Die Verständigung ist der sog. „Deal“ im Strafprozess. Schon umstritten ist, wie sie strafrechtsdogmatisch überhaupt einzuordnen ist. Die Verständigung ist eine Verfahrensweise, bei der sich das Gericht mit den Verfahrensbeteiligten über das Ergebnis des Verfahrens verständigt, § 257 c StPO. Häufigster Anwendungsfall dabei ist die Einigung über das zu erwartende Strafmaß, d. h. die Rechtsfolge, im Falle dass der Angeklagte geständig ist.
Primär dient dieses Institut natürlich dazu, Ressourcen zu schonen und damit Verfahren zu kürzen. Da die Ermittlung der „materiellen Wahrheit“, also der Sachverhalt, so wie er sich wirklich abgespielt hat, Ziel eines jeden Strafverfahrens ist, darf die Verständigung die Sachverhaltsaufklärung der Ermittlungsbehörden nicht verkürzen. Hier entsteht ein Dilemna zwischen der praktischen Notwendigkeit eines solchen Instituts und den extremen Bedenken, die gegen ein solches Institut sprechen; die Verfahrensgrundsätze werden durch einen solchen Deal nämlich nicht hinreichend bedacht. Das Verfahren wird hierdurch erheblich verkürzt und Grundsätze wie beispielsweise der Öffentlichkeitsgrundsatz können nicht derartig eingehalten werden, wie unsere Verfassung das von uns eigentlich verlangt.
Zum Zwecke der Transparenz wurden entsprechende Protokollierungspflichten in unserer Strafprozessordnung normiert, um die Absprache mit den Verfahrensgrundsätzen in Einklang zu bringen. Die Einführung der Norm des § 257 c StPO am 4. 08 2009 stellte damit eigentlich einen Fortschritt dar – vorher entsprach es der Regel, dass Gerichte eine sog. informelle Absprache durchführten, d. h. illegale Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung ohne jegliche Dokumentation. Problem hierbei ist, dass sich die Praxis seit Einführung des § 257 c StPO nicht an die ihr auferlegten Dokumentationspflichten hielt – das nennt das Bundesverfassungsgericht Vollzugsdefizit. Dies könnte dazu führen, dass die Norm in ihrer Gesamtheit früher oder später nicht mehr verfassungsgemäß ist:
Im Frühjahr 2013 entschied das Bundesverfassungsgericht nämlich, dass die Regelung zur Verständigung im Strafprozess – trotz eines erheblichen Vollzugsdefizits – derzeit „noch nicht“ verfassungswidrig seien. Was das genau bedeuten soll, ist unklar. In diesem Aufsatz möchte ich mich mit diesem Urteil auseinandersetzen. Es gilt als eines der wichtigsten Urteile des 21. Jahrhunderts zum Thema Strafprozessrecht.
2 BvR 2628/10 – Ein Überblick
Wie schon soeben erwähnt, setzte sich das Bundesverfassungsgericht im vorliegenden Verfahren damit auseinander, ob das Verständigungsgesetz in seiner Fassung mit der deutschen Verfassung in Einklang steht. Dies bejahte das höchstrichterliche Gericht, verwies aber auf den Vollzugsdefizit und legte demnach dem Gesetzgeber die Pflicht auf, die Schutzmechanismen (damit ist die Transparenz richterlichen Handelns und die Protokollierungspflichten im Rahmen einer Verständigung gemeint) immer wieder auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen sowie bei Gelegenheit nachzubessern.
Wie steht es mit den Verfahrensgrundsätzen?
Das Bundesverfassungsgericht geht in seinem Urteil der Reihe nach auf die wichtigen Verfahrensprinzipien ein, die im Rahmen einer Verständigung unbedingt Beachtung finden müssen:
Es beginnt mit dem Schuldgrundsatz, der sich aus der Menschenwürde (Art. 1 GG und Art. 2 I GG) und aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) ableitet. Trotz einer Einigung über das Strafmaß im Rahmen einer Verständigung bleibt es immer noch Ziel des Strafverfahrens den wahren Sachverhalt zu ermitteln. Ohne einen solchen lässt sich das materielle Schuldprinzip gar nicht realisieren – Die Strafe die der Verurteilte erhält ist nämlich die Antwort auf seine persönliche Schuld! Auch das Institut der Verständigung kann einen solch wichtigen Verfahrensgrundsatz nicht lahmlegen.
Eine Verständigung kann damit niemals alleinige Urteilsgrundlage bilden, sondern das Gericht – muss wie sonst auch immer – hiervon überzeugt sein, § 261 StPO. Vielmehr müssen verständigungsbasierte Geständnisse auf ihre Richtigkeit überprüft werden (Verlinkung!).
Das Gericht weist auch darauf hin, dass der Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren durch die Verständigung nach § 257 c StPO nicht verletzt wird. Ein solcher gewährleistet das Recht eines jeden Beschuldigten, prozessuale Rechte wahrzunehmen sowie Übergriffe des Staates in einer angemessenen Art und Weise abwehren zu können. Wie dieses Verfahrensrecht ausgestaltet wird, liegt grundsätzlich in der Kompetenz des Gesetzgebers.
Darüber schreibt das Gericht in seinem Urteil über die Relevanz des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit und der Unschuldsvermutung, die im Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 III GGverankert sind. Der Beschuldigte muss stets frei von jeglichem Zwang und eigenverantwortlich entscheiden können, ob und wie er im Strafprozess gegen sich selbst mitwirken möchte. Er muss also nicht an seiner eigenen Überführung mitwirken.
Die genannten Verfahrensgrundsätze lassen natürlich Zweifel aufkommen, inwieweit das Institut der Verständigung denn überhaupt mit diesen Verfahrensgrundsätzen in Einklang zu bringen ist. Außer Acht gelassen darf hierbei aber nicht, dass das Verständigungsgesetz vielmehr ein Versuch war, ein solches Institut mit der Verfassung in Einklang zu bringen, gerade weil es vorher der Praxis entsprach, eine solche ohne jegliche gesetzlich normierten Transparenzpflichten durchzuführen. Es entsprach also der Praxis einen solchen „Deal“ abzuschließen – und dies ohne Rücksicht darauf, dass ein solches Handeln unsere Verfassung und vielmehr die prozessualen Rechte eines jeden Beschuldigten mit Füßen trat.
Das Gericht schreibt in seinem Urteil, dass das Verständigungsgesetz das Risiko aufweisen würde, dass die Vorgaben, die uns die Verfassung an ein solches Institut vorschreibt, nur geringfügige Beachtung findet. Dies habe aber nicht zur Folge, dass es dem Gesetzgeber deshalb schlechthin verwehrt sei, eine solche Verfahrensvereinfachung dennoch grundsätzlich für zulässig zu erklären. Indem der Gesetzgeber an das Institut der Verständigung gewisse gesetzliche Vorgaben schuf, hat er damit kein „konsensuales Verfahrensmodell“ zwischen Beschuldigtem und Gericht geschaffen, sondern vielmehr die Verständigung als eine Art „Fremdkörper“ in unsere geltende Strafprozessordnung integriert.
Wieso sind Transparenz und Dokumentation von solchen Verständigungen so wichtig?
Solche Pflichten, die der Gesetzgeber der Praxis mit seinem § 257 c StPO aufgebürdet hat sind deshalb bedeutsam, da sie eine effektive Kontrolle durch Öffentlichkeit, Staatsanwaltschaft und durch das Rechtsmittelgericht gewährt. Dadurch, dass die mit einer Verständigung verbundenen Handlungen umfassend in die öffentliche Hauptverhandlung einbezogen werden müssen, wird betont, dass sich auch bei dem Institut der Verständigung die richterliche Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung ergeben muss. Der Staatsanwaltschaft wird hier eine herausragende Rolle zugeschrieben, denn ihr kommt eine Kontrollfunktion zu. Sie ist dazu verpflichtet, ihre Zustimmung zu einer gesetzeswidrigen Verständigung zu verweigern und muss vielmehr Rechtsmittel gegen Urteil einlegen, die auf einer solchen Verständigung beruhen.
Bundesverfassungsgericht versetzt sich in die Lage des BGH und nennt Revisionsgründe
Interessant ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht darlegt, dass ein Verstoß gegen die Transparenz-und Dokumentationspflichten die Rechtswidrigkeit der Verständigung zur Folge hat. Behält das Gericht die Verständigung dennoch bei, so stelle dies ein Revisionsgrund dar – ein Beruhen ließe sich also regelmäßig nicht ausschließen.
Dasselbe gelte dann, wenn der Angeklagte nicht über die Voraussetzungen und mit welchen Folgen das Gericht von dem in Aussicht gestellten Ergebnis abweichen kann belehrt wird. Eine solche Belehrung soll nämlich den Angeklagten in seiner Entscheidungsfreiheit hinsichtlich über seine Mitwirkung an der Verständigung schützen.
Diese Passagen des Urteils lassen seine Leser freilich etwas grübeln – denn solche Vorgaben, die das höchstrichterliche Gericht hier tätigt, sind eigentlich solche, die allein der Bundesgerichtshof als Revisionsinstanz der Justiz auferlegen sollte; nicht hingegen das Bundesverfassungsgericht. Es überschritt hier mithin seine Kompetenzen.
Über den Vollzugsdefizit
Nun zum Knackpunkt der Entscheidung:
Das Verständigungsgesetz sichere die verfassungsrechtlichen Vorgaben in hinreichender Weise; der in erheblichen Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes führe derzeit noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung.
Was das Bundesverfassungsgericht kritisiert ist gar nicht das Gesetz in seiner jetzigen Fassung vom 4.08.2009 selbst; es ist vielmehr die Praxis, die sich nicht an die ihr auferlegten Transparenz und Protokollierungspflichten hält. Verfassungswidrig wäre der Gesetzestext allein dann, wenn die Schutzmechanismen in einer Art und Weise lückenhaft wären und damit (selbst gegen die Verfassung verstoßende) informelle Absprachen fördern würden – die Norm soll solche illegalen Absprachen aber gerade verhindern indem sie strenge Anforderungen an ein solches Institut aufstellt. Problem ist hier also vielmehr die Praxis, die das Gesetz nicht oder nicht richtig anwendet.
Als Hauptgrund für den defizitären Vollzug wird in der im Gutachten genannten empirischen Studie nicht der strukturelle Mängel des gesetzlichen Regelungskonzeptes, sondern vielmehr eine „fehlende Praxisuntauglichkeit“ genannt.
Was folgt?
Was schlussfolgert das Bundesverfassungsgericht aus seinen Erwägungen? Was soll das überhaupt bedeuten, das Gesetz ist „noch“ verfassungskonform, „Schuld“ sei vielmehr die Praxis? Das höchstrichterliche Gericht meint in seinen Ausführungen, der Gesetzgeber müsse die weitere Entwicklung sorgfältig im Auge behalten. Sollte sich die gerichtliche Praxis weiterhin in derartiger Weise über die normierten Regelungen hinwegsetzen, so sei es als Aufgabe des Gesetzgebers anzusehen, diese Fehlentwicklung durch Maßnahmen entgegenzutreten. Wenn dies unterbleibt, so träte „ein verfassungswidriger Zustand“ ein.
Diese Begründung durch das Bundesverfassungsgericht wurde zu Recht in vielfacher Weise von der Literatur angegriffen. Und das aus vielerlei Gründen. Wieso? Der Senat legt dem Gesetzgeber die Pflicht auf, die Entwicklung sorgfältig zu beobachten. Zwingend ist diese „Verschiebung“ aber nicht. Vielmehr hätte sich der Senat einer endgültigen Entscheidung nicht entziehen dürfen – je nachdem wie er den defizitären Vollzug des Verständigungsgesetzes einschätzt (unabhängig davon, dass ein solcher nicht aus einer Schutzlücke des Gesetzes entspringt) hätte er sich somit für eine Verfassungsmäßigkeit oder eben Verfassungswidrigkeit entscheiden können. Die Frage, wieso der Senat warten möchte, und vielmehr eine „vorübergehende Lösung“ der „Noch-Verfassungsmäßigkeit“ einer endgültigen Entscheidung vorzieht, erschließt sich mir nicht.
Eine Frage habe ich mir außerdem noch gestellt: Was genau muss der Gesetzgeber jetzt tun? Schließlich ist es und bleibt es die Aufgabe des Gesetzgebers, Gesetze zu erlassen. Wenn das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber allerdings vorgibt, dass das Verständigungsgesetz den verfassungsmäßigen Anforderungen entspricht, so bleibt für den Gesetzgeber unklar, wann und wie er zu handeln hat, wenn das Vollzugsdefizit in der Praxis keine Besserung erfährt.
Dieses Urteil ist v. a. für die Gerichte relevant. Es bringt zum Ausdruck, dass sie sich an die Formvorschriften der Strafprozessordnung halten müssen. Tun sie dies nicht, so trete ein rechtswidriger Zustand ein, der zeitgleich einen Revisionsgrund ablichtet. Ein solches hat natürlich auch eine erhebliche Relevanz für den Beschuldigten - er ist als Subjekt des Strafprozesses besonders schützenswert. Die Verfahrensgrundsätze unserer Strafprozessordnung müssen zu seinem Schutze Anwendung finden.