BGH: Abgrenzung zwischen Suizidhilfe und Tötung erfordert normative Betrachtung - Freispruch für Ehefrau
Der Bundesgerichtshof sprach eine Frau frei, die das Landgericht Stade zuvor wegen Tötung auf Verlangen gem. § 216 StGB verurteilt hatte. Nach Ansicht des Gerichts erfordere die Abgrenzung von assistiertem Suizid und Strafbarer Tötung auf Verlangen eine normative Betrachtung. Obwohl die Frau ihrem Ehemann das Insulin, das letztendlich zu seinem Tod geführt hat, aktiv verabreichte, beherrschte, nach einer normativen Betrachtung nicht sie das zum Tode führende Geschehen, sondern ihr verstorbener Ehemann.
Dirk Streifler – Streifler&Kollegen – Rechtsanwälte Berlin
Ehemann leidet
Die Angeklagte ist die 49 Jahre mit ihrem Ehemann verheiratet, als sie ihn auf seinen Wunsch hin sechs volle Ampullen Insulin spritzt, die schließlich zu seinem Tod führen. Der schwerkranke Mann litt an Diabetes, chronischen Schmerzen, psychosomatischen Schlafstörungen und Arthrose. Er war seit 2019 bettlägerig und äußerte wöchentlich den Wunsch zu sterben. Aufgrund seiner Arthrose war es ihm nicht möglich die Spritzen selbst aufzuziehen. Als er die Entscheidung trifft sich das Leben zu nehmen, bittet er seine Ehefrau ihm alle im Haus vorrätigen Tabletten zu geben und ihm alle noch vorhandenen Insulinspritzen in die Bauchdecke zu injizieren. Seine Frau besteht darauf, dass er einen Abschiedsbrief schreibt, um zu verhindern, dass jemand denkt, sie könnte ihn umgebracht haben. Das tut der Verstorbene, bevor er selbstständig alle Tabletten einnimmt. Im Anschluss legte er sich hin und lies sich die vorhandenen Insulinspritzen verabreichen.
Der Ehegatte starb an Unterzuckerung infolge des injizierten Insulins. Zwar waren die eingenommen Tabletten geeignet, seinen Tod herbeizuführen, allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt, so dass das von der Ehefrau injizierte Insulin und nicht die Tabletten zum Tod des Mannes geführt haben.
Strafbare Tötung auf Verlangen oder Suizidhilfe?
Das Landgericht sah in diesem Handeln eine strafbare Tötung auf Verlangen gem. § 216 Abs. 1 StGB und verurteilte die Ehefrau. Nach Ansicht des Landgerichts habe der Ehemann sein Leben in die Hand seiner Frau gelegt. Es sei ihm trotz seines vollen Bewusstseins nicht möglich gewesen, sein Schicksal selbst zu bestimmen, da er nicht gewusst habe, wann das Insulin seine tödliche Wirkung entfaltet. Der Bundesgerichtshof ist anderer Meinung und hat die Ehefrau auf die Revision hin, freigesprochen. Ihr Verhalten sei als straflose Beihilfe zu Suizid und nicht als Tötung auf Verlangen zu qualifizieren.
Verstorbener beherrschte das Tötungsgeschehen
Der Bundesgerichtshof lehnte die Abgrenzung von strafbarer Tötung auf Verlangen von strafloser Beihilfe zum Suizid nach einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln ab und fordert eine normative Betrachtung. Nach Ansicht der Richter des Bundesgerichtshofs könne nicht allein darauf abgestellt werden, ob die Angeklagte das zum Tode führende Insulin durch aktives Tun verabreichte, weil das dem Gesamtplan des Mannes, sich das Leben zu nehmen, nicht hinreichend Rechnung tragen würde. Vielmehr müsse, nach einer wertenden Betrachtung davon ausgehen werden, dass die Insulininjektion gemeinsam mit der Einnahme der Tabletten einen einheitlichen lebenspendenden Akt darstellen. Über diesen Akt hatte der verstorbene Ehemann die Kontrolle, da er über dessen Ausführung allein bestimmen konnte. Der Verstorbene war auch nach der Injizierung des Insulins noch bei Bewusstsein. Er hatte also die Möglichkeit Gegenmaßnahmen einzuleiten, um seinen Tod zu verhindern. Diese Möglichkeit lies er verstreichen. Ganz im Gegenteil versicherte er sich bei seiner Ehefrau, ob sie ihm alle vorrätigen Insulinspritzen auch wirklich verabreicht hatte, da er keinesfalls als Zombie zurückehren wollte.
Gashahn-Fall und Gisela-Entscheidung
Die Richter des Bundesgerichtshofs verglichen den Fall mit dem von Reichsgerichts im Jahr 1920 entschiedenen „Gashahn-Fall“ (Urt. v. 27.08.1920 – 905/20 II, JW 1921, 579.). Dort hatte die Verstorbene Suizidentin auch nach der Handlung des Angeklagten – dem Gasaufdrehen - jederzeit die Möglichkeit Hilfe zu holen.
Der vorliegende Fall, sei dagegen nicht mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs im „Gisela-Fall“ (Urteile vom 14. August 1963 – 2 StR 181/63, BGHSt 19, 135, 139 f.) zu vergleichen. Dort hatten zwei Sterbewillige Personen sich in ein Auto gesetzt, während der Angeklagte immer wieder das Gaspedal durchtrat, so dass Gas in das Wageninnere gelangen konnte. Dieser Fall unterscheide sich von dem Vorliegendem, da dort der aktive Beitrag des Angeklagten, während des Zeitraums, in dem die Verstorbene hätte sich retten können, noch nicht abgeschlossen war.
Keine Unterlassungsstrafbarkeit
Selbstbestimmungsrecht des Verstorbenen muss auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit akzeptiert werden
Der Bundesgerichtshof sah auch keinen Raum für eine Unterlassungsstrafbarkeit der Ehegattin. Hier fehle es nach Ansicht der Richter an einer strafbarkeitsbegründenden Einstandspflicht für die Abwendung des Todes beim Ehemann. Zwar sei die Ehegattin Garantin für das Leben ihres Ehemannes, aus dieser Garantenstellung folge jedoch keine Pflicht zur Abwendung seines Todes. Der Ehemann habe der Angeklagten verboten einen Arzt zu kontaktieren. Sein Sterbewille „führte zur situationsbezogenen Suspendierung ihrer Einstandspflicht für sein Leben.“. Sein auf den Tod gerichteter Wille, müsse – sofern er frei von Wissens- oder Verantwortungsdefiziten gebildet wurde - demnach auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit respektiert werden.
Reaktionen
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz Eugen Brysch befürchtet eine Verschmelzung der Grenze zwischen strafloser Suizidbeihilfe und aktiver strafbarer Sterbehilfe. In einem Interview mit der dpa forderte er den Bundestag auf für Klarstellung zu sorgen. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs habe, seiner Meinung nach, „das strafrechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen de facto aufgehoben“.
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