BGH: Abgrenzung zwischen Suizidhilfe und Tötung erfordert normative Betrachtung - Freispruch für Ehefrau

originally published: 17/08/2022 15:00, updated: 19/10/2022 17:16
BGH: Abgrenzung zwischen Suizidhilfe und Tötung erfordert normative Betrachtung - Freispruch für Ehefrau
Gesetze
Urteile
Anwälte, die zu passenden Rechtsgebieten beraten
Artikel zu passenden Rechtsgebieten

Author’s summary

Der BGH konkretisiert die Abgrenzung zwischen strafloser Beihilfe zum Suizid und strafbarer Tötung auf Verlangen und definiert diese Grenze neu. Ausgangspunkt soll eine normative Betrachtung des Gesamtgeschehens sein. Die ehemaltige Krankenschwester die ihrem Ehemann auf dessen Wunsch eine tödliche Dosis Insulin gespritzt hat, wurde freigesprochen.

 

Der Bundesgerichtshof sprach eine Frau frei, die das Landgericht Stade zuvor wegen Tötung auf Verlangen gem. § 216 StGB verurteilt hatte. Nach Ansicht des Gerichts erfordere die Abgrenzung von assistiertem Suizid und Strafbarer Tötung auf Verlangen eine normative Betrachtung. Obwohl die Frau ihrem Ehemann das Insulin, das letztendlich zu seinem Tod geführt hat, aktiv verabreichte, beherrschte, nach einer normativen Betrachtung nicht sie das zum Tode führende Geschehen, sondern ihr verstorbener Ehemann.

Dirk Streifler – Streifler&Kollegen – Rechtsanwälte Berlin

Ehemann leidet

Die Angeklagte ist die 49 Jahre mit ihrem Ehemann verheiratet, als sie ihn auf seinen Wunsch hin sechs volle Ampullen Insulin spritzt, die schließlich zu seinem Tod führen. Der schwerkranke Mann litt an Diabetes, chronischen Schmerzen, psychosomatischen Schlafstörungen und Arthrose. Er war seit 2019 bettlägerig und äußerte wöchentlich den Wunsch zu sterben. Aufgrund seiner Arthrose war es ihm nicht möglich die Spritzen selbst aufzuziehen.  Als er die Entscheidung trifft sich das Leben zu nehmen, bittet er seine Ehefrau ihm alle im Haus vorrätigen Tabletten zu geben und ihm alle noch vorhandenen Insulinspritzen in die Bauchdecke zu injizieren. Seine Frau besteht darauf, dass er einen Abschiedsbrief schreibt, um zu verhindern, dass jemand denkt, sie könnte ihn umgebracht haben. Das tut der Verstorbene, bevor er selbstständig alle Tabletten einnimmt. Im Anschluss legte er sich hin und lies sich die vorhandenen Insulinspritzen verabreichen.

Der Ehegatte starb an Unterzuckerung infolge des injizierten Insulins. Zwar waren die eingenommen Tabletten geeignet, seinen Tod herbeizuführen, allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt, so dass das von der Ehefrau injizierte Insulin und nicht die Tabletten zum Tod des Mannes geführt haben.

Strafbare Tötung auf Verlangen oder Suizidhilfe?

Das Landgericht sah in diesem Handeln eine strafbare Tötung auf Verlangen gem. § 216 Abs. 1 StGB und verurteilte die Ehefrau. Nach Ansicht des Landgerichts habe der Ehemann sein Leben in die Hand seiner Frau gelegt. Es sei ihm trotz seines vollen Bewusstseins nicht möglich gewesen, sein Schicksal selbst zu bestimmen, da er nicht gewusst habe, wann das Insulin seine tödliche Wirkung entfaltet. Der Bundesgerichtshof ist anderer Meinung und hat die Ehefrau auf die Revision hin, freigesprochen. Ihr Verhalten sei als straflose Beihilfe zu Suizid und nicht als Tötung auf Verlangen zu qualifizieren.   

Verstorbener beherrschte das Tötungsgeschehen

Der Bundesgerichtshof lehnte die Abgrenzung von strafbarer Tötung auf Verlangen von strafloser Beihilfe zum Suizid nach einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln ab und fordert eine normative Betrachtung. Nach Ansicht der Richter des Bundesgerichtshofs könne nicht allein darauf abgestellt werden, ob die Angeklagte das zum Tode führende Insulin durch aktives Tun verabreichte, weil das dem Gesamtplan des Mannes, sich das Leben zu nehmen, nicht hinreichend Rechnung tragen würde. Vielmehr müsse, nach einer wertenden Betrachtung davon ausgehen werden, dass die Insulininjektion gemeinsam mit der Einnahme der Tabletten einen einheitlichen lebenspendenden Akt darstellen. Über diesen Akt hatte der verstorbene Ehemann die Kontrolle, da er über dessen Ausführung allein bestimmen konnte. Der Verstorbene war auch nach der Injizierung des Insulins noch bei Bewusstsein. Er hatte also die Möglichkeit Gegenmaßnahmen einzuleiten, um seinen Tod zu verhindern. Diese Möglichkeit lies er verstreichen. Ganz im Gegenteil versicherte er sich bei seiner Ehefrau, ob sie ihm alle vorrätigen Insulinspritzen auch wirklich verabreicht hatte, da er keinesfalls als Zombie zurückehren wollte.

Gashahn-Fall und Gisela-Entscheidung

Die Richter des Bundesgerichtshofs verglichen den Fall mit dem von Reichsgerichts im Jahr 1920 entschiedenen „Gashahn-Fall“ (Urt. v. 27.08.1920 – 905/20 II, JW 1921, 579.). Dort hatte die Verstorbene Suizidentin auch nach der Handlung des Angeklagten – dem Gasaufdrehen - jederzeit die Möglichkeit Hilfe zu holen.

Der vorliegende Fall, sei dagegen nicht mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs im „Gisela-Fall“ (Urteile vom 14. August 1963 – 2 StR 181/63, BGHSt 19, 135, 139 f.) zu vergleichen. Dort hatten zwei Sterbewillige Personen sich in ein Auto gesetzt, während der Angeklagte immer wieder das Gaspedal durchtrat, so dass Gas in das Wageninnere gelangen konnte. Dieser Fall unterscheide sich von dem Vorliegendem, da dort der aktive Beitrag des Angeklagten, während des Zeitraums, in dem die Verstorbene hätte sich retten können, noch nicht abgeschlossen war.

Keine Unterlassungsstrafbarkeit

Selbstbestimmungsrecht des Verstorbenen muss auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit akzeptiert werden

Der Bundesgerichtshof sah auch keinen Raum für eine Unterlassungsstrafbarkeit der Ehegattin. Hier fehle es nach Ansicht der Richter an einer strafbarkeitsbegründenden Einstandspflicht für die Abwendung des Todes beim Ehemann. Zwar sei die Ehegattin Garantin für das Leben ihres Ehemannes, aus dieser Garantenstellung folge jedoch keine Pflicht zur Abwendung seines Todes. Der Ehemann habe der Angeklagten verboten einen Arzt zu kontaktieren. Sein Sterbewille „führte zur situationsbezogenen Suspendierung ihrer Einstandspflicht für sein Leben.“. Sein auf den Tod gerichteter Wille, müsse – sofern er frei von Wissens- oder Verantwortungsdefiziten gebildet wurde - demnach auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit respektiert werden.

Reaktionen

Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz Eugen Brysch befürchtet eine Verschmelzung der Grenze zwischen strafloser Suizidbeihilfe und aktiver strafbarer Sterbehilfe. In einem Interview mit der dpa forderte er den Bundestag auf für Klarstellung zu sorgen. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs habe, seiner Meinung nach, „das strafrechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen de facto aufgehoben“.

Haben Sie noch Fragen zum Thema "Sterbehilfe"? Dann nehmen Sie Kontakt zu Streifler&Kollegen auf und lassen Sie sich fachkundig beraten.

Show what you know!
1 Gesetze

{{count_recursive}} Gesetze werden in diesem Text zitiert

(1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. (2) Der Versuch ist strafbar.
1 Urteile
{{count_recursive}} Urteile zitieren order werden zitiert von diesem Artikel

{{count_recursive}} Urteile werden in dem Artikel zitiert
published on 17/08/2022 15:30

Beim "einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmord" ist der Überlebende nach § 216 StGB zu bestrafen, wenn er das zum Tode führende Geschehen beherrscht hat (Tatherrschaft). Andernfalls liegt straflose Beihilfe zum Selbstmord vor.
2 Anwälte, die zu passenden Rechtsgebieten beraten


Wirtschaftsrecht / Existenzgründung / Insolvenzrecht / Gesellschaftsrecht / Strafrecht
Languages
EN, DE

Rechtsanwalt


Die Kanzlei "Streifler & Kollegen" vertritt Sie auch in Angelegenheiten des Film-, Medien- und Urheberrechts.
Languages
EN, FR,
Anwälte der Kanzlei die zu Strafrecht beraten
348 Artikel zu passenden Rechtsgebieten

moreResultsText

08/01/2008 19:09

Strafverteidiger in Berlin Mitte - BSP Rechtsanwälte
SubjectsStrafrecht
23/06/2010 11:44

Rechtsanwalt für Wirtschaftsstrafrecht - BSP Bierbach, Streifler & Partner PartGmbB
SubjectsStrafrecht
14/12/2020 14:14

Erlangt eine Privatperson, die auf Veranlassung der Ermittlungsbehörden mit dem Tatverdächtigten ohne Aufdeckung der Ermittlungsabsicht spricht, Informationen zum Untersuchungsgegenstand, dürfen diese verwertet werden, wenn es um die Aufklärung einer Straftat von erheblicher Bedeutung geht sowie die Erforschung des Sachverhalts unter Einsatz anderer Ermittlungsmethoden erheblich weniger erfolgsversprechend oder wesentlich erschwert gewesen wäre – Streifler & Kollegen, Dirk Streifler, Anwalt für Strafrecht
31/07/2020 12:31

Autofahrer, die ein illegales Wettrennen im Straßenverkehr mit dem Willen, das Rennen zu obsiegen, durchführen, können sich wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe strafbar machen. Wie ein bedingter Vorsatz in solchen Raserfällen das Mordurteil begründen und damit auch eine Abgrenzung zur fahrlässigen Körperverletzung mit Todesfolge geschaffen werden kann, prüft der 4.Strafsenat im folgendem Urteil (4 StR 482/19) vom 18. Juni 2020. In diesem Artikel lesen Sie, wieso der BGH das Mordurteil des einen Angeklagten bestätigt, das des anderen aber aufhebt und zurück an das Landgericht Berlin verweist. – Streifler & Kollegen – Benedikt Mick, Anwalt für Strafrecht
Artikel zu Strafrecht
11/08/2016 11:40

Der Grenzwert zur nicht geringen Menge JWH-210 liegt bei 2 Gramm Wirkstoffgehalt, der Grenzwert von MDPV liegt bei 10 Gramm Wirkstoffgehalt.
15/09/2016 11:35

Der unerlaubte Umgang mit Betäubungsmitteln zum Zweck der Eigenbehandlung eines Schmerzpatienten kann regelmäßig nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt sein.
Artikel zu Betäubungsmittelstrafrecht
31/07/2020 12:31

Autofahrer, die ein illegales Wettrennen im Straßenverkehr mit dem Willen, das Rennen zu obsiegen, durchführen, können sich wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe strafbar machen. Wie ein bedingter Vorsatz in solchen Raserfällen das Mordurteil begründen und damit auch eine Abgrenzung zur fahrlässigen Körperverletzung mit Todesfolge geschaffen werden kann, prüft der 4.Strafsenat im folgendem Urteil (4 StR 482/19) vom 18. Juni 2020. In diesem Artikel lesen Sie, wieso der BGH das Mordurteil des einen Angeklagten bestätigt, das des anderen aber aufhebt und zurück an das Landgericht Berlin verweist. – Streifler & Kollegen – Benedikt Mick, Anwalt für Strafrecht
02/06/2016 11:39

Rechtsanwalt für Strafrecht - BSP Rechtsanwälte in Berlin in Mitte
16/04/2015 12:03

Rechtsanwalt für Strafrecht - BSP Bierbach, Streifler & Partner PartGmbB
11/02/2015 13:30

Falsche Verdächtigung, § 164 StGB; Vortäuschen einer Straftat, § 145d StGB; Strafvereitelung, § 258 StGB; Rechtsanwalt für Strafrecht - S&K Rechstanwälte in Berlin Mitte
Artikel zu Allgemeines Strafrecht

Annotations

(1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.

(2) Der Versuch ist strafbar.