliegen einer BK 1317 der Anlage zur BKV geltend. Für diese BK ergibt sich aus den dargelegten Maßgaben im Besonderen, dass - neben den sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen (dazu unter 1.) - die in Nr. 1317 der Anlage I zur BKV die dort genannten Gesundheitsstörungen Polyneuropathie oder Enzephalopathie (dazu unten 2.) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, d.h. im Vollbeweis gegeben sein müssen. Für den Ursachenzusammenhang zwischen der Einwirkung durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische und den Gesundheitsstörungen (deren Vorliegen unterstellt, siehe unter 3.) genügt der geringere Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit (BSG vom 08.08.2001, a.a.O.).

1. Die sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen liegen vor. Zur vollen Überzeugung des Senats steht fest, dass der Kläger im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit von 1992 bis 2000 Einwirkungen i.S.d. der BK 1317 ausgesetzt war. Dies ergibt sich aus den Angaben des Klägers im Fragebogen zu seinem beruflichen Werdegang, an deren Richtigkeit der Senat keine Zweifel hat. Danach war der Kläger in diesem Zeitraum bei der Firma H. als Maschinenführer tätig, wo er mit Härtern, Leim und Lösungsmitteln in Kontakt gekommen ist. Auch die gewerbeärztliche Stellungnahme des Dr. R., Gewerbeaufsichtsamt W-Stadt, vom 20.09.2001 geht davon aus, dass ein Kontakt zu Leimen und Härtern, Lacken und Farben seit 1992 bestanden habe, in den zuvor ausgeübten Tätigkeiten eine Belastung im Sinne einer BK 1317 aber nicht plausibel sei. Dasselbe gilt für die von der Klägerseite vorgelegte „gutachterliche Stellungnahme zur Darstellung des Standes der Wissenschaft in Sachen BK 1317“ des Diplom-Chemikers Dr. M. vom 21.09.2010 (mit Ergänzung vom 12.04.2011). Die Feststellung von Mindestdosen der Exposition ist nicht erforderlich. Das auch insofern den Stand der Wissenschaft wiedergebende Merkblatt (Bek. des BGMS, BArbBl 2005, H3, S. 49) verweist hierzu in Ziffer I. nur auf die entsprechenden Gefahrenquellen, d.h es benennt die als gesichert neurotoxisch eingestuften Lösungsmittel, ihr Vorkommen und die Arbeiten, bei denen die Gefahr der Aufnahme dieser Stoffe durch den Körper besteht, ohne irgendwelche diesbezügliche Mindestanforderungen festzusetzen. Es besteht im Übrigen auch zwischen den Beteiligten und allen medizinischen Sachverständigen Einigkeit, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 1317 erfüllt sind. Die einzig in eine andere Richtung gehende, wage Einschätzung des Dr. L. vom 27.08.2001, es ergäbe sich kein schlüssiges Bild, wenn man den Fall von der Schadstoffexposition her aufwickle, vermag Zweifel am Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht zu begründen. Es bedarf daher insofern keiner weiteren Aufklärung des Sachverhalts, etwa durch Einholung eines toxikologischen Gutachtens.

2. Die Gesundheitsstörungen Polyneuropathie (dazu unter a) oder Enzephalopathie (dazu unter b) i.S.d. BK 1317 der Anlage zur BKV sind - den durch die Literatur und die gehörten Sachverständigen vermittelten aktuellen Stand der Wissenschaft zugrunde legend - nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegeben.

a. Die Gesundheitsstörung Polyneuropathie liegt nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor.

aa. Der aktuelle Stand der medizinischen Wissenschaft zum Vorliegen einer Polyneuropathie i.S.d. BK 1317 stellt sich wie folgt dar:

Die Polyneuropathie wird in der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme von 2012 (ICD-10) unter Punkt G 60-64 zusammen mit sonstigen Krankheiten des peripheren Nervensystems geführt. Die ICD 10 G 62.2 benennt speziell eine Polyneuropathie durch sonstige toxische Agenzien. Diese ist als Krankheit i.S.d. BK 1317 zugrunde zu legen und bedarf noch weiterer Präzisierung. Das einschlägige Merkblatt (aaO) zur BK 1317 spezifiziert die Polyneuropathie i.S. dieser BK dahingehend, dass typisch für eine neurotoxische Polyneuropathie arm- und beinbetonte, sensible, motorische oder sensomotorische Ausfälle mit strumpf- oder handschuhförmiger Verteilung sind. Asymetrische, multifokale, rein motorische oder autonome Neuropathien schließen eine Verursachung durch Lösungsmittel weitgehend aus. Polyneuropathien i.S. der BK 1317 sind also nur distal-symmetrische Polyneuropathien, nicht aber asymmetrisch-multifokale Polyneuropathien. Auch Dr. C. hat bei der Anhörung durch den Senat am 13.10.2013 nochmals in überzeugender Weise erläutert, dass Nervenschädigungen vom multifokalen Typ gegen eine toxische Genese sprechen und dass bei distal-symmetrischen Polyneuropathien typischerweise auf beiden Seiten krankhaft veränderte Nervenleitgeschwindigkeiten und auch typische klinische Symptome bestehen müssten. Neuere, insbesondere von den dargelegten Grundsätzen abweichende Erkenntnisse sind nicht ersichtlich, wurden insbesondere auch nicht durch den im Revisionsverfahren unter dem Gesichtspunkt des geänderten Merkblatts nochmals gehörten Prof. Dr. E. mitgeteilt. Was die vom Kläger kritisierte Erwähnung der „guten klinischen Praxis“ durch Dr. C. betrifft, wird - wie sich aus dem Zusammenhang der Äußerung ergibt - lediglich der Umstand thematisiert, dass die Diagnose einer Polyneuropathie auf der Anamnese und dem klinischen Befund basiert. Entgegen der Auffassung des Klägers wird dadurch der wissenschaftliche Wert der Ausführungen des Dr. C. in keiner Weise geschmälert.

bb. Die Gesundheitsstörung Polyneuropathie i.S.d BK 1317 liegt nicht mit der zu fordernden an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit vor.

Eine belangvolle Schädigung peripherer Nerven im Sinne einer toxischen Polyneuropathie hat Prof. Dr. E., Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Sozialmedizin (Gutachten vom 10.03.2003), nicht festgestellt. Er hat in den Normbereich einzuordnende Messergebnisse für den Nervus peroneus, den Nervus tibialis und den Nervus suralis rechts gefunden ebenso wie regelrechte F-Wellen und kommt zu dem zusammenfassenden Ergebnis, dass die von Dr. B. genannten Diagnosen für das neurologisch-psychiatrische Gebiet nicht bestätigt werden könnten. Eine Neuropathie, eine schwere Myopathie oder eine schwere Ataxie hat er nicht festgestellt. Prof. Dr. E. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 03.01.2013 mitgeteilt, dass sich durch die Änderung des Merkblattes im Jahre 2005, die nach seiner ursprünglichen Begutachtung erfolgte, keine neuen Gesichtspunkte ergeben haben, die vorliegend für die Feststellung einer Polyneuropathie belangvoll wären.

Die Einschätzungen des Prof. Dr. E. stimmen überein mit den Ergebnissen der von der Beklagten eingeholten und noch innerhalb des Expositionszeitraums erstellten Entlassungsberichte (EB) der Rentenversicherung vom 07.04.1998 und vom 10.04.2000. Daraus ergibt sich, dass der Kläger wegen eines chronisch rezidivierenden HWS-Syndroms und eines statisch-funktionellen LWS-Syndroms in Behandlung gewesen ist und neurologische Reiz- und Ausfallerscheinungen nicht feststellbar waren (EB vom 07.04.1998, zum neurologischen Befund Punkt 6. 3), „an den oberen und unteren Extremitäten waren sensible Qualitäten, Reflexe und Motorik seitengleich normal. Ein Hinweis auf gestörte Koordinationsfähigkeit ließ sich nicht finden. Lasègue-Zeichen beidseits negativ“ (EB vom 10.04.2000, Punkt 6. 3).

Die Einschätzung von Prof. Dr. E. wird durch die Ausführungen des Neurologen und Psychiaters Dr. C. bestätigt. Dessen vom Senat eingeholtes Gutachten vom 17.09.2007 (mit ergänzenden gutachtlichen Stellungnahmen vom 01.02.2011 und vom 30.08.2011) kommt zu dem Ergebnis, es finde sich keine typische distal-symmetrische Polyneuropathie.

Er sah in seinem auf der Untersuchung vom Juli 2007 basierenden Gutachten vom 17.09.2007, also 7 Jahre nach Beendigung der Exposition, in der Verteilung der beim Kläger gemessenen krankhaft gestörten elektro-physiologischen Messparameter zwar insgesamt Hinweise für eine diskrete Schädigung der linken peripheren Nervenbahnen an Arm und Bein. Diese interpretiert Dr. C. aber als eher vom multifokalen Typ als vom distal-symmetrischen Typ, da sie an unterschiedlichen Orten und damit nicht gleichzeitig vorkamen. Dies spricht gegen eine toxische Genese und damit gegen das Vorliegen einer toxischen Polyneuropathie, da bei dieser Ursache typischerweise auf beiden Seiten krankhaft veränderte Nervenleitgeschwindigkeiten und auch typische klinische Symptome bestehen müssten. Diese Einschätzung überzeugt, sie stimmt insbesondere mit den im Merkblatt zur BK-Nr. 1317 dargelegten Grundsätzen überein. Beim Kläger liegt daher ein entzündliches oder auch autoimmunes Geschehen vor, aber keine toxische Neuropathie i.S.d. BK 1317.

Für eine mit einer Polyneuropathie in irgendeiner Weise zusammenhängende Muskelerkrankung gibt es keine Anhaltspunkte, die von Dr. B. gestellte Diagnose einer Ataxie (Störung der Koordination von Bewegungsabläufen) ist nicht nachvollziehen. Der Neurologe und Psychiater Dr. C. hat bei der Untersuchung vom 25.07.2007 in den oberen Extremitäten keine Kraftminderung und auch keine körperlich-motorischen Koordinationsdefizite gefunden. Die elektro-physiologischen Untersuchungen zeigten für die oberen Extremitäten links eine verzögerte Nervenleitgeschwindigkeit, eine mäßiggradige F-Welle und bei den sensiblen NLG eine im Seitenvergleich verminderte Amplitude. Daraus ist mit dem Gutachter der Schluss einer subklinischen gemischten Schädigung der Nervenleitung im Bereich der Armplexus links mit einer axonalen Schädigung zu ziehen. In den unteren Extremitäten fand Dr. C. Hinweise auf eine linksseitige Plexusläsion mit diskreter demyelinisierender Schädigung und leicht bis mittelgradiger axonaler Schädigung.

Die Erklärungsversuche der Dr. K. zu der für die Feststellung einer Polyneuropathie angeblich fehlenden Relevanz der Asymmetrie der Ausfallerscheinungen überzeugen nicht; jedenfalls führen sie keinen Überzeugungsgrad des Senats herbei, der eine Bejahung einer Polyneuropathie i.S.d BK 1317 rechtfertigt. Dr. K. will die Asymmetrie der Ausfallerscheinungen in einem Zusammenhang mit dem Schleudertrauma der Halswirbelsäule und der lumbalen beidseitigen radikulären Symptomatik sehen. Hierzu weist Dr. C. in nachvollziehbarer Weise darauf hin, dass die von Dr. K. im klinischen Befund festgehaltene deutliche Kraftminderung des linken Armes und der gleichseitigen Hand entweder für eine Beeinträchtigung motorischer Nervenwurzeln infolge des (schon vor Aufnahme der gefährdenden Tätigkeit i.S.d. BK 1317 erlittenen) HWS-Traumas sprechen oder als weitere Möglichkeit der Entstehung dieser Symptome eine fokale Schädigung des Gehirns in Betracht zu ziehen ist. Wie Dr. C. erläutert, bedeutet fokal in diesem Zusammenhang, dass die Schädigung aufgrund der neuroanatomischen Grundlagen eindeutig in die rechte Gehirnhälfte lokalisiert werden müsste, was gerade das Gegenteil einer diffusen generalisierten Enzephalopathie sei. Nur letztere spräche, wie unter 2b noch auszuführen sein wird, für eine lösungsmittelbedingte Schädigung. Bei der Anhörung im Termin vom 13.10.2013 hat Dr. C. in diesem Zusammenhang nochmals darauf hingewiesen, dass die von ihm festgestellten Messwerte „SSEP“ dafür sprechen, dass eine relevante Schädigung der HWS (durch den Unfall von 1990) ausgeschlossen werden kann, da eine Verzögerung dieser Messwerte nicht habe festgestellt werden können. Eine bleibende Schädigung der Nerven in diesem Bereich hätte aber eine deutliche zeitliche Verzögerung nach sich ziehen müssen. Dr. C. stellt daher zutreffend fest, dass beim Kläger eine asymmetrisch-multifokale und nicht eine distal-symmetrische Polyneuropathie vorliegt und diese nicht durch eine lumbal radikuläre Symptomatik beeinflusst ist.

Der vom Kläger vorgelegten Stellungnahme des Diplomchemikers Dr. M. vom 12.04.2011 und vom 21.09.2010 kann der Senat keine Anhaltspunkte entnehmen, die für die Annahme des Vorliegens einer Polyneuropathie des Klägers i.S.d BK 1317 sprechen. Wegen der rechtlichen Maßgaben, zu denen sich Dr. M. geäußert hat, wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen. Zu den medizinischen Fragen, zur Testpsychologie und insbesondere zu der zu fordernden Symmetrie der Ausfälle, hat Dr. M. die Aussagen der Dr. K. übernommen und sich sonst nicht weiter geäußert; diese Fragen betreffen auch nicht sein Fachgebiet.

Die Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Homöopathie Dr. K. kommt in ihrem Gutachten vom 06.05.2009 mit ergänzender, von der Klägerseite vorgelegter Stellungnahme vom 22.01.2010 im Übrigen auch nur zu dem Ergebnis, eine toxisch bedingte Polyneuropathie liege mit hoher Wahrscheinlichkeit vor, was wie ausgeführt aus rechtlichen Gründen für deren Bejahung im Rahmen der Feststellung einer BK 1317 nicht ausreicht.

2b. Auch die Gesundheitsstörung Enzephalopathie i.S.d BK 1317 der Anlage zur BKV liegt nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor.

aa. Der aktuelle Stand der medizinischen Wissenschaft zum Vorliegen einer Enzephalopathie i.S.d. BK 1317 stellt sich wie folgt dar:

Die ICD-10 benennt unter G 92 die toxische Enzephalopathie, die als Krankheit i.S.d. BK 1317 zugrunde zu legen ist und noch weiterer Präzisierung bedarf. Unter einer toxischen Enzephalopathie versteht man eine nicht-entzündliche Erkrankung oder Schädigung des Gehirns (Enzephalopathie), die Ihre Ursache in einer akuten oder chronischen Schädigung durch giftige Substanzen hat (http://www...de/...html). Nach dem einschlägigen Merkblatt (a.a.O.) äußert sich eine Enzephalopathie i.S.d. BK 1317 durch diffuse Störungen der Hirnfunktion. Konzentrations- und Merkschwächen, Auffassungsschwierigkeiten, Denkstörungen, Persönlichkeitsveränderungen oft mit Antriebsarmut, Reizbarkeit und Affektstörungen verbunden, stehen im Vordergrund. Der psychopathologische Befund muss durch psychologische Testverfahren objektiviert werden, die das Alter des Patienten berücksichtigen. Wichtige anamnestische Hinweise sind Alkoholintoleranz und häufige pränarkotische Symptome im unmittelbaren Zusammenhang mit der Lösungsmittelexposition (Benommenheit, Trunkenheit, Müdigkeit, Übelkeit, Brechreiz, aber auch Zustände von Euphorie). Die Diagnose einer Enzephalopathie stützt sich, wie Dr. C. erläutert hat, auf die anamnestischen Angaben, den psychopathologischen Befund sowie die Ergebnisse von Testverfahren.

Eingeteilt wird die toxische Enzephalopathie in verschiedene Schweregrade. Toxische Enzephalopathien treten in der Regel noch während des Expositionszeitraumes auf. Die klinische Diagnose kann allerdings auch noch Jahre nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit gestellt werden (vgl. Merkblatt, Punkt III).

bb. Auch die Gesundheitsstörung Enzephalopathie i.S.d. BK 1317 liegt beim Kläger nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor.

Eine Enzephalopathie haben weder der vom SG gehörte neurologische Gutachter Prof. Dr. E. noch der vom Senat bestellte neurologische Gutachter Dr. C. (unter Beachtung der Feststellungen des Diplom-Psychologen F.) diagnostiziert.

Wie bereits zur Neuropathie ausgeführt kommt Prof. Dr. E., Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Sozialmedizin, in seinem Gutachten vom 10.03.2003 zu dem zusammenfassenden Ergebnis, dass die von Dr. B. genannten Diagnosen für das neurologisch-psychiatrische Gebiet nicht bestätigt werden können. Eine schwere Myopathie oder eine schwere Ataxie, die auf eine Enzephalopathie hindeuten könnten, hat Prof. Dr. E. nicht feststellen können. Auch eine schwere Leistungsminderung konnte er nicht feststellen, selbst wenn eine leichte Leistungseinschränkung beim Kläger aufgrund der bestehenden Gesundheitsstörungen mit chronischen Kopfschmerzen bei auch chronischen Wirbelsäulenbeschwerden und überlagernden reaktiven depressiven Störungen bestünde. Eine die Exposition wesentlich überdauernde Verschlimmerung von Kopfschmerzen hat Prof. Dr. E. nicht als wahrscheinlich eingeordnet. Nur die vorübergehende Verstärkung von Kopfschmerzen erklärte er mit der Belastung durch Lösungsmittel. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 03.01.2013 hat Prof. Dr. E. mitgeteilt, dass sich durch die Änderung des Merkblattes im Jahre 2005, die nach seiner ursprünglichen Begutachtung erfolgte, vorliegend keine neuen Gesichtspunkte ergeben haben, die für die Feststellung einer Enzephalopathie belangvoll wären.

Die den notwendigen Überzeugungsgrad ausschließenden Zweifel des Senats am Vorliegen einer Enzephalopathie ergeben sich auch aus den Feststellungen des Neurologen und Psychiaters Dr. C.. Der Sachverständige kommt, das geänderte Merkblatt zur BK 1317 zugrunde legend, in seinem Gutachten vom 17.09.2007 (mit ergänzenden gutachtlichen Stellungnahmen vom 01.02.2011 und vom 30.08.2011) zu dem überzeugenden Ergebnis, dass sich keine Enzephalopathie findet. Die Untersuchungen des Dr. C. haben eine leichtgradige kognitive Einbuße ergeben, die vor allem auf eine verminderte psychophysische Belastbarkeit und Ausdauer hinweist. Diese steht eher in Zusammenhang mit einer möglichen depressiven Störung (die beim Kläger bereits 1990 und damit vor Beginn der Exposition erstmals diagnostiziert wurde) als mit einer reinen hirnorganisch bedingten kognitiven Störung, wie Dr. C. übereinstimmend mit Prof. Dr. E. ausführt. Eine toxische Ursache dieser Einbuße ist unwahrscheinlich. In diesem Sinne bezeichnet Prof. Dr. E. die im Rahmen der Testung durch den Diplom-Psychologen K. am 09.02.2001 testpsychologisch erfassten Hirnleistungsstörungen des Klägers als unspezifisch und nicht hinweisend auf eine Hirnschädigung.

Auch aus den vom Diplom-Psychologen F. vom 26. bis 28.07.2007 durchgeführten neuropsychologischen Tests kann Dr. C. keine eindeutigen Hinweise für einen deutlichen Hirnabbau oder Hinweise für eine allgemein beginnende oder fortschreitende Abbauerkrankung (Enzephalopathie) erkennen. Dr. C. fand im EEG eine normale Alpha-Grundaktivität 8/Sekunde mit einer einmaligen dysrhythmischen Gruppe bilateral sowie vereinzelten Theta- und Deltawellen im Sinne von flüchtigen Funktionsstörungen. Dr. C. bezeichnet diese flüchtigen Funktionsstörungen als noch im Bereich des Normalen anzusehen, die mit der geklagten verminderten Belastbarkeit und vorzeitiger und gehäufter Ermüdung korrelieren. Dr. C. führt überzeugend aus, dass für eine eindeutige leichte Allgemeinveränderung, wie sie auch zum Beispiel bei einer Enzephalopathie und einer diffusen Hirnschädigung bestehen können, definitionsgemäß eine deutlichere Verlangsamung der Grundaktivität und eine Blockadereaktion verlangt werden, die sich im EEG nicht gefunden haben. Dabei verkennt der Senat nicht, dass das Fehlen von Auffälligkeiten im EEG nach dem Merkblatt kein Ausschlusskriterium für das Vorliegen einer toxischen Enzephalopathie ist. Die von Dr. C. festgestellten flüchtigen Funktionsstörungen sind aber auch nicht beweisend für eine toxische Enzephalopathie.

Aus den Feststellungen des Diplom-Psychologen F. und des Dr. C. lassen sich jedenfalls keine Persönlichkeitsveränderungen oder Leistungseinschränkungen erkennen, die für den Schweregrad IIA einer (toxischen) Enzephalopathie i.S.d. Merkblatts sprechen. Soweit der Kläger anamnestisch Leistungseinschränkungen benannt hat (die allenfalls für den Schweregrad Ieiner toxischen Enzephalopathie sprechen könnten) hat der Senat erhebliche Zweifel an den Angaben des Klägers. Nach den Feststellungen des Diplom-Psychologen F. stehen Testergebnisse und Untersuchungsverhalten des Klägers im Widerspruch. Die in den Testverfahren teilweise gezeigten erheblichen Einschränkungen im Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsbereich müssten sich, wie Diplom-Psychologe F. nachvollziehbar ausführt, stark behindernd auf die Alltagsbewältigung auswirken, was der Psychologe aber nicht beobachten konnte. So ist der Kläger u. a. stets pünktlich und selbstständig zu vereinbarten Terminen erschienen und konnte sich an Geschehnisse, Gegebenheiten und Absprachen des Vortags erinnern. Zudem hat der Kläger im Gespräch mit dem Diplom-Psychologen F. nicht psychisch verlangsamt gewirkt, was aufgrund der Verlangsamung in den Testverfahren der Fall hätte sein müssen. Somit ist zum einen der Nachweis testpsychologischer Leistungsbeeinträchtigungen nicht erbracht. Zum anderen sind aber auch die Angaben des Klägers zu seinen Einschränkungen selbst in Zweifel zu ziehen. Dies deckt sich im Übrigen auch mit dem Verhalten des Klägers in den verschiedenen Terminen vor dem Senat, wo er z. B. bei der Anhörung des Sachverständigen am 16.10.2013 der Verhandlung über mehrere Stunden problemlos folgen und sich dann durch gezielte Fragen auch selbst einbringen konnte.

Auch der vom Kläger vorgelegten Stellungnahme des Dr. M. lassen sich keine Hinweise für das Vorliegen einer Enzephalopathie entnehmen. Es gilt insoweit das oben zur Polyneuropathie Gesagte entsprechend.

Aus den sonstigen aktenkundigen ärztlichen Angaben bzw. Stellungnahmen ergibt sich kein Hinweis auf eine Erkrankung i.S.d. BK 1317.

Die Ausführungen der auf Antrag des Klägers vom Senat gehörten Dr. K., Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Homöopathie, in ihrem Gutachten vom 06.05.2009 (mit ergänzender, von der Klägerseite vorgelegter Stellungnahme vom 22.01.2010) überzeugen nicht. Sie vertritt die Auffassung, es läge eine toxische Enzephalopathie des Schweregrades 2B (und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch eine toxisch bedingte Polyneuropathie) vor. Die Gutachterin führt aus, ein Vergleich der bereits am 06. und 07.01.2001 erhobenen Testergebnisse mit den am 16.02.2009 erhobenen psychologischen Befundergebnissen weise auf eine Progredienz der mentalen Ausfallerscheinungen hin. Es sei eindeutig von einem progredienten hirnorganischen Prozess auszugehen. Es seien eindeutig arbeits- und stoffbezogene Wirkungen beim Kläger zu verzeichnen mit Benommenheit, Übelkeit, Luftnot, Kribbelparesthesien an Händen und Füßen, Hinterkopfschmerz als akute Symptome sowie Hirnleistungsschwäche, Schlafstörungen und Geruchsempfindlichkeit als chronische Erscheinungen. Dr. K. zieht die oben genannten Schlussfolgerungen aus einem Vergleich der bei Professor Dr. E. erzielten Ergebnisse mit dem Ergebnis aus dem Jahre 2007 in C-Stadt; dort hätten sich erstmals gesicherte Hinweise für eine periphere neurologische Ausfallerscheinung mit Beeinträchtigung der motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit gefunden. Daraus ergibt sich jedoch keine entsprechende volle Überzeugung des Senats vom Vorliegen einer Enzephalopathie. Wie Dr. C. zutreffend ausführt, kann eine geringfügige Verlangsamung der Grundtätigkeit im EEG nicht als neurophysiologisches Korrelat für eine fortschreitende Hirnleistungsbeeinträchtigung bewertet werden, da hierzu eine deutlichere Verlangsamung zu fordern wäre. Soweit Dr. K. auf den mehrfach erfolgten Nachweis testpsychologischer Leistungsminderungen verweist, ist dieser Nachweis nach den obigen Ausführungen gerade nicht zur Überzeugung des Senats erbracht. Der Einschätzung des Dr. C., dass die testdiagnostische und klinische Feststellung einer kognitiven Beeinträchtigung in bestimmten Leistungsbereichen nicht automatisch bedeutet, dass eine Enzephalopathie vorliegt, ist in vollem Umfang zuzustimmen.

Zusammenfassend kann der Senat aus den dargestellten Gründen keine volle Überzeugung für das Vorliegen einer Polyneuropathie oder einer Enzephalopathie i.S.d. BK 1317 gewinnen.

3. Zum Ursachenzusammenhang ist das Folgende auszuführen:

Wie bereits bei der Prüfung des Vorliegens einer Gesundheitsstörung i.S.d. BK 1317 deutlich wurde, nimmt das entsprechende Merkblatt keine deutliche Trennung zwischen den Gesundheitsstörungen Polyneuropathie bzw. Enzephalopathie als solche und der Verursachung und Kausalitätsfragen vor. So wird die Polyneuropathie als neurotoxische gekennzeichnet und ausgeführt, asymetrische, multifokale, rein motorische oder autonome Neuropathien schlößen eine Verursachung durch Lösungsmittel weitgehend aus. Auch die Enzephalopathie wird im Merkblatt als toxische Enzephalopathie bezeichnet, wobei sich die Diagnose auf die anamnestischen Angaben und den psychopathologischen Befund stützt, aber auch differentialdiagnostische Überlegungen anzustellen sind. Daher ist - im Hinblick auf die vom Senat bereits nicht festgestellten Gesundheitsstörungen hilfsweise - auszuführen, dass eine (insofern unterstellte) Polyneuropathie oder Enzephalopathie vorliegend nicht mit dem notwendigen Wahrscheinlichkeitsgrad auf berufliche Einwirkungen zurückzuführen wäre. Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine Kausalität ergibt sich insbesondere nicht aus der von der Klägerseite vorgelegten „gutachterlichen Stellungnahme zur Darstellung des Standes der Wissenschaft in Sachen BK 1317“ des Diplom-Chemikers Dr. M. vom 21.09.2010 (mit Ergänzung vom 12.04.2011). Auch wenn man mit Dr. M. davon ausgeht, dass der Kläger einen Risikoberuf in der Halle ausgeübt und einen besonders intensiven Kontakt gehabt hat, dass die Neurotoxizität der Lösemitteln Ethanol und Methanol anerkannt und dass ein Schaden eingetreten ist, ergeben sich - die oben dargelegten Grundsätze zugrunde legend - Zweifel an einer solchen Ursächlichkeit in einem Maße, das die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit der Verursachung einer Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel und deren Gemische ausschließt.

Diese Zweifel resultieren - was die Polyneuropathie betrifft - insbesondere aus dem vom Senat eingeholten Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. C. vom 17.09.2007 (mit ergänzenden gutachtlichen Stellungnahmen vom 01.02.2011 und vom 30.08.2011) und aus dessen Anhörung durch den Senat am 13.10.2013. Dr. C. hat in überzeugender Weise erläutert, dass beim Kläger keine distal-symmetrische Polyneuropathie vorliegt. Wie bereits ausgeführt bedeutet dies, dass eine Nervenschädigung nicht mit dem notwendigen Wahrscheinlichkeitsgrad auf eine berufsbedingte Langzeiteinwirkung durch Lösungsmittel zurückzuführen und die berufliche Tätigkeit des Klägers ist daher nicht als wesentliche Teilursache zu werten wäre.

Was die Enzephalopathie betrifft, lassen sich jedenfalls keine Persönlichkeitsveränderungen oder Leistungseinschränkungen erkennen, die für den (nach dem Merkblatt) erforderlichen Schweregrad IIA einer toxischen Enzephalopathie kennzeichnend sind. Dies ergibt sich in eindeutiger Weise aus den oben bereits dargelegten Feststellungen des Dipl.-Psych. F. und des Dr. C. und den beschriebenen erheblichen Zweifeln an der Richtigkeit der Angaben des Klägers zu seinen Leistungsdefiziten.

Eine Vermutung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Exposition und einer Erkrankung wie von der Klägerseite behauptet, besteht nicht und wird auch vom Merkblatt nicht konstituiert. Insbesondere existiert keine Vermutung, dass Beschwerden bzw. Leistungseinschränkungen etwa im kognitiven Bereich auf eine Exposition gegenüber Lösungsmitteln beruhen. Diese Vermutung wird auch nicht durch § 9 Abs. 3 SGB VII fingiert, da vorliegend Anhaltspunkte für außerberufliche Ursachenzusammenhänge für die Beschwerden des Klägers bestehen. Hier ist insbesondere die bereits 1990 diagnostizierte Depression zu nennen. Schon gar nicht besteht der in den Stellungnahmen des Dr. M. suggerierte Automatismus zwischen Exposition und Ursachenzusammenhang. Weder Vermutung noch Automatismus im vorgenannten Sinne lassen sich insbesondere dem Merkblatt zur BK 1317 entnehmen, das nur Anhaltspunkte für das Vorliegen einer toxischen Enzephalopathie aufzeigt und im Übrigen auf differentialdiagnostische Krankheitsbilder verweist. Umgekehrt müssen, wie Dr. C. unter Hinweis auf den Stand der Wissenschaft (unter Inbezugnahme insbesondere von Widder/Gaidzik, Begutachtung in der Neurologie, 2. Aufl. 2011, 515 f.) ausführt, differentialdiagnostisch gerade auch andere Ursachen berücksichtigt werden.

4. Den weiteren vom Kläger gestellten (Beweis-)Anträgen musste der Senat nicht nachgehen. Dabei lässt der Senat dahinstehen, ob es sich bei den gestellten Fragen überhaupt um wirksame Beweisanträge handelt, insbesondere ob die klägerischen Beweisthemen durch die pauschalisierende Inbezugnahme aller möglichen Schriftsätze hinreichend bestimmt ist, ob die Anträge also in prozessordnungsgerechter Weise formuliert wurden, das Beweisthema ordnungsgemäß angegeben und wenigstens umrissen wurde, was die Beweisaufnahme ergeben soll (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 18.12.1997, 5 BH (J) 14/97; Leitherer in: Meyer-Ladewig / Keller / Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 160 Rn. 18 a). Sie gehen jedenfalls aus den folgenden Gründen ins Leere:

Den Anträgen vom 04.11.2003 und vom 07.03.2008 betreffend Nachermittlungen zu den Arbeitsbedingungen in der Zeit vom 10/1992 bis 11/2000, Einvernahme von Arbeitskollegen als Zeugen und Beiziehung von Verwaltungsakten der Beklagten, betreffend diese Zeugen, musste der Senat nicht nachgehen, weil die Exposition des Klägers gegenüber Lösungsmitteln im Sinne der BK 1317 vom Senat bejaht wird. Sie ist im Übrigen auch unstrittig. Eine bestimmte Konzentration der Lösungsmittel ist nicht Voraussetzung für die Anerkennung einer BK 1317 (vgl. dazu Hessisches LSG, Urteil vom 06.07.2007, L 7 U 8/06). Die Beklagte hat daher schon in einem Schriftsatz vom 09.01.2004 hinreichende Anhaltspunkte dafür bejaht, dass der Kläger schädigenden Einwirkungen im Sinne der BK 1317 ausgesetzt gewesen ist.

Die mit Schriftsätzen vom 15.10.2009, 27.10.2009 und 14.04.2010 geforderte ergänzende Anhörung der nach § 109 SGG ernannten Gutachterin Dr. K. war nach den Regelungen dieser Vorschrift sowie des § 103 SGG nicht notwendig. Der Sachverhalt ist, insbesondere auch nach den ergänzenden Anhörungen des Sachverständigen Dr. C. vom 12.03.2013 und am 16.10.2013, erschöpfend aufgeklärt.

Soweit der Kläger im Schriftsatz vom 14.04.2010 die Vorlage der Beratungsarztverträge mit Dr. L. und Dr. D. beantragt hat, lässt der Senat offen, ob es sich um einen zulässigen Beweisantrag im oben dargestellten Sinn handelt. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 16.09.2010 die Niederschriften über die Belehrung und Verpflichtung des Dr. L. vom 20.07.1995 und des Dr. D. vom 30.04.2003 vorgelegt. Deren Status als Beratungsarzt steht damit zur vollen Überzeugung des Senats fest. Bei den von der Beklagten vorgelegten Äußerungen von Dr. L. vom 05.08.2009 und von Dr. D. vom 11.01.2010 handelt es sich um Parteivortrag der Beklagten und nicht um gutachtliche Stellungnahmen im Sinne des § 200 SGB VII. Das Vorbringen wurde vom Senat (und auch vom Gutachter Dr. C.) auch in diesem Sinne gewürdigt.

Eine im Schriftsatz vom 29.11.2013 erneut beantragte Anhörung des Dr. M. und des Prof. Dr. W. war schon deshalb nicht erforderlich, weil es sich bei diesen weder um nach § 106 SGG noch um nach § 109 SGG vom Senat beauftragte Gutachter handelt. Soweit sie als sachverständige Zeugen gehört werden sollen, fehlt es bereits an der Benennung eines geeigneten Beweisthemas. Dr. M. und Prof. Dr. W. haben den Kläger selbst nie untersucht, so dass auch deswegen nicht erkennbar ist, wozu sie zeugenschaftliche Angaben machen könnten.

Den in den Schriftsätzen vom 14.04.2010 und 15.11.2011 enthaltenen Anträgen auf Anhörung des Diplom-Psychologen F. ist der Senat durch Anhörung des Hauptgutachters Dr. C. nachgekommen. Dieser hat am 12.03.2013 und am 16.10.2013 zu allen Fragen des Klägers auch zur Testpsychologie Stellung genommen. Der Kläger hat nicht dargelegt, dass danach noch Fragen offen geblieben sind.

Mangels Nachweis des Vorliegens einer toxischen Polyneuropathie bzw. Enzephalopathie i.S.d. BK 1317 waren weitere Ermittlungen zur Exposition des Klägers gegenüber organischen Lösungsmitteln oder deren Gemischen nicht erforderlich.

Für das Vorliegen der Voraussetzungen einer BK 1302 oder 1303 ergeben sich aus dem Akteninhalt, insbesondere aus den eingeholten sachverständigen Äußerungen, keine Anhaltspunkte, so dass auch in diese Richtung gehende weitere Ermittlungen nicht geboten waren. Insbesondere liegen beim Kläger keine toxischen Erkrankungen vor, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die Einwirkung durch Halogenkohlenwasserstoffe (vgl. dazu das Merkblatt zur BK 1302, Bek. des BMA vom 29.03.1985, BArbBl 1985, H.6 S.55, Punkt III) oder Benzol (vgl. dazu das Merkblatt zur BK 1303, Bek. des BMA vom 24.02.1964, BArbBl Fachteil Arbeitsschutz 1964, 30 Punkt III, mit Ergänzung Bek. des BMA vom 22.08.1994, BArbBl 10/94, S.139 ff, Punkt III) zurückzuführen sind.

Die Berufung gegen das klageabweisende Urteil war nach alledem zurück zuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Revisionszulassungsgründe im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG sind nicht gegeben.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.