Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Urteil, 19. Sept. 2013 - 4 L 205/12

ECLI:ECLI:DE:OVGST:2013:0919.4L205.12.0A
bei uns veröffentlicht am19.09.2013

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um den Erlass von Säumniszuschlägen.

2

Die Kläger sind Eigentümer eines 771 m² großen Grundstücks (Flur A, Flurstück 37/11) im Verbandsgebiet des Beklagten. Die Kläger hatten dieses Flurstück, das aus dem ehemaligen Flurstück 37/7 entstanden war, im Dezember 1998 von den Eheleuten K. erworben. Das Ehepaar K. war weiterhin Eigentümer des neben dem Flurstück 37/7 liegenden Flurstücks 37/6. Für dieses 1.108 m² große Flurstück hatte der Beklagte das Ehepaar schon mit Bescheid vom 19. Dezember 1996 zu einem Anschlussbeitrag in Höhe von 10.309,98 DM (= 5.271,40 €) herangezogen. Der Beitragserhebung war eine Gesamtfläche von 1.642 m² und eine beitragspflichtige Fläche von 1.446 m² zugrundegelegt worden.

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Mit Bescheid vom 14. November 2003 setzte der Beklagte gegenüber den Klägern für das Flurstück 37/11 einen Anschlussbeitrag in Höhe von 2.881,65 € fest. Dagegen legten die Kläger einen - bislang noch nicht beschiedenen - Widerspruch ein und beantragten die Aussetzung der Vollziehung. Zur Begründung heißt es: „Es wurde keine Herstellung des Abwasserkanals in den letzten 8 Jahren vorgenommen. Es sind somit keine Herstellungskosten entstanden.“ Mit Schreiben vom 23. November 2006 erklärte eine vom Beklagten mandatierte Rechtsanwaltskanzlei, dass lediglich ein Beitrag in Höhe von 732,56 € geschuldet werde. Das Flurstück 37/11 sei aus dem ehemaligen Flurstück 37/6 hervorgegangen, das schon herangezogen worden sei. Nur für die verbleibende Differenz von 196 m² müsse noch ein Beitrag festgesetzt werden. Im Januar 2007 schlossen die Beteiligten einen Vergleich, wonach sich die Kläger verpflichteten, einen Betrag in Höhe von 366,28 € zu zahlen; die Zahlung ging am 29. Mai 2007 bei dem Beklagten ein.

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Mit Bescheid vom 18. November 2009 setzte der Beklagte gegenüber den Klägern Säumniszuschläge in Höhe von 1.025,50 € fest. Dabei legte er für die Zeit vom 1. Januar 2004 bis 30. November 2006 einen Säumnisbetrag von 2.850,- €, vom 1. Dezember 2006 bis 31. Januar 2007 von 700,- € sowie vom 1. Februar 2007 bis 29. Mai 2007 von 350,- € zugrunde.

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Die Kläger erhoben fristgerecht Widerspruch und beantragten in der Widerspruchsbegründung, die Säumniszuschläge zu erlassen, hilfsweise auf die Hälfte zu reduzieren. Der Beklagte lehnte den Erlassantrag mit Bescheid vom 8. Februar 2012 ab. Der Widerspruch war erfolglos. In ihrem Widerspruch hatten die Kläger u.a. geltend gemacht, ein Mitarbeiter des Beklagten habe am 25. Mai 2004 im persönlichen Gespräch erklärt, der Beitragsbescheid sei rechtswidrig und eine Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung müsse nicht erfolgen, da der Bescheid zeitnah aufgehoben werden würde.

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Auf die am 14. Juni 2012 erhobene Verpflichtungsklage der Kläger hat das Verwaltungsgericht Magdeburg den Beklagten unter teilweiser Aufhebung des Ablehnungsbescheides verpflichtet, die festgesetzten Säumniszuschläge insoweit zu erlassen, als darin mehr als 143,50 € festgesetzt worden sind, und die Klage im Übrigen abgewiesen.

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Eine unbillige Härte i. S. des § 227 AO liege dann vor, wenn ein Rechtsbehelf des Abgabepflichtigen gegen die Abgabenfestsetzung Erfolg gehabt und der Abgabenpflichtige gegenüber der Behörde alles getan habe, um die Aussetzung der Vollziehung des Abgabenbescheides zu erreichen, und diese, obwohl an sich möglich und geboten, nicht gewährt worden sei. Die Kläger, die mit ihrem Widerspruch teilweise erfolgreich gewesen seien, hätten einen Anspruch auf Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO gehabt. Der Beitragsbescheid vom 14. November 2003 sei wegen des Ablaufs der vierjährigen Festsetzungsverjährung rechtswidrig gewesen, weil die Satzung vom 31. Juli 1995 die erste wirksame Beitragssatzung gewesen sei. Zudem habe ein Verstoß gegen den Grundsatz der Einmaligkeit der Beitragserhebung vorgelegen, da aus Sicht der Adressaten schon mit dem Bescheid vom 19. Dezember 1996 auch Flächen des Vorgängerflurstücks 37/7 herangezogen worden seien. Der angefochtene Bescheid habe deshalb auch aus damaliger Sicht ernstlichen Zweifeln begegnen müssen. Ob den Klägern eine Aussetzung mündlich gewährt worden sei, könne dahinstehen.

8

Dass die Kläger seinerzeit keinen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt hätten, stünde einem (teilweisen) Erlass nicht entgegen. Die Rechtsprechung gehe insoweit ersichtlich davon aus, dass ein Beitragsschuldner mit einem Antrag auf Aussetzung alles getan habe, um eine Entscheidung der Abgabenbehörde zu erreichen.

9

Es entspreche der Billigkeit, wenn die Kläger auf einen Säumnisbetrag von 350,- € Säumniszuschläge zahlten. Die Kläger hätten mit dem Abschluss des Vergleichs im Januar 2007 zumindest (teilweise) eine durch Bescheid vom 14. November 2003 ausgelöste Zahlungsverpflichtung in Höhe von 366,28 € anerkannt, weshalb diese für den gesamten säumigen Zeitraum zu berücksichtigen sei.

10

Der Beklagte macht zur Begründung der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung geltend, sachliche Unbilligkeitsgründe seien nicht gegeben. Die Herabsetzung des Beitrages durch ihn sei gem. § 240 Abs. 1 Satz 4 AO für die Säumniszuschläge unbeachtlich. Zudem sei die Herabsetzung fehlerhaft gewesen, weil das streitbefangene Flurstück 37/11 aus dem Flurstück 37/7 hervorgegangen sei und beide Flurstücke noch nie vorher mit einem Beitrag belegt worden seien. Schon deshalb könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Festsetzung der Säumniszuschläge einen Überhang des gesetzlichen Tatbestands über die Wertungen des Gesetzgebers darstelle. Die Kläger hätten auch nicht mit einem Rechtsbehelf Erfolg gehabt. Letztlich hätten sich die Beteiligten im Wege eines Vergleichsvertrages geeinigt, was qualitativ etwas anderes sei als eine behördliche oder gerichtliche Aufhebung des Bescheides. Selbst wenn man dies anders sehen wollte, sei er ermessensfehlerfrei davon ausgegangen, dass die Kläger ihm gegenüber gerade nicht alles getan hätten, um eine Aussetzung der Vollziehung zu erlangen und diese, obwohl an sich möglich und geboten, nicht gewährt worden sei. Er sei damals vielmehr davon ausgegangen, dass seine Beitragssatzung aus dem Jahre 2000 die erste wirksame Satzung gewesen und keine Verjährung eingetreten sei. Außerdem habe der Beitragsbescheid im Gegensatz zur Auffassung des Verwaltungsgerichts zum Zeitpunkt seines Erlasses bzw. zum Zeitpunkt der Herstellung des Grundstücksanschlusses am 19. Dezember 1996 von vornherein nicht auf die Beitragssatzung vom 31. Juli 1995 gestützt werden können, die am 31. Oktober 1996 außer Kraft getreten sei. Weiterhin habe der Beitragsbescheid nicht gegen den Grundsatz der Einmaligkeit der Beitragserhebung verstoßen. Schon auf Grund der Unterschiede in den tatsächlichen Flächen und den in dem Bescheid vom 19. Dezember 1996 angegebenen Flächen sei klar, dass mit jenem Bescheid gerade nicht das Flurstück 37/7 veranlagt worden sei. Auch hätten ihm im Übrigen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Beitragsbescheides kommen müssen. Unabhängig davon hätten die Kläger einen Antrag gem. § 80 Abs. 5 VwGO beim Verwaltungsgericht stellen können bzw. müssen, um eine Aussetzung zu erreichen.

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Im Übrigen habe das Verwaltungsgericht eine eigene Ermessensentscheidung getroffen und sich damit in unzulässiger Weise an seine Stelle gesetzt. Es hätte ihn allenfalls zu einer Neubescheidung verpflichten dürfen. Zudem hätte das Verwaltungsgericht mindestens einen Säumnisbetrag von 700,- € zugrunde legen müssen, da er - wenn auch rechtsirrig - davon ausgegangen sei, dass jedenfalls ein Beitrag von 732,56 € geschuldet werde.

12

Der Beklagte beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg - 9. Kammer - vom 30. Oktober 2012 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

14

Die Kläger beantragen,

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die Berufung zurückzuweisen.

16

Sie tragen vor, das Verwaltungsgericht habe zu Recht angenommen, dass der Beklagte spätestens im August 2004 davon ausgegangen sei, dass ihr Grundstück Teil des ehemaligen Flurstücks 37/6 gewesen sei, für das schon einmal ein Anschlussbeitrag erhoben worden sei. Der Beklagte habe damit gegen den Grundsatz der Einmaligkeit der Beitragserhebung verstoßen.

17

Sie hätten auch fristgemäß Widerspruch erhoben und einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt. In dem durch sie bereits mitgeteilten mündlichen Gespräch mit einem Mitarbeiter des Beklagten am 25. Mai 2004 sei offensichtlich ihr Vortrag gewertet worden, da den handschriftlichen Aufzeichnungen in der Verwaltungsakte zu entnehmen sei, dass eine schriftliche Mitteilung an sie erfolgen solle und eine Aufhebung diesbezüglich in Betracht gezogen worden sei. In Anbetracht der Zweifel, die der Beklagte zum Zeitpunkt des Gesprächs ebenfalls gehabt habe, wäre zumindest die Aussetzung der Vollziehung geboten gewesen. Zutreffend gehe die Rechtsprechung davon aus, dass sie mit ihrem Aussetzungsantrag alles notwendige getan hätten, um eine Entscheidung des Beklagten zu erreichen. Sie hätten den Antrag gestellt, obwohl in dem Beitragsbescheid nicht der Hinweis enthalten gewesen sei, dass Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung entfalten würden, und auch die Säumniszuschläge nicht angedroht worden seien. Durch die Säumniszuschläge habe deshalb überhaupt kein Druck zur rechtzeitigen Zahlung entstehen können.

18

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

19

Die zulässige Berufung ist begründet. Der ablehnende Bescheid des Beklagten vom 8. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2012 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO). Die Kläger haben keinen Anspruch auf den begehrten Erlass nach § 13a Abs. 1 Satz 5 KAG LSA i.V.m. § 227 AO, auch nicht auf eine erneute Ermessensentscheidung des Beklagten.

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1. Die Verpflichtungsklage der Kläger ist zulässig.

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Eine auf den Erlass von Säumniszuschlägen gerichtete Verpflichtungsklage darf auch dann verfolgt werden, wenn über den Widerspruch gegen die Festsetzung der Säumniszuschläge noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist. Es ist unabhängig davon zu entscheiden, ob die Säumniszuschläge bereits nicht entstanden sind (BFH, Urt. v. 20. Mai 2010 - V R 42/08 -, zit. nach JURIS; vgl. auch Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 12 Rdnr. 112a, § 8 Rdnr. 48 f.). Die Verfahren über die Festsetzung der Abgabe bzw. einen Abrechnungsbescheid nach § 218 AO und das Billigkeitsverfahren über den Erlass der Abgabe nach § 227 AO stehen selbständig nebeneinander, so dass auch eine Aussetzung des Erlassverfahrens nach § 94 VwGO wegen fehlender Abhängigkeit nicht in Betracht kommt (BFH, Beschl. v. 12. Dezember 2012 - IX B 3/11 -; Beschl. v 31. Juli 2007 - VIII B 42/05 -; Beschl. v. 30. April 2003 - XI B 175/02 -; Urt. v. 12. Juni 1997 - I R 70/96 -, jeweils zit. nach JURIS; Tipke/Kruse, AO-FGO, § 227 AO Rdnr. 143, § 240 Rdnr. 55).

22

Dass der Verpflichtungsklage auf Erlass der Säumniszuschläge das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, weil die Säumniszuschläge überhaupt nicht entstanden sind (vgl. BFH, Urt. v. 12. Juni 1997, a.a.O.), ist weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.

23

2. Die Verpflichtungsklage ist aber unbegründet. Der Beklagte hat den Antrag der Kläger auf Erlass nach § 227 AO zu Recht abgelehnt.

24

Nach dieser Regelung kann die Körperschaft, der die Abgabe zusteht, Ansprüche aus dem Abgabeschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.

25

Dass sich der Beklagte als aufgelöster Zweckverband in Abwicklung befindet, steht dem begehrten Erlass nicht entgegen. Gemäß § 14 Abs. 4 Satz 1 GKG LSA gilt der Zweckverband nach seiner Auflösung als fortbestehend, solange und soweit der Zweck der Abwicklung dies erfordert. Ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 3 Satz 2 GKG LSA a.F., der § 14 Abs. 4 Satz 1 GKG weitestgehend entsprach, sollte „Satz 2 gewährleisten, daß der Zweckverband über den Zeitpunkt seines Erlöschens als Rechtssubjekt hinaus eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit zum Zweck der Abwicklung erhält. Der aufgelöste Zweckverband bleibt als Liquiditätsverband rechtsfähig, solange und soweit Abwicklungshandlungen vorzunehmen sind; in diesem Rahmen bleiben auch die Verbandsorgane und die Funktionen des Verbandsvorsitzenden, z. B. bei Verpflichtungserklärungen, bestehen“ (LT-Drucksache 1/1107, Seite 13). Wenn - wie hier - die Verbandsversammlung für die Abwicklung einen speziellen Abwickler bestellt, ist dieser für die Abwicklungshandlungen zuständig und kann sich dazu auf die Fiktionswirkung des § 14 Abs. 4 Satz 1 GKG LSA berufen. Die Abwicklung umfasst sämtliche Handlungen, die zur Beendigung der laufenden Geschäfte einschließlich des Einzugs von Forderungen notwendig sind (OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 18. Juli 2002 - 1 L 22/02 -), so auch die Durchsetzung der vor der Auflösung bereits entstandenen Abgabenansprüche (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 9. August 2004 - 1 M 277/04 -, zu einem Beitragsanspruch). Die Entscheidung über den Erlass bereits entstandener Forderungen gehört noch zur Beendigung der laufenden Geschäfte.

26

Die Entscheidung der abgabenerhebenden Körperschaft über eine Billigkeitsmaßnahme ist eine Ermessensentscheidung, die gerichtlich nur in den durch § 114 VwGO gezogenen Grenzen nachprüfbar ist. Nach dieser Vorschrift ist die gerichtliche Prüfung des den Erlass ablehnenden Bescheides darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens werden dabei durch den Maßstab der Billigkeit bestimmt. Maßgebend für die gerichtliche Prüfung einer Entscheidung über einen Antrag auf Erlass aus Billigkeitsgründen sind - abweichend von dem Grundsatz, dass für Verpflichtungsklagen der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Gerichts maßgebend ist - die tatsächlichen Verhältnisse, die im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung vorgelegen haben. Stellt das Gericht fest, dass die Behörde ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat, wird es im Regelfall nur die Verpflichtung aussprechen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Nur in Fällen, in denen der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeschränkt ist, dass ausschließlich eine Entscheidung ganz bestimmten Inhalts als ermessensgerecht in Betracht kommt (sog. Ermessensreduzierung auf Null) kann das Gericht eine Verpflichtung der Behörde zum Erlass aussprechen. Weiterhin sind sachliche Billigkeitsgründe gegeben, wenn die Besteuerung eines Sachverhalts, der unter einen gesetzlichen Abgabentatbestand fällt, im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar ist, wenn also ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers feststellbar ist bzw. wenn der Abgabenbescheid auf einem offensichtlichen und eindeutigen Irrtum der abgabenerhebenden Körperschaft über die bereits aus dem Gesetz ersichtlichen Wertungen des Gesetzgebers beruht (so OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 18. Juni 2009 - 4 L 36/07 -, zit. nach JURIS m.w.N.; Beschl. v. 14. Oktober 2011 - 4 O 171/11 -; vgl. auch BFH, Urt. v. 20. Mai 2010 - V R 42.08 -, zit. nach JURIS).

27

Nach diesem Maßstab ist die vom Beklagten vorgenommene Ermessensentscheidung nicht zu beanstanden.

28

a) Eine persönliche Unbilligkeit der Beitragserhebung liegt nach den wirtschaftlichen Verhältnissen der Kläger nicht vor. Eine solche machen sie schon selbst nicht geltend.

29

b) Ein Erlass der Säumniszuschläge ist auch nicht aus sachlichen Billigkeitsgründen vorzunehmen. Solche Billigkeitsgründe sind gegeben, wenn die Abgabenerhebung in einem Sachverhalt, der unter einen gesetzlichen Abgabentatbestand fällt, im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar ist, wenn also ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers feststellbar ist bzw. wenn der Abgabenbescheid auf einem offensichtlichen und eindeutigen Irrtum der abgabenerhebenden Körperschaft über die bereits aus dem Gesetz ersichtlichen Wertungen des Gesetzgebers beruht (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 18. Juni 2009 - 4 L 36/07 -, m.w.N.; BVerwG, Urt. v. 8. Juli 1998 - 8 C 31/96 -; Beschl. v. 23. August 1990 - 8 C 42/88 -, jeweils zit. nach JURIS).

30

(1) Dass in dem Beitragsbescheid des Beklagten vom 14. November 2003 keine weitergehenden Hinweise auf die sofortige Zahlungspflicht trotz Widerspruchs und auf die Entstehung von Säumniszuschlägen enthalten sind, ist im Rahmen der Prüfung der sachlichen Unbilligkeit unbeachtlich. Wie der erkennende Senat schon entschieden hat (Beschl. v. 2. März 2006 - 4 L 69/06 -), lässt der fehlende Hinweis in dem der Forderung zugrunde liegenden Beitragsbescheid auf die Möglichkeit, bei der abgabenerhebenden Körperschaft einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zu stellen, die Erhebung von Säumniszuschlägen nicht als unbillig erscheinen. Denn eine gesetzliche Verpflichtung, auf die Möglichkeit der Aussetzung der Vollziehung hinzuweisen, bestehe nicht. Dies gilt entsprechend für fehlende Hinweise auf die sofortige Zahlungspflicht trotz Widerspruchs und auf die Entstehung von Säumniszuschlägen.

31

(2) Auf Grund der gesetzlichen Regelung in § 13 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b KAG LSA i.V.m. § 240 Abs. 1 Satz 4 AO kommt ein Erlass nicht allein deshalb in Betracht, weil die Abgabenfestsetzung - wie hier - zu Gunsten des Abgabenpflichtigen aufgehoben oder geändert worden ist. Die Erhebung der Säumniszuschläge ist aber nach herrschender Auffassung dann unbillig, wenn das Rechtsmittel des Abgabenschuldners gegen die Abgabenfestsetzung Erfolg hatte und der Abgabenschuldner gegenüber der abgabenerhebenden Körperschaft alles getan hat, um die Aussetzung der Vollziehung (§ 80 Abs. 4 VwGO) eines Abgabenbescheids zu erreichen, und diese, obwohl an sich möglich und geboten, von der abgabenerhebenden Körperschaft abgelehnt wurde (vgl. BFH in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urt. v. 20. Mai 2010, a.a.O. m.w.N.; Urt. v. 30. März 2006 - V R 2/04 -; VGH Bayern, Beschl. v. 27. September 2012 - 6 ZB 10.1083 - zit. nach JURIS m.w.N.; Driehaus, a.a.O., § 12 Rdnr. 106; a.M. Rosenzweig/Freese, NdsKAG, § 11 Rdnr. 148a; Kohlhaas, DStR 2010, 2387, 2389 Nr. 4.3: schon bei Anspruch auf Aussetzung von Amts wegen).

32

Diese Voraussetzung ist schon deshalb nicht erfüllt, weil der Beklagte eine Aussetzung der Vollziehung gerade nicht abgelehnt hat (vgl. VGH Bayern, Beschl. v. 27. September 2012, a.a.O.; vgl. auch Tipke/Kruse, a.a.O., AO, § 240 Rdnr. 57). Säumniszuschläge sind in erster Linie ein Druckmittel eigener Art zur Durchsetzung der zu zahlenden Abgaben (vgl. dazu OVG Sachsen-Anhalt, Beschlüsse v. 7. November 2008 - 4 L 240/07 - und v. 5. Juli 2006 - 4 M 272/06 -, jeweils zit. nach JURIS). Ihre Entstehung ist kraft Gesetzes an ein Verhalten des Abgabenschuldners (Nichtbeachtung des Leistungsgebotes) geknüpft, das die Rechtsordnung missbilligt. Um die Entstehung der Säumniszuschläge zu verhindern, muss der Schuldner die vorläufige Zahlungspflicht beseitigen und dazu eine entsprechende behördliche oder gerichtliche Entscheidung erlangen. Jedenfalls wenn - wie hier - die abgabenerhebende Körperschaft auf den Antrag nach § 80 Abs. 4 VwGO nicht reagiert, hat der Abgabenschuldner durch die Antragstellung allein noch nicht so viel getan, dass die Erhebung von Säumniszuschlägen mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes unvereinbar wäre. Trotz der grundsätzlichen Verpflichtung einer Behörde, einen solchen Antrag zu bearbeiten, ist der Abgabenschuldner angesichts seiner durch den Abgabenbescheid festgesetzten Zahlungspflicht gehalten, zumindest eine Entscheidung der Körperschaft oder des Gerichts über sein Begehren herbeizuführen. Dementsprechend sieht § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 VwGO ausdrücklich vor, dass ein Antrag bei dem Verwaltungsgericht zulässig ist, wenn die Behörde über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ohne Mitteilung eines Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat.

33

Selbst wenn man annehmen wollte, dass schon die Beantragung der Aussetzung der Vollziehung bei der Körperschaft ausreichend sein kann, liegt eine sachliche Unbilligkeit hier schon deshalb nicht vor, weil die Kläger den Aussetzungsantrag nicht mit einer umfassenden Begründung (vgl. Kohlhaas, DStR 2010, 2387, 2389 Nr. 4.4) versehen haben. Denn sie haben lediglich pauschal auf die fehlende Entstehung von Herstellungskosten hingewiesen, weil in den letzten acht Jahren keine Herstellung des Abwasserkanals vorgenommen worden sei.

34

Ob den Klägern tatsächlich im Mai 2004 zugesagt worden ist, dass der Beitragsbescheid aufgehoben werde, so dass keine Aussetzungsentscheidung mehr getroffen werden müsse, muss nicht abschließend entschieden werden. Auch dies würde keine sachliche Unbilligkeit zur Folge haben. Auf eine derartige mündliche Zusage, die von vornherein keine Bindungswirkung entfaltet (vgl. VG Koblenz, Urt. v. 26. November 2012 - 4 K 255/12.KO -; VG Augsburg, Urt. v. 12. Juli 2005 - Au 1 K 03.1427 -; VG Düsseldorf, Urt. v. 25. Februar 2003 - 17 K 8930/02 - jeweils zit. nach JURIS), konnten sich die Kläger nicht verlassen (vgl. auch VGH Bayern, Beschl. v. 27. September 2012, a.a.O.). Dies gilt umso mehr angesichts des Zeitraums von 2 ½ Jahren, der bis zu dem Schreiben der vom Beklagten beauftragten Rechtsanwaltskanzlei vom 23. November 2006 verstrich und in dem gerade keine Aussetzungsentscheidung erfolgte.

35

Es kann danach offen bleiben, ob für einen Erlassanspruch grundsätzlich noch ein Antrag gem. § 80 Abs. 5 VwGO bei dem Verwaltungsgericht gestellt werden muss, falls die Körperschaft den Antrag ablehnt (vgl. VGH Bayern, Beschl. v. 27. September 2012, a.a.O.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 20. Mai 2003 - 1 L 137/02 -; VG Schwerin, Beschl. v. 30. Januar 2013 - 4 B 836/12 -; wohl auch VG Dresden, Urt. v. 24. Januar 2012 - 2 K 203/11 -, jeweils zit. nach JURIS; vgl. weiter Klein, AO, 11. A., § 240 Rdnr. 65; offen gelassen in OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 14. Dezember 2011 - 4 L 102/10 -, zit. nach JURIS; a.M. wohl BFH, Urt. v. 29. August 1991 - V R 78/86 -, zit. nach JURIS; Kohlhaas, DStR 2010, 2387, 2389 Nr. 4.4).

36

Ebenfalls nicht geklärt werden muss, ob eine Aussetzung hier an sich möglich und geboten war, weil ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abgabenerhebung bestanden (vgl. BFH, Urt. v. 20. Mai 2010, a.a.O.). Die Beitragssatzung des Beklagten vom 31. Juli 1995, auf die das Verwaltungsgericht abstellt, ist nach der - wenn auch sonst wohl unwirksamen Beitragssatzung - vom 21. Oktober 1996 am 31. Oktober 1996 und damit vor der Herstellung des Grundstücksanschlusses bei dem klägerischen Grundstück (nach unbestrittener Angabe des Beklagten am 19. Dezember 1996) außer Kraft getreten. Die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht richtete sich aber gem. § 7 Abs. 1 der Satzung vom 31. Juli 1995 nach der betriebsfertigen Herstellung der zentralen Einrichtung einschließlich der Fertigstellung des ersten Grundstücksanschlusses. Eine gesonderte Heranziehung zu den Kosten der Herstellung dieses ersten Grundstücksanschlusses sah die Satzung nicht vor. Damit wäre die Beitragsfestsetzung in dem Bescheid vom 14. November 2003 jedenfalls wohl nicht festsetzungsverjährt gewesen. Auch die Überlegung, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der Einmaligkeit der Beitragserhebung vorlag, ist zweifelhaft. Denn in dem Beitragsbescheid gegenüber dem Nachbarehepaar K. vom 19. Dezember 1996 wurde ausdrücklich auf das Flurstück 37/6 abgestellt.

37

Allerdings hat das Verwaltungsgericht Magdeburg nunmehr mit Urteil vom 11. April 2013 (- 9 A 158/11 MD -, zit. nach JURIS) umfassend dargelegt, dass sämtliche Beitragssatzungen des Beklagten an materiell-rechtlichen Fehlern litten, die einer Beitragserhebung entgegen stünden.

38

(3) Sonstige sachliche Billigkeitsgründe sind weder geltend gemacht noch ersichtlich.

39

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO.

40

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

41

Die Revision ist zuzulassen, weil die Rechtssache i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO grundsätzliche Bedeutung hat.


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Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Urteil, 19. Sept. 2013 - 4 L 205/12 zitiert oder wird zitiert von 5 Urteil(en).

Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Urteil, 19. Sept. 2013 - 4 L 205/12 zitiert 4 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Verwaltungsgericht Schwerin Beschluss, 30. Jan. 2013 - 4 B 836/12

bei uns veröffentlicht am 30.01.2013

Tenor 1. Der Antrag wird abgelehnt. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. 2. Der Streitwert wird auf 383,00 Euro festgesetzt. Gründe I. 1 Die Antragstellerin begehrt einstweiligen Rechtsschutz im Hinblick auf ih

Verwaltungsgericht Koblenz Urteil, 26. Nov. 2012 - 4 K 255/12.KO

bei uns veröffentlicht am 26.11.2012

Tenor Der Bescheid vom 7. Februar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Februar 2012 wird aufgehoben. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Tatb

Bundesfinanzhof Beschluss, 12. Dez. 2011 - IX B 3/11

bei uns veröffentlicht am 12.12.2011

Gründe 1 Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Zum Teil entspricht ihre Begründung nicht den Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO);

Bundesfinanzhof Urteil, 20. Mai 2010 - V R 42/08

bei uns veröffentlicht am 20.05.2010

Tatbestand 1 I. Streitig ist der Erlass von Säumniszuschlägen. 2
1 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Urteil, 19. Sept. 2013 - 4 L 205/12.

Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Beschluss, 26. Aug. 2014 - 4 L 81/14

bei uns veröffentlicht am 26.08.2014

Gründe 1 Der statthafte Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. 2 1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen nicht. 3 Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr.

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Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

(1) Wird eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet, so ist für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1 Prozent des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags zu entrichten; abzurunden ist auf den nächsten durch 50 Euro teilbaren Betrag. Das Gleiche gilt für zurückzuzahlende Steuervergütungen und Haftungsschulden, soweit sich die Haftung auf Steuern und zurückzuzahlende Steuervergütungen erstreckt. Die Säumnis nach Satz 1 tritt nicht ein, bevor die Steuer festgesetzt oder angemeldet worden ist. Wird die Festsetzung einer Steuer oder Steuervergütung aufgehoben, geändert oder nach § 129 berichtigt, so bleiben die bis dahin verwirkten Säumniszuschläge unberührt; das Gleiche gilt, wenn ein Haftungsbescheid zurückgenommen, widerrufen oder nach § 129 berichtigt wird. Erlischt der Anspruch durch Aufrechnung, bleiben Säumniszuschläge unberührt, die bis zur Fälligkeit der Schuld des Aufrechnenden entstanden sind.

(2) Säumniszuschläge entstehen nicht bei steuerlichen Nebenleistungen.

(3) Ein Säumniszuschlag wird bei einer Säumnis bis zu drei Tagen nicht erhoben. Dies gilt nicht bei Zahlung nach § 224 Abs. 2 Nr. 1.

(4) In den Fällen der Gesamtschuld entstehen Säumniszuschläge gegenüber jedem säumigen Gesamtschuldner. Insgesamt ist jedoch kein höherer Säumniszuschlag zu entrichten als verwirkt worden wäre, wenn die Säumnis nur bei einem Gesamtschuldner eingetreten wäre.

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.

Tatbestand

1

I. Streitig ist der Erlass von Säumniszuschlägen.

2

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) entwickelt Computerprogramme. In ihren Umsatzsteuervoranmeldungen für Januar bis Dezember 1998 sowie für Januar bis September 1999 meldete sie Umsätze zum ermäßigten Steuersatz nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c des Umsatzsteuergesetzes 1993/1999 (UStG) von 7 % an. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) unterwarf die Umsätze der Klägerin demgegenüber dem jeweiligen Regelsteuersatz und setzte die Umsatzsteuervorauszahlungen entsprechend fest. Auf Antrag der Klägerin setzte das FA die Vollziehung dieser Vorauszahlungsbescheide in Höhe des Unterschiedsbetrages aus, der sich zwischen der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes und der Anwendung des Regelsteuersatzes ergab.

3

In den Umsatzsteuerjahresbescheiden 1998 und 1999 hielt das FA an seiner Rechtsauffassung fest und unterwarf diese Umsätze der Klägerin dem Regelsteuersatz. Die festgesetzte Jahresumsatzsteuer entsprach der Summe der vom FA festgesetzten monatlichen Vorauszahlungen.

4

Nachdem das FA zunächst --wie in den Vorauszahlungsbescheiden für die Streitjahre-- auch die Vollziehung des Umsatzsteuerjahresbescheides 1998 in Höhe der Differenz zwischen der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes und der des Regelsteuersatzes ausgesetzt hatte, widerrief es mit Verfügung vom 9. Februar 2001 die Aussetzung der Vollziehung (AdV) des Jahressteuerbescheides für 1998 mit Wirkung zum 12. März 2001 und lehnte den Antrag auf AdV des Jahressteuerbescheides für 1999 am 7. Februar 2001 ab.

5

Auf Antrag der Klägerin setzte das Finanzgericht (FG) durch Beschluss vom 23. Mai 2001  5 V 124/01 ("Entscheidungen der Finanzgerichte" --EFG-- 2001, 1228) die Vollziehung der Umsatzsteuerjahresbescheide 1998 und 1999 in Höhe der Differenz zwischen der Anwendung des ermäßigten und der des Regelsteuersatzes aus. Auf Beschwerde des FA hob der Bundesfinanzhof (BFH) diese Entscheidung auf und lehnte den Antrag auf AdV ab (BFH-Beschluss vom 22. November 2001 V B 100/01, BFH/NV 2002, 519). Zur Begründung führte der Senat aus, die Beschränkung der Berechtigung zur AdV nach § 69 Abs. 2 Satz 8 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auch in den Fällen, in denen die festgesetzten Vorauszahlungen noch nicht entrichtet worden seien, sei verfassungsgemäß, denn der Gesetzgeber habe für Fälle, in denen durch die Vollziehung der angefochtenen Steuerbescheide die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen unmittelbar und ausschließlich bedroht sei, Vorkehrungen getroffen. Eine hiergegen von der Klägerin erhobene Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 30. Januar 2002  1 BvR 66/02).

6

In der Hauptsache (Klage gegen die Jahressteuerfestsetzungen) hat der BFH der Klage stattgegeben, weil die Umsätze der Klägerin dem ermäßigten Steuersatz von 7 % unterliegen und hat die Umsatzsteuer entsprechend niedriger festgesetzt (BFH-Urteil vom 25. November 2004 V R 26/04, BFHE 208, 479, BStBl II 2005, 419).

7

Im Folgenden machte das FA Säumniszuschläge für den Zeitraum zwischen dem Widerruf bzw. der Ablehnung der AdV (1. März 2001 bzw. 12. März 2001) bis zum Zeitpunkt der Zahlung (9. Oktober 2002) in Höhe von 837.314,91 € geltend.

8

Den Antrag auf Erlass der Säumniszuschläge lehnte das FA unter Hinweis auf die zum BFH eingelegte Beschwerde gegen die Gewährung der AdV durch das FG ab. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies es nach Ergehen der Beschwerdeentscheidung zurück (BFH-Beschluss in BFH/NV 2002, 519).

9

Die hiergegen erhobene Klage hatte keinen Erfolg. Zur Begründung seines Urteils hat das FG im Wesentlichen ausgeführt, die Erhebung von Säumniszuschlägen widerspreche auch dann nicht der Billigkeit, wenn die Steuerforderung später aufgehoben worden sei, denn der Gesetzgeber habe in § 240 Abs. 1 Satz 4 der Abgabenordnung (AO) ausdrücklich geregelt, dass spätere Ermäßigungen der festgesetzten Steuer nicht zu berücksichtigen seien. Er habe damit in Kauf genommen, dass Säumniszuschläge auf unberechtigte Steuerforderungen zu zahlen seien. Etwas anderes gelte nach der Rechtsprechung des BFH nur dann, wenn das Rechtsmittel gegen die Steuerfestsetzung Erfolg gehabt habe und der Steuerpflichtige alles getan habe, um die AdV zu erreichen und diese von der Finanzbehörde "obwohl möglich und geboten" abgelehnt worden sei. Das sei jedoch nicht der Fall, denn --wie sich aus dem BFH-Beschluss über die Ablehnung der AdV ergebe-- sei eine AdV in Höhe der in den Vorauszahlungsbescheiden festgesetzten Steuer nach § 361 Abs. 2 Satz 4 FGO rechtlich nicht möglich gewesen.

10

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Revision. Ein Erlass gemäß § 227 AO sei geboten, weil die Steuerfestsetzung aufgehoben worden sei und sie, die Klägerin, alles getan habe, um die AdV zu erreichen. Es komme nicht darauf an, ob die Aussetzung rechtlich "möglich und geboten" gewesen sei. Entscheidend sei allein, dass die Steuerfestsetzungen schließlich aufgehoben worden seien. Zudem habe das FA zu Unrecht Säumniszuschläge auch für den Zeitraum berechnet, in dem das FG die Vollziehung der Jahresbescheide ausgesetzt hatte (BFH-Beschluss vom 14. September 1978 V R 35/72, BFHE 126, 9, BStBl II 1979, 58).

11

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil aufzuheben und das FA zu verpflichten, unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 7. August 2001 sowie der Einspruchsentscheidung vom 12. April 2002 Säumniszuschläge in Höhe von 837.314,91 € zu erlassen,

12

hilfsweise,

das FA zu verpflichten, über den Erlassantrag ermessensfehlerfrei zu entscheiden.

13

Das FA erklärt sich bereit, den Differenzbetrag zwischen 837.314,91 € und 605.507,57 € zu erlassen und beantragt im Übrigen die Zurückweisung der Revision.

14

Säumniszuschläge, die auf den Zeitraum der durch das FG gewährten AdV entfallen (der Differenzbetrag zwischen 837.314,91 € und 605.507,57 € = 231.806,74 €) seien zu erlassen. Im Übrigen komme ein Erlass von Säumniszuschlägen nach Aufhebung der materiell rechtswidrigen Steuerforderung nur dann in Betracht, wenn eine AdV vom FA versagt worden war, obwohl diese "möglich und geboten" gewesen sei. Die Aussetzung im beantragten Umfang sei jedoch wegen der Regelung des § 361 Abs. 2 Satz 4 AO bzw. § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO nicht möglich gewesen.

Entscheidungsgründe

15

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).

16

Das FG hat das Vorliegen der Voraussetzungen eines Erlasses der Säumniszuschläge nach § 227 AO zu Unrecht abgelehnt. Säumniszuschläge, die auf einer materiell rechtswidrigen und deswegen aufgrund eines Rechtsbehelfs des Steuerpflichtigen geänderten Jahressteuerfestsetzung beruhen, sind aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen, wenn der Steuerpflichtige insoweit die AdV der Vorauszahlungsbescheide erreicht hat und die --weitere-- AdV dieser Beträge nach Ergehen des Jahressteuerbescheides allein an den Regelungen der §§ 361 Abs. 2 Satz 4 AO und 69 Abs. 2 Satz 8 FGO scheitert.

17

1. Gemäß § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Zu diesen Ansprüchen gehören auch Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen einschließlich der nach § 240 Abs. 1 AO entstehenden Säumniszuschläge.

18

a) Die Entscheidung über ein Erlassbegehren ist eine Ermessensentscheidung, die von den Gerichten nur in den durch § 102 FGO gezogenen Grenzen überprüft werden kann (Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Nach dieser Vorschrift ist die gerichtliche Prüfung des den Erlass ablehnenden Bescheides und der hierzu ergangenen Beschwerdeentscheidung darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Gleichwohl kann das Gericht ausnahmsweise eine Verpflichtung des FA zum Erlass aussprechen (vgl. § 101 FGO), wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeengt ist, dass nur eine Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (vgl. zur sog. Ermessensreduzierung auf Null: z.B. BFH-Urteile vom 21. Januar 1992 VIII R 51/88, BFHE 168, 500, BStBl II 1993, 3; vom 11. Januar 2006 XI R 31/04, BFH/NV 2006, 943). Das war hier der Fall.

19

b) Ein Erlass von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen ist geboten, wenn ihre Einziehung im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Säumniszuschläge, nicht zu rechtfertigen ist, obwohl der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Erhebung der Säumniszuschläge aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft (BFH-Urteile vom 29. August 1991 V R 78/86, BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906; vom 16. Juli 1997 XI R 32/96, BFHE 184, 193, BStBl II 1998, 7; BFH-Beschluss vom 14. Mai 2008 II B 49/07, BFH/NV 2008, 1438). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

20

aa) § 240 Abs. 1 Satz 4 AO bestimmt u.a. für den Fall der Aufhebung oder Änderung einer Steuerfestsetzung, dass bis dahin verwirkte Säumniszuschläge unberührt bleiben. Der Grundsatz der Akzessorietät, nach dem Säumniszuschläge als steuerliche Nebenleistungen (§ 3 Abs. 4 AO) grundsätzlich vom Bestehen der ihnen zugrunde liegenden Steuerschuld abhängig sind, wird durch diese Vorschrift nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers (vgl. BTDrucks 7/4292 S. 39) durchbrochen (z.B. Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 240 AO Rz 71, m.w.N.).

21

bb) Diese Regelung ist im Hinblick auf den Beschluss des Großen Senats des BFH vom 8. Dezember 1975 GrS 1/75 (BFHE 117, 352, BStBl II 1976, 262) geschaffen worden, wonach sich im Anwendungsbereich der Reichsabgabenordnung die verwirkten Säumniszuschläge ermäßigten, wenn in einem Rechtsbehelfsverfahren die für die Bemessung der Säumniszuschläge maßgebende Steuer herabgesetzt wurde. Der Gesetzgeber hat mit der Regelung in § 240 Abs. 1 Satz 4 AO daher zwar bewusst in Kauf genommen, dass Säumniszuschläge auch dann zu entrichten sind, wenn sich die Steuerfestsetzung später als unrechtmäßig erweist (BFH-Urteile vom 7. Juli 1999 X R 87/96, BFH/NV 2000, 161; vom 30. März 2006 V R 2/04, BFHE 212, 23, BStBl II 2006, 612, unter II.2.a). § 240 Abs. 1 Satz 4 AO ist aber --wie das BVerfG im Beschluss vom 30. Januar 1986  2 BvR 1336/85 (nur z.T. veröffentlicht in Deutsche Steuer-Zeitung/Eildienst 1986, 101) betont-- nur deshalb verfassungsgemäß, weil dem Rechtsschutzbedürfnis des Steuerpflichtigen durch die Möglichkeit des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Steuerfestsetzung selbst hinreichend Genüge getan ist.

22

c) Ein Erlass verwirkter Säumniszuschläge aus sachlichen Billigkeitsgründen kommt demnach nicht allein deshalb in Betracht, weil die Steuerfestsetzung zugunsten des Steuerpflichtigen herabgesetzt worden ist oder möglicherweise geändert werden wird (vgl. BFH-Urteile in BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906; in BFHE 212, 23, BStBl II 2006, 612). Dagegen ist nach ständiger Rechtsprechung die Erhebung der Säumniszuschläge dann eine unbillige Härte i.S. des § 227 AO, wenn das Rechtsmittel des Steuerpflichtigen gegen die Steuerfestsetzung Erfolg hatte und der Steuerpflichtige gegenüber der Finanzbehörde alles getan hat, um die AdV eines Steuerbescheids zu erreichen, und diese, obwohl an sich möglich und geboten, von der Finanzbehörde abgelehnt wurde (BFH-Urteil in BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906; BFH-Beschlüsse vom 4. Februar 1999 IX B 170/98, BFH/NV 1999, 908; vom 18. März 2003 X B 66/02, BFH/NV 2003, 886).

23

d) Aufgrund dieser Erwägungen ist im vorliegenden Fall die Entstehung von Säumniszuschlägen sachlich unbillig. Die Klägerin hat alles getan, um die AdV der rechtswidrigen Umsatzsteuerjahresbescheide zu erreichen. Sie hat sowohl --mit Erfolg-- die AdV der Vorauszahlungsbescheide für die Streitjahre in Höhe des Unterschiedsbetrags zwischen dem ermäßigten Steuersatz für ihre Umsätze und dem vom FA angewandten jeweiligen Regelsteuersatz wie auch in derselben Höhe --im Ergebnis erfolglos-- die AdV der Umsatzsteuerjahresbescheide beantragt. Deren Aussetzung war dem Grunde nach auch möglich und geboten. Denn im beantragten Umfang bestanden --wie der Erfolg ihrer Klage bestätigt-- weiterhin ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Anwendung des Regelsteuersatzes für ihre Umsätze und der darauf entfallenden Umsatzsteuer. Die AdV der Umsatzsteuerjahresbescheide ist allein deshalb nicht möglich gewesen, weil ihr die durch das Jahressteuergesetz 1997 (JStG) vom 20. Dezember 1996 (BGBl I 1996, 2049) eingeführte Regelung des § 361 Abs. 2 Satz 4 AO entgegenstand.

24

aa) Gemäß § 361 Abs. 2 Satz 4 AO sind bei Steuerbescheiden die Aussetzung und die Aufhebung der Vollziehung auf die festgesetzte Steuer, vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge, um die anzurechnende Körperschaftsteuer und um die festgesetzten Vorauszahlungen beschränkt; dies gilt nicht, wenn die Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Einführung dieser verfassungsgemäßen Regelung (BFH-Beschluss vom 24. Januar 2000 X B 99/99, BFHE 192, 197, BStBl II 2000, 559) war eine Reaktion des Gesetzgebers auf den Beschluss des Großen Senats des BFH vom 3. Juli 1995 GrS 3/93 (BFHE 178, 11, BStBl II 1995, 730), wonach im Wege der Aufhebung der Vollziehung auch eine Auskehrung bereits einbehaltener oder vorausgezahlter Steuerbeträge zu erreichen sein sollte. Mit der Einführung des § 361 Abs. 2 Satz 4 AO wollte der Gesetzgeber der Gefahr von Steuerausfällen entgegentreten, die bei der Auskehrung von Steuerabzugsbeträgen nach gewährter Aufhebung der Vollziehung und einem späteren Misserfolg in der Hauptsache entstehen konnten (Begründung zum Entwurf einer Abgabenordnung, BTDrucks 13/5359 S. 131). Darüber hinaus wurde in der Gesetzesfassung nicht nur die Auskehrung tatsächlich gezahlter Vorauszahlungen über die Aufhebung der Vollziehung ausgeschlossen, sondern auf die festgesetzten Vorauszahlungen abgestellt, um eine Besserstellung derjenigen Steuerpflichtigen zu vermeiden, die ihre Vorauszahlungsschulden pflichtwidrig nicht getilgt hatten (eingehend zur Gesetzgebungsgeschichte der §§ 361 Abs. 2 Satz 4 AO und 69 Abs. 2 Satz 8 FGO vgl. BFH-Beschluss vom 2. November 1999 I B 49/99, BFHE 190, 59, BStBl II 2000, 57).

25

bb) Dieser Gesetzeszweck des § 361 Abs. 2 Satz 4 AO wird jedoch bei einer im Vorauszahlungsverfahren vom FA gewährten AdV nicht berührt; denn wegen der bereits gewährten AdV kann es zu einer --nach dem Gesetzeszweck zu vermeidenden-- Auskehrung von Steuervorauszahlungen nicht kommen. Auch handelt es sich --soweit Vorauszahlungsbescheide ausgesetzt worden sind (wie im Streitfall bei der Klägerin)-- nicht um einen säumigen Steuerpflichtigen, der seinen Zahlungspflichten zur Tilgung der Vorauszahlungsschuld pflichtwidrig nicht genügt hat und nach dem Regelungszweck keine Besserstellung gegenüber dem pünktlichen Steuerzahler erhalten sollte. Im Streitfall hatte das FA vielmehr die Vorauszahlungsschuld im streitigen Umfang ausgesetzt und hatte anschließend das FG im entsprechenden Umfang durch den Beschluss vom 23. Mai 2001  5 V 124/01 die Vollziehung der Umsatzsteuerjahresbescheide ausgesetzt. Zu einer Säumnis konnte es nur deshalb kommen, weil dieser Beschluss des FG durch den Beschluss des BFH in BFH/NV 2002, 519 mit Wirkung ex tunc aufgehoben worden ist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 126, 9, BStBl II 1979, 58; BFH-Beschluss vom 14. Februar 1975 VI B 72/74, BFHE 115, 95, BStBl II 1975, 452). Unter diesen Umständen führt die Erhebung von Säumniszuschlägen, die nur auf einer zwar dem Wortlaut, nicht aber dem Sinn und Zweck des § 361 Abs. 2 Satz 4 AO entsprechenden Beschränkung der AdV bei Erlass eines Jahresbescheides zu einem Gesetzesüberhang, der für den Steuerpflichtigen einen Anspruch auf Erlass der Säumniszuschläge aus sachlichen Billigkeitsgründen begründet.

26

2. Unter den Umständen des Streitfalles sind die Säumniszuschläge in vollem Umfang zu erlassen.

27

a) Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Steuerpflichtige gemäß § 237 AO bei Gewährung einer AdV zwar grundsätzlich Aussetzungszinsen zu zahlen hat, dies jedoch nur dann gilt, wenn er mit seinem Rechtsbehelf im Ergebnis keinen Erfolg gehabt hat (§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO). Ist er --wie im Streitfall die Klägerin-- in der Hauptsache erfolgreich, sodass sich die gewährte AdV als berechtigte Abwehr gegen eine rechtswidrige Steuerforderung erweist, hat er nach § 239 Abs. 1 Satz 1 AO keine Aussetzungszinsen zu tragen. Daraus ergibt sich, dass auch im Falle eines gesetzlichen Ausschlusses der AdV durch § 361 Abs. 2 Satz 4 AO, der aber zu einem mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht vereinbaren Gesetzesüberhang führt, der Steuerpflichtige so gestellt werden muss, als hätte er eine AdV nicht nur der Vorauszahlungen, sondern auch der Jahressteuerschuld in derselben Höhe erlangt (im Ergebnis so auch BFH-Urteil in BFHE 126, 9, BStBl II 1979, 58).

28

b) Der Senat kann über den beantragten Billigkeitserlass unabhängig davon entscheiden, ob möglicherweise in dem Zeitraum der vom FG gewährten vorübergehenden AdV (zwischen dem 23. Mai 2001 bis zum 19. Dezember 2001) die Säumniszuschläge bereits nicht entstanden sind (vgl. dazu BFH-Beschluss vom 23. November 1994 V B 166/93, BFH/NV 1995, 662, m.w.N.; Rüsken in Klein, AO, 10. Aufl., § 240 Rz 18) und ob dieser Einwand statt im vorliegenden Erlassverfahren nicht vielmehr im Abrechnungsverfahren nach § 218 AO zu verfolgen wäre (vgl. nunmehr BFH-Urteil vom 18. April 2006 VII R 77/04, BFHE 212, 29, BStBl II 2006, 578, m.w.N.). Denn das Billigkeitsverfahren nach § 227 AO und das Abrechnungsverfahren nach § 218 AO stehen selbständig nebeneinander (BFH-Beschlüsse vom 31. Juli 2007 VIII B 42/05, BFH/NV 2007, 2305; vom 30. April 2003 XI B 175/02, BFH/NV 2003, 1393), deshalb muss das Billigkeitsverfahren auch nicht ausgesetzt werden, wenn möglicherweise die Säumniszuschläge aus anderen Gründen bereits nicht entstanden sind.

29

c) Durch die Erklärung des FA in der mündlichen Verhandlung, es sei bereit, Säumniszuschläge zu erlassen, soweit sie den Zeitraum der AdV durch das FG betreffen, hat sich der Rechtsstreit nicht teilweise erledigt. Abgesehen davon, dass eine teilweise Erledigung der Hauptsache nur hinsichtlich eines abtrennbaren Teils des Streitgegenstands eintreten und nur insoweit zur Beendigung des Verfahrens führen kann (BFH-Beschluss vom 5. März 1979 GrS 3/78, BFHE 127, 155, BStBl II 1979, 378) fehlt es im Streitfall bereits daran, dass kein Abhilfebescheid des FA vorliegt und im Hinblick auf die möglicherweise in der Erklärung zu sehende Zusage keine übereinstimmenden Erledigungserklärungen abgegeben worden sind.

30

d) Da das dem FA eingeräumte Ermessen nur in der Weise fehlerfrei ausgeübt werden kann, dass die verwirkten Säumniszuschläge zu erlassen sind (Ermessensreduzierung auf Null), war das FG-Urteil aufzuheben und das FA zum Erlass der Säumniszuschläge zu verpflichten.

(1) Grundlage für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37) sind die Steuerbescheide, die Steuervergütungsbescheide, die Haftungsbescheide und die Verwaltungsakte, durch die steuerliche Nebenleistungen festgesetzt werden; bei den Säumniszuschlägen genügt die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands (§ 240). Die Steueranmeldungen (§ 168) stehen den Steuerbescheiden gleich.

(2) Über Streitigkeiten, die die Verwirklichung der Ansprüche im Sinne des Absatzes 1 betreffen, entscheidet die Finanzbehörde durch Abrechnungsbescheid. Dies gilt auch, wenn die Streitigkeit einen Erstattungsanspruch (§ 37 Abs. 2) betrifft.

(3) Wird eine Anrechnungsverfügung oder ein Abrechnungsbescheid auf Grund eines Rechtsbehelfs oder auf Antrag des Steuerpflichtigen oder eines Dritten zurückgenommen und in dessen Folge ein für ihn günstigerer Verwaltungsakt erlassen, können nachträglich gegenüber dem Steuerpflichtigen oder einer anderen Person die entsprechenden steuerlichen Folgerungen gezogen werden. § 174 Absatz 4 und 5 gilt entsprechend.

Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.

Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.

Gründe

1

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Zum Teil entspricht ihre Begründung nicht den Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO); im Übrigen liegen die von den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) geltend gemachten Zulassungsgründe nicht vor.

2

1. a) Soweit die Kläger hinsichtlich des wesentlichen Kerns ihres Vorbringens im Klageverfahren pauschal eine Verletzung der Gewährung eines fairen Verfahrens und des rechtlichen Gehörs rügen, wird schon nicht hinreichend dargetan, worin der ihrer Ansicht nach wesentliche Kern ihres Vorbringens bestanden haben soll, der vom Finanzgericht (FG) übergangen worden sein soll. Abgesehen davon hat sich das FG mit dem Vorbringen der Kläger ausweislich der Urteilsgründe befasst, ist allerdings nicht zu dem von den Klägern gewünschten Ergebnis gelangt.

3

b) Auch die Rüge der Verletzung des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) ist nicht hinreichend dargelegt; ein solcher Verstoß liegt auch nicht vor. So ist weder dargetan noch ersichtlich, inwieweit die verzögerte Aktenrückgabe durch den Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--), die (vermeintlich) fehlende Transparenz der Änderungen des Geschäftsverteilungsplans des FG wie auch die behauptete, aber nicht näher spezifizierte "unzulässige Einflussnahme" des Finanzministeriums entscheidungserheblich gewesen sein und damit das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt haben sollen.

4

Den Klägern ist der gesetzliche Richter auch nicht durch die Übertragung des Rechtsstreits auf den Berichterstatter als Einzelrichter (§ 6 Abs. 1 FGO) entzogen worden; vielmehr ist der Einzelrichter der gesetzliche Richter i.S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28. Januar 2003 VI B 75/02, BFH/NV 2003, 926, unter 1.a; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 6 Rz 22; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 6 FGO Rz 17). Soweit sie in diesem Zusammenhang eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 FGO) als (verzichtbaren) Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) rügen, kann vorliegend dahinstehen, ob es einer vorherigen Anhörung der Beteiligten insoweit bedarf (vgl. BFH-Beschlüsse vom 16. September 1999 XI R 83/97, BFH/NV 2000, 332; vom 22. Januar 2009 VIII B 78/08, BFH/NV 2009, 779, m.w.N.; Gräber/Koch, a.a.O., § 6 Rz 7; Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 6 FGO Rz 13). Denn die fachkundig vertretenen Kläger haben in der mündlichen Verhandlung vor dem FG in Gestalt des Einzelrichters ausweislich des Sitzungsprotokolls (zu dessen Beweiskraft: § 94 FGO i.V.m. § 165 der Zivilprozessordnung --ZPO--) rügelos zur Sache verhandelt und damit insoweit ihr Rügerecht verloren (§ 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO; z.B. BFH-Beschluss vom 27. August 2008 IX B 207/07, BFH/NV 2008, 2022).

5

2. Soweit die Kläger schwerwiegende Rechtsanwendungs- und Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt., Nr. 3 FGO) rügen, sind diese zum Teil nicht hinreichend dargelegt und im Übrigen nicht gegeben.

6

a) Die Nichtberücksichtigung von Billigkeitsgründen bei der Steuerfestsetzung stellt keinen (schwerwiegenden) Rechtsanwendungsfehler dar. Denn die vom FG vertretene Ansicht entspricht ständiger Rechtsprechung des BFH, wonach die Steuerfestsetzung und die abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 der Abgabenordnung (AO) zwei selbständige Verwaltungsakte (Steuerbescheide) sind, über die in getrennten Verfahren zu entscheiden ist (vgl. BFH-Urteil vom 11. Mai 2010 IX R 26/09, BFH/NV 2010, 2067; BFH-Beschluss vom 31. Juli 1997 IX B 13/97, BFH/NV 1998, 201). Im Streitfall hat das FA in seiner Einspruchsentscheidung nicht über eine Billigkeitsfestsetzung bzw. einen Erlass von Steuern entschieden, sodass diese auch nicht Gegenstand des Klageverfahrens sein konnten. Im Übrigen wurde über den Einspruch gegen den Ablehnungsbescheid, mit dem das FA den von den Klägern gestellten Billigkeits- bzw. Erlassantrag (§ 163, § 227 AO) abschlägig beschieden hatte, nach den Feststellungen des FG (Urteil S. 6) noch nicht entschieden.

7

b) Auch hinsichtlich der beanstandeten Höhe des Lohnsteuerab-zugs liegt ein schwerwiegender Rechtsanwendungsfehler nicht vor. Zwar wird die (Jahres-)Lohnsteuer so bemessen, dass sie der Einkommensteuer auf erzielte Einkünfte ausschließlich aus nichtselbständiger Arbeit entspricht (§ 38a Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes --EStG--). Der Steuerpflichtige hat aber --wie bei der Festsetzung von Einkommensteuer-Vorauszahlungen (§ 37 Abs. 1, Abs. 3 EStG), auch unterjährig-- die Möglichkeit, nicht ausgeglichene negative Einkünfte wie auch vorhandene Verluste aus anderen Einkunftsarten beim (monatlichen) Lohnsteuerabzug berücksichtigen zu lassen (§ 39a Abs. 1 Nr. 5 EStG); dies geschieht im sog. Lohnsteuer-Ermäßigungsverfahren durch Eintragung eines entsprechenden Freibetrags auf der Lohnsteuerkarte, die eine gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen ist (§ 39a Abs. 4 Satz 1 EStG). Davon haben die Kläger indes keinen Gebrauch gemacht, so dass es hier bei hohen Verlusten u.a. aus Vermietung und Verpachtung unter Anrechnung des tatsächlichen Lohnsteuerabzugs zu einer hohen Rückerstattung (Restguthaben) gekommen ist. Diese Einflussmöglichkeit auf die Höhe des Lohnsteuerabzugs und sein nur vorläufiger Charakter als Vorauszahlung auf die Einkommensteuer (§ 38 Abs. 1, § 39a Abs. 4 Satz 1 EStG; BFH-Beschluss vom 2. November 2000 X R 156/97, BFH/NV 2001, 476) wie auch Praktikabilitätserwägungen (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Januar 1977  1 BvL 7/76, BVerfGE 43, 231, BStBl II 1977, 297; BFH-Urteil vom 7. Juni 1989 X R 12/84, BFHE 157, 370, BStBl II 1989, 976) lassen die Kläger bei ihren verfassungsrechtlichen Einwänden unberücksichtigt.

8

c) Die im Zusammenhang mit der Besteuerung der Abfindung (§ 3 Nr. 9, § 34 Abs. 1 EStG) geltend gemachte fehlende Auseinandersetzung des FG mit dem Klägervorbringen als Verfahrensmangel ist jedenfalls nicht entscheidungserheblich.

9

Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 8 Abs. 1 EStG i.V.m. § 2 Abs. 1 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (LStDV) sind Arbeitslohn alle durch das individuelle Arbeitsverhältnis veranlasste Einnahmen in Geld oder Geldeswert; dazu zählen auch Abfindungen für die Aufgabe einer Tätigkeit wie den Verlust des Arbeitsplatzes (§ 24 Nr. 1 Buchst. b EStG, § 2 Abs. 2 Nr. 4 LStDV). Soweit die Kläger die "vollständige Besteuerung" der Abfindung im Verhältnis zu anderen steuerfreien Entschädigungen (wegen der Beeinträchtigung von Rechtsgütern) als Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3 GG) sehen, greift die Rüge nicht durch; ein Verstoß liegt nicht vor. Denn zum einen wurde die Abfindung zwar vollständig erfasst, aber ausweislich des angegriffenen Einkommensteuerbescheids nach § 34 EStG unter Milderung der bei außerordentlichen Einkünften auftretenden Progressionswirkung (nur) mit dem ermäßigten Steuersatz (hier: 21,8 %) besteuert; zum anderen ist --anders als bei (ansonsten) steuerfreien Entschädigungen-- bei der streitigen Abfindung ein Veranlassungszusammenhang zu einer Einkunftsart (§ 19 EStG) gegeben, der eine andere steuerrechtliche Behandlung rechtfertigt. Ein strukturelles Erhebungsdefizit hinsichtlich der Leistung von Entschädigungen an Mitarbeiter (spez. an Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder) ist nicht hinreichend dargetan.

10

d) Hinsichtlich der Frage der angemessenen Besteuerung von Familien und der Beschränkung des Sonderausgabenabzugs für Vorsorgeaufwendungen (zur Kranken- und Pflegeversicherung) machen die Kläger letztlich eine fehlerhafte Rechtsanwendung durch das FG geltend; damit kann jedoch die Zulassung der Revision nicht erreicht werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 4. Juni 2003 IX B 29/03, BFH/NV 2003, 1212; vom 5. Juni 2008 IX B 249/07, BFH/NV 2008, 1512). Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist mangels schlüssiger Ausführungen zur Entscheidungserheblichkeit in dieser Frage (zu Billigkeitserwägungen s. schon unter 2.a) schon nicht hinreichend dargelegt; es ist auch nicht Aufgabe des Gerichts, sich mit jedem einzelnen Vorbringen der Beteiligten ausdrücklich zu befassen (z.B. BFH-Beschluss vom 7. September 2011 X B 113/10, BFH/NV 2011, 2102). Im Übrigen haben die Kläger auch keine hinreichenden Gründe vorgebracht, die angesichts einer Belastung mit einem Steuersatz von ca. 22 % eine unangemessene oder übermäßige Besteuerung des Einkommens der Kläger erkennen lassen. Auch hat das FG nicht gegen die richterliche Hinweispflicht (§ 76 Abs. 2 FGO) verstoßen. Vielmehr muss ein rechtskundig vertretener Beteiligter gerade bei --wie hier-- umstrittener Sach- und Rechtslage grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einrichten (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 2022).

11

e) Hinsichtlich der (in Erwägung gezogenen) Wohnsitzverlegung wird kein Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) schlüssig geltend gemacht. Ein solcher liegt nur vor, wenn das FG gegen Vorschriften des Gerichtsverfahrensrechts verstoßen hat. Dagegen sind Fehler, die dem FA im Besteuerungsverfahren unterlaufen, keine Verfahrensmängel i.S. des Revisionsrechts. Auf solche kann die Zulassung der Revision mithin nicht gestützt werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 13. Januar 2010 IX B 109/09, BFH/NV 2010, 917; vom 21. August 2007 X B 68/07, BFH/NV 2007, 2143, m.w.N.). Im Übrigen wird im Einkommensteuerrecht der tatsächlich verwirklichte Sachverhalt der Besteuerung unterworfen, nicht der gedachte, aber unterlassene Sachverhalt (vgl. § 38, § 41 AO; z.B. BFH-Beschluss vom 20. September 2007 IV R 70/05, BFHE 219, 86, BStBl II 2008, 265; BFH-Urteil vom 13. April 2011 X R 1/10, BFHE 233, 497, BStBl II 2011, 915).

12

3. a) Die im nach Ablauf der Begründungsfrist und damit verspätet eingereichten Schriftsatz vom 19. Juni 2011 enthaltenen Ausführungen einschließlich der Bezugnahme auf die --zum Teil wortgleiche-- Begründung in dem Rechtsstreit VI B 39/11 sind, soweit sie nicht nur erläuternder, ergänzender oder vervollständigender Natur sind, unbeachtlich (vgl. BFH-Beschlüsse vom 21. März 2011 IX B 137/10, BFH/NV 2011, 1369, unter 3.; vom 25. September 2006 VI B 69/05, BFH/NV 2007, 83, unter 3., m.w.N.).

13

b) Den Antrag der Kläger auf Berichtigung von Unrichtigkeiten im Tatbestand (§ 108 Abs. 1 FGO) des FG-Urteils wie auch den Antrag auf Berichtigung/Ergänzung des Sitzungsprotokolls (§ 94 i.V.m. § 164 ZPO) hat das FG abgelehnt; die Beschlüsse sind unanfechtbar. Der erkennende Senat hat zudem die Beschwerde gegen die vom FG durchgeführte Urteils-Berichtigung nach § 107 Abs. 1 FGO (wegen Fehlens der Beteiligten-Anträge) mit Beschluss vom 24. August 2011 IX B 49/11 als unbegründet zurückgewiesen.

14

4. Im Übrigen ergeht der Beschluss nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ohne weitere Begründung.

Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.

Die §§ 12 und 13 gelten nicht,

1.
soweit dem Antragsteller Prozesskostenhilfe bewilligt ist,
2.
wenn dem Antragsteller Gebührenfreiheit zusteht oder
3.
wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung weder aussichtslos noch mutwillig erscheint und wenn glaubhaft gemacht wird, dass
a)
dem Antragsteller die alsbaldige Zahlung der Kosten mit Rücksicht auf seine Vermögenslage oder aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten würde oder
b)
eine Verzögerung dem Antragsteller einen nicht oder nur schwer zu ersetzenden Schaden bringen würde; zur Glaubhaftmachung genügt in diesem Fall die Erklärung des zum Prozessbevollmächtigten bestellten Rechtsanwalts.

(1) Die Kosten des Zwangsversteigerungs- und Zwangsverwaltungsverfahrens sowie des Verfahrens der Zwangsliquidation einer Bahneinheit schuldet vorbehaltlich des Absatzes 2, wer das Verfahren beantragt hat, soweit die Kosten nicht dem Erlös entnommen werden können.

(2) Die Kosten für die Erteilung des Zuschlags schuldet nur der Ersteher; § 29 Nummer 3 bleibt unberührt. Im Fall der Abtretung der Rechte aus dem Meistgebot oder der Erklärung, für einen Dritten geboten zu haben (§ 81 des Gesetzes über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung), haften der Ersteher und der Meistbietende als Gesamtschuldner.

(3) Die Kosten des Beschwerdeverfahrens schuldet der Beschwerdeführer.

Die §§ 12 und 13 gelten nicht,

1.
soweit dem Antragsteller Prozesskostenhilfe bewilligt ist,
2.
wenn dem Antragsteller Gebührenfreiheit zusteht oder
3.
wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung weder aussichtslos noch mutwillig erscheint und wenn glaubhaft gemacht wird, dass
a)
dem Antragsteller die alsbaldige Zahlung der Kosten mit Rücksicht auf seine Vermögenslage oder aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten würde oder
b)
eine Verzögerung dem Antragsteller einen nicht oder nur schwer zu ersetzenden Schaden bringen würde; zur Glaubhaftmachung genügt in diesem Fall die Erklärung des zum Prozessbevollmächtigten bestellten Rechtsanwalts.

Soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Die Verwaltungsbehörde kann ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen.

(1) Wird eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet, so ist für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1 Prozent des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags zu entrichten; abzurunden ist auf den nächsten durch 50 Euro teilbaren Betrag. Das Gleiche gilt für zurückzuzahlende Steuervergütungen und Haftungsschulden, soweit sich die Haftung auf Steuern und zurückzuzahlende Steuervergütungen erstreckt. Die Säumnis nach Satz 1 tritt nicht ein, bevor die Steuer festgesetzt oder angemeldet worden ist. Wird die Festsetzung einer Steuer oder Steuervergütung aufgehoben, geändert oder nach § 129 berichtigt, so bleiben die bis dahin verwirkten Säumniszuschläge unberührt; das Gleiche gilt, wenn ein Haftungsbescheid zurückgenommen, widerrufen oder nach § 129 berichtigt wird. Erlischt der Anspruch durch Aufrechnung, bleiben Säumniszuschläge unberührt, die bis zur Fälligkeit der Schuld des Aufrechnenden entstanden sind.

(2) Säumniszuschläge entstehen nicht bei steuerlichen Nebenleistungen.

(3) Ein Säumniszuschlag wird bei einer Säumnis bis zu drei Tagen nicht erhoben. Dies gilt nicht bei Zahlung nach § 224 Abs. 2 Nr. 1.

(4) In den Fällen der Gesamtschuld entstehen Säumniszuschläge gegenüber jedem säumigen Gesamtschuldner. Insgesamt ist jedoch kein höherer Säumniszuschlag zu entrichten als verwirkt worden wäre, wenn die Säumnis nur bei einem Gesamtschuldner eingetreten wäre.

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

Tenor

Der Bescheid vom 7. Februar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Februar 2012 wird aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Sanierungsausgleichsbescheids.

2

Die Klägerin ist Eigentümerin des bebauten Eckgrundstücks, Flur 4, Parzelle ... Das Grundstück grenzt im Norden an die G.-Straße. Es gibt mehrere Straßenzüge mit dem Namen G.-Straße. Unter anderem verläuft unter diesem Namen auch eine kurze Verbindungsstraße an der östlichen Seite des klägerischen Grundstücks entlang. Zwischen dieser Straße und dem Grundstück der Klägerin liegt die 6 qm große Splitterparzelle ..., die ebenfalls im Eigentum der Klägerin steht. Die Klägerin hat mit Schreiben vom 5. April 1995 die Erlaubnis erteilt, die Splitterparzelle für die Ortskernsanierung in Anspruch zu nehmen; zugleich hat sie der Widmung als Verkehrsfläche zugestimmt.

3

Die Sanierung des Ortskerns gestaltete sich wie folgt: Der Beginn der Vorbereitenden Untersuchungen wurde am 11. November 1988 bekanntgemacht. Etwa zur gleichen Zeit fand eine Bürgerversammlung statt. Die Sanierungssatzung trat mit Bekanntmachung vom 6. April 1990 in Kraft. Das Grundstück der Klägerin lag innerhalb des Geltungsbereichs dieser Satzung. Außerdem gab es zwei Sanierungsbebauungspläne. Die technischen Arbeiten wurden zwischen 1989 und 1998 durchgeführt. Dabei wurde unter anderem die G.-Straße nördlich und östlich des Grundstücks der Klägerin ausgebaut. Am 1. Juni 1991 war ein Artikel in der Rhein-Zeitung erschienen, wonach die Bürger bei den vorzunehmenden Straßenausbaukosten mit keiner Mark belastet würden. Mit Schreiben vom 7. Oktober 1998 wurden die Grundstückseigentümer darüber informiert, dass die Beklagte verpflichtet sei Sanierungsausgleichsbeträge zu erheben. Eine Teilaufhebung der Sanierungssatzung erfolgte am 29. Oktober 1999 für die B.-Straße. Bis zum Jahre 2003 erfolgten noch Vermessungsarbeiten im übrigen Sanierungsgebiet. Das Gutachten des Gutachterausschusses für den Bereich des Landkreises Altenkirchen wurde am 27. Juni 2000 in Auftrag gegeben. Es wurde am 6. Februar 2007 fertig gestellt und kam auf Grund zonaler Richtwerte zu dem Ergebnis, dass die Bodenwertsteigerung für die Zone der Klägerin 8 €/qm beträgt. Mit Wirkung vom 28. Dezember 2007 wurde die restliche Sanierungssatzung aufgehoben.

4

Mit Bescheid vom 7. Februar 2008 setzte die Beklagte für das Grundstück der Klägerin einen Sanierungsausgleichsbetrag von 2.976 € fest. Sie schloss sich dabei dem zonalen Richtwertgutachten an, welches für die Zone 32, in der das Grundstück der Klägerin liegt, einen Anfangswert von 47,00 € und einen Endwert von 55,07 € ermittelt hatte. Der Differenzbetrag von abgerundet 8 €/qm, multipliziert mit der Grundstücksfläche der Klägerin, ergab 2.976 €.

5

Hiergegen legte die Klägerin, vertreten durch ihren Sohn, am 3. März 2008 Widerspruch ein. Sie trug vor, auf der Bürgerversammlung im Jahre 1988 hätten der Ortsbürgermeister H. und der Städteplaner Dr. I. erklärt, dass keine Kosten auf die Anlieger zukämen. Entsprechendes habe sogar in der Zeitung gestanden. Deshalb sei der Sanierungsausgleichsbetrag verwirkt. Da die Sanierungsarbeiten schon 1998 abgeschlossen gewesen seien, sei er außerdem auch verjährt. Unabhängig davon sei die Bodenwertsteigerung auf jeden Fall zu hoch festgesetzt worden.

6

Die Beklagte gab daraufhin ein Einzelgutachten für das Grundstück der Klägerin in Auftrag, welches am 30. September 2011 vorgelegt wurde. Darin kam der Gutachterausschuss zu dem Ergebnis, dass der Anfangswert 47,91 €/qm und der Endwert 56,02 €/qm betrage. Die Differenz von 8,12 €/qm könne auf 8 € abgerundet werden.

7

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid des Kreisrechtsausschusses Altenkirchen vom 16. Februar 2012 zurückgewiesen. In den Gründen ist ausgeführt, dass weder ein wirksamer Verzicht noch eine Verjährung oder Verwirkung vorliege. Die Höhe des festgesetzten Betrags sei nicht zu beanstanden, denn er sei durch das nachträglich eingeholte Einzelgutachten sogar bestätigt worden.

8

Am 15. März 2012 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie zunächst nur geltend gemacht hat, dass die Sanierungssatzung wesentlich früher hätte aufgehoben werden können. Im Verlauf der Klage hat sich der jetzige Prozessbevollmächtigte bestellt. Er trägt vor, die Festsetzung sei verjährt, weil die Sanierungssatzung bereits Ende 1998, spätestens jedoch Ende 2000 funktionslos geworden sei. Die weitere Verwirklichung der Satzung sei damals auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen gewesen bzw. von der Beklagten aufgegeben worden. Insoweit beruft sich die Klägerin auf Entscheidungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichts Düsseldorf. Die restlichen Vermessungsarbeiten hätten nur der Ermittlung der Bodenwerterhöhung gedient. Hilfsweise werde geltend gemacht, dass das Ergebnis nach dem Modell Niedersachsen in dem eingeholten Richtwertgutachten (4 €/qm) zu gering gewichtet worden sei. Der Stichtag für den Anfangswert hätte auf Mitte 1988 festgelegt werden müssen. Der Endwert hätte nicht unter Berücksichtigung der ersparten Aufwendungen für den Ausbauvorteil ermittelt werden dürfen.

9

Die Klägerin beantragt,

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den Sanierungsausgleichsbescheid vom 7. Februar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Februar 2012 aufzuheben,
hilfsweise insoweit aufzuheben, als mehr als 1.488 € festgesetzt wurden.

11

Die Beklagte beantragt,

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die Klage anzuweisen.

13

Sie nimmt im Wesentlichen Bezug auf den Widerspruchsbescheid.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift und die beigezogenen Verwaltungsakten und Gutachten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

15

Die Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Sanierungsausgleichsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).

16

Dem Grunde nach ist der Bescheid nicht zu beanstanden. Der Höhe nach beruht die Ermittlung der Bodenwertsteigerung jedoch auf einem eindeutigen Bewertungsfehler zu Lasten der Klägerin und dem Gericht ist es verwehrt, von Amts wegen den „richtigen“ Wert zu bestimmen.

17

Die Voraussetzungen des § 154 BauGB zur Erhebung des Sanierungsausgleichsbetrags liegen dem Grunde nach vor. Das Grundstück der Klägerin lag im Geltungsbereich einer Sanierungssatzung und eines Bebauungsplans. Die Sanierung wurde durchgeführt und die Sanierungssatzung wurde aufgehoben.

18

Eine abgabenrechtliche Verjährung ist nicht eingetreten. Die vierjährige Festsetzungsfrist war im Zeitpunkt des Sanierungsausgleichsbescheids vom 7. Februar 2008 noch nicht abgelaufen, denn sie beginnt erst mit Ablauf des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 155 Abs. 5 BauGB, § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG, § 170 AO). Dem Grunde nach entsteht der Anspruch erst - von anderen, hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen - mit der Aufhebung der Sanierungssatzung, vorliegend also erst am 28. Dezember 2007 (§ 154 Abs. 2 Satz 1, § 162 Abs. 1 Nr. 1 BauGB). Selbst wenn man unterstellt, dass die Sanierungssatzung schon nach Abschluss der letzten Vermessungsarbeiten im Jahre 2003 oder möglicherweise noch früher hätte aufgehoben werden können, wird die Klägerin durch die „späte“ Aufhebung im Jahre 2007 wirtschaftlich nicht beschwert. Da sie bis dahin nicht zu Sanierungsausgleichsbeträgen herangezogen werden durfte, konnte sie während dieses Zeitraums über ihr Kapital uneingeschränkt verfügen. Eine Aufrechnung mit etwaigen Entschädigungs- oder Schadensersatzansprüchen wegen einer „überlangen“ Belastung ihres Grundstücks mit dem Sanierungsvermerk wurde bisher nicht erklärt und wäre auch unwirksam, da eine Aufrechnung nur mit unbestrittenen oder rechtskräftig festgestellten Gegenansprüchen zulässig ist (§ 226 AO). Die Befürchtung, dass die Bodenwerterhöhung „nach so langer Zeit“ nicht mehr zutreffend ermittelt werden könne, beruht nicht auf Tatsachen, sondern auf bloßen Vermutungen der Klägerin.

19

Die von der Klägerin zitierten Entscheidungen führen zu keinem anderen Ergebnis. Das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. Oktober 1993 - 4 UE 884/90 - ist bereits nicht einschlägig. Es beschäftigt sich mit der Frage, ob bzw. wann ein Anspruch auf Abschlusserklärung nach § 163 BauGB besteht. Das ist hier nicht im Streit, denn die Klägerin hat zu keinem Zeitpunkt eine Abschlusserklärung für ihr Grundstück verlangt. Außerdem heißt es schon im Leitsatz des zitierten Urteils, dass weder der Zeitablauf allein noch eine unzureichende Förderung der Sanierung zur Folge hätten, dass die Sanierungssatzung außer Kraft tritt.

20

Das Urteil des VG Düsseldorf vom 3. Dezember 2010 - 25 K 4618/10 - ist ebenfalls nicht einschlägig, denn dort heißt es im Leitsatz, dass eine Sanierungssatzung funktionslos werde, wenn die Gemeinde die Sanierung nicht nur in langsamem Tempo vorantreibt, sondern endgültig aufgegeben hat. Von einer endgültigen Aufgabe kann jedoch keine Rede sein, wenn der Sanierungszweck - wie die Klägerin einräumt - erfüllt worden ist. Eine durchgeführte Sanierung begründet lediglich die Pflicht zur Aufhebung der Satzung (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 BauGB). Würde die Durchführung der Sanierung zur Funktionslosigkeit der Satzung führen, bedürfte es nicht der Regelung des § 162 Abs. 1 Nr. 2 BauGB.

21

In der Sache einschlägiger ist das vom VG Düsseldorf in Bezug genommene Urteil des OVG Saarland vom 9. Dezember 2009 - 1 A 387/08 -, mit dem sich die Klägerin aber nicht auseinandergesetzt hat. Das OVG Saarland hat sehr deutlich gesagt, dass selbst dann, wenn nach vollständiger Durchführung der Sanierung eine Pflicht zur Aufhebung der Satzung besteht, die Nichtaufhebung nicht zur Unwirksamkeit der Sanierungssatzung und auch nicht zur Verwirkung des Rechts zur Erhebung von Ausgleichsbeträgen führt.

22

Schließlich sei auf das Urteil des OVG Rheinland-Pfalz vom 5. Oktober 2010 - 6 A 10164/09.OVG - verwiesen. Dort heißt es schon im Leitsatz:

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„Der Anspruch auf Entrichtung des Sanierungsausgleichsbetrags entsteht gemäß § 154 Abs. 3 Satz 1 BauGB erst mit dem Abschluss der Sanierung, d.h. wenn die Gemeinde die Sanierungssatzung aufhebt (§ 162 BauGB) oder die Sanierung für ein Grundstück als abgeschlossen erklärt (§ 163 BauGB). Dies gilt auch, falls die Gemeinde den Fortgang der Sanierung oder ihren förmlichen Abschluss verzögert hat.“

24

In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt,

25

„Die Auffassung der Klägerin, für das Entstehen des Sanierungsausgleichs-anspruchs komme es unabhängig vom Fortbestehen der Sanierungs-satzung lediglich auf den faktischen Abschluss der Sanierungsmaßnahmen an, findet im Gesetz keine Grundlage. …“

26

Dem schließt sich die Kammer an.

27

Hinzu kommt, dass ein schriftlicher Verzicht nicht vorliegt. Er wäre auch unwirksam, da er gegen das gesetzliche Gebot der Abschöpfung der Bodenwertsteigerung (§ 154 Abs. 4 BauGB) verstieße. Eine etwaige mündliche Zusage des Ortsbürgermeisters auf Nichterhebung des Sanierungsausgleichs wäre schon wegen der fehlenden Schriftform unwirksam (§ 155 Abs. 5 VwGO, § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG, § 205 AO).

28

Unabhängig davon ist eine Verwirkung des Rechts (und der Pflicht) zur Erhebung von Sanierungsausgleichsbeträgen ebenfalls nicht eingetreten. Eine Verwirkung setzt voraus, dass nach Treu und Glauben nicht mehr mit der Geltendmachung eines Rechts gerechnet werden muss. Insoweit ist nicht nur ein gewisser Zeitablauf, sondern auch ein Umstandsmoment bzw. eine zurechenbare Erklärung erforderlich, um das Vertrauen auf die Nichtgeltendmachung des Rechts zu begründen (vgl. insoweit auch OVG Rheinland-Pfalz, a.a.O.). Insoweit kann sich die Klägerin von vorneherein nicht auf Presseberichte berufen, denn diese sind nur der Zeitungsredaktion, nicht aber der Beklagten zuzurechnen. Auch die angeblichen Erklärungen des Ortsbürgermeisters sind nicht der für die Beklagte handelnden Verbandsgemeindeverwaltung zuzurechnen, denn die Verwaltung der kommunalen Abgaben obliegt nicht dem Ortsbürgermeister, sondern der Verbandsgemeindeverwaltung in Vertretung der Ortsgemeinde (§ 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 GemO). Zwar heißt es in § 68 Abs. 1 Satz 1 GemO, dass die Verbands-gemeindeverwaltung an die Entscheidungen des Ortsbürgermeisters gebunden sei, allerdings ist keine Entscheidung des Ortsbürgermeisters aktenkundig geworden. Außerdem wäre eine etwaige Entscheidung des Ortsbürgermeisters zur Nichterhebung von Sanierungsausgleichsbeträgen kommunalaufsichtlich zu beanstanden gewesen (§ 121 GemO). Selbst wenn die Klägerin auf die angeblichen Äußerungen des Ortsbürgermeisters hätte vertrauen dürfen, wäre diesem Vertrauen spätestens durch das Informationsschreiben vom 7. Oktober 1998 mit der Ankündigung der Erhebung von Sanierungsausgleichsbeträgen der Boden entzogen worden. Dass sie bis dahin im Vertrauen auf die angeblichen Äußerungen irgendwelche größeren Vermögensdispositionen getroffen hätte, die sie ansonsten unterlassen hätte, hat sie nicht vorgetragen. Die daran anschließende Zeitspanne bis zur tatsächlichen Erhebung des Ausgleichsbetrags genügt ebenfalls nicht als Vertrauensgrundlage, denn insoweit fehlt es an einem zusätzlichen Umstands- oder Erklärungstatbestand. Die bloße Vermutung der Klägerin, dass die Beklagte trotz des Informationsschreibens in Wahrheit keinen Sanierungsausgleich habe erheben wollen, genügt jedenfalls nicht als schutzwürdige Vertrauensgrundlage.

29

Der Höhe nach besteht jedoch ein Bewertungsfehler, der vom Gericht nicht korrigiert werden kann. Anders als die Klägerin sieht das Gericht den Fehler jedoch weder in dem festgelegten Stichtag für den Anfangswert noch in den angewandten Bewertungsmethoden. Vielmehr gilt Folgendes:

30

Die Beklagte hat sich ursprünglich auf das zonale Richtwertgutachten vom 6. Februar 2007 gestützt. Durch den Widerspruchsbescheid ist jedoch das konkrete Einzelgutachten vom 30. September 2011 als zusätzliche (und letztlich sogar entscheidende) Stütze herangezogen worden. Indem der Widerspruchsbescheid auf die „schlüssige Darlegung“ der Ermittlung der Bodenwerte Bezug nimmt, gegen die keine Bedenken bestünden, macht er sich das Einzelgutachten zu Eigen.

31

Das Einzelgutachten hat zwar die methodischen Schritte zur Ermittlung des Anfangs- und Endwerts sorgfältig beschrieben und auch nachvollziehbar dargestellt. Insgesamt wurden drei verschiedene Bewertungsmethoden angewendet, deren Einzelergebnisse nicht arithmetisch gemittelt, sondern unter höherer Gewichtung der Komponentenmethode und unter geringerer Gewichtung des Bodenrichtwertverfahrens zu einer Bodenwertsteigerung von 8,12 €/qm, abgerundet auf 8,00 €/qm führte (S. 46 des Gutachtens). Die Bevorzugung der Komponentenmethode wurde mit dem direkteren Marktbezug begründet und ist nicht zu beanstanden. Allerdings fällt auf, dass im Rahmen der Komponentenmethode der Ausbauvorteil zwar nicht in voller Höhe eines (in Sanierungsgebieten unzulässigen) Ausbaubeitrags, wohl aber in Bezug auf die Restnutzungsdauer der Straße bewertet wurde. Das OVG Rheinland-Pfalz hatte noch mit Urteil vom 14. September 2004 - 6 A 10530/04.OVG - die Auffassung vertreten, dass

32

„… der gesetzliche Ausschluss der Beitragspflicht nach § 154 Abs. 1 Satz 2 BauGB jeder rechtlichen Konstruktion entgegensteht, mit der die durch Erschließungsmaßnahmen bewirkte Wertsteigerung eines im förmlichen Sanierungsgebiets gelegenen Grundstücks in Analogie zum Beitragsrecht geltend gemacht wird.“

33

Das Bundesverwaltungsgericht hat jedoch im anschließenden Nichtzulassungsverfahren mit Beschluss vom 21. Januar 2005 - 4 B 1.05 - wie folgt differenziert:

34

„Wegen dieses rechtlichen Unterschieds zwischen Ausgleichsbeträgen nach § 154 Abs. 1 BauGB einerseits und Erschließungs- und Ausbaubeiträgen andererseits dürfen fiktiv ermittelte Ausbaubeiträge jedenfalls nicht ohne weiteres zur Bemessung der durch den Ausbau der Erschließungsanlagen bedingten Bodenwertsteigerung angesetzt werden. Das schließt allerdings nicht aus, dass fiktive Ausbaubeiträge je nach den Umständen des Einzelfalls als Anhaltspunkte bei der Ermittlung einer sanierungsbedingten Bodenwerterhöhung mit herangezogen werden. Je nach Art und Umfang des Erschließungsvorteils, der Höhe der Erschließungskosten im Verhältnis zum absoluten Grundstückswert (vgl. Kleiber/ Simon/Weyers, Verkehrswertermittlung von Grundstücken, 4. Aufl. 2002, § 14 WertV Rn. 138) und den Gegebenheiten des Grundstücksmarktes kann die Annahme gerechtfertigt sein, dass ersparte Aufwendungen für Erschließungs- oder Ausbaubeiträge zu einer Wertsteigerung des Grund-stücks in entsprechender Höhe führen (so im Ergebnis Kleiber, in: Ernst/ Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 28 WertV Rn. 46). Insoweit müssen jedoch die tatsächlichen Umstände, die den Rückschluss von fiktiven Ausbau-beiträgen auf entsprechende Bodenwerterhöhungen tragen sollen, konkret und nachvollziehbar dargelegt werden.“

35

Die Kammer folgt dem Bundesverwaltungsgericht. Das Einzelgutachten hat auf Seite 55 bei der Bewertung des Ausbauvorteils einerseits zu Recht berücksichtigt, dass der Ausbauvorteil wegen des zurückliegenden Zeitraums zum Teil bereits „verbraucht“ war. Es ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, auf die „Restnutzungsdauer“ einer Anlage abzustellen (vgl. § 6 Abs. 6 ImmoWertV). Andererseits hat das Gutachten jedoch zu Unrecht eine übliche Nutzungsdauer der Erschließungsanlagen von 40 Jahren angenommen. Da der Ausbau der G.-Straße im Zeitpunkt der Entstehung des Sanierungsausgleichs bereits 11 Jahre zurück lag, wäre der Ausbauvorteil bei Annahme eines 40-jährigen Nutzungszeitraums in der Tat nur um 27,5 % „verbraucht“ gewesen, was zu den entsprechend geringen Abzügen und zu einer Wertsteigerung (im Rahmen der Komponentenmethode) von 9,63 €/qm führte. Nach dem - an sich ebenfalls nicht zu beanstanden - gewichteten Vergleich mit den übrigen Bewertungsmethoden wäre folglich ein Endwert von 56,02 €/qm und eine Bodenwertsteigerung von abgerundet 8,00 €/qm vertretbar gewesen (S. 46 des Einzelgutachtens).

36

Nach ständiger Rechtsprechung beträgt aber die übliche Lebensdauer einer Erschließungs- oder Ausbaumaßnahme bei Straßen regelmäßig 20 Jahre, lediglich bei der Kanalisation geht man je nach Material und Funktion von 40 bis 100 Jahren aus (vgl. Nutzungsdauer von Abwasserkanal-Systemen, http://six4.bauverlag.de). Der Gesetzgeber hatte in § 42 Abs. 9 KAG 1986 sogar nur einen Zeitraum von 15 Jahren angenommen, bis im Anschluss an einen einmaligen Ausbaubeitrag wiederkehrende Beiträge erhoben werden konnten. In § 10a Abs. 5 KAG in der Fassung vom 16.12.2006 wurde der Zeitraum auf 20 Jahre ausgedehnt. Daraus ergibt sich, dass der Ausbauvorteil auch nach Auffassung des Gesetzgebers heutzutage regelmäßig nach 20 Jahren „verbraucht“ ist. Das schließt zwar nicht aus, dass es im Einzelfall auch länger dauern kann, bis eine Straße tatsächlich erneuerungsbedürftig wird. Es gibt aber keine starre Regel, wonach die „mittlere wirtschaftliche Gesamtnutzungsdauer von Erschließungsanlagen“ 40 Jahre beträgt. Bei Zugrundelegung eines Zeitraums von 20 Jahren wäre der Ausbauvorteil einer 11 Jahre alten Maßnahme bereits zu 55 % „verbraucht“ gewesen, was zu deutlich höheren Abzügen geführt hätte.

37

Dem Gericht ist es jedoch verwehrt, den „richtigen“ Ausbauvorteil zu bestimmen. Es kann nur feststellen, dass die Beklagte ein Gutachten angewandt hat, das bezüglich des Ausbauvorteils im Rahmen der Komponentenmethode punktuell fehlerhaft ist. Die Ermittlung der Bodenwertsteigerung ist ein bewertender Vorgang, der dem Bewertungsermessen der verantwortlichen Gemeinde obliegt. Die Gemeinde kann zwar nach § 193 Abs. 1 Nr. 1 BauGB den Gutachterausschuss mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragen, sie ist aber nicht an das Gutachten gebunden (§ 193 Abs. 3 BauGB). Es liegt daher in ihrer Verantwortung und in ihrer Einschätzungsprärogative, das Gutachten auf seine Verwertbarkeit zu überprüfen und gegebenenfalls auch abweichende Schlussfolgerungen hieraus zu ziehen. Vorliegend bedeutet das, dass die Beklagte den Ausbauvorteil nach eigenem Bewertungsermessen selbst einschätzen muss und entweder in Anwendung der übrigen methodischen Schritte des Gutachtens oder auf sonstige Weise den Endwert bzw. die Bodenwertsteigerung neu bestimmen muss.

38

Da das Gutachten, wie ausgeführt, an sich nachvollziehbar und aussagekräftig ist und nur an einem punktuellen Fehler leidet, bedurfte es hier auch keiner Einholung eines neuen Gutachtens durch das Gericht.

39

Es ist auch nicht möglich, subsidiär auf das zonale Richtwertgutachten vom 6. Februar 2007 zurückzugreifen. Letzteres berücksichtigte nur die Verhältnisse innerhalb der jeweiligen Zone, ohne konkret auf ein bestimmtes Grundstück einzugehen. Außerdem kam es im Rahmen der Komponentenmethode aufgrund bloßer Schätzungen (S. 14 unten) zu dem gleichen Ausbauvorteil von 9,63 €/qm (S. 15). Dies führte nach einem Vergleich mit dem Modell Niedersachsen (4,00 €/qm) zu einem gewichteten Endwert von 55,07 €/qm und damit zu einer Bodenwertsteigerung von 8,07 €/qm (S. 18). Da aber das Einzelgutachten vom 30. September 2011, wie dargelegt, auf Grund eines eindeutigen Bewertungsfehlers zu einem überhöhten Betrag kommt, kann das zonale Richtwertgutachten, das in diesem Punkt zum gleichen Zwischenergebnis gekommen war, ebenfalls nicht richtig sein.

40

Da der Hauptantrag Erfolg hat, kommt es auf den Hilfsantrag nicht an.

41

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

42

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit wegen der Kosten folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.

43

Beschluss

44

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.976 € festgesetzt (§§ 52, 63 Abs. 2 GKG).

45

Die Festsetzung des Streitwertes kann nach Maßgabe des § 68 Abs. 1 GKG mit derBeschwerde angefochten werden.

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

2. Der Streitwert wird auf 383,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Antragstellerin begehrt einstweiligen Rechtsschutz im Hinblick auf ihre in der Hauptsache (Aktenzeichen 4 A 1898/12) erhobene Klage auf Verpflichtung des Beklagten zum Erlass von festgesetzten Säumniszuschlägen in Bezug auf einen Trinkwasserbeitrag.

2

Mit Bescheid vom 6. Februar 2008 setzte der Antragsgegner gegenüber der Antragstellerin einen Trinkwasserbeitrag für das Grundstück L… Straße 4 in B-Stadt in Höhe von 3.658,20 € fest.

3

Mit „Zahlungserinnerung“ vom 8. September 2011 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin im Wesentlichen zur Zahlung des festgesetzten Trinkwasserbeitrages sowie von Säumniszuschlägen in Höhe von 1.533 € auf. Die Zahlungserinnerung enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung, der zufolge gegen die in diesem Mahnschreiben festgesetzten Säumniszuschläge nach § 240 AO innerhalb eines Monats nach der Bekanntgabe Widerspruch eingelegt werden könne. Der Widerspruch habe keine aufschiebende Wirkung und entbinde nicht von der Zahlungspflicht. In der Rechtsbehelfsbelehrung ist ferner ausgeführt, dass der Widerspruch schriftlich oder zur Niederschrift beim Antragsgegner eingelegt werden könne, wobei dessen postalische Anschrift in der Rechtsbehelfsbelehrung benannt wurde.

4

Mit Schreiben vom 14. September 2011 teilte die Antragstellerin gegenüber dem Antragsgegner mit, dass sie die Zahlungserinnerung erhalten habe und mit Befremden feststellen müsse, dass der Antragsgegner auf ihr Schreiben vom "29.10.2008" keine Reaktion zeige.

5

Mit Schreiben vom 28. September 2011 teilte der Antragsgegner der Antragstellerin mit, dass ihm kein Schreiben vom 29.10.2008 vorliege. Die Zahlungserinnerung sei rechtmäßig und nicht zu beanstanden.

6

Mit Schreiben vom 19. Oktober 2011 teilte die – nunmehr anwaltlich vertretene – Antragstellerin dem Antragsgegner mit, dass sie mit Schreiben vom 29. Februar 2008 Widerspruch eingelegt habe, weil sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Eigentümerin des Grundstücks gewesen sei, sondern ihre Tochter, Frau Gudrun B.. Das Widerspruchsschreiben sei durch die Tochter der Antragstellerin verfasst, durch die Antragstellerin persönlich unterschrieben und sodann durch ihre Tochter am gleichen Tage vorab per Fax sowie als Brief ordnungsgemäß zur Post gebracht worden. Hilfsweise beantragte die Antragstellerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. In der Sache machte sie geltend, dass sie im Zeitpunkt der Inanspruchnahme nicht mehr Eigentümerin des streitgegenständlichen Grundstücks gewesen sei. Die Übertragung und auch die Eintragung im Grundbuch seien bereits im Jahr 2004 erfolgt.

7

Einem in den Verwaltungsvorgängen befindlichen Auszug aus dem Geodatenportal zufolge war zum 20. Oktober 2011 die Tochter der Antragstellerin als Eigentümerin des mittlerweile in die Flurstücke 156/6 und 156/7 aufgeteilten Grundstücks eingetragen. Ob es sich auch um getrennte Grundstücke handelt, lässt sich dem Auszug aus dem Geodatenportal nicht entnehmen. In der Folgezeit bat der Antragsgegner die Antragstellerin, das Widerspruchsschreiben vom 29. Februar 2008 sowie den Faxbericht zu übersenden. Sodann solle der Sachverhalt nochmals überprüft werden. Die Antragstellerin übersandte eine Kopie des Schreibens vom 29. Februar 2008 sowie eine Erklärung ihrer Tochter vom 13. November 2011, in der diese angab, das Widerspruchsschreiben vom 29. Februar 2008 für ihre Mutter gefertigt, dieser zur Unterschrift vorgelegt, sodann am 29. Februar 2008 per Telefax an den Antragsgegner übersandt und am selben Tag das Original in einen Briefumschlag gesteckt, ausreichend frankiert und zur Post verbracht zu haben. Einen Sendebericht für das Telefax könne sie nicht vorliegen, weil es sich seinerzeit um ein einfaches Faxgerät gehandelt habe, das solche Sendeberichte nicht gefertigt habe.

8

Mit Schreiben vom 2. Februar 2012 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab. Er versah dieses Schreiben mit einer Rechtsbehelfsbelehrung, wonach gegen diesen „Bescheid“ Widerspruch eingelegt werden könne.

9

Mit Schreiben vom 2. März 2012, das am selben Tag per Telefax übermittelt wurde, erhob die Antragstellerin Widerspruch gegen den ablehnenden Bescheid vom 2. Februar 2012. Zur Begründung gab sie an, sie habe konkreten Zeugenbeweis dafür angetreten, dass der Widerspruch vom 29. Februar 2008 tatsächlich an den Antragsgegner übersandt worden sei.

10

Mit Widerspruchsbescheid vom 10. April 2012 wies der Antragsgegner den Widerspruch gegen die Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück. Zur Begründung führte er aus, dass der Widerspruch der Antragstellerin von 29. Februar 2008 beim Antragsgegner nicht eingegangen sei. Die Nachweispflicht hierüber obliege der Antragstellerin. Die Zusendung einer Kopie des Widerspruches reiche als Nachweis nicht aus. Hiergegen hat die Antragstellerin Klage erhoben (Aktenzeichen 4 A 802/12).

11

Mit Schreiben vom 20. August 2012 stellte die Antragstellerin einen Antrag auf Erlass der Säumniszuschläge. Sie führte aus, dass die Einziehung der dem Grunde nach entstandenen Säumniszuschläge in diesem Fall sachlich unbillig im Sinne des § 12 KAG M-V in Verbindung mit § 227 AO sei. Die Festsetzung der Säumniszuschläge entspreche zwar dem Wortlaut der Vorschrift, sei aber nach dem Zweck des zu Grunde liegenden Gesetzes nicht mehr zu rechtfertigen und laufe der gesetzlichen Wertung zuwider. Die den Säumniszuschlägen zu Grunde liegende Beitragsforderung sei im März 2008 fällig geworden. Gegen die Beitragsforderung habe die Antragstellerin bereits im Februar 2008 Widerspruch erhoben. Über den Zeitraum von insgesamt 42 Monaten habe sie keine Reaktion auf ihren Widerspruch erhalten. Die Festsetzung von Säumniszuschlägen nach Ablauf von 42 Monaten könne den Zweck der Erhebung von Säumniszuschlägen nicht mehr erfüllen. Der Zweck der Festsetzung bestehe in erster Linie darin, den Abgabepflichtigen zu einer rechtzeitigen Zahlung des Beitrages zum Fälligkeitstermin anzuhalten. Dieser Zweck könne 42 Monate nach Fälligkeit der Beitragsforderung nicht mehr in dem von § 240 AO beabsichtigten Sinne erfüllt werden.

12

Mit Bescheid vom 23. August 2012 lehnte der Antragsgegner den Erlass der Säumniszuschläge ab. Zur Begründung führte er aus, dass er bereits mit Bekanntgabe des Ausgangsbescheides sein Ermessen ausgeübt habe, dass Säumniszuschläge im Falle einer verspäteten Zahlung bzw. Nichtzahlung zu erheben seien. Bezüglich der Einkommenssituation der Antragstellerin liege ein Antragsformular auf Ratenzahlung als Anlage bei.

13

Den hiergegen erhobenen Widerspruch vom 24. September 2012, mit dem zusätzlich die Aussetzung der Vollziehung begehrt wurde, wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 2012 zurück, nachdem bereits der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung mit Schreiben vom 26. September 2012 abgelehnt worden war. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass auch nach erneuter Prüfung nicht erkennbar sei, dass die Einziehung der Säumniszuschläge für die Antragstellerin unbillig sei. Die Berechnung der Säumniszuschläge sei ordnungsgemäß und nicht zu beanstanden. Der Widerspruchsbescheid wurde der Antragstellerin am 25. Oktober 2012 zugestellt.

14

Hiergegen hat die Antragstellerin am Montag, den 26. November 2012, Klage erhoben (Az.: 4 A 1898/12) und zugleich den vorliegenden Betrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt. Sie vertieft ihr Vorbringen, dass ein Fall der sachlichen Unbilligkeit vorliege. Sie habe gegen den Beitragsbescheid vom 6. Februar 2008 am 29. Februar 2008 Widerspruch erhoben. Termin zur Fälligkeit des Beitrages sei der 10. März 2008 gewesen. Sie habe über einen Zeitraum von insgesamt 42 Monaten keine Reaktion auf ihren Widerspruch erhalten. Sie habe bis zu dem Zeitpunkt auch keine Mahnung oder Zahlungserinnerung erhalten. Die Festsetzung von Säumniszuschlägen erst 42 Monate nach Fälligkeit der Beitragsforderung könne den Zweck der Erhebung von Säumniszuschlägen im Sinne des § 240 AO nicht mehr erfüllen. Die Antragstellerin sei Rentnerin und verfüge über keine besonderen Kenntnisse im Verwaltungsrecht. Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass die Antragstellerin lediglich über ein monatliches Einkommen in Höhe von 943,06 € verfüge.

15

Die Antragstellerin beantragt,

16

die aufschiebende Wirkung der Klage auf Erlass der Säumniszuschläge (Az.: 4 A 1898/12) anzuordnen.

17

Der Antragsgegner beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

19

Er nimmt auf die Gründe der angefochtenen Bescheide Bezug.

II.

20

Der Antrag ist – bei der gebotenen Auslegung des Begehrens der Antragstellerin – statthaft. Er ist vorliegend als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu qualifizieren, weil die in der Hauptsache erhobene Klage als eine Verpflichtungsklage auf Erlass der gegenüber der Antragstellerin festgesetzten Säumniszuschläge zu qualifizieren ist. Dementsprechend kann vorliegend nicht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet werden, sondern das Begehren der Antragstellerin ist dahingehend auszulegen, dass sie dem Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig untersagen lassen möchte, aus dem Bescheid vom 8. September 2011 zu vollstrecken, bis in der Klage über den Erlass der Säumniszuschläge (Aktenzeichen 4 A 1898/12) eine Entscheidung ergangen ist.

21

Auf die Frage, ob auch bei diesem Antrag in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 6 VwGO ein Antrag an den Antragsgegner auf Absehen von Vollstreckungsmaßnahmen zu richten ist, kommt es vorliegend nicht an, weil ein derartiger Antrag – sinngemäß – mit Schreiben vom 24. September 2012 gestellt und mit Schreiben des Antragsgegners vom 26. September 2012 abgelehnt worden ist.

22

Der so verstandene Antrag ist zulässig, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

23

Die Antragstellerin hat bei summarischer Prüfung nicht das Vorliegen eines Anordnungsanspruches, d.h. eines Anspruchs auf Erlass der Säumniszuschläge glaubhaft gemacht.

24

Maßstab für einen Anspruch auf Erlass der Säumniszuschläge ist allerdings vorliegend nicht § 6 der Satzung über Stundung, Niederschlagung und Erlass von Forderungen und Ansprüchen des beklagten Zweckverbandes vom 25. Mai 2009, soweit die darin enthaltenen Regelungen § 227 AO in Verbindung mit § 12 Abs. 1 KAG MV einschränken. Maßgeblich für den Tatbestand des § 227 AO ist die Unbilligkeit der Einziehung des Anspruchs nach Lage des einzelnen Falls. Eine Beschränkung des Erlasses auf die drei Fallgruppen des § 6 Abs. 1 Buchstaben a) bis c) ist in dieser Regelung nicht vorgesehen. Insolvenz, Existenzgefährdung sowie Unverhältnismäßigkeit der Kosten der Beitreibung zur einzuziehenden Forderung sind zwar Anwendungsfälle der sachlichen Unbilligkeit, umfassen den Tatbestand der Unbilligkeit im Sinne des § 227 AO aber nicht vollständig.

25

Gründe für eine sachliche Unbilligkeit der Beitreibung der mit Bescheid vom 8. September 2011 festgesetzten Säumniszuschläge sind nicht erkennbar. Dabei kann das Gericht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur ohne weitere Sachaufklärung von dem beiderseitigen Vortrag der Beteiligten ausgehen, demzufolge die Antragstellerin ihren Widerspruch am 29. Februar 2008 per Telefax sowie durch Absendung des Widerspruchs zur Post erhoben haben will, beim Antragsgegner entsprechend seiner Einlassung jedoch weder ein Telefax noch ein Brief angekommen sind.

26

Bei Zugrundelegung dieses Sachverhaltes ist eine sachliche Unbilligkeit der Festsetzung der Säumniszuschläge im Rahmen der „Zahlungserinnerung“ vom 8. September 2011 nicht erkennbar. Wenn man aus der Sicht des Antragsgegners davon ausgeht, dass für ihn der Beitragsbescheid vom 6. Februar 2008 mangels Erhebung eines Widerspruchs im März 2008 bestandskräftig geworden ist, so trifft ihn aus der Sicht des Gerichts keine rechtlich maßgebliche Obliegenheit, die Antragstellerin zu einem früheren Zeitpunkt als dem 8. September 2011 zur Zahlung der Beitragsforderung aufzufordern und im Rahmen dessen auf die entstandenen Säumniszuschläge hinzuweisen bzw. diese festzusetzen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner bereits im Beitragsbescheid vom 6. Februar 2008 auf das Entstehen von Säumniszuschlägen im Falle der Nichtzahlung hingewiesen hat. Aus seiner Sicht hatte er damit das Erforderliche getan, um die – aus seiner Sicht - Beitragspflichtige zur Zahlung anzuhalten. Maßstab für die Verpflichtung des Antragsgegners zum Hinweis auf die noch ausstehende Forderung kann nach Auffassung des Gerichts zunächst nur die gesetzliche Frist über die Zahlungsverjährung sein. Diese Frist beträgt gemäß § 12 KAG M-V in Verbindung mit § 218 AO fünf Jahre. Ohne das Vorliegen besonderer Umstände kann dem Antragsgegner deshalb nach Auffassung des Gerichts nicht vorgehalten werden, dass er zu einem früheren Zeitpunkt auf die ausstehende Forderung und das zwischenzeitliche Entstehen von Säumniszuschlägen hätte hinweisen müssen.

27

Ein sachlicher Billigkeitsgrund ist nach Auffassung des Gerichts auch insoweit nicht zu erkennen, als die Antragstellerin das Entstehen der Säumniszuschläge nicht verhindern konnte, weil sie - zumindest subjektiv – das Erforderliche getan hatte, um eine Aussetzung der Vollziehung zu erreichen. Selbst wenn man vom Sachvortrag der Antragstellerin ausgeht, sie habe den Widerspruch und den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung mit Hilfe ihrer Tochter zunächst per Telefax und sodann durch Aufgabe zur Post fristgerecht erhoben, hatte sie damit noch nicht das Nötige getan, um ohne weitere Reaktion des Antragsgegners von der tatsächlichen Aussetzung der Vollziehung ausgehen zu können. Sie durfte sich nicht darauf verlassen, dass der Antragsgegner durch Stillschweigen von seiner Forderung einstweilen Abstand genommen hatte, zumal ihr bekannt sein musste, dass ihre Tochter als neue Eigentümerin des Grundstücks noch keinen Bescheid bekommen hatte. Bei dieser Sachlage oblag es ihr, nach mehrmonatiger fehlender Reaktion des Antragsgegners von sich aus nachzufragen, ob der Beitragsbescheid auf ihren Widerspruch hin nicht mehr aufrecht erhalten werde. Selbst wenn es aus ihrer Sicht offensichtlich gewesen sein mag, dass sie bereits seit geraumer Zeit nicht Eigentümerin des Grundstücks war, führt dies zu keiner anderen Betrachtung ihrer Obliegenheiten – auch als rechtlich unerfahrene Bürgerin. Die Hinweise des Antragsgegners zum Entstehen der Säumniszuschläge im Beitragsbescheid und zur Zahlungspflicht trotz der Erhebung des Widerspruchs sind hinreichend deutlich.

28

Eine sachliche Unbilligkeit kann vorliegend auch nicht aus der Rechtswidrigkeit des Beitragsbescheides vom 6. Februar 2008 und etwaigen Erfolgsaussichten der hiergegen gerichteten Anfechtungsklage hergeleitet werden. Wie sich aus § 240 Abs. 1 Satz 4 AO i.V.m. § 12 Abs. 1 KAG M-V ergibt, ist der Fortbestand des Anspruchs auf Zahlung von Säumniszuschlägen gerade nicht davon abhängig, dass sich der ihnen zugrunde liegende Abgabenbescheid letztendlich als rechtmäßig erweist. Anders als Aussetzungszinsen bleiben Säumniszuschläge vielmehr grundsätzlich auch dann verwirkt, wenn der Beitragsbescheid als rechtswidrig aufgehoben wird. Bezüglich der Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage ist zudem zu berücksichtigen, dass die Frage des fristgerechten Zuganges des Widerspruchs ebenso offen ist wie die Frage der fristgerechten Beantragung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, sofern es darauf ankommen sollte. Kenntnis davon, dass der Widerspruch vom 29. Februar 2008 nicht beim Antragsgegner angekommen war, dürfte die Antragstellerin zumindest durch das Schreiben des Antragsgegners vom 28. September 2011 erhalten haben, mithin unter entsprechender Anwendung der Drei-Tage-Frist für die Bekanntgabe nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO spätestens am 1. Oktober 2011. Dementsprechend dürfte die Wiedereinsetzungsfrist von zwei Wochen des § 60 Abs. 2 VwGO im Zeitpunkt des Schreibens ihrer Prozessbevollmächtigten vom 19. Oktober 2011 bereits abgelaufen gewesen sein. Daher spricht bei summarischer Prüfung einiges dafür, dass der Beitragsbescheid vom 6. Februar 2008 bestandskräftig geworden ist.

29

Andere sachliche Billigkeitsgründe sind ebenfalls nicht ersichtlich. Vom Gericht wird erwogen, dass ein sachlicher Billigkeitsgrund für den Erlass von Säumniszuschlägen dann vorliegen könnte, wenn der Antragsgegner in Kenntnis einer rechtskräftigen Entscheidung bezüglich eines Beitragsbescheides aufgrund von vom Gericht festgestellten erheblichen Fehlern der Beitragssatzung trotz unveränderter – nichtiger - Satzungslage weiterhin Beitragsbescheide erhebt. Zwar wirkt eine derartige Gerichtsentscheidung, die kein Normkontrollverfahren ist, jeweils nur unmittelbar zwischen den Beteiligten, doch ist es gegebenenfalls unter dem Gesichtspunkt der Rechtsmissbräuchlichkeit zu erwägen, ob der Antragsgegner gegebenenfalls in einem gleichgelagerten Fall unter besonderen Voraussetzungen zumindest einen Anspruch auf Erlass von Säumniszuschlägen hat, wenn der gegen ihn gerichtete Beitragsbescheid ebenfalls aufgehoben wird. Solche besonderen Voraussetzungen können darin zu sehen sein, dass ein Beitragsbescheid in Kenntnis einer rechtskräftigen Entscheidung des Gerichts ergeht, die gerade auf die Nichtigkeit der als Rechtsgrundlage dienenden Beitragssatzung abgestellt hat. Auch in diesem Fall entstehen grundsätzlich von Gesetzes wegen gemäß § 240 AO i.V.m. § 12 KAG M-V die Säumniszuschläge, doch könnte hier viel dafür sprechen, dass ein Rechtsanspruch des ursprünglich Beitragspflichtigen auf Erlass der Säumniszuschläge aus sachlichen Billigkeitsgründen gegeben ist.

30

Auch ein solcher Fall ist vorliegend jedoch nicht gegeben. Der Beitragsbescheid vom 6. Februar 2008 ist zwar ergangen, nachdem das Gericht in einem Urteil vom 30. Januar 2008 (8 A 803/07) erstmals die seinerzeit maßgebliche Beitragssatzung des Beklagten überprüft und als Rechtsgrundlage für nichtig bewertet hatte. Im Zeitpunkt des Erlasses des hier streitgegenständlichen Beitragsbescheides lagen dem Antragsgegner aber noch nicht die schriftlichen Gründe des Urteils vor und es war dementsprechend erst recht noch keine Rechtskraft eingetreten. Folglich kann dem Antragsgegner nicht vorgeworfen werden, dass er in diesem konkreten Fall den Beitragsbescheid erlassen hat, obwohl ihm die Rechtsauffassung des Gerichts über die Nichtigkeit der Satzung bekannt war und er sich gegen diese Rechtsauffassung noch nicht mit einem weiteren Rechtsmittel gewehrt hat, zumal er später tatsächlich die Zulassung der Berufung beantragt hat.

31

Persönliche Billigkeitsgründe sind ebenfalls nicht hinreichend dargetan. Der Verweis auf die Rente der Antragstellerin von 943,06 € reicht hierfür nicht aus. Dass die Säumniszuschläge angesichts der Vermögensverhältnisse der Antragstellerin ohnehin nicht beitreibbar wären, ist bislang nicht dargetan worden und auch nicht erkennbar, zumal die Beitragsforderung selbst zwischenzeitlich beglichen wurde.

32

Sonstige Anordnungsansprüche sind nicht ersichtlich. Es ist insbesondere nicht erkennbar, dass der Antragstellerin aus anderen Gründen im Hauptsacheverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Anspruch auf Erlass der Säumniszuschläge zuerkannt werden wird. Zwar ist die bislang vom Antragsgegner vorgenommene Ermessenentscheidung deutlich verfehlt. Die Aussage, man habe bereits im Beitragsbescheid vom 6. Februar 2008 auf die Folgen der Nichtzahlung hingewiesen und halte deshalb an der Durchsetzung der Säumniszuschläge fest, lässt eine einzelfallbezogene Ermessensausübung nicht erkennen. Dies kann aber allein noch nicht zu einem Anspruch der Antragstellerin auf Erlass der Säumniszuschläge, sondern allenfalls zu einer Aufhebung des angefochtenen Bescheides mit der Verpflichtung zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts führen. Dass eine Neubescheidung ggf. dann zu einem Erlass der Säumniszuschläge führen wird, muss als offen angesehen werden. In dieser Situation kann aber kein anerkennenswertes überwiegendes Interesse der Antragstellerin am vorläufigen Einbehalt der von ihr geforderten Säumniszuschläge erkannt werden.

33

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergeht gemäß § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. § 53 Abs. 2 GKG. Dabei geht das Gericht entsprechend seiner ständigen Rechtsprechung von einem Viertel des in der Hauptsache streitigen Betrages aus.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.

(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.