Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 21. Apr. 2015 - L 6 VJ 1460/13

bei uns veröffentlicht am21.04.2015

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 28. Februar 2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt Beschädigtenversorgung aufgrund eines Impfschadens nach einer am 21.01.1999 durchgeführten Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR-Impfung) mit dem Impfstoff M.-V..
Der am … 1997 geborene Kläger ist das jüngste von vier Kindern der Familie. Eltern und Geschwister sind gesund. Die Schwangerschaft verlief normal (Bl. 25 VV), die Apgar-Werte waren 10-10 und damit optimal (Bl. 13 VV). (Die Risikonummer 14 bedeutet Schwangere über 35.) Untersuchungsdaten der U 1 und U 2 sind im Kinderuntersuchungsheft (U-Heft) nicht erfasst, die U 1 war unauffällig (Bl. 26 VV). Bei der U 3 fiel der Kinderärztin K. eine Hüftreifungsverzögerung auf, im weiteren Verlauf war die Ausreifung dann rechtzeitig, und eine diskrete Bevorzugung der Kopfwendung nach rechts, die bei der U 4 nicht mehr festzustellen war (Bl. 210 SG-Akte). Bei der U 4 am 03.02.1998 wurde eine leichtgradige muskuläre Hypotonie bei normalem Bewegungsmuster beobachtet. Bei der U 6 am 14.10.1998 stellte die Kinderärztin eine leichtgradige motorische Retardierung fest (Bl. 211 SG-Akte). Koordiniertes Krabbeln auf Händen und Knien sowie Hochziehen zum Stehen fehlten (Bl. 20 VV). Am 04.12.1998 war der Kläger bei der Kinderärztin wegen eines fieberhaften Infekts mit Rhinobronchitis, nächtlicher Unruhe und vermehrtem Krümmen. Bei der Untersuchung war der Abdomen unauffällig.
Bei dem Kläger wurden die öffentlich empfohlenen Impfungen durchgeführt, 1998 mehrere Mehrfach-Impfungen gegen Tetanus, Diphterie, Pertussis, Haemophilus influenzae b, Hepatitis B und Poliomyelitis (Bl. 11 VV). Am 21.01.1999 wurde die hier streitgegenständliche MMR-Impfung durchgeführt. Danach war der Kläger erstmals wieder am 12.04.1999 bei der Kinderärztin, um eine weitere Mehrfach-Impfung durchzuführen. Er war zu diesem Zeitpunkt infektfrei (Bl. 211 SG-Akte), Auffälligkeiten wurden von der Kinderärztin nicht beobachtet und von der begleitenden Mutter nicht berichtet. Ein weiterer Besuch erfolgte am 26.05.1999 wegen eines Zeckenbisses, wobei die Zecke retroaurikulär vollständig entfernt wurde. Nach Auskunft der Kinderärztin bestanden zunächst keine Beschwerden. Auch sonstige Auffälligkeiten wurden nicht berichtet. Am 16.06.1999 suchte der Kläger die Kinderärztin wegen eines fieberhaften Infekts mit Infektion am linken Zeigefinger auf, der in der Folge mit einem Antibiotikum behandelt wurde.
Bei der nächsten Untersuchung anlässlich der U 7 am 04.10.1999 fiel der in der Gemeinschaftspraxis tätigen Kinderärztin G. eine motorische Retardierung auf: der Kläger konnte erst mit 20 Monaten frei laufen, krabbelte noch die Treppen hoch anstatt aufrecht Treppen zu steigen und sich am Geländer festzuhalten (letzteres nicht im U-Heft Bl. 21 VV vermerkt) konnte bei vorhandenem Sprachverständnis noch keine Zweiwortsätze bilden (Bl. 211 SG-Akte). Kinderärztin G. notierte im U-Heft: Verdacht auf (V. a.) Krampfanfälle, altersgemäßes Sprachverständnis fehlt. Die Kinderärztin empfahl die Vorstellung beim Augen- und Ohrenarzt und wegen V. a. Anfallsleiden im Epilepsiezentrum K..
Dort wurde der Kläger erstmals am 17.11.1999 vorgestellt. Die Mutter berichtete, dass schon seit längerem, etwa seit vier bis sechs Monaten, kurze Aussetzer von der Umgebung beobachtet. Es komme dann zum Plinkern der Lider. Beim Essen halte er häufig inne und schlucke dann kräftig, als wenn der Brocken zu groß gewesen sei. Seit etwa zwei Wochen komme es ohne erkennbare Ursache zu Stürzen, wobei er meist nach hinten und zur Seite falle und oft den Kopf anschlage. Er stehe sofort wieder auf und weine häufig. Die Frequenz der Sturzanfälle sei fünfmal täglich. Diagnostiziert wurde eine schwer klassifizierbare frühkindliche Epilepsie mit Blinzelanfällen, astatischen Anfällen und Nickanfällen sowie eine psychomotorische Retardierung (Arztbrief Epilepsiezentrum K. vom 31.03.200 über ambulante Untersuchungen vom 17.11.1999 bis 09.03.2000, Bl. 29 VV). Auffällig sei eine ausgeprägte Neigung zu stereotypen Beschäftigungen. Das Elektroenzephalogramm (EEG) war mit epilepsietypischer Aktivität pathologisch.
Weitere Diagnostik wurde durchgeführt. Das Kernspin des Kopfes ergab eine abnorm verminderte Rinden-Mark-Differenzierbarkeit mesial mit leichter Signalanhebung des Marklagers. Genügend sichere Hinweise auf die Ätiologie der genannten Strukturauffälligkeiten könnten nicht gegeben werden (Bericht vom 17.04.2000, Bl. 41 VV). In der Liquordiagnostik wurden keine richtungsweisenden Auffälligkeiten gefunden (Bl. 44 VV). Im Plasma wurden deutlich erhöhte Aminosäuren festgestellt, jedoch keine Hinweise auf einen Abbaudefekt (Bl. 43 VV). Bei dem Kläger bestand im Alter von zwei Monaten eine Masernexposition aufgrund der Erkrankung des Bruders (Bl. 59 VV). Die Analyse von Liquor und Serum vom 13.04.2000 ergab ein Masern-Virus-Immunglobulin (IgG) von > 5.00 IU/ml (Bl. 56 VV). Der IgG von Mumps war im negativen Bereich.
Im weiteren Verlauf wurden bei Frühförderung leichte Entwicklungsfortschritte erzielt. Die medikamentöse Einstellung des Anfallsleidens blieb unbefriedigend und wurde schließlich abgebrochen. Zusätzlich manifestierten sich Verhaltensauffälligkeiten. Schließlich wurde 2006 im Universitätsklinikum F. (Arztbrief vom 26.04.2006, Bl. 161 VV) eine tiefgreifende Entwicklungsstörung aus dem autistischen Formenkreis, am ehesten als atypischer Autismus zu klassifizieren (ICD 10: F 84.1); eine Intelligenzminderung im mindestens mittelgradigen Bereich und eine generalisierte Epilepsie in Form von myoklonischen astatischen Anfällen (Blitz-Nick-Salaam-Anfälle, ICD 10: G 40.4) diagnostiziert. Dort gab die Mutter des Klägers erstmals an, die frühkindliche Entwicklung des Klägers sei bis zum Alter von ca. 15 Monaten im Großen und Ganzen unauffällig verlaufen; sie führe die neurologische Symptomatik auf eine MMR-Impfung im Alter von 15 Monaten zurück.
Beim Kläger ist mit Bescheid vom 17.04.2001 seit 01.07.1999 ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen G, B, H und RF festgestellt (Bl. 87 VV). Er hat Pflegestufe III.
Am 28.08.2006 beantragte der Kläger, vertreten durch seine Eltern, die Gewährung von Versorgung wegen Impfschäden nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG). Sie seien vor der Impfung nicht über die Risiken aufgeklärt worden. In der Anlage „Impfschadensverlauf“ schrieb die Mutter des Klägers:
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„Am Wochenende des 30./31.01.1999 in der Nacht schrille Schreiattacken, harter Bauch, apathischer, starrer Blick, durch nichts zu beruhigen. Wurde auch in Mamas Bett nicht ruhiger. War nicht ansprechbar, Überstrecken und Steifwerden des ganzen Körpers. Reagiert weder auf Brustanlegen noch auf Streicheleinheiten. Fiel gegen Morgen in den Tiefschlaf, nachdem er endlich Ruhe gefunden hatte. Tagsüber apathisch und häufiges Hinfallen, Stützen an der Wand, Festhalten an Möbelstücken, weinerlich, unsicheres Laufen entlang der Wand (Zeugnis Fr. C. K., Fr. K. S.).
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Ab April bis dato nervöses Augenzucken (später als Absencen diagnostiziert). Das tapsige Laufen nur an der Wand zeigt sich im Nachhinein als Gangunsicherheit. Im Umgang mit anderen Kleinkindern zeigt er massives, zunehmend aggressives Verhalten (grundloses Schubsen, Gesichtskratzen und Beißen etc.). Ende April stellten wir beim Essen wiederholt Schluckstörungen fest, die bis Dezember 2004 anhielten.“.
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Vorgelegt wurden eidesstattliche Versicherungen der Zeugin K. vom 12.09.2006 und der Schwester des Klägers, der Zeugin K. S., vom 10.09.2006.
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Der Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch Prof. Dr. H., Oberarzt im Zentrum für Kinder– und Jugendmedizin des Universitätsklinikums F.. Prof. Dr. H. erstattete sein Gutachten nach Aktenlage und ausführlicher telefonischer Befragung der Mutter des Klägers. Die Mutter beschreibe neun Tage nach der Impfung (am 30./31.01.1999) mehrere, mindestens drei bis zu 30 Minuten dauernde Schreiattacken, bei denen der Kläger sich nicht habe beruhigen lassen. Dieses Verhalten habe sehr von dem bislang bekannten abgewichen. Tagsüber sei der Zustand zufriedenstellend gewesen. Es hätten kein Fieber, keine Diarrhoe und keine katarrhalischen Symptome bestanden. Der Zustand sei insgesamt - trotz der beunruhigenden nächtlichen Zustände – so gut gewesen, dass in dieser Phase keine ärztliche Hilfe gesucht worden sei. Ab dem Alter von 18 Monaten hätten die Eltern Augenliderzucken und Schluckstörungen beobachtet. Mit 19 Monaten habe der Kläger laufen können.
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Außer Zweifel bestehe beim Kläger eine gravierende Mehrfachbehinderung, deren Ursache letztendlich unklar bleibe. Die differentialdiagnostische Abklärung durch eine Reihe hochspezialisierter Einrichtungen bezüglich infektiöser, primär degenerativer und stoffwechselbedingter Erkrankungen habe keinen hinreichen Befund einer zugrunde liegenden Störung erbracht. Der geschilderte Zustand am 30./31.01.1999 sei mit einer Hirnentzündung, die unter anderem durch Masern- und Mumpsviren verursacht werden könne, vereinbar. Allerdings seien die geschilderten Symptome unspezifisch und träten auch bei anderen fieberhaften Krankheiten oder mit krampfartigen Schmerzen verbundenen Zuständen auf, z. B. einer Gastroenteritis oder einem pavor nocturnus (Alpträume). Die Schilderung der Eltern, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt tagsüber in einem ordentlichen, nicht besorgniserregenden Zustand gewesen sei, spreche mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen eine Gehirnentzündung, die eine schwere Erkrankung sei. Wichtig sei auch die Tatsache, dass die Eltern des Klägers zu diesem Zeitpunkt keine medizinische Hilfe gesucht hätten. Weiterhin sei es nach diesen Ereignissen nicht zu einem Entwicklungsstillstand gekommen, der Kläger habe vielmehr mit 19 Monaten einen großen Entwicklungsschritt, das freie Laufen, getan. Dies sei knapp außerhalb des Normalen. Bei der anlässlich der U 6 festgestellten mäßigen Entwicklungsverzögerung sei die große Varianz der „Meilensteine der Entwicklung“ zu beachten, 8 % der Kinder würden gar nicht krabbeln, sondern diese Entwicklungsstufe überspringen. Die Entwicklung von Körperlänge, Kopfumfang und Gewicht sei normal gewesen.
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Ob eine akute Hirnhautentzündung als Komplikation einer MMR-Impfung auftreten könne, sei in der wissenschaftlichen Gemeinschaft umstritten. Beweise für einen solchen Zusammenhang lägen nicht vor, die meisten Studien hätten kein vermehrtes Auftreten von Gehirnentzündungen nach MMR-Impfungen gefunden. Von den drei Fällen, in denen zwischen 2001 und 2003 eine Erstmanifestation von Krampfanfällen im zeitlichen Zusammenhang zu einer MMR-Impfung gemeldet worden sei, sei keiner vom P.-Institut als gesichert, wahrscheinlich oder möglich beurteilt worden. Eine Hirnentzündung nach MMR-Impfung sei ein sehr seltenes Ereignis, die Inzidenz liege bei 1:1 Million. Die Seltenheit sei mit der spontaner Hirnentzündungen vergleichbar, so dass davon auszugehen sei, dass einige oder auch alle unabhängig von der MMR-Impfung aufgetreten seien. Ein kausaler Zusammenhang könne auch nicht durch Isolation der Vakzine-Stämme aus Liquor oder Hirngewebe nachgewiesen werden. Zum Nachweis wären umfangreiche Untersuchungen am Hirngewebe von geimpften Gesunden notwendig, die nicht an einer Hirnentzündung erkrankt seien, denn das Auftauchen von Impfviren im Gehirn sei als harmloses Ereignis nach einer Impfung durchaus denkbar. Das Auftauchen von Impfviren im Hirn erkrankter Patienten wäre dann Zufall. Eine Studie in Großbritannien habe eine erhöhte Rate von zentralnervösen Erkrankungen oder komplizierten Krampfanfällen zwischen 7 und 14 Tagen nach MMR-Impfung ermittelt, allerdings seien keine bleibenden Schäden beobachtet worden. Eine kürzlich veröffentlichte Studie unter Einbeziehung von 2 Millionen Kindern in den USA habe kein erhöhtes Enzephalopathierisiko nach MMR-Impfung gefunden. Daher komme sowohl das Vaccine Safety Committee des I. o. M. der A. o. S. USA als auch die Ständige Impfkommission am R.-K.-Institut (STIKO) zu dem Schluss, dass die vorliegenden Daten weder einen ursächlichen Zusammenhang noch dessen Ausschluss zuließen.
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Im vorliegenden Fall sei eine akute Enzephalitis jedweder Ursache jedoch sehr unwahrscheinlich. Eine medizinische Abklärung sei wegen des insgesamt guten Allgemeinbefindens des Klägers nicht veranlasst worden, so dass objektive Befunde nicht vorlägen.
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Eine weitere Erkrankung, die zur Degeneration von Hirngewebe führe, sei die Enzephalopathie (Gehirnkrankheit). Diese klinische Diagnose werde nach Ausschluss u. a. einer Gehirn- oder Gehirnhautentzündung gestellt. Symptome seien Wesensveränderung, Bewusstseinsverlust etc. Als Ursache komme eine große Zahl von Störungen in Betracht. Eine kürzlich veröffentlichte Fall-Kontroll-Studie (R. P et al.:, T. V. s. D. G., P. I. D. J 2006; 25, 768) habe keinen Zusammenhang zwischen einer Enzephalopathie und einer MMR-Impfung gefunden.
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In der Literatur würden wenige Fälle einer Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis, die zu Krämpfen, Herdsymptomen und Halbseitenlähmung führe, darunter eine Erkrankung eines Kindes im Jahr 1998 im zeitlichen Zusammenhang zu einer MMR-Impfung, berichtet. In diesem Fall sei mittels Hirnbiopsie post mortem Masern-RNA des Impfvirus nachgewiesen worden. Die Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis könne als sehr seltene Komplikation ein bis acht Monate nach der Impfung bei immunsupprimierten/-defizienten Patienten auftreten und verlaufe meist tödlich. Im vorliegenden Fall spreche sowohl der zeitliche Verlauf (drei Wochen nach Impfung), die Klinik (keine akuten neurologischen Störungen) und die fehlende Immunschwäche sicher gegen eine Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis.
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Der beim Kläger im Alter von 2,5 Jahren festgestellte positive Masern-Titer sei nach erfolgter Impfung zu erwarten gewesen, die Höhe des IgG-Titers sei für die Beurteilung ohne Bedeutung. Die Liquor-Diagnostik sei negativ, was zumindest nicht für eine durchgemachte Masern-Hirnentzündung spreche. Allerdings sei diese Untersuchung von unsicherer Sensitivität, so dass eine negative Antikörperantwort im Liquorraum keine wesentliche Aussage gegen eine abgelaufene Masern-Hirnentzündung beinhalte.
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Es fänden sich einzelne Berichte über eine Assoziation einer Hirnhautentzündung und einer Impfung mit Mumps-Lebend-Impfstoff. In keinem Fall sei diese virologisch bestätigt worden, d. h. der Impfstoff sei nicht im Hirnwasser oder Hirngewebe der erkrankten Patienten nachgewiesen worden. In einer aktuellen Feststellung des Global Advisory Committee on Vaccine Safety (2006) werde dies in der Mehrzahl der Fälle für ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen gehalten. Für Hirnentzündungen infolge des Röteln-Lebendimpfstoffs gebe es keinen Hinweis; auch bei Rötelninfektionen durch Wildviren seien Hirnentzündungen Raritäten. Hinsichtlich der weiteren Bestandteile Neomycin, Phenosulfonphthalein und Polysaccharide lägen keine Berichte über schwerwiegende neurologische Komplikationen vor.
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In der Zusammenschau der Datenlage finde sich kein Beleg für die MMR-Impfung als Ursache des beim Kläger festgestellten Gesundheitsschadens. In der Wissenschaft herrsche Ungewissheit darüber, ob eine MMR-Impfung die Ursache einer Hirngewebsentzündung oder Enzephalopathie sein könne, die wiederum Ursache für eine Gesundheitsstörung wie die des Klägers sein könne. Die Dokumentation des Verlaufs zum Zeitpunkt der retrospektiv von den Eltern vermuteten Hirnentzündung (um den 30.01.1999) sei ungenügend, so dass keine Befunde vorlägen, die in diesem Einzelfall zur Klärung einer Kausalität zwischen MMR-Impfung und Hirngewebsentzündung beitragen könnten.
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Mit Bescheid vom 10.10.2007 lehnte der Beklagte den Antrag auf Beschädigtenversorgung wegen eines Impfschadens ab. Nach dem ausführlichen Gutachten des Prof. Dr. H. unter Berücksichtigung neuester Untersuchungen ließen die vorliegenden Daten nach Meinung der maßgeblichen Institute weder eine Anerkennung eines ursächlichen Zusammenhangs noch dessen Ausschluss zu. Beim Kläger sei jedoch bereits eine akute Enzephalitis jedweder Ursache retrospektiv unwahrscheinlich. Für eine denkbare Enzephalopathie habe sich in einer kürzlich veröffentlichten Fall-Kontroll-Studie kein Zusammenhang zu einer MMR-Impfung gefunden.
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Mit dem Widerspruch trug der Kläger vor, er sei trotz psychomotorischer Vorschädigung mit M.-V. geimpft worden. Diese Vorschädigung sei im Alter von vier bis sieben Monaten im Zusammenhang mit mehreren vorangegangenen Mehrfachimpfungen aufgetreten. Der erste Krampfanfall in Form von Unruhe, unstillbarem schrillen Schreien und Nachtschlaf (?) sei innerhalb der Inkubationszeit der Masern von sieben bis 14 Tagen aufgetreten und vom Epilepsiezentrum K. als erste epileptische Anfallsform bewertet worden. Er wünsche eine Nutzen-Lasten-Analyse als Voraussetzung für eine Impfempfehlung als Grundlage für die Bemessung des Wahrscheinlichkeitsgrades. Entgegen der Ansicht des Gutachters sei er nach dem 30./31.01.1999 nicht in einem ordentlichen Gesundheitszustand gewesen. Es sei herrschende wissenschaftliche Lehrmeinung, dass Masernimpfviren im Gehirn der Beweis für eine Impfschädigung seien. Der Gutachter verkenne den Beginn des Krampfleidens am 9./10. Tag nach der Impfung. Die von ihm unterstellte Gastroenteritis ohne Dokumentation von Durchfall, Fieber etc. führe nicht zu psychomotorischem Entwicklungsrückstand, Krampfleiden und Autismus. Er habe sich nicht dazu verhalten, dass nach der Liquor-Diagnostik bei ihm trotz Impfung kein ausreichender Schutz gegen Mumps, Röteln und Pertussis bestehe. Er verkenne die Gefährlichkeit von Neomycin. Nach allgemein bekannter medizinisch-wissenschaftlicher Lehrmeinung komme es in seltenen Fällen (1:1 Million Impfungen) zu Meningoenzephalitis, Enzephalopathien und schweren neurologischen Störungen.
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In der versorgungsärztliche Stellungnahme vom 15.01.2008 führte Ärztin L. aus, bereits im 1. Schritt sei beim Kläger nicht in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang eine Enzephalitis wahrscheinlich zu machen. Die Indizien hierfür seien nicht ausreichend. Die Erscheinungen der durchschrieenen Nacht seien nicht erste Krampfanfälle gewesen. Diese seien erst Monate später in Form von Blinzelanfällen aufgetreten. Auch der zeitliche Zusammenhang zwischen der durchschrieenen Nacht und dem Beginn von Schluckstörungen, Grimassierungen und Zuckungen im Gesicht liege nach den vorliegenden Unterlagen bei mindestens drei bis vier Monaten und nicht – wie nunmehr behauptet – bei knapp vier Wochen. Eine Immundefizienz sei beim Kläger nicht diagnostiziert worden, vielmehr zeige sein Maserntiter Immunkompetenz. Daher sei nicht von einer Einschlusskörperchen-Enzephalits auszugehen, die nur bei Immundefizienten vorkomme. Dass eine Enzephalitis nicht ausgeschlossen sei, berechtige nicht zur Annahme der Wahrscheinlichkeit. Der vom Gutachter angeführte ordentliche Gesundheitszustand des Klägers im Anschluss an den geschilderten Zustand am 30./31.01.1999 erkläre sich daraus, dass die Eltern als erfahrene Eltern den Kläger in der Folge nicht beim Kinderarzt vorgestellt hätten. Dabei sei zu berücksichtigen, dass eine Enzephalitis ein schweres Krankheitsbild sei, einhergehend mit Fieber, Bewusstseinstrübung und Apathie, anhaltend über einen gewissen Zeitraum, sicher mehrere Tage. Im 2. Schritt sei zu fragen, ob Enzephalitiden im Zusammenhang mit MMR-Impfungen vorkämen. Die allgemeine wissenschaftliche Lehrmeinung gehe davon aus, dass diese zumindest so selten seien, dass sie die Zahl der Spontanerkrankungen nicht überstiegen. Bisher sei in keinem Fall ein Kausalzusammenhang nachgewiesen. Da beim Kläger aber bereits die erste Voraussetzung fehle, müsse über die zweite Frage nicht entschieden werden.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 30.01.2008 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.
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Der Kläger hat hiergegen am 28.02.2008 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben und – wie auch im weiteren Verfahrensverlauf - umfangreiche Unterlagen und Stellungnahmen NichtVerfahrensbeteiligter zum Thema Impfschaden vorgelegt. Insoweit wird auf die SG-Akte (3 Bände) verwiesen. Das SG hat die Mutter des Klägers in nichtöffentlicher Sitzung am 24.07.2009 befragt und die Schwester des Klägers, K. S. sowie die Nachbarin C. K. als Zeuginnen vernommen. Die Mutter hat angegeben, der Kläger habe in der Nacht vom 30.01.1999 Schreianfälle gehabt. Er sei unnatürlich gekrümmt und überstreckt gewesen, mit nach vorn gestrecktem Bauch. Dieser Zustand habe eine Stunde angehalten. Sie hätten eine Darmkolik vermutet. Nach ca. einer Stunde sei er in Tiefschlaf gefallen und sei auch am nächsten Tag total erledigt und schlaff gewesen. Auch am nächsten Tag, am 01.02. sei er apathisch gewesen. Von Januar bis Juni habe er nur laufen können, wenn er sich an der Wand festgehalten habe. Dann seien die Auffälligkeiten mit den Augenlidern hinzugekommen. Eines Tages sei er umgefallen. Die Situation sei immer schlimmer geworden. In den nächsten Jahren seien immer wieder Schreiattacken aufgetreten, aber nie so eindrücklich wie beim ersten Mal. Ab April sei das Augenliderblinzeln mit den Schluckvorgängen aufgetreten. Beim Schlucken habe er mit den Augen geblinzelt und Absencen gezeigt. Auf Befragen, warum sie keinen Notarzt geholt habe, hat sie angegeben, er habe nicht auf Ansprache reagiert, sei aber nicht bewusstlos gewesen. Sie seien von einer Magenkolik ausgegangen, hätten Tee bereitet, den er allerdings nicht getrunken habe. Irgendwann habe er mehrfach gerülpst und gepupst und sich anschließend beruhigt. Frei gelaufen sei er das erste Mal am 07.06.1999. Ab Weihnachten 1998 habe er sich aufrichten und mit Hilfe von Gegenständen, an denen er sich festgehalten habe, fortbewegt. Über die motorische Entwicklung hätten sie sich keine Gedanken gemacht. Bei der Impfung im April 1999 hätten sie den Arzt nicht auf die Vorfälle angesprochen, weil sie keinen Zusammenhang mit der Impfung gesehen hätten. Nach einem Zeckenbiss im Mai 1999 sei die Zecke vom Arzt entfernt worden. Die Zeuginnen S. und K. haben die Angaben über das Schreien in der Nacht vom 30. auf den 31.01.1999 bestätigt.
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Das SG hat die behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. Die Kinderärztin K. hat in ihrer Auskunft vom 28.08.2009 angegeben, am 04.12.1998 sei der Kläger mit einem fieberhaften Infekt mit Rhinobronchitis, nächtlicher Unruhe und vermehrtem Krümmen behandelt worden. Der Abdomen sei bei der Untersuchung unauffällig gewesen. Am 26.05.1999 sei eine Zecke entfernt worden. Am 16.06.1999 sei ein fieberhafter Infekt mit Infektion am linken Zeigefinger behandelt worden, am 06.07.1999 ein Virusinfekt mit Begleitexanthem. Bei der U 6 am 14.10.1998 sei eine leichte motorische Retardierung gefunden worden. Im Zeitraum von vier Wochen nach der Impfung vom 21.01.1999 sei keine Vorstellung erfolgt, die nächste Vorstellung sei am 12.04.1999 wegen weiterer Impfungen gewesen. Bei der U 7 am 04.10.1999 sei eine Retardierung aufgefallen. Am 02.11.1999 sei der Kläger vorgestellt worden, weil es beim Laufen immer wieder zu plötzlichem Fallen oder Zusammenzucken ohne äußeren Anlass gekommen sei, ca. 5x/Tag. Daraufhin sei die Überweisung an das Epilepsiezentrum K. erfolgt. Der Homöopath B., der den Kläger von 2004 bis 2007 behandelt hat, hat in seiner Auskunft angegeben, der Kläger sei bereits nach den ersten Mehrfachimpfungen und vor der MMR-Impfung auffällig gewesen. Die MMR-Impfung habe „das Fass zum Überlaufen“ gebracht. Andere Ursachen als die Impfgifte der vorangegangen Impfungen und die MMR-Impfung schieden aus.
28 
Das SG hat Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Leiter des Epilepsiezentrums M., Prof. Dr. N., mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Dieser hat sein Gutachten vom 24.05.2011 erstattet und auf Einwendungen des Klägers zwei ergänzende Stellungnahmen vom 23.01.2012 und 15.10.2012 abgegeben. Diagnostisch sprächen die erhobenen Befunde für eine epileptische Enzephalopathie in Form einer myoklonisch-astatischen Epilepsie. Nach den geschilderten Symptomen der Nacht vom 30. auf den 31.01.1999 mit schrillem Schreien, Agitiertheit, dann Schläfrigkeit, Grimassieren und unsicherem Gangbild könnte nach der reinen Beschreibung durch Mutter und Schwester eine milde Enzephalitis vorgelegen haben. Allerdings seien die Symptome nicht ärztlich dokumentiert, die Beschreibung durch Laien sei unzulänglich und könne zu falschen Schlüssen führen. Eine das jetzige Krankheitsbild erklärende Enzephalitis sei jedoch wenig wahrscheinlich. Die Episode habe nur kurz gedauert und sei ohne ärztliche Intervention ausgeheilt. Biologisch sei nicht plausibel, dass ein solches Ereignis im akuten Stadium so blande verlaufe, dass offensichtlich kein Bedarf für ärztliche Konsultation gesehen werde, andererseits aber einen so schweren dauerhaften neurologischen Schaden nach sich ziehe wie beim Kläger. Im MRT seien später keine Narben festgestellt worden, die eine Hirnschädigung im Rahmen eines putativen enzephalitischen Geschehens erkennen ließen. Narben nach einer Hirnentzündung ließen sich fast immer dauerhaft in einem MRT nachweisen, wenn sie einmal entstanden seien. Alle großen epidemiologischen Studien zeigten, dass ein Zusammenhang von Impfung und schweren neurologischen Defektzuständen unwahrscheinlich sei. Durch eine Studie mit zwei Millionen geimpften Kindern sei nachgewiesen worden, dass neurologische Schäden nach MMR-Impfung nicht häufiger aufgetreten seien als bei der nicht geimpften Kontrollgruppe. Eine Studie mit Patienten, bei denen eine Impfenzephalopathie diagnostiziert worden sei, habe ergeben, dass bei über 90 % als andere Ursache eine Mutation des Natriumkanalgen gefunden worden sei. Eine weitere Studie habe gezeigt, dass eine Impfung eine vorbestehende Enzephalopathie in Form eines Dravet-Syndroms nicht verschlechtere. Beim Kläger müsse zudem in Betracht gezogen werden, dass bereits vorher eine psychomotorische Retardierung und Koordinationsstörung bestanden habe. Diese hätten sich aber durch die Impfung nicht verschlimmert. Eher wahrscheinlich sei, dass sich die Anfälle im Rahmen der schon bestandenen neurologischen Auffälligkeiten auch ohne Impfung manifestiert hätten.
29 
In seiner ergänzenden Stellungnahme hat Prof. Dr. N. darauf hingewiesen, dass das in den klägerischen Einwendungen angeführte Lennox-Gastaut-Syndrom nicht einschlägig und von ihm nicht angeführt worden sei. Die Ansicht des Klägers, ein kindliches Gehirn könne auf Entzündungen nicht reagieren, deshalb seien keine Entzündungszeichen zu erkennen, werde auf einen einzelnen, 40 Jahre alten Artikel gestützt, und treffe nicht zu. Auch bei einem kindlichen Gehirn seien Zeichen einer Entzündung zu erkennen. Die zitierten Artikel „bedeutender Neurologen“ seien nicht reproduzierbar, stammten aus den 30er und 50er Jahren und beträfen zum Teil Pocken. Das Zitat von B., wonach trotz anscheinend milden Verlaufs große Teile des Gehirns zerstört seien, sei nicht einschlägig, da beim Kläger keine Zerstörung des Gehirn vorliege, sondern nur eine leichte Erweiterung der Liquorräume. Bei keinem der in der großen, aktuellen Studie von Weibel et al aus 75 Millionen identifizierten 48 Fällen, bei denen eine Impfenzephalopathie angenommen worden sei, sei ein blander Beginn mit einem symptomfreien Intervall beobachtet worden. Ein so langes Intervall wie beim Kläger, nämlich zwei Monate, sei biologisch für eine Enzephalopathie unplausibel. Das später auffällige EEG und das später leicht auffällige Kernspin könnten nicht als Argumente herangezogen werden, da zeitnah nach dem 30.01.1999 keine entsprechende Diagnostik erfolgt sei. Das Ereignis vom 30./31.01.1999 könne nicht als Ursache oder Beginn der Enzephalopathie bewertet werden, weil die Anfälle erst mehrere Wochen später aufgetreten seien. Die Untersuchung der Nervenwasserflüssigkeit habe weder eine Erhöhung von Entzündungszellen noch einen Nachweis spezifischer Antikörper gegen Masern gezeigt. Damit sei eine Reaktion des Immunsystems im Zentralnervensystem gegen Masern als Marker einer zentralnervösen Immunreaktion nicht nachzuweisen. Der Maserntiter im Serum zeige nur den Impfschutz. Die beim Kläger dokumentierte psychomotorische Retardierung mit Koordinationsstörung sei Zeichen einer Erkrankung des Zentralnervensystems, die allein für sich den weiteren Erkrankungsverlauf mit Beginn einer epileptischen Enzephalopathie erkläre. Da es unmittelbar nach der Impfung zu keinen persistierenden neurologischen Symptomen gekommen sei, sondern die Anfälle erst schleichend einige Wochen nach der Impfung begonnen hätten, sei von einem zufälligen und darüber hinaus sehr weiten zeitlichen Zusammenhang auszugehen.
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Das SG hat in der mündlichen Verhandlung am 28.02.2013 nochmals die Mutter des Klägers einvernommen. Diese hat angegeben, sie habe ab ca. Frühjahr 1999 den Eindruck gehabt, ein quasi verändertes Kind zu haben, insbesondere in Bezug auf die gezeigten Unruhezustände.
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Das SG hat die Klage mit Urteil vom selben Tage abgewiesen. Die beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen seien nicht mit Wahrscheinlichkeit rechtlich wesentlich auf die Impfung am 21.01.1999 zurückzuführen. Das Gericht folge den Darlegungen des Prof. Dr. N.. Nach den Befunden bei der U 3 und den folgenden Untersuchungen hätten bereits deutlich vor der Impfung Anhaltspunkte für die Entwicklung eines neurologischen Krankheitsbildes bestanden, die für sich genommen keinen Krankheitswert gehabt hätten, aber ohne weiteres in Zusammenhang mit der später aufgetretenen Erkrankung des Zentralnervensystems zu bringen seien. Hinsichtlich des Ereignisses vom 30./31.01.1999 gehe das Gericht davon aus, dass ein in gewissem Umfang auffälliges Verhalten vorgelegen habe. Festzuhalten sei aber, dass die Eltern weder am 30./31.01. noch in der Folgezeit bis zum Auftreten der Blinzelanfälle im April 1999 Anlass gesehen hätten, einen Arzt aufzusuchen und dass das fragliche Ereignis weder bei der Anamneseerhebung im Epilepsiezentrum K. noch in der Uni-Klinik F. erwähnt sei, sondern erstmals 2006 aktenkundig geworden sei. Daher gehe das Gericht in Übereinstimmung mit dem neurologischen Sachverständigen davon aus, dass sich aus diesem Verhalten keine Hinweise auf ein akutes neurologisches Krankheitsgeschehen von Dauercharakter ergeben hätten. Aus der laienhaften Schilderung, zumal mehrere Jahre nach dem fraglichen Ereignis, ließen sich ohne ärztliche Befunde keine gesicherten neurologischen Diagnosen ableiten. Auch aus den Laboruntersuchungen im April 2000 hätten keine Anhaltspunkte für ein neurologisches Geschehen mit Zusammenhang zur MMR-Impfung gewonnen werden können. Der Sachverständige habe unter Bezugnahme auf den aktuellen Forschungsstand überzeugend dargelegt, dass es keine medizinisch-wissenschaftlichen Studien gebe, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Masernimpfung und einem enzephalopathischen bzw. enzephalitischen Geschehen nahelegten.
32 
Gegen das über seine Bevollmächtigten am 06.03.2013 zugestellte Urteil hat der Kläger am 03.04.2013 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung greift er das Gutachten des Prof. Dr. N. an, insbesondere weil dieser keine wissenschaftlich evidenzbasierte Nutzen-Lasten-Analyse vorgenommen habe, was nach BSG-Rechtsprechung (Urteil vom 20.07.2005 – B 9/9a VJ 2/04 R) erforderlich sei. Weder aus der U 3 noch den nachfolgenden Untersuchungen hätten sich vor der Impfung bestehende Schäden ergeben. Bereits im Bericht der Uni-Klinik F. vom 21.12.2001 (und nicht erst 2006) sei dokumentiert, dass nach Angabe der Eltern der Beginn der epileptischen Symptomologie etwa im Alter von 15 bis 16 Monaten eingetreten sei, als der Kläger nachts zunehmend unruhiger geworden sei. Dies beweise, dass die Krampfsymptomatik im Jahr 1999 bereits 2001 und nicht erst 2006 berichtet worden sei. Die vorgenommene Beweislastverteilung zu seinen Lasten widerspreche verfassungsrechtlichen Grundsätzen. Die Rechtsprechung des BSG zu Impfschäden verfehle den verfassungsrechtlich gebotenen Ansatz. Geboten sei eine generelle Umkehr der Beweislast. Er hat umfangreiche Unterlagen zu Impfschäden allgemein vorgelegt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Senatsakte (2 Bände) sowie einen Auszug aus der ihm und seine Geschwister betreffenden Kinderarztkartei verwiesen. Über seine neue Bevollmächtigte hat er vorgetragen, vor der Impfung habe bei ihm die familientypische Normvariante in der motorischen Entwicklung bestanden, keinesfalls eine erhebliche Vorschädigung. In den auf den 30./31.01.1999 folgenden Tagen und Wochen seien folgende Symptome aufgetreten: plötzliche Gangunsicherheiten, tapsiges Laufen, manchmal Stolpern, manchmal Einknicken mit den Knien, extreme Schläfrigkeit, apathischer leerer Blick, Teilnahmslosigkeit, auffallende Müdigkeit; Schreckhaftigkeit, entsetztes Schauen mit großen Augen; Grimassen-Schneiden, Mundzuckungen; komisches Schmatzen; Nesteln mit beiden Fingern in Brusthöhe vor dem Lätzchen; Innehalten mit den Augen und dem Gesicht. Die Mutter habe den Eindruck gehabt, er verstehe nicht mehr, was sie wolle. Er habe seit ca. einer Woche nach der Impfung - im Gegensatz zu der Zeit vor der Impfung - keine Nacht mehr durchgeschlafen. Vor der Impfung habe er einen gesegneten Appetit gehabt, ab ca. einer Woche nach der Impfung - und damit in einem für einen Impfschaden nach Masernimpfung typischen Abstand - habe er die geschilderten Verhaltensauffälligkeiten gezeigt. Vor der Impfung hätten alle den Eindruck gehabt, er stehe kurz vor dem freien Laufen. Nach der ersten schrecklichen Schreiattacke mit deutlichen neurologischen Ausfallerscheinungen sei er auch gestützt und habe an der Hand geführt nicht mehr laufen können. Dem kleinen Körper habe die notwendige Spannung gefehlt, er sei immer wieder hingefallen und habe sich bei den Stürzen verletzt. Die Akutereignisse vom 30./31.01.1999 müssten rückblickend als erste durch die streitgegenständliche Impfung getriggerte epileptische Anfälle beurteilt werden, weil trotz umfangreichster Differentialdiagnostik keine andere Ursache als die streitgegenständliche Impfung für die schwere Entwicklungsretardierung mit Epilepsie gefunden worden sei. Ab Anfang Februar 1999 sei die Entwicklung für ca. 3,5 Monate stillgestanden. Er habe vorhandene Fähigkeiten verloren. Dieser Entwicklungsknick sei ein wichtiges Indiz für eine Impfenzephalitis bzw. Impfenzephalopathie. Die Parallelitätsregel, wonach schwere Schäden des zentralen Nervensystems nur nach schweren deutlich erkennbaren Krankheitserscheinungen zu erwarten seien, sei wissenschaftlich umstritten. Es bedürfe keiner Enzephalitis oder Enzephalopathie, um einen Impfschaden anzuerkennen. Es bedürfe lediglich eines impfbedingten Krampfanfalls im Sinne einer Erstmanifestation des determinierten Anfallsleidens. Dies habe am 30./31.01.1999 vorgelegen. Hilfsweise sei auch die Kann-Versorgung gegeben.
33 
Die neue Bevollmächtigte hat darauf hingewiesen, dass sie bereits 40 Jahre schwerpunktmäßig mit Impfschäden befasst sei und bereits mehrere Masernimpfschäden rechtskräftig zur Anerkennung und Versorgung gebracht habe.
34 
Mit Schriftsatz vom 02.04.2015 hat der Kläger vorgetragen, die Zulassungsunterlagen für den in den USA hergestellten Impfstoff M. der Firma M. seien manipuliert worden, in den USA seien deshalb Klageverfahren anhängig. Die vorgelegte Klageschrift betreffe den Mumpsimpfstoff und behaupte, dass die Effektivität des Mumpsimpfstoffs unter den für die Zulassung erforderlichen 95 % liege. Der bei ihm vorliegende Autismus sei wissenschaftlich begründet Folge der Intoxikation mit den Inhaltsstoffen Thiomersal und Aluminiumhydroxid in den vorhergehenden und den nach der MMR-Impfung erfolgten Mehrfachimpfungen. Die Serologie mit dem erhöhten Maserntiter, der fehlenden Mumpsimmunität und der fraglichen Rötelnimmunität zeige eine Irritation des kindlichen Immunsystems, es sei denn, dies sei durch manipulierte Nutzenanalysen zu erklären. Der Befund aus dem Kernspin seines Kopfes vom April 2000 entspreche dem aus einem amerikanischen Fall (B. B. v. S. o. t. D. o. H. a. H. S.), in dem 16 Tage nach einer MMR-Impfung Anfälle aufgetreten seien, die zu einer notärztlichen Behandlung geführt hätten.
35 
Der Kläger beantragt,
36 
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 28. Februar 2013 und den Bescheid vom 10. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2008 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm eine myoklonisch-astatische Epilepsie mit atypischem Autismus als Folge der Masern-Impfung mit M.-V. am 21. Januar 1999 festzustellen und ihm Beschädigtenversorgung nach dem Infektionsschutzgesetz, hilfsweise als Kann-Versorgung, zu gewähren,
37 
weiter hilfsweise,
38 
die Mutter des Klägers zu den Akutereignissen nach der streitgegenständlichen Masernimpfung zu vernehmen und zu vereidigen,
die Gutachter Prof. Dr. N. und Dr. H. zur Erläuterung ihrer Gutachten mündlich anzuhören,
zur Diagnosestellung (normale Impfreaktion oder Impfkrankheit) ein Obergutachten bei Prof. Dr. D. sowie ein epileptisches Obergutachten einzuholen,
eine Richteranfrage beim Bundessozialgericht, wenn notwendig, beim Großen Senat und beim Bundesverfassungsgericht zu stellen zur Klärung folgender grundsätzlicher Rechtsfragen:
39 
1) Ist die aktuelle Beweislastverteilung im SGG/BSeuchG/IfSG haltbar und kann die Rechtskonformität und das faire Verfahren (Art 6 EMRK in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 MRK) damit gewährleistet werden ?
40 
2) Sind die Impfstoffe betreffenden Ausnahmeregelungen im AMG und AMNOG verfassungsrechtlich hinsichtlich Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz haltbar oder verstoßen sie gegen den Grundsatz der Gewährleistung der Unverletzlichkeit der Person ?
41 
weiter hilfsweise, die Revision zuzulassen.
42 
Der Beklagte beantragt,
43 
die Berufung zurückzuweisen.
44 
Er hält das angegriffene Urteil für richtig.
45 
Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat Dr. H. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. In seinem medizinisch-wissenschaftlichen Gutachten vom 15.12.2014 legt Dr. H. dar, dass nur 5 – 10 % der bei Kindern und Jugendlichen auftretenden Epilepsien vererbt seien. Die bei weitem überwiegende Ursache seien angeborene oder erworbene Hirnschädigungen, also symptomatische Epilepsien. Weitaus am häufigsten seien schädigende Einflüsse, die das Gehirn in seiner Entwicklung träfen, also vor oder während der Geburt oder während der ersten Lebensjahre. Bei Kindern und Jugendlichen spielten Hirnfehlbildungen, vorübergehender starker Sauerstoffmangel (z. B. bei der Geburt) und angeborene Stoffwechselstörungen eine besondere Rolle. Hirnverletzungen durch Unfälle, Infektionen, Entzündungen, Hirntumoren und Durchblutungsstörungen könnten in jedem Alter zu epileptischen Anfällen führen. Wichtig sei, dass in der ganz überwiegenden Zahl der symptomatischen Epilepsien kein fortschreitendes Hirnleiden bestehe, sondern dass die „Narbe“ einer längst abgelaufenen Hirnschädigung für das Auftreten der Anfälle verantwortlich sei. Trotz aller Diagnostik gelinge es bis heute nur in 25 % der Fälle von Epilepsie bei Kindern und Jugendlichen, die Ursache zu finden.
46 
Nach heutigem Kenntnisstand sei an der Entstehung eine Kombination aus genetischer Veranlagung und äußeren Schädigungsmechanismen zu einem ganz bestimmten vulnerablen Zeitpunkt beteiligt. Eine Zuordnung zu einer speziellen genetischen Veränderung sei für die myoklonisch-astatische Epilepsie bislang nicht bekannt. Impfungen seien als Ursache von Störungen der Hirnentwicklung schon lange in der Diskussion. Einzelfallberichte von Entzündungen des Gehirns seien immer wieder berichtet und zum Teil in der wissenschaftlichen Literatur veröffentlicht worden, auch betreffend die MMR-Lebendimpfungen.
47 
Beim Kläger sei die Entwicklung vor der Impfserie unauffällig verlaufen. Er sei ein „Spätentwickler“ wie seine Geschwister. Angeschuldigt sei nur die Impfung am 21.01.1999, die vorher und z. T. nachher verabreichten Impfungen hätten keinen erkennbaren Effekt auf die Erkrankung und deren Verlauf gehabt.
48 
Die häufigsten Nebenwirkungen nach Verabreichung von M.-V. seien Fieber und Reaktionen an der Injektionsstelle einschließlich Schmerz, Schwellung und Rötung. Als Erkrankungen des Nervensystems würde über afebrile Krämpfe oder Anfälle, Ataxie, Schwindel, Enzephalitis, Enzephalopathie, Fieberkrämpfe (bei Kindern), Guillain-Barre´-Syndrom, Kopfschmerzen, Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis (MIBE), Augenmuskellähmungen, Optikusneuritis, Parästhesien, Polyneuritis, Polyneuropathie, Retrobulärneuritis und Synkopen berichtet. In der Fachinformation werde darauf hingewiesen, dass pro drei Millionen verabreichter Dosen ein Fall von Enzephalitis und Enzephalopathie, ausgenommen subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE), berichtet worden sei. Postmarketing-Beobachtungen von mehr als 400 Millionen verkauften Impfdosen über einen Zeitraum von 25 Jahren (1978 bis 2003) wiesen darauf hin, dass schwerwiegenden Nebenwirkungen wie Enzephalitis und Enzephalopathie auch weiterhin nur selten beobachtet werden könnten. In keinem Fall sei schlüssig nachgewiesen worden, dass die Nebenwirkungen tatsächlich durch die Impfung verursacht worden seien, einige Fälle seien jedoch möglicherweise durch Masern-Impfstoffe hervorgerufen.
49 
Dass die MMR-Impfung Enzephalitiden verursachen könne, sei mittlerweile wissenschaftlicher Erkenntnisstand. Die Erkrankung werde nicht durch Virusbefall des Gehirns, sondern durch eine autoimmune Fehlreaktion des Immunsystems verursacht, derselbe Pathomechanismus wie bei der Masern-Enzephalitis bei der Maserninfektion, die allerdings bei einem Fall von ca. 1000 Erkrankten auftrete. Diese seien korrekt als akute disseminierte Enzephalo-Myelitis (ADEM) zu bezeichnen. Dies sei eine hyperergische Reaktion der zerebralen Gefäßwände und des umgebenden Nervengewebes mit Übertritt von Flüssigkeit ins Gehirn und einer Entzündung. Die Liquor-Untersuchung ergebe meist eine leichte Erhöhung der Zellzahl (lymphozytäre Pleozytose) und eine geringe Eiweißerhöhung, könne aber auch normal sein. Das MRT des Gehirns zeige im akuten Stadium meist mono- oder multifokale entzündliche Herde. Akute MRT-Veränderung könnten nach wenigen Wochen nicht mehr nachweisbar sein.
50 
Es seien auch schleichende klinische Verläufe beobachtet worden, deren Häufigkeit schwer abschätzbar sei, da viele (die meisten ?) dieser Fälle nicht als Impfkomplikationen erkannt würden. Die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit“ bemerkten hierzu, die postvakzinale Enzephalopathie (bzw. Enzephalitis) gehe nicht immer mit ausgeprägten derartigen Symptomen einher; sie könne auch symptomarm (aber nicht symptomlos!) verlaufen und werde dann als „blande Enzephalopathie“ bezeichnet. Wenn eine solche Enzephalopathie zur Frage stehe, sei eine genaue Feststellung der Krankheitserscheinungen und Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Apathie, abnorme Schläfrigkeit, Nahrungsverweigerung, Erbrechen); die während der Inkubationszeit nach der Impfung vorgelegen hätten und eine eingehende Ermittlung und Würdigung des weiteren Verlaufs notwendig. Dabei sei vor allem zu prüfen, ob auf einen Entwicklungsknick (deutlicher Entwicklungsstillstand, Verlust bereits erworbener Fähigkeiten) im Anschluss an die Impfung geschlossen werden könne oder ob eine Progredienz von hirnorganischen Störungen zu erkennen sei. Bei einem Impfschaden sei eine solche Progredienz nicht zu erwarten, wenn nicht hirnorganische Anfälle den Hirnschaden mitbestimmten. Überdies müsse beachtet werden, dass in der Regel eine Parallelität zwischen dem Schweregrad des Symptombildes der postvakzinalen Enzephalopathie (bzw. Enzephalitis) und dem Ausmaß der Folgen bestehe; nach einer symptomarmen Enzephalopathie sei nicht mit einem sehr schweren Hirnschaden zu rechnen.
51 
Nach Masern-Impfungen träten ADEM-Erkrankungen seltener auf als nach Wildinfekten, man gehe von einer Häufigkeit von 1 – 2 ADEM-Fällen pro Million Masern-Impfdosen aus. In der größten veröffentlichten Fallserie zu ADEM im Kindesalter seien 84 ADEM-Fälle untersucht worden. Als Auslöser seien in 10 Fällen Impfungen angegeben worden, davon in 7 die Masern-Impfung (in den anderen 3 die Pertussis-Impfung). Aus eigenen Untersuchungen sei ihm (dem Sachverständigen) das seltenen Auftreten einer ADEM nach Masern-Impfung bekannt. Das P.-E.-Institut habe aktuell den Fallbericht eines Kindes veröffentlicht, bei dem wenige Tage nach MMR-Impfung afebrile Krampfanfälle im Sinne einer ADEM aufgetreten seien und bei dem das Masern-Impfvirus in Serum, Urin und Rachen habe nachgewiesen werden können.
52 
Nach Rawlins und Thompson könnten die unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) in zwei Klassen eingeteilt werden. Die Typ A-Reaktionen seien häufige, meist lokale Reaktionen, häufig und in den Studien vor Marktzulassung erfasst. Die Typ B-Reaktionen seien gänzlich unerwartet, dosisunabhängig, relativ selten, oft schwer verlaufend und eventuell mit persistierenden Schäden oder letalem Ausgang. Dies sei die ADEM-Erkrankung nach MMR-Impfung. Typ B-Reaktionen würden aufgrund ihrer Seltenheit meist nicht in klinischen Studien vor Zulassung des Impfstoffs erkannt, sondern nur nach breiter, millionenfacher Anwendung. Oft dauere es lange und sei mit wissenschaftlichen Kontroversen verbunden bis eine Arzneimittelkomplikation als solche erkannt werde, wie im Fall Contergan. Man benötige Erfassungssysteme, die möglichst zuverlässig seltene Ereignisse im zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen registrierten.
53 
Auffallen könnten nur echte Ereignisse. Ein solches eindrückliches Ereignis habe im Fall des Klägers in der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1999 mit deutlichen Anzeichen einer schweren Erkrankung vorgelegen. Allerdings sei auch hier keine Verdachtsfallmeldung erfolgt. Erst nachdem die akute und vermutlich lebensbedrohliche Phase etwas abgeklungen sei, hätten sich Hinweise auf eine Hirnentwicklungsstörung im veränderten Verhalten und den zunehmenden motorischen Problemen ergeben, seien aber von den Eltern und dem Kinderarzt nicht als Impfkomplikation bewertet worden. Die Schädigung durch eine abgelaufene Enzephalitis sei oft erst Wochen bis Monate später in vollem Umfang erkennbar.
54 
Beim Kläger sei nach bis dahin unauffälliger Entwicklung 10 Tage nach der MMR-Impfung ein dramatisches Ereignis während der Nacht aufgetreten: schrilles Schreien, Überstrecken des Körpers, reduzierter Bewusstseinszustand. Dieser Zustand habe über Stunden angehalten, dann sei der Kläger eingeschlafen, wobei in der Folgezeit durchaus weiterhin Auffälligkeiten des Verhaltens bestanden hätten. Diese klinische Beschreibung sei durchaus typisch für eine ADEM-Erkrankung, das zeitliche Intervall von 10 Tagen typisch für eine postvakzinale ADEM nach Masern-Impfung. Die Defizite des Klägers seien zunehmend auffällig geworden. Die sprachliche und motorische Entwicklung sei weiter verzögert, obwohl durchaus auch Fortschritte der Entwicklung aufgetreten seien. Solche Entwicklungsfortschritte nach überstandener ADEM-Erkrankung seien nicht ungewöhnlich, da die Erkrankung nicht progredient sei, sondern monophasisch verlaufe und sich Funktionen des Gehirns wieder entwickeln könnten. Im Verlauf habe sich allerdings eine schwer zu behandelnde myoklonisch astatische Epilepsie entwickelt. Diese habe ihrerseits Schädigungen der Hirnentwicklung zur Folge, beim Kläger manifestiert als autistische Störung.
55 
Die Abweichung zum Vorgutachten des Prof. Dr. H. bestehe darin, dass dieser im Widerspruch zu den Berichten über eine Wesensveränderung und fortbestehende Auffälligkeiten annehme, der Kläger sei nach den Vorkommnissen in der Nacht zum 31. Januar 1999 tagsüber in einem so guten Zustand gewesen, dass eine Enzephalitis eher unwahrscheinlich sei.
56 
Die Differenz zum Gutachten von Prof. Dr. N. bestehe darin, dass dieser die Episode für die Diagnose einer Enzephalitis für zu kurz, zumal ohne ärztliche Intervention ausgeheilt, halte. Er habe damit nicht berücksichtigt, dass es nicht zur vollständigen Wiederherstellung gekommen sei. Warum initial keine Vorstellung beim Kinderarzt erfolgt sei, könne nicht beantwortet werden. Hinsichtlich der von Prof. Dr. N. angeführten Genmutationen sei zu bemerken, dass diese einen Auslöser bräuchten, um zu einer Krankheit zu führen, weil viele Träger der Mutation nicht erkrankten. Das Argument, eine Enzephalitis hinterlasse fast immer Narben, auf dem MRT beim Kläger seien keine erkennbar, greife nicht, weil die zugrunde liegende Studie 14 Fälle einer Herpes simplex-Enzephalopathie betroffen habe, die durch direkten viralen Befall des Gehirns entstehe und kein autoimmun-entzündliches Geschehen wie die ADEM darstelle. Die Studie sage damit nichts über ADEM.
57 
Im Ergebnis sei es beim Kläger in der Folge der am 21.01.1999 durchgeführten MMR-Impfung in typischem Zeitabstand zu einer über das übliche Maß hinausgehenden Impfreaktion gekommen, die mit Wahrscheinlichkeit eine autoimmun-entzündliche Komplikation auf die im Impfstoff enthaltene Masern-Impfung im Sinne einer ADEM-Erkrankung, in deren Folge sich frühkindliche Epilepsie manifestiert habe, darstelle. Beim Kläger liege ein therapieresistentes frühkindliches Anfallsleiden (myoklonisch-astatische Epilepsie) vor, das mit der geforderten Wahrscheinlichkeit durch die MMR-Impfung mit folgender ADEM ausgelöst worden sei. Das Krampfleiden im weiteren Verlauf habe eine schwere Entwicklungsstörung des Gehirns mit einer autistischen Symptomatik und deutlicher Störung der Hirnfunktion verursacht.
58 
Der Beklagte ist dem Gutachten mit der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. G. vom 20.01.2015 entgegengetreten. Der Diagnose einer ADEM-Erkrankung könne nicht gefolgt werden. Diese sei ein üblicherweise monophasisch verlaufendes subakutes enzephalopathisches Syndrom, oftmals mit Bewusstseinsstörungen, meningitischem Syndrom und multifokalen neurologischen Defiziten; typischerweise mit großen konfluierenden Herden in der Bildgebung des Hirns und mit Liquorzellzahlerhöhung. Neben der anamnestischen Beschreibung zu der Symptomatik am 30./31.01.1999, etwa 10 Tage nach der Impfung, seien jedoch keine objektivierbaren Befunde dokumentiert, die retrospektiv eine ADEM wahrscheinlich machten. Eine kinder-/notärztliche Vorstellung aufgrund der Symptomatik am 30./31.01 1999 sei nicht erfolgt, ärztlich sei das klinische Erscheinungsbild nicht dokumentiert. Das erst am 11.04.2000 durchgeführte Kernspin des Kopfes habe unspezifische Veränderungen gezeigt (diskrete Erweiterung der Liquorräume) und keine narbigen Residuen nach (größerflächigen) Läsionen. Die ebenfalls erst im weiteren Verlauf durchgeführte Nervenwasseruntersuchung habe weder eine Erhöhung von Entzündungszellen noch einen Nachweis spezifischer Antikörper gegen Masern gezeigt. Eine neuroimmunologische Reaktion im zentralen Nervensystem sei damit nicht nachgewiesen. Bei dieser Befundlage sei eine ADEM ca. 10 Tage nach der Impfung zwar nicht gänzlich auszuschließen, jedoch nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit anzunehmen.
59 
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen, die Beschädigtenakte, die Schwerbehindertenakte und die SG-Akte zu S 5 P 4695/07 verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
60 
Die nach den §§ 151, 143, 144 SGG form- und fristgerecht eingelegte sowie statthafte Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
61 
Rechtsgrundlage für den vom Kläger in zulässiger Weise mit einer kombinierten Anfechtungs-, Feststellungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 17.07.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4-3200 § 81 Nr. 5) geltend gemachten Anspruch auf Feststellung der myoklonisch-astatischen Epilepsie mit atypischem Autismus als Folge einer Impfung sowie auf Gewährung von Versorgungsleistungen ist § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen oder auf Grund des IfSG angeordnet wurde oder gesetzlich vorgeschrieben war oder auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), wer durch diese Maßnahme eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Gemäß § 2 Nr. 11 IfSG ist ein Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.
62 
Unter weiterer Berücksichtigung der im Sozialen Entschädigungsrecht und mithin auch im Bereich des IfSG geltenden allgemeinen Grundsätze bedarf es für die vom Kläger begehrte Feststellung somit der folgenden Voraussetzungen (vgl. dazu auch Urteile des Senats vom 21.02.2013 - L 6 VJ 4771/12 - und vom 20.06.2013 - L 6 VJ 599/13):
63 
Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfolgte Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (hierzu und zum Folgenden BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R, terminologisch anders noch die Rechtsprechung des BSG nach dem Bundesseuchengesetz, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde, so z. B. BSGE 60, 58, 59).
64 
Die Schutzimpfung muss nach der im Sozialen Entschädigungsrecht allgemein geltenden Kausa-litätstheorie von der wesentlichen Bedingung wesentliche Ursache für den Eintritt der Impfkomplikation und diese wesentliche Ursache für die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, den Impfschaden, sein. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist.
65 
Die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog. Vollbeweis - feststehen. Allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge reicht der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit aus (§ 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (BSGE 60, 58). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.
66 
Alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, sind auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten, auch wenn ein bestimmter Vorgang unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat (BSG SozR 3-3850 § 52 Nr. 1 S. 3).
67 
Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im Sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales [BMAS]) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog. antizipierte Sachverständigengutachten (siehe nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr. 9). Die AHP sind in den Bereichen des Sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen (2005 bis 2008) unter den Nrn. 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr. 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr. 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben. Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen bei Schutzimpfungen in Nr. 57 AHP 2005 sind Ende 2006 allerdings aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats „Versorgungsmedizin“ beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden:
68 
„Die beim R.-K.-Institut eingerichtete Ständige Impfkommission (STIKO) entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Standard der Wissenschaft dar.
69 
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr. 11 IfSG und Nr. 56 Absatz 1 der Anhaltspunkte) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kann-Versorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von § 60 IfSG durchzuführen. Siehe hierzu auch Nr. 35 - 52 (S. 145 - 169) der Anhaltspunkte.“
70 
Die seit dem 1. Januar 2009 an die Stelle der AHP getretene Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes anders als die AHP keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern enthält, sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten, genutzt werden müssen (BSG, Urteil vom 07.04.2011 - a. a. O.).
71 
Ausgehend hiervon war die beim Kläger am 21.01.1999 durchgeführte MMR-Impfung zunächst eine öffentlich empfohlene Impfung, denn sie entsprach den Empfehlungen der STIKO. Streitgegenständlich ist allein die Verursachung der Schädigung durch den Masern-Impfstoff, weil – wie bereits im SG-Verfahren - nur die Feststellung beantragt ist, dass die Masernimpfung zur Schädigung des Klägers geführt hat. Soweit im Schriftsatz vom 02.04.2015 eine Schädigung durch die vorangegangene und die nachfolgende Mehrfachimpfung im Hinblick auf die Zusatzstoffe Thiomersal und Aluminiumhydroxid geltend gemacht wird, waren diese weiteren Impfungen nicht Gegenstand des Verwaltungsverfahrens. Die genannten Inhaltsstoffe sind nach der Fachinformation in der hier streitgegenständlichen MMR-Impfung nicht enthalten.
72 
Beim Kläger liegt eine myoklonisch-astatische Epilepsie mit schwerer kognitiver Retardierung und atypischem Autismus vor. Dies entnimmt der Senat den insoweit übereinstimmenden Gutachten des Prof. Dr. N. und Dr. H. sowie den Berichten des Epilepsiezentrums K. und der Uni-Klinik F..
73 
In Auswertung der Befundunterlagen und der beiden im Klage- und Berufungsverfahren erstatteten Gutachten sowie des im Wege des Urkundsbeweises verwerteten Gutachtens des Prof. Dr. H. im Verwaltungsverfahren unter Berücksichtigung der Angaben der Mutter des Klägers im gesamten Verfahren besteht zur Überzeugung des Senats kein wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen der Impfung des Klägers mit M.-V. und der später aufgetretenen myoklonisch-astatischen Epilepsie mit atypischem Autismus. Demgegenüber konnte das abweichende Gutachten von Dr. H., dass sich allein auf das Ereignis im Januar 1999 sowie eine nicht im Vollbeweis gesicherte Erkrankung einer ADEM stützt, nicht überzeugen.
74 
Die Epilepsie muss, um Impffolge in Form einer fehlgeleiteten Immunreaktion sein zu können, durch eine stattgehabte Erkrankung des Gehirns in Form einer Enzephalitis oder Enzephalopathie, auch in Form der ADEM, hervorgerufen worden sein. Entgegen der Ansicht des Klägers im Schriftsatz vom 29.09.2014 genügt ein Krampfanfall im Sinne einer Erstmanifestation eines Anfallsleidens nicht, um einen ursächlichen Zusammenhang zu belegen. Ursache der Epilepsie ist nämlich in jedem Fall eine Hirnschädigung, sei sie angeboren oder erworben, bei letzterem durch Unfälle, Infektionen, Entzündungen, Hirntumore und Durchblutungsstörungen. Dies hat auch zuletzt Dr. H. in seinem Gutachten so dargestellt.
75 
Die plausible Pathophysiologie setzt vorliegend voraus, dass infolge der Impfung nachvollziehbar eine Hirnschädigung eingetreten ist, die zur Epilepsie führen konnte. Dies ist vorliegend nicht der Fall, auch wenn es generell denkbar ist, dass ein Autoimmun-Prozess durch die Impfung mit Lebendimpfstoff ebenso wie die Infektion mit dem Wildvirus eine entzündliche Gehirnerkrankung auslöst, die zu Epilepsie führt, was nach Studienlage mit 1:1 Million jedoch ein außerordentlich seltenes Geschehen ist. Hinweise für ein solches Geschehen zeigen sich beim Kläger allerdings weder durch einen Nachweis im Nervenwasser noch in Form von Narben im MRT als Zeichen größerer Läsionen. Die einzigen im MRT dokumentierten Veränderungen sind geringfügig erweiterte Liquorräume.
76 
Andere Ursachen der Erkrankung sind trotz umfangreicher Diagnostik nicht gefunden worden. Diesem Gesichtspunkt kommt aber angesichts des Umstands, dass nur in 25 % der Fälle von Epilepsie bei Kindern und Jugendlichen eine Ursache gefunden wird, worauf auch Dr. H. in seinem Gutachten hingewiesen hat, keine herausragende Bedeutung zu. Dass eine andere Ursache der klägerischen Erkrankung nicht gefunden wurde, führt auch nicht dazu, dass unterstellt werden muss, dass die streitige Impfung zu der Erkrankung geführt hat. Eine solche (negative) Beweisregel, wonach die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zwischen einem Ereignis und einer Gesundheitsschädigung nur deshalb anzunehmen ist, weil ein anderer Ursachenzusammenhang mit anderen Ereignissen oder Einwirkungen nicht zu finden ist, ist im Sozialrecht jedoch nicht anerkannt (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 11.12.2013 - L 7 VE 11/11 - Breithaupt 2014, S. 659)
77 
Zur Überzeugung des Senats fehlt es vorliegend nämlich an einem plausiblen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Auftreten der Erkrankung. Die Sachverständigen im gerichtlichen Verfahren und der Gutachter im Verwaltungsverfahren haben übereinstimmend bekundet, dass eine Typ B-Impfreaktion auf Masernimpfstoff ca. 10 Tage nach der Impfung eintreten muss. Angesichts der am 21.01.1999 durchgeführten Impfung ist somit eine Manifestation der Erkrankung Ende Januar 1999 erforderlich. Ärztliche Befunde über diesen Zeitraum existieren nicht, da kein Arzt konsultiert wurde. Der Kläger hat im Zusammenhang mit der Antragstellung auf Beschädigtenversorgung lediglich ein Ereignis in der Nacht vom 30.01. auf den 31.01.1999 geschildert. Die zunächst geschilderten Symptome schrilles Schreien und Überstrecken des Bauches mögen zwar auf Krämpfe hindeuten, sind aber nicht so schwerwiegend wie bei einer lebensgefährlichen Erkrankung zu erwarten. Zu Recht hat der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. N., der spezialisiert auf Epilepsieerkrankungen besonders kompetent in dieser Fragestellung ist, darauf verwiesen, dass kindliche neurologische Symptome komplexe Erscheinungsformen darstellen, die Beschreibung durch Laien deswegen unzulänglich ist und falsche Schlüsse nach sich ziehen kann. Überdies sind die berichteten Symptome keineswegs spezifisch, sondern können auch mit anderen fieberhaften Krankheiten oder mit krampfartigen Schmerzen verbundenen Zuständen wie einer Gastroenteritis auftreten, was der Senat dem Gutachten des Prof. Dr. H. entnimmt, und was im Übrigen auch zunächst die Vermutung der Eltern war. Des Weiteren hat Prof. Dr. N. ergänzt, dass die Episode nur sehr kurz war und ohne ärztliche Intervention ausheilte. Etwas anderes gilt hinsichtlich der erstmals im Berufungsverfahren durch eine neue Bevollmächtigte des Klägers behaupteten Symptome Apathie und Bewusstseinstrübung, die der Senat seiner Bewertung jedoch nicht zugrunde legt. Die Mutter des Klägers hat diese nämlich weder im Verfahrensverlauf angegeben, insbesondere nicht im Rahmen ihrer ausführlichen Befragung in der ersten mündlichen Verhandlung vor dem SG, noch zeitnah einem Arzt berichtet, obwohl dazu Anlass bestanden hätte. Zu der vor dem SG vorgetragenen, nicht sehr erheblichen Symptomatik passt, dass die Eltern keinen Notarzt gerufen haben, weil sie zunächst eine Gastroenteritis angenommen haben und auch in den folgenden Tagen keinen Arzt aufgesucht haben. Auch litt der Kläger nach den Angaben der Kinderärztin bereits vor der Impfung am 04.12.1998 unter nächtlicher Unruhe und vermehrtem Krümmen.
78 
Prof. Dr. N. hat für den Senat überzeugend dargelegt, dass die Schwere der Schädigung der Schwere der Erkrankung entspricht und angesichts relativ alltäglicher Symptome am 30.01./31.01.1999 nicht von einer an diesem Tag durchlebten schweren Gehirnerkrankung auszugehen ist. Denn bei der Enzephalitis handelt es sich um ein schweres Krankheitsbild, das mit schweren Allgemeinerscheinungen wie Fieber, Bewusstseinseintrübung und Apathie einhergeht, die Krankheitssymptome halten über mehrere Tage an und werden auch von dem insoweit erfahrenen Praktiker Prof. Dr. N. als sehr bedrohliches Ereignis eingestuft. Gegen eine schwere Erkrankung am 30./31.01.1999 spricht zudem, dass sich zunächst eine symptomlose Zeit anschloss. Erst im Oktober fiel bei der U 7 eine deutliche Retardierung auf. Soweit im Klageverfahren auffälliges Verhalten bereits nahtlos im Anschluss an die Nacht vom 30.01.1999 vorgetragen wird, überzeugt dies den Senat nicht. Der Kläger ist nämlich trotz Schilderung auffälliger neurologischer Symptomatik in der Folge nicht einem Kinderarzt vorgestellt worden, aber im April, Mai und Juni aus anderen Anlässen beim Kinderarzt gewesen, nämlich zu einer weiteren Impfung im April, wegen einem Zeckenbiss im Mai und einer Infektion am Finger im Juni, ohne dass die Kinderärztin Auffälligkeiten notiert oder die Mutter von solchen berichtet hat. Insbesondere aus Anlass der Impfung im April musste die Kinderärztin den Kläger untersuchen, um festzustellen, ob Impfhindernisse vorliegen, speziell akute Erkrankungen. Die Erklärung der Mutter des Klägers, sie habe die Auffälligkeiten nicht angesprochen, weil man seinerzeit noch keinen Zusammenhang zu der Impfung im Januar gesehen habe, überzeugt nicht, denn bei Vorliegen schwerer Symptome hätte unabhängig von der Kausalitätsbeurteilung ein Bedarf bestanden, einen Grund für das angeblich vollkommen veränderte Verhalten und das Keine-Nacht-mehr-Durchschlafen zu finden. Damit erscheint das Vorliegen schwerer neurologischer Auffälligkeiten nicht wahrscheinlich. Bei einem klinischen Bild wie zuletzt geschildert hätten die Eltern den Kläger bereits zeitnah im Februar einem Arzt vorgestellt und dem Kinderarzt wäre dies bei den stattgehabten Besuchen im April, Mai und Juni aufgefallen.
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Selbst wenn es sich um eine (allenfalls sehr milde) Enzephalitis zum Zeitpunkt des 30/31.01.1999 gehandelt hätte, so war der Kläger in den nächsten Tagen und Wochen nach dem Ereignis und vor Beginn der ersten, dann kleinsten Anfälle klinisch unauffällig, so dass jedenfalls nicht von einer weiter bestehenden Enzephalopathie, sondern von einem „symptomfreien Intervall“ ausgegangen werden muss, was Prof. Dr. N. für den Senat überzeugend herausgearbeitet hat. Der Kläger verlor nicht, wie jetzt behauptet, im Anschluss an den 30.01.1999 bereits erworbene Fähigkeiten und es trat auch kein Entwicklungsknick ein, was insbesondere Prof. Dr. H. für den Senat überzeugend dargelegt hat, vielmehr nur eine mäßige Entwicklungsverzögerung. Ein solcher wäre aber bei einer schweren Hirnerkrankung, die er zu dieser Zeit durchlebt haben soll, zu erwarten gewesen. Vielmehr lernte der Kläger sogar im Juni 1999 frei laufen und war somit ohne Zweifel in der Lage den „Meilenstein der Entwicklung“ zu tun. Die gegenteilige Behauptung, man habe erwartet, dass er nach Weihnachten 1998 zeitnah das freie Laufen lernen würde, begründet keinen Entwicklungsknick und steht im Übrigen im Widerspruch zum sonstigen Vorbringen, wonach die Eltern die motorische Entwicklung des Klägers als normal empfanden, weil seine Geschwister ebenfalls Spätentwickler gewesen seien und sich normal weiter entwickelt hätten. Das ebenfalls vorgetragene Argument, er habe nach dem 30.01.1999 nicht mehr laufen können, belegt angesichts der ohnehin leicht retardierten Entwicklung, die sich bereits bei der U 6 im Oktober 1998 gezeigt hatte, und dem Umstand, dass der Kläger im Januar 1999 noch nicht laufen konnte, keinen Einbruch in der Entwicklung.
80 
Ein plausibler zeitlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Erkrankung ist damit nicht gegeben, weil für den fraglichen Zeitpunkt keine entsprechenden ärztlichen Befunde vorliegen und die einzigen glaubhaft geschilderten Symptome einen Zusammenhang nicht begründen. Damit folgt der Senat den Gutachten des Prof. Dr. N. und des Prof. Dr. H.. Die abweichende Meinung von Dr. H. gründet darauf, dass er eine viel schwerere Symptomatik, nämlich die zuletzt geschilderte, als gegeben annimmt, wobei er selbst einräumt, es könne nicht beantwortet werden, warum dann initial keine Vorstellung beim Kinderarzt erfolgt sei, was letztlich seiner Argumentation die Plausibilität entzieht.
81 
Des Weiteren ist die Liquor-Serologie negativ, was ebenfalls nicht für eine durchgemachte Masern-Hirnentzündung spricht. Auch wenn die Aussagekraft dieser Liquor-Serologie nach Aussage von Prof. Dr. H. begrenzt ist, so war darüber hinaus auch das MRT negativ und es ließen sich keine Narben, die auf eine Hirnschädigung hindeuten, erkennen. Darauf hat insbesondere der Sachverständige Prof. Dr. N. hingewiesen, der im weiteren Verlauf in Auswertung der insoweit allein relevanten neuesten Datenlage, die in Impfschadensfällen der Entscheidung zugrunde zu legen ist, dargelegt hat, dass auch das frühkindliche Hirn entzündliche Erkrankungen des Gehirns mit nachweisbarer Narbenbildung und/oder Nervenwasserflüssigkeiten aufweisen kann, die aber beim Kläger fehlten. Dr. G. hat daher in seiner zuletzt vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahme zu Recht darauf verwiesen, dass Dr. H. nicht beachtet hat, dass es am Nachweis einer neuroimmunologischen Reaktion im zentralen Nervensystem beim Kläger fehlt.
82 
Der hohe Titer im Serum ist lediglich auf den Impfschutz gegenüber Masern zurückzuführen, also eine durch die Impfung gewollte Reaktion, und beweist keinesfalls einen kausalen Zusammenhang. Die von Klägerseite zitierte Divertatia ist nicht belegt, worauf Prof. Dr. N. zur Recht hinweist.
83 
Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus dem im Verfahren mehrfach angeführten BSG-Urteil vom 20.07.2005 (B 9/9a VJ 1/07 R), in dem das BSG entschieden hat, dass ein Anspruch nur aus einer Impfung mit einem zugelassenen Impfstoff folgen kann. Die vom Kläger angeführte, im Urteil erwähnte Nutzen-Lastenanalyse ist allein Teil des strengen Zulassungsverfahrens für Impfstoffe, aber nicht maßgebend für die hier streitige Frage der Kausalität.
84 
Schließlich ergibt sich aus den vom Kläger zuletzt vorgelegten Unterlagen nichts Anderes, insbesondere betrifft der Fall des an ADEM erkrankten amerikanischen Klägers eine vom vorliegenden Sachverhalt abweichende Konstellation, nämlich eine zeitnahe Erstmanifestation einer neurologischen Erkrankung und gibt somit keinerlei Anhaltspunkte für eine abweichende Entscheidung.
85 
Es besteht auch kein Anspruch auf die hilfsweise beantragte Kann-Versorgung. Gemäß § 61 Satz 2 IfSG kann ein Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde anerkannt werden, wenn die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einer über das übliche Maß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung und einem dauerhaften Gesundheitsschaden nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht.
86 
Die Regelung entspricht der des § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG, so dass die dafür entwickelten Grundsätze auch für § 61 Satz 2 IfSG gelten (so Meßling in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, § 61 IfSG Rdnr. 21). Die wesentlichen rechtlichen Maßstäbe zur richtigen Anwendung der Kann-Bestimmung ergeben sich seit dem 1. Januar 2009 aus Teil C Nr. 4b der Anlage zu § 2 VersMedV (siehe oben). Danach ist eine Kann-Versorgung zu prüfen, wenn über die Ätiologie und Pathogenese des als Schädigungsfolge geltend gemachten Leidens keine durch Forschung und Erfahrung genügend gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Auffassung herrscht und entsprechend die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen für die Entstehung oder den Verlauf des Leidens nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden kann. In diesen Fällen ist die Kann-Versorgung zu gewähren, wenn ein ursächlicher Einfluss des geltend gemachten schädigenden Tatbestandes in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen wird (Teil C Nr. 4b bb).
87 
Dabei reicht die allein theoretische Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs nicht aus (vgl. zum Folgenden Urteil des Senats vom 13.12.2012 - L 6 VJ 1702/12 - Juris; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.11.2011 - L 4 VJ 2/10 - Juris). Denn die Verwaltung ist nicht ermächtigt, bei allen Krankheiten ungewisser Genese immer die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs - die so gut wie nie widerlegt werden kann - ausreichen zu lassen (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.1993 - 9/9a RV 41/92 - SozR 3-3200 § 81 Nr. 9 m.w.N.). Es genügt nicht, wenn ein Arzt oder auch mehrere Ärzte einen Ursachenzusammenhang nur behaupten. Vielmehr ist es erforderlich, dass diese Behauptung medizinisch-biologisch nachvollziehbar begründet und durch wissenschaftliche Fakten, in der Regel statistische Erhebungen (vgl. BSG, Urteil vom 12.12.1995 - 9 RV 17/94 - SozR 3-3200 § 81 Nr. 13), untermauert ist. Die Fakten müssen - in Abgrenzung zu den Voraussetzungen der Pflichtversorgung - zwar (noch) nicht so beschaffen sein, dass sie bereits die überwiegende medizinische Fachwelt überzeugen. Die niedrigere Schwelle zur Kann-Versorgung ist daher bereits dann überschritten, wenn die vorgelegte Begründung einschließlich der diese belegenden Fakten mehr als die einfache Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs belegt (vgl. BSG, Urteil vom 12.12.1995 - SozR 3-3200 § 81 Nr. 13, sowie Urteil vom 17.07.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4-3200 § 81 Nr. 5) und damit zumindest einen eingeschränkten Personenkreis der Fachmediziner überzeugt ("Mindermeinung"). In seiner ständigen Rechtsprechung hat das BSG diesen Maßstab auf die „gute Möglichkeit“ eingeschränkt (BSG, Urteil vom 17.07.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4 - 3200 § 81 Nr. 5).
88 
Die abweichende Bewertung durch Dr. H. belegt nicht im Sinne einer fachwissenschaftlichen Mindermeinung mehr als die einfache Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs. Sie beruht auf der durch die Befundlage nicht gestützten Annahme, dass der Kläger in der Nacht zum 31.01.1999 eine ADEM-Erkrankung durchgemacht hat, und der Beurteilung des plausiblen Zusammenhangs zwischen der Impfung und der angenommenen Gehirnerkrankung am 30.01.1999 allein aufgrund der zuletzt vom Kläger vorgetragenen Symptome einer lebensgefährlichen Erkrankung in zeitlicher Nähe zur Impfung, ohne dieses auf der Grundlage des vorangegangenen Vorbringens und der (fehlenden) ärztlichen Befunde kritisch zu hinterfragen. Dies begründet nicht die für eine Kann-Versorgung erforderliche gute Möglichkeit eines Ursachenzusammenhanges.
89 
Den in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsanträgen war nicht stattzugeben. Der Senat konnte in der Sache entscheiden, ohne die beiden Sachverständigen erneut zu hören, den Kläger ein weiteres Mal begutachten zu lassen oder die Mutter erneut zu befragen und sie danach zu vereidigen; er hat deswegen die darauf gerichteten Beweisanträge des Klägers abgelehnt.
90 
Die Mutter war als gesetzliche Vertreterin des Klägers nicht erneut zu befragen und danach zu vereidigen, denn die Parteivernehmung stellt im sozialgerichtlichen Verfahren kein Mittel der Sachaufklärung dar, mit dem ein Vollbeweis für eine behauptete Tatsache erbracht werden könnte. Dies ergibt sich daraus, dass § 118 Abs. 1 SGG nicht auf die Bestimmungen der §§ 445 ff. ZPO, die die Parteivernehmung regeln, verweist. Die Parteivernehmung stellt damit nach herrschender Meinung in der Literatur (z. B. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, Kommentar zum SGG, 11. Aufl 2014, § 118, Rn. 8) und Rechtsprechung (z. B. BSG, Urteile vom 28.11.2007, B 11a/7a AL 14/07 R und vom 03.06.2004, B 11 AL 71/03 R - Juris) im sozialgerichtlichen Verfahren kein förmliches Beweismittel und somit kein Mittel der Sachaufklärung dar. Im Übrigen liegen dem Senat bereits ihre mehrfachen Aussagen vor, die er bei seiner Entscheidung berücksichtigt hat. Eine eidliche Parteivernehmung ist im sozialgerichtlichen Verfahren unzulässig (BSG, Beschluss vom 13.12.2005 - B 13 RJ 247/05 B – Juris).
91 
Dem Hilfsantrag, von Amts wegen Prof. Dr. N. und Dr. H. zur Erläuterung ihrer Gutachten zu laden, war nicht stattzugeben, weil Art. 103 Abs. 1 GG keinen Anspruch darauf gewährt, das Fragerecht gegenüber Sachverständigen in jedem Fall mündlich auszuüben (vgl. BVerfG vom 29.05.2013 - 1 BvR 1522/12 - Juris; vgl. auch BVerfG vom 17.01.2012 - 1 BvR 2728/10 - NJW 2012, 1346, Juris m.w.N.). Es ist auch nicht erkennbar, dass eine mündliche Befragung einen über die Wiederholung schriftlicher Äußerungen hinausreichenden Mehrwert hätte (so zuletzt BSG, Beschluss vom 10.12.2013 - B 13 R 198/13 B - Juris). Beide Sachverständige haben sich umfassend und Prof. Dr. N. sogar mehrmals geäußert. Welche Fragen den beiden Ärzten gestellt werden sollen oder wo noch Aufklärungsbedarf gesehen wird, hat der Kläger nicht dargelegt. Es entspricht dann dem Beweisrecht, dass das Gericht nicht verpflichtet ist, einem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens oder Anhörung des behandelnden Arztes zum Beweis einer bestimmten Tatsache beliebig oft nachzukommen (zuletzt Urteil des Senats vom 27.03.2014 - L 6 U 4001/13 - unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 15.04.1991 - 5 RJ 32/90 - Juris). Es müssen zwar keine Fragen formuliert werden, sondern es reicht vielmehr aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr. 1). Daran fehlt es aber vorliegend, denn die Notwendigkeit einer Erörterung hat der Kläger überhaupt nicht begründet (BSG, Beschluss vom 25.04.2013 – B 13 R 29/12 B – Juris). Der Senat vermochte keine Notwendigkeit zu erkennen, weitere Ermittlungen durchzuführen, da der entscheidungserhebliche Sachverhalt hinreichend geklärt ist.
92 
Der weitere Hilfsantrag auf Einholung eines Obergutachtens war abzulehnen, weil die Würdigung widerstreitender Gutachtenergebnisse oder unterschiedlicher ärztlicher Auffassungen wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung selbst gehört. Eine Verpflichtung zur Einholung eines sogenannten Obergutachtens besteht auch bei einander widersprechenden Gutachtensergebnissen im Allgemeinen nicht; vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 128 RdNr 7d, 7e mwN). Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen. Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum (BSG, Beschluss vom 01.04.2014 - B 9 V 54/13 B - Juris). Dies gilt umso mehr, als ein weiteres epileptologisches Obergutachten schon deswegen nicht erforderlich ist, da Prof. Dr. N. als Leiter des Epilepsiezentrums M. über Sachkunde auf diesem Fachgebiet verfügt. Gründe für eine Ausnahme sind hier nicht dargelegt. Liegen bereits mehrere Gutachten (oder fachkundige Angaben) vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten (oder fachkundigen Angaben) grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr. 3). Derartige Umstände hat der Kläger nicht vorgetragen und sind auch für den Senat nicht ersichtlich.
93 
Eine Richtervorlage gemäß Art 100 GG war nicht vorzunehmen, weil der Senat die anzuwendenden Vorschriften für verfassungsgemäß hält, insbesondere eine generelle Beweislastumkehr, wie sie der Kläger fordert, vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsgebetes (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht zwingend (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.07.1979 - BVerfGE 52, 131) und im Impfschadensrecht noch nicht einmal erforderlich ist. Vielmehr beinhaltet der Maßstab der geforderten Wahrscheinlichkeit ohnehin eine abgesenkte Beweislast und ermöglicht dem Betroffenen in einer Vielzahl von Fällen, wie auch dem Senat aus seiner Praxis bekannt, die Anerkennung einer Schädigungsfolge zumal das Verfahren ohnehin vom Amtsermittlungsgrundsatz geprägt ist. Die zweite Rechtsfrage betrifft das generelle Zulassungsverfahren der Impfstoffe und ist vorliegend nicht entscheidungserheblich, weil es sich unstreitig um eine öffentlich empfohlene Impfung und nicht die Verwendung eines nicht zugelassenen Impfstoffs handelt. Eine Richtervorlage an das Bundessozialgericht ist gesetzlich nicht vorgesehen.
94 
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
95 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
96 
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG. Der Antrag war daher abzulehnen.

Gründe

 
60 
Die nach den §§ 151, 143, 144 SGG form- und fristgerecht eingelegte sowie statthafte Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
61 
Rechtsgrundlage für den vom Kläger in zulässiger Weise mit einer kombinierten Anfechtungs-, Feststellungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 17.07.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4-3200 § 81 Nr. 5) geltend gemachten Anspruch auf Feststellung der myoklonisch-astatischen Epilepsie mit atypischem Autismus als Folge einer Impfung sowie auf Gewährung von Versorgungsleistungen ist § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen oder auf Grund des IfSG angeordnet wurde oder gesetzlich vorgeschrieben war oder auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), wer durch diese Maßnahme eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Gemäß § 2 Nr. 11 IfSG ist ein Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.
62 
Unter weiterer Berücksichtigung der im Sozialen Entschädigungsrecht und mithin auch im Bereich des IfSG geltenden allgemeinen Grundsätze bedarf es für die vom Kläger begehrte Feststellung somit der folgenden Voraussetzungen (vgl. dazu auch Urteile des Senats vom 21.02.2013 - L 6 VJ 4771/12 - und vom 20.06.2013 - L 6 VJ 599/13):
63 
Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfolgte Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (hierzu und zum Folgenden BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R, terminologisch anders noch die Rechtsprechung des BSG nach dem Bundesseuchengesetz, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde, so z. B. BSGE 60, 58, 59).
64 
Die Schutzimpfung muss nach der im Sozialen Entschädigungsrecht allgemein geltenden Kausa-litätstheorie von der wesentlichen Bedingung wesentliche Ursache für den Eintritt der Impfkomplikation und diese wesentliche Ursache für die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, den Impfschaden, sein. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist.
65 
Die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog. Vollbeweis - feststehen. Allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge reicht der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit aus (§ 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (BSGE 60, 58). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.
66 
Alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, sind auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten, auch wenn ein bestimmter Vorgang unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat (BSG SozR 3-3850 § 52 Nr. 1 S. 3).
67 
Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im Sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales [BMAS]) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog. antizipierte Sachverständigengutachten (siehe nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr. 9). Die AHP sind in den Bereichen des Sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen (2005 bis 2008) unter den Nrn. 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr. 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr. 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben. Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen bei Schutzimpfungen in Nr. 57 AHP 2005 sind Ende 2006 allerdings aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats „Versorgungsmedizin“ beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden:
68 
„Die beim R.-K.-Institut eingerichtete Ständige Impfkommission (STIKO) entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Standard der Wissenschaft dar.
69 
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr. 11 IfSG und Nr. 56 Absatz 1 der Anhaltspunkte) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kann-Versorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von § 60 IfSG durchzuführen. Siehe hierzu auch Nr. 35 - 52 (S. 145 - 169) der Anhaltspunkte.“
70 
Die seit dem 1. Januar 2009 an die Stelle der AHP getretene Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes anders als die AHP keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern enthält, sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten, genutzt werden müssen (BSG, Urteil vom 07.04.2011 - a. a. O.).
71 
Ausgehend hiervon war die beim Kläger am 21.01.1999 durchgeführte MMR-Impfung zunächst eine öffentlich empfohlene Impfung, denn sie entsprach den Empfehlungen der STIKO. Streitgegenständlich ist allein die Verursachung der Schädigung durch den Masern-Impfstoff, weil – wie bereits im SG-Verfahren - nur die Feststellung beantragt ist, dass die Masernimpfung zur Schädigung des Klägers geführt hat. Soweit im Schriftsatz vom 02.04.2015 eine Schädigung durch die vorangegangene und die nachfolgende Mehrfachimpfung im Hinblick auf die Zusatzstoffe Thiomersal und Aluminiumhydroxid geltend gemacht wird, waren diese weiteren Impfungen nicht Gegenstand des Verwaltungsverfahrens. Die genannten Inhaltsstoffe sind nach der Fachinformation in der hier streitgegenständlichen MMR-Impfung nicht enthalten.
72 
Beim Kläger liegt eine myoklonisch-astatische Epilepsie mit schwerer kognitiver Retardierung und atypischem Autismus vor. Dies entnimmt der Senat den insoweit übereinstimmenden Gutachten des Prof. Dr. N. und Dr. H. sowie den Berichten des Epilepsiezentrums K. und der Uni-Klinik F..
73 
In Auswertung der Befundunterlagen und der beiden im Klage- und Berufungsverfahren erstatteten Gutachten sowie des im Wege des Urkundsbeweises verwerteten Gutachtens des Prof. Dr. H. im Verwaltungsverfahren unter Berücksichtigung der Angaben der Mutter des Klägers im gesamten Verfahren besteht zur Überzeugung des Senats kein wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen der Impfung des Klägers mit M.-V. und der später aufgetretenen myoklonisch-astatischen Epilepsie mit atypischem Autismus. Demgegenüber konnte das abweichende Gutachten von Dr. H., dass sich allein auf das Ereignis im Januar 1999 sowie eine nicht im Vollbeweis gesicherte Erkrankung einer ADEM stützt, nicht überzeugen.
74 
Die Epilepsie muss, um Impffolge in Form einer fehlgeleiteten Immunreaktion sein zu können, durch eine stattgehabte Erkrankung des Gehirns in Form einer Enzephalitis oder Enzephalopathie, auch in Form der ADEM, hervorgerufen worden sein. Entgegen der Ansicht des Klägers im Schriftsatz vom 29.09.2014 genügt ein Krampfanfall im Sinne einer Erstmanifestation eines Anfallsleidens nicht, um einen ursächlichen Zusammenhang zu belegen. Ursache der Epilepsie ist nämlich in jedem Fall eine Hirnschädigung, sei sie angeboren oder erworben, bei letzterem durch Unfälle, Infektionen, Entzündungen, Hirntumore und Durchblutungsstörungen. Dies hat auch zuletzt Dr. H. in seinem Gutachten so dargestellt.
75 
Die plausible Pathophysiologie setzt vorliegend voraus, dass infolge der Impfung nachvollziehbar eine Hirnschädigung eingetreten ist, die zur Epilepsie führen konnte. Dies ist vorliegend nicht der Fall, auch wenn es generell denkbar ist, dass ein Autoimmun-Prozess durch die Impfung mit Lebendimpfstoff ebenso wie die Infektion mit dem Wildvirus eine entzündliche Gehirnerkrankung auslöst, die zu Epilepsie führt, was nach Studienlage mit 1:1 Million jedoch ein außerordentlich seltenes Geschehen ist. Hinweise für ein solches Geschehen zeigen sich beim Kläger allerdings weder durch einen Nachweis im Nervenwasser noch in Form von Narben im MRT als Zeichen größerer Läsionen. Die einzigen im MRT dokumentierten Veränderungen sind geringfügig erweiterte Liquorräume.
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Andere Ursachen der Erkrankung sind trotz umfangreicher Diagnostik nicht gefunden worden. Diesem Gesichtspunkt kommt aber angesichts des Umstands, dass nur in 25 % der Fälle von Epilepsie bei Kindern und Jugendlichen eine Ursache gefunden wird, worauf auch Dr. H. in seinem Gutachten hingewiesen hat, keine herausragende Bedeutung zu. Dass eine andere Ursache der klägerischen Erkrankung nicht gefunden wurde, führt auch nicht dazu, dass unterstellt werden muss, dass die streitige Impfung zu der Erkrankung geführt hat. Eine solche (negative) Beweisregel, wonach die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zwischen einem Ereignis und einer Gesundheitsschädigung nur deshalb anzunehmen ist, weil ein anderer Ursachenzusammenhang mit anderen Ereignissen oder Einwirkungen nicht zu finden ist, ist im Sozialrecht jedoch nicht anerkannt (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 11.12.2013 - L 7 VE 11/11 - Breithaupt 2014, S. 659)
77 
Zur Überzeugung des Senats fehlt es vorliegend nämlich an einem plausiblen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Auftreten der Erkrankung. Die Sachverständigen im gerichtlichen Verfahren und der Gutachter im Verwaltungsverfahren haben übereinstimmend bekundet, dass eine Typ B-Impfreaktion auf Masernimpfstoff ca. 10 Tage nach der Impfung eintreten muss. Angesichts der am 21.01.1999 durchgeführten Impfung ist somit eine Manifestation der Erkrankung Ende Januar 1999 erforderlich. Ärztliche Befunde über diesen Zeitraum existieren nicht, da kein Arzt konsultiert wurde. Der Kläger hat im Zusammenhang mit der Antragstellung auf Beschädigtenversorgung lediglich ein Ereignis in der Nacht vom 30.01. auf den 31.01.1999 geschildert. Die zunächst geschilderten Symptome schrilles Schreien und Überstrecken des Bauches mögen zwar auf Krämpfe hindeuten, sind aber nicht so schwerwiegend wie bei einer lebensgefährlichen Erkrankung zu erwarten. Zu Recht hat der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. N., der spezialisiert auf Epilepsieerkrankungen besonders kompetent in dieser Fragestellung ist, darauf verwiesen, dass kindliche neurologische Symptome komplexe Erscheinungsformen darstellen, die Beschreibung durch Laien deswegen unzulänglich ist und falsche Schlüsse nach sich ziehen kann. Überdies sind die berichteten Symptome keineswegs spezifisch, sondern können auch mit anderen fieberhaften Krankheiten oder mit krampfartigen Schmerzen verbundenen Zuständen wie einer Gastroenteritis auftreten, was der Senat dem Gutachten des Prof. Dr. H. entnimmt, und was im Übrigen auch zunächst die Vermutung der Eltern war. Des Weiteren hat Prof. Dr. N. ergänzt, dass die Episode nur sehr kurz war und ohne ärztliche Intervention ausheilte. Etwas anderes gilt hinsichtlich der erstmals im Berufungsverfahren durch eine neue Bevollmächtigte des Klägers behaupteten Symptome Apathie und Bewusstseinstrübung, die der Senat seiner Bewertung jedoch nicht zugrunde legt. Die Mutter des Klägers hat diese nämlich weder im Verfahrensverlauf angegeben, insbesondere nicht im Rahmen ihrer ausführlichen Befragung in der ersten mündlichen Verhandlung vor dem SG, noch zeitnah einem Arzt berichtet, obwohl dazu Anlass bestanden hätte. Zu der vor dem SG vorgetragenen, nicht sehr erheblichen Symptomatik passt, dass die Eltern keinen Notarzt gerufen haben, weil sie zunächst eine Gastroenteritis angenommen haben und auch in den folgenden Tagen keinen Arzt aufgesucht haben. Auch litt der Kläger nach den Angaben der Kinderärztin bereits vor der Impfung am 04.12.1998 unter nächtlicher Unruhe und vermehrtem Krümmen.
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Prof. Dr. N. hat für den Senat überzeugend dargelegt, dass die Schwere der Schädigung der Schwere der Erkrankung entspricht und angesichts relativ alltäglicher Symptome am 30.01./31.01.1999 nicht von einer an diesem Tag durchlebten schweren Gehirnerkrankung auszugehen ist. Denn bei der Enzephalitis handelt es sich um ein schweres Krankheitsbild, das mit schweren Allgemeinerscheinungen wie Fieber, Bewusstseinseintrübung und Apathie einhergeht, die Krankheitssymptome halten über mehrere Tage an und werden auch von dem insoweit erfahrenen Praktiker Prof. Dr. N. als sehr bedrohliches Ereignis eingestuft. Gegen eine schwere Erkrankung am 30./31.01.1999 spricht zudem, dass sich zunächst eine symptomlose Zeit anschloss. Erst im Oktober fiel bei der U 7 eine deutliche Retardierung auf. Soweit im Klageverfahren auffälliges Verhalten bereits nahtlos im Anschluss an die Nacht vom 30.01.1999 vorgetragen wird, überzeugt dies den Senat nicht. Der Kläger ist nämlich trotz Schilderung auffälliger neurologischer Symptomatik in der Folge nicht einem Kinderarzt vorgestellt worden, aber im April, Mai und Juni aus anderen Anlässen beim Kinderarzt gewesen, nämlich zu einer weiteren Impfung im April, wegen einem Zeckenbiss im Mai und einer Infektion am Finger im Juni, ohne dass die Kinderärztin Auffälligkeiten notiert oder die Mutter von solchen berichtet hat. Insbesondere aus Anlass der Impfung im April musste die Kinderärztin den Kläger untersuchen, um festzustellen, ob Impfhindernisse vorliegen, speziell akute Erkrankungen. Die Erklärung der Mutter des Klägers, sie habe die Auffälligkeiten nicht angesprochen, weil man seinerzeit noch keinen Zusammenhang zu der Impfung im Januar gesehen habe, überzeugt nicht, denn bei Vorliegen schwerer Symptome hätte unabhängig von der Kausalitätsbeurteilung ein Bedarf bestanden, einen Grund für das angeblich vollkommen veränderte Verhalten und das Keine-Nacht-mehr-Durchschlafen zu finden. Damit erscheint das Vorliegen schwerer neurologischer Auffälligkeiten nicht wahrscheinlich. Bei einem klinischen Bild wie zuletzt geschildert hätten die Eltern den Kläger bereits zeitnah im Februar einem Arzt vorgestellt und dem Kinderarzt wäre dies bei den stattgehabten Besuchen im April, Mai und Juni aufgefallen.
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Selbst wenn es sich um eine (allenfalls sehr milde) Enzephalitis zum Zeitpunkt des 30/31.01.1999 gehandelt hätte, so war der Kläger in den nächsten Tagen und Wochen nach dem Ereignis und vor Beginn der ersten, dann kleinsten Anfälle klinisch unauffällig, so dass jedenfalls nicht von einer weiter bestehenden Enzephalopathie, sondern von einem „symptomfreien Intervall“ ausgegangen werden muss, was Prof. Dr. N. für den Senat überzeugend herausgearbeitet hat. Der Kläger verlor nicht, wie jetzt behauptet, im Anschluss an den 30.01.1999 bereits erworbene Fähigkeiten und es trat auch kein Entwicklungsknick ein, was insbesondere Prof. Dr. H. für den Senat überzeugend dargelegt hat, vielmehr nur eine mäßige Entwicklungsverzögerung. Ein solcher wäre aber bei einer schweren Hirnerkrankung, die er zu dieser Zeit durchlebt haben soll, zu erwarten gewesen. Vielmehr lernte der Kläger sogar im Juni 1999 frei laufen und war somit ohne Zweifel in der Lage den „Meilenstein der Entwicklung“ zu tun. Die gegenteilige Behauptung, man habe erwartet, dass er nach Weihnachten 1998 zeitnah das freie Laufen lernen würde, begründet keinen Entwicklungsknick und steht im Übrigen im Widerspruch zum sonstigen Vorbringen, wonach die Eltern die motorische Entwicklung des Klägers als normal empfanden, weil seine Geschwister ebenfalls Spätentwickler gewesen seien und sich normal weiter entwickelt hätten. Das ebenfalls vorgetragene Argument, er habe nach dem 30.01.1999 nicht mehr laufen können, belegt angesichts der ohnehin leicht retardierten Entwicklung, die sich bereits bei der U 6 im Oktober 1998 gezeigt hatte, und dem Umstand, dass der Kläger im Januar 1999 noch nicht laufen konnte, keinen Einbruch in der Entwicklung.
80 
Ein plausibler zeitlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Erkrankung ist damit nicht gegeben, weil für den fraglichen Zeitpunkt keine entsprechenden ärztlichen Befunde vorliegen und die einzigen glaubhaft geschilderten Symptome einen Zusammenhang nicht begründen. Damit folgt der Senat den Gutachten des Prof. Dr. N. und des Prof. Dr. H.. Die abweichende Meinung von Dr. H. gründet darauf, dass er eine viel schwerere Symptomatik, nämlich die zuletzt geschilderte, als gegeben annimmt, wobei er selbst einräumt, es könne nicht beantwortet werden, warum dann initial keine Vorstellung beim Kinderarzt erfolgt sei, was letztlich seiner Argumentation die Plausibilität entzieht.
81 
Des Weiteren ist die Liquor-Serologie negativ, was ebenfalls nicht für eine durchgemachte Masern-Hirnentzündung spricht. Auch wenn die Aussagekraft dieser Liquor-Serologie nach Aussage von Prof. Dr. H. begrenzt ist, so war darüber hinaus auch das MRT negativ und es ließen sich keine Narben, die auf eine Hirnschädigung hindeuten, erkennen. Darauf hat insbesondere der Sachverständige Prof. Dr. N. hingewiesen, der im weiteren Verlauf in Auswertung der insoweit allein relevanten neuesten Datenlage, die in Impfschadensfällen der Entscheidung zugrunde zu legen ist, dargelegt hat, dass auch das frühkindliche Hirn entzündliche Erkrankungen des Gehirns mit nachweisbarer Narbenbildung und/oder Nervenwasserflüssigkeiten aufweisen kann, die aber beim Kläger fehlten. Dr. G. hat daher in seiner zuletzt vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahme zu Recht darauf verwiesen, dass Dr. H. nicht beachtet hat, dass es am Nachweis einer neuroimmunologischen Reaktion im zentralen Nervensystem beim Kläger fehlt.
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Der hohe Titer im Serum ist lediglich auf den Impfschutz gegenüber Masern zurückzuführen, also eine durch die Impfung gewollte Reaktion, und beweist keinesfalls einen kausalen Zusammenhang. Die von Klägerseite zitierte Divertatia ist nicht belegt, worauf Prof. Dr. N. zur Recht hinweist.
83 
Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus dem im Verfahren mehrfach angeführten BSG-Urteil vom 20.07.2005 (B 9/9a VJ 1/07 R), in dem das BSG entschieden hat, dass ein Anspruch nur aus einer Impfung mit einem zugelassenen Impfstoff folgen kann. Die vom Kläger angeführte, im Urteil erwähnte Nutzen-Lastenanalyse ist allein Teil des strengen Zulassungsverfahrens für Impfstoffe, aber nicht maßgebend für die hier streitige Frage der Kausalität.
84 
Schließlich ergibt sich aus den vom Kläger zuletzt vorgelegten Unterlagen nichts Anderes, insbesondere betrifft der Fall des an ADEM erkrankten amerikanischen Klägers eine vom vorliegenden Sachverhalt abweichende Konstellation, nämlich eine zeitnahe Erstmanifestation einer neurologischen Erkrankung und gibt somit keinerlei Anhaltspunkte für eine abweichende Entscheidung.
85 
Es besteht auch kein Anspruch auf die hilfsweise beantragte Kann-Versorgung. Gemäß § 61 Satz 2 IfSG kann ein Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde anerkannt werden, wenn die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einer über das übliche Maß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung und einem dauerhaften Gesundheitsschaden nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht.
86 
Die Regelung entspricht der des § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG, so dass die dafür entwickelten Grundsätze auch für § 61 Satz 2 IfSG gelten (so Meßling in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, § 61 IfSG Rdnr. 21). Die wesentlichen rechtlichen Maßstäbe zur richtigen Anwendung der Kann-Bestimmung ergeben sich seit dem 1. Januar 2009 aus Teil C Nr. 4b der Anlage zu § 2 VersMedV (siehe oben). Danach ist eine Kann-Versorgung zu prüfen, wenn über die Ätiologie und Pathogenese des als Schädigungsfolge geltend gemachten Leidens keine durch Forschung und Erfahrung genügend gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Auffassung herrscht und entsprechend die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen für die Entstehung oder den Verlauf des Leidens nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden kann. In diesen Fällen ist die Kann-Versorgung zu gewähren, wenn ein ursächlicher Einfluss des geltend gemachten schädigenden Tatbestandes in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen wird (Teil C Nr. 4b bb).
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Dabei reicht die allein theoretische Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs nicht aus (vgl. zum Folgenden Urteil des Senats vom 13.12.2012 - L 6 VJ 1702/12 - Juris; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.11.2011 - L 4 VJ 2/10 - Juris). Denn die Verwaltung ist nicht ermächtigt, bei allen Krankheiten ungewisser Genese immer die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs - die so gut wie nie widerlegt werden kann - ausreichen zu lassen (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.1993 - 9/9a RV 41/92 - SozR 3-3200 § 81 Nr. 9 m.w.N.). Es genügt nicht, wenn ein Arzt oder auch mehrere Ärzte einen Ursachenzusammenhang nur behaupten. Vielmehr ist es erforderlich, dass diese Behauptung medizinisch-biologisch nachvollziehbar begründet und durch wissenschaftliche Fakten, in der Regel statistische Erhebungen (vgl. BSG, Urteil vom 12.12.1995 - 9 RV 17/94 - SozR 3-3200 § 81 Nr. 13), untermauert ist. Die Fakten müssen - in Abgrenzung zu den Voraussetzungen der Pflichtversorgung - zwar (noch) nicht so beschaffen sein, dass sie bereits die überwiegende medizinische Fachwelt überzeugen. Die niedrigere Schwelle zur Kann-Versorgung ist daher bereits dann überschritten, wenn die vorgelegte Begründung einschließlich der diese belegenden Fakten mehr als die einfache Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs belegt (vgl. BSG, Urteil vom 12.12.1995 - SozR 3-3200 § 81 Nr. 13, sowie Urteil vom 17.07.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4-3200 § 81 Nr. 5) und damit zumindest einen eingeschränkten Personenkreis der Fachmediziner überzeugt ("Mindermeinung"). In seiner ständigen Rechtsprechung hat das BSG diesen Maßstab auf die „gute Möglichkeit“ eingeschränkt (BSG, Urteil vom 17.07.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4 - 3200 § 81 Nr. 5).
88 
Die abweichende Bewertung durch Dr. H. belegt nicht im Sinne einer fachwissenschaftlichen Mindermeinung mehr als die einfache Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs. Sie beruht auf der durch die Befundlage nicht gestützten Annahme, dass der Kläger in der Nacht zum 31.01.1999 eine ADEM-Erkrankung durchgemacht hat, und der Beurteilung des plausiblen Zusammenhangs zwischen der Impfung und der angenommenen Gehirnerkrankung am 30.01.1999 allein aufgrund der zuletzt vom Kläger vorgetragenen Symptome einer lebensgefährlichen Erkrankung in zeitlicher Nähe zur Impfung, ohne dieses auf der Grundlage des vorangegangenen Vorbringens und der (fehlenden) ärztlichen Befunde kritisch zu hinterfragen. Dies begründet nicht die für eine Kann-Versorgung erforderliche gute Möglichkeit eines Ursachenzusammenhanges.
89 
Den in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsanträgen war nicht stattzugeben. Der Senat konnte in der Sache entscheiden, ohne die beiden Sachverständigen erneut zu hören, den Kläger ein weiteres Mal begutachten zu lassen oder die Mutter erneut zu befragen und sie danach zu vereidigen; er hat deswegen die darauf gerichteten Beweisanträge des Klägers abgelehnt.
90 
Die Mutter war als gesetzliche Vertreterin des Klägers nicht erneut zu befragen und danach zu vereidigen, denn die Parteivernehmung stellt im sozialgerichtlichen Verfahren kein Mittel der Sachaufklärung dar, mit dem ein Vollbeweis für eine behauptete Tatsache erbracht werden könnte. Dies ergibt sich daraus, dass § 118 Abs. 1 SGG nicht auf die Bestimmungen der §§ 445 ff. ZPO, die die Parteivernehmung regeln, verweist. Die Parteivernehmung stellt damit nach herrschender Meinung in der Literatur (z. B. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, Kommentar zum SGG, 11. Aufl 2014, § 118, Rn. 8) und Rechtsprechung (z. B. BSG, Urteile vom 28.11.2007, B 11a/7a AL 14/07 R und vom 03.06.2004, B 11 AL 71/03 R - Juris) im sozialgerichtlichen Verfahren kein förmliches Beweismittel und somit kein Mittel der Sachaufklärung dar. Im Übrigen liegen dem Senat bereits ihre mehrfachen Aussagen vor, die er bei seiner Entscheidung berücksichtigt hat. Eine eidliche Parteivernehmung ist im sozialgerichtlichen Verfahren unzulässig (BSG, Beschluss vom 13.12.2005 - B 13 RJ 247/05 B – Juris).
91 
Dem Hilfsantrag, von Amts wegen Prof. Dr. N. und Dr. H. zur Erläuterung ihrer Gutachten zu laden, war nicht stattzugeben, weil Art. 103 Abs. 1 GG keinen Anspruch darauf gewährt, das Fragerecht gegenüber Sachverständigen in jedem Fall mündlich auszuüben (vgl. BVerfG vom 29.05.2013 - 1 BvR 1522/12 - Juris; vgl. auch BVerfG vom 17.01.2012 - 1 BvR 2728/10 - NJW 2012, 1346, Juris m.w.N.). Es ist auch nicht erkennbar, dass eine mündliche Befragung einen über die Wiederholung schriftlicher Äußerungen hinausreichenden Mehrwert hätte (so zuletzt BSG, Beschluss vom 10.12.2013 - B 13 R 198/13 B - Juris). Beide Sachverständige haben sich umfassend und Prof. Dr. N. sogar mehrmals geäußert. Welche Fragen den beiden Ärzten gestellt werden sollen oder wo noch Aufklärungsbedarf gesehen wird, hat der Kläger nicht dargelegt. Es entspricht dann dem Beweisrecht, dass das Gericht nicht verpflichtet ist, einem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens oder Anhörung des behandelnden Arztes zum Beweis einer bestimmten Tatsache beliebig oft nachzukommen (zuletzt Urteil des Senats vom 27.03.2014 - L 6 U 4001/13 - unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 15.04.1991 - 5 RJ 32/90 - Juris). Es müssen zwar keine Fragen formuliert werden, sondern es reicht vielmehr aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr. 1). Daran fehlt es aber vorliegend, denn die Notwendigkeit einer Erörterung hat der Kläger überhaupt nicht begründet (BSG, Beschluss vom 25.04.2013 – B 13 R 29/12 B – Juris). Der Senat vermochte keine Notwendigkeit zu erkennen, weitere Ermittlungen durchzuführen, da der entscheidungserhebliche Sachverhalt hinreichend geklärt ist.
92 
Der weitere Hilfsantrag auf Einholung eines Obergutachtens war abzulehnen, weil die Würdigung widerstreitender Gutachtenergebnisse oder unterschiedlicher ärztlicher Auffassungen wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung selbst gehört. Eine Verpflichtung zur Einholung eines sogenannten Obergutachtens besteht auch bei einander widersprechenden Gutachtensergebnissen im Allgemeinen nicht; vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 128 RdNr 7d, 7e mwN). Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen. Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum (BSG, Beschluss vom 01.04.2014 - B 9 V 54/13 B - Juris). Dies gilt umso mehr, als ein weiteres epileptologisches Obergutachten schon deswegen nicht erforderlich ist, da Prof. Dr. N. als Leiter des Epilepsiezentrums M. über Sachkunde auf diesem Fachgebiet verfügt. Gründe für eine Ausnahme sind hier nicht dargelegt. Liegen bereits mehrere Gutachten (oder fachkundige Angaben) vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten (oder fachkundigen Angaben) grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr. 3). Derartige Umstände hat der Kläger nicht vorgetragen und sind auch für den Senat nicht ersichtlich.
93 
Eine Richtervorlage gemäß Art 100 GG war nicht vorzunehmen, weil der Senat die anzuwendenden Vorschriften für verfassungsgemäß hält, insbesondere eine generelle Beweislastumkehr, wie sie der Kläger fordert, vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsgebetes (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht zwingend (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.07.1979 - BVerfGE 52, 131) und im Impfschadensrecht noch nicht einmal erforderlich ist. Vielmehr beinhaltet der Maßstab der geforderten Wahrscheinlichkeit ohnehin eine abgesenkte Beweislast und ermöglicht dem Betroffenen in einer Vielzahl von Fällen, wie auch dem Senat aus seiner Praxis bekannt, die Anerkennung einer Schädigungsfolge zumal das Verfahren ohnehin vom Amtsermittlungsgrundsatz geprägt ist. Die zweite Rechtsfrage betrifft das generelle Zulassungsverfahren der Impfstoffe und ist vorliegend nicht entscheidungserheblich, weil es sich unstreitig um eine öffentlich empfohlene Impfung und nicht die Verwendung eines nicht zugelassenen Impfstoffs handelt. Eine Richtervorlage an das Bundessozialgericht ist gesetzlich nicht vorgesehen.
94 
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
95 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG. Der Antrag war daher abzulehnen.

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Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 21. Apr. 2015 - L 6 VJ 1460/13 zitiert 23 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 103


(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. (2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. (3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafge

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 20


(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 54


(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 144


(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 1. bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hier

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 151


(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. (2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerh

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 143


Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 118


(1) Soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, sind auf die Beweisaufnahme die §§ 358 bis 363, 365 bis 378, 380 bis 386, 387 Abs. 1 und 2, §§ 388 bis 390, 392 bis 406 Absatz 1 bis 4, die §§ 407 bis 444, 478 bis 484 der Zivilprozeßordnung entsprech

Bundesversorgungsgesetz - BVG | § 1


(1) Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädig

Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV | § 2 Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“


Die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien sind in der Anlage zu dieser Verordnung#F1_771649als deren Bestandteil festgelegt.

Infektionsschutzgesetz - IfSG | § 60 Versorgung bei Impfschaden und bei Gesundheitsschäden durch andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe


(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die1.von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,1a.gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rech

Infektionsschutzgesetz - IfSG | § 2 Begriffsbestimmungen


Im Sinne dieses Gesetzes ist1.Krankheitserregerein vermehrungsfähiges Agens (Virus, Bakterium, Pilz, Parasit) oder ein sonstiges biologisches transmissibles Agens, das bei Menschen eine Infektion oder übertragbare Krankheit verursachen kann,2.Infekti

Infektionsschutzgesetz - IfSG | § 61 Gesundheitsschadensanerkennung


Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des

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Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 21. Apr. 2015 - L 6 VJ 1460/13 zitiert oder wird zitiert von 10 Urteil(en).

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Tenor 1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 11.06.2010 wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen. Tatbestand 1 Die Beteil

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Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 18. Mai 2017 - L 20 VJ 5/11

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Tenor I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 15. Juni 2011 wird zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.

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(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein.

(2) Der Kläger ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

(3) Eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts kann mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde begehren, wenn sie behauptet, daß die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite.

(4) Betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, so kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden.

(5) Mit der Klage kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Im Sinne dieses Gesetzes ist

1.
Krankheitserregerein vermehrungsfähiges Agens (Virus, Bakterium, Pilz, Parasit) oder ein sonstiges biologisches transmissibles Agens, das bei Menschen eine Infektion oder übertragbare Krankheit verursachen kann,
2.
Infektiondie Aufnahme eines Krankheitserregers und seine nachfolgende Entwicklung oder Vermehrung im menschlichen Organismus,
3.
übertragbare Krankheiteine durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden, verursachte Krankheit,
3a.
bedrohliche übertragbare Krankheiteine übertragbare Krankheit, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen kann,
4.
Krankereine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist,
5.
Krankheitsverdächtigereine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen,
6.
Ausscheidereine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein,
7.
Ansteckungsverdächtigereine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein,
8.
nosokomiale Infektioneine Infektion mit lokalen oder systemischen Infektionszeichen als Reaktion auf das Vorhandensein von Erregern oder ihrer Toxine, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme steht, soweit die Infektion nicht bereits vorher bestand,
9.
Schutzimpfungdie Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer übertragbaren Krankheit zu schützen,
10.
andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxedie Gabe von Antikörpern (passive Immunprophylaxe) oder die Gabe von Medikamenten (Chemoprophylaxe) zum Schutz vor Weiterverbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten,
11.
Impfschadendie gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung; ein Impfschaden liegt auch vor, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde,
12.
Gesundheitsschädlingein Tier, durch das Krankheitserreger auf Menschen übertragen werden können,
13.
Sentinel-Erhebungeine epidemiologische Methode zur stichprobenartigen Erfassung der Verbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten und der Immunität gegen bestimmte übertragbare Krankheiten in ausgewählten Bevölkerungsgruppen,
14.
Gesundheitsamtdie nach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzes bestimmte und mit einem Amtsarzt besetzte Behörde,
15.
Einrichtung oder Unternehmeneine juristische Person, eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person, in deren unmittelbarem Verantwortungsbereich natürliche Personen behandelt, betreut, gepflegt oder untergebracht werden,
15a.
Leitung der Einrichtung
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich einer Einrichtung durch diese mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern die Einrichtung von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
15b.
Leitung des Unternehmens
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich eines Unternehmens durch dieses mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern das Unternehmen von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
16.
personenbezogene AngabeName und Vorname, Geschlecht, Geburtsdatum, Anschrift der Hauptwohnung oder des gewöhnlichen Aufenthaltsortes und, falls abweichend, Anschrift des derzeitigen Aufenthaltsortes der betroffenen Person sowie, soweit vorliegend, Telefonnummer und E-Mail-Adresse,
17.
Risikogebietein Gebiet außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, für das vom Bundesministerium für Gesundheit im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit einer bestimmten bedrohlichen übertragbaren Krankheit festgestellt wurde; die Einstufung als Risikogebiet erfolgt erst mit Ablauf des ersten Tages nach Veröffentlichung der Feststellung durch das Robert Koch-Institut im Internet unter der Adresse https://www.rki.de/risikogebiete.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger an einem entschädigungspflichtigen Impfschaden leidet.

2

Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche am 24.10.1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel und einer Säureüberladung (perinatale Asphyxie). Am 17.4.1986 erhielt der Kläger die im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfung gegen Diphtherie und Tetanus (Kombination) sowie gegen Poliomyelitis (oral). Zwei Wochen nach dieser Impfung sackte der Kläger im Arm seiner Mutter schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen; nach einigen Minuten setzte eine Erholung ein; Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Nach Angaben seiner Mutter hat sich das Kind nicht mehr vollständig erholt. Ende 1986 wurde beim Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis erhielt der Kläger am 12. und 30.4.1987.

3

Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von nunmehr 100 anerkannt.

4

Im März 2001 stellte der Kläger bei dem beklagten Land einen Antrag auf Leistungen wegen eines Impfschadens. Daraufhin holte dieses ein nervenärztliches Gutachten von Dr. D. ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5.9.2002 ab. Auf der Grundlage einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr. M. wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2003 zurück, weil ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der infantilen spastischen Cerebralparese zwar möglich aber nicht wahrscheinlich sei. Überwiegend wahrscheinlich sei, dass für die Erkrankung andere Faktoren, wie die Frühgeburt und Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, ausschlaggebend gewesen seien.

5

Der Kläger hat daraufhin beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Dieses hat verschiedene ärztliche Unterlagen sowie von Amts wegen ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 2.1.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.6.2005 eingeholt. Dieser ist - vorbehaltlich der Richtigkeit der Schilderung der Mutter des Klägers betreffend das Ereignis zwei Wochen nach der Impfung - zu dem Ergebnis gelangt, dass die perinatale Asphyxie (lediglich) zu einem leichten bis mäßigen Hirnschaden geführt habe. Die ab Mai 1986 ersichtlichen schweren neurologischen Störungen (Cerebralparese) seien überwiegend als Impfschadensfolge einzuordnen.

6

Der Beklagte hat demgegenüber ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S. Facharzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin - vom 21.2.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 27.2.2006 vorgelegt. Dieser hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale Sauerstoffmangelsituation zurückzuführen sei und eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung höchst unwahrscheinlich sei. Im Anschluss daran hat das SG die Mutter des Klägers als Zeugin über den Zwischenfall zwei Wochen nach dem 17.4.1986 vernommen und danach ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt und zwar von Prof. Dr. D. Unter dem 27.11.2006 ist dieser Sachverständige ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorliegende Cerebralparese mit bestimmten Störungen bzw Behinderungen überwiegend wahrscheinlich durch die perinatale Asphyxie verursacht worden sei, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Impfschädigung bestehe.

7

Durch Urteil vom 10.5.2007 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17.4.1986 unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 65 vH zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei am 13. oder 14. Tag nach der Impfung auf dem Arm der Mutter plötzlich schlaff geworden und mit halb geschlossenen Augen im Gesicht bleich gewesen, er habe sich danach zwar erholt, aber nicht mehr wie zuvor bewegt. Zur Frage der Verursachung sei der Auffassung von Prof. Dr. K. zu folgen. Die anders lautenden Beurteilungen der übrigen Sachverständigen seien nicht überzeugend. Die MdE von 65 vH ergebe sich daraus, dass der mit 100 vH zu bewertende dauerhafte Gesundheitsschaden des Klägers nach der Beurteilung von Prof. Dr. K. zu zwei Dritteln durch die Impfung am 17.4.1986 verursacht worden sei.

8

Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger hilfsweise beantragt, durch Anfrage bei der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Tatsache zu erweisen, dass die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen, sowie zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können, ein medizinisches Sachverständigengutachten eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes einzuholen, der über Erfahrungen auch zu Impfungen in den achtziger Jahren verfügt.

9

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Anspruchsvoraussetzungen nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorschriften des bis zum 31.12.2000 geltenden § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) und des am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nicht erfüllt. Danach sei der Nachweis einer schädigenden Einwirkung (der Impfung), einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und der Schädigungsfolgen (Dauerleiden) erforderlich. Für die jeweiligen Kausalzusammenhänge reiche eine Wahrscheinlichkeit aus.

10

Der dauerhafte Gesundheitsschaden in Form einer Cerebralparese sei hier nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen, weil sich ein Impfschaden als Primärschädigung nicht habe nachweisen lassen. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen seien, lasse sich den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung entnehmen. Bezogen auf den Anspruchszeitraum ab Antragstellung im April 2001 sei grundsätzlich die Nr 57 AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenze. Eine Änderung sei mit den AHP 2008 eingetreten, in welchen von einer Aufführung der spezifischen Impfschäden Abstand genommen worden sei. Vielmehr habe Nr 57 Satz 1 AHP 2008 auf die im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten STIKO verwiesen, die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelten. Nach Nr 57 Satz 2 AHP 2008 stellten diese Ergebnisse den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran habe sich auch mit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zum 1.1.2009 nichts geändert, denn die Nr 53 bis 143 AHP 2008 behielten auch nach Inkrafttreten der VersmedV weiterhin Gültigkeit als antizipiertes Sachverständigengutachten (BR-Drucks 767/07, S 4 zu § 2 VersMedV).

11

Die aktuellen Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 (EB Nr 25/2007, 209 ff), die zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen von Schutzimpfungen enthielten, seien gleichwohl zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen. Bei den einzelnen Impfstoffen würden jeweils in dem mit "Komplikationen" bezeichneten Abschnitt in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei.

12

Im Streit stehe der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne einer Verschlimmerung, nicht im Sinne der Entstehung. Nach Nr 42 Abs 1 Satz 3 AHP 2008 bzw nach Teil C Nr 7 Buchst a Satz 3 Anlage zur VersMedV komme, sofern zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch unbemerkt, vorhanden gewesen sei, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, falls die äußere Einwirkung den Zeitpunkt vorverlegt habe, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schädigungsbedingt in schwererer Form aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.

13

Bei dem Kläger liege nach Einschätzung aller Gutachter ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit bestehe auch darüber, dass derartige frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestierten. Kern des Rechtsstreits sei die Frage, ob ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese auf die Impfung zurückzuführen sei. Ein derartiger Zusammenhang sei indessen nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische Impfreaktion als Primärschädigung) fehle.

14

In den Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 seien für die Verwendung des Diphtherie-Impfstoffs sowie für die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs gegen Diphtherie und Tetanus spezifische Komplikationen aufgezählt, die sämtlich beim Kläger nicht aufgetreten seien. Insbesondere habe keiner der Sachverständigen eine Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.

15

Soweit der Kläger die Mitteilungen der STIKO für nicht maßgebend halte, weil sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen seien, komme es auf seinen entsprechenden Beweisantrag nicht an. Selbst wenn man unterstelle, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als den damals bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, sei der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich.

16

In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nr 57 Abs 12 und 13 AHP 2005 nenne für Diphtherie- und Tetanusschutzimpfungen spezifische Erscheinungen als Impfschäden, die bei dem Kläger nach Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K. nicht aufgetreten seien. Der von diesem als zentralnervöser Zwischenfall bezeichnete Vorgang zwei Wochen nach der Impfung sei keine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) gewesen. Die von Prof. Dr. S. genannten typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung fehlten beim Kläger. Selbst wenn man die vom Kläger unter Beweis gestellte Behauptung, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten könnten, als wahr unterstellte, ändere dies nichts daran, das vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems gerade nicht positiv festgestellt werden könne. Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge aber für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Der nach den AHP 2005 erforderliche Nachweis einer Antikörperbildung möge heute noch möglich sein, sei aber nicht zielführend, weil hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde und nicht mehr geklärt werden könne, welche der drei Impfungen des Klägers diesen Zustand herbeigeführt habe. Im Übrigen schieden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese allein auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen sei.

17

Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutzimpfung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei, sei - wovon auch die Beteiligten ausgingen - auf die AHP 2005 abzustellen. Die Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 enthielten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitisimpfstoffen weitere Impfstoffe insbesondere gegen Pertussis, Influenza und Hepatitis B, enthielten. Als Impfschäden nach einer Poliomyelitisschutzimpfung seien in Nr 57 Abs 2 AHP 2005 verschiedene Erkrankungen genannt, insbesondere poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer. In keinem der vorliegenden Gutachten sei erwähnt, dass der Kläger an einer derartigen Impfpoliomyelitis erkrankt gewesen sei. Ebenso wenig seien Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich seien beim Kläger auch weder eine Meningoenzephalitis noch die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert worden. Die von Prof. Dr. K. angenommene Encephalopathie sei nach den AHP 2005 nur nach Pertussis- und Pockenschutzimpfungen als Impfschaden genannt, die beim Kläger nicht vorgenommen worden seien.

18

Mit der vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe materielles und formelles Recht verletzt.

19

Verletzt sei § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG bzw § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG. Das LSG habe bei ihm das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung durch die Dreifachschutzimpfung, dh eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung und damit einen dauerhaften Impfschaden, zu Unrecht verneint, weil es verkannt habe, dass es für die Anerkennung einer unüblichen Impfreaktion und eines Impfschadens nach einer Dreifachimpfung im Jahre 1986 weiterhin auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unüblichen Impfreaktionen auf die 1986 verwendeten Impfstoffe ankomme. Stattdessen sei das LSG von den Hinweisen der STIKO von 2007 ausgegangen, die über unübliche Impfreaktionen auf die aktuell verwendeten Impfstoffe informierten, ohne aufgeklärt zu haben, ob es sich bei diesen Impfstoffen um die gleichen handele, die bei seiner Dreifachimpfung 1986 verwendet worden seien, oder ob sie sich unterschieden. Außerdem sei das LSG von einem unzutreffenden Verständnis der medizinischen Voraussetzungen, dh der Krankheitsbilder, ausgegangen.

20

Damit habe das LSG die Rechtstatsachen "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand" sowie die ebenfalls als Rechtstatsachen anzusehenden Krankheitsbegriffe "akut entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems" sowie "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf das Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R -) würden wissenschaftliche Erkenntnisse über medizinische Ursachen- und Wirkungszusammenhänge nicht mehr als Tatsachenfeststellungen iS von § 163 SGG gewertet, weil sie keine Tatsachen des Einzelfalles seien, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen (dort Berufskrankheiten-) Fälle von Bedeutung seien. Es gehe nicht nur um die Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt, sondern um sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt würden.

21

Aus den tatsächlichen Feststellungen zu seinem Zusammenbruch Ende April 1986 und zu seiner Entwicklung vor und nach der Impfung folge jedoch, dass es bei ihm zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen sei, nämlich zu einer Enzephalopathie (möglicher Diphtherieimpfschaden gemäß den AHP 1983) bzw zu einer nicht poliomyelitischen Erkrankung am ZNS (möglicher Impfschaden nach der Polio-Schluckimpfung gemäß den AHP 1983) bzw zu einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS (möglicher Impfschaden nach der Diphtherieschutzimpfung gemäß AHP 2005).

22

Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Bei den Rechtstatsachen "aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand", "akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems" und "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" handele es sich um allgemeine Erfahrungssätze, deren Verkennung eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung beinhalte.

23

Verstoßen habe das LSG gegen den Erfahrungssatz, dass die Impffolgen abhängig von den verwendeten Impfstoffen seien. Zudem habe das LSG bei der Deutung der Krankheitsbilder gegen medizinische Erfahrungssätze verstoßen. Das LSG habe weiter seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, insbesondere den Sachverhalt nicht vollständig erfasst bzw ermittelt. So habe es sich nicht veranlasst gesehen, seinem - des Klägers - Beweisantrag zum Fehlen einer Identität der 1986 und heute verwendeten Impfstoffe zu folgen. Diesen und den weiteren Beweisantrag zur Möglichkeit einer Erkrankung des ZNS bei immunologisch unreifen Kindern ohne Fieberausbrüche habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, dass eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS nicht festgestellt worden sei. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. K. durchaus eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS bejaht. Schließlich habe das LSG seine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (sich) widersprechenden Gutachten dadurch verletzt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. hinsichtlich des Nichtvorliegens einer akut entzündlichen ZNS-Erkrankung gefolgt sei, ohne sich mit den gegenteiligen Ausführungen des Prof. Dr. K. auseinander zu setzen und ohne darzulegen, aufgrund welcher Sachkunde es dem Gutachten von Prof. Dr. S. folge und worauf diese Sachkunde beruhe.

24

Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe die Entscheidung des LSG, dass ein Zusammenhang des Leidens der Tetraplegie mit der Dreifachimpfung nicht wahrscheinlich sei, weil es am Nachweis eines Impfschadens fehle und im Übrigen andere Ursachen der Erkrankung nicht ausschieden.

25

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2007 zurückzuweisen.

26

Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

27

Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.

28

Der Senat hat eine Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 mit einer Auflistung der seit 1979 zugelassenen Polio Oral-Impfstoffe sowie der Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus eingeholt und den Beteiligten ausgehändigt.

Entscheidungsgründe

29

1. Die Revision des Klägers ist zulässig.

30

a) Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, wenn er geltend macht, das LSG habe generelle "Rechtstatsachen" verkannt. Es spricht zunächst nichts dagegen, die in den AHP 1983 bis 2005 unter Nr 57 für Schutzimpfungen ausgeführten Erkenntnisse zu üblichen Impfreaktionen und "Impfschäden" als generelle Tatsachen anzusehen. Zutreffend hat der Kläger insoweit auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) zum Berufskrankheitenrecht hingewiesen. Auch der erkennende Senat ist bereits im Bereich des Schwerbehindertenrechts davon ausgegangen, dass generelle Tatsachen vorliegen, soweit es um allgemeine medizinische Erkenntnisse geht (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG führt die Annahme, dass ein bestimmter Umstand nicht (nur) einzelfallbezogene Tatsache ist, sondern eine generelle Tatsache darstellt, indes nur zur Durchbrechung der nach § 163 SGG angeordneten strikten Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des LSG verbunden mit der Befugnis bzw der Aufgabe für das Revisionsgericht, entsprechende generelle Tatsachen selbst zu ermitteln und festzustellen(BSG aaO). Die Nichtberücksichtigung genereller Tatsachen durch das Berufungsgericht bewirkt damit nicht unmittelbar eine Verletzung materiellen Rechts.

31

Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es um die unterlassene oder die fehlerhafte Berücksichtigung von generellen Rechtstatsachen geht, muss hier nicht entschieden werden. Zwar mag eine im og Sinne generelle Tatsache dann als Rechtstatsache anzusehen sein, wenn sie Gegenstand einer Rechtsnorm ist (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 7; noch nicht differenziert in BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4). Das BSG ist aber auch im Fall der Annahme einer generellen "Rechtstatsache" bisher ausdrücklich allein von der Durchbrechung der Bindung des § 163 SGG ausgegangen(BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24; BSGE 94, 90 = SozR 3-2500 § 18 Nr 6; s dazu Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 791, 796). Ob eine Erweiterung dieser Rechtsprechung in einem Fall angezeigt ist, in dem es um Inhalt und Reichweite der AHP geht, deren Änderung in der Rechtsprechung des BSG wegen der "rechtsnormähnlichen Qualität" der AHP als Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X angesehen worden ist(BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5 S 6), kann ebenfalls auf sich beruhen.

32

b) Jedenfalls reicht es zur Zulässigkeit einer Revision aus, wenn der Revisionsführer die berufungsgerichtliche Feststellung genereller Tatsachen mit zulässigen Verfahrensrügen angreift (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das ist hier geschehen. Der Kläger hat insbesondere schlüssig dargetan, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen aufzuklären, ob sich die vom LSG herangezogenen, in den Hinweisen der STIKO von 2007 und den AHP 2005 niedergelegten medizinischen Erkenntnisse auf die Impfstoffe beziehen, die im Jahre 1986 bei ihm (dem Kläger) verwendet worden sind. Dazu hat der Kläger auch hinreichend vorgetragen, dass es - ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG - auf diese Feststellungen ankam, weil nach den AHP 1983 andere Krankheitserscheinungen zur Bejahung eines über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschadens (dort als "Impfschaden" bezeichnet) ausreichten als nach den - insoweit gleichlautenden - AHP 1996 bis 2005. Sollten im vorliegenden Fall die AHP 1983 maßgebend sein, so wäre danach eine für den Kläger günstigere Entscheidung des LSG möglich gewesen. Diese Rüge erfasst den gesamten Gegenstand des Revisionsverfahrens. Sie führt mithin zur unbeschränkten Zulässigkeit der Revision.

33

2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.

34

a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente wegen eines Impfschadens nach einer MdE um 65 vH ab April 2001 (ab 21.12.2007: Grad der Schädigungsfolgen von 65). Mit Urteil vom 10.5.2007 hat das SG - entsprechend dem Klageantrag - den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der am 17.4.1986 erfolgten Impfung unter Anerkennung der Impfschadensfolge "Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung, leichte Sprachstörung" ab April 2001 Versorgung nach dem IfSG iVm dem BVG nach einer MdE von 65 vH zu gewähren. Dieses Urteil hatte der Kläger vor dem LSG erfolglos gegen die Berufung des Beklagten verteidigt. Im Revisionsverfahren erstrebt er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der - in der Revisionsverhandlung klargestellten - Maßgabe, dass er nicht allgemein Versorgung, sondern Beschädigtenrente begehrt (vgl dazu BSGE 89, 199, 200 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 92 f).

35

           

b) Der Anspruch des Klägers, der für die Zeit ab März 2001 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs 1 IfSG, der am 1.1.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin und auch schon zur Zeit der hier in Rede stehenden Impfung des Klägers im Jahre 1986 geltenden - weitgehend wortlautgleichen (BSGE 95, 66 = SozR 4-3851 § 20 Nr 1, RdNr 6; SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 12) - § 51 Abs 1 BSeuchG abgelöst hat. § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG bestimmt:

Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

3. gesetzlich vorgeschrieben war oder 

4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,

eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens iS des § 2 Nr 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

        

Nach § 2 Nr 11 Halbs 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

        
36

aa) Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG - ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde - erfolgteSchutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58, 59 = SozR 3850 § 51 Nr 9 S 46 und - 9a RVi 4/84 - SozR 3850 § 51 Nr 10 S 49; ebenso auch Nr 57 AHP 1983 bis 2005).

37

Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. (s Rohr/Sträßer/Dahm, BVG-Kommentar, Stand 1/11, § 1 Anm 10 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr 8 mwN).

38

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.

39

bb) Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales ) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.

40

           

Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl auch Nr 57 AHP 2008):

        

Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.

41

Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS , Einleitung zur VersMedV, S 5), sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.

42

cc) Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, dass alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im Sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht, und Schwerbehindertenrecht (s BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVi 1/95 - SozR 3-3850 § 52 Nr 1 S 3, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25) sowie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 V 1/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

43

Bei der Anwendung der neuesten medizinischen Erkenntnisse ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, ggf lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben.

44

c) Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Berufungsurteil nicht in vollem Umfang.

45

aa) Zunächst hat das LSG unangegriffen festgestellt, dass der Kläger am 17.4.1986 im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfungen, nämlich gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, erhalten hat. Sodann ist allerdings unklar, das Auftreten welcher genauen Gesundheitsstörungen das LSG in der Zeit nach diesen Impfungen als bewiesen angesehen hat. Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines "Impfschadens" im Sinne einer primären Schädigung (also einer Impfkomplikation) zu verneinen. Bei der insoweit erfolgten Kausalitätsbeurteilung hat es sich in erster Linie auf die Hinweise der STIKO von Juni 2007 (Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen/Stand: 2007, EB vom 22.6.2007/Nr 25 ) und hilfsweise auch auf die Nr 57 AHP 2005 gestützt, ohne - wie der Kläger zutreffend geltend macht - Feststellungen dazu getroffen zu haben, ob sich die darin zusammengefassten medizinischen Erkenntnisse auch auf die beim Kläger im Jahre 1986 verwendeten Impfstoffe beziehen.

46

Das LSG hat es bereits unterlassen, ausdrücklich festzustellen, welche Impfstoffe dem Kläger am 17.4.1986 verabreicht worden sind. Auch aus den vom LSG allgemein in Bezug genommenen Akten ergibt sich insofern nichts. Der in Kopie vorliegende Impfpass des Klägers enthält für den 17.4.1986 nur den allgemeinen Eintrag "Polio oral, Diphtherie, Tetanus". In der ebenfalls in Kopie vorliegenden Krankenkartei der behandelnden Kinderärztin findet sich unter dem 17.4.1986 die Angabe "DT-Polio".

47

Ermittlungen zu dem im Jahre 1986 beim Kläger verwendeten Impfstoff sowie zu dessen Einbeziehung in die Hinweise der STIKO (EB Nr 25/2007) und - hinsichtlich des oral verabreichten Poliolebendimpfstoffes - in die Nr 57 Abs 2 AHP 2005 hat das LSG offenbar für entbehrlich gehalten. Es hat den Umstand, dass die Impfstoffe im Laufe der Jahre verändert worden sind, hypothetisch als wahr unterstellt und anhand der AHP 2005 unter Auswertung der Sachverständigengutachten den Eintritt von Impfkomplikationen beim Kläger verneint. Dabei hat es jedoch nicht geklärt, ob die AHP 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der im Jahre 1986 vorgenommenen Impfungen auch wirklich uneingeschränkt maßgebend sind.

48

bb) Entsprechende Feststellungen wären sicher dann überflüssig, wenn die Angaben zu Impfkomplikationen nach Schutzimpfungen der beim Kläger vorgenommenen Art von den 1986 noch maßgebenden AHP 1983 bis zu den STIKO-Hinweisen von Juni 2007 gleich geblieben wären. Dann könnte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich weder die Auswirkungen der insoweit gebräuchlichen Impfstoffe noch diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben. Ebenso könnte auf nähere Feststellungen zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn feststünde, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis bei den STIKO-Hinweisen von 2007 oder den Angaben in Nr 57 AHP 2005 Berücksichtigung gefunden haben, sei es, weil die Impfstoffe (jedenfalls hinsichtlich der zu erwartenden Impfkomplikationen) im gesamten Zeitraum im Wesentlichen unverändert geblieben sind, sei es, weil etwaige Unterschiede differenziert behandelt worden sind. Von alledem kann nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht ausgegangen werden.

49

           

aaa) Zunächst lassen sich Unterschiede in den Ausführungen der Nr 57 AHP 1983 und 1996 (letztere sind in die AHP 2004 und 2005 übernommen worden) sowie in den STIKO-Hinweisen von 2007 feststellen:

So enthält die Nr 57 Abs 2 AHP (Poliomyelitis-Schutzimpfung) für die Impfung mit Lebendimpfstoff zwar hinsichtlich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 (2004/2005) im Wesentlichen die gleichen Formulierungen, der Text betreffend "Impfschäden" (im Sinne von Impfkomplikationen) weicht jedoch in beiden Fassungen voneinander ab. In den AHP 1983 heißt es insoweit:

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (21 bis 158 Tage beobachtet). Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.

50

           

Die Fassung der AHP 1996 nennt dagegen als "Impfschäden" (Komplikationen):

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.

51

In den EB 25/2007 finden sich zu einem Poliomyelitisimpfstoff mit Lebendviren, wie er dem Kläger (oral) verabreicht worden ist, keine Angaben. Dies beruht darauf, dass dieser Impfstoff seit 1998 nicht mehr zur Schutzimpfung bei Kleinkindern öffentlich empfohlen ist (vgl dazu BSG SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 16).

52

Für die Diphtherie-Schutzimpfung ist die Nr 57 Abs 12 AHP bezüglich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 im Wesentlichen wortlautgleich.

53

           

Die "Impfschäden" (im Sinne von Komplikationen) sind in der Fassung der AHP 1983 beschrieben mit:

        

Sterile Abszesse mit Narbenbildung. Selten in den ersten Wochen Enzephalopathie, Enzephalomyelitis oder Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit). Selten Thrombose, Nephritis.

54

           

Demgegenüber ist Abs 12 der Nr 57 AHP 1996 hinsichtlich der "Impfschäden" (Komplikationen) wie folgt gefasst:

        

Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.

55

           

Hinsichtlich der Tetanus-Schutzimpfung sind in Abs 13 der Nr 57 der hier relevanten Fassungen der AHP die "Impfschäden" wie folgt übereinstimmend umschrieben:

        

Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.

56

           

Demgegenüber differiert hier die Beschreibung der "üblichen Impfreaktionen" zwischen den Fassungen 1983 und 1996. Während 1983 als "übliche Impfreaktionen" beschrieben sind:

        

Geringe Lokalreaktion,

57

           

enthält die Fassung der AHP 1996 die Formulierung:

        

Lokalreaktion, verstärkt nach Hyperimmunisierung.

58

           

In den STIKO-Hinweisen von 2007 (EB 25/2007, 211) heißt es zum Diphtherie-Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff):

        

Lokal- und Allgemeinreaktion
Als Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es innerhalb von einem bis drei Tagen, selten länger anhaltend, sehr häufig (bei bis zu 20 % der Impflinge) an der Impfstelle zu Rötung, Schmerzhaftigkeit und Schwellung kommen, gelegentlich auch verbunden mit Beteiligung der zugehörigen Lymphknoten. Sehr selten bildet sich ein kleines Knötchen an der Injektionsstelle, ausnahmsweise im Einzelfall mit Neigung zu steriler Abszedierung.

Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) treten gelegentlich (1 % der Impflinge) und häufiger (bis 10 %) bei hyperimmunisierten (häufiger gegen Diphtherie und/oder Tetanus geimpften) Impflingen auf.

In der Regel sind diese genannten Lokal- und Allgemeinreaktionen vorübergehender Natur und klingen rasch und folgenlos wieder ab.

Komplikationen
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- oder Polyneuritiden, Neuropathie) kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben.

59

           

bb) Der erkennende Senat hat auch keine Veranlassung anzunehmen, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus (DT-Impfstoffe) von den STIKO-Hinweisen von 2007 erfasst worden sind. Dafür dass sich diese nur auf im Jahre 2007 gebräuchliche Impfstoffe beziehen, spricht schon der vom LSG selbst erkannte Umstand, dass es sich dabei ausdrücklich um "Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen Stand: 2007" handelt. Zudem wird in diesen Hinweisen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die nachfolgende Textfassung sowie das zugehörige Literaturverzeichnis auf alle gegenwärtig (Stand: Juni 2007) in Deutschland zugelassenen Impfstoffe beziehen (s EB Nr 25/2007 S 210 rechte Spalte). Weiter heißt es dort:

        

Auf dem deutschen Markt stehen Impfstoffe unterschiedlicher Hersteller mit zum Teil abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen zur Verfügung, die zur gleichen Anwendung zugelassen sind. Die Umsetzung von STIKO-Empfehlungen kann in der Regel mit allen verfügbaren und zugelassenen Impfstoffen erfolgen. Zu Unterschieden im Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist ggf auf die jeweiligen Fachinformationen zu verweisen. Die Aktualisierung der Fachinformationen erfolgt nach Maßgabe der Zulassungsbehörden entsprechend den Änderungsanträgen zur Zulassung. Diese aktualisierten Fachinformationen sind ggf ergänzend zu den Ausführungen in diesen Hinweisen zu beachten.

60

Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 waren im Juni 2007 noch drei DT-Impfstoffe zugelassen, deren Zulassung vor 1986 lag. Daneben waren im Juni 2007 und bis heute weitere neun DT-Impfstoffe zugelassen, deren zeitlich früheste Zulassung im Jahr 1997 datiert. Hinzu kommt, dass es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts nach Einführung der Zulassungspflicht im Jahre 1978 eine Übergangszeit von mehreren Jahren gab. In dieser Zeit erhielten Impfstoffe nach und nach eine Zulassung im heutigen Sinne. So können Impfstoffe, die erst nach 1986 offiziell zugelassen worden sind, bereits vorher in Deutschland gebräuchlich gewesen sein.

61

Diese Gegebenheiten schließen nach Auffassung des erkennenden Senats - jedenfalls auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnisse - eine undifferenzierte Anwendung der STIKO-Hinweise auf die 1986 beim Kläger erfolgten Impfungen aus. Es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass alle 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe zu den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen gehört haben, auf die sich diese Hinweise nach ihrem Inhalt beziehen. Darüber hinaus werden darin ausdrücklich Unterschiede im Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen angesprochen, die sich aus abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen ergeben können. Ohne nähere Feststellungen zu den Zusammensetzungen der 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe, insbesondere der beim Kläger verwendeten, lässt sich mithin nicht beurteilen, ob und inwieweit die STIKO-Hinweise von 2007 bei der hier erforderlichen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden können.

62

Entsprechend verhält es sich mit den AHP 2005, die das LSG in erster Linie bei der Poliomyelitisimpfung und hilfsweise auch bei der DT-Impfung zur Kausalitätsbeurteilung herangezogen hat. In Nr 56 und 57 AHP 2005, die insoweit mit den AHP 1996 und 2004 übereinstimmen, wird nicht genau angegeben, auf welche Impfstoffe sich die betreffenden Angaben beziehen. Insbesondere wird nicht deutlich, ob diese Angaben auch für die 1986 gebräuchlichen Impfstoffe Geltung beanspruchen. Da das LSG auch nicht festgestellt hat, dass die in Frage kommenden Impfstoffe in ihren Auswirkungen von 1986 bis 1996 gleich geblieben sind, können die AHP 1996/2004/2005 hier nicht ohne Weiteres angewendet werden. Denkbar wäre immerhin, dass für die im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe grundsätzlich noch die AHP 1983 maßgebend sind, ggf ergänzt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der betreffenden Impfstoffe.

63

d) Zwar könnte der erkennende Senat die danach erforderlichen Feststellungen, soweit sie sich auf allgemeine Tatsachen beziehen, nach entsprechenden Ermittlungen selbst treffen. Eine derartige Vorgehensweise hält er hier jedoch nicht für tunlich.

64

aa) Zur Klärung einer Anwendung der STIKO-Hinweise von 2007 müsste - ohne vorherige Ermittlung der konkret beim Kläger verwendeten Impfstoffe, die der Senat nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG) - allgemein, dh voraussichtlich mit erheblichem Aufwand, geprüft werden, ob alle im April 1986 gebräuchlichen Impfstoffe den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen derart entsprachen, dass mit denselben Impfkomplikationen zu rechnen war, wie sie in den STIKO-Hinweisen für DT-Impfstoffe aufgeführt werden. Sollte sich dabei kein einheitliches Bild ergeben, könnte auf die Feststellung der tatsächlich angewendeten Impfstoffe wahrscheinlich nicht verzichtet werden.

65

bb) Soweit sich feststellen ließe, dass die AHP 1996/2004/2005 - ggf mit allgemeinen Modifikationen - ohne Feststellung der konkreten Impfstoffe für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich sind, könnte das Berufungsurteil jedenfalls nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zumindest hinsichtlich der Verneinung einer durch die Diphtherieimpfung verursachten Impfkomplikation beruht die Entscheidung des LSG nämlich sowohl auf einer teilweise unzutreffenden Rechtsauffassung als auch auf Tatsachenfeststellungen, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind.

66

Nach der vom LSG (hilfsweise) als einschlägig angesehenen Nr 57 Abs 12 AHP 2005 kommt bei einer Diphtherieschutzimpfung als "Impfschaden" (Komplikation) ua eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.

67

aaa) Dementsprechend ist zunächst festzustellen, ob eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS im maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung eingetreten ist. Soweit das LSG bezogen auf den vorliegenden Fall angenommen hat, eine entsprechende Erkrankung des ZNS lasse sich nicht feststellen, beruht dies - wie der Kläger hinreichend dargetan hat - auf einem Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 SGG.

68

Zwischen den Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. S. bestand darüber Streit, ob beim Kläger zwei Wochen nach der ersten Impfung eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" aufgetreten ist. Das LSG hat sich für die Verneinung einer derartigen Erkrankung in erster Linie auf die Auffassung von Prof. Dr. S. gestützt, der als typische Merkmale einer "schweren" ZNS-Erkrankung Fieber, Krämpfe, Erbrechen und längere Bewusstseinstrübung genannt habe. Dagegen hatte der Kläger unter Beweis gestellt, dass Erkrankungen des ZNS gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können. Diese Behauptung hat das LSG hypothetisch als wahr unterstellt und dazu die Ansicht vertreten, dies ändere "nichts daran, dass vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS gerade nicht positiv festgestellt werden kann". Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge nicht.

69

Zwar trifft es zu, dass der Eintritt einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS beim Kläger für den relevanten Zeitraum von 28 Tagen nach Impfung bewiesen sein muss. Den Ausführungen des LSG lässt sich jedoch nicht entnehmen, auf welche medizinische Sachkunde es sich bei der Beurteilung gestützt hat, eine positive Feststellung sei im vorliegenden Fall unmöglich. Auf die Ausführungen von Prof. Dr. S. konnte sich das LSG dabei nicht beziehen, da es in diesem Zusammenhang gerade - abweichend von dessen Auffassung - die Möglichkeit einer ohne Fieberausbrüche auftretenden akut entzündlichen Erkrankung des ZNS unterstellt hat. Mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., auf die sich der Kläger berufen hatte, hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt. Folglich hätte das LSG entweder zunächst dem auf allgemeine medizinische Erkenntnisse gerichteten Beweisantrag des Klägers nachkommen oder sogleich mit sachkundiger Hilfe (unter Abklärung des medizinischen Erkenntnisstandes betreffend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS) konkret feststellen müssen, ob das (von Prof. Dr. K. als "zentralnervöser Zwischenfall" bezeichnete) Krankheitsgeschehen, das beim Kläger vierzehn Tage nach der Impfung ohne einen Fieberausbruch abgelaufen ist, als akut entzündliche Erkrankung des ZNS anzusehen ist.

70

bbb) Auch (allein) mit dem (bislang) fehlenden Nachweis einer Antikörperbildung hätte das LSG eine Impfkomplikation nicht verneinen dürfen. Seine Begründung, selbst wenn sich noch heute Antikörper feststellen ließen, könnten sie - wegen der im Jahre 1987 erfolgten weiteren Impfungen - nicht mit Sicherheit der am 17.4.1986 vorgenommenen ersten Impfung zugeordnet werden, ist aus Rechtsgründen nicht tragfähig. Der erkennende Senat hält es für unzulässig, eine Versorgung nach dem IfSG an Anforderungen scheitern zu lassen, die im Zeitpunkt der Impfung nicht erfüllt zu werden brauchten und im nachhinein nicht mehr erfüllt werden können (vgl dazu Thüringer LSG Urteil vom 20.3.2003 - L 5 VJ 624/01 - juris RdNr 32; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2006 - L 8 VJ 847/04 - juris RdNr 40). Der Nachweis der Antikörperbildung als Hinweis auf eine Verursachung der Erkrankung des ZNS durch die Impfung ist erstmals in der Nr 57 Abs 12 AHP 1996 enthalten. Die AHP 1983 nannten an entsprechender Stelle als "Impfschäden" (Komplikationen) noch nicht einmal die akut entzündliche Erkrankung des ZNS, sondern andere Erkrankungen, wie zB die Enzephalopathie, ohne einen Antikörpernachweis zu fordern. Nach der am 17.4.1986 erfolgten Impfung bestand somit grundsätzlich keine Veranlassung, die Bildung von Antikörpern zu prüfen. Wenn die Zuordnung von jetzt noch feststellbaren Antikörpern nach den weiteren Impfungen von 1987 aus heutiger Sicht medizinisch nicht möglich sein sollte, verlangte man rechtlich etwas Unmögliches vom Kläger. Demzufolge muss es zur Erfüllung der Merkmale der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 jedenfalls ausreichen, wenn sich heute noch entsprechende Antikörper beim Kläger nachweisen lassen.

71

ccc) Soweit das LSG schließlich im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 festgestellt hat, dass andere Ursachen der Krankheitszeichen, die beim Kläger zwei Wochen nach der Impfung vom 17.4.1986 aufgetreten sind, nicht ausscheiden, ist auch diese Feststellung - wie vom Kläger zutreffend gerügt - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat insoweit nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt. Denn es hat sich nicht hinreichend mit der abweichenden medizinischen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. auseinandergesetzt. Neben dem vom LSG erörterten verringerten Schädelwachstum des Klägers hat Prof. Dr. K. in diesem Zusammenhang auch auf einen Entwicklungsknick hingewiesen, der beim Kläger nach dem "zentralnervösen Zwischenfall" eingetreten sei. Es ist jedenfalls nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich ein solcher Vorgang mit der vom LSG - gestützt auf Prof. Dr. S. angenommenen "allmählichen Manifestation" der Symptome einer Cerebralparese vereinbaren lässt.

72

e) Nach alledem ist es geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

73

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

Im Sinne dieses Gesetzes ist

1.
Krankheitserregerein vermehrungsfähiges Agens (Virus, Bakterium, Pilz, Parasit) oder ein sonstiges biologisches transmissibles Agens, das bei Menschen eine Infektion oder übertragbare Krankheit verursachen kann,
2.
Infektiondie Aufnahme eines Krankheitserregers und seine nachfolgende Entwicklung oder Vermehrung im menschlichen Organismus,
3.
übertragbare Krankheiteine durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden, verursachte Krankheit,
3a.
bedrohliche übertragbare Krankheiteine übertragbare Krankheit, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen kann,
4.
Krankereine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist,
5.
Krankheitsverdächtigereine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen,
6.
Ausscheidereine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein,
7.
Ansteckungsverdächtigereine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein,
8.
nosokomiale Infektioneine Infektion mit lokalen oder systemischen Infektionszeichen als Reaktion auf das Vorhandensein von Erregern oder ihrer Toxine, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme steht, soweit die Infektion nicht bereits vorher bestand,
9.
Schutzimpfungdie Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer übertragbaren Krankheit zu schützen,
10.
andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxedie Gabe von Antikörpern (passive Immunprophylaxe) oder die Gabe von Medikamenten (Chemoprophylaxe) zum Schutz vor Weiterverbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten,
11.
Impfschadendie gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung; ein Impfschaden liegt auch vor, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde,
12.
Gesundheitsschädlingein Tier, durch das Krankheitserreger auf Menschen übertragen werden können,
13.
Sentinel-Erhebungeine epidemiologische Methode zur stichprobenartigen Erfassung der Verbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten und der Immunität gegen bestimmte übertragbare Krankheiten in ausgewählten Bevölkerungsgruppen,
14.
Gesundheitsamtdie nach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzes bestimmte und mit einem Amtsarzt besetzte Behörde,
15.
Einrichtung oder Unternehmeneine juristische Person, eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person, in deren unmittelbarem Verantwortungsbereich natürliche Personen behandelt, betreut, gepflegt oder untergebracht werden,
15a.
Leitung der Einrichtung
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich einer Einrichtung durch diese mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern die Einrichtung von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
15b.
Leitung des Unternehmens
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich eines Unternehmens durch dieses mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern das Unternehmen von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
16.
personenbezogene AngabeName und Vorname, Geschlecht, Geburtsdatum, Anschrift der Hauptwohnung oder des gewöhnlichen Aufenthaltsortes und, falls abweichend, Anschrift des derzeitigen Aufenthaltsortes der betroffenen Person sowie, soweit vorliegend, Telefonnummer und E-Mail-Adresse,
17.
Risikogebietein Gebiet außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, für das vom Bundesministerium für Gesundheit im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit einer bestimmten bedrohlichen übertragbaren Krankheit festgestellt wurde; die Einstufung als Risikogebiet erfolgt erst mit Ablauf des ersten Tages nach Veröffentlichung der Feststellung durch das Robert Koch-Institut im Internet unter der Adresse https://www.rki.de/risikogebiete.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Umstritten ist ein Anspruch auf eine Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) i. V. mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

2

Die Eltern des am ... 1997 geborenen Klägers beantragten am 24. Januar 2003 bei dem Beklagten (Amt für Versorgung und Soziales H.) für ihren Sohn die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG). Sie gaben auf dem auf den 9. August 2002 datierten Antragsformular an, das Kind leide infolge ungewollten Dabeiseins bei sexuellem Missbrauchs des Bruders S. durch einen Halbbruder in der Zeit von Sommer bis Herbst 2000 unter physischen und psychischen Störungen in Form von Schlafstörungen, Angstzuständen und Albträumen. Der vom Beklagten beigezogenen Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft H. ist zu entnehmen, dass der Vater des Klägers, K-D. O., am ... 2001 Anzeige gegen seinen 1982 geborenen leiblichen Sohn C., den Halbbruder des Klägers, wegen sexuellen Missbrauchs des Bruders des Klägers erstattet hatte. C. O. gab in der Beschuldigtenvernehmung am 29. Mai 2001 an, er habe seinen damals vierjährigen Halbbruder sexuell missbraucht, indem er mit ihm in dessen Kinderzimmer im Jahr 2000 fünfmal Analverkehr im Abstand von mehreren Tagen bzw. Wochen durchgeführt habe. Die erste Tat habe er im August, die vierte im Oktober und die fünfte im November 2000 begangen. Der Bruder T. sei in zwei Fällen aus dem Schlaf erwacht und habe den sexuellen Missbrauch beobachtet, wobei er in einem Fall vom Halbbruder habe beruhigt werden müssen. Das Amtsgericht S., Jugendschöffengericht, hat C. O. mit Urteil vom 18. September 2001 wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen und des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer einheitlichen Jugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. In den Entscheidungsgründen hat es in Auswertung mehrerer Zeugenaussagen und des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsergebnisses im Wesentlichen ausgeführt, der Angeklagte habe die Taten an nicht mehr genau feststellbaren Tagen im Zeitraum von August bis November 2000 begangen. Geschehen sei der sexuelle Missbrauch jeweils abends im Kinderzimmer des Geschädigten und dessen Bruder T. O. Der Bruder T. sei bei den Taten im Oktober und November 2000 jeweils aufgewacht und habe die sexuellen Handlungen an seinem Bruder beobachtet, was dem Angeklagten bewusst gewesen sei.

3

Des Weiteren hat der Beklagte medizinische Ermittlungen durchgeführt und den Entlassungsbericht des Krankenhauses S. E. und S. B., Klinik f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie H., vom 7. Januar 2003 über die stationäre Behandlung des Klägers vom 21. Oktober bis 5. Dezember 2002 beigezogen. Hiernach waren bei dem Kläger die Diagnosen einer posttraumatischen Belastungsstörung (F 43.1) und eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F 92.8) gestellt worden. Die stationäre Aufnahme sei wegen Störungen im Sozialverhalten und der Verdachtsdiagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung auf der Grundlage eines sexuellen Missbrauchs des Kindes durch einen wesentlich älteren Halbbruder erfolgt. Im Kindergarten seien plötzlich auftretende Erregungszustände aufgefallen, Launenhaftigkeit und sexualisiertes Verhalten. Es habe bereits Anzeigen der Eltern der anderen Kinder gegeben, so dass der Junge seit September von der Kindergartenbetreuung ausgeschlossen worden sei. Der Kläger sei gemeinsam mit seinem ein Jahr älteren Bruder S. zur stationären Behandlung erschienen. Beide Kinder seien von sexueller Gewalt betroffen. Nach den Angaben der Eltern sei der Kläger schon immer ein besonders lebhaftes Kind gewesen. Er habe starke Verlustängste, Angst vor Dunkelheit und vor dem Alleinsein. In letzter Zeit habe er häufig über Angstträume geklagt. Nach der Eigenanamnese der Mutter sei die Schwangerschaft durch deren nervliche Probleme belastet gewesen. Der Verlauf sei problematisch gewesen mit ausbleibenden Herztönen des Kindes und einem Sauerstoffmangelsyndrom. Die frühkindliche Entwicklung sei altersgerecht verlaufen. Der Kläger sei eher wenig krank gewesen, habe jedoch stets sehr stark auf Schmerzen reagiert und heftig geschrien. Motorisch sei er eher ungeschickt. Sexualisiertes Verhalten sei zuhause nicht, im Kindergarten jedoch in den letzten Wochen häufig aufgefallen. Zum psychologischen Befund gab das Krankenhaus an, der Kläger verfüge insgesamt über gut durchschnittliche kognitive Leistungsmöglichkeiten. Im Leistungsprofil seien jedoch große Unterschiede deutlich geworden. Beim Arbeitsverhalten habe sich eine äußerst geringe Durchhaltefähigkeit gezeigt, weil bereits nach wenigen Minuten das Konzentrationsvermögen nachgelassen habe. Seine Stärken lägen eher in den verbal-theoretischen Bereichen der Intelligenz. So sei er in der Lage, soziale Zusammenhänge sehr gut zu erfassen und über diese auch zu berichten. Trotz leichter Artikulationsprobleme verfüge er über einen guten Wortschatz und altersgerechtes Umweltwissen. Rückstände seien vor allem in den handlungsgebundenen praktischen Fähigkeiten deutlich geworden. Die optische Differenzierungsfähigkeit und das visuell-motorische Koordinationsvermögen seien beeinträchtigt. Auch beim Erledigen feinmotorischer Anforderungen arbeite der Kläger eher unbeholfen und ungeschickt. Aufgrund der großen Unterschiede im Leistungsprofil könne eine Beeinträchtigung auf der Grundlage einer minimalen zerebralen Dysfunktion vermutet werden. Im stationären Alltag habe sich eine Affektlabilität des Kindes gezeigt. Bei den Beschäftigungen in der Gruppe sei auch sein vermindertes Durchhaltevermögen aufgefallen. Ferner sei ein hohes Maß an Suche nach Kontakt und Nähe zu den Erwachsenen deutlich geworden. In der Spieltherapie sei es zu kurzzeitigen dissoziativen Zuständen gekommen, bei denen der Kläger starr aus dem Fenster geblickt und aus dem Spielzusammenhang heraus inhaltliche sinnentfremdete Bemerkungen gemacht habe, wie zum Beispiel "Der Affe hat sich dem Arsch verbrannt Er muss rote Bananen fressen Dann darf er wieder ins Bett". Nach diesen dissoziativen Zuständen habe der Kläger erregt gespielt und sich in Wiederholungen von Handlungen ergangen, um die Erinnerung zu vergessen. Beim Spielen sei er darauf bedacht gewesen, die angreifende Partei zu besiegen, deren Werkzeug zu zerstören und die Schuldigen ins Gefängnis zu sperren. Dann sei er stets beruhigt gewesen und habe das Spiel beendet.

4

Nach dem vom Beklagten ebenfalls beigezogenen Entlassungsbericht des Krankenhauses vom 6. Juni 2003 über die stationäre Behandlung des Klägers vom 26. März bis 31. Mai 2003 waren folgende Diagnosen gestellt worden: Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8), einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90), sekundäre Enuresis nocturna (nächtliches Einnässen, F98.0). Das Verhalten des Kindes habe sich nach dem ersten Behandlungsabschnitt deutlich stabilisiert. Die Schlafstörungen und die extreme Angst vor dem Verlassenwerden seien nicht mehr beobachtet worden. Nach wie vor bestehe jedoch eine Störung im Sozialverhalten im Sinne von heftigen affektiven Erregungszuständen und Geschwisterrivalität. In der Zusammenfassung des psychologischen Befundes hat das Krankenhaus angegeben, der Kläger weise insgesamt eine altersgerechte Entwicklung mit Schwächen im praktischen Bereich auf. Das verminderte Konzentrations- und Durchhaltevermögen sowie die fein motorischen Defizite sollten ambulant mittels Ergotherapie weiter gefördert werden. Auch scheine eine länger dauernde psychotherapeutische Begleitung des Kindes dringend indiziert.

5

Sodann zog der Beklagte das aussagepsychologische Gutachten des Dr. D. vom 9. August 2001 bei, das dieser im Auftrag der Staatsanwaltschaft H. zur Glaubwürdigkeit der Angaben des Klägers bei der polizeilichen Vernehmung erstattet hatte. Nach den Feststellungen des Dr. D. habe der Kläger eine für sein Alter durchschnittlich entwickelte kognitive Leistungsfähigkeit besessen. Es handele sich um ein sozial relativ kompetentes, situativ angepasstes und beziehungsfähiges Kind. Der Kläger wirke aktiv, Konflikte nicht vermeidend, etwas hyperaktiv und insgesamt emotional stabil. Merkmale einer psychischen Störung hätten nicht vorgelegen, so dass aufgrund der Untersuchung und unter Berücksichtigung der diagnostischen Leitlinien der WHO für den Zeitraum nach Beginn der mutmaßlichen Handlungen bis zur Begutachtung keine Symptome einer krankheitswertigen Störung zu diagnostizieren seien.

6

Schließlich holte der Beklagte vom Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W. ein nervenärztliches Gutachten vom 13. November 2003 ein. Dieser stellte die Diagnose von sehr leichtgradigen allgemeinen Verhaltensstörungen eines Vorschulkindes, die insgesamt keinen Krankheitswert erreichten. Sekundär bestehe eine bislang unbehandelte Enuresis nocturna. Er nehme zur Kenntnis, dass der Beklagte es für möglich halte, der Kläger könne Ansprüche als "Sekundäropfer" haben. Hinsichtlich der Kausalitätsbeurteilung sei nicht zu differenzieren, ob die einfachen Verhaltensauffälligkeiten konstitutionell bedingt sind, ob sie das Ergebnis eines anamnestisch emotionalen Mangelmilieus in der Familie seien oder ob es sich um die krankheitswertige psychische Folgeschädigung eines "Sekundäropfers" handele. Bei dem Kläger seien keinerlei Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung feststellbar. Die Geschwisterrivalität entspreche noch der Norm. Dies gelte auch für die sekundäre Enuresis nocturna, bei der die jeweils jüngeren Kinder unbewusst dokumentieren wollten, wie klein, schutz- und zuwendungsbedürftig sie eigentlich seien. Nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (AHP) seien die Voraussetzungen für die Gewährung eines MdE-Grades nach Nr. 26.3 "andere emotionale und psychosoziale Störungen (Verhaltensstörungen)" nicht erfüllt. Es sei aber nicht auszuschließen, dass sich, ähnlich wie beim Bruder, irgendwann in der Zukunft eine primäre Persönlichkeitsstörung entwickelt. Der prüfärztliche Dienst des Beklagten (MR D. H.) hat in Auswertung dieses Gutachtens festgestellt, dass eine posttraumatische Belastungsstörung zu verneinen sei. Diese können nur angenommen werden, wenn der Kläger Zeuge eines Ereignisses gewesen wäre, bei dem das eigene Leben oder das anderer Personen bedroht oder eine ernste Verletzung zur Folge gehabt hätte. Dies könne bei dem Tathergang nicht unterstellt werden. Insofern sei es eher unwahrscheinlich, dass die leichte Verhaltensstörungen und das nächtliche Einnässen Folge des Zuschauens bei einem sexuellen Missbrauch sei. Ein sog. Schockschaden liege nicht vor.

7

Mit Bescheid vom 5. Februar 2004 lehnte der Beklagte die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Zur Begründung gab er an, nach § 1 Abs. 1 OEG habe eine Person dann Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG, wenn sie infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffes eine gesundheitliche Schädigung erlitten habe. Unter bestimmten Voraussetzungen könne Beschädigtenversorgung auch für Dritte, die nicht selbst Opfer einer Gewalttat geworden sind, gewährt werden, wenn diese aufgrund einer stattgefundenen Gewalttat einen Schock erlitten haben, welcher nicht nur vorübergehende psychische Gesundheitsstörungen von Krankheitswert ausgelöst habe. Das schädigende Ereignis müsse geeignet sein, den Schock durch das eigene Erleben auszulösen. Im Ergebnis aller medizinischen Stellungnahmen habe nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden können, dass die bei dem Kläger heute noch bestehenden Verhaltensauffälligkeiten auf das angeschuldigte schädigende Ereignis zurückzuführen sind. Insbesondere habe nicht nachgewiesen werden können, ob durch das Beobachten der an seinem Bruder vorgenommenen rechtswidrigen Handlungen eine unmittelbare Schockwirkung eingesetzt und eine nicht nur vorübergehende psychische Störung von Krankheitswert ausgelöst hat.

8

Mit seinem dagegen durch seine Eltern am 29. Februar 2004 erhobenen Widerspruch machte der Kläger zunächst geltend, der Antrag auf Entschädigung sei bereits am 9. August 2002 gestellt, dann aber vom Amt zurückgesandt worden. In nochmaliger Auswertung der medizinischen Unterlagen kam der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten (Dr. W.) am 18. Mai 2004 zu dem Ergebnis, es liege bei dem Kläger keine psychische Störung, die auf einen Schockschaden folgen würde, vor. Selbst wenn eine dauerhafte psychische Beeinträchtigung bestehen würde, könne diese nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit auf einen Schockschaden zurückgeführt werden. Der Kläger habe als damals dreijähriges Kind den beobachteten sexuellen Missbrauch noch nicht einordnen können und habe diesen aus der Erinnerung heraus auch nicht als gewalttätig oder "böse" geschildert. Ein solches Erlebnis könne zwar negative Einflüsse auf die seelische Entwicklung nehmen, ein Schockschaden sei daraus im vorliegenden Fall jedoch nicht abzuleiten. Entsprechende Gesundheitsstörungen lägen bei dem Kläger auch tatsächlich nicht vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 2004 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.

9

Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 6. August 2004 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Halle erhoben. Er hat auf einen stationären Aufenthalt im Krankenhaus S. E. und S. B. in H. vom 11. Oktober 2004 bis 9. März 2005 hingewiesen und vortragen lassen, dass es sich bei den in der Epikrise des Krankenhauses vom 6. April 2005 genannten Diagnosen um die Folgen der durch die Beobachtung des sexuellen Missbrauchs des Bruders eingetretenen psychischen Belastungsstörung handele. In Stresssituationen nässe er nachts ein und schlafe unruhig. Vor kurzem habe er in Tränen aufgelöst erstmals davon gesprochen, dass alles seine Schuld sei, weil er seinem Bruder nicht habe helfen können, weil er selber noch so klein gewesen sei. Dabei habe er aus seiner Sicht die Vorkommnisse erzählt, die sich damals mit seinem Stiefbruder abgespielt haben. Gegen den Kläger habe sich zwar kein tätlicher Angriff gerichtet, er sei jedoch als Sekundäropfer im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in den Schutzbereich des § 1 OEG einbezogen. Denn es liege sowohl die von BSG geforderte persönliche Nähe zum Opfer als auch die zeitliche und örtliche Nähe zur Schädigungshandlung vor. Gesundheitsschädigung im Sinne des OEG könne auch eine psychische Schädigung sein, wozu auch psychische Traumen gezählt werden müssten. Entscheidend sei, dass das Beobachten der Tat eine seelische Reaktion des Sekundäropfers von einigem Gewicht bewirke (BSG, Urteil vom 12.6.2003, B 9 VG 1/02 R). In dem von den Prozessbevollmächtigten des Klägers vorgelegten Befundbericht des Krankenhauses vom 6. April 2005 sind Diagnosen nach dem sog. multiaxialen Klassifikationsschema genannt, darunter u. a. eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8), posttraumatische Belastungsstörung (F43.1), vorübergehende Tic-Störung (F95.0), sekundäre Enuresis nocturna (F 98.0), einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0). Zur Vorgeschichte wird in dem Bericht angegeben, der Kläger sei durch einen schweren sexuellen Missbrauch und den seines Bruders vorbelastet, daneben bestehe ein Alkoholismus der Kindesmutter, die seit zwei Jahren trocken sei und eine sozial instabile Familiensituation mit knappen finanziellen Verhältnissen. Der Kläger sei aus vorangegangenen stationären Behandlungen bekannt, die zu einer Stabilisierung geführt hätten. Im Zuge der bevorstehenden Einschulung und dann auch während des ersten Halbjahres der ersten Klasse sei es zu einer erneuten Verschlechterung vor allem der Tic-Symptome gekommen. Bei der Behandlung habe die Komplexität der Störungen des Kindes eine besondere Schwierigkeit dargestellt. Neben dem Verdacht auf das Vorliegen einer minimalen zerebralen Dysfunktion mit Konzentrationsschwächen, Teilleistungsstörungen im motorischen Bereich und starker Impulsivität seien die Belastungsfaktoren der frühen Kindheit nach wie vor zu erkennen. Der unbedingte Drang, die Kontrolle über andere Menschen zu behalten, die große Ängstlichkeit des Klägers vor neuen Situationen und die mangelnde Empathie gegenüber anderen Menschen seien als Folgen der posttraumatischen Belastung nach wie vor problematisch. Lediglich das beklagte sexualisierte Verhalten habe während der fünfmonatigen Behandlungszeit nicht beobachtet werden können.

10

Der Beklagte ist der Klage mit dem Hinweis entgegengetreten, in der Epikrise des Krankenhauses S. E. und S. B. in H. vom 6. April 2005 sei die unzutreffende Angabe enthalten, der Kläger selbst sei durch seinen Halbbruder sexuell missbraucht worden. Stattdessen sei weiter davon auszugehen, dass er durch das Beobachten des Missbrauchs keinen Schockschaden bzw. keine psychische Gesundheitsstörung erlitten habe. Dem Bericht vom 6. April 2005 sei auch deutlich zu entnehmen, dass beim Kläger ein komplexes Beschwerdebild vorliege. Trotz der fehlerhaften Annahme eines sexuellen Missbrauchs werde in dem Bericht diesem fälschlicherweise angenommenen Geschehen nicht die Bedeutung einer wesentlichen Bedingung für die bestehenden Verhaltensstörungen zugesprochen, so dass nach der entschädigungsrechtlichen Ursachentheorie ein Versorgungsanspruch nicht zu begründen sei. Die Verhaltensauffälligkeiten des Klägers könnten auf mehrere Ursachen zurückzuführen sein, wozu auch der Alkoholmissbrauch der Mutter gerechnet werden müsse. Es sei zwar nicht geklärt, ob dieser bereits vor der Geburt des Klägers vorgelegen habe, in jedem Falle aber seien dadurch seelische Belastungen in der frühen Kindheit anzunehmen. Des Weiteren wiesen das Sauerstoffmangelsyndrom nach der Geburt und der kurze Herzstillstand zusätzlich auf fortbestehende organische Schäden hin, die auch mit einigen der im sonderpädagogischen Gutachten vom 21. bis 25. Februar 2005 beschriebenen Funktionseinschränkungen vereinbar seien. Für einige Verhaltensauffälligkeiten würden in dem Bericht ungünstige Entwicklungsfaktoren wie längerfristige Trennung von den Eltern, häufiger Einrichtungswechsel sowie pausenlose unverschuldete Maßregelungen verantwortlich gemacht. Die Beobachtung des sexuellen Missbrauchs des Bruders dagegen werde nicht erwähnt, obwohl auch diese Tatsache selbstverständlich bekannt gewesen sei. Sollte angesichts dessen eine Kausalitätsbeurteilung überhaupt möglich sein, würde den vorbestehenden Schäden und den vielfältigen schädigungsunabhängigen ungünstigen Entwicklungsbedingungen die weit überwiegende Bedeutung zukommen. Die vom Rechtsanwalt des Klägers beschriebenen Schuldgefühle seien nicht nachvollziehbar. Der Kläger sei zum Tatzeitpunkt erst drei Jahre alt gewesen und aus seinen Schilderungen gehe an keiner Stelle hervor, dass er seinen Bruder habe beschützen wollen.

11

Mit Schreiben vom 18. Juli 2005 hat der Kläger ein sonderpädagogisches Gutachten des Landesbildungszentrums für Körperbehinderte H. vom 16. März 2005 über Feststellungen im Zeitraum vom 21. bis 25. Februar 2005 vorgelegt. Darin wird u.a. ausgeführt, dass der Kläger in unbelasteten Situationen ein lebhaftes und aufgeschlossenes Kind sei. Er gehe auf andere zu und nehme Kontaktangebote unter Wahrung von Distanzen an. Er sei erkundungs- und teilweise beschäftigungsfreudig, zeige sich kooperativ und hilfsbereit. In Anforderungssituationen blockiere er schnell, aber meist nur kurzzeitig. Er habe für sein junges Alter zu viele negative Erfahrungen und Erlebnisse gesammelt einschließlich häufiger Einrichtungswechsel, längerfristiger Trennung von der Familie, pausenloser Maßregelungen für Dinge, die er nicht verschuldet habe usw. Dies sei kombiniert mit einer Reihe von konstitutionellen Defiziten wie Reizselektionsschwäche, zu schlaffem Muskeltonus, mangelnder Kenntnisse und Fertigkeiten im tiefensensiblen Bereich. So erlebe man den Jungen in permanenter motorischer Unruhe, lärmend störend, auf ständiger Suche nach verbaler Rückkopplung und schließlich den Unterricht verweigernd.

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Mit Beweisanordnung vom 3. Februar 2006 hat das SG den Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Med. B. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt, das der Sachverständige schließlich am 13. Dezember 2008 erstattet und auf der Grundlage von Untersuchungen des Klägers am 1. September 2006 und 26. Oktober 2006 festgestellt hat, beim Kläger seien im Sommer 2002 erstmals Symptome aufgetreten, die sich einer posttraumatischen Belastungsstörung zuordnen ließen. Die Mehrzahl dieser bei einem ersten stationären Krankenhausaufenthalt beobachteten Symptome ließen sich allerdings einer Aufmerksamkeits-Defizit-und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zuordnen, die im Rahmen der zweiten Klinikbehandlung auch als Diagnose benannt worden sei. Symptome, die auf das Fortbestehen einer posttraumatischen Belastungsstörung sicher hinweisen, seien bei der zweiten Klinikbehandlung nicht mehr genannt worden. Der psychische Zustand des Klägers habe sich stabilisiert, die Verhaltensauffälligkeiten und –störungen insgesamt abgenommen. Im Rahmen der dritten stationären Behandlung in demselben Krankenhaus von Oktober 2004 bis März 2005, zu der massive sexuelle Verhaltensauffälligkeiten im Vorfeld und weitere Verhaltensstörungen des Klägers geführt hätten, seien Symptome einer ADHS und damit assoziierte Störungen in den Vordergrund getreten und eine Störung in Form von multiplen Tics (unwillkürliche Bewegungen und Geräusche) hinzugekommen. Jedoch seien Symptome, die sicher auf eine posttraumatische Belastungsstörung hinweisen, nicht geschildert worden. Bei seiner Untersuchung des Klägers und der Befragung der Eltern hätten sich keine sicheren Zeichen auf Gesundheitsstörungen als Folge des Missbrauchs eruieren lassen. Hingegen sei die Symptomatik der Aufmerksamkeits- und der Tic-Störung deutlich in Erscheinung getreten. Hinweise auf eine posttraumatische Belastungsstörung hätten sich nur in der Vorgeschichte gefunden. Das Vorhandensein der ADHS lasse sich für einen länger vor den Missbrauchshandlungen zurückliegenden Zeitpunkt sichern und sei nicht als Folgestörung anzusehen. Da posttraumatische Belastungsstörung und ADHS eine Reihe gemeinsamer Symptome hätten, die beim Kläger in starker Ausprägung bestünden, da zudem permanent weitere ADHS-Symptome vorhanden seien, sei eine differenzierte Zuordnung der Symptomatik zu einer der Störungen nicht möglich. Damit lasse sich das eventuelle Fortbestehen einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht sichern. Sichere Hinweise auf die Manifestation einer posttraumatischen Belastungsstörung als Folge des erlebten sexuellen Missbrauchs ließen sich nur für die Zeit von Sommer 2002 bis zu den beiden ersten stationären Behandlungen in der Klinik in H. eruieren. Für diese Zeit sei die Ausprägung einer stärkeren psychischen Störung mit wesentlichen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit beim Kläger sicher anzunehmen, was einem GdB-Grad von 30 bis 40 entspreche. Für die Zeit danach bestünden zwar weitere Störungen mit Behinderungen, für die sich aber eine sichere Zuordnung als Missbrauchsfolge nicht treffen lasse.

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Schließlich hat das SG mit weiterer Beweisanordnung vom 30. Juli 2009 ein Gutachten von Prof. Dr. F. vom 4. Juni 2010 eingeholt, der zu den Fragen, welche konkreten Schädigungen beim Kläger infolge des im Jahr 2000 visuell wahrgenommen sexuellen Missbrauchs an dem Bruder bzw. in der Folgezeit bis heute aufgetreten seien, welche MdE die sonach festzustellende Schädigung bedinge und welche Gesamt-MdE insgesamt festzustellen sei, Stellung genommen hat. Der Sachverständige hat sein Gutachten auf der Grundlage der kinderpsychiatrischen Untersuchung des Klägers vom 22. März 2010 während eines ambulanten Termins in M. im Beisein der Eltern erstellt und ausgeführt, es sei nach den Vorfällen mit dem sexuellen Missbrauch und dem Umzug der Familie in ein neues Wohnumfeld im neuen Kindergarten zu Vorkommnissen mit sexualisiertem Verhalten gegenüber Mädchen gekommen. Im Sommer 2002 seien erstmals Tics in Form von Augenzwinkern und Kopfzucken bis hin zu starken Kopfschlagen aufgetreten. Mit Hilfe der Einnahme von Medikamenten hätten sich die Tics deutlich gebessert. In der Grundschule sei er im Hort auffällig gewesen, wobei es auch hier sexualisierte Vorfälle mit Jungen gegeben habe. In psychopathologischer Hinsicht sei keine Hypermotorik erkennbar, keine Hinweise auf manifeste Angststörungen, Zwangsstörungen, Essstörungen, somatoforme oder andere Störungen. In der Untersuchungssituation seien motorische Tics mit Zwinkern und Kopfbewegungen in moderater Form aufgefallen. Weiter hat der Sachverständige angegeben, in Kenntnis der Aktenlage, der diversen Vorbegutachtungen sowie der Exploration zur jüngsten Vergangenheit auf eine Reexploration der Tatzusammenhänge und der sich anschließenden Folgen in direkter Ansprache verzichtet zu haben.

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In seiner zusammenfassenden Beurteilung hat der Sachverständige ausgeführt, für den Kläger sei belegt, dass er im Rahmen des sexuellen Missbrauchs an seinem Bruder S. zweimal diesem Geschehen beigewohnt habe. Dies habe in Folge, ebenso wie bei seinem Bruder, zu einem zunächst zweimaligen Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in H. in den Jahren 2002 und 2003 sowie in derselben Klinik von Oktober 2004 bis 2005 geführt. Als Hauptdiagnosen seien von Seiten der Klinik "posttraumatische Belastungsstörungen" sowie eine "kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen" gestellt worden. Zusätzlich bestehe bis heute eine sich zu verschiedenen Zeitpunkten verschlechternde multiple Tic-Störung sowie eine zeitweise noch auftretende Enurasis nocturna. Etwa ein halbes Jahr vor dem letzten Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in H. hätten sich im schulischen Rahmen sowie auch sonst schwer steuerbare verbale und täglich aggressive sowie sexualisierte Verhaltensweisen gezeigt. Zusätzlich hätte sich die Tic-Störung verstärkt und in multiplen Tics mit Lautäußerungen (Tourette-Syndrom) geäußert. In vormaligen Behandlungen im Jahre 2003 seien massive Ängste des Klägers und starke affektive Schwankungen ebenfalls ein Aufnahmegrund gewesen. Das ausgesprochen komplexe Störungsbild bei dem Kläger, das auch mit Anteilen einer minimalen zerebralen Dysfunktion beschrieben werde, müsse als in Anteilen deutlich mit dem sexuellen Missbrauch des Bruders in Zusammenhang stehend interpretiert werden (affektive Schwankungen, Ängstlichkeit, aggressives Ausagieren etc. sowie auch als vorbestehend MCD [minimaler cerebraler Dysfunktion], Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, nächtliches Einnässen) bzw. sich eigenständig entwickelnd (Tourette-Syndrom). In den vorliegenden Zeugnissen zeige sich seit Schulbeginn bis heute die Schwierigkeit der Integration des Klägers in den Klassenzusammenhang und die verschiedenen Auffälligkeiten aus dem Spektrum der ADHS, der Tic-Störung, aber auch der affektiven emotionalen Regulation. Insgesamt sei aus den verfügbaren Quellen von deutlichen Fortschritten die Rede, dies entspreche der vom Sachverständigen durchgeführten kinderpsychiatrischen Exploration vom 22. März 2010. Bei laufender Medikation fänden sich situativ wenig bis mittelstark ausgeprägte, vor allen Dingen motorische Tics. Insgesamt zeigten sich zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren relevanten psychopathologischen Auffälligkeiten.

15

In Zusammenfassung und Beantwortung der Beweisfragen hat der Sachverständige ausgeführt, bei dem komplexen Störungsbild des Klägers über Jahre mit deutlicher Besserung in letzter Zeit könne von Anteilen einer posttraumatischen Belastungsstörung und Anteilen von mitgebrachten Störungen ausgegangen werden. Kausal ließen sich die verschiedenen Anteile nicht mit hinreichender Sicherheit differenzieren und trennen. Vor allem die geschwisterliche Nähe zum Bruder sowie auch die gemeinsamen Begutachtungen und Krankenhausaufenthalte legten für den emotionalen Bereich eine starke Verkoppelung mit dem Thema "sexueller Missbrauch" nahe, zumindest sekundär. Ob und inwieweit im Rahmen einer Schockeinwirkung das Zuschauen beim sexuellen Missbrauch des Bruders sich auswirke, könne nicht abschließend geklärt werden. Die gesamte Symptomatik des Jungen mit ausagierend aggressiven, emotional fluktuierenden Verhaltensweisen spreche aber für eine deutliche Belastung aus diesem Bereich. Die geschilderten Auffälligkeiten könnten nicht im Rahmen einer ADHS-Störung allein ihre Begründung finden. Das Tourette-Syndrom sei als unabhängige Krankheitsidentität zu werten. Es könne von einer Verhaltensproblematik mit affektiven Regulationsstörungen ausgegangen werden, für die eine MdE um 30 vom 100 gerechtfertigt sei. Auch beim Kläger sei eine Auseinandersetzung im therapeutischen Prozess mit dem Geschehenen bisher nicht erfolgt, sondern durch die anderen Lebenssituationsprobleme überlagert worden. Als Gesamt-MdE sei ebenfalls ein Wert von 30 vom 100 für die Zeit von Herbst 2000 bis heute zu veranschlagen. Die symptomatische Besserung bei dem Kläger entspreche der des Bruders S. und deute keineswegs auf ein verarbeitetes Geschehen hin. Abschließend werde man die Auswirkung der Missbrauchserlebnisse erst zum Ende der Pubertät hin beurteilen können.

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Der Beklagte ist den Feststellungen des Prof. Dr. F. in seiner Stellungnahme vom 27. Juli 2010 entgegengetreten und hat u. a. vorgetragen, ein Versorgungsanspruch scheitere bereits daran, dass über einen Zeitraum von zwei Jahren nach dem schädigenden Ereignis im Sommer/Herbst 2000 keine psychischen Auffälligkeiten bestanden hätten, die nach Art und Ausmaß einen Rückschluss auf eine traumatische Schädigung im Zusammenhang mit dem Beobachten des sexuellen Missbrauchs erlaubten. Als Beleg dafür sei zunächst auf das forensisch-psychologische Gutachten des Dr. D. vom 9. August 2001 zu verweisen, der unbestritten festgestellt habe, dass zum Zeitpunkt der Begutachtung am 6. August 2001 bei dem Kläger keine psychische Störung von Krankheitswert vorgelegen habe. Soweit der gerichtliche Sachverständige davon abweichend nunmehr unter Rückgriff auf die Behandlungsunterlagen der Kinder- und Jugendpsychiatrie H. von 2002 und 2003 zu dem Ergebnis komme, dass zumindest Anteile des zu dieser Zeit beim Kläger vorliegenden komplexen Störungsbildes mit dem Beobachten des sexuellen Missbrauchs seines Bruders im Zusammenhang stünden, sei ihm nicht zu folgen. Die stationäre Erstaufnahme sei im Oktober 2002 wegen Störungen des Sozialverhaltens und der Verdachtsdiagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erfolgt. Diese Verdachtsdiagnose, die offenbar in der Annahme gestellt worden sei, dass auch der Kläger selbst sexuell missbraucht worden ist, finde im Behandlungsbericht vom 7. Januar 2003 keine Bestätigung. In diesem Bericht sei weder über während des Aufenthaltes aufgetretene krankheitswertige Angstzustände oder Angstträume noch über sexualisierte Verhaltensauffälligkeiten berichtet worden. Im Vordergrund hätten vielmehr psychische Auffälligkeiten wie starke Konzentrationsschwierigkeiten, sehr geringe Durchhaltefähigkeit gestanden, die einer ADHS zugeordnet worden seien, bei Verdacht auf eine bestehende minimale zerebrale Dysfunktion. Auch wenn in der herrschenden medizinischen Lehre die Möglichkeit einer Latenzzeit von wenigen Wochen bis zu Monaten zwischen dem Trauma und dem Ausbruch der psychischen Erkrankung beschrieben werde, habe ein Versorgungsanspruch zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht vorgelegen, weil während der bis Dezember 2002 andauernden Erstbehandlung keine psychische Erkrankung bestanden habe, die im Ursachenzusammenhang mit dem schädigenden Ereignis von Sommer/Herbst 2000 steht. Dies gelte auch für die Zeit nach der Antragstellung. Bei der zweiten stationären Behandlung vom 26. März bis 31. Mai 2003 seien gleichfalls keine traumatypischen psychischen Auffälligkeiten beobachtet bzw. diagnostiziert worden. Auch Dr. W. habe anlässlich der Begutachtung im November 2003 derartige Auffälligkeiten nicht festgestellt. Gleiches gelte für Dipl.-Med. B. bei seiner Begutachtung im September/Oktober 2006. Auch im Entlassungsbericht der Kinder- und Jugendpsychiatrie H. vom 6. April 2005 seien keine traumatypischen Auffälligkeiten berichtet worden. Insbesondere sei während der dortigen fünfmonatigen Behandlung im Zeitraum vom 11. Oktober 2004 bis 9. März 2005 kein sexualisiertes Verhalten beobachtet worden. Sofern ein solches Verhalten im Vorfeld der stationären Aufnahme im Schulhort beobachtet worden sei, könne dies zu dieser Zeit nicht mehr im Sinne der bestärkenden Kausalität dem vier Jahre zurückliegenden schädigenden Ereignis zugerechnet werden. Eine solche Einschätzung widerspräche der herrschenden medizinischen Lehrmeinung, wonach lediglich eine Latenzzeit von wenigen Wochen bis zu Monaten zwischen dem Trauma und dem Ausbruch der psychischen Erkrankung beschrieben werde. In der Gesamtschau der vorliegenden Befunde unter Einschluss des Begutachtungsergebnisses von Prof. Dr. F., der auch aktuell bestätigt habe, dass keine relevanten psychopathologischen Auffälligkeiten vorliegen, könne ein Versorgungsanspruch auf der Grundlage der für Sekundäropfer geltenden Kriterien nicht festgestellt werden. Soweit Prof. F. dennoch die Empfehlung ausgesprochen habe, dem Kläger Versorgungsleistungen nach einem GdS von 30 vom 100 zu gewähren, widerspreche dies seiner Befunderhebung, wonach keine relevanten psychopathologischen Auffälligkeiten beim Kläger vorliegen.

17

In der mündlichen Verhandlung vom 4. Februar 2011 hat der Kläger u. a. die Zahlung einer Beschädigtenversorgung nach einem Grad der Schädigungsfolgen in Höhe von mindestens 50 vom 100 ab 1. Dezember 2002 beantragt. Mit Urteil vom 4. Februar 2011 hat das SG die Klage abgewiesen und in den Entscheidungsgründen im Wesentlichen ausgeführt, nach der Rechtsprechung sei anerkannt, dass einem Dritten (Sekundäropfer), der Zeuge einer Gewalttat geworden ist und dadurch einen sog. Schockschaden erlitten habe, Versorgung nach dem OEG zustehen könne. Im Falle von psychischen Gesundheitsstörungen komme es bei der Kausalitätsprüfung darauf an, ob das Erleben der Gewalttat als Sekundäropfer in erhöhtem Maße geeignet sei, die vorhandene psychische Erkrankung hervorzurufen. Dies sei dann der Fall, wenn die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der schädigenden Handlung und den danach aufgetretenen Gesundheitsschäden nicht auch auf andere, nachweislich ebenfalls vorliegende und vom Sekundäropfer erlebte Ereignisse in seinem Umfeld ursächlich sein könnten. Nach Auswertung der medizinischen Unterlagen unter Berücksichtigung der von Prof. Dr. F. getroffenen Feststellungen sei davon auszugehen, dass die psychischen Störungen des Klägers in einem Tourette-Syndrom (Tic-Syndrom), einer ADHS und einer posttraumatischen Belastungsstörung bestünden. Das Tourette-Syndrom beruhe auf körperimmanenten Vorgängen und sei nicht durch das Beobachten der Gewalteinwirkung hervorgerufen worden. Diese Erkrankung sei damit nicht als schädigungsbedingt anzusehen. Aber auch das ADHS und die posttraumatische Belastungsstörung seien nicht als Folge des vom Kläger beobachteten sexuellen Missbrauchs seines Bruders zu werten. Denn Prof. F. habe bei seiner Feststellungen hervorgehoben, es könne neben Anteilen einer posttraumatischen Belastungsstörung und Anteilen von mitgebrachten Störungen eine Trennung oder Differenzierung nicht mit hinreichender Sicherheit getroffen werden. Genau darauf komme es im vorliegenden Fall aber an, da weitere Umstände und Ereignisse sowohl vor als auch nach dem sexuellen Missbrauch des Bruders vorgelegen hätten, die ebenfalls geeignet seien, eine posttraumatische Belastungsstörung zu begründen. So werde in den medizinischen Berichten bis zum fachpsychiatrischen Gutachten von Dr. W. vom 13. November 2003 keine psychische Beeinträchtigung des Klägers konkret dargestellt. Allerdings würden in diesem Gutachten und ärztlichen Befunden Ausführungen zum familiären Umfeld des Klägers vorgenommen, die zumindest das Entstehen einer posttraumatischen Belastungsstörung begründen könnten. Hierzu zähle die damalige Alkoholerkrankung der Mutter mit einer zwölf Wochen dauernden stationären Behandlung in einer Klinik in E. während des ersten Halbjahres 2003. Es sei nicht auszuschließen, dass dieser Alkoholmissbrauch der Mutter zu frühen, von dem Missbrauchsereignis losgelösten seelischen Belastungen beim Kläger geführt habe. Auch durch das Sauerstoffmangelsyndrom und den kurzzeitigen Herzstillstand nach der Geburt könne die Gesundheitssituation des Klägers negativ beeinflusst worden sein. Darüber hinaus seien auch die längeren Trennungen von den Eltern geeignet, posttraumatische Belastungsstörungen bei einem Kind zu manifestieren. Für die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Beobachten des sexuellen Missbrauchs und den psychischen Störungen reiche es nicht aus, wenn der Sachverständige Prof. Dr. F. meine, die beim Kläger vorliegende Symptomatik in Form von aggressivem, emotional fluktuierendem Verhalten sei als deutliche Folge der Beobachtung des sexuellen Missbrauchs zu werten, wenn er andererseits aber nur von einer "sekundären Verkoppelung" ausgehe. Da ein kausaler Zusammenhang nicht nachzuweisen sei, könne der Kläger nicht als Sekundäropfer im Sinne des OEG anerkannt werden.

18

Das ihm am 9. März 2011 zugestellte Urteil greift der Kläger mit seiner am Montag, den 11. April 2011 eingelegten Berufung an. Er ist unter Hinweis auf das Ergebnis der ergänzenden Befragung des Prof. Dr. F. weiterhin vom Erfolg seiner Klage überzeugt und macht geltend, es müssten etwaige noch verbliebene Zweifel am ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Beobachten des sexuellen Missbrauchs und seinen psychischen Störungen durch Befragung seiner Person ausgeräumt werden.

19

Der Kläger beantragt,

20

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 4. Februar 2011 abzuändern, den Bescheid des Beklagten vom 5. Februar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 2004 weiter abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen der Schädigungsfolgen einer posttraumatischen Belastungsstörung einhergehend mit affektiv aggressiven Verhaltensauffälligkeiten ab 1. Dezember 2002 eine Beschädigtenversorgung nach einem Grad der Schädigungsfolgen in Höhe von mindestens 30 vom 100 zu zahlen,

21

ferner:

22

zum Beweis für die Tatsache, dass das Beobachten der Gewalt des sexuellen Missbrauchs des Bruders wesentlich kausal für eine posttraumatische Belastungsstörung mit affektiv aggressiven Verhaltensweisen des Klägers war, wird die Ergänzung des Gutachtens von Prof. Dr. F. durch persönliche Exploration des Klägers beantragt.

23

Der Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

25

Er hält seine Bescheide und das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

26

Das Gericht hat den Sachverständigen am 9. Mai 2012 um ergänzende gutachterliche Stellungnahme unter Berücksichtigung der kritischen Würdigung des Gutachtens vom 3. Mai 2010 durch den Beklagten gebeten, wobei es auch um die vom Beklagten getroffene Feststellung gehen solle, es hätten über einen Zeitraum von zwei Jahren nach dem schädigenden Ereignis beim Kläger keine psychischen Auffälligkeiten bestanden, die nach Art und Ausmaß einen Rückschluss auf eine traumatische Schädigung im Zusammenhang mit dem Beobachten des sexuellen Missbrauchs erlauben. In seiner Stellungnahme vom 8. Juli 2013 hat Prof. Dr. F. ausgeführt, die Verlaufs- und Symptombeschreibungen des Klägers während der stationären Aufenthalte hätten ein massiv ausgeprägtes Mischbild mit aggressiv-ängstlich durchbrüchigen Verhaltensweisen neben der geschilderten Aufmerksamkeits- bzw. Tic-Störung gezeigt. Tic-Störung und ADHS ließen sich noch im Rahmen eigenständiger Krankheitsidentitäten beschreiben, die geschilderte affektive instabile Sozialverhaltensproblematik könne aber nicht hinreichend plausibel einem anderen Kausalgeschehen zugewiesen werden als den Zusammenhängen im Rahmen des sexuellen Missbrauchs des Bruders und den sich daraus ableitenden Entwicklungsfolgen. Insbesondere im letzten Arztbrief aus dem Krankenhaus S. E. und S. B. vom 6. April 2005 sei noch einmal auf die posttraumatische Konstellation und die starken Belastungsfaktoren der frühen Kindheit hingewiesen worden. Auch in den beschriebenen spieltherapeutischen Sequenzen hätten sich die aggressiven Themen mit dem Besiegt-werden-müssen des bösen Gegners und ähnlichem gezeigt. Die enge Bezogenheit der Kinder aufeinander mit dem gegenseitigen Beschützen sei ausführlich dargestellt worden. Bei der Gegenüberstellung der Einschätzungen aus den kinderpsychiatrischen mehrmonatigen Aufenthalten mit der Bewertung aus dem forensisch psychologischen Gutachten des Dr. D. sowie den Bewertungen von Dr. W. und Dipl-Med. B. falle auf, dass die Befunderhebung einerseits unterschiedlichen Zwecken gedient und andererseits auf der Basis von kürzeren Untersuchungsbedingungen erfolgt sei. Die Glaubhaftigkeit des Erlebnismaterials bei dem Kläger kontrastiere auffällig mit der festgestellten psychopathologischen Unauffälligkeit. Die Möglichkeit normopathischer Anpassungsprozesse im Sinne einer fast parentifizierenden Verantwortungsübernahme für den anderen (in diesem Falle den Bruder) in bestimmten Entwicklungsaltern werde in diesem Zusammenhang von den Sachverständigen nicht diskutiert. Zu schließen sei also die zeitliche Lücke der vermeintlichen Unauffälligkeit hin zu den danach als gravierend beschriebenen Störungen. In der Summe blieben als schwerste kinderpsychiatrische Befunde die schweren affektiven aggressiven Auffälligkeiten verbunden mit massiv regredierenden Verhaltensweisen über einen längeren Zeitraum, die nicht durch ADHS, Tourette-Störung oder andere bekannte Umstände erklärt werden könnten. Dies alles stützte die These einer anderen Genese und damit auch inhaltlich die einer erheblichen posttraumatischen Belastung. Zu klären bleibe die Frage, wie mit der doch einigermaßen langen Latenzphase zwischen Schädigungsereignis und Auftreten von psychischen Folgen umzugehen ist. Hierzu sei anzumerken, dass es keine systematische Literatur über solche Phänomene bei Kleinkindern gebe. Latenzzeiten von wenigen Wochen bis Monaten könnten für das Jugend- und Erwachsenenalter als gesichert gelten, ob sie jedoch Anwendung auf das Kleinkindalter finden dürfen, scheine mehr als fraglich und sei nicht geklärt. Auf Kleinkinder wirkten Vorfälle wie die im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch des Bruders berichteten Beobachtungen wie das Zerbrechen einer bis dahin als sicher geglaubten und erlebten Welt, ohne dass die Bedrohung, ihr Ausmaß und ihre Auswirkungen eingeschätzt, reflektiert und damit eingeordnet werden könnten. Das Kind sei also hilflos diesen Ereignissen und seinen diesbezüglichen Erlebnissen ausgesetzt und könne sie nicht weiter zuordnen, außer dass sie einen klar bedrohlichen Charakter haben. Diese Erlebnisse stünden affektiv in gravierender Weise quer zum bisher Erlebten. Es sei daher klinisch mehr als plausibel anzunehmen, dass die gemeinsame Lebensgeschichte mit dem Bruder – auch und insbesondere zur affektiven Verarbeitung des sexuellen Missbrauchs – immer wieder und reaktualisierend auf den Kläger eingewirkt hat, so dass schlussendlich im Jahre 2005 die Klinik in H. festgestellt habe, dass der unbedingte Drang des Klägers, die Kontrolle über andere Menschen zu behalten, seine große Ängstlichkeit vor neuen Situationen und die mangelnde Empathie gegenüber anderen Menschen als Folge der posttraumatischen Belastung nach wie vor problematisch seien. Abschließend sei daher vorzuschlagen, den Sachverhalt so zu werten, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die psychischen Auffälligkeiten des Klägers Folge der Schädigungen sind, der Kläger also als Sekundäropfer anzusehen ist. Eine wahrscheinliche, geschweige denn gesicherte alternative Kausalität finde sich nicht.

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Der Beklagte hat mit Schreiben vom 20. August 2013 die Stellungnahme seines prüfärztlichen Dienstes vom 16. August 2013 (Dr. S.) zu den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen vorgelegt. Darin wird festgehalten, es sei diesem weiterhin nicht gelungen, einen Gesundheitsschaden nachvollziehbar in die erforderliche kausale Wahrscheinlichkeitsbeziehung zu einem Schockerlebnis einzubringen. Es genüge nicht, eine Wahrscheinlichkeit zu unterstellen oder zu behaupten, allein weil neben dem Schockerlebnis vermeintlich keine andere alternative Kausalität zu finden sei. Der Sachverständige habe es weiterhin versäumt, sich mit der Eignung des Schädigungstatbestandes hinsichtlich Schwere und Dauer der Einwirkung zu befassen. Prof. Dr. F. habe nicht geklärt, ob sich das Beobachten des sexuellen Missbrauchs beim Bruder auf den Kläger nachhaltig ausgewirkt hat. Des Weiteren sei er wiederum nicht in der Lage, einen nach dem Erlebnis eingetretenen primären Gesundheitsschaden vorzuweisen. Hierbei habe er auf andere Fachgutachten zurückgegriffen und wiederholt, dass noch Jahre nach dem Erlebnis keine traumatypischen psychischen Auffälligkeiten diagnostiziert worden seien. An dieser Stelle mangele es an Fakten, die für eine nach dem sozialen Entschädigungsrecht nachvollziehbare Wahrscheinlichkeitsbeurteilung grundlegend einzubeziehen seien, um dieselbe anhand einer überzeugenden Kausalkette unter Aufzeigen von Bindegliedern wie u. a. Brückensymptomen herleiten zu können. Als Verstoß gegen die versorgungsmedizinischen Grundsätze sei es zu werten, dass der Sachverständige schädigungsfremde Einwirkungen von erheblichem Einfluss auf die kindliche emotionale Entwicklung völlig außer Acht gelassen habe. Es handele sich hier um starke seelische Belastungsfaktoren, denen der Kläger in einer häuslichen Umgebung mit einer instabilen familiären Situation ausgesetzt gewesen sei. Die genannten Umstände außerhalb des nach dem OEG zuerkannten Schädigungstatbestandes hätten auf den Kläger schwerwiegend und langfristig eingewirkt, so dass ihnen im Verhältnis zum OEG-Schädigungstatbestand die wesentliche Ursachenbedeutung zukommen müsse. Diese Wertung sei im Urteil des SG näher beleuchtet und entsprechend dargelegt worden. Demgegenüber habe die mit der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen nachgereichte Auseinandersetzung mit der Materie keine neuen überzeugenden Gesichtspunkte erbracht. Dies gelte auch für die von ihm hervorgehobene besondere Bindung des Klägers zu seinem Bruder, denn auch hier seien die bekannten schädigungsfremden Einflüsse außer Acht gelassen worden. Wenn Kinder in einem Milieu familiär zerrütteter Verhältnisse mit dem Gefühl, einer fehlenden Geborgenheit hilflos ausgesetzt zu sein aufwachsen müssten, stelle eine enge Bezogenheit mit dem Drang, sich gegenseitig zu beschützen, keine Besonderheit dar, die für den geschilderten OEG-Schädigungstatbestand spreche. Die bei dem Kläger bestehenden Störungen seien weder unmittelbar noch zeitnah mit dem nach dem OEG geschützten Negativerlebnis aufgetreten, sondern hätten sich erwiesenermaßen langfristig entwickelt. Damit seien sie aller Wahrscheinlichkeit nach das Ergebnis einer sich auf das Persönlichkeitsgefüge ungünstig auswirkenden familiären Obhut mit u. a. auch schweren seelischen Belastungsfaktoren, unter denen der Kläger in einer häuslichen Umgebung mit einer ausgeprägt instabilen familiären Situation aufgewachsen sei. Dem OEG-Tatbestand komme vor diesem Hintergrund keine relevante Ursachenbedeutung zu.

28

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit Schriftsatz vom 30. September 2013 ausgeführt, der Sachverhalt sei nunmehr mit den ergänzenden schlüssigen Erläuterungen des gerichtlichen Sachverständigen aufgeklärt. Dieser habe überzeugend dargelegt, dass die affektiv aggressiven Verhaltensstörungen des Klägers Symptome einer wesentlich durch das Beobachten des Missbrauchs des Bruders bedingten Gesundheitsstörung seien. Auf der Grundlage dieser Feststellungen sei dem Kläger ein Anspruch auf Opferentschädigung zuzusprechen. Allerdings sei der Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht zum zeitlichen Umfang des Anspruchs noch weiter aufzuklären, da es aufgrund der Verpflichtungsklage auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankomme. Der gerichtliche Sachverständige habe nachvollziehbar dargelegt, dass die von ihm beschriebenen affektiv aggressiven Verhaltensstörungen des Klägers wahrscheinlich eine Folge der erlittenen Belastungsreaktionen sind. Richtig sei hierbei auch, dass der Ursachenzusammenhang zwischen der Belastung und dem Gesundheitsschaden bzw. der Gesundheitsstörung nicht mit dem Vollbeweis zur vollen, alle anderen Zweifel ausschließenden Überzeugung geführt werden müsse. Als Beweismaßstab für die haftungsbegründende Kausalität im Entschädigungsrecht genüge seit dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 15. Dezember 1999 (B 9 VG 2/98 R) die Wahrscheinlichkeit. Diese Wahrscheinlichkeit werde vom Sachverständigen nachvollziehbar bejaht. Zu den Möglichkeiten, die der Beklagte als mögliche andere Ursache für die Gesundheitsstörungen benenne, sei nichts festgestellt. Der Alkoholmissbrauch der Mutter sei schon lange vorher beendet gewesen und habe in der Familie keine Rolle mehr gespielt. Ein niedriges Familieneinkommen als Ursache für seelisch bedingte Verhaltensstörungen könne vom Beklagten nicht ernsthaft unter Beweis gestellt werden. Im Hinblick auf die noch nicht abgeschlossene Persönlichkeitsentwicklung des Klägers und die Tatsache, dass bei ihm mehrere psychische Gesundheitsstörungen zu diagnostizieren seien, wobei die affektiv aggressiven Verhaltensstörungen nur die Symptome der Gesundheitsstörung seien, sei es wichtig, die zu entschädigende Gesundheitsstörung genau zu bezeichnen, damit diese festgestellt werden könne. Insoweit bedürfe der Sachverhalt noch der medizinischen Aufklärung.

29

Mit Schreiben vom 18. November 2013 hat der Beklagte eine weitere Stellungnahme seines ärztlichen Dienstes vom 14. November 2013 vorgelegt, wonach die aus der Sicht des Klägers bestehende entschädigungspflichtige Gesundheitsstörung unter der Bezeichnung "affektiv aggressive Verhaltensauffälligkeiten" zu führen wäre. Es sei aber nochmals zu verdeutlichen, dass der Sachverständige die Symptomatik von affektiv aggressiven Verhaltensauffälligkeiten als bleibende Folge einer schädigungsbedingt erlittenen posttraumatischen Belastungsstörung herauskristallisieren wolle, eine solche aber bzw. Hinweise für eine solche aber zu keinem Zeitpunkt zu belegen seien. Affektiv aggressive Verhaltensauffälligkeiten seien dem Diagnosebild einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen zuzuordnen. Die Störungen hätten sich nachgewiesen langfristig entwickelt und seien aller Wahrscheinlichkeit nach das Ergebnis einer sich auf das Persönlichkeitsgefüge ungünstig auswirkenden familiären Obhut mit u. a. auch schweren seelischen Belastungsfaktoren, unter denen der Kläger in einer häuslichen Umgebung mit einer ausgeprägt instabilen familiären Situation aufgewachsen sei. Dem OEG-Tatbestand könne vor diesem Hintergrund keine relevante Ursachenbedeutung zukommen. Dies gelte auch, soweit die affektiv aggressiven Verhaltensauffälligkeiten als Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung zu werten seien. Auch hier seien die häuslichen Milieuumstände für sich geeignet, aufgrund von wiederkehrenden traumatischen Erfahrungen ursächlich im Sinne der wesentlichen Bedeutung zu sein. Zu berücksichtigen sei zuletzt der Umstand, dass das Tourette-Syndrom Auswirkungen habe, die vom persönlichen Umfeld als aggressiv emotional fluktuierendes Verhalten missgedeutet werden könnten.

30

Die Gerichtsakte, die Verwaltungsakte der Beklagten nebst Auszügen aus der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft H. und der Gerichtsakte des Amtsgerichtes S. haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe

31

Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

32

Streitbefangen ist die Frage, ob dem Kläger eine Beschädigtenrente ab 1. Dezember 2002 nebst Feststellung einer Schädigung i. S. des OEG zusteht. Diese Frage ist zu verneinen. Die angegriffenen Bescheide des Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 und 4 Sozialgericht {SGG]). Das insoweit zur Überprüfung stehende Urteil des SG ist nicht abzuändern, weshalb der Berufung der Erfolg verwehrt bleibt.

33

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält auf Antrag wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG Versorgung, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Dabei genügt gemäß §§ 1 Abs. 1 OEG, 1 Abs. 3 BVG zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung oder einer Verschlimmerung einer anerkannten Schädigungsfolge die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, die dann gegeben ist, wenn mehr für als gegen den Zusammenhang spricht, d.h. wenn die für den Zusammenhang sprechenden Umstände mindestens deutlich überwiegen. Dagegen müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen wie "schädigender Vorgang" einschließlich der Rechtswidrigkeit des Angriffs, "gesundheitliche Schädigung", "gesundheitliche bzw. wirtschaftliche Folgen" selbst erwiesen sein, wofür eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit genügen kann, die ernste, vernünftige Zweifel ausschließt. Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach § 30 Abs. 1 BVG nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der Grad der Schädigung ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer Grad der Schädigungsfolgen wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.

34

Im Interesse einer einheitlichen und gleichmäßigen Behandlung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aufgrund der Ermächtigung in §§ 69 Abs. 1 Satz 3 SGB IX, § 1 Abs. 1 VfG-KOV, 30 Abs. 16 BVG nach § 2 Satz 1 Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (VersMedV, BGBl. I S. 2412) in den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen", Ausgabe 2008 (Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008) die Grundsätze für die medizinische Bewertung des GdS festgelegt, die fortlaufend auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft fortentwickelt werden (§ 2 Satz 2 VersMedV). Die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" ersetzen die bis zum 31.12.2008 anzuwendenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (letzte Ausgabe 2008) und stellen eine verbindliche Rechtsquelle für die Feststellung einer Schädigungsfolge und des GdS dar (vgl. BSG, Urteil vom 30.09.2009, A.: B 9 SB 4/08 R, juris).

35

Der Kläger ist nicht selbst Opfer eines unmittelbaren Angriffes im oben dargestellten Sinne geworden. Allerdings werden seit einer Entscheidung des BSG vom 7. November 1979 (9 RVg 1/78, SozR 3800 § 1 Nr. 1) in ständiger Rechtsprechung auch Opfer sog. Schockschäden in den Schutzbereich des OEG einbezogen. Dabei geht es um die psychische Schädigung von Personen, die nicht selbst von einem tätlichen Angriff getroffen, sondern Zeuge einer Gewalttat werden oder denen die Nachricht von einem besonders schrecklichen Geschehen übermittelt wird. Dass die psychische Schädigung nicht bei demjenigen eintritt, auf den der Angriff (unmittelbar) gerichtet ist, steht einem Anspruch nicht entgegen, weil § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht einen Angriff auf den Geschädigten voraussetzt, sondern es sich auch um einen Angriff gegen eine andere Person handeln kann. Auch braucht sich der Vorsatz des Angreifers nicht auf die psychische Schädigung auch der anderen Person zu beziehen. Nach der Rechtsprechung des BSG steht einem Anspruch nicht entgegen, dass das Opfer eines sog. Schockschadens keiner körperlichen, sondern einer psychischen Einwirkung ausgesetzt ist. Das Opfer eines Schockschadens wird in der Rechtsprechung regelmäßig als "Sekundäropfer" bezeichnet. Dessen Anspruch setzt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Elemente voraus. Es müssen die psychischen Auswirkungen der Gewalttat beim Sekundäropfer bei wertender Betrachtung mit der Gewalttat so eng verbunden sein, dass beide eine natürliche Einheit (BSG, Urteil vom 12. Juni 2003, B 9 VG 1/02 R, juris) bilden. Maßgebliches Kriterium für das Vorliegen des erforderlichen unmittelbaren Zusammenhangs ist die zeitliche, örtliche und personale Nähe, wobei nicht alle Aspekte kumulativ vorliegen müssen. Bei der Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Angriff und Schädigung, insbesondere bezogen auf den sexuellen Missbrauch von Kindern ist darauf abzustellen, ob es der herrschenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft entspricht, dass Ereignisse dieser Art allgemein geeignet sind, solche Krankheiten hervorzurufen (BSG, Urteil vom 26. Januar 1994, 9 RVg 3/93, SozR 3-3800 § 1 Nr. 3 OEG).

36

In Anwendung dieser Grundsätze ist hier die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs der psychischen Erkrankung des Klägers mit dem sexuellen Missbrauch des Bruders zu verneinen. Nach den im Wesentlichen übereinstimmenden Angaben der Ärzte, mit Ausnahme der Begutachtung durch Prof. Dr. F., hat der Kläger bei Untersuchungen und Behandlungen im Sommer 2001, von Oktober bis Dezember 2002, von März bis Mai 2003 und im November 2003 keine Schädigungsfolgen aufgewiesen, wie sie für eine eindeutige posttraumatische Belastungsstörung typisch sind. Zwar ist es bei durchlittenen oder als Zeuge beobachteten Gewalttaten denkbar, dass eine psychische Reaktion auf die Tat zunächst weitgehend symptomlos verläuft und sich erst nach einer Latenzzeit eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. Allerdings hat eine solche Belastungsstörung beim Kläger nicht nur im oben angegebenen Zeitraum, sondern auch später bei keiner der Untersuchungen im Vordergrund gestanden und wird selbst von Prof. Dr. F. lediglich als sekundäre Folge im Zusammenhang mit anderen möglichen Krankheitsursachen diskutiert. Daher ist es unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Kläger von Geburt an bestimmten Belastungsfaktoren wie der Alkoholerkrankung der Mutter und dem Sauerstoffmangel infolge Herzstillstand mit nachfolgender leichter zerebrale Dysfunktion ausgesetzt war, nicht als wahrscheinlich anzusehen, dass die später umfangreich festgestellten psychischen Störungen auf den sexuellen Missbrauch im Jahre 2000 zurückzuführen sind. Dabei war auch zu beachten, dass der Kläger seine Beobachtungen als dreijähriges Kind gemacht und diese angesichts seiner fehlenden intellektuellen Reife zunächst nicht als übermäßig bedrohlich hat bewerten können.

37

Demgegenüber sind die Ausführungen von Prof. Dr. F., auch die in seiner ergänzenden Stellungnahme von Juli 2013, nicht überzeugend. Er selbst beschreibt bestimmte psychische Vorgänge wie das Tourette-Syndrom, die auch seiner Auffassung nach mit dem Tatgeschehen nicht in Verbindung stehen. Seine Wertung, der ursächliche Zusammenhang müsse bejaht werden, weil auch ein anderweitiger Ursachenzusammenhang nicht belegt sei, ist keine rechtlich zulässige Schlussfolgerung. Diese Annahme wird überdies auch durch die von sämtlichen Ärzten, sowie auch von Prof. Dr. F. selbst herausgearbeiteten Belastungsfaktoren widerlegt, die auf den Kläger unabhängig von dem sexuellen Missbrauch eingewirkt haben. Angesichts dieser Belastungsfaktoren, zu denen neben den beschriebenen Umständen bei der Geburt des Klägers auch ein gewisses familiäres Mangelmilieu gezählt werden muss, kann nicht mit Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass gerade das Beobachten des sexuellen Missbrauchs des Bruders im Alter von drei Jahren zu einer posttraumatischen Belastungsstörung in Form affektiv aggressiver Verhaltensauffälligkeiten im höheren Lebensalter geführt hat. Dr. D. hat mit Gutachten vom 9. August 2001 im Auftrag der Staatsanwaltschaft H. u. a. festgestellt, beim Kläger hätten keine Merkmale einer psychischen Störung vorgelegen und lägen keine Symptome einer krankheitswertigen Störung vor (S. 23 des Gutachtens). Am 13. November 2003 ist Dr. W. im Auftrag des Beklagten zu dem Ergebnis "sehr leichtgradiger allgemeiner Verhaltensstörungen eines Vorschulkindes, die insgesamt nicht Krankheitswert erreichen" gekommen, sodass über einen Zeitraum von drei Jahren nach dem Beobachten des sexuellen Missbrauchs keine durch Untersuchung des Klägers gesicherten medizinischen Erkenntnisse über nennenswerte psychische Störungen vorliegen. Wie und wodurch es dann später zu stärkeren Ausprägungen von psychischen Störungen gekommen ist, lässt sich angesichts der Gemengelage von ungünstigen sozialen Faktoren und einer gewissen Vorschädigung durch die Geburt wie aber auch durch das Beobachten des sexuellen Missbrauchs nicht genauer bestimmen. Auch Prof. Dr. F. hat diese Klärung nicht herbeigeführt, sondern in seiner Zusammenfassung der Stellungnahme vom 8. Juli 2013 lediglich darauf hingewiesen, der Kläger müsse als Sekundäropfer entschädigt werden, da sich keine gesicherte alternative Kausalität finden lasse. Eine solche (negative) Beweisregel, wonach die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zwischen einem Ereignis und einer Gesundheitsschädigung nur deshalb anzunehmen ist, weil ein anderer Ursachenzusammenhang mit anderen Ereignissen oder Einwirkungen nicht zu finden ist, ist im Sozialrecht jedoch nicht anerkannt. Hiervon abgesehen, ist die Feststellung von Prof. Dr. F. auch sachlich falsch, denn er selbst hat festgestellt, dass das Tourette-Syndrom, die ADHS und die minimale cerebrale Dysfunktion nicht auf das Beobachten des sexuellen Missbrauchs zurückgeführt werden könnten. Wenn aber psychische Störungen mit Krankheitswert gegeben sind, die auf anderen Ursachen beruhen müssen, ist es nicht plausibel, bestimmten, tatsächlich oder scheinbar abgrenzbaren Störungen (affektiv agressive Verhaltensauffälligkeiten) einen wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang zuzuweisen, für den über einen Zeitraum von rund drei Jahren nach einem schädigenden Ereignis keine Nachweise vorhanden sind.

38

Es erscheint durchaus denkbar, dass der erlebte sexuelle Missbrauch des Bruders Auswirkungen auf die seelische und psychische Entwicklung des Klägers gehabt hat. Allerdings lassen sich entgegen der Annahme des Klägers und des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. F. diese Auswirkungen im Geflecht mit den anderen bekannten Faktoren nicht hinreichend wahrscheinlich differenzieren oder gar hinsichtlich eine bestimmten Schweregrades von psychischen Störungen quantifizieren.

39

Dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers brauchte der Senat nicht nachzugehen, weil der Sachverhalt in zwei Instanzen und im Vorverfahren hinreichend aufgeklärt worden und dabei auch insbesondere der Kläger ausführlich exploriert worden ist, zuletzt von Prof. Dr. F. im Gutachten vom 4. Juni 2010.

40

Nach allem war die Berufung zurückzuweisen.

41

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG.

42

Die Revision war nicht zuzulassen, da Revisionszulassungsgründe (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) nicht vorliegen.


Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

(1) Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung.

(2) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die herbeigeführt worden sind durch

a)
eine unmittelbare Kriegseinwirkung,
b)
eine Kriegsgefangenschaft,
c)
eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit,
d)
eine mit militärischem oder militärähnlichem Dienst oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Straf- oder Zwangsmaßnahme, wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist,
e)
einen Unfall, den der Beschädigte auf einem Hin- oder Rückweg erleidet, der notwendig ist, um eine Maßnahme der Heilbehandlung, eine Badekur, Versehrtenleibesübungen als Gruppenbehandlung oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 26 durchzuführen oder um auf Verlangen eines zuständigen Leistungsträgers oder eines Gerichts wegen der Schädigung persönlich zu erscheinen,
f)
einen Unfall, den der Beschädigte bei der Durchführung einer der unter Buchstabe e aufgeführten Maßnahmen erleidet.

(3) Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, kann mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden; die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

(4) Eine vom Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung gilt nicht als Schädigung im Sinne dieses Gesetzes.

(5) Ist der Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben, so erhalten seine Hinterbliebenen auf Antrag Versorgung. Absatz 3 gilt entsprechend.

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

Die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien sind in der Anlage zu dieser Verordnung*als deren Bestandteil festgelegt.

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 11.06.2010 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG).

2

Die am ........2002 geborene Klägerin wurde am 19.07.2002 nach der Vorsorgeuntersuchung U4, die unauffällig verlief, mit dem Impfstoff Hexavac gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Haemophilus B, Hepatitis B und Poliomyelitis geimpft. Am 24.07.2002 wurde die Klägerin stationär im S... K... K... K... aufgenommen. In der Anamnese durch die Mutter ist vermerkt, dass die Klägerin vor fünf Tagen geimpft worden sei, am Abend Schreiattacken gehabt habe, die über das Wochenende angehalten hätten. Seit dem 23.07.2007 seien Krampfanfälle aufgetreten, insgesamt fünfmal. Andere Nebenerscheinungen oder Fieber wurden nicht bemerkt. Die Temperatur wurde mit 37,9 Grad gemessen. Nach Durchführung verschiedener Untersuchungen wurde die Diagnose eines West-Syndroms gestellt, da sowohl nach dem EGG-Befund mit Nachweis einer typischen Hypsarrhythmie als auch von der Art der Anfälle mit tonischen und myoklonischen Anfällen von einer BNS-Epilepsie auszugehen sei. Am 23.08.2002 erfolgte die zweite Hexavac-Impfung, nachdem zuvor als auch danach Krampfanfälle aufgetreten waren.

3

Im Februar 2005 beantragte die Klägerin über ihre Eltern Versorgung nach dem IfSG wegen eines Impfschadens.

4

Das Amt für soziale Angelegenheiten Koblenz zog die Schwerbehindertenunterlagen bei. Nach dem Schwerbehindertenrecht war bei der Klägerin mit Bescheid vom 23.11.2004 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt worden. Sodann zog das Amt für soziale Angelegenheiten die Behandlungsunterlagen des Klinikums K... und des Sozialpädiatrischen Zentrums B...K... bei und ließ die Klägerin durch Prof. Dr. R..., Ärztlicher Direktor der Abteilung Päd. Neurologie der Universitäts-Kinderklinik H... begutachten. Dieser kam nach einer Untersuchung der Klägerin im Mai 2006 zu dem Ergebnis, aus kinderärztlicher Sicht sei seit langer Zeit die Indikation zur Durchführung der Pertussis-Impfung gegeben, auch wenn in den sechziger und siebziger Jahren über die Möglichkeit der Entwicklung einer Epilepsie in diesem Zusammenhang diskutiert worden sei. Ein Krampfanfall mit Fieber nach DPT-Impfung sei als mögliche Impfkomplikation gut bekannt und unstreitig anerkannt. Nach einer DPT-Impfung könne sich bei genetisch prädisponierten Patienten eine Epilepsie entwickeln, die durch einen Fieberkrampf ausgelöst werde. Dieser Fieberkrampf werde zum Realisationsfaktor einer nachfolgenden Epilepsie. Eine wesentliche Temperaturerhöhung im zeitlichen Zusammenhang mit der Manifestation der ersten Anfälle sei bei der Klägerin aber nicht festgestellt worden. Zudem habe sich die Epilepsie direkt als Epilepsie mit BNS-Anfällen und nicht als unspezifischer Fieberkrampf manifestiert. Zwar würden publizierte Daten dafür sprechen, dass nach DPT-Vaccinationen eine erhöhte Rate von Krampfanfällen zu beobachten seien. Allerdings gebe es natürlicherweise für jeden Säugling ein gewisses Basisrisiko, unabhängig von der Impfung, gerade zu diesem Zeitpunkt einen Krampfanfall zu erleiden bzw. eine Epilepsie mit BNS-Anfällen zu entwickeln, deren Manifestationsgipfel ja gerade um den 4. bis 6. Lebensmonat liege. Aufgrund dieses allgemeinen Hintergrundrisikos sei zu erwarten, dass 7/10.000 der Kinder innerhalb einer Woche um die Impfung herum einen ersten Krampfanfall erleiden würden. Krampfanfälle nach DPT-Vaccination seien nicht so sehr Folge der Impfung, sondern die Impfung führe dazu, dass ein Ereignis, das später eingetreten wäre, sich früher manifestiere. Dafür spreche, dass die Häufigkeit von Krampfanfällen in der ersten Woche nach der Impfung höher, in der zweiten Woche nach der Impfung jedoch deutlich niedriger als zu erwarten sei. In den neuesten Untersuchungen habe sich gezeigt, dass bei mittlerweile 635.000 DPT-Impfungen in Nordbayern seit 1982 kein einziger bleibender Schaden auf die Impfung zurückzuführen sei. Allerdings könne nicht ausgeschlossen werden, dass in besonders gelagerten Fällen ein kausaler Zusammenhang bestehen könne, da sich neurologische Zeichen früher zeigen könnten auch wenn ein gewisser Prozentsatz der Komplikationen reine Koinzidenz sein könnten.

5

Die Epilepsie habe sich bei der Klägerin so manifestiert, wie es bei vielen hundert Kindern in Deutschland jedes Jahr geschehe, für die jedoch keinerlei zeitliche Beziehung zwischen der Impfung und der Epilepsie mit BNS-Anfällen bestehe. Beginn, Klinik und Verlauf der Epilepsie bei der Klägerin seien geradezu klassisch und lehrbuchhaft. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass bei der Klägerin die Epilepsie mit BNS-Anfällen durch die Impfung mit Hexavac hervorgerufen worden sei.

6

Mit Bescheid vom 29.08.2006 lehnte das Amt für soziale Angelegenheiten darauf gestützt den Antrag der Klägerin ab. Eine gesundheitliche Schädigung aufgrund der durchgeführten Impfung könne nicht nachgewiesen werden. Weder aus den anamnestischen Schilderungen noch aus den erhobenen Zusatzuntersuchungen ließen sich Hinweise darauf finden, dass ein über den zeitlichen Zusammenhang hinausgehender kausaler Zusammenhang zwischen der Impfung und dem West-Syndrom bestehe. Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte nach versorgungsärztlicher Beteiligung mit Widerspruchsbescheid vom 14.05.2007 zurück.

7

Im hiergegen vor dem Sozialgericht Koblenz durchgeführten Klageverfahren hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG des Dr. H....

8

Der Sachverständige ist in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 07.09.2009 im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, bei der Klägerin bestehe seit Juli 2002 eine Hirnentwicklungsstörung mit Ausbildung eines West-Syndroms. Es beständen weiterhin deutliche Retardierungen der kognitiven und motorischen Funktionen. Die Erkrankung sei nach den WHO-Kriterien wahrscheinlich durch die Verabreichung von Hexavac-Impfungen verursacht worden. Der zeitliche Verlauf, neue Erkenntnisse über die Toxizität der verwendeten Impfstoffe und ihrer Adjuvantien und das Fehlen alternativer Ursachen würden im Fall der Klägerin für eine solche Einschätzung sprechen.

9

Der Beklagte ist dem Ergebnis des Gutachtens des Sachverständigen durch Vorlage einer sozialmedizinischen Stellungnahme des Dr. B... entgegengetreten. Dieser hat darauf hingewiesen, dass bei der Klägerin durch Sonographie und Kernspintomographie ein diffuses Hirnödem im Rahmen einer Encephalopathie oder Encephalitis ausgeschlossen worden sei. Daher spiele das von Dr. H... erwähnte Aluminiumhydroxid als so genanntes Adjuvans oder unspezifischen Immunverstärker im Hexavac keine Rolle, weil das vermutete Ergebnis dieser Reaktion, eine Encephalopathie, durch die bildgebenden Verfahren ausgeschlossen worden sei.

10

Mit Urteil vom 11.06.2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Klägerin stehe kein Anspruch gegen die Beklagte auf Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Folgen einer Impfung zu. Unstreitig sei die Klägerin am 19.07.2002 durch Dr. H... mit dem zugelassenen Impfstoff Hexavac geimpft worden und leide an einer Epilepsie mit BNS-Anfällen sowie einer Entwicklungsstörung. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Impfung und dem West-Syndrom sei aber nicht wahrscheinlich. Es fehle vor allem der Nachweis einer deutlich erhöhten Körpertemperatur im Anschluss an die Impfung. Als die Klägerin am 24.07.2002 gegen 16.30 Uhr in der Kinderklinik K... aufgenommen wurde, habe die Körpertemperatur 37,9 Grad betragen. Über Fieber oder Fieberanfälle sei in der Anamnese nichts berichtet worden. Auch im HTZ-N... hätten die Eltern die Frage nach Fieber im Anschluss an die Impfung verneint. Nach Ansicht des Sachverständigen Prof. Dr. R... sei die Epilepsie der Klägerin lehrbuchhaft aufgetreten, ohne vorherigen Fieberkrampf aber gleichzeitig mit den BNS-Anfällen. Bei dieser Sachlage könne kein krankhaftes Geschehen festgestellt werden, das zunächst einen ZNS-Defekt verursacht habe, der in der weiteren Folge eine Epilepsie ausgelöst hätte. Das West-Syndrom sei eine Erkrankung, die zu 90 % im ersten Lebensjahr auftrete mit einer Häufigkeit von 1 : 4.000 bis 1 : 6000, weshalb im Jahr 2002 bei 719.250 Neugeborenen ca. 120 bis 180 Krankheitsfälle aufgetreten sein müssten. Da die U4 im 3./4. Lebensmonat stattfinde und im Allgemeinen, wenn keine Impfhindernisse vorlägen, bei dieser Untersuchung geimpft werde, sei zu erwarten, dass einige der jährlichen Krankheitsfälle in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung auftreten würden. Ein zeitlicher Zusammenhang sei jedoch kein ursächlicher Zusammenhang, der für die Anerkennung des Impfschadens gefordert werde.

11

Am 06.07.2010 hat die Klägerin gegen das ihr am 25.06.2010 zugestellte Urteil Berufung eingelegt.

12

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Dr. H..., Oberarzt und Leiter der Neuropädiatrie und des Sozialpädiatrischen Zentrums der Universitätskinderklinik K....

13

Der Sachverständige hat die Klägerin im März 2011 untersucht und ist in seinem Gutachten im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, bei der Klägerin bestehe ein Dauerleiden in Form einer leichten geistigen Behinderung, die sich infolge einer im 4. Lebensmonat wenige Tage nach der ersten Sechsfach-Impfung (Hexavac) erstmals aufgetretenen West-Syndroms entwickelt habe. Ein Kausalzusammenhang zwischen der Impfung und dem West-Syndrom lasse sich nicht mit Wahrscheinlichkeit feststellen. Der Beginn des West-Syndroms im 4. Lebensmonat sei typisch für diese Erkrankung. Das Dilemma, eine wissenschaftlich beweisbare Kausalkette belegen zu müssen, könne mangels geeigneter Daten nicht gelöst werden.

14

Ein Kausalzusammenhang könne aber prinzipiell auch nicht widerlegt werden, so dass die Kann-Versorgung nicht von vornherein auszuschließen sei. Für die Inanspruchnahme einer Kann-Versorgung könne festgestellt werden, dass die Ursache des Leidens der Klägerin ungewiss sei. Ungewissheit bestehe aber auch in der Wissenschaft darüber, ob die erfolgte Impfung in Einzelfällen zu dem aufgetretenen Dauerleiden führen könne. Die Untersuchungen im Rahmen des Gutachtens hätten keine Hinweise ergeben, die zu einer sinnvollen Ursachensuche führen würden. Da in Einzelfällen schwere neurologische Erkrankungen nach Keuschhusten-Ganzkeimimpfung belegt seien und bei der Klägerin keine andere Ursache des West-Syndroms nachweisbar sei, sei in Übereinstimmung mit Prof. Dr. R... und der übrigen Literaturmeinung ein Zusammenhang zwischen Impfung und Erkrankung nicht ausgeschlossen. Unter der Vorstellung einer genetischen Prädisposition (so auch Prof. Dr. R...) bestehe zumindest die gute Möglichkeit einer Triggerung der Erkrankung der Klägerin durch die Impfung. Das frühe Auftreten durch die Impfung werde die Wahrscheinlichkeit einer Gesamtprognose begründen. Es sei wahrscheinlich kein Zufall, dass nach der Impfung die Klägerin genau in diesem Zeitraum erkrankt sei; es sei daher die Anerkennung des Impfschadens im Rahmen einer Kann-Versorgung zu empfehlen. Der Grad der Schädigungsfolgen sei mit 50 anzusetzen.

15

Die Klägerin trägt vor,

16

das Sozialgericht verkenne, dass Dr. H..., auf den sie sich stütze, auf die Wirkung von Impfstoffen spezialisiert sei, während Prof. Dr. R... als Kinderneurologe damit befasst sei, bereits aufgetretene Krankheitsbilder zu behandeln. Dr. H... habe den ursächlichen Zusammenhang des bei ihr bestehenden BNS-Syndroms mit der zuvor erfolgten Impfung zutreffend bejaht. Als mögliche unerwünschte Wirkung der Impfung bestehe das Risiko des Auftretens einer Epilepsie, was sich aus dem Beipackzettel des Impfstoffs ergebe. Die statistische Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung in einem Zeitrahmen sei nicht ausschlaggebend für die Bewertung eines Einzelfalls.

17

Die Klägerin beantragt,

18

das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 11.06.2010 sowie den Bescheid des Amtes für soziale Angelegenheiten Koblenz vom 29.08.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.05.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, eine BNS-Epilepsie als Folge der Impfung vom 19.07.2007 anzuerkennen und Versorgung nach einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 50 zu gewähren.

19

Der Beklagte beantragt,

20

die Berufung zurückzuweisen.

21

Der Beklagte trägt unter Bezugnahme auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. B... vor,

22

in Übereinstimmung mit dem Gutachten des Dr. H... sei davon auszugehen, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der stattgehabten Impfung und dem West-Syndrom nicht mit Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, was auch in Übereinstimmung mit dem Gutachten des Prof. Dr. R... stehe. Das Begutachtungsergebnis von Dr. H... sei durch das vom Senat eingeholte Gutachten widerlegt. Den Ausführungen des Sachverständigen Dr. H... zur Kann-Versorgung sei hingegen nicht zu folgen. Eine Kann-Versorgung entfalle, wenn sich die Frage des ursächlichen Zusammenhangs bereits in der Gesamtheit beantworten lasse. Diese Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs habe Dr. H... geprüft und letzten Endes verneint, so dass ein Raum für eine Kann-Versorgung nicht mehr bestehe. Darüber hinaus komme eine Kann-Versorgung schon deshalb nicht in Betracht, weil der geforderte zeitliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Manifestation des Leidens nicht gewahrt sei. Allgemeine Reaktionen wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik wie Frösteln, Kopf oder Gliederschmerzen, Schläfrigkeit, Unruhe, Reizbarkeit, ungewöhnliches Schreien oder Magen-Darm-Beschwerden seien ärztlicherseits im Anschluss an die Impfung nicht objektiviert worden. Allenfalls die Eltern würden sich rückblickend an ein anhaltendes Schreien oder eine Unruhe zwei Stunden nach der Impfung erinnern. Dabei handele es sich um Befunde, die bei jedem Säugling auch ohne Impfung im Verlauf eines jeden Tages auftreten könnten und nach dem neuesten Erkenntnisstand mit Vorboten einer Grunderkrankung nichts zu tun hätten.

23

In Übereinstimmung mit Prof. Dr. R... sei das vier Tage nach der Impfung diagnostizierte West-Syndrom nicht mit einem Vorboten, sondern mit einem Kardinalsyndrom, einer Säuglingsepilepsie im Sinne von BNS-Krämpfen aufgetreten, was aufgrund der Kürze der Zeit mit der Impfung nichts zu tun haben könne. Auch Dr. H... habe berichtet, dass der Zeitpunkt der Verursachung sowie der Entwicklung der Encephalopathie eines West-Syndroms und das Auftreten der Krampfanfälle meist um Wochen bis Monate auseinander liegen würden, weshalb ein zeitlicher Zusammenhang nicht gegeben sei. Die vom Gutachter angegebenen Brückensymptome in der Form von Unruhe und Schreien seien unspezifisch und daher nicht geeignet, den Beginn der Grunderkrankung West-Syndrom zu markieren.

24

Im Übrigen wird zur Ergänzung Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen und die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten sowie der Gerichtsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

25

Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet, da ihr kein Anspruch gegen den Beklagten auf Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Impfschadensfolge und Versorgung nach dem IfSG zusteht.

26

Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde oder auf Grund des IfSG angeordnet wurde oder gesetzlich vorgeschrieben war oder auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG, wer durch diese Maßnahme eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Gemäß § 2 Nr. 11 IfSG ist ein Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

27

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Impfung genügt gemäß § 61 Satz 1 IfSG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wahrscheinlich in diesem Sinne ist die Kausalität dann, wenn mehr für als gegen sie spricht, d.h. die für den Zusammenhang sprechenden Umstände mindestens deutlich überwiegen (vgl. BSG SozR 3850 § 51 Nr. 9 mwN). Kommen auch impfunabhängige Ursachen in Betracht, so genügt es, wenn die Impfung zum Eintritt des Erfolges zumindest annähernd gleichwertig beigetragen hat (Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl., § 52 BSeuchG RdNr. 5 f), jedoch reicht die bloße Möglichkeit nicht aus. Die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs kann nur angenommen werden, wenn die schädigende Einwirkung (Impfung), die gesundheitliche Schädigung (unübliche Impfreaktion) und die Schädigungsfolge (Dauerleiden) nachgewiesen sind (BSG, Urteil vom 6.9.1989, Az.: 9 RVi 2/88 mwN; Urteil des Senats vom 18.04.1997, Az.: L 4 Vi 2/96).

28

Bei der vorzunehmenden Kausalitätsbeurteilung sind für den hier maßgeblichen Zeitraum ab 01.02.2005 grundsätzlich die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (zuletzt Ausgabe 2008 - AHP 2008) zu beachten, die jeweils unter den Nr. 53 bis 143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen enthalten. Dies gilt auch für die Zeit ab Inkrafttreten der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung am 1. Januar 2009, die solche auf einzelne Krankheitszustände bezogene Hinweise nicht mehr enthält (vgl. dazu Begründung zur VersMedV, Bundesrats-Drucksache 767/08, Seite 4). Die auf den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft fußenden Anhaltspunkte haben normähnlichen Charakter und sind grundsätzlich wie untergesetzliche Normen heranzuziehen, um eine möglichst gleichmäßige Handhabung der in ihnen niedergelegten Maßstäbe zu gewährleisten. Grundsätzlich ist der neueste medizinische Erkenntnisstand zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn der zu beurteilende Impfvorgang - wie hier - mehrere Jahre zurückliegt.

29

Nach Teil C Nr. 57 AHP 2008 stellen die von der beim Robert Koch-Institut eingerichteten Ständigen Impfkommission (STIKO) entwickelten und im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Kriterien (Arbeitsergebnisse) zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung („Impfschaden“) den jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Dieser Beurteilungsgrundsatz beruht auf einem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats „Versorgungsmedizin“ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS, Rundschreiben vom 12. Dezember 2006 - IV c.6-48064-3 -) und ersetzt die noch in den Anhaltspunkten 1996, 2004 und 2005 enthaltenen detaillierten Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem „Impfschaden“ (Impfkomplikation). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern, so dass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen (vgl. BSG, Urteil vom 07.04.2011

30

Aktenzeichen: B 9 VJ 1/10 R - juris).

31

Hier steht zur Überzeugung des Senats fest, was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist, dass die Klägerin am 19.07.2002 mit dem Sechsfachimpfstoff Hexavac geimpft worden ist. Es handelt sich dabei um einen Impfstoff, der per Injektion zur Grundimmunisierung und Auffrischimpfung gegen sechs unterschiedliche Infektionskrankheiten eingesetzt wird: Kinderlähmung, Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Haemophilus influenzae Typ b sowie Hepatitis B. Die Impfung mit diesem Medikament war öffentlich empfohlen (vgl. Epidemiologisches Bulletin Nr. 46 vom 17.11.2006, S. 403). Zudem steht fest, dass bei der Klägerin jedenfalls seit dem 24.07.2002 eine Epilepsie in Form des West-Syndroms besteht. Zur Überzeugung des Senats kann aber nicht festgestellt werden, dass dieses Leiden neben anderen Mitursachen zumindest mit annähernd gleichwertiger Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Impfung zurückzuführen ist. Ein solcher Zusammenhang ist nach der von den Sachverständigen ausgewerteten medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung allenfalls möglich, nicht aber - wie für die Gewährung von Entschädigung notwendig - wahrscheinlich.

32

Nach den Feststellungen des vom Senat gehörten Sachverständigen Dr. H..., die mit denjenigen des Prof. Dr. R... übereinstimmen, handelt es sich bei dem West-Syndrom um ein üblicherweise zwischen dem 2. und 8. Lebensmonat auftretendes Leiden, das anhand typischer symmetrischer Beuge- und Streckkrämpfe der Extremitäten, dem Befund einer Hypsarrhythmie im EEG sowie einer bestehenden oder neu aufgetretenen Verzögerung der psychomotorischen Entwicklung diagnostiziert wird. Nach den Angaben des Sachverständigen ist zu unterscheiden zwischen einer kryptischen und einer symptomatischen Form des West-Syndroms. Bei der kryptischen Form, welche in 10 bis 20 % der Fälle vorliege, seien Schwangerschaft, Geburt und psychomotorische Entwicklung bis zum Beginn der Erkrankung komplikationslos verlaufen, wie es auch bei der Klägerin der Fall war. In diesen Fällen zeigen die neurologische Untersuchung und bildgebende Verfahren, insbesondere Kernspintomographie des Schädels, keine Auffälligkeiten. Dagegen ist bei der weit überwiegenden symptomatischen Form des West-Syndroms die BNS-Epilepsie im Zusammenhang zu Faktoren während der Schwangerschaft, Geburt oder Leben in den ersten Lebensmonaten zu zählen, wie angeborene Infektionen, Sauerstoffmangel vor, während oder nach der Geburt, Gehirnfehlbildungen, frühgeburtliche und nach der Geburt erworbene Infektionen und Verletzungen. Nach Angaben des Sachverständigen sind weit über 200 Erkrankungen, die das BNS-Leiden auslösen können, beschrieben, wobei Zeitpunkt und Ursache der Entwicklung der Encephalopathie sowie auftretende Krampfanfälle meist um Wochen bis Monate auseinander liegen würden. Das sei besonders problematisch wegen der im sozialen Versorgungsrecht geforderten zeitlichen Nähe zwischen schädigenden Ereignis und Schädigungsfolge möglichst mit Brückensymptomen, was im typischen Fall eines West-Syndroms eindeutig nicht der Fall sei.

33

Auch bei der Klägerin hätten weder in der Akutsituation noch im weiteren Verlauf der Jahre Symptome oder Befunde erhoben werden können, die auf eine kausale Diagnose hingewiesen hätten, insbesondere seien die typischen Ursachen auszuschließen. Nach neuesten Erkenntnissen gebe es aber genetische Prädispositionen, die nach Impfung zu epileptischen Encephalopathien wie dem Dravet-Syndrom führen könnten, sehr wahrscheinlich auch dem West-Syndrom. In der medizinischen Lehrmeinung würden schwere neurologische Nebenwirkungen nur nach der Keuchhustenkomponente des Hexavac-Impfstoffs diskutiert.

34

Hinsichtlich der Wirkungsmöglichkeit der zusätzlichen Inhaltsstoffe lägen keine gesicherten Erkenntnisse vor, die eine Kausalität der Erkrankung der Klägerin begründen könnten. Im Gegensatz zu den früheren Impfstoffen könne zu den neueren Impfstoffen wie Hexavac mangels geeigneter Studien zu den seltenen Ereignissen (kleiner als 1:70.000) keine Aussage getroffen werden. Nach neuesten wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus den Jahren 2010 und 2011 entferne sich die Lehrmeinung von den alten Vorstellungen, es müsse ein toxisch oder fassbar immun-entzündlich vermittelter Schaden am Gehirn entstehen, der dann die Epilepsie verursacht, wie die so genannte Impf-Encephalopathie. Das schließe die Diskussion um die Fieberfrage ein. Bekannt sei, dass die Hirnschädigung, die zu einem West-Syndrom führe, sehr subtil und auf einen anatomisch kleinen Bereich beschränkt sein könne. Die Art der Schädigung, Infarkt, Blutung, Entzündung, Genetik oder Fieber spiele für die Auslösung keine Rolle, sondern vielmehr die Vulnerabilität, eventuell eine genetische Präposition. Daher müsse nach den neuesten Untersuchungen auch nicht zwingend ein Fieber als Brückensymptom gefordert werden. Vielmehr könne die bei der Klägerin initial auftretende Wesensänderung ein Brückensymptom einer Encephalopathie darstellen. Allerdings gebe es für eine schwere immunologisch-entzündliche Reaktion bei der Klägerin keinen Anhalt. Die gesundheitliche Vorgeschichte der Klägerin einschließlich der Schwangerschaft ergebe keine Anhaltspunkte für eine Ursache der Erkrankung. Die damalige stationäre Abklärung der Anfälle habe weder klinisch noch laborchemisch einen Hinweis auf eine akute Encephalitis als Auslöser ergeben. Auch der Beginn des West-Syndroms sei typisch für die Erkrankung. Wenngleich ein Kausalzusammenhang nicht prinzipiell widerlegt werden könne, bleibe festzuhalten, dass die Ursache des Leidens der Klägerin ungewiss sei.

35

Wenn somit die Ursache des Leidens der Klägerin ungewiss ist, scheidet ein ursächlicher Zusammenhang mit der angeschuldigten Impfung aus. Angesichts der hohen Zahl der Impfungen nach der Vorsorgeuntersuchung U4 und dem typischen Auftreten des West-Syndroms im vierten Lebensmonat bleibt ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Impfung und erstmaligem Auftreten des West-Syndroms, der aber nicht ausreicht. Hierauf wird auch in der medizinischen Wissenschaft hingewiesen (vgl. Epidemiologisches Bulletin Nr. 25 vom 22. Juni 2007, S. 212).

36

Auch weist Dr. H... darauf hin, dass in der wissenschaftlichen Literatur weit über 200 Erkrankungen beschrieben seien, die ein BMS-Leiden verursachen könnten wie z.B. Infektionen, und dass Zeitpunkt der Ursache und Auftreten der Krampfanfälle meist mehrere Wochen auseinander liegen würden. Demgegenüber wurde nach dem überzeugenden Gutachten in der medizinischen Lehrmeinung lediglich hinsichtlich der Keuchhustenkomponente des Kombinationsimpfstoffs über neurologische Nebenwirkungen diskutiert, während hinsichtlich der übrigen Bestandteile und der Zusatzstoffe keine gesicherte Erkenntnis besteht. Hinsichtlich der Pertussis-Impfung wurde zwar in der Vergangenheit ein möglicher ursächlicher Zusammenhang mit einer Enzephalopathie angenommen (vgl. Anhaltspunkte 2005, Ziff. 57 11 a). Dies betraf jedoch einen anderen, älteren Wirkstoff, als er bei der Klägerin zur Anwendung kam und ist zudem wohl durch neuere Studien überholt. Hierauf weist insbesondere Dr. H... hin, der eher eine genetische Prädisposition als wesentlich ansieht. Aber auch nach dem Gutachten des Dr. H... gibt es angesichts der sehr seltenen Krankheitsfälle wie dem der Klägerin im Zusammenhang mit dem neueren Impfstoff keine geeignete Untersuchung, also auch keine wissenschaftliche Erkenntnis. Nach dem Gutachten des Prof. Dr. R... ist das Leiden typisch und schicksalshaft entstanden.

37

Von einem ursächlichen Zusammenhang kann der Senat sich daher nicht überzeugen.

38

Dem Gutachten des Dr. H... ist nicht zu folgen. Zunächst trifft die Aussage im Gutachten vom 07.09.2009 zwar zu, die Zulassung des Impfstoffs Hexavac sei im Jahr 2005 zurückgezogen worden wegen fraglicher Langzeitwirkung. Nicht erwähnt wurden von Dr. H... aber, dass gleichzeitig ausdrücklich zu diesem Impfstoff festgestellt wurde: „Es bestanden jedoch keine Bedenken hinsichtlich der Sicherheit des Impfstoffes. Empfehlungen der STIKO, Angehörige von Risikogruppen wie auch Säuglinge, Kinder und Jugendliche zu impfen, sind unvermindert gültig“ (vgl. Epidemiologisches Bulletin Nr. 46 vom 17. November 2006 S. 402). Dr. H... nennt als Ursache des West-Syndroms bei der Klägerin eine postvakzinale pathologische Immunreaktion, ohne aber mehr als den zeitlichen Zusammenhang als Indiz anführen zu können. Wenn er dann eine postvakzinale Enzephalopathie beschreibt, die nicht zwingend mit Fieber einhergehen müsse, wird nicht beachtet, dass nach den umfangreichen Untersuchungen der Klägerin im Juli und August 2002 im Klinikum K... das Vorliegen einer solchen Enzephalopathie ausgeschlossen werden konnte.

39

Dieser Sachverständige hat zudem mit den WHO-Vorgaben für unerwünschte Medikamentenebenwirkungen einen eigenen Maßstab zur Kausalitätsfeststellung herangezogen. Im Impfschadensrecht ist aber nicht dieser Maßstab entscheidend, sondern die Vorgaben in den Anhaltspunkten, jetzt Versorgungsmedizinischen Grundsätzen und der diese konkretisierenden Rechtsprechung (vgl. auch Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.02.2011, Aktenzeichen: L 6 (7) VJ 42/03 -juris). Danach reichen ein plausibles zeitliches Intervall, eine plausible Pathophysiologie und der Ausschuss anderer Ursachen nicht aus, um eine wesentliche Ursache annehmen zu können.

40

Aber auch die Voraussetzungen für die Gewährung der sog. Kannversorgung gemäß § 60 Abs. 1 IfSG i.V.m. § 61 S. 2 IfSG liegen nicht vor. Eine Versorgung ist nach diesen Vorschriften mit Zustimmung des zuständigen Ministeriums zu gewähren, wenn ein ursächlicher Zusammenhang nur deshalb nicht als wahrscheinlich angenommen werden kann, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht. Nach Teil C Nr. 4b Versorgungsmedizinische Grundsätze ist eine Kannversorgung zu prüfen, wenn über die Ätiologie und Pathogenese des als Schädigungsfolge geltend gemachten Leidens keine durch Forschung und Erfahrung genügend gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Auffassung herrscht und entsprechend die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen für die Entstehung oder den Verlauf des Leidens nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden kann. In diesen Fällen ist die Kannversorgung zu gewähren, wenn ein ursächlicher Einfluss des geltend gemachten schädigenden Tatbestandes in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen wird (Teil C Nr. 4b bb Versorgungsmedizinische Grundsätze). Dabei reicht die allein theoretische Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs nicht aus. Denn die Verwaltung ist nicht ermächtigt, bei allen Krankheiten ungewisser Genese immer die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs - die so gut wie nie widerlegt werden kann - ausreichen zu lassen (vgl. BSG, SozR 3-3200 § 81 Nr. 9 m.w.N.). Es genügt nicht, wenn ein Arzt oder auch mehrere Ärzte einen Ursachenzusammenhang nur behaupten. Vielmehr ist es erforderlich, dass diese Behauptung medizinisch-biologisch nachvollziehbar begründet und durch wissenschaftliche Fakten, in der Regel statistische Erhebungen (vgl. BSG, SozR 3-3200 § 81 Nr. 13), untermauert ist. Die Fakten müssen - in Abgrenzung zu den Voraussetzungen der Pflichtversorgung - zwar (noch) nicht so beschaffen sein, dass sie bereits die überwiegende medizinische Fachwelt überzeugen. Die niedrigere Schwelle zur Kannversorgung ist daher bereits dann überschritten, wenn die vorgelegte Begründung einschließlich der diese belegenden Fakten mehr als die einfache Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs belegt (vgl. BSG Urteil vom 12.12.1995 - 9 RV 17/94, sowie Urteil vom 17.07.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - juris) und damit zumindest einen eingeschränkten Personenkreis der Fachmediziner überzeugt ("Mindermeinung").

41

Das West-Syndrom der Klägerin ist eine Erkrankung, bei der es im Hinblick auf die als schädigende Ereignisse angenommenen Impfung an einer fundierten, einen Ursachenzusammenhang bejahenden medizinischen Lehrmeinung fehlt, bis auf diejenige des Dr. H.... Dies zeigen bereits die oben zitierten, von der STIKO im Epidemiologischen Bulletin 2007, Nr. 25 (Seite 212 ff) veröffentlichten Arbeitsergebnisse. Derzeit gibt es keine wissenschaftlichen Fakten oder Hinweise, die eine Verursachung der BNS-Anfälle durch eine der bei der Klägerin vorgenommenen Impfungen annehmen oder gar beweisen könnten, worauf Dr. H... eingehend hinweist. Ein anderes Ergebnis kann auch nicht dadurch gewonnen werden, dass der Sachverständige Dr. H... als einziger den Ursachenzusammenhang für wahrscheinlich hält. Diese Meinung ist nicht überzeugend begründet. Jedenfalls fehlt es hier für eine Kannversorgung an einer diese tatbestandlich zumindest stützenden wissenschaftlichen (Minder-)Meinung in der Medizin. Sollte sich dies aufgrund des Fortschreitens der medizinischen Erkenntnisse ändern, steht es der Klägerin jederzeit frei, einen neuen Antrag auf Versorgung zu stellen.

42

Die Berufung ist daher zurückzuweisen.

43

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG.

44

Die Revision wird nicht zugelassen, da Revisionszulassungsgründe (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG) nicht vorliegen.

(1) Soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, sind auf die Beweisaufnahme die §§ 358 bis 363, 365 bis 378, 380 bis 386, 387 Abs. 1 und 2, §§ 388 bis 390, 392 bis 406 Absatz 1 bis 4, die §§ 407 bis 444, 478 bis 484 der Zivilprozeßordnung entsprechend anzuwenden. Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Weigerung nach § 387 der Zivilprozeßordnung ergeht durch Beschluß.

(2) Zeugen und Sachverständige werden nur beeidigt, wenn das Gericht dies im Hinblick auf die Bedeutung des Zeugnisses oder Gutachtens für die Entscheidung des Rechtsstreits für notwendig erachtet.

(3) Der Vorsitzende kann das Auftreten eines Prozeßbevollmächtigten untersagen, solange die Partei trotz Anordnung ihres persönlichen Erscheinens unbegründet ausgeblieben ist und hierdurch der Zweck der Anordnung vereitelt wird.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil sie jedenfalls unbegründet ist.

2

Zwar umfasst der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich auch die ergänzende Anhörung von gerichtlichen Sachverständigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Januar 2012 - 1 BvR 2728/10 -, juris, Rn. 13). Art. 103 Abs. 1 GG verlangt jedoch nicht, einem Antrag auf mündliche Anhörung der Sachverständigen ausnahmslos Folge zu leisten, selbst wenn der Antrag rechtzeitig und nicht missbräuchlich gestellt ist (BVerfG, a.a.O., Rn. 15). Da Art. 103 Abs. 1 GG keinen Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung enthält (vgl. BVerfGE 60, 175 <210 f.>; 89, 381 <391>; 112, 185 <206> m.w.N.), besteht auch kein verfassungsrechtlicher Anspruch, das einfachrechtlich geregelte Fragerecht gegenüber Sachverständigen und Zeugen in jedem Fall mündlich auszuüben (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Januar 2012 - 1 BvR 2728/10 -, juris, Rn. 15 m.w.N.). Es ist verfassungsrechtlich daher jedenfalls nicht zu beanstanden, wenn die Fachgerichte die Beteiligten vorrangig darauf verweisen, Fragen und Einwendungen schriftlich vorzutragen, um Sachverständige oder sachverständige Zeugen damit zu konfrontieren. Die gegebenenfalls anschließende mündliche Befragung kann möglicherweise aber dann geboten sein, wenn sie sich nicht in der Wiederholung schriftlicher Äußerungen erschöpft, sondern darüber hinaus einen Mehrwert hat. Auch in diesem Fall ist es verfassungsrechtlich jedoch unbedenklich, wenn die Fachgerichte an die Beantragung mündlicher Sachverständigenbefragungen nicht weniger Anforderungen stellen als an eine schriftliche Befragung, die die Benennung konkreter Fragen und Einwendungen voraussetzt. Gegen die Einschätzung des Landessozialgerichts, dass es hieran im vorliegenden Fall gefehlt habe, ist verfassungsrechtlich nichts zu erinnern.

3

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

4

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Tenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 9. Juli 2010 - 5 U 219/09 - sowie das Urteil des Landgerichts Rostock vom 14. Oktober 2009 - 10 O 315/07 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Der ebenfalls angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 1. September 2010 - 5 U 219/09 - wird damit gegenstandslos. Die Sache wird an das Landgericht Rostock zurückverwiesen.

2. ...

3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 7.000 € (in Worten: siebentausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist eine Streitigkeit aus dem Arzthaftungsrecht.

2

1. Der Beschwerdeführer hatte sich durch die Beklagten des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Beklagte) an der Bandscheibe operieren lassen. Nach der Operation wurde festgestellt, dass hierbei offenbar ein Bauchmuskelnerv durchtrennt worden war. Der Beschwerdeführer machte hierauf vor dem Landgericht einen Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 10.000 € geltend.

3

Das Landgericht holte ein Sachverständigengutachten ein. Der Beschwerdeführer beantragte nach Vorlage des Gutachtens, den Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung des Gutachtens zu laden; die Frage, ob die Durchtrennung eines bestimmten Nervs für die Operation notwendig gewesen sei, habe der Sachverständige nicht beantwortet. Das Landgericht kam dem Antrag nicht nach und wies die Klage nach mündlicher Verhandlung ab. Zur Begründung führte es insoweit aus, dass das Recht auf mündliche Anhörung des Sachverständigen nicht grenzenlos gelte. Zwar müsse die Partei keine konkreten Fragen formulieren; nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Hinweis auf BGHZ 24, 9 <14 f.>) sei genügend, aber auch erforderlich, dass die Partei allgemein die Richtung angebe, in die eine weitere Aufklärung herbeigeführt werden solle. Das habe der Beschwerdeführer nicht beachtet.

4

Hiergegen legte der Beschwerdeführer Berufung ein, die das Oberlandesgericht nach vorherigem Hinweis mit Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückwies. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die Durchtrennung der Nervenfasern ausweislich des durch das Landgericht eingeholten Sachverständigengutachtens in einzelnen Fällen aufgrund anatomischer Varianten nicht vermeidbar und damit nicht schuldhaft erfolgt sei. Der Einwand des Beschwerdeführers, der Sachverständige habe sich nicht mit der Frage beschäftigt, ob bei ihm anatomische Besonderheiten vorgelegen hätten, und habe nicht erörtert, ob es nicht naheliegender sei, dass der Operateur den Nerv aufgrund Unachtsamkeit oder Nachlässigkeit durchtrennt habe, mache das Gutachten nicht unvollständig oder gar unbrauchbar. Der Sachverständige habe nicht feststellen können, ob letztlich anatomische Varianten oder eine geringe Resistenz gegenüber Manipulation und Zug zu der Nervenschädigung geführt hätten, dies aber als naheliegende und wahrscheinliche Möglichkeit angesehen.

5

Eine hiergegen erhobene Anhörungsrüge wies das Oberlandesgericht zurück. Zur Begründung führte es aus, dass alle Argumente des Beschwerdeführers berücksichtigt worden seien. Es stelle keinen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs dar, dass der Senat gemäß § 522 Abs. 2 ZPO von einer mündlichen Verhandlung abgesehen und daher den Sachverständigen nicht angehört habe. Zwar sei richtig, dass die Bindung des Berufungsgerichts an die im ersten Rechtszug festgestellten Tatsachen gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich entfalle, wenn das Erstgericht dem Antrag einer Partei auf Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen nicht entsprochen habe; auch müsse das Berufungsgericht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Hinweis auf BGH, Beschluss vom 10. Mai 2005 - VI ZR 245/04 -, MDR 2005, S. 1308) in einem solchen Fall dem im zweiten Rechtszug wiederholten Antrag grundsätzlich stattgeben. Im konkreten Fall gelte dies jedoch nicht. Denn trotz des Verfahrensfehlers des Landgerichts bestünden hier keine konkreten Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers könne ausgeschlossen werden, dass eine andere Entscheidung gerechtfertigt wäre. Jegliche Zweifel würden durch die gut nachvollziehbaren Bewertungen des Sachverständigen ausgeräumt.

6

2. Gegen die genannten Entscheidungen hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei einem Antrag einer Partei auf Ladung des Sachverständigen zur Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens grundsätzlich zu entsprechen. Dem seien aber weder Landgericht noch Oberlandesgericht nachgekommen. Das Oberlandesgericht habe den Verfahrensfehler des Landgerichts zwar gesehen, diesen aber für unbeachtlich gehalten. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht nach Anhörung des Sachverständigen zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

7

3. Die Verfassungsbeschwerde wurde dem Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern sowie den Beklagten zugestellt. Es wurden keine Stellungnahmen abgegeben.

8

4. Die Akte des Ausgangsverfahrens lag der Kammer vor.

II.

9

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des grundrechtsgleichen Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.

10

1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG.

11

a) Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, dass sowohl die gesetzliche Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Maß an rechtlichem Gehör eröffnet, das dem Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes auch in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gerecht wird und den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (vgl. BVerfGE 55, 1 <6>; 60, 305 <310>; 74, 228 <233>). Insbesondere haben die Beteiligten einen Anspruch darauf, sich vor Erlass der gerichtlichen Entscheidung zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern. Dem entspricht die Verpflichtung der Gerichte, Anträge und Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 67, 39 <41>; 86, 133 <146>).

12

aa) Die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs ist den Verfahrensordnungen überlassen, die im Umfang ihrer Gewährleistungen auch über das von Verfassungs wegen garantierte Maß hinausgehen können. Nicht jeder Verstoß gegen Vorschriften des Verfahrensrechts ist daher zugleich auch eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Die Schwelle einer solchen Verfassungsverletzung wird vielmehr erst erreicht, wenn die Gerichte bei der Auslegung oder Anwendung des Verfahrensrechts die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt haben (vgl. BVerfGE 60, 305 <310 f.>). Verletzungen einfachrechtlicher Verfahrensvorschriften sind somit im Einzelfall daraufhin zu überprüfen, ob unter Berücksichtigung des Wirkungszusammenhangs aller einschlägigen Normen der betroffenen Verfahrensordnung durch sie das unabdingbare Mindestmaß des verfassungsrechtlich gewährleisteten rechtlichen Gehörs verletzt worden ist (vgl. BVerfGE 60, 305 <311>).

13

bb) Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst grundsätzlich auch die Anhörung gerichtlicher Sachverständiger (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 1998 - 1 BvR 909/94 -, NJW 1998, S. 2273).

14

(1) Nach § 402 ZPO in Verbindung mit § 397 ZPO sind die Parteien berechtigt, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten. Der Bundesgerichtshof hat daraus in ständiger Rechtsprechung die Pflicht der Gerichte abgeleitet, dem Antrag einer Partei auf mündliche Befragung gerichtlicher Sachverständiger nachzukommen (vgl. BGHZ 6, 398 <400 f.>; BGH, Urteil vom 21. Oktober 1986 - VI ZR 15/85 -, NJW-RR 1987, S. 339 <340>; BGH, Urteil vom 17. Dezember 1996 - VI ZR 50/96 -, NJW 1997, S. 802 <802 f.>). Auf die Frage, ob das Gericht selbst das Sachverständigengutachten für erklärungsbedürftig hält, komme es nicht an. Es gehöre zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs, dass die Parteien den Sachverständigen Fragen stellen, ihnen Bedenken vortragen und sie um eine nähere Erläuterung von Zweifelspunkten bitten können (BGH, Urteil vom 21. Oktober 1986, a.a.O.). Ein Antrag auf Anhörung des Sachverständigen könne allerdings dann abgelehnt werden, wenn er verspätet oder rechtsmissbräuchlich gestellt wurde (BGHZ 35, 370 <371>; BGH, Urteile vom 21. Oktober 1986, a.a.O., und vom 17. Dezember 1996, a.a.O.). Habe das Erstgericht einem Antrag auf mündliche Anhörung des Sachverständigen verfahrensfehlerhaft nicht entsprochen, müsse das Berufungsgericht dem in zweiter Instanz wiederholten Antrag stattgeben (BGH, Beschlüsse vom 10. Mai 2005 - VI ZR 245/04 -, juris, und vom 14. Juli 2009 - VIII ZR 295/08 -, NJW-RR 2009, S. 1361 <1362>).

15

(2) Beachtet ein Gericht diese verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht, so liegt darin jedenfalls dann ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es einen Antrag auf Erläuterung des Sachverständigengutachtens völlig übergeht oder ihm allein deshalb nicht nachkommt, weil das Gutachten ihm überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erscheint. Dagegen verlangt Art. 103 Abs. 1 GG nicht, einem rechtzeitigen und nicht missbräuchlichen Antrag auf Anhörung der Sachverständigen ausnahmslos Folge zu leisten. Die mündliche Anhörung des Sachverständigen ist zwar die nächstliegende, aber nicht die einzig mögliche Behandlung eines derartigen Antrags (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 1998, a.a.O.; vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 1991 - VI ZR 234/90 -, NJW 1992, S. 1459 f.).

16

b) Einer Prüfung anhand dieser Maßstäbe halten die angegriffenen Entscheidungen nicht stand.

17

aa) Zwar hat sich das Oberlandesgericht sowohl mit dem Antrag des Beschwerdeführers auf Anhörung des Sachverständigen als auch mit der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eingehend auseinander gesetzt. Letzten Endes ist es dem Antrag jedoch allein deshalb nicht nachgekommen, weil es davon ausging, dass auch bei einer Anhörung die "eindeutigen und auch für die Parteien und das Gericht gut nachvollziehbaren Bewertungen" des Sachverständigen nicht in Frage gestellt worden wären; dies gelte umso mehr, als es sich um eine "für Arzthaftungssachen relativ einfache" Beweisfrage gehandelt habe. Damit hat sich das Oberlandesgericht allein darauf gestützt, dass ihm das Gutachten überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erschien.

18

bb) Die Entscheidung des Landgerichts leidet unter dem gleichen Mangel.

19

(1) So wird in der Urteilsbegründung ausgeführt, dass eine Ladung des Sachverständigen zum Termin nicht erforderlich gewesen sei, da "das Gutachten in sich schlüssig und nachvollziehbar" gewesen sei. Dabei verkennt das Landgericht ebenfalls, dass ein Antrag auf Erläuterung des Sachverständigengutachtens in Anbetracht des Rechts auf rechtliches Gehör nicht allein deshalb abgelehnt werden kann, weil ein Gutachten dem Gericht überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erscheint.

20

(2) Darüber hinaus geht die Einschätzung des Landgerichts fehl, eine Anhörung des Sachverständigen sei auch deshalb nicht erforderlich gewesen, weil der Beschwerdeführer nicht einmal allgemein angegeben habe, in welche Richtung er durch Fragen eine weitere Aufklärung herbeizuführen wünsche. Tatsächlich hat der Beschwerdeführer vorgetragen, dass der Sachverständige die Frage, ob die Durchtrennung eines Nervs für die Operation erforderlich gewesen sei, nicht beantwortet habe; hieraus lässt sich ohne Weiteres erkennen, dass der Beschwerdeführer in dieser Richtung noch tatsächlichen Aufklärungsbedarf sah. Mithin hat das Landgericht entweder den genannten Vortrag des Beschwerdeführers nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen, oder es hat die Voraussetzungen, unter denen einem Antrag auf Anhörung des Sachverständigen nachgekommen werden muss, angesichts der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs in erheblichem Maße überspannt. In jedem Fall offenbart sich in der Vorgehensweise des Landgerichts eine grundsätzliche Verkennung der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör.

21

2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auch auf dem Grundrechtsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es dem Beschwerdeführer in einer mündlichen Anhörung gelungen wäre, das Sachverständigengutachten in Frage zu stellen und damit auch die Überzeugung der Gerichte von dessen Richtigkeit zu erschüttern.

III.

22

Das Urteil des Landgerichts und der die Berufung zurückweisende Beschluss des Oberlandesgerichts sind hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben; die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen. Der die Anhörungsrüge zurückweisende Beschluss des Oberlandesgerichts wird damit gegenstandslos.

23

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Der nach § 37 Abs. 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit beträgt 7.000 €. Der Streitwert des Ausgangsverfahrens wurde um 30 % vermindert, da der Ausgangsstreit durch das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht endgültig beigelegt werden kann und die Rechtssache nur Probleme von unterdurchschnittlichem Schwierigkeitsgrad aufwarf (vgl. BVerfGE 79, 365 <371>).

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Februar 2013 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

Gründe

1

I. Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, auch bei Berufsunfähigkeit. Ihr Rentenantrag vom April 2006 blieb im Verwaltungs-, Widerspruchs-, Klage- und Berufungsverfahren erfolglos.

2

Im vom Senat (Beschluss vom 9.12.2010 - B 13 R 170/10 B) zurückverwiesenen Berufungsverfahren hat das LSG die zunächst verfahrensfehlerhaft (vgl dazu Senatsbeschluss aaO RdNr 18) unterbliebenen Anhörungen der Sachverständigen Dr. L. und Dr. M. auf die Einwände der Klägerin zu ihren im Jahr 2009 erstellten Gutachten eingeholt. Dr. M. hat zudem eine zusammenfassende Stellungnahme zu den Gesundheitsstörungen der Klägerin auf allen Fachgebieten abgegeben (Dr. L. vom 30.5.2011; Dr. M. vom 25.7.2011). Die nicht rechtskundig vertretene Klägerin hat daraufhin gegen die Beantwortung ihrer an die Sachverständigen gerichteten Fragen erneut Einwände erhoben (Schreiben vom 15.9. und 7.11.2011), zu denen diese wiederum Stellung genommen haben (Dr. L. vom 21.2.2012; Dr. M. vom 29.3.2012). In weiteren Schreiben (vom 4.4. und 4.6.2012) hat die Klägerin vorgetragen, dass ihre Fragen nach wie vor unzureichend beantwortet geblieben seien, und hat die mündliche Anhörung der Sachverständigen verlangt. Mit Schreiben vom 26.9.2012 hat die Klägerin einen an beide Sachverständige gerichteten Fragenkatalog überreicht. In der mündlichen Verhandlung vom 17.10.2012 hat sie der Sachverständigen Dr. M. einen Fragenkatalog (Fragen 1 bis 19.3 = 22 Fragen) zur Beantwortung vorgelegt. Nachdem die Sachverständige die Fragen 1 bis 9 mündlich beantwortet hatte (s Sitzungsprotokoll, Bl 434 ff LSG-Akte), hat das LSG die mündliche Verhandlung vertagt und Dr. M. die schriftliche Beantwortung der restlichen Fragen (10 bis 19.3) aufgegeben. Die Sachverständige hat diese Fragen mit dem Ergebnis beantwortet, dass sich keine Änderung der sozialmedizinischen Beurteilung im Vergleich zu ihrem Gutachten vom 19.10.2009 ergebe (Stellungnahme vom 15.11.2012). Im Schreiben vom 29.12.2012 hat die Klägerin ausgeführt, dass ihre Fragen (Nr 1 bis 19.3) jeweils nicht ausreichend beantwortet worden seien und hat fünf weitere an Dr. L. gerichtete Fragen formuliert.

3

In der mündlichen Verhandlung vom 27.2.2013 hat die Klägerin insbesondere an ihrem im Schreiben vom 29.12.2012 formulierten Fragenkatalog festgehalten und die schriftliche oder mündliche Anhörung von Dr. L. und Dr. M. beantragt, hilfsweise hat sie unter Bezugnahme auf ihren Schriftsatz vom 15.9.2011 die Einholung eines berufskundlichen Gutachtens und eines Gutachtens auf dem Gebiet der interdisziplinären Schmerztherapie beantragt.

4

Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs 1, 2 SGB VI), auch nicht bei Berufsunfähigkeit (§ 240 Abs 1 und Abs 2 SGB VI) habe. Im streitigen Zeitraum bis Oktober 2011 sei die Klägerin noch in der Lage gewesen, mindestens sechs Stunden täglich leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung ihrer qualitativen Gesundheitsstörungen zu verrichten. Dies folge aus den überzeugenden Gutachten der Sachverständigen Dr. M. und Dr. L. Ihre ergänzenden schriftlichen Stellungnahmen und die mündliche Anhörung von Dr. M. hätten zu keinem anderen Ergebnis geführt. Dr. M. habe die von der Klägerin vorgebrachten Vorbehalte überzeugend widerlegt. Der in der mündlichen Verhandlung erneut gestellte Antrag, die Sachverständigen zu diversen Fragen zu hören, sei objektiv nicht sachdienlich und daher abzulehnen gewesen. Bei der Klägerin liege weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor; doch selbst, wenn man dies unterstellte, sei die Klägerin in der Lage, Tätigkeiten als Telefonistin oder als Reiseverkehrskauffrau nach einer kurzen Umstellungsphase zu verrichten. Von einer solchen Verwendbarkeit seien Dr. M. und Dr. L. unter Berücksichtigung der in das Verfahren eingeführten berufskundlichen Stellungnahme des Landesarbeitsamts Hessen vom 28.2.2010 ausgegangen. Relevante Einschränkungen in der Wegefähigkeit der Klägerin seien unter Berücksichtigung aller medizinischen Erkenntnisse nicht festzustellen gewesen. Die Klägerin könne auch keine Erwerbsminderungsrente bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) verlangen. Ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Reiseleiterin sei eine ungelernte Tätigkeit; von dem erlernten Beruf der Reiseverkehrskauffrau habe sich die Klägerin bereits im Jahr 1996 gelöst. Sie genieße daher keinen Berufsschutz. Im Übrigen habe sie die Grenze des Rechtsmissbrauchs überschritten, wenn sie im Schriftsatz vom 29.12.2012 und in der mündlichen Verhandlung die erneute Befragung der Sachverständigen zu von ihr wiederholt aufgeworfenen Fragen beantragt habe. Beide Sachverständige hätten sich umfassend und ausführlich mit den von der Klägerin vorgetragenen Einwänden, Fragen und Vorhalten befasst und diese hinlänglich beantwortet. Zur Einholung eines berufskundlichen oder eines weiteren medizinischen Gutachtens habe nach den umfangreichen Sachverhaltsermittlungen kein Anlass mehr bestanden.

5

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin Verfahrensmängel und eine Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 und Nr 3 SGG. Das LSG habe den "verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, indem es die Anträge der Klägerin auf mündliche Anhörung des Sachverständigen Dr. L. und erneute Anhörung der Sachverständigen Dr. M. bzw deren ergänzende schriftliche Befragung unter Verstoß gegen § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO übergangen" und die Beweisanträge der Klägerin auf Einholung eines medizinischen und eines berufskundlichen Gutachtens abgelehnt habe. Aus dieser Verfahrensweise ergebe sich eine Abweichung von der Rechtsprechung des BSG bzw des BVerfG (S 48 der Beschwerdebegründung).

6

II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig aber unbegründet, soweit sie Verfahrensmängel geltend macht. Im Übrigen ist die Beschwerde unzulässig.

7

1. Soweit die Klägerin eine Verletzung ihres Fragerechts nach § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO und damit ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs(§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) geltend macht, ist die Gehörsrüge zwar hinreichend bezeichnet. In der Sache trifft sie jedoch nicht zu.

8

Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BSG, dass unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, jedem Beteiligten gemäß § 116 S 2, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO das Recht zusteht, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die er zur Aufklärung der Sache für dienlich erachtet(stRspr, vgl BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1, 2; Senatsbeschluss vom 17.4.2012 - B 13 R 355/11 B; BVerfG vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 - NJW 1998, 2273 - Juris RdNr 11).

9

Sachdienlichkeit iS von § 116 S 2 SGG ist insbesondere dann zu bejahen, wenn sich die Fragen im Rahmen des Beweisthemas halten und nicht abwegig oder bereits eindeutig beantwortet sind. Abgelehnt werden kann ein solcher Antrag prozessordnungsgemäß auch dann, wenn er rechtsmissbräuchlich gestellt ist, insbesondere wenn die Notwendigkeit einer Erörterung überhaupt nicht begründet wird, wenn die an den Sachverständigen zu richtenden Fragen nicht hinreichend genau benannt oder nur beweisunerhebliche Fragen angekündigt werden (vgl BVerfG vom 29.8.1995 - 2 BvR 175/95 - NJW-RR 1996, 183 - Juris RdNr 29 mwN). Das auf den og Rechtsgrundlagen beruhende Fragerecht begründet hingegen keinen Anspruch auf stets neue Befragungen, wenn der Beteiligte und der Sachverständige in ihrer Beurteilung nicht übereinstimmen.

10

Der Senat kann offenlassen, ob sich das Verhalten der Klägerin insgesamt als verfahrensverzögernd und damit rechtsmissbräuchlich darstellt. Jedenfalls sind die von der Klägerin dem LSG vorgelegten Fragen, zuletzt im Schreiben vom 29.12.2012, mit denen sie die schriftliche oder mündliche Anhörung der Sachverständigen erreichen wollte, nicht sachdienlich. Denn sie sind entweder bereits eindeutig beantwortet oder beweisunerheblich. Einer weiteren Anhörung der Sachverständigen bedarf es daher nicht.

11

a) Die Fragen 1 bis 19.3 im Fragenkatalog vom 17.10.2012 (wiederholt im Schreiben vom 29.12.2012) hat die Sachverständige Dr. M. im Termin zur mündlichen Verhandlung am 17.10.2012 und zuletzt in ihrer Stellungnahme vom 15.11.2012 eindeutig beantwortet:

12

Zu Frage 1 (psychologische Testverfahren) hat Dr. M. unmissverständlich ausgeführt, dass die angewandten psychologischen Testverfahren in Rentenverfahren nur eine untergeordnete Rolle spielen und hat dargelegt, welche anderen Faktoren sie bei der Bewertung von Leistungseinschränkungen als Folge einer Depression zugrunde gelegt hat.

13

Zu Fragen 2 bis 4 (Tinnitus) hat Dr. M. klargestellt, dass kein dekompensierter Tinnitus vorliegt, der zu maßgeblichen Leistungseinschränkungen führt. Zudem hat das LSG festgestellt, dass der Tinnitus erstmals zu einem Zeitpunkt nachgewiesen wurde, als die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt waren. Es besteht daher kein Grund, die Sachverständige erneut zu befragen, ob sie an ihrer Einschätzung festhält.

14

Zu Fragen 4 und 5 (psychische Beeinträchtigungen) hat Dr. M. ausführlich begründet, weshalb nach ihrer Einschätzung ein eher geringer Leidensdruck in Bezug auf die psychischen Beschwerden bei der Klägerin besteht. Dass die Klägerin diese Einschätzung nicht teilt, begründet keine Notwendigkeit, die Sachverständige erneut zu befragen, ob sie ihre Einschätzung ändert.

15

Auf Frage 6 hat Dr. M. eindeutig geantwortet, dass sie ihre Beurteilung in Kenntnis des Befundberichts der die Klägerin behandelnden Hausärztin nicht ändert.

16

Gegen die Beantwortung von Frage 7 hat die Klägerin in der Beschwerdebegründung (S 56) keine Einwände mehr erhoben.

17

Frage 8 (berufskundliche Kenntnisse der Sachverständigen) hat Dr. M. eindeutig beantwortet.

18

Fragen 9 bis 12 (Wegefähigkeit) hat Dr. M. sowohl mündlich als auch in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 15.11.2012 eindeutig beantwortet. Dass die Klägerin die Ergebnisse dieser Einschätzung nicht teilt, begründet keine Notwendigkeit, die Sachverständige erneut anzuhören.

19

Fragen 13 und 14 (Einsatz von Schmerzmitteln und Schonhaltung) sind von Dr. M. in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 15.11.2012 eindeutig beantwortet worden. Es besteht daher kein Anlass nachzufragen, ob die Sachverständige von dieser Einschätzung abrücken möchte.

20

Frage 15 (Asthma bronchiale und kardiovaskuläre Risikofaktoren) hat Dr. M. in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 15.11.2012 eindeutig beantwortet. Hiernach hat sie bei Beurteilung der Leistungseinschränkungen auch das Asthma bronchiale berücksichtigt, soweit den ärztlichen Unterlagen objektive Befunde zu Grunde lagen, und im Übrigen auf die Ergebnisse der internistischen Begutachtungen (zuletzt Gutachten des Internisten M. vom 15.11.2007) verwiesen.

21

Zu Frage 16 hat Dr. M. in ihrer Stellungnahme vom 15.11.2012 deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie ihre Beurteilung zum Leistungsvermögen der Klägerin auch in Kenntnis, dass diese ihre Schriftsätze nicht selbst verfasst oder geschrieben habe, aufrechterhält.

22

Die Notwendigkeit einer erneuten Beantwortung der Fragen 17 bis 19.3 hat die Klägerin in der Beschwerdebegründung (S 64) nicht mehr geltend gemacht.

23

Schließlich hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf eine weitere mündliche Anhörung der Sachverständigen Dr. M. zu den bereits schriftlich beantworteten Fragen. Art 103 Abs 1 GG gewährt keinen Anspruch darauf, das Fragerecht gegenüber Sachverständigen in jedem Fall mündlich auszuüben (vgl BVerfG vom 29.5.2013 - 1 BvR 1522/12 - Juris RdNr 2; vgl auch BVerfG vom 17.1.2012 - 1 BvR 2728/10 - NJW 2012, 1346, Juris RdNr 15 mwN). Es ist nicht erkennbar - und von der Klägerin auch nicht eingewendet -, dass eine mündliche Befragung einen über die Wiederholung schriftlicher Äußerungen hinausreichenden Mehrwert hätte (vgl BVerfG vom 29.5.2013, aaO).

24

b) Soweit die Klägerin die erneute Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen Dr. L. zu den Fragen 1 bis 5 im Schreiben vom 29.12.2012 beantragt hat, gilt nichts anderes. Die dort gestellten Fragen 1 bis 4 (zum Beruf der Warenaufmacherin; zur Berücksichtigung von wechselnden Körperpositionen, der Harndrang-Inkontinenz, der Geschicklichkeit der Hände bei Ausübung von Tätigkeiten als Pförtnerin, Mitarbeiterin in einer Poststelle bzw als Telefonistin) sind nicht beweiserheblich, denn das LSG hat die Klägerin nicht auf solche Tätigkeiten verwiesen (S 29, letzter Abs der Entscheidungsgründe). Frage 5 (zur somatoformen Schmerzstörung) hat Dr. L. (S 4 der Stellungnahme vom 30.5.2011) eindeutig beantwortet, wonach die Beurteilung der somatoformen Schmerzstörung Gegenstand des Gutachtens von Dr. M. gewesen ist.

25

2. Ausgehend von seiner Rechtsansicht musste sich das LSG auch noch nicht gedrängt sehen (vgl dazu BSG SozR 1500 § 160 Nr 5 S 6), den hilfsweise gestellten Beweisanträgen auf Einholung eines Gutachtens auf dem Gebiet der interdisziplinären Schmerztherapie bzw eines berufskundlichen Gutachtens nachzugehen. Daher kann dahingestellt bleiben, ob prozessordnungsgemäße Beweisanträge gestellt worden sind (vgl § 118 Abs 1 SGG iVm §§ 402, 403 ZPO).

26

a) Die Frage, ob bei der Klägerin eine somatoforme Schmerzstörung vorliegt und welche Leistungseinschränkungen hieraus resultieren, hat Dr. M. in ihrem Gutachten vom 19.10.2009 und den mehrfachen ergänzenden Stellungnahmen hinlänglich beantwortet (zuletzt in ihrer Stellungnahme vom 15.11.2012, Fragen 13 und 14). Die Notwendigkeit der Einholung eines Zusatzgutachtens auf dem Gebiet der "interdisziplinäre(n) Schmerztherapie" hat die Klägerin nicht ansatzweise substantiiert begründet, auch nicht in dem von ihr in Bezug genommenen Schriftsatz vom 15.9.2011, in dem sie auf die von Dr. M. diagnostizierte Schmerzstörung verwiesen und dort jedenfalls keine Einwände erhoben hat.

27

b) Das LSG musste sich auch nicht gedrängt sehen, ein berufskundliches Gutachten einzuholen zu der Frage, ob sich die Klägerin innerhalb von drei Monaten auf die aktuellen Anforderungen an den Beruf der Reiseverkehrskauffrau ein- bzw umstellen kann (Schriftsatz vom 15.9.2011). Denn hierauf kommt es nicht entscheidungserheblich an. Das LSG hat festgestellt, dass die Klägerin noch in der Lage gewesen ist, mindestens sechs Stunden täglich leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im streitigen Zeitraum bis Oktober 2011 zu verrichten. Es hat ferner unter Berücksichtigung der qualitativen Leistungseinschränkungen der Klägerin (S 14 ff der Entscheidungsgründe LSG) weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung festgestellt (S 22 Abs 2, S 23 vorletzter Abs der Entscheidungsgründe) und unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG (vom 10.12.2003 - B 5 RJ 64/02 R - BSG SozR 4-2600 § 44 Nr 1) ausgeführt, es sei nicht zu befürchten, dass der allgemeine Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung der qualitativen Leistungseinschränkungen für die Klägerin verschlossen sei. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl nur Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R - BSGE 109, 189 = SozR 4-2600 § 43 Nr 16, RdNr 36 ff)besteht in einem solchen Fall kein Erfordernis, der Klägerin eine Verweisungstätigkeit zu benennen. Nur für den - hier nicht festgestellten - Fall des Vorliegens einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung wäre erheblich, ob die Klägerin noch bestimmte Verweisungstätigkeiten ausüben kann. Da sie sich nach den Feststellungen des LSG auch auf keinen Berufsschutz berufen kann, weil sie sich bereits Mitte der 90iger Jahre von ihrem erlernten Beruf der Reiseverkehrskauffrau gelöst hat, musste es sich auch für die Frage, ob ein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) besteht, zu keinen weiteren berufskundlichen Ermittlungen gedrängt sehen.

28

3. Soweit sich die Klägerin auf eine Divergenz beruft, hat sie eine Rechtsprechungsabweichung nicht hinreichend bezeichnet (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG iVm § 160a Abs 2 S 3 SGG). Insofern ist die Nichtzulassungsbeschwerde bereits unzulässig.

29

Divergenz liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zu Grunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Dies ist der Fall, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt hat, der von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht. Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn das Urteil des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Abweichung. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass das angefochtene Urteil auf der Abweichung beruht.

30

Zur formgerechten Rüge des Zulassungsgrundes der Divergenz gehört es, in der Beschwerdebegründung nicht nur eine Entscheidung genau zu bezeichnen, von der die Entscheidung des LSG abgewichen sein soll; es ist auch deutlich zu machen, worin genau die Abweichung zu erachten sein soll. Der Beschwerdeführer muss daher darlegen, zu welcher konkreten Rechtsfrage eine die Berufungsentscheidung tragende Abweichung in den rechtlichen Ausführungen enthalten sein soll. Er muss mithin einen abstrakten Rechtssatz der vorinstanzlichen Entscheidung und einen abstrakten Rechtssatz aus dem höchstrichterlichen Urteil so bezeichnen, dass die Divergenz erkennbar wird. Nicht hingegen reicht es aus, auf eine bestimmte höchstrichterliche Entscheidung mit der Behauptung hinzuweisen, das angegriffene Urteil weiche hiervon ab. Schließlich muss aufgezeigt werden, dass das Revisionsgericht die oberstgerichtliche Rechtsprechung in einem künftigen Revisionsverfahren seiner Entscheidung zu Grunde zu legen haben wird (zum Ganzen vgl BSG vom 25.9.2002 - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 72 f mwN).

31

Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Die Klägerin hat es bereits versäumt, zwei sich einander widersprechende abstrakte Rechtssätze aus dem angefochtenen Berufungsurteil und aus einem Urteil des BSG bzw des BVerfG gegenüberzustellen. Hierfür genügt es jedenfalls nicht, die Ausführungen aus dem Beschluss des BVerfG vom 3.2.1998 (1 BvR 909/94, NJW 1998, 2273) umfänglich wiederzugeben (S 48 f der Beschwerdebegründung). Ebenso wenig reicht es vorzutragen, dass die angefochtene Entscheidung mit der Rechtsprechung des BSG nicht vereinbar sei, weil das LSG den Antrag der Klägerin auf erneute Befragung der Sachverständigen übergangen habe. Mit diesem Vortrag kleidet die Klägerin die zuvor erhobene Gehörsrüge lediglich in das Gewand einer Divergenzrüge. Auch damit aber kann sie nicht durchdringen.

32

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

33

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs 1 SGG.

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. November 2011 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

Das Hessische LSG hat im Urteil vom 25.11.2011 einen Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung verneint.

2

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem genannten LSG-Urteil macht sie Verfahrensmängel geltend.

3

Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig. Ihre Beschwerdebegründung vom 21.2.2012 genügt nicht der vorgeschriebenen Form, denn sie hat einen Verfahrensmangel nicht ordnungsgemäß bezeichnet (§ 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 S 3 SGG).

4

Wird die Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensmangels begehrt, ist in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde die bundesrechtliche Verfahrensnorm, die das Berufungsgericht verletzt haben soll, hinreichend genau zu benennen. Zudem müssen die tatsächlichen Umstände, welche den Verstoß begründen sollen, substantiiert dargetan und darüber hinaus muss dargestellt werden, inwiefern die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 4, Nr 21 RdNr 4 - jeweils mwN; Krasney in Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Aufl 2011, Kap IX RdNr 202 ff). Dabei ist zu beachten, dass ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG gestützt werden kann(§ 160 Abs 2 Nr 3 Teils 2 SGG)und dass die Rüge einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach § 103 SGG nur statthaft ist, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist(§ 160 Abs 2 Nr 3 Teils 3 SGG).

5

Diesen Anforderungen wird das Vorbringen der Klägerin nicht gerecht:

6

1. Sie rügt zunächst, das LSG habe gegen seine Verpflichtung zur Amtsermittlung (§ 103 SGG) verstoßen, weil es von ihr gestellten Beweisanträgen ohne hinreichende Begründung nicht nachgekommen sei. Sie habe im Schriftsatz vom 8.11.2011 den Antrag gestellt, "zum Beweis für die Tatsache, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum nicht in der Lage war, mindestens 6 Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein,

        

(1)     

den Diplom-Psychologen R. S. … als sachverständigen Zeugen zu vernehmen,

        

(2)     

den Kardiologen Dr. med. A. P. … als sachverständigen Zeugen zu vernehmen,

        

(3)     

ein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten von Amts wegen einzuholen."

7

Diese Anträge habe sie in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich aufrechterhalten, was sich aus dem Verhandlungsprotokoll ergebe, auch wenn sie dort - ob versehentlich oder absichtlich - nur verkürzt dargestellt seien.

8

Für die Darlegung einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht, wie sie hier gerügt wird, gelten besondere Anforderungen. Insoweit muss die Beschwerdebegründung folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, auf deren Grundlage bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3) Darlegung der von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (5) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5 mwN).

9

Die Beschwerdebegründung der Klägerin erfüllt diese Erfordernisse nicht. Es fehlt bereits an der Bezeichnung eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags. Dies folgt in Bezug auf den Antrag (3) zur Einholung eines "weiteren" medizinischen Sachverständigengutachtens schon daraus, dass weder aufgezeigt wird, dass und weshalb die Voraussetzungen gegeben sind, von denen nach § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 412 Abs 1 ZPO die Einholung eines weiteren Gutachtens abhängig ist, noch angegeben wird, auf welchem medizinischen Fachgebiet ein zusätzlicher Sachverständiger gehört werden soll.

10

Hinsichtlich der Anträge (1) und (2) zur Vernehmung sachverständiger Zeugen liegen prozessordnungsgemäße Beweisanträge schon deshalb nicht vor, weil die berufliche Leistungsfähigkeit einer Person als solche nicht Gegenstand eines Zeugenbeweises sein kann (vgl Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 745). Auch sachverständige Zeugen (§ 414 ZPO) könnten nur zu einzelnen Anknüpfungstatsachen - etwa dem zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessenen Blutdruck oder die in einem bestimmten Zeitraum beobachtete psychische Verfassung der Klägerin - befragt werden, die für eine Einschätzung der Leistungsfähigkeit von Bedeutung sein können. Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit ist keine Bekundung wahrgenommener Tatsachen. Konkrete Einzeltatsachen, welche Dr. P. und S. mitteilen sollten, hat die Klägerin in ihrem Antrag entgegen den Anforderungen nach § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 373, 414 ZPO nicht bezeichnet.

11

2. Soweit sie beanstandet, dass das LSG den Sachverständigen Dr. J. nicht zur mündlichen Verhandlung geladen habe, damit sie ihm ergänzende Fragen stellen lassen könne, zielt sie nicht auf die Rüge eines Verstoßes des LSG gegen seine Verpflichtung zur Sachaufklärung von Amts wegen (§ 103 SGG). Vielmehr macht sie damit im Kern eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) geltend, der im Zusammenhang mit der Einholung von Sachverständigengutachten in § 116 S 2, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO eine spezifische Ausprägung erfahren hat(BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 6, Nr 2 RdNr 4). Auch insoweit erfüllt die Beschwerdebegründung jedoch nicht die Anforderungen an die Bezeichnung eines solchen Verfahrensmangels.

12

a) Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BSG, dass - unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegenden Möglichkeit, zur weiteren Sachaufklärung von Amts wegen das Erscheinen des Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung anzuordnen - jedem Beteiligten gemäß § 116 S 2, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO das Recht zusteht, einem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die er zur Aufklärung der Sache für dienlich erachtet(BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 7, Nr 2 RdNr 5; Senatsbeschluss vom 17.4.2012 - B 13 R 355/11 B - RdNr 13, jeweils mwN; s auch BVerfG vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/04 - NJW 1998, 2273 - Juris RdNr 11 f). Dies gilt auch dann, wenn der Sachverständige - wie hier - ein Gutachten auf Antrag des Beteiligten gemäß § 109 SGG erstellt hat(BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1 S 5 f; Senatsbeschluss aaO). Sachdienliche Fragen iS von § 116 S 2 SGG liegen dann vor, wenn sie sich im Rahmen des Beweisthemas halten und nicht abwegig oder bereits eindeutig beantwortet sind(BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 10). Hierbei müssen keine Fragen formuliert werden; es reicht vielmehr aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen (vgl Senatsbeschluss aaO RdNr 15; BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1). Hingegen fehlt es an der Sachdienlichkeit, wenn der Antrag auf Anhörung des Sachverständigen rechtsmissbräuchlich gestellt ist, insbesondere wenn die Notwendigkeit einer Erörterung überhaupt nicht begründet wird oder nur beweisunerhebliche Fragen angekündigt werden (vgl BVerfG vom 29.8.1995 - 2 BvR 175/95 - NJW-RR 1996, 183 = Juris RdNr 29, mwN zur Rspr des BGH). Da das Fragerecht an den Sachverständigen der Verwirklichung des rechtlichen Gehörs dient, ist weiterhin erforderlich, dass der Beteiligte alles getan hat, um die Anhörung des Sachverständigen zu erreichen. Dieser Obliegenheit ist er jedenfalls dann nachgekommen, wenn er einen darauf gerichteten Antrag rechtzeitig gestellt, dabei schriftlich objektiv sachdienliche Fragen angekündigt und das Begehren bis zuletzt aufrechterhalten hat (BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 7).

13

b) Zur schlüssigen Bezeichnung (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) einer Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen muss sich hiernach aus der Beschwerdebegründung ergeben, (1) dass der Beschwerdeführer einen Antrag auf Befragung des Sachverständigen gestellt und bis zum Schluss aufrechterhalten hat; (2) welche einer Erläuterung durch den Sachverständigen bedürftigen Punkte der Beschwerdeführer gegenüber dem LSG benannt hat; (3) aufgrund welcher Umstände die benannten Punkte sachdienlich waren, insbesondere ist bei einem Antrag auf wiederholte Befragung desselben Sachverständigen zu erläutern, weshalb die Punkte noch nicht durch bereits vorliegende Stellungnahmen des Sachverständigen geklärt waren; (4) aufgrund welcher Umstände der Antrag als rechtzeitig zu werten ist; (5) aufgrund welcher Umstände die angefochtene Entscheidung auf der unterlassenen Befragung des Sachverständigen beruhen kann.

14

c) Der Vortrag der Klägerin entspricht diesen Anforderungen nicht. Zwar trägt sie (s <1> der obigen Anforderungen) vor, dass sie im Schriftsatz vom 8.11.2011 den Antrag aus ihrem Schriftsatz vom 30.9.2011, Dr. J. zur mündlichen Verhandlung zu laden, aufrechterhalten habe und dass dieser Antrag von ihr in der mündlichen Verhandlung wiederum ausdrücklich aufrechterhalten worden sei (Beschwerdebegründung S 6). Im Schriftsatz vom 8.11.2011 habe sie ausgeführt, das Gutachten des Dr. J. sei insgesamt völlig unschlüssig. Aus dessen ergänzender Stellungnahme vom 1.11.2011 ergebe sich nämlich, dass sie allenfalls dann in der Lage sei, die bestehenden Einschränkungen willentlich zu überwinden, wenn sie eine weitere Therapie unternehme und begleitend dazu Psychopharmaka einnehme; ersichtlich sei sie daher selbst nach Auffassung des Sachverständigen Dr. J. derzeit zu einer Erwerbstätigkeit noch nicht in der Lage. Auch weil dem Gutachten nicht entnommen werden könne, wie lange eine solche Therapie dauere, mit welchem Inhalt und Umfang und von welchem Therapeuten sie durchzuführen sei und ob sie überhaupt zu einem sicheren Erfolg führe, spreche alles dafür, dass sie jedenfalls derzeit nicht in der Lage sei, 6 Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein (Beschwerdebegründung S 4 f).

15

Diesen Ausführungen kann nicht entnommen werden, dass die Klägerin gegenüber dem LSG Punkte zum Gutachten des Dr. J. bzw zu dessen ergänzender Stellungnahme vom 1.11.2011 benannt hat, die einer Erläuterung durch den Sachverständigen bedürften (s <2> der obigen Anforderungen). Im Schriftsatz vom 8.11.2011 hat sie nach ihrer Darstellung vielmehr die bereits vorliegenden Ausführungen des Dr. J. gewürdigt und daraus abgeleitet, dass ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung eindeutig bestehe ("selbst nach Auffassung des Sachverständigen"). Hierin liegt jedoch keine Benennung erläuterungsbedürftiger Punkte. Zwar hat die Klägerin in der Beschwerdebegründung (S 9 2. Abs) dann konkrete Fragen formuliert; sie hat jedoch nicht hinreichend deutlich vorgetragen, dass diese bereits dem LSG gegenüber angekündigt gewesen seien. Sie gibt nämlich einerseits an, sie habe "in ihrem Schriftsatz vom 8.11.2011 zu Recht ausgeführt …, (dass) der Sachverständige dazu befragt werden (sollte), wieso …" (es folgen mehrere ausformulierte Fragen). Dem widerspricht jedoch andererseits nicht nur ihre eigene, oben wiedergegebene Darstellung des Inhalts jenes Schriftsatzes (auf S 4 f der Beschwerdebegründung), sondern auch die Angabe (S 7 der Beschwerdebegründung), das Berufungsurteil formuliere, die Klägerin habe im Schriftsatz vom 8.11.2011 zwar (lediglich) "angedeutet, zu welchem Fragenkomplex sie eine Anhörung des Sachverständigen Dr. J. durchgeführt wissen möchte"; eine "Beschreibung sachdienlicher Fragen" liege jedoch nicht vor.

16

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

17

Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

18

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Tenor

Der Antrag der Klägerin, ihr für das Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18. Juni 2013 Prozesskostenhilfe zu gewähren und ihr Rechtsanwalt B. aus H. beizuordnen, wird abgelehnt.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18. Juni 2013 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

I. Die 1969 geborene Klägerin begehrt in der Hauptsache die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Das beklagte Land lehnte ihren diesbezüglichen Antrag ab, weil sich der geltend gemachte sexuelle Missbrauch, der während der Kindheit der Klägerin durch den eigenen Vater erfolgt sein soll, nicht habe feststellen lassen (Bescheid vom 11.6.2004, Widerspruchsbescheid vom 6.1.2005). Das SG hat nach Einholung eines ärztlichen Gutachtens den Beklagten verurteilt, der Klägerin "Versorgung nach dem OEG nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 80 vH zu gewähren" (Urteil vom 5.3.2008). Das LSG hat auf die Berufung des beklagten Landes nach Vernehmung mehrerer Zeugen (Eltern, Bruder der Klägerin; frühere Lehrerinnen der Klägerin; frühere Freundinnen, früherer Freund der Klägerin) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen, weil nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG nicht habe festgestellt werden können(Urteil vom 24.2.2010). Der erkennende Senat hat auf die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision die Sache an das LSG zurückverwiesen. Die gerügte Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG)liege vor, weil das LSG dem Beweisantrag, die behandelnde Diplom-Psychologin G. zur Frage zu vernehmen, ob die bei der Klägerin festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückzuführen seien, ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei. Jedenfalls soweit es um die Vernehmung zu der Frage gehe, ob die Erinnerungen der Klägerin an sexuellen Missbrauch fremdinduziert (False-Memory-Syndrom) seien, habe es an einem Ablehnungsgrund gefehlt (Beschluss vom 7.4.2011).

2

Das LSG hat im wiedereröffneten Berufungsverfahren die Diplom-Psychologin G. als sachverständige Zeugin gehört, die eine Suggestion der Klägerin hinsichtlich der Genese ihrer Aussage zu sexuellen Übergriffen durch ihren Vater ausgeschlossen hat. Das LSG hat zusätzlich ein schriftliches aussagepsychologisches Gutachten bei Prof. Dr. K. eingeholt und diesen zur Erläuterung seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung vom 18.6.2013 angehört. Der Gutachter hat ua ausgeführt, bei der Klägerin dränge sich angesichts einer außerordentlichen Kumulation von Risikofaktoren eine Suggestionshypothese geradezu auf. Es könne daher nicht mehr zuverlässig zwischen einer Erlebnisgrundlage und einer Auto- oder Fremdsuggestion unterschieden werden, so dass von einer eigenen aussagepsychologischen Untersuchung der Klägerin abgesehen werde. Über die bloße Möglichkeit hinaus seien auch Schlussfolgerungen aus den vorhandenen psychischen Störungen auf sexuelle Übergriffe ausgeschlossen. Das LSG hat die Klage erneut abgewiesen und zur Begründung ua ausgeführt, es könne offenbleiben, ob die Beweiserleichterung des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) auch dann zum Tragen komme, wenn - wie hier - die Aussage des Antragstellers und die Aussage der als Täter beschuldigten Person gegenüber stünden. Auch wenn eine Glaubhaftmachung iS des § 15 KOVVfG ausreiche, könne ein tätlicher Angriff nicht im Sinne einer guten Möglichkeit festgestellt werden. Dies folge noch nicht allein aus dem aussagepsychologischen Gutachten, weil konkrete Aussagen zu der Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Aussage der Wahrheit entspreche, mit den Methoden der Glaubwürdigkeitsbegutachtung getroffen werden könnten. Es folge jedoch aus der umfassenden Würdigung der erhobenen Beweise. Aus der schweren psychischen Erkrankung könne dabei nicht auf eine traumatische Genese geschlossen werden. Die Angabe der sachverständigen Zeugin G. sei nach den Ausführungen des Sachverständigen insoweit wissenschaftlich ebenso wenig haltbar wie ihre Meinung, eine Fehlerinnerung der Klägerin könne ausgeschlossen werden. Angesichts einer Vielzahl von Risikofaktoren dränge sich vielmehr die gute Möglichkeit einer Scheinerinnerung auf (Urteil vom 18.6.2013).

3

Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil und beantragt hierfür Prozesskostenhilfe (PKH).

4

II. 1. Der Antrag der Klägerin, ihr PKH unter Beiordnung von Rechtsanwalt B. für die von ihr eingelegte und begründete Beschwerde zu gewähren, ist abzulehnen. Nach § 73a Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 114, 121 ZPO kann einem bedürftigen Beteiligten für das Beschwerdeverfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet werden, wenn ua die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Daran fehlt es. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist nämlich unzulässig (dazu 2.).

5

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 SGG iVm § 169 S 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der Divergenz und des Verfahrensmangels nach § 160 Abs 2 Nr 2 und 3 SGG.

6

a) Die Klägerin legt die für eine Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) notwendigen Voraussetzungen nicht in der gesetzlich gebotenen Weise dar. Wer eine Rechtsprechungsdivergenz entsprechend den gesetzlichen Anforderungen darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und dazu ausführen, weshalb beide miteinander unvereinbar seien sollen (vgl zB BSG Beschluss vom 28.7.2009 - B 1 KR 31/09 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 28.6.2010 - B 1 KR 26/10 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 4 mwN). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat (vgl zB BSG Beschluss vom 15.1.2007 - B 1 KR 149/06 B - RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 f mwN).

7

Die Klägerin führt zwar einen Rechtssatz an, macht aber schon nicht ausreichend deutlich, welchem Gericht sie diesen Rechtssatz als Aussage zuordnet, wenn sie hierzu ausführt,

        

"die angefochtene Entscheidung des Landessozialgerichts weicht in seiner Entscheidung von der Entscheidung des BSG vom 17.4.2013 (B 9 V 1/12 R), sofern sie den abstrakten Rechtssatz enthält:

Die Glaubhaftigkeit einer Aussage im Sinne des § 15 KOV-VfG kann nur im Rahmen eines aussagepsychologischen Gutachtens, welches nach dem Falsifikationsprinzip arbeitet (also von der sog. Unwahr- oder 'Null-Hyothese' als Ausgangsthese ausgeht), überprüft werden."

8

Unabhängig von dieser unklaren Zuordnung eines behaupteten Rechtssatzes stellt sie diesem Rechtssatz auch keinen abweichenden Rechtssatz des jeweils anderen Gerichts gegenüber, welcher einen Widerspruch im Grundsätzlichen belegen könnte. Dies gilt auch hinsichtlich eines von der Rechtsprechung des BSG (SozR 4-3800 § 1 Nr 20, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen) etwaig abweichenden Beweismaßstabs. Der Beschwerdebegründung lässt sich entnehmen, dass das LSG die Frage nach dem Beweismaßstab gerade offen gelassen hat. Der Hinweis auf die vom Sachverständigen angeführte Kumulation von Risikofaktoren und die darauf fußende Hypothese einer Scheinerinnerung belegen keine Divergenz hinsichtlich der durch den erkennenden Senat vorgegebenen und vom LSG zugrunde gelegten Beweismaßstäbe. Auch geringere Anforderungen an den Beweismaßstab gewährleisten das gewünschte Beweisergebnis nicht, unabhängig von den festgestellten Tatsachen. Soweit die Klägerin in diesem Kontext bemängelt, das LSG habe die Grenzen der aussagepsychologischen Begutachtung zum Anlass nehmen müssen, in weitere Ermittlungen hinsichtlich der Aussagegenese einzutreten, erhebt sie stattdessen die Aufklärungsrüge (§ 103 SGG; dazu II.2.b). Soweit sie darüber hinaus der Meinung ist, die Entscheidung des LSG verstoße gegen die Rechtsprechung des erkennenden Senats, rügt sie die Richtigkeit der Entscheidung des LSG. Diese ist indessen nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

9

b) Die Klägerin bezeichnet auch einen Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht hinreichend. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf den Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers stützt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr, vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 13 RdNr 4 mwN). Geltend gemacht werden kann nur ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der § 109 und § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

10

Die Klägerin rügt vorrangig, das LSG sei zwar formal entsprechend den Vorgaben im Beschluss des BSG vom 7.4.2011 gefolgt und habe antragsgemäß die sachverständige Zeugin G. angehört. Nachdem diese zugunsten der Klägerin eine Fremdinduzierung der Erinnerungen habe ausschließen können, habe das LSG aber nicht in weitere Ermittlungen eintreten dürfen. Damit rügt die Klägerin keinen Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht. Denn das Gericht darf eine Entscheidung nur treffen, wenn der Sachverhalt in der Weise ausermittelt ist, dass er für eine Überzeugungsbildung ausreicht (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG). Umgekehrt mussten die von der Klägerin dargelegten Grenzen aussagepsychologischer Begutachtung ebenso wenig wie die vom Sachverständigen angeführte wissenschaftliche Haltlosigkeit der Äußerungen der Zeugin G. das LSG zur Einholung des hilfsweise beantragten nichtaussagepsychologischen Sachverständigengutachtens veranlassen. Die Klägerin bezeichnet insoweit schon keinen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6 mwN). Die Klägerin bezieht sich nicht auf bisher noch nicht berücksichtigte Aspekte zur Genese der psychischen Erkrankung. Der von ihr wiedergegebene Antrag zielt vielmehr ausschließlich darauf ab, mit Hilfe einer weiteren Begutachtung zu einer abweichenden Beurteilung zu kommen. Damit stellt sich die angebliche Aufklärungsrüge in Wirklichkeit als ein durch § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 Alt 1 SGG ausgeschlossener Angriff auf die Beweiswürdigung dar. Die Würdigung unterschiedlicher Gutachtenergebnisse oder unterschiedlicher ärztlicher Auffassungen gehört wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung selbst. Eine Verpflichtung zur Einholung eines sogenannten Obergutachtens besteht auch bei einander widersprechenden Gutachtensergebnissen im Allgemeinen nicht; vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 7d, 7e mwN). Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen. Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 8).

11

Gründe für eine Ausnahme sind hier nicht dargelegt. Liegen bereits mehrere Gutachten (oder fachkundige Angaben) vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten (oder fachkundigen Angaben) grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9 mwN). Derartige Umstände hat die Klägerin nicht vorgetragen. Der Hinweis auf die bei der Klägerin durchgehend seit 1993 gestellte Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung durch nahezu alle behandelnden Therapeuten stellt den vom Sachverständigen begründeten Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit nicht in Frage. Die Grenzen der aussagepsychologischen Begutachtung beinhalten hinsichtlich des hier entscheidenden Aspekts der Fremdinduziertheit der Erinnerungen keinen konkreten Mangel.

12

3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

13

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein.

(2) Der Kläger ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

(3) Eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts kann mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde begehren, wenn sie behauptet, daß die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite.

(4) Betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, so kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden.

(5) Mit der Klage kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Im Sinne dieses Gesetzes ist

1.
Krankheitserregerein vermehrungsfähiges Agens (Virus, Bakterium, Pilz, Parasit) oder ein sonstiges biologisches transmissibles Agens, das bei Menschen eine Infektion oder übertragbare Krankheit verursachen kann,
2.
Infektiondie Aufnahme eines Krankheitserregers und seine nachfolgende Entwicklung oder Vermehrung im menschlichen Organismus,
3.
übertragbare Krankheiteine durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden, verursachte Krankheit,
3a.
bedrohliche übertragbare Krankheiteine übertragbare Krankheit, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen kann,
4.
Krankereine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist,
5.
Krankheitsverdächtigereine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen,
6.
Ausscheidereine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein,
7.
Ansteckungsverdächtigereine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein,
8.
nosokomiale Infektioneine Infektion mit lokalen oder systemischen Infektionszeichen als Reaktion auf das Vorhandensein von Erregern oder ihrer Toxine, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme steht, soweit die Infektion nicht bereits vorher bestand,
9.
Schutzimpfungdie Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer übertragbaren Krankheit zu schützen,
10.
andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxedie Gabe von Antikörpern (passive Immunprophylaxe) oder die Gabe von Medikamenten (Chemoprophylaxe) zum Schutz vor Weiterverbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten,
11.
Impfschadendie gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung; ein Impfschaden liegt auch vor, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde,
12.
Gesundheitsschädlingein Tier, durch das Krankheitserreger auf Menschen übertragen werden können,
13.
Sentinel-Erhebungeine epidemiologische Methode zur stichprobenartigen Erfassung der Verbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten und der Immunität gegen bestimmte übertragbare Krankheiten in ausgewählten Bevölkerungsgruppen,
14.
Gesundheitsamtdie nach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzes bestimmte und mit einem Amtsarzt besetzte Behörde,
15.
Einrichtung oder Unternehmeneine juristische Person, eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person, in deren unmittelbarem Verantwortungsbereich natürliche Personen behandelt, betreut, gepflegt oder untergebracht werden,
15a.
Leitung der Einrichtung
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich einer Einrichtung durch diese mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern die Einrichtung von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
15b.
Leitung des Unternehmens
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich eines Unternehmens durch dieses mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern das Unternehmen von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
16.
personenbezogene AngabeName und Vorname, Geschlecht, Geburtsdatum, Anschrift der Hauptwohnung oder des gewöhnlichen Aufenthaltsortes und, falls abweichend, Anschrift des derzeitigen Aufenthaltsortes der betroffenen Person sowie, soweit vorliegend, Telefonnummer und E-Mail-Adresse,
17.
Risikogebietein Gebiet außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, für das vom Bundesministerium für Gesundheit im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit einer bestimmten bedrohlichen übertragbaren Krankheit festgestellt wurde; die Einstufung als Risikogebiet erfolgt erst mit Ablauf des ersten Tages nach Veröffentlichung der Feststellung durch das Robert Koch-Institut im Internet unter der Adresse https://www.rki.de/risikogebiete.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger an einem entschädigungspflichtigen Impfschaden leidet.

2

Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche am 24.10.1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel und einer Säureüberladung (perinatale Asphyxie). Am 17.4.1986 erhielt der Kläger die im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfung gegen Diphtherie und Tetanus (Kombination) sowie gegen Poliomyelitis (oral). Zwei Wochen nach dieser Impfung sackte der Kläger im Arm seiner Mutter schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen; nach einigen Minuten setzte eine Erholung ein; Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Nach Angaben seiner Mutter hat sich das Kind nicht mehr vollständig erholt. Ende 1986 wurde beim Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis erhielt der Kläger am 12. und 30.4.1987.

3

Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von nunmehr 100 anerkannt.

4

Im März 2001 stellte der Kläger bei dem beklagten Land einen Antrag auf Leistungen wegen eines Impfschadens. Daraufhin holte dieses ein nervenärztliches Gutachten von Dr. D. ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5.9.2002 ab. Auf der Grundlage einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr. M. wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2003 zurück, weil ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der infantilen spastischen Cerebralparese zwar möglich aber nicht wahrscheinlich sei. Überwiegend wahrscheinlich sei, dass für die Erkrankung andere Faktoren, wie die Frühgeburt und Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, ausschlaggebend gewesen seien.

5

Der Kläger hat daraufhin beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Dieses hat verschiedene ärztliche Unterlagen sowie von Amts wegen ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 2.1.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.6.2005 eingeholt. Dieser ist - vorbehaltlich der Richtigkeit der Schilderung der Mutter des Klägers betreffend das Ereignis zwei Wochen nach der Impfung - zu dem Ergebnis gelangt, dass die perinatale Asphyxie (lediglich) zu einem leichten bis mäßigen Hirnschaden geführt habe. Die ab Mai 1986 ersichtlichen schweren neurologischen Störungen (Cerebralparese) seien überwiegend als Impfschadensfolge einzuordnen.

6

Der Beklagte hat demgegenüber ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S. Facharzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin - vom 21.2.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 27.2.2006 vorgelegt. Dieser hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale Sauerstoffmangelsituation zurückzuführen sei und eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung höchst unwahrscheinlich sei. Im Anschluss daran hat das SG die Mutter des Klägers als Zeugin über den Zwischenfall zwei Wochen nach dem 17.4.1986 vernommen und danach ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt und zwar von Prof. Dr. D. Unter dem 27.11.2006 ist dieser Sachverständige ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorliegende Cerebralparese mit bestimmten Störungen bzw Behinderungen überwiegend wahrscheinlich durch die perinatale Asphyxie verursacht worden sei, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Impfschädigung bestehe.

7

Durch Urteil vom 10.5.2007 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17.4.1986 unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 65 vH zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei am 13. oder 14. Tag nach der Impfung auf dem Arm der Mutter plötzlich schlaff geworden und mit halb geschlossenen Augen im Gesicht bleich gewesen, er habe sich danach zwar erholt, aber nicht mehr wie zuvor bewegt. Zur Frage der Verursachung sei der Auffassung von Prof. Dr. K. zu folgen. Die anders lautenden Beurteilungen der übrigen Sachverständigen seien nicht überzeugend. Die MdE von 65 vH ergebe sich daraus, dass der mit 100 vH zu bewertende dauerhafte Gesundheitsschaden des Klägers nach der Beurteilung von Prof. Dr. K. zu zwei Dritteln durch die Impfung am 17.4.1986 verursacht worden sei.

8

Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger hilfsweise beantragt, durch Anfrage bei der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Tatsache zu erweisen, dass die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen, sowie zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können, ein medizinisches Sachverständigengutachten eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes einzuholen, der über Erfahrungen auch zu Impfungen in den achtziger Jahren verfügt.

9

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Anspruchsvoraussetzungen nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorschriften des bis zum 31.12.2000 geltenden § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) und des am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nicht erfüllt. Danach sei der Nachweis einer schädigenden Einwirkung (der Impfung), einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und der Schädigungsfolgen (Dauerleiden) erforderlich. Für die jeweiligen Kausalzusammenhänge reiche eine Wahrscheinlichkeit aus.

10

Der dauerhafte Gesundheitsschaden in Form einer Cerebralparese sei hier nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen, weil sich ein Impfschaden als Primärschädigung nicht habe nachweisen lassen. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen seien, lasse sich den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung entnehmen. Bezogen auf den Anspruchszeitraum ab Antragstellung im April 2001 sei grundsätzlich die Nr 57 AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenze. Eine Änderung sei mit den AHP 2008 eingetreten, in welchen von einer Aufführung der spezifischen Impfschäden Abstand genommen worden sei. Vielmehr habe Nr 57 Satz 1 AHP 2008 auf die im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten STIKO verwiesen, die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelten. Nach Nr 57 Satz 2 AHP 2008 stellten diese Ergebnisse den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran habe sich auch mit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zum 1.1.2009 nichts geändert, denn die Nr 53 bis 143 AHP 2008 behielten auch nach Inkrafttreten der VersmedV weiterhin Gültigkeit als antizipiertes Sachverständigengutachten (BR-Drucks 767/07, S 4 zu § 2 VersMedV).

11

Die aktuellen Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 (EB Nr 25/2007, 209 ff), die zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen von Schutzimpfungen enthielten, seien gleichwohl zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen. Bei den einzelnen Impfstoffen würden jeweils in dem mit "Komplikationen" bezeichneten Abschnitt in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei.

12

Im Streit stehe der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne einer Verschlimmerung, nicht im Sinne der Entstehung. Nach Nr 42 Abs 1 Satz 3 AHP 2008 bzw nach Teil C Nr 7 Buchst a Satz 3 Anlage zur VersMedV komme, sofern zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch unbemerkt, vorhanden gewesen sei, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, falls die äußere Einwirkung den Zeitpunkt vorverlegt habe, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schädigungsbedingt in schwererer Form aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.

13

Bei dem Kläger liege nach Einschätzung aller Gutachter ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit bestehe auch darüber, dass derartige frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestierten. Kern des Rechtsstreits sei die Frage, ob ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese auf die Impfung zurückzuführen sei. Ein derartiger Zusammenhang sei indessen nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische Impfreaktion als Primärschädigung) fehle.

14

In den Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 seien für die Verwendung des Diphtherie-Impfstoffs sowie für die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs gegen Diphtherie und Tetanus spezifische Komplikationen aufgezählt, die sämtlich beim Kläger nicht aufgetreten seien. Insbesondere habe keiner der Sachverständigen eine Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.

15

Soweit der Kläger die Mitteilungen der STIKO für nicht maßgebend halte, weil sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen seien, komme es auf seinen entsprechenden Beweisantrag nicht an. Selbst wenn man unterstelle, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als den damals bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, sei der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich.

16

In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nr 57 Abs 12 und 13 AHP 2005 nenne für Diphtherie- und Tetanusschutzimpfungen spezifische Erscheinungen als Impfschäden, die bei dem Kläger nach Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K. nicht aufgetreten seien. Der von diesem als zentralnervöser Zwischenfall bezeichnete Vorgang zwei Wochen nach der Impfung sei keine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) gewesen. Die von Prof. Dr. S. genannten typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung fehlten beim Kläger. Selbst wenn man die vom Kläger unter Beweis gestellte Behauptung, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten könnten, als wahr unterstellte, ändere dies nichts daran, das vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems gerade nicht positiv festgestellt werden könne. Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge aber für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Der nach den AHP 2005 erforderliche Nachweis einer Antikörperbildung möge heute noch möglich sein, sei aber nicht zielführend, weil hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde und nicht mehr geklärt werden könne, welche der drei Impfungen des Klägers diesen Zustand herbeigeführt habe. Im Übrigen schieden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese allein auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen sei.

17

Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutzimpfung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei, sei - wovon auch die Beteiligten ausgingen - auf die AHP 2005 abzustellen. Die Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 enthielten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitisimpfstoffen weitere Impfstoffe insbesondere gegen Pertussis, Influenza und Hepatitis B, enthielten. Als Impfschäden nach einer Poliomyelitisschutzimpfung seien in Nr 57 Abs 2 AHP 2005 verschiedene Erkrankungen genannt, insbesondere poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer. In keinem der vorliegenden Gutachten sei erwähnt, dass der Kläger an einer derartigen Impfpoliomyelitis erkrankt gewesen sei. Ebenso wenig seien Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich seien beim Kläger auch weder eine Meningoenzephalitis noch die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert worden. Die von Prof. Dr. K. angenommene Encephalopathie sei nach den AHP 2005 nur nach Pertussis- und Pockenschutzimpfungen als Impfschaden genannt, die beim Kläger nicht vorgenommen worden seien.

18

Mit der vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe materielles und formelles Recht verletzt.

19

Verletzt sei § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG bzw § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG. Das LSG habe bei ihm das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung durch die Dreifachschutzimpfung, dh eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung und damit einen dauerhaften Impfschaden, zu Unrecht verneint, weil es verkannt habe, dass es für die Anerkennung einer unüblichen Impfreaktion und eines Impfschadens nach einer Dreifachimpfung im Jahre 1986 weiterhin auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unüblichen Impfreaktionen auf die 1986 verwendeten Impfstoffe ankomme. Stattdessen sei das LSG von den Hinweisen der STIKO von 2007 ausgegangen, die über unübliche Impfreaktionen auf die aktuell verwendeten Impfstoffe informierten, ohne aufgeklärt zu haben, ob es sich bei diesen Impfstoffen um die gleichen handele, die bei seiner Dreifachimpfung 1986 verwendet worden seien, oder ob sie sich unterschieden. Außerdem sei das LSG von einem unzutreffenden Verständnis der medizinischen Voraussetzungen, dh der Krankheitsbilder, ausgegangen.

20

Damit habe das LSG die Rechtstatsachen "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand" sowie die ebenfalls als Rechtstatsachen anzusehenden Krankheitsbegriffe "akut entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems" sowie "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf das Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R -) würden wissenschaftliche Erkenntnisse über medizinische Ursachen- und Wirkungszusammenhänge nicht mehr als Tatsachenfeststellungen iS von § 163 SGG gewertet, weil sie keine Tatsachen des Einzelfalles seien, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen (dort Berufskrankheiten-) Fälle von Bedeutung seien. Es gehe nicht nur um die Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt, sondern um sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt würden.

21

Aus den tatsächlichen Feststellungen zu seinem Zusammenbruch Ende April 1986 und zu seiner Entwicklung vor und nach der Impfung folge jedoch, dass es bei ihm zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen sei, nämlich zu einer Enzephalopathie (möglicher Diphtherieimpfschaden gemäß den AHP 1983) bzw zu einer nicht poliomyelitischen Erkrankung am ZNS (möglicher Impfschaden nach der Polio-Schluckimpfung gemäß den AHP 1983) bzw zu einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS (möglicher Impfschaden nach der Diphtherieschutzimpfung gemäß AHP 2005).

22

Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Bei den Rechtstatsachen "aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand", "akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems" und "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" handele es sich um allgemeine Erfahrungssätze, deren Verkennung eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung beinhalte.

23

Verstoßen habe das LSG gegen den Erfahrungssatz, dass die Impffolgen abhängig von den verwendeten Impfstoffen seien. Zudem habe das LSG bei der Deutung der Krankheitsbilder gegen medizinische Erfahrungssätze verstoßen. Das LSG habe weiter seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, insbesondere den Sachverhalt nicht vollständig erfasst bzw ermittelt. So habe es sich nicht veranlasst gesehen, seinem - des Klägers - Beweisantrag zum Fehlen einer Identität der 1986 und heute verwendeten Impfstoffe zu folgen. Diesen und den weiteren Beweisantrag zur Möglichkeit einer Erkrankung des ZNS bei immunologisch unreifen Kindern ohne Fieberausbrüche habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, dass eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS nicht festgestellt worden sei. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. K. durchaus eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS bejaht. Schließlich habe das LSG seine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (sich) widersprechenden Gutachten dadurch verletzt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. hinsichtlich des Nichtvorliegens einer akut entzündlichen ZNS-Erkrankung gefolgt sei, ohne sich mit den gegenteiligen Ausführungen des Prof. Dr. K. auseinander zu setzen und ohne darzulegen, aufgrund welcher Sachkunde es dem Gutachten von Prof. Dr. S. folge und worauf diese Sachkunde beruhe.

24

Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe die Entscheidung des LSG, dass ein Zusammenhang des Leidens der Tetraplegie mit der Dreifachimpfung nicht wahrscheinlich sei, weil es am Nachweis eines Impfschadens fehle und im Übrigen andere Ursachen der Erkrankung nicht ausschieden.

25

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2007 zurückzuweisen.

26

Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

27

Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.

28

Der Senat hat eine Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 mit einer Auflistung der seit 1979 zugelassenen Polio Oral-Impfstoffe sowie der Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus eingeholt und den Beteiligten ausgehändigt.

Entscheidungsgründe

29

1. Die Revision des Klägers ist zulässig.

30

a) Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, wenn er geltend macht, das LSG habe generelle "Rechtstatsachen" verkannt. Es spricht zunächst nichts dagegen, die in den AHP 1983 bis 2005 unter Nr 57 für Schutzimpfungen ausgeführten Erkenntnisse zu üblichen Impfreaktionen und "Impfschäden" als generelle Tatsachen anzusehen. Zutreffend hat der Kläger insoweit auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) zum Berufskrankheitenrecht hingewiesen. Auch der erkennende Senat ist bereits im Bereich des Schwerbehindertenrechts davon ausgegangen, dass generelle Tatsachen vorliegen, soweit es um allgemeine medizinische Erkenntnisse geht (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG führt die Annahme, dass ein bestimmter Umstand nicht (nur) einzelfallbezogene Tatsache ist, sondern eine generelle Tatsache darstellt, indes nur zur Durchbrechung der nach § 163 SGG angeordneten strikten Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des LSG verbunden mit der Befugnis bzw der Aufgabe für das Revisionsgericht, entsprechende generelle Tatsachen selbst zu ermitteln und festzustellen(BSG aaO). Die Nichtberücksichtigung genereller Tatsachen durch das Berufungsgericht bewirkt damit nicht unmittelbar eine Verletzung materiellen Rechts.

31

Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es um die unterlassene oder die fehlerhafte Berücksichtigung von generellen Rechtstatsachen geht, muss hier nicht entschieden werden. Zwar mag eine im og Sinne generelle Tatsache dann als Rechtstatsache anzusehen sein, wenn sie Gegenstand einer Rechtsnorm ist (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 7; noch nicht differenziert in BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4). Das BSG ist aber auch im Fall der Annahme einer generellen "Rechtstatsache" bisher ausdrücklich allein von der Durchbrechung der Bindung des § 163 SGG ausgegangen(BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24; BSGE 94, 90 = SozR 3-2500 § 18 Nr 6; s dazu Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 791, 796). Ob eine Erweiterung dieser Rechtsprechung in einem Fall angezeigt ist, in dem es um Inhalt und Reichweite der AHP geht, deren Änderung in der Rechtsprechung des BSG wegen der "rechtsnormähnlichen Qualität" der AHP als Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X angesehen worden ist(BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5 S 6), kann ebenfalls auf sich beruhen.

32

b) Jedenfalls reicht es zur Zulässigkeit einer Revision aus, wenn der Revisionsführer die berufungsgerichtliche Feststellung genereller Tatsachen mit zulässigen Verfahrensrügen angreift (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das ist hier geschehen. Der Kläger hat insbesondere schlüssig dargetan, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen aufzuklären, ob sich die vom LSG herangezogenen, in den Hinweisen der STIKO von 2007 und den AHP 2005 niedergelegten medizinischen Erkenntnisse auf die Impfstoffe beziehen, die im Jahre 1986 bei ihm (dem Kläger) verwendet worden sind. Dazu hat der Kläger auch hinreichend vorgetragen, dass es - ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG - auf diese Feststellungen ankam, weil nach den AHP 1983 andere Krankheitserscheinungen zur Bejahung eines über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschadens (dort als "Impfschaden" bezeichnet) ausreichten als nach den - insoweit gleichlautenden - AHP 1996 bis 2005. Sollten im vorliegenden Fall die AHP 1983 maßgebend sein, so wäre danach eine für den Kläger günstigere Entscheidung des LSG möglich gewesen. Diese Rüge erfasst den gesamten Gegenstand des Revisionsverfahrens. Sie führt mithin zur unbeschränkten Zulässigkeit der Revision.

33

2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.

34

a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente wegen eines Impfschadens nach einer MdE um 65 vH ab April 2001 (ab 21.12.2007: Grad der Schädigungsfolgen von 65). Mit Urteil vom 10.5.2007 hat das SG - entsprechend dem Klageantrag - den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der am 17.4.1986 erfolgten Impfung unter Anerkennung der Impfschadensfolge "Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung, leichte Sprachstörung" ab April 2001 Versorgung nach dem IfSG iVm dem BVG nach einer MdE von 65 vH zu gewähren. Dieses Urteil hatte der Kläger vor dem LSG erfolglos gegen die Berufung des Beklagten verteidigt. Im Revisionsverfahren erstrebt er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der - in der Revisionsverhandlung klargestellten - Maßgabe, dass er nicht allgemein Versorgung, sondern Beschädigtenrente begehrt (vgl dazu BSGE 89, 199, 200 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 92 f).

35

           

b) Der Anspruch des Klägers, der für die Zeit ab März 2001 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs 1 IfSG, der am 1.1.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin und auch schon zur Zeit der hier in Rede stehenden Impfung des Klägers im Jahre 1986 geltenden - weitgehend wortlautgleichen (BSGE 95, 66 = SozR 4-3851 § 20 Nr 1, RdNr 6; SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 12) - § 51 Abs 1 BSeuchG abgelöst hat. § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG bestimmt:

Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

3. gesetzlich vorgeschrieben war oder 

4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,

eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens iS des § 2 Nr 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

        

Nach § 2 Nr 11 Halbs 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

        
36

aa) Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG - ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde - erfolgteSchutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58, 59 = SozR 3850 § 51 Nr 9 S 46 und - 9a RVi 4/84 - SozR 3850 § 51 Nr 10 S 49; ebenso auch Nr 57 AHP 1983 bis 2005).

37

Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. (s Rohr/Sträßer/Dahm, BVG-Kommentar, Stand 1/11, § 1 Anm 10 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr 8 mwN).

38

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.

39

bb) Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales ) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.

40

           

Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl auch Nr 57 AHP 2008):

        

Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.

41

Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS , Einleitung zur VersMedV, S 5), sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.

42

cc) Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, dass alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im Sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht, und Schwerbehindertenrecht (s BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVi 1/95 - SozR 3-3850 § 52 Nr 1 S 3, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25) sowie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 V 1/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

43

Bei der Anwendung der neuesten medizinischen Erkenntnisse ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, ggf lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben.

44

c) Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Berufungsurteil nicht in vollem Umfang.

45

aa) Zunächst hat das LSG unangegriffen festgestellt, dass der Kläger am 17.4.1986 im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfungen, nämlich gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, erhalten hat. Sodann ist allerdings unklar, das Auftreten welcher genauen Gesundheitsstörungen das LSG in der Zeit nach diesen Impfungen als bewiesen angesehen hat. Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines "Impfschadens" im Sinne einer primären Schädigung (also einer Impfkomplikation) zu verneinen. Bei der insoweit erfolgten Kausalitätsbeurteilung hat es sich in erster Linie auf die Hinweise der STIKO von Juni 2007 (Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen/Stand: 2007, EB vom 22.6.2007/Nr 25 ) und hilfsweise auch auf die Nr 57 AHP 2005 gestützt, ohne - wie der Kläger zutreffend geltend macht - Feststellungen dazu getroffen zu haben, ob sich die darin zusammengefassten medizinischen Erkenntnisse auch auf die beim Kläger im Jahre 1986 verwendeten Impfstoffe beziehen.

46

Das LSG hat es bereits unterlassen, ausdrücklich festzustellen, welche Impfstoffe dem Kläger am 17.4.1986 verabreicht worden sind. Auch aus den vom LSG allgemein in Bezug genommenen Akten ergibt sich insofern nichts. Der in Kopie vorliegende Impfpass des Klägers enthält für den 17.4.1986 nur den allgemeinen Eintrag "Polio oral, Diphtherie, Tetanus". In der ebenfalls in Kopie vorliegenden Krankenkartei der behandelnden Kinderärztin findet sich unter dem 17.4.1986 die Angabe "DT-Polio".

47

Ermittlungen zu dem im Jahre 1986 beim Kläger verwendeten Impfstoff sowie zu dessen Einbeziehung in die Hinweise der STIKO (EB Nr 25/2007) und - hinsichtlich des oral verabreichten Poliolebendimpfstoffes - in die Nr 57 Abs 2 AHP 2005 hat das LSG offenbar für entbehrlich gehalten. Es hat den Umstand, dass die Impfstoffe im Laufe der Jahre verändert worden sind, hypothetisch als wahr unterstellt und anhand der AHP 2005 unter Auswertung der Sachverständigengutachten den Eintritt von Impfkomplikationen beim Kläger verneint. Dabei hat es jedoch nicht geklärt, ob die AHP 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der im Jahre 1986 vorgenommenen Impfungen auch wirklich uneingeschränkt maßgebend sind.

48

bb) Entsprechende Feststellungen wären sicher dann überflüssig, wenn die Angaben zu Impfkomplikationen nach Schutzimpfungen der beim Kläger vorgenommenen Art von den 1986 noch maßgebenden AHP 1983 bis zu den STIKO-Hinweisen von Juni 2007 gleich geblieben wären. Dann könnte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich weder die Auswirkungen der insoweit gebräuchlichen Impfstoffe noch diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben. Ebenso könnte auf nähere Feststellungen zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn feststünde, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis bei den STIKO-Hinweisen von 2007 oder den Angaben in Nr 57 AHP 2005 Berücksichtigung gefunden haben, sei es, weil die Impfstoffe (jedenfalls hinsichtlich der zu erwartenden Impfkomplikationen) im gesamten Zeitraum im Wesentlichen unverändert geblieben sind, sei es, weil etwaige Unterschiede differenziert behandelt worden sind. Von alledem kann nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht ausgegangen werden.

49

           

aaa) Zunächst lassen sich Unterschiede in den Ausführungen der Nr 57 AHP 1983 und 1996 (letztere sind in die AHP 2004 und 2005 übernommen worden) sowie in den STIKO-Hinweisen von 2007 feststellen:

So enthält die Nr 57 Abs 2 AHP (Poliomyelitis-Schutzimpfung) für die Impfung mit Lebendimpfstoff zwar hinsichtlich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 (2004/2005) im Wesentlichen die gleichen Formulierungen, der Text betreffend "Impfschäden" (im Sinne von Impfkomplikationen) weicht jedoch in beiden Fassungen voneinander ab. In den AHP 1983 heißt es insoweit:

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (21 bis 158 Tage beobachtet). Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.

50

           

Die Fassung der AHP 1996 nennt dagegen als "Impfschäden" (Komplikationen):

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.

51

In den EB 25/2007 finden sich zu einem Poliomyelitisimpfstoff mit Lebendviren, wie er dem Kläger (oral) verabreicht worden ist, keine Angaben. Dies beruht darauf, dass dieser Impfstoff seit 1998 nicht mehr zur Schutzimpfung bei Kleinkindern öffentlich empfohlen ist (vgl dazu BSG SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 16).

52

Für die Diphtherie-Schutzimpfung ist die Nr 57 Abs 12 AHP bezüglich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 im Wesentlichen wortlautgleich.

53

           

Die "Impfschäden" (im Sinne von Komplikationen) sind in der Fassung der AHP 1983 beschrieben mit:

        

Sterile Abszesse mit Narbenbildung. Selten in den ersten Wochen Enzephalopathie, Enzephalomyelitis oder Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit). Selten Thrombose, Nephritis.

54

           

Demgegenüber ist Abs 12 der Nr 57 AHP 1996 hinsichtlich der "Impfschäden" (Komplikationen) wie folgt gefasst:

        

Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.

55

           

Hinsichtlich der Tetanus-Schutzimpfung sind in Abs 13 der Nr 57 der hier relevanten Fassungen der AHP die "Impfschäden" wie folgt übereinstimmend umschrieben:

        

Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.

56

           

Demgegenüber differiert hier die Beschreibung der "üblichen Impfreaktionen" zwischen den Fassungen 1983 und 1996. Während 1983 als "übliche Impfreaktionen" beschrieben sind:

        

Geringe Lokalreaktion,

57

           

enthält die Fassung der AHP 1996 die Formulierung:

        

Lokalreaktion, verstärkt nach Hyperimmunisierung.

58

           

In den STIKO-Hinweisen von 2007 (EB 25/2007, 211) heißt es zum Diphtherie-Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff):

        

Lokal- und Allgemeinreaktion
Als Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es innerhalb von einem bis drei Tagen, selten länger anhaltend, sehr häufig (bei bis zu 20 % der Impflinge) an der Impfstelle zu Rötung, Schmerzhaftigkeit und Schwellung kommen, gelegentlich auch verbunden mit Beteiligung der zugehörigen Lymphknoten. Sehr selten bildet sich ein kleines Knötchen an der Injektionsstelle, ausnahmsweise im Einzelfall mit Neigung zu steriler Abszedierung.

Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) treten gelegentlich (1 % der Impflinge) und häufiger (bis 10 %) bei hyperimmunisierten (häufiger gegen Diphtherie und/oder Tetanus geimpften) Impflingen auf.

In der Regel sind diese genannten Lokal- und Allgemeinreaktionen vorübergehender Natur und klingen rasch und folgenlos wieder ab.

Komplikationen
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- oder Polyneuritiden, Neuropathie) kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben.

59

           

bb) Der erkennende Senat hat auch keine Veranlassung anzunehmen, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus (DT-Impfstoffe) von den STIKO-Hinweisen von 2007 erfasst worden sind. Dafür dass sich diese nur auf im Jahre 2007 gebräuchliche Impfstoffe beziehen, spricht schon der vom LSG selbst erkannte Umstand, dass es sich dabei ausdrücklich um "Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen Stand: 2007" handelt. Zudem wird in diesen Hinweisen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die nachfolgende Textfassung sowie das zugehörige Literaturverzeichnis auf alle gegenwärtig (Stand: Juni 2007) in Deutschland zugelassenen Impfstoffe beziehen (s EB Nr 25/2007 S 210 rechte Spalte). Weiter heißt es dort:

        

Auf dem deutschen Markt stehen Impfstoffe unterschiedlicher Hersteller mit zum Teil abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen zur Verfügung, die zur gleichen Anwendung zugelassen sind. Die Umsetzung von STIKO-Empfehlungen kann in der Regel mit allen verfügbaren und zugelassenen Impfstoffen erfolgen. Zu Unterschieden im Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist ggf auf die jeweiligen Fachinformationen zu verweisen. Die Aktualisierung der Fachinformationen erfolgt nach Maßgabe der Zulassungsbehörden entsprechend den Änderungsanträgen zur Zulassung. Diese aktualisierten Fachinformationen sind ggf ergänzend zu den Ausführungen in diesen Hinweisen zu beachten.

60

Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 waren im Juni 2007 noch drei DT-Impfstoffe zugelassen, deren Zulassung vor 1986 lag. Daneben waren im Juni 2007 und bis heute weitere neun DT-Impfstoffe zugelassen, deren zeitlich früheste Zulassung im Jahr 1997 datiert. Hinzu kommt, dass es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts nach Einführung der Zulassungspflicht im Jahre 1978 eine Übergangszeit von mehreren Jahren gab. In dieser Zeit erhielten Impfstoffe nach und nach eine Zulassung im heutigen Sinne. So können Impfstoffe, die erst nach 1986 offiziell zugelassen worden sind, bereits vorher in Deutschland gebräuchlich gewesen sein.

61

Diese Gegebenheiten schließen nach Auffassung des erkennenden Senats - jedenfalls auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnisse - eine undifferenzierte Anwendung der STIKO-Hinweise auf die 1986 beim Kläger erfolgten Impfungen aus. Es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass alle 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe zu den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen gehört haben, auf die sich diese Hinweise nach ihrem Inhalt beziehen. Darüber hinaus werden darin ausdrücklich Unterschiede im Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen angesprochen, die sich aus abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen ergeben können. Ohne nähere Feststellungen zu den Zusammensetzungen der 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe, insbesondere der beim Kläger verwendeten, lässt sich mithin nicht beurteilen, ob und inwieweit die STIKO-Hinweise von 2007 bei der hier erforderlichen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden können.

62

Entsprechend verhält es sich mit den AHP 2005, die das LSG in erster Linie bei der Poliomyelitisimpfung und hilfsweise auch bei der DT-Impfung zur Kausalitätsbeurteilung herangezogen hat. In Nr 56 und 57 AHP 2005, die insoweit mit den AHP 1996 und 2004 übereinstimmen, wird nicht genau angegeben, auf welche Impfstoffe sich die betreffenden Angaben beziehen. Insbesondere wird nicht deutlich, ob diese Angaben auch für die 1986 gebräuchlichen Impfstoffe Geltung beanspruchen. Da das LSG auch nicht festgestellt hat, dass die in Frage kommenden Impfstoffe in ihren Auswirkungen von 1986 bis 1996 gleich geblieben sind, können die AHP 1996/2004/2005 hier nicht ohne Weiteres angewendet werden. Denkbar wäre immerhin, dass für die im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe grundsätzlich noch die AHP 1983 maßgebend sind, ggf ergänzt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der betreffenden Impfstoffe.

63

d) Zwar könnte der erkennende Senat die danach erforderlichen Feststellungen, soweit sie sich auf allgemeine Tatsachen beziehen, nach entsprechenden Ermittlungen selbst treffen. Eine derartige Vorgehensweise hält er hier jedoch nicht für tunlich.

64

aa) Zur Klärung einer Anwendung der STIKO-Hinweise von 2007 müsste - ohne vorherige Ermittlung der konkret beim Kläger verwendeten Impfstoffe, die der Senat nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG) - allgemein, dh voraussichtlich mit erheblichem Aufwand, geprüft werden, ob alle im April 1986 gebräuchlichen Impfstoffe den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen derart entsprachen, dass mit denselben Impfkomplikationen zu rechnen war, wie sie in den STIKO-Hinweisen für DT-Impfstoffe aufgeführt werden. Sollte sich dabei kein einheitliches Bild ergeben, könnte auf die Feststellung der tatsächlich angewendeten Impfstoffe wahrscheinlich nicht verzichtet werden.

65

bb) Soweit sich feststellen ließe, dass die AHP 1996/2004/2005 - ggf mit allgemeinen Modifikationen - ohne Feststellung der konkreten Impfstoffe für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich sind, könnte das Berufungsurteil jedenfalls nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zumindest hinsichtlich der Verneinung einer durch die Diphtherieimpfung verursachten Impfkomplikation beruht die Entscheidung des LSG nämlich sowohl auf einer teilweise unzutreffenden Rechtsauffassung als auch auf Tatsachenfeststellungen, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind.

66

Nach der vom LSG (hilfsweise) als einschlägig angesehenen Nr 57 Abs 12 AHP 2005 kommt bei einer Diphtherieschutzimpfung als "Impfschaden" (Komplikation) ua eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.

67

aaa) Dementsprechend ist zunächst festzustellen, ob eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS im maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung eingetreten ist. Soweit das LSG bezogen auf den vorliegenden Fall angenommen hat, eine entsprechende Erkrankung des ZNS lasse sich nicht feststellen, beruht dies - wie der Kläger hinreichend dargetan hat - auf einem Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 SGG.

68

Zwischen den Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. S. bestand darüber Streit, ob beim Kläger zwei Wochen nach der ersten Impfung eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" aufgetreten ist. Das LSG hat sich für die Verneinung einer derartigen Erkrankung in erster Linie auf die Auffassung von Prof. Dr. S. gestützt, der als typische Merkmale einer "schweren" ZNS-Erkrankung Fieber, Krämpfe, Erbrechen und längere Bewusstseinstrübung genannt habe. Dagegen hatte der Kläger unter Beweis gestellt, dass Erkrankungen des ZNS gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können. Diese Behauptung hat das LSG hypothetisch als wahr unterstellt und dazu die Ansicht vertreten, dies ändere "nichts daran, dass vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS gerade nicht positiv festgestellt werden kann". Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge nicht.

69

Zwar trifft es zu, dass der Eintritt einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS beim Kläger für den relevanten Zeitraum von 28 Tagen nach Impfung bewiesen sein muss. Den Ausführungen des LSG lässt sich jedoch nicht entnehmen, auf welche medizinische Sachkunde es sich bei der Beurteilung gestützt hat, eine positive Feststellung sei im vorliegenden Fall unmöglich. Auf die Ausführungen von Prof. Dr. S. konnte sich das LSG dabei nicht beziehen, da es in diesem Zusammenhang gerade - abweichend von dessen Auffassung - die Möglichkeit einer ohne Fieberausbrüche auftretenden akut entzündlichen Erkrankung des ZNS unterstellt hat. Mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., auf die sich der Kläger berufen hatte, hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt. Folglich hätte das LSG entweder zunächst dem auf allgemeine medizinische Erkenntnisse gerichteten Beweisantrag des Klägers nachkommen oder sogleich mit sachkundiger Hilfe (unter Abklärung des medizinischen Erkenntnisstandes betreffend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS) konkret feststellen müssen, ob das (von Prof. Dr. K. als "zentralnervöser Zwischenfall" bezeichnete) Krankheitsgeschehen, das beim Kläger vierzehn Tage nach der Impfung ohne einen Fieberausbruch abgelaufen ist, als akut entzündliche Erkrankung des ZNS anzusehen ist.

70

bbb) Auch (allein) mit dem (bislang) fehlenden Nachweis einer Antikörperbildung hätte das LSG eine Impfkomplikation nicht verneinen dürfen. Seine Begründung, selbst wenn sich noch heute Antikörper feststellen ließen, könnten sie - wegen der im Jahre 1987 erfolgten weiteren Impfungen - nicht mit Sicherheit der am 17.4.1986 vorgenommenen ersten Impfung zugeordnet werden, ist aus Rechtsgründen nicht tragfähig. Der erkennende Senat hält es für unzulässig, eine Versorgung nach dem IfSG an Anforderungen scheitern zu lassen, die im Zeitpunkt der Impfung nicht erfüllt zu werden brauchten und im nachhinein nicht mehr erfüllt werden können (vgl dazu Thüringer LSG Urteil vom 20.3.2003 - L 5 VJ 624/01 - juris RdNr 32; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2006 - L 8 VJ 847/04 - juris RdNr 40). Der Nachweis der Antikörperbildung als Hinweis auf eine Verursachung der Erkrankung des ZNS durch die Impfung ist erstmals in der Nr 57 Abs 12 AHP 1996 enthalten. Die AHP 1983 nannten an entsprechender Stelle als "Impfschäden" (Komplikationen) noch nicht einmal die akut entzündliche Erkrankung des ZNS, sondern andere Erkrankungen, wie zB die Enzephalopathie, ohne einen Antikörpernachweis zu fordern. Nach der am 17.4.1986 erfolgten Impfung bestand somit grundsätzlich keine Veranlassung, die Bildung von Antikörpern zu prüfen. Wenn die Zuordnung von jetzt noch feststellbaren Antikörpern nach den weiteren Impfungen von 1987 aus heutiger Sicht medizinisch nicht möglich sein sollte, verlangte man rechtlich etwas Unmögliches vom Kläger. Demzufolge muss es zur Erfüllung der Merkmale der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 jedenfalls ausreichen, wenn sich heute noch entsprechende Antikörper beim Kläger nachweisen lassen.

71

ccc) Soweit das LSG schließlich im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 festgestellt hat, dass andere Ursachen der Krankheitszeichen, die beim Kläger zwei Wochen nach der Impfung vom 17.4.1986 aufgetreten sind, nicht ausscheiden, ist auch diese Feststellung - wie vom Kläger zutreffend gerügt - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat insoweit nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt. Denn es hat sich nicht hinreichend mit der abweichenden medizinischen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. auseinandergesetzt. Neben dem vom LSG erörterten verringerten Schädelwachstum des Klägers hat Prof. Dr. K. in diesem Zusammenhang auch auf einen Entwicklungsknick hingewiesen, der beim Kläger nach dem "zentralnervösen Zwischenfall" eingetreten sei. Es ist jedenfalls nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich ein solcher Vorgang mit der vom LSG - gestützt auf Prof. Dr. S. angenommenen "allmählichen Manifestation" der Symptome einer Cerebralparese vereinbaren lässt.

72

e) Nach alledem ist es geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

73

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

Im Sinne dieses Gesetzes ist

1.
Krankheitserregerein vermehrungsfähiges Agens (Virus, Bakterium, Pilz, Parasit) oder ein sonstiges biologisches transmissibles Agens, das bei Menschen eine Infektion oder übertragbare Krankheit verursachen kann,
2.
Infektiondie Aufnahme eines Krankheitserregers und seine nachfolgende Entwicklung oder Vermehrung im menschlichen Organismus,
3.
übertragbare Krankheiteine durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden, verursachte Krankheit,
3a.
bedrohliche übertragbare Krankheiteine übertragbare Krankheit, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen kann,
4.
Krankereine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist,
5.
Krankheitsverdächtigereine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen,
6.
Ausscheidereine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein,
7.
Ansteckungsverdächtigereine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein,
8.
nosokomiale Infektioneine Infektion mit lokalen oder systemischen Infektionszeichen als Reaktion auf das Vorhandensein von Erregern oder ihrer Toxine, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme steht, soweit die Infektion nicht bereits vorher bestand,
9.
Schutzimpfungdie Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer übertragbaren Krankheit zu schützen,
10.
andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxedie Gabe von Antikörpern (passive Immunprophylaxe) oder die Gabe von Medikamenten (Chemoprophylaxe) zum Schutz vor Weiterverbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten,
11.
Impfschadendie gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung; ein Impfschaden liegt auch vor, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde,
12.
Gesundheitsschädlingein Tier, durch das Krankheitserreger auf Menschen übertragen werden können,
13.
Sentinel-Erhebungeine epidemiologische Methode zur stichprobenartigen Erfassung der Verbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten und der Immunität gegen bestimmte übertragbare Krankheiten in ausgewählten Bevölkerungsgruppen,
14.
Gesundheitsamtdie nach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzes bestimmte und mit einem Amtsarzt besetzte Behörde,
15.
Einrichtung oder Unternehmeneine juristische Person, eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person, in deren unmittelbarem Verantwortungsbereich natürliche Personen behandelt, betreut, gepflegt oder untergebracht werden,
15a.
Leitung der Einrichtung
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich einer Einrichtung durch diese mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern die Einrichtung von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
15b.
Leitung des Unternehmens
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich eines Unternehmens durch dieses mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern das Unternehmen von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
16.
personenbezogene AngabeName und Vorname, Geschlecht, Geburtsdatum, Anschrift der Hauptwohnung oder des gewöhnlichen Aufenthaltsortes und, falls abweichend, Anschrift des derzeitigen Aufenthaltsortes der betroffenen Person sowie, soweit vorliegend, Telefonnummer und E-Mail-Adresse,
17.
Risikogebietein Gebiet außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, für das vom Bundesministerium für Gesundheit im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit einer bestimmten bedrohlichen übertragbaren Krankheit festgestellt wurde; die Einstufung als Risikogebiet erfolgt erst mit Ablauf des ersten Tages nach Veröffentlichung der Feststellung durch das Robert Koch-Institut im Internet unter der Adresse https://www.rki.de/risikogebiete.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Umstritten ist ein Anspruch auf eine Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) i. V. mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

2

Die Eltern des am ... 1997 geborenen Klägers beantragten am 24. Januar 2003 bei dem Beklagten (Amt für Versorgung und Soziales H.) für ihren Sohn die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG). Sie gaben auf dem auf den 9. August 2002 datierten Antragsformular an, das Kind leide infolge ungewollten Dabeiseins bei sexuellem Missbrauchs des Bruders S. durch einen Halbbruder in der Zeit von Sommer bis Herbst 2000 unter physischen und psychischen Störungen in Form von Schlafstörungen, Angstzuständen und Albträumen. Der vom Beklagten beigezogenen Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft H. ist zu entnehmen, dass der Vater des Klägers, K-D. O., am ... 2001 Anzeige gegen seinen 1982 geborenen leiblichen Sohn C., den Halbbruder des Klägers, wegen sexuellen Missbrauchs des Bruders des Klägers erstattet hatte. C. O. gab in der Beschuldigtenvernehmung am 29. Mai 2001 an, er habe seinen damals vierjährigen Halbbruder sexuell missbraucht, indem er mit ihm in dessen Kinderzimmer im Jahr 2000 fünfmal Analverkehr im Abstand von mehreren Tagen bzw. Wochen durchgeführt habe. Die erste Tat habe er im August, die vierte im Oktober und die fünfte im November 2000 begangen. Der Bruder T. sei in zwei Fällen aus dem Schlaf erwacht und habe den sexuellen Missbrauch beobachtet, wobei er in einem Fall vom Halbbruder habe beruhigt werden müssen. Das Amtsgericht S., Jugendschöffengericht, hat C. O. mit Urteil vom 18. September 2001 wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen und des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer einheitlichen Jugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. In den Entscheidungsgründen hat es in Auswertung mehrerer Zeugenaussagen und des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsergebnisses im Wesentlichen ausgeführt, der Angeklagte habe die Taten an nicht mehr genau feststellbaren Tagen im Zeitraum von August bis November 2000 begangen. Geschehen sei der sexuelle Missbrauch jeweils abends im Kinderzimmer des Geschädigten und dessen Bruder T. O. Der Bruder T. sei bei den Taten im Oktober und November 2000 jeweils aufgewacht und habe die sexuellen Handlungen an seinem Bruder beobachtet, was dem Angeklagten bewusst gewesen sei.

3

Des Weiteren hat der Beklagte medizinische Ermittlungen durchgeführt und den Entlassungsbericht des Krankenhauses S. E. und S. B., Klinik f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie H., vom 7. Januar 2003 über die stationäre Behandlung des Klägers vom 21. Oktober bis 5. Dezember 2002 beigezogen. Hiernach waren bei dem Kläger die Diagnosen einer posttraumatischen Belastungsstörung (F 43.1) und eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F 92.8) gestellt worden. Die stationäre Aufnahme sei wegen Störungen im Sozialverhalten und der Verdachtsdiagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung auf der Grundlage eines sexuellen Missbrauchs des Kindes durch einen wesentlich älteren Halbbruder erfolgt. Im Kindergarten seien plötzlich auftretende Erregungszustände aufgefallen, Launenhaftigkeit und sexualisiertes Verhalten. Es habe bereits Anzeigen der Eltern der anderen Kinder gegeben, so dass der Junge seit September von der Kindergartenbetreuung ausgeschlossen worden sei. Der Kläger sei gemeinsam mit seinem ein Jahr älteren Bruder S. zur stationären Behandlung erschienen. Beide Kinder seien von sexueller Gewalt betroffen. Nach den Angaben der Eltern sei der Kläger schon immer ein besonders lebhaftes Kind gewesen. Er habe starke Verlustängste, Angst vor Dunkelheit und vor dem Alleinsein. In letzter Zeit habe er häufig über Angstträume geklagt. Nach der Eigenanamnese der Mutter sei die Schwangerschaft durch deren nervliche Probleme belastet gewesen. Der Verlauf sei problematisch gewesen mit ausbleibenden Herztönen des Kindes und einem Sauerstoffmangelsyndrom. Die frühkindliche Entwicklung sei altersgerecht verlaufen. Der Kläger sei eher wenig krank gewesen, habe jedoch stets sehr stark auf Schmerzen reagiert und heftig geschrien. Motorisch sei er eher ungeschickt. Sexualisiertes Verhalten sei zuhause nicht, im Kindergarten jedoch in den letzten Wochen häufig aufgefallen. Zum psychologischen Befund gab das Krankenhaus an, der Kläger verfüge insgesamt über gut durchschnittliche kognitive Leistungsmöglichkeiten. Im Leistungsprofil seien jedoch große Unterschiede deutlich geworden. Beim Arbeitsverhalten habe sich eine äußerst geringe Durchhaltefähigkeit gezeigt, weil bereits nach wenigen Minuten das Konzentrationsvermögen nachgelassen habe. Seine Stärken lägen eher in den verbal-theoretischen Bereichen der Intelligenz. So sei er in der Lage, soziale Zusammenhänge sehr gut zu erfassen und über diese auch zu berichten. Trotz leichter Artikulationsprobleme verfüge er über einen guten Wortschatz und altersgerechtes Umweltwissen. Rückstände seien vor allem in den handlungsgebundenen praktischen Fähigkeiten deutlich geworden. Die optische Differenzierungsfähigkeit und das visuell-motorische Koordinationsvermögen seien beeinträchtigt. Auch beim Erledigen feinmotorischer Anforderungen arbeite der Kläger eher unbeholfen und ungeschickt. Aufgrund der großen Unterschiede im Leistungsprofil könne eine Beeinträchtigung auf der Grundlage einer minimalen zerebralen Dysfunktion vermutet werden. Im stationären Alltag habe sich eine Affektlabilität des Kindes gezeigt. Bei den Beschäftigungen in der Gruppe sei auch sein vermindertes Durchhaltevermögen aufgefallen. Ferner sei ein hohes Maß an Suche nach Kontakt und Nähe zu den Erwachsenen deutlich geworden. In der Spieltherapie sei es zu kurzzeitigen dissoziativen Zuständen gekommen, bei denen der Kläger starr aus dem Fenster geblickt und aus dem Spielzusammenhang heraus inhaltliche sinnentfremdete Bemerkungen gemacht habe, wie zum Beispiel "Der Affe hat sich dem Arsch verbrannt Er muss rote Bananen fressen Dann darf er wieder ins Bett". Nach diesen dissoziativen Zuständen habe der Kläger erregt gespielt und sich in Wiederholungen von Handlungen ergangen, um die Erinnerung zu vergessen. Beim Spielen sei er darauf bedacht gewesen, die angreifende Partei zu besiegen, deren Werkzeug zu zerstören und die Schuldigen ins Gefängnis zu sperren. Dann sei er stets beruhigt gewesen und habe das Spiel beendet.

4

Nach dem vom Beklagten ebenfalls beigezogenen Entlassungsbericht des Krankenhauses vom 6. Juni 2003 über die stationäre Behandlung des Klägers vom 26. März bis 31. Mai 2003 waren folgende Diagnosen gestellt worden: Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8), einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90), sekundäre Enuresis nocturna (nächtliches Einnässen, F98.0). Das Verhalten des Kindes habe sich nach dem ersten Behandlungsabschnitt deutlich stabilisiert. Die Schlafstörungen und die extreme Angst vor dem Verlassenwerden seien nicht mehr beobachtet worden. Nach wie vor bestehe jedoch eine Störung im Sozialverhalten im Sinne von heftigen affektiven Erregungszuständen und Geschwisterrivalität. In der Zusammenfassung des psychologischen Befundes hat das Krankenhaus angegeben, der Kläger weise insgesamt eine altersgerechte Entwicklung mit Schwächen im praktischen Bereich auf. Das verminderte Konzentrations- und Durchhaltevermögen sowie die fein motorischen Defizite sollten ambulant mittels Ergotherapie weiter gefördert werden. Auch scheine eine länger dauernde psychotherapeutische Begleitung des Kindes dringend indiziert.

5

Sodann zog der Beklagte das aussagepsychologische Gutachten des Dr. D. vom 9. August 2001 bei, das dieser im Auftrag der Staatsanwaltschaft H. zur Glaubwürdigkeit der Angaben des Klägers bei der polizeilichen Vernehmung erstattet hatte. Nach den Feststellungen des Dr. D. habe der Kläger eine für sein Alter durchschnittlich entwickelte kognitive Leistungsfähigkeit besessen. Es handele sich um ein sozial relativ kompetentes, situativ angepasstes und beziehungsfähiges Kind. Der Kläger wirke aktiv, Konflikte nicht vermeidend, etwas hyperaktiv und insgesamt emotional stabil. Merkmale einer psychischen Störung hätten nicht vorgelegen, so dass aufgrund der Untersuchung und unter Berücksichtigung der diagnostischen Leitlinien der WHO für den Zeitraum nach Beginn der mutmaßlichen Handlungen bis zur Begutachtung keine Symptome einer krankheitswertigen Störung zu diagnostizieren seien.

6

Schließlich holte der Beklagte vom Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W. ein nervenärztliches Gutachten vom 13. November 2003 ein. Dieser stellte die Diagnose von sehr leichtgradigen allgemeinen Verhaltensstörungen eines Vorschulkindes, die insgesamt keinen Krankheitswert erreichten. Sekundär bestehe eine bislang unbehandelte Enuresis nocturna. Er nehme zur Kenntnis, dass der Beklagte es für möglich halte, der Kläger könne Ansprüche als "Sekundäropfer" haben. Hinsichtlich der Kausalitätsbeurteilung sei nicht zu differenzieren, ob die einfachen Verhaltensauffälligkeiten konstitutionell bedingt sind, ob sie das Ergebnis eines anamnestisch emotionalen Mangelmilieus in der Familie seien oder ob es sich um die krankheitswertige psychische Folgeschädigung eines "Sekundäropfers" handele. Bei dem Kläger seien keinerlei Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung feststellbar. Die Geschwisterrivalität entspreche noch der Norm. Dies gelte auch für die sekundäre Enuresis nocturna, bei der die jeweils jüngeren Kinder unbewusst dokumentieren wollten, wie klein, schutz- und zuwendungsbedürftig sie eigentlich seien. Nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (AHP) seien die Voraussetzungen für die Gewährung eines MdE-Grades nach Nr. 26.3 "andere emotionale und psychosoziale Störungen (Verhaltensstörungen)" nicht erfüllt. Es sei aber nicht auszuschließen, dass sich, ähnlich wie beim Bruder, irgendwann in der Zukunft eine primäre Persönlichkeitsstörung entwickelt. Der prüfärztliche Dienst des Beklagten (MR D. H.) hat in Auswertung dieses Gutachtens festgestellt, dass eine posttraumatische Belastungsstörung zu verneinen sei. Diese können nur angenommen werden, wenn der Kläger Zeuge eines Ereignisses gewesen wäre, bei dem das eigene Leben oder das anderer Personen bedroht oder eine ernste Verletzung zur Folge gehabt hätte. Dies könne bei dem Tathergang nicht unterstellt werden. Insofern sei es eher unwahrscheinlich, dass die leichte Verhaltensstörungen und das nächtliche Einnässen Folge des Zuschauens bei einem sexuellen Missbrauch sei. Ein sog. Schockschaden liege nicht vor.

7

Mit Bescheid vom 5. Februar 2004 lehnte der Beklagte die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Zur Begründung gab er an, nach § 1 Abs. 1 OEG habe eine Person dann Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG, wenn sie infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffes eine gesundheitliche Schädigung erlitten habe. Unter bestimmten Voraussetzungen könne Beschädigtenversorgung auch für Dritte, die nicht selbst Opfer einer Gewalttat geworden sind, gewährt werden, wenn diese aufgrund einer stattgefundenen Gewalttat einen Schock erlitten haben, welcher nicht nur vorübergehende psychische Gesundheitsstörungen von Krankheitswert ausgelöst habe. Das schädigende Ereignis müsse geeignet sein, den Schock durch das eigene Erleben auszulösen. Im Ergebnis aller medizinischen Stellungnahmen habe nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden können, dass die bei dem Kläger heute noch bestehenden Verhaltensauffälligkeiten auf das angeschuldigte schädigende Ereignis zurückzuführen sind. Insbesondere habe nicht nachgewiesen werden können, ob durch das Beobachten der an seinem Bruder vorgenommenen rechtswidrigen Handlungen eine unmittelbare Schockwirkung eingesetzt und eine nicht nur vorübergehende psychische Störung von Krankheitswert ausgelöst hat.

8

Mit seinem dagegen durch seine Eltern am 29. Februar 2004 erhobenen Widerspruch machte der Kläger zunächst geltend, der Antrag auf Entschädigung sei bereits am 9. August 2002 gestellt, dann aber vom Amt zurückgesandt worden. In nochmaliger Auswertung der medizinischen Unterlagen kam der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten (Dr. W.) am 18. Mai 2004 zu dem Ergebnis, es liege bei dem Kläger keine psychische Störung, die auf einen Schockschaden folgen würde, vor. Selbst wenn eine dauerhafte psychische Beeinträchtigung bestehen würde, könne diese nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit auf einen Schockschaden zurückgeführt werden. Der Kläger habe als damals dreijähriges Kind den beobachteten sexuellen Missbrauch noch nicht einordnen können und habe diesen aus der Erinnerung heraus auch nicht als gewalttätig oder "böse" geschildert. Ein solches Erlebnis könne zwar negative Einflüsse auf die seelische Entwicklung nehmen, ein Schockschaden sei daraus im vorliegenden Fall jedoch nicht abzuleiten. Entsprechende Gesundheitsstörungen lägen bei dem Kläger auch tatsächlich nicht vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 2004 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.

9

Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 6. August 2004 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Halle erhoben. Er hat auf einen stationären Aufenthalt im Krankenhaus S. E. und S. B. in H. vom 11. Oktober 2004 bis 9. März 2005 hingewiesen und vortragen lassen, dass es sich bei den in der Epikrise des Krankenhauses vom 6. April 2005 genannten Diagnosen um die Folgen der durch die Beobachtung des sexuellen Missbrauchs des Bruders eingetretenen psychischen Belastungsstörung handele. In Stresssituationen nässe er nachts ein und schlafe unruhig. Vor kurzem habe er in Tränen aufgelöst erstmals davon gesprochen, dass alles seine Schuld sei, weil er seinem Bruder nicht habe helfen können, weil er selber noch so klein gewesen sei. Dabei habe er aus seiner Sicht die Vorkommnisse erzählt, die sich damals mit seinem Stiefbruder abgespielt haben. Gegen den Kläger habe sich zwar kein tätlicher Angriff gerichtet, er sei jedoch als Sekundäropfer im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in den Schutzbereich des § 1 OEG einbezogen. Denn es liege sowohl die von BSG geforderte persönliche Nähe zum Opfer als auch die zeitliche und örtliche Nähe zur Schädigungshandlung vor. Gesundheitsschädigung im Sinne des OEG könne auch eine psychische Schädigung sein, wozu auch psychische Traumen gezählt werden müssten. Entscheidend sei, dass das Beobachten der Tat eine seelische Reaktion des Sekundäropfers von einigem Gewicht bewirke (BSG, Urteil vom 12.6.2003, B 9 VG 1/02 R). In dem von den Prozessbevollmächtigten des Klägers vorgelegten Befundbericht des Krankenhauses vom 6. April 2005 sind Diagnosen nach dem sog. multiaxialen Klassifikationsschema genannt, darunter u. a. eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8), posttraumatische Belastungsstörung (F43.1), vorübergehende Tic-Störung (F95.0), sekundäre Enuresis nocturna (F 98.0), einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0). Zur Vorgeschichte wird in dem Bericht angegeben, der Kläger sei durch einen schweren sexuellen Missbrauch und den seines Bruders vorbelastet, daneben bestehe ein Alkoholismus der Kindesmutter, die seit zwei Jahren trocken sei und eine sozial instabile Familiensituation mit knappen finanziellen Verhältnissen. Der Kläger sei aus vorangegangenen stationären Behandlungen bekannt, die zu einer Stabilisierung geführt hätten. Im Zuge der bevorstehenden Einschulung und dann auch während des ersten Halbjahres der ersten Klasse sei es zu einer erneuten Verschlechterung vor allem der Tic-Symptome gekommen. Bei der Behandlung habe die Komplexität der Störungen des Kindes eine besondere Schwierigkeit dargestellt. Neben dem Verdacht auf das Vorliegen einer minimalen zerebralen Dysfunktion mit Konzentrationsschwächen, Teilleistungsstörungen im motorischen Bereich und starker Impulsivität seien die Belastungsfaktoren der frühen Kindheit nach wie vor zu erkennen. Der unbedingte Drang, die Kontrolle über andere Menschen zu behalten, die große Ängstlichkeit des Klägers vor neuen Situationen und die mangelnde Empathie gegenüber anderen Menschen seien als Folgen der posttraumatischen Belastung nach wie vor problematisch. Lediglich das beklagte sexualisierte Verhalten habe während der fünfmonatigen Behandlungszeit nicht beobachtet werden können.

10

Der Beklagte ist der Klage mit dem Hinweis entgegengetreten, in der Epikrise des Krankenhauses S. E. und S. B. in H. vom 6. April 2005 sei die unzutreffende Angabe enthalten, der Kläger selbst sei durch seinen Halbbruder sexuell missbraucht worden. Stattdessen sei weiter davon auszugehen, dass er durch das Beobachten des Missbrauchs keinen Schockschaden bzw. keine psychische Gesundheitsstörung erlitten habe. Dem Bericht vom 6. April 2005 sei auch deutlich zu entnehmen, dass beim Kläger ein komplexes Beschwerdebild vorliege. Trotz der fehlerhaften Annahme eines sexuellen Missbrauchs werde in dem Bericht diesem fälschlicherweise angenommenen Geschehen nicht die Bedeutung einer wesentlichen Bedingung für die bestehenden Verhaltensstörungen zugesprochen, so dass nach der entschädigungsrechtlichen Ursachentheorie ein Versorgungsanspruch nicht zu begründen sei. Die Verhaltensauffälligkeiten des Klägers könnten auf mehrere Ursachen zurückzuführen sein, wozu auch der Alkoholmissbrauch der Mutter gerechnet werden müsse. Es sei zwar nicht geklärt, ob dieser bereits vor der Geburt des Klägers vorgelegen habe, in jedem Falle aber seien dadurch seelische Belastungen in der frühen Kindheit anzunehmen. Des Weiteren wiesen das Sauerstoffmangelsyndrom nach der Geburt und der kurze Herzstillstand zusätzlich auf fortbestehende organische Schäden hin, die auch mit einigen der im sonderpädagogischen Gutachten vom 21. bis 25. Februar 2005 beschriebenen Funktionseinschränkungen vereinbar seien. Für einige Verhaltensauffälligkeiten würden in dem Bericht ungünstige Entwicklungsfaktoren wie längerfristige Trennung von den Eltern, häufiger Einrichtungswechsel sowie pausenlose unverschuldete Maßregelungen verantwortlich gemacht. Die Beobachtung des sexuellen Missbrauchs des Bruders dagegen werde nicht erwähnt, obwohl auch diese Tatsache selbstverständlich bekannt gewesen sei. Sollte angesichts dessen eine Kausalitätsbeurteilung überhaupt möglich sein, würde den vorbestehenden Schäden und den vielfältigen schädigungsunabhängigen ungünstigen Entwicklungsbedingungen die weit überwiegende Bedeutung zukommen. Die vom Rechtsanwalt des Klägers beschriebenen Schuldgefühle seien nicht nachvollziehbar. Der Kläger sei zum Tatzeitpunkt erst drei Jahre alt gewesen und aus seinen Schilderungen gehe an keiner Stelle hervor, dass er seinen Bruder habe beschützen wollen.

11

Mit Schreiben vom 18. Juli 2005 hat der Kläger ein sonderpädagogisches Gutachten des Landesbildungszentrums für Körperbehinderte H. vom 16. März 2005 über Feststellungen im Zeitraum vom 21. bis 25. Februar 2005 vorgelegt. Darin wird u.a. ausgeführt, dass der Kläger in unbelasteten Situationen ein lebhaftes und aufgeschlossenes Kind sei. Er gehe auf andere zu und nehme Kontaktangebote unter Wahrung von Distanzen an. Er sei erkundungs- und teilweise beschäftigungsfreudig, zeige sich kooperativ und hilfsbereit. In Anforderungssituationen blockiere er schnell, aber meist nur kurzzeitig. Er habe für sein junges Alter zu viele negative Erfahrungen und Erlebnisse gesammelt einschließlich häufiger Einrichtungswechsel, längerfristiger Trennung von der Familie, pausenloser Maßregelungen für Dinge, die er nicht verschuldet habe usw. Dies sei kombiniert mit einer Reihe von konstitutionellen Defiziten wie Reizselektionsschwäche, zu schlaffem Muskeltonus, mangelnder Kenntnisse und Fertigkeiten im tiefensensiblen Bereich. So erlebe man den Jungen in permanenter motorischer Unruhe, lärmend störend, auf ständiger Suche nach verbaler Rückkopplung und schließlich den Unterricht verweigernd.

12

Mit Beweisanordnung vom 3. Februar 2006 hat das SG den Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Med. B. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt, das der Sachverständige schließlich am 13. Dezember 2008 erstattet und auf der Grundlage von Untersuchungen des Klägers am 1. September 2006 und 26. Oktober 2006 festgestellt hat, beim Kläger seien im Sommer 2002 erstmals Symptome aufgetreten, die sich einer posttraumatischen Belastungsstörung zuordnen ließen. Die Mehrzahl dieser bei einem ersten stationären Krankenhausaufenthalt beobachteten Symptome ließen sich allerdings einer Aufmerksamkeits-Defizit-und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zuordnen, die im Rahmen der zweiten Klinikbehandlung auch als Diagnose benannt worden sei. Symptome, die auf das Fortbestehen einer posttraumatischen Belastungsstörung sicher hinweisen, seien bei der zweiten Klinikbehandlung nicht mehr genannt worden. Der psychische Zustand des Klägers habe sich stabilisiert, die Verhaltensauffälligkeiten und –störungen insgesamt abgenommen. Im Rahmen der dritten stationären Behandlung in demselben Krankenhaus von Oktober 2004 bis März 2005, zu der massive sexuelle Verhaltensauffälligkeiten im Vorfeld und weitere Verhaltensstörungen des Klägers geführt hätten, seien Symptome einer ADHS und damit assoziierte Störungen in den Vordergrund getreten und eine Störung in Form von multiplen Tics (unwillkürliche Bewegungen und Geräusche) hinzugekommen. Jedoch seien Symptome, die sicher auf eine posttraumatische Belastungsstörung hinweisen, nicht geschildert worden. Bei seiner Untersuchung des Klägers und der Befragung der Eltern hätten sich keine sicheren Zeichen auf Gesundheitsstörungen als Folge des Missbrauchs eruieren lassen. Hingegen sei die Symptomatik der Aufmerksamkeits- und der Tic-Störung deutlich in Erscheinung getreten. Hinweise auf eine posttraumatische Belastungsstörung hätten sich nur in der Vorgeschichte gefunden. Das Vorhandensein der ADHS lasse sich für einen länger vor den Missbrauchshandlungen zurückliegenden Zeitpunkt sichern und sei nicht als Folgestörung anzusehen. Da posttraumatische Belastungsstörung und ADHS eine Reihe gemeinsamer Symptome hätten, die beim Kläger in starker Ausprägung bestünden, da zudem permanent weitere ADHS-Symptome vorhanden seien, sei eine differenzierte Zuordnung der Symptomatik zu einer der Störungen nicht möglich. Damit lasse sich das eventuelle Fortbestehen einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht sichern. Sichere Hinweise auf die Manifestation einer posttraumatischen Belastungsstörung als Folge des erlebten sexuellen Missbrauchs ließen sich nur für die Zeit von Sommer 2002 bis zu den beiden ersten stationären Behandlungen in der Klinik in H. eruieren. Für diese Zeit sei die Ausprägung einer stärkeren psychischen Störung mit wesentlichen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit beim Kläger sicher anzunehmen, was einem GdB-Grad von 30 bis 40 entspreche. Für die Zeit danach bestünden zwar weitere Störungen mit Behinderungen, für die sich aber eine sichere Zuordnung als Missbrauchsfolge nicht treffen lasse.

13

Schließlich hat das SG mit weiterer Beweisanordnung vom 30. Juli 2009 ein Gutachten von Prof. Dr. F. vom 4. Juni 2010 eingeholt, der zu den Fragen, welche konkreten Schädigungen beim Kläger infolge des im Jahr 2000 visuell wahrgenommen sexuellen Missbrauchs an dem Bruder bzw. in der Folgezeit bis heute aufgetreten seien, welche MdE die sonach festzustellende Schädigung bedinge und welche Gesamt-MdE insgesamt festzustellen sei, Stellung genommen hat. Der Sachverständige hat sein Gutachten auf der Grundlage der kinderpsychiatrischen Untersuchung des Klägers vom 22. März 2010 während eines ambulanten Termins in M. im Beisein der Eltern erstellt und ausgeführt, es sei nach den Vorfällen mit dem sexuellen Missbrauch und dem Umzug der Familie in ein neues Wohnumfeld im neuen Kindergarten zu Vorkommnissen mit sexualisiertem Verhalten gegenüber Mädchen gekommen. Im Sommer 2002 seien erstmals Tics in Form von Augenzwinkern und Kopfzucken bis hin zu starken Kopfschlagen aufgetreten. Mit Hilfe der Einnahme von Medikamenten hätten sich die Tics deutlich gebessert. In der Grundschule sei er im Hort auffällig gewesen, wobei es auch hier sexualisierte Vorfälle mit Jungen gegeben habe. In psychopathologischer Hinsicht sei keine Hypermotorik erkennbar, keine Hinweise auf manifeste Angststörungen, Zwangsstörungen, Essstörungen, somatoforme oder andere Störungen. In der Untersuchungssituation seien motorische Tics mit Zwinkern und Kopfbewegungen in moderater Form aufgefallen. Weiter hat der Sachverständige angegeben, in Kenntnis der Aktenlage, der diversen Vorbegutachtungen sowie der Exploration zur jüngsten Vergangenheit auf eine Reexploration der Tatzusammenhänge und der sich anschließenden Folgen in direkter Ansprache verzichtet zu haben.

14

In seiner zusammenfassenden Beurteilung hat der Sachverständige ausgeführt, für den Kläger sei belegt, dass er im Rahmen des sexuellen Missbrauchs an seinem Bruder S. zweimal diesem Geschehen beigewohnt habe. Dies habe in Folge, ebenso wie bei seinem Bruder, zu einem zunächst zweimaligen Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in H. in den Jahren 2002 und 2003 sowie in derselben Klinik von Oktober 2004 bis 2005 geführt. Als Hauptdiagnosen seien von Seiten der Klinik "posttraumatische Belastungsstörungen" sowie eine "kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen" gestellt worden. Zusätzlich bestehe bis heute eine sich zu verschiedenen Zeitpunkten verschlechternde multiple Tic-Störung sowie eine zeitweise noch auftretende Enurasis nocturna. Etwa ein halbes Jahr vor dem letzten Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in H. hätten sich im schulischen Rahmen sowie auch sonst schwer steuerbare verbale und täglich aggressive sowie sexualisierte Verhaltensweisen gezeigt. Zusätzlich hätte sich die Tic-Störung verstärkt und in multiplen Tics mit Lautäußerungen (Tourette-Syndrom) geäußert. In vormaligen Behandlungen im Jahre 2003 seien massive Ängste des Klägers und starke affektive Schwankungen ebenfalls ein Aufnahmegrund gewesen. Das ausgesprochen komplexe Störungsbild bei dem Kläger, das auch mit Anteilen einer minimalen zerebralen Dysfunktion beschrieben werde, müsse als in Anteilen deutlich mit dem sexuellen Missbrauch des Bruders in Zusammenhang stehend interpretiert werden (affektive Schwankungen, Ängstlichkeit, aggressives Ausagieren etc. sowie auch als vorbestehend MCD [minimaler cerebraler Dysfunktion], Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, nächtliches Einnässen) bzw. sich eigenständig entwickelnd (Tourette-Syndrom). In den vorliegenden Zeugnissen zeige sich seit Schulbeginn bis heute die Schwierigkeit der Integration des Klägers in den Klassenzusammenhang und die verschiedenen Auffälligkeiten aus dem Spektrum der ADHS, der Tic-Störung, aber auch der affektiven emotionalen Regulation. Insgesamt sei aus den verfügbaren Quellen von deutlichen Fortschritten die Rede, dies entspreche der vom Sachverständigen durchgeführten kinderpsychiatrischen Exploration vom 22. März 2010. Bei laufender Medikation fänden sich situativ wenig bis mittelstark ausgeprägte, vor allen Dingen motorische Tics. Insgesamt zeigten sich zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren relevanten psychopathologischen Auffälligkeiten.

15

In Zusammenfassung und Beantwortung der Beweisfragen hat der Sachverständige ausgeführt, bei dem komplexen Störungsbild des Klägers über Jahre mit deutlicher Besserung in letzter Zeit könne von Anteilen einer posttraumatischen Belastungsstörung und Anteilen von mitgebrachten Störungen ausgegangen werden. Kausal ließen sich die verschiedenen Anteile nicht mit hinreichender Sicherheit differenzieren und trennen. Vor allem die geschwisterliche Nähe zum Bruder sowie auch die gemeinsamen Begutachtungen und Krankenhausaufenthalte legten für den emotionalen Bereich eine starke Verkoppelung mit dem Thema "sexueller Missbrauch" nahe, zumindest sekundär. Ob und inwieweit im Rahmen einer Schockeinwirkung das Zuschauen beim sexuellen Missbrauch des Bruders sich auswirke, könne nicht abschließend geklärt werden. Die gesamte Symptomatik des Jungen mit ausagierend aggressiven, emotional fluktuierenden Verhaltensweisen spreche aber für eine deutliche Belastung aus diesem Bereich. Die geschilderten Auffälligkeiten könnten nicht im Rahmen einer ADHS-Störung allein ihre Begründung finden. Das Tourette-Syndrom sei als unabhängige Krankheitsidentität zu werten. Es könne von einer Verhaltensproblematik mit affektiven Regulationsstörungen ausgegangen werden, für die eine MdE um 30 vom 100 gerechtfertigt sei. Auch beim Kläger sei eine Auseinandersetzung im therapeutischen Prozess mit dem Geschehenen bisher nicht erfolgt, sondern durch die anderen Lebenssituationsprobleme überlagert worden. Als Gesamt-MdE sei ebenfalls ein Wert von 30 vom 100 für die Zeit von Herbst 2000 bis heute zu veranschlagen. Die symptomatische Besserung bei dem Kläger entspreche der des Bruders S. und deute keineswegs auf ein verarbeitetes Geschehen hin. Abschließend werde man die Auswirkung der Missbrauchserlebnisse erst zum Ende der Pubertät hin beurteilen können.

16

Der Beklagte ist den Feststellungen des Prof. Dr. F. in seiner Stellungnahme vom 27. Juli 2010 entgegengetreten und hat u. a. vorgetragen, ein Versorgungsanspruch scheitere bereits daran, dass über einen Zeitraum von zwei Jahren nach dem schädigenden Ereignis im Sommer/Herbst 2000 keine psychischen Auffälligkeiten bestanden hätten, die nach Art und Ausmaß einen Rückschluss auf eine traumatische Schädigung im Zusammenhang mit dem Beobachten des sexuellen Missbrauchs erlaubten. Als Beleg dafür sei zunächst auf das forensisch-psychologische Gutachten des Dr. D. vom 9. August 2001 zu verweisen, der unbestritten festgestellt habe, dass zum Zeitpunkt der Begutachtung am 6. August 2001 bei dem Kläger keine psychische Störung von Krankheitswert vorgelegen habe. Soweit der gerichtliche Sachverständige davon abweichend nunmehr unter Rückgriff auf die Behandlungsunterlagen der Kinder- und Jugendpsychiatrie H. von 2002 und 2003 zu dem Ergebnis komme, dass zumindest Anteile des zu dieser Zeit beim Kläger vorliegenden komplexen Störungsbildes mit dem Beobachten des sexuellen Missbrauchs seines Bruders im Zusammenhang stünden, sei ihm nicht zu folgen. Die stationäre Erstaufnahme sei im Oktober 2002 wegen Störungen des Sozialverhaltens und der Verdachtsdiagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erfolgt. Diese Verdachtsdiagnose, die offenbar in der Annahme gestellt worden sei, dass auch der Kläger selbst sexuell missbraucht worden ist, finde im Behandlungsbericht vom 7. Januar 2003 keine Bestätigung. In diesem Bericht sei weder über während des Aufenthaltes aufgetretene krankheitswertige Angstzustände oder Angstträume noch über sexualisierte Verhaltensauffälligkeiten berichtet worden. Im Vordergrund hätten vielmehr psychische Auffälligkeiten wie starke Konzentrationsschwierigkeiten, sehr geringe Durchhaltefähigkeit gestanden, die einer ADHS zugeordnet worden seien, bei Verdacht auf eine bestehende minimale zerebrale Dysfunktion. Auch wenn in der herrschenden medizinischen Lehre die Möglichkeit einer Latenzzeit von wenigen Wochen bis zu Monaten zwischen dem Trauma und dem Ausbruch der psychischen Erkrankung beschrieben werde, habe ein Versorgungsanspruch zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht vorgelegen, weil während der bis Dezember 2002 andauernden Erstbehandlung keine psychische Erkrankung bestanden habe, die im Ursachenzusammenhang mit dem schädigenden Ereignis von Sommer/Herbst 2000 steht. Dies gelte auch für die Zeit nach der Antragstellung. Bei der zweiten stationären Behandlung vom 26. März bis 31. Mai 2003 seien gleichfalls keine traumatypischen psychischen Auffälligkeiten beobachtet bzw. diagnostiziert worden. Auch Dr. W. habe anlässlich der Begutachtung im November 2003 derartige Auffälligkeiten nicht festgestellt. Gleiches gelte für Dipl.-Med. B. bei seiner Begutachtung im September/Oktober 2006. Auch im Entlassungsbericht der Kinder- und Jugendpsychiatrie H. vom 6. April 2005 seien keine traumatypischen Auffälligkeiten berichtet worden. Insbesondere sei während der dortigen fünfmonatigen Behandlung im Zeitraum vom 11. Oktober 2004 bis 9. März 2005 kein sexualisiertes Verhalten beobachtet worden. Sofern ein solches Verhalten im Vorfeld der stationären Aufnahme im Schulhort beobachtet worden sei, könne dies zu dieser Zeit nicht mehr im Sinne der bestärkenden Kausalität dem vier Jahre zurückliegenden schädigenden Ereignis zugerechnet werden. Eine solche Einschätzung widerspräche der herrschenden medizinischen Lehrmeinung, wonach lediglich eine Latenzzeit von wenigen Wochen bis zu Monaten zwischen dem Trauma und dem Ausbruch der psychischen Erkrankung beschrieben werde. In der Gesamtschau der vorliegenden Befunde unter Einschluss des Begutachtungsergebnisses von Prof. Dr. F., der auch aktuell bestätigt habe, dass keine relevanten psychopathologischen Auffälligkeiten vorliegen, könne ein Versorgungsanspruch auf der Grundlage der für Sekundäropfer geltenden Kriterien nicht festgestellt werden. Soweit Prof. F. dennoch die Empfehlung ausgesprochen habe, dem Kläger Versorgungsleistungen nach einem GdS von 30 vom 100 zu gewähren, widerspreche dies seiner Befunderhebung, wonach keine relevanten psychopathologischen Auffälligkeiten beim Kläger vorliegen.

17

In der mündlichen Verhandlung vom 4. Februar 2011 hat der Kläger u. a. die Zahlung einer Beschädigtenversorgung nach einem Grad der Schädigungsfolgen in Höhe von mindestens 50 vom 100 ab 1. Dezember 2002 beantragt. Mit Urteil vom 4. Februar 2011 hat das SG die Klage abgewiesen und in den Entscheidungsgründen im Wesentlichen ausgeführt, nach der Rechtsprechung sei anerkannt, dass einem Dritten (Sekundäropfer), der Zeuge einer Gewalttat geworden ist und dadurch einen sog. Schockschaden erlitten habe, Versorgung nach dem OEG zustehen könne. Im Falle von psychischen Gesundheitsstörungen komme es bei der Kausalitätsprüfung darauf an, ob das Erleben der Gewalttat als Sekundäropfer in erhöhtem Maße geeignet sei, die vorhandene psychische Erkrankung hervorzurufen. Dies sei dann der Fall, wenn die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der schädigenden Handlung und den danach aufgetretenen Gesundheitsschäden nicht auch auf andere, nachweislich ebenfalls vorliegende und vom Sekundäropfer erlebte Ereignisse in seinem Umfeld ursächlich sein könnten. Nach Auswertung der medizinischen Unterlagen unter Berücksichtigung der von Prof. Dr. F. getroffenen Feststellungen sei davon auszugehen, dass die psychischen Störungen des Klägers in einem Tourette-Syndrom (Tic-Syndrom), einer ADHS und einer posttraumatischen Belastungsstörung bestünden. Das Tourette-Syndrom beruhe auf körperimmanenten Vorgängen und sei nicht durch das Beobachten der Gewalteinwirkung hervorgerufen worden. Diese Erkrankung sei damit nicht als schädigungsbedingt anzusehen. Aber auch das ADHS und die posttraumatische Belastungsstörung seien nicht als Folge des vom Kläger beobachteten sexuellen Missbrauchs seines Bruders zu werten. Denn Prof. F. habe bei seiner Feststellungen hervorgehoben, es könne neben Anteilen einer posttraumatischen Belastungsstörung und Anteilen von mitgebrachten Störungen eine Trennung oder Differenzierung nicht mit hinreichender Sicherheit getroffen werden. Genau darauf komme es im vorliegenden Fall aber an, da weitere Umstände und Ereignisse sowohl vor als auch nach dem sexuellen Missbrauch des Bruders vorgelegen hätten, die ebenfalls geeignet seien, eine posttraumatische Belastungsstörung zu begründen. So werde in den medizinischen Berichten bis zum fachpsychiatrischen Gutachten von Dr. W. vom 13. November 2003 keine psychische Beeinträchtigung des Klägers konkret dargestellt. Allerdings würden in diesem Gutachten und ärztlichen Befunden Ausführungen zum familiären Umfeld des Klägers vorgenommen, die zumindest das Entstehen einer posttraumatischen Belastungsstörung begründen könnten. Hierzu zähle die damalige Alkoholerkrankung der Mutter mit einer zwölf Wochen dauernden stationären Behandlung in einer Klinik in E. während des ersten Halbjahres 2003. Es sei nicht auszuschließen, dass dieser Alkoholmissbrauch der Mutter zu frühen, von dem Missbrauchsereignis losgelösten seelischen Belastungen beim Kläger geführt habe. Auch durch das Sauerstoffmangelsyndrom und den kurzzeitigen Herzstillstand nach der Geburt könne die Gesundheitssituation des Klägers negativ beeinflusst worden sein. Darüber hinaus seien auch die längeren Trennungen von den Eltern geeignet, posttraumatische Belastungsstörungen bei einem Kind zu manifestieren. Für die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Beobachten des sexuellen Missbrauchs und den psychischen Störungen reiche es nicht aus, wenn der Sachverständige Prof. Dr. F. meine, die beim Kläger vorliegende Symptomatik in Form von aggressivem, emotional fluktuierendem Verhalten sei als deutliche Folge der Beobachtung des sexuellen Missbrauchs zu werten, wenn er andererseits aber nur von einer "sekundären Verkoppelung" ausgehe. Da ein kausaler Zusammenhang nicht nachzuweisen sei, könne der Kläger nicht als Sekundäropfer im Sinne des OEG anerkannt werden.

18

Das ihm am 9. März 2011 zugestellte Urteil greift der Kläger mit seiner am Montag, den 11. April 2011 eingelegten Berufung an. Er ist unter Hinweis auf das Ergebnis der ergänzenden Befragung des Prof. Dr. F. weiterhin vom Erfolg seiner Klage überzeugt und macht geltend, es müssten etwaige noch verbliebene Zweifel am ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Beobachten des sexuellen Missbrauchs und seinen psychischen Störungen durch Befragung seiner Person ausgeräumt werden.

19

Der Kläger beantragt,

20

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 4. Februar 2011 abzuändern, den Bescheid des Beklagten vom 5. Februar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 2004 weiter abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen der Schädigungsfolgen einer posttraumatischen Belastungsstörung einhergehend mit affektiv aggressiven Verhaltensauffälligkeiten ab 1. Dezember 2002 eine Beschädigtenversorgung nach einem Grad der Schädigungsfolgen in Höhe von mindestens 30 vom 100 zu zahlen,

21

ferner:

22

zum Beweis für die Tatsache, dass das Beobachten der Gewalt des sexuellen Missbrauchs des Bruders wesentlich kausal für eine posttraumatische Belastungsstörung mit affektiv aggressiven Verhaltensweisen des Klägers war, wird die Ergänzung des Gutachtens von Prof. Dr. F. durch persönliche Exploration des Klägers beantragt.

23

Der Beklagte beantragt,

24

die Berufung zurückzuweisen.

25

Er hält seine Bescheide und das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

26

Das Gericht hat den Sachverständigen am 9. Mai 2012 um ergänzende gutachterliche Stellungnahme unter Berücksichtigung der kritischen Würdigung des Gutachtens vom 3. Mai 2010 durch den Beklagten gebeten, wobei es auch um die vom Beklagten getroffene Feststellung gehen solle, es hätten über einen Zeitraum von zwei Jahren nach dem schädigenden Ereignis beim Kläger keine psychischen Auffälligkeiten bestanden, die nach Art und Ausmaß einen Rückschluss auf eine traumatische Schädigung im Zusammenhang mit dem Beobachten des sexuellen Missbrauchs erlauben. In seiner Stellungnahme vom 8. Juli 2013 hat Prof. Dr. F. ausgeführt, die Verlaufs- und Symptombeschreibungen des Klägers während der stationären Aufenthalte hätten ein massiv ausgeprägtes Mischbild mit aggressiv-ängstlich durchbrüchigen Verhaltensweisen neben der geschilderten Aufmerksamkeits- bzw. Tic-Störung gezeigt. Tic-Störung und ADHS ließen sich noch im Rahmen eigenständiger Krankheitsidentitäten beschreiben, die geschilderte affektive instabile Sozialverhaltensproblematik könne aber nicht hinreichend plausibel einem anderen Kausalgeschehen zugewiesen werden als den Zusammenhängen im Rahmen des sexuellen Missbrauchs des Bruders und den sich daraus ableitenden Entwicklungsfolgen. Insbesondere im letzten Arztbrief aus dem Krankenhaus S. E. und S. B. vom 6. April 2005 sei noch einmal auf die posttraumatische Konstellation und die starken Belastungsfaktoren der frühen Kindheit hingewiesen worden. Auch in den beschriebenen spieltherapeutischen Sequenzen hätten sich die aggressiven Themen mit dem Besiegt-werden-müssen des bösen Gegners und ähnlichem gezeigt. Die enge Bezogenheit der Kinder aufeinander mit dem gegenseitigen Beschützen sei ausführlich dargestellt worden. Bei der Gegenüberstellung der Einschätzungen aus den kinderpsychiatrischen mehrmonatigen Aufenthalten mit der Bewertung aus dem forensisch psychologischen Gutachten des Dr. D. sowie den Bewertungen von Dr. W. und Dipl-Med. B. falle auf, dass die Befunderhebung einerseits unterschiedlichen Zwecken gedient und andererseits auf der Basis von kürzeren Untersuchungsbedingungen erfolgt sei. Die Glaubhaftigkeit des Erlebnismaterials bei dem Kläger kontrastiere auffällig mit der festgestellten psychopathologischen Unauffälligkeit. Die Möglichkeit normopathischer Anpassungsprozesse im Sinne einer fast parentifizierenden Verantwortungsübernahme für den anderen (in diesem Falle den Bruder) in bestimmten Entwicklungsaltern werde in diesem Zusammenhang von den Sachverständigen nicht diskutiert. Zu schließen sei also die zeitliche Lücke der vermeintlichen Unauffälligkeit hin zu den danach als gravierend beschriebenen Störungen. In der Summe blieben als schwerste kinderpsychiatrische Befunde die schweren affektiven aggressiven Auffälligkeiten verbunden mit massiv regredierenden Verhaltensweisen über einen längeren Zeitraum, die nicht durch ADHS, Tourette-Störung oder andere bekannte Umstände erklärt werden könnten. Dies alles stützte die These einer anderen Genese und damit auch inhaltlich die einer erheblichen posttraumatischen Belastung. Zu klären bleibe die Frage, wie mit der doch einigermaßen langen Latenzphase zwischen Schädigungsereignis und Auftreten von psychischen Folgen umzugehen ist. Hierzu sei anzumerken, dass es keine systematische Literatur über solche Phänomene bei Kleinkindern gebe. Latenzzeiten von wenigen Wochen bis Monaten könnten für das Jugend- und Erwachsenenalter als gesichert gelten, ob sie jedoch Anwendung auf das Kleinkindalter finden dürfen, scheine mehr als fraglich und sei nicht geklärt. Auf Kleinkinder wirkten Vorfälle wie die im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch des Bruders berichteten Beobachtungen wie das Zerbrechen einer bis dahin als sicher geglaubten und erlebten Welt, ohne dass die Bedrohung, ihr Ausmaß und ihre Auswirkungen eingeschätzt, reflektiert und damit eingeordnet werden könnten. Das Kind sei also hilflos diesen Ereignissen und seinen diesbezüglichen Erlebnissen ausgesetzt und könne sie nicht weiter zuordnen, außer dass sie einen klar bedrohlichen Charakter haben. Diese Erlebnisse stünden affektiv in gravierender Weise quer zum bisher Erlebten. Es sei daher klinisch mehr als plausibel anzunehmen, dass die gemeinsame Lebensgeschichte mit dem Bruder – auch und insbesondere zur affektiven Verarbeitung des sexuellen Missbrauchs – immer wieder und reaktualisierend auf den Kläger eingewirkt hat, so dass schlussendlich im Jahre 2005 die Klinik in H. festgestellt habe, dass der unbedingte Drang des Klägers, die Kontrolle über andere Menschen zu behalten, seine große Ängstlichkeit vor neuen Situationen und die mangelnde Empathie gegenüber anderen Menschen als Folge der posttraumatischen Belastung nach wie vor problematisch seien. Abschließend sei daher vorzuschlagen, den Sachverhalt so zu werten, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die psychischen Auffälligkeiten des Klägers Folge der Schädigungen sind, der Kläger also als Sekundäropfer anzusehen ist. Eine wahrscheinliche, geschweige denn gesicherte alternative Kausalität finde sich nicht.

27

Der Beklagte hat mit Schreiben vom 20. August 2013 die Stellungnahme seines prüfärztlichen Dienstes vom 16. August 2013 (Dr. S.) zu den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen vorgelegt. Darin wird festgehalten, es sei diesem weiterhin nicht gelungen, einen Gesundheitsschaden nachvollziehbar in die erforderliche kausale Wahrscheinlichkeitsbeziehung zu einem Schockerlebnis einzubringen. Es genüge nicht, eine Wahrscheinlichkeit zu unterstellen oder zu behaupten, allein weil neben dem Schockerlebnis vermeintlich keine andere alternative Kausalität zu finden sei. Der Sachverständige habe es weiterhin versäumt, sich mit der Eignung des Schädigungstatbestandes hinsichtlich Schwere und Dauer der Einwirkung zu befassen. Prof. Dr. F. habe nicht geklärt, ob sich das Beobachten des sexuellen Missbrauchs beim Bruder auf den Kläger nachhaltig ausgewirkt hat. Des Weiteren sei er wiederum nicht in der Lage, einen nach dem Erlebnis eingetretenen primären Gesundheitsschaden vorzuweisen. Hierbei habe er auf andere Fachgutachten zurückgegriffen und wiederholt, dass noch Jahre nach dem Erlebnis keine traumatypischen psychischen Auffälligkeiten diagnostiziert worden seien. An dieser Stelle mangele es an Fakten, die für eine nach dem sozialen Entschädigungsrecht nachvollziehbare Wahrscheinlichkeitsbeurteilung grundlegend einzubeziehen seien, um dieselbe anhand einer überzeugenden Kausalkette unter Aufzeigen von Bindegliedern wie u. a. Brückensymptomen herleiten zu können. Als Verstoß gegen die versorgungsmedizinischen Grundsätze sei es zu werten, dass der Sachverständige schädigungsfremde Einwirkungen von erheblichem Einfluss auf die kindliche emotionale Entwicklung völlig außer Acht gelassen habe. Es handele sich hier um starke seelische Belastungsfaktoren, denen der Kläger in einer häuslichen Umgebung mit einer instabilen familiären Situation ausgesetzt gewesen sei. Die genannten Umstände außerhalb des nach dem OEG zuerkannten Schädigungstatbestandes hätten auf den Kläger schwerwiegend und langfristig eingewirkt, so dass ihnen im Verhältnis zum OEG-Schädigungstatbestand die wesentliche Ursachenbedeutung zukommen müsse. Diese Wertung sei im Urteil des SG näher beleuchtet und entsprechend dargelegt worden. Demgegenüber habe die mit der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen nachgereichte Auseinandersetzung mit der Materie keine neuen überzeugenden Gesichtspunkte erbracht. Dies gelte auch für die von ihm hervorgehobene besondere Bindung des Klägers zu seinem Bruder, denn auch hier seien die bekannten schädigungsfremden Einflüsse außer Acht gelassen worden. Wenn Kinder in einem Milieu familiär zerrütteter Verhältnisse mit dem Gefühl, einer fehlenden Geborgenheit hilflos ausgesetzt zu sein aufwachsen müssten, stelle eine enge Bezogenheit mit dem Drang, sich gegenseitig zu beschützen, keine Besonderheit dar, die für den geschilderten OEG-Schädigungstatbestand spreche. Die bei dem Kläger bestehenden Störungen seien weder unmittelbar noch zeitnah mit dem nach dem OEG geschützten Negativerlebnis aufgetreten, sondern hätten sich erwiesenermaßen langfristig entwickelt. Damit seien sie aller Wahrscheinlichkeit nach das Ergebnis einer sich auf das Persönlichkeitsgefüge ungünstig auswirkenden familiären Obhut mit u. a. auch schweren seelischen Belastungsfaktoren, unter denen der Kläger in einer häuslichen Umgebung mit einer ausgeprägt instabilen familiären Situation aufgewachsen sei. Dem OEG-Tatbestand komme vor diesem Hintergrund keine relevante Ursachenbedeutung zu.

28

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit Schriftsatz vom 30. September 2013 ausgeführt, der Sachverhalt sei nunmehr mit den ergänzenden schlüssigen Erläuterungen des gerichtlichen Sachverständigen aufgeklärt. Dieser habe überzeugend dargelegt, dass die affektiv aggressiven Verhaltensstörungen des Klägers Symptome einer wesentlich durch das Beobachten des Missbrauchs des Bruders bedingten Gesundheitsstörung seien. Auf der Grundlage dieser Feststellungen sei dem Kläger ein Anspruch auf Opferentschädigung zuzusprechen. Allerdings sei der Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht zum zeitlichen Umfang des Anspruchs noch weiter aufzuklären, da es aufgrund der Verpflichtungsklage auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankomme. Der gerichtliche Sachverständige habe nachvollziehbar dargelegt, dass die von ihm beschriebenen affektiv aggressiven Verhaltensstörungen des Klägers wahrscheinlich eine Folge der erlittenen Belastungsreaktionen sind. Richtig sei hierbei auch, dass der Ursachenzusammenhang zwischen der Belastung und dem Gesundheitsschaden bzw. der Gesundheitsstörung nicht mit dem Vollbeweis zur vollen, alle anderen Zweifel ausschließenden Überzeugung geführt werden müsse. Als Beweismaßstab für die haftungsbegründende Kausalität im Entschädigungsrecht genüge seit dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 15. Dezember 1999 (B 9 VG 2/98 R) die Wahrscheinlichkeit. Diese Wahrscheinlichkeit werde vom Sachverständigen nachvollziehbar bejaht. Zu den Möglichkeiten, die der Beklagte als mögliche andere Ursache für die Gesundheitsstörungen benenne, sei nichts festgestellt. Der Alkoholmissbrauch der Mutter sei schon lange vorher beendet gewesen und habe in der Familie keine Rolle mehr gespielt. Ein niedriges Familieneinkommen als Ursache für seelisch bedingte Verhaltensstörungen könne vom Beklagten nicht ernsthaft unter Beweis gestellt werden. Im Hinblick auf die noch nicht abgeschlossene Persönlichkeitsentwicklung des Klägers und die Tatsache, dass bei ihm mehrere psychische Gesundheitsstörungen zu diagnostizieren seien, wobei die affektiv aggressiven Verhaltensstörungen nur die Symptome der Gesundheitsstörung seien, sei es wichtig, die zu entschädigende Gesundheitsstörung genau zu bezeichnen, damit diese festgestellt werden könne. Insoweit bedürfe der Sachverhalt noch der medizinischen Aufklärung.

29

Mit Schreiben vom 18. November 2013 hat der Beklagte eine weitere Stellungnahme seines ärztlichen Dienstes vom 14. November 2013 vorgelegt, wonach die aus der Sicht des Klägers bestehende entschädigungspflichtige Gesundheitsstörung unter der Bezeichnung "affektiv aggressive Verhaltensauffälligkeiten" zu führen wäre. Es sei aber nochmals zu verdeutlichen, dass der Sachverständige die Symptomatik von affektiv aggressiven Verhaltensauffälligkeiten als bleibende Folge einer schädigungsbedingt erlittenen posttraumatischen Belastungsstörung herauskristallisieren wolle, eine solche aber bzw. Hinweise für eine solche aber zu keinem Zeitpunkt zu belegen seien. Affektiv aggressive Verhaltensauffälligkeiten seien dem Diagnosebild einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen zuzuordnen. Die Störungen hätten sich nachgewiesen langfristig entwickelt und seien aller Wahrscheinlichkeit nach das Ergebnis einer sich auf das Persönlichkeitsgefüge ungünstig auswirkenden familiären Obhut mit u. a. auch schweren seelischen Belastungsfaktoren, unter denen der Kläger in einer häuslichen Umgebung mit einer ausgeprägt instabilen familiären Situation aufgewachsen sei. Dem OEG-Tatbestand könne vor diesem Hintergrund keine relevante Ursachenbedeutung zukommen. Dies gelte auch, soweit die affektiv aggressiven Verhaltensauffälligkeiten als Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung zu werten seien. Auch hier seien die häuslichen Milieuumstände für sich geeignet, aufgrund von wiederkehrenden traumatischen Erfahrungen ursächlich im Sinne der wesentlichen Bedeutung zu sein. Zu berücksichtigen sei zuletzt der Umstand, dass das Tourette-Syndrom Auswirkungen habe, die vom persönlichen Umfeld als aggressiv emotional fluktuierendes Verhalten missgedeutet werden könnten.

30

Die Gerichtsakte, die Verwaltungsakte der Beklagten nebst Auszügen aus der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft H. und der Gerichtsakte des Amtsgerichtes S. haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe

31

Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

32

Streitbefangen ist die Frage, ob dem Kläger eine Beschädigtenrente ab 1. Dezember 2002 nebst Feststellung einer Schädigung i. S. des OEG zusteht. Diese Frage ist zu verneinen. Die angegriffenen Bescheide des Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 und 4 Sozialgericht {SGG]). Das insoweit zur Überprüfung stehende Urteil des SG ist nicht abzuändern, weshalb der Berufung der Erfolg verwehrt bleibt.

33

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält auf Antrag wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG Versorgung, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Dabei genügt gemäß §§ 1 Abs. 1 OEG, 1 Abs. 3 BVG zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung oder einer Verschlimmerung einer anerkannten Schädigungsfolge die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, die dann gegeben ist, wenn mehr für als gegen den Zusammenhang spricht, d.h. wenn die für den Zusammenhang sprechenden Umstände mindestens deutlich überwiegen. Dagegen müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen wie "schädigender Vorgang" einschließlich der Rechtswidrigkeit des Angriffs, "gesundheitliche Schädigung", "gesundheitliche bzw. wirtschaftliche Folgen" selbst erwiesen sein, wofür eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit genügen kann, die ernste, vernünftige Zweifel ausschließt. Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach § 30 Abs. 1 BVG nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der Grad der Schädigung ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer Grad der Schädigungsfolgen wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.

34

Im Interesse einer einheitlichen und gleichmäßigen Behandlung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aufgrund der Ermächtigung in §§ 69 Abs. 1 Satz 3 SGB IX, § 1 Abs. 1 VfG-KOV, 30 Abs. 16 BVG nach § 2 Satz 1 Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (VersMedV, BGBl. I S. 2412) in den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen", Ausgabe 2008 (Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008) die Grundsätze für die medizinische Bewertung des GdS festgelegt, die fortlaufend auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft fortentwickelt werden (§ 2 Satz 2 VersMedV). Die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" ersetzen die bis zum 31.12.2008 anzuwendenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (letzte Ausgabe 2008) und stellen eine verbindliche Rechtsquelle für die Feststellung einer Schädigungsfolge und des GdS dar (vgl. BSG, Urteil vom 30.09.2009, A.: B 9 SB 4/08 R, juris).

35

Der Kläger ist nicht selbst Opfer eines unmittelbaren Angriffes im oben dargestellten Sinne geworden. Allerdings werden seit einer Entscheidung des BSG vom 7. November 1979 (9 RVg 1/78, SozR 3800 § 1 Nr. 1) in ständiger Rechtsprechung auch Opfer sog. Schockschäden in den Schutzbereich des OEG einbezogen. Dabei geht es um die psychische Schädigung von Personen, die nicht selbst von einem tätlichen Angriff getroffen, sondern Zeuge einer Gewalttat werden oder denen die Nachricht von einem besonders schrecklichen Geschehen übermittelt wird. Dass die psychische Schädigung nicht bei demjenigen eintritt, auf den der Angriff (unmittelbar) gerichtet ist, steht einem Anspruch nicht entgegen, weil § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht einen Angriff auf den Geschädigten voraussetzt, sondern es sich auch um einen Angriff gegen eine andere Person handeln kann. Auch braucht sich der Vorsatz des Angreifers nicht auf die psychische Schädigung auch der anderen Person zu beziehen. Nach der Rechtsprechung des BSG steht einem Anspruch nicht entgegen, dass das Opfer eines sog. Schockschadens keiner körperlichen, sondern einer psychischen Einwirkung ausgesetzt ist. Das Opfer eines Schockschadens wird in der Rechtsprechung regelmäßig als "Sekundäropfer" bezeichnet. Dessen Anspruch setzt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Elemente voraus. Es müssen die psychischen Auswirkungen der Gewalttat beim Sekundäropfer bei wertender Betrachtung mit der Gewalttat so eng verbunden sein, dass beide eine natürliche Einheit (BSG, Urteil vom 12. Juni 2003, B 9 VG 1/02 R, juris) bilden. Maßgebliches Kriterium für das Vorliegen des erforderlichen unmittelbaren Zusammenhangs ist die zeitliche, örtliche und personale Nähe, wobei nicht alle Aspekte kumulativ vorliegen müssen. Bei der Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Angriff und Schädigung, insbesondere bezogen auf den sexuellen Missbrauch von Kindern ist darauf abzustellen, ob es der herrschenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft entspricht, dass Ereignisse dieser Art allgemein geeignet sind, solche Krankheiten hervorzurufen (BSG, Urteil vom 26. Januar 1994, 9 RVg 3/93, SozR 3-3800 § 1 Nr. 3 OEG).

36

In Anwendung dieser Grundsätze ist hier die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs der psychischen Erkrankung des Klägers mit dem sexuellen Missbrauch des Bruders zu verneinen. Nach den im Wesentlichen übereinstimmenden Angaben der Ärzte, mit Ausnahme der Begutachtung durch Prof. Dr. F., hat der Kläger bei Untersuchungen und Behandlungen im Sommer 2001, von Oktober bis Dezember 2002, von März bis Mai 2003 und im November 2003 keine Schädigungsfolgen aufgewiesen, wie sie für eine eindeutige posttraumatische Belastungsstörung typisch sind. Zwar ist es bei durchlittenen oder als Zeuge beobachteten Gewalttaten denkbar, dass eine psychische Reaktion auf die Tat zunächst weitgehend symptomlos verläuft und sich erst nach einer Latenzzeit eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. Allerdings hat eine solche Belastungsstörung beim Kläger nicht nur im oben angegebenen Zeitraum, sondern auch später bei keiner der Untersuchungen im Vordergrund gestanden und wird selbst von Prof. Dr. F. lediglich als sekundäre Folge im Zusammenhang mit anderen möglichen Krankheitsursachen diskutiert. Daher ist es unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Kläger von Geburt an bestimmten Belastungsfaktoren wie der Alkoholerkrankung der Mutter und dem Sauerstoffmangel infolge Herzstillstand mit nachfolgender leichter zerebrale Dysfunktion ausgesetzt war, nicht als wahrscheinlich anzusehen, dass die später umfangreich festgestellten psychischen Störungen auf den sexuellen Missbrauch im Jahre 2000 zurückzuführen sind. Dabei war auch zu beachten, dass der Kläger seine Beobachtungen als dreijähriges Kind gemacht und diese angesichts seiner fehlenden intellektuellen Reife zunächst nicht als übermäßig bedrohlich hat bewerten können.

37

Demgegenüber sind die Ausführungen von Prof. Dr. F., auch die in seiner ergänzenden Stellungnahme von Juli 2013, nicht überzeugend. Er selbst beschreibt bestimmte psychische Vorgänge wie das Tourette-Syndrom, die auch seiner Auffassung nach mit dem Tatgeschehen nicht in Verbindung stehen. Seine Wertung, der ursächliche Zusammenhang müsse bejaht werden, weil auch ein anderweitiger Ursachenzusammenhang nicht belegt sei, ist keine rechtlich zulässige Schlussfolgerung. Diese Annahme wird überdies auch durch die von sämtlichen Ärzten, sowie auch von Prof. Dr. F. selbst herausgearbeiteten Belastungsfaktoren widerlegt, die auf den Kläger unabhängig von dem sexuellen Missbrauch eingewirkt haben. Angesichts dieser Belastungsfaktoren, zu denen neben den beschriebenen Umständen bei der Geburt des Klägers auch ein gewisses familiäres Mangelmilieu gezählt werden muss, kann nicht mit Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass gerade das Beobachten des sexuellen Missbrauchs des Bruders im Alter von drei Jahren zu einer posttraumatischen Belastungsstörung in Form affektiv aggressiver Verhaltensauffälligkeiten im höheren Lebensalter geführt hat. Dr. D. hat mit Gutachten vom 9. August 2001 im Auftrag der Staatsanwaltschaft H. u. a. festgestellt, beim Kläger hätten keine Merkmale einer psychischen Störung vorgelegen und lägen keine Symptome einer krankheitswertigen Störung vor (S. 23 des Gutachtens). Am 13. November 2003 ist Dr. W. im Auftrag des Beklagten zu dem Ergebnis "sehr leichtgradiger allgemeiner Verhaltensstörungen eines Vorschulkindes, die insgesamt nicht Krankheitswert erreichen" gekommen, sodass über einen Zeitraum von drei Jahren nach dem Beobachten des sexuellen Missbrauchs keine durch Untersuchung des Klägers gesicherten medizinischen Erkenntnisse über nennenswerte psychische Störungen vorliegen. Wie und wodurch es dann später zu stärkeren Ausprägungen von psychischen Störungen gekommen ist, lässt sich angesichts der Gemengelage von ungünstigen sozialen Faktoren und einer gewissen Vorschädigung durch die Geburt wie aber auch durch das Beobachten des sexuellen Missbrauchs nicht genauer bestimmen. Auch Prof. Dr. F. hat diese Klärung nicht herbeigeführt, sondern in seiner Zusammenfassung der Stellungnahme vom 8. Juli 2013 lediglich darauf hingewiesen, der Kläger müsse als Sekundäropfer entschädigt werden, da sich keine gesicherte alternative Kausalität finden lasse. Eine solche (negative) Beweisregel, wonach die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zwischen einem Ereignis und einer Gesundheitsschädigung nur deshalb anzunehmen ist, weil ein anderer Ursachenzusammenhang mit anderen Ereignissen oder Einwirkungen nicht zu finden ist, ist im Sozialrecht jedoch nicht anerkannt. Hiervon abgesehen, ist die Feststellung von Prof. Dr. F. auch sachlich falsch, denn er selbst hat festgestellt, dass das Tourette-Syndrom, die ADHS und die minimale cerebrale Dysfunktion nicht auf das Beobachten des sexuellen Missbrauchs zurückgeführt werden könnten. Wenn aber psychische Störungen mit Krankheitswert gegeben sind, die auf anderen Ursachen beruhen müssen, ist es nicht plausibel, bestimmten, tatsächlich oder scheinbar abgrenzbaren Störungen (affektiv agressive Verhaltensauffälligkeiten) einen wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang zuzuweisen, für den über einen Zeitraum von rund drei Jahren nach einem schädigenden Ereignis keine Nachweise vorhanden sind.

38

Es erscheint durchaus denkbar, dass der erlebte sexuelle Missbrauch des Bruders Auswirkungen auf die seelische und psychische Entwicklung des Klägers gehabt hat. Allerdings lassen sich entgegen der Annahme des Klägers und des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. F. diese Auswirkungen im Geflecht mit den anderen bekannten Faktoren nicht hinreichend wahrscheinlich differenzieren oder gar hinsichtlich eine bestimmten Schweregrades von psychischen Störungen quantifizieren.

39

Dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers brauchte der Senat nicht nachzugehen, weil der Sachverhalt in zwei Instanzen und im Vorverfahren hinreichend aufgeklärt worden und dabei auch insbesondere der Kläger ausführlich exploriert worden ist, zuletzt von Prof. Dr. F. im Gutachten vom 4. Juni 2010.

40

Nach allem war die Berufung zurückzuweisen.

41

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG.

42

Die Revision war nicht zuzulassen, da Revisionszulassungsgründe (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) nicht vorliegen.


Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

(1) Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung.

(2) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die herbeigeführt worden sind durch

a)
eine unmittelbare Kriegseinwirkung,
b)
eine Kriegsgefangenschaft,
c)
eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit,
d)
eine mit militärischem oder militärähnlichem Dienst oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Straf- oder Zwangsmaßnahme, wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist,
e)
einen Unfall, den der Beschädigte auf einem Hin- oder Rückweg erleidet, der notwendig ist, um eine Maßnahme der Heilbehandlung, eine Badekur, Versehrtenleibesübungen als Gruppenbehandlung oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 26 durchzuführen oder um auf Verlangen eines zuständigen Leistungsträgers oder eines Gerichts wegen der Schädigung persönlich zu erscheinen,
f)
einen Unfall, den der Beschädigte bei der Durchführung einer der unter Buchstabe e aufgeführten Maßnahmen erleidet.

(3) Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, kann mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden; die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

(4) Eine vom Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung gilt nicht als Schädigung im Sinne dieses Gesetzes.

(5) Ist der Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben, so erhalten seine Hinterbliebenen auf Antrag Versorgung. Absatz 3 gilt entsprechend.

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

Die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien sind in der Anlage zu dieser Verordnung*als deren Bestandteil festgelegt.

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 11.06.2010 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG).

2

Die am ........2002 geborene Klägerin wurde am 19.07.2002 nach der Vorsorgeuntersuchung U4, die unauffällig verlief, mit dem Impfstoff Hexavac gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Haemophilus B, Hepatitis B und Poliomyelitis geimpft. Am 24.07.2002 wurde die Klägerin stationär im S... K... K... K... aufgenommen. In der Anamnese durch die Mutter ist vermerkt, dass die Klägerin vor fünf Tagen geimpft worden sei, am Abend Schreiattacken gehabt habe, die über das Wochenende angehalten hätten. Seit dem 23.07.2007 seien Krampfanfälle aufgetreten, insgesamt fünfmal. Andere Nebenerscheinungen oder Fieber wurden nicht bemerkt. Die Temperatur wurde mit 37,9 Grad gemessen. Nach Durchführung verschiedener Untersuchungen wurde die Diagnose eines West-Syndroms gestellt, da sowohl nach dem EGG-Befund mit Nachweis einer typischen Hypsarrhythmie als auch von der Art der Anfälle mit tonischen und myoklonischen Anfällen von einer BNS-Epilepsie auszugehen sei. Am 23.08.2002 erfolgte die zweite Hexavac-Impfung, nachdem zuvor als auch danach Krampfanfälle aufgetreten waren.

3

Im Februar 2005 beantragte die Klägerin über ihre Eltern Versorgung nach dem IfSG wegen eines Impfschadens.

4

Das Amt für soziale Angelegenheiten Koblenz zog die Schwerbehindertenunterlagen bei. Nach dem Schwerbehindertenrecht war bei der Klägerin mit Bescheid vom 23.11.2004 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt worden. Sodann zog das Amt für soziale Angelegenheiten die Behandlungsunterlagen des Klinikums K... und des Sozialpädiatrischen Zentrums B...K... bei und ließ die Klägerin durch Prof. Dr. R..., Ärztlicher Direktor der Abteilung Päd. Neurologie der Universitäts-Kinderklinik H... begutachten. Dieser kam nach einer Untersuchung der Klägerin im Mai 2006 zu dem Ergebnis, aus kinderärztlicher Sicht sei seit langer Zeit die Indikation zur Durchführung der Pertussis-Impfung gegeben, auch wenn in den sechziger und siebziger Jahren über die Möglichkeit der Entwicklung einer Epilepsie in diesem Zusammenhang diskutiert worden sei. Ein Krampfanfall mit Fieber nach DPT-Impfung sei als mögliche Impfkomplikation gut bekannt und unstreitig anerkannt. Nach einer DPT-Impfung könne sich bei genetisch prädisponierten Patienten eine Epilepsie entwickeln, die durch einen Fieberkrampf ausgelöst werde. Dieser Fieberkrampf werde zum Realisationsfaktor einer nachfolgenden Epilepsie. Eine wesentliche Temperaturerhöhung im zeitlichen Zusammenhang mit der Manifestation der ersten Anfälle sei bei der Klägerin aber nicht festgestellt worden. Zudem habe sich die Epilepsie direkt als Epilepsie mit BNS-Anfällen und nicht als unspezifischer Fieberkrampf manifestiert. Zwar würden publizierte Daten dafür sprechen, dass nach DPT-Vaccinationen eine erhöhte Rate von Krampfanfällen zu beobachten seien. Allerdings gebe es natürlicherweise für jeden Säugling ein gewisses Basisrisiko, unabhängig von der Impfung, gerade zu diesem Zeitpunkt einen Krampfanfall zu erleiden bzw. eine Epilepsie mit BNS-Anfällen zu entwickeln, deren Manifestationsgipfel ja gerade um den 4. bis 6. Lebensmonat liege. Aufgrund dieses allgemeinen Hintergrundrisikos sei zu erwarten, dass 7/10.000 der Kinder innerhalb einer Woche um die Impfung herum einen ersten Krampfanfall erleiden würden. Krampfanfälle nach DPT-Vaccination seien nicht so sehr Folge der Impfung, sondern die Impfung führe dazu, dass ein Ereignis, das später eingetreten wäre, sich früher manifestiere. Dafür spreche, dass die Häufigkeit von Krampfanfällen in der ersten Woche nach der Impfung höher, in der zweiten Woche nach der Impfung jedoch deutlich niedriger als zu erwarten sei. In den neuesten Untersuchungen habe sich gezeigt, dass bei mittlerweile 635.000 DPT-Impfungen in Nordbayern seit 1982 kein einziger bleibender Schaden auf die Impfung zurückzuführen sei. Allerdings könne nicht ausgeschlossen werden, dass in besonders gelagerten Fällen ein kausaler Zusammenhang bestehen könne, da sich neurologische Zeichen früher zeigen könnten auch wenn ein gewisser Prozentsatz der Komplikationen reine Koinzidenz sein könnten.

5

Die Epilepsie habe sich bei der Klägerin so manifestiert, wie es bei vielen hundert Kindern in Deutschland jedes Jahr geschehe, für die jedoch keinerlei zeitliche Beziehung zwischen der Impfung und der Epilepsie mit BNS-Anfällen bestehe. Beginn, Klinik und Verlauf der Epilepsie bei der Klägerin seien geradezu klassisch und lehrbuchhaft. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass bei der Klägerin die Epilepsie mit BNS-Anfällen durch die Impfung mit Hexavac hervorgerufen worden sei.

6

Mit Bescheid vom 29.08.2006 lehnte das Amt für soziale Angelegenheiten darauf gestützt den Antrag der Klägerin ab. Eine gesundheitliche Schädigung aufgrund der durchgeführten Impfung könne nicht nachgewiesen werden. Weder aus den anamnestischen Schilderungen noch aus den erhobenen Zusatzuntersuchungen ließen sich Hinweise darauf finden, dass ein über den zeitlichen Zusammenhang hinausgehender kausaler Zusammenhang zwischen der Impfung und dem West-Syndrom bestehe. Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte nach versorgungsärztlicher Beteiligung mit Widerspruchsbescheid vom 14.05.2007 zurück.

7

Im hiergegen vor dem Sozialgericht Koblenz durchgeführten Klageverfahren hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG des Dr. H....

8

Der Sachverständige ist in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 07.09.2009 im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, bei der Klägerin bestehe seit Juli 2002 eine Hirnentwicklungsstörung mit Ausbildung eines West-Syndroms. Es beständen weiterhin deutliche Retardierungen der kognitiven und motorischen Funktionen. Die Erkrankung sei nach den WHO-Kriterien wahrscheinlich durch die Verabreichung von Hexavac-Impfungen verursacht worden. Der zeitliche Verlauf, neue Erkenntnisse über die Toxizität der verwendeten Impfstoffe und ihrer Adjuvantien und das Fehlen alternativer Ursachen würden im Fall der Klägerin für eine solche Einschätzung sprechen.

9

Der Beklagte ist dem Ergebnis des Gutachtens des Sachverständigen durch Vorlage einer sozialmedizinischen Stellungnahme des Dr. B... entgegengetreten. Dieser hat darauf hingewiesen, dass bei der Klägerin durch Sonographie und Kernspintomographie ein diffuses Hirnödem im Rahmen einer Encephalopathie oder Encephalitis ausgeschlossen worden sei. Daher spiele das von Dr. H... erwähnte Aluminiumhydroxid als so genanntes Adjuvans oder unspezifischen Immunverstärker im Hexavac keine Rolle, weil das vermutete Ergebnis dieser Reaktion, eine Encephalopathie, durch die bildgebenden Verfahren ausgeschlossen worden sei.

10

Mit Urteil vom 11.06.2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Klägerin stehe kein Anspruch gegen die Beklagte auf Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Folgen einer Impfung zu. Unstreitig sei die Klägerin am 19.07.2002 durch Dr. H... mit dem zugelassenen Impfstoff Hexavac geimpft worden und leide an einer Epilepsie mit BNS-Anfällen sowie einer Entwicklungsstörung. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Impfung und dem West-Syndrom sei aber nicht wahrscheinlich. Es fehle vor allem der Nachweis einer deutlich erhöhten Körpertemperatur im Anschluss an die Impfung. Als die Klägerin am 24.07.2002 gegen 16.30 Uhr in der Kinderklinik K... aufgenommen wurde, habe die Körpertemperatur 37,9 Grad betragen. Über Fieber oder Fieberanfälle sei in der Anamnese nichts berichtet worden. Auch im HTZ-N... hätten die Eltern die Frage nach Fieber im Anschluss an die Impfung verneint. Nach Ansicht des Sachverständigen Prof. Dr. R... sei die Epilepsie der Klägerin lehrbuchhaft aufgetreten, ohne vorherigen Fieberkrampf aber gleichzeitig mit den BNS-Anfällen. Bei dieser Sachlage könne kein krankhaftes Geschehen festgestellt werden, das zunächst einen ZNS-Defekt verursacht habe, der in der weiteren Folge eine Epilepsie ausgelöst hätte. Das West-Syndrom sei eine Erkrankung, die zu 90 % im ersten Lebensjahr auftrete mit einer Häufigkeit von 1 : 4.000 bis 1 : 6000, weshalb im Jahr 2002 bei 719.250 Neugeborenen ca. 120 bis 180 Krankheitsfälle aufgetreten sein müssten. Da die U4 im 3./4. Lebensmonat stattfinde und im Allgemeinen, wenn keine Impfhindernisse vorlägen, bei dieser Untersuchung geimpft werde, sei zu erwarten, dass einige der jährlichen Krankheitsfälle in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung auftreten würden. Ein zeitlicher Zusammenhang sei jedoch kein ursächlicher Zusammenhang, der für die Anerkennung des Impfschadens gefordert werde.

11

Am 06.07.2010 hat die Klägerin gegen das ihr am 25.06.2010 zugestellte Urteil Berufung eingelegt.

12

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Dr. H..., Oberarzt und Leiter der Neuropädiatrie und des Sozialpädiatrischen Zentrums der Universitätskinderklinik K....

13

Der Sachverständige hat die Klägerin im März 2011 untersucht und ist in seinem Gutachten im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, bei der Klägerin bestehe ein Dauerleiden in Form einer leichten geistigen Behinderung, die sich infolge einer im 4. Lebensmonat wenige Tage nach der ersten Sechsfach-Impfung (Hexavac) erstmals aufgetretenen West-Syndroms entwickelt habe. Ein Kausalzusammenhang zwischen der Impfung und dem West-Syndrom lasse sich nicht mit Wahrscheinlichkeit feststellen. Der Beginn des West-Syndroms im 4. Lebensmonat sei typisch für diese Erkrankung. Das Dilemma, eine wissenschaftlich beweisbare Kausalkette belegen zu müssen, könne mangels geeigneter Daten nicht gelöst werden.

14

Ein Kausalzusammenhang könne aber prinzipiell auch nicht widerlegt werden, so dass die Kann-Versorgung nicht von vornherein auszuschließen sei. Für die Inanspruchnahme einer Kann-Versorgung könne festgestellt werden, dass die Ursache des Leidens der Klägerin ungewiss sei. Ungewissheit bestehe aber auch in der Wissenschaft darüber, ob die erfolgte Impfung in Einzelfällen zu dem aufgetretenen Dauerleiden führen könne. Die Untersuchungen im Rahmen des Gutachtens hätten keine Hinweise ergeben, die zu einer sinnvollen Ursachensuche führen würden. Da in Einzelfällen schwere neurologische Erkrankungen nach Keuschhusten-Ganzkeimimpfung belegt seien und bei der Klägerin keine andere Ursache des West-Syndroms nachweisbar sei, sei in Übereinstimmung mit Prof. Dr. R... und der übrigen Literaturmeinung ein Zusammenhang zwischen Impfung und Erkrankung nicht ausgeschlossen. Unter der Vorstellung einer genetischen Prädisposition (so auch Prof. Dr. R...) bestehe zumindest die gute Möglichkeit einer Triggerung der Erkrankung der Klägerin durch die Impfung. Das frühe Auftreten durch die Impfung werde die Wahrscheinlichkeit einer Gesamtprognose begründen. Es sei wahrscheinlich kein Zufall, dass nach der Impfung die Klägerin genau in diesem Zeitraum erkrankt sei; es sei daher die Anerkennung des Impfschadens im Rahmen einer Kann-Versorgung zu empfehlen. Der Grad der Schädigungsfolgen sei mit 50 anzusetzen.

15

Die Klägerin trägt vor,

16

das Sozialgericht verkenne, dass Dr. H..., auf den sie sich stütze, auf die Wirkung von Impfstoffen spezialisiert sei, während Prof. Dr. R... als Kinderneurologe damit befasst sei, bereits aufgetretene Krankheitsbilder zu behandeln. Dr. H... habe den ursächlichen Zusammenhang des bei ihr bestehenden BNS-Syndroms mit der zuvor erfolgten Impfung zutreffend bejaht. Als mögliche unerwünschte Wirkung der Impfung bestehe das Risiko des Auftretens einer Epilepsie, was sich aus dem Beipackzettel des Impfstoffs ergebe. Die statistische Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung in einem Zeitrahmen sei nicht ausschlaggebend für die Bewertung eines Einzelfalls.

17

Die Klägerin beantragt,

18

das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 11.06.2010 sowie den Bescheid des Amtes für soziale Angelegenheiten Koblenz vom 29.08.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.05.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, eine BNS-Epilepsie als Folge der Impfung vom 19.07.2007 anzuerkennen und Versorgung nach einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 50 zu gewähren.

19

Der Beklagte beantragt,

20

die Berufung zurückzuweisen.

21

Der Beklagte trägt unter Bezugnahme auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. B... vor,

22

in Übereinstimmung mit dem Gutachten des Dr. H... sei davon auszugehen, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der stattgehabten Impfung und dem West-Syndrom nicht mit Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, was auch in Übereinstimmung mit dem Gutachten des Prof. Dr. R... stehe. Das Begutachtungsergebnis von Dr. H... sei durch das vom Senat eingeholte Gutachten widerlegt. Den Ausführungen des Sachverständigen Dr. H... zur Kann-Versorgung sei hingegen nicht zu folgen. Eine Kann-Versorgung entfalle, wenn sich die Frage des ursächlichen Zusammenhangs bereits in der Gesamtheit beantworten lasse. Diese Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs habe Dr. H... geprüft und letzten Endes verneint, so dass ein Raum für eine Kann-Versorgung nicht mehr bestehe. Darüber hinaus komme eine Kann-Versorgung schon deshalb nicht in Betracht, weil der geforderte zeitliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Manifestation des Leidens nicht gewahrt sei. Allgemeine Reaktionen wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik wie Frösteln, Kopf oder Gliederschmerzen, Schläfrigkeit, Unruhe, Reizbarkeit, ungewöhnliches Schreien oder Magen-Darm-Beschwerden seien ärztlicherseits im Anschluss an die Impfung nicht objektiviert worden. Allenfalls die Eltern würden sich rückblickend an ein anhaltendes Schreien oder eine Unruhe zwei Stunden nach der Impfung erinnern. Dabei handele es sich um Befunde, die bei jedem Säugling auch ohne Impfung im Verlauf eines jeden Tages auftreten könnten und nach dem neuesten Erkenntnisstand mit Vorboten einer Grunderkrankung nichts zu tun hätten.

23

In Übereinstimmung mit Prof. Dr. R... sei das vier Tage nach der Impfung diagnostizierte West-Syndrom nicht mit einem Vorboten, sondern mit einem Kardinalsyndrom, einer Säuglingsepilepsie im Sinne von BNS-Krämpfen aufgetreten, was aufgrund der Kürze der Zeit mit der Impfung nichts zu tun haben könne. Auch Dr. H... habe berichtet, dass der Zeitpunkt der Verursachung sowie der Entwicklung der Encephalopathie eines West-Syndroms und das Auftreten der Krampfanfälle meist um Wochen bis Monate auseinander liegen würden, weshalb ein zeitlicher Zusammenhang nicht gegeben sei. Die vom Gutachter angegebenen Brückensymptome in der Form von Unruhe und Schreien seien unspezifisch und daher nicht geeignet, den Beginn der Grunderkrankung West-Syndrom zu markieren.

24

Im Übrigen wird zur Ergänzung Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen und die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten sowie der Gerichtsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

25

Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet, da ihr kein Anspruch gegen den Beklagten auf Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Impfschadensfolge und Versorgung nach dem IfSG zusteht.

26

Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde oder auf Grund des IfSG angeordnet wurde oder gesetzlich vorgeschrieben war oder auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG, wer durch diese Maßnahme eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Gemäß § 2 Nr. 11 IfSG ist ein Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

27

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Impfung genügt gemäß § 61 Satz 1 IfSG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wahrscheinlich in diesem Sinne ist die Kausalität dann, wenn mehr für als gegen sie spricht, d.h. die für den Zusammenhang sprechenden Umstände mindestens deutlich überwiegen (vgl. BSG SozR 3850 § 51 Nr. 9 mwN). Kommen auch impfunabhängige Ursachen in Betracht, so genügt es, wenn die Impfung zum Eintritt des Erfolges zumindest annähernd gleichwertig beigetragen hat (Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl., § 52 BSeuchG RdNr. 5 f), jedoch reicht die bloße Möglichkeit nicht aus. Die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs kann nur angenommen werden, wenn die schädigende Einwirkung (Impfung), die gesundheitliche Schädigung (unübliche Impfreaktion) und die Schädigungsfolge (Dauerleiden) nachgewiesen sind (BSG, Urteil vom 6.9.1989, Az.: 9 RVi 2/88 mwN; Urteil des Senats vom 18.04.1997, Az.: L 4 Vi 2/96).

28

Bei der vorzunehmenden Kausalitätsbeurteilung sind für den hier maßgeblichen Zeitraum ab 01.02.2005 grundsätzlich die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (zuletzt Ausgabe 2008 - AHP 2008) zu beachten, die jeweils unter den Nr. 53 bis 143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen enthalten. Dies gilt auch für die Zeit ab Inkrafttreten der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung am 1. Januar 2009, die solche auf einzelne Krankheitszustände bezogene Hinweise nicht mehr enthält (vgl. dazu Begründung zur VersMedV, Bundesrats-Drucksache 767/08, Seite 4). Die auf den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft fußenden Anhaltspunkte haben normähnlichen Charakter und sind grundsätzlich wie untergesetzliche Normen heranzuziehen, um eine möglichst gleichmäßige Handhabung der in ihnen niedergelegten Maßstäbe zu gewährleisten. Grundsätzlich ist der neueste medizinische Erkenntnisstand zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn der zu beurteilende Impfvorgang - wie hier - mehrere Jahre zurückliegt.

29

Nach Teil C Nr. 57 AHP 2008 stellen die von der beim Robert Koch-Institut eingerichteten Ständigen Impfkommission (STIKO) entwickelten und im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Kriterien (Arbeitsergebnisse) zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung („Impfschaden“) den jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Dieser Beurteilungsgrundsatz beruht auf einem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats „Versorgungsmedizin“ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS, Rundschreiben vom 12. Dezember 2006 - IV c.6-48064-3 -) und ersetzt die noch in den Anhaltspunkten 1996, 2004 und 2005 enthaltenen detaillierten Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem „Impfschaden“ (Impfkomplikation). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern, so dass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen (vgl. BSG, Urteil vom 07.04.2011

30

Aktenzeichen: B 9 VJ 1/10 R - juris).

31

Hier steht zur Überzeugung des Senats fest, was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist, dass die Klägerin am 19.07.2002 mit dem Sechsfachimpfstoff Hexavac geimpft worden ist. Es handelt sich dabei um einen Impfstoff, der per Injektion zur Grundimmunisierung und Auffrischimpfung gegen sechs unterschiedliche Infektionskrankheiten eingesetzt wird: Kinderlähmung, Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Haemophilus influenzae Typ b sowie Hepatitis B. Die Impfung mit diesem Medikament war öffentlich empfohlen (vgl. Epidemiologisches Bulletin Nr. 46 vom 17.11.2006, S. 403). Zudem steht fest, dass bei der Klägerin jedenfalls seit dem 24.07.2002 eine Epilepsie in Form des West-Syndroms besteht. Zur Überzeugung des Senats kann aber nicht festgestellt werden, dass dieses Leiden neben anderen Mitursachen zumindest mit annähernd gleichwertiger Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Impfung zurückzuführen ist. Ein solcher Zusammenhang ist nach der von den Sachverständigen ausgewerteten medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung allenfalls möglich, nicht aber - wie für die Gewährung von Entschädigung notwendig - wahrscheinlich.

32

Nach den Feststellungen des vom Senat gehörten Sachverständigen Dr. H..., die mit denjenigen des Prof. Dr. R... übereinstimmen, handelt es sich bei dem West-Syndrom um ein üblicherweise zwischen dem 2. und 8. Lebensmonat auftretendes Leiden, das anhand typischer symmetrischer Beuge- und Streckkrämpfe der Extremitäten, dem Befund einer Hypsarrhythmie im EEG sowie einer bestehenden oder neu aufgetretenen Verzögerung der psychomotorischen Entwicklung diagnostiziert wird. Nach den Angaben des Sachverständigen ist zu unterscheiden zwischen einer kryptischen und einer symptomatischen Form des West-Syndroms. Bei der kryptischen Form, welche in 10 bis 20 % der Fälle vorliege, seien Schwangerschaft, Geburt und psychomotorische Entwicklung bis zum Beginn der Erkrankung komplikationslos verlaufen, wie es auch bei der Klägerin der Fall war. In diesen Fällen zeigen die neurologische Untersuchung und bildgebende Verfahren, insbesondere Kernspintomographie des Schädels, keine Auffälligkeiten. Dagegen ist bei der weit überwiegenden symptomatischen Form des West-Syndroms die BNS-Epilepsie im Zusammenhang zu Faktoren während der Schwangerschaft, Geburt oder Leben in den ersten Lebensmonaten zu zählen, wie angeborene Infektionen, Sauerstoffmangel vor, während oder nach der Geburt, Gehirnfehlbildungen, frühgeburtliche und nach der Geburt erworbene Infektionen und Verletzungen. Nach Angaben des Sachverständigen sind weit über 200 Erkrankungen, die das BNS-Leiden auslösen können, beschrieben, wobei Zeitpunkt und Ursache der Entwicklung der Encephalopathie sowie auftretende Krampfanfälle meist um Wochen bis Monate auseinander liegen würden. Das sei besonders problematisch wegen der im sozialen Versorgungsrecht geforderten zeitlichen Nähe zwischen schädigenden Ereignis und Schädigungsfolge möglichst mit Brückensymptomen, was im typischen Fall eines West-Syndroms eindeutig nicht der Fall sei.

33

Auch bei der Klägerin hätten weder in der Akutsituation noch im weiteren Verlauf der Jahre Symptome oder Befunde erhoben werden können, die auf eine kausale Diagnose hingewiesen hätten, insbesondere seien die typischen Ursachen auszuschließen. Nach neuesten Erkenntnissen gebe es aber genetische Prädispositionen, die nach Impfung zu epileptischen Encephalopathien wie dem Dravet-Syndrom führen könnten, sehr wahrscheinlich auch dem West-Syndrom. In der medizinischen Lehrmeinung würden schwere neurologische Nebenwirkungen nur nach der Keuchhustenkomponente des Hexavac-Impfstoffs diskutiert.

34

Hinsichtlich der Wirkungsmöglichkeit der zusätzlichen Inhaltsstoffe lägen keine gesicherten Erkenntnisse vor, die eine Kausalität der Erkrankung der Klägerin begründen könnten. Im Gegensatz zu den früheren Impfstoffen könne zu den neueren Impfstoffen wie Hexavac mangels geeigneter Studien zu den seltenen Ereignissen (kleiner als 1:70.000) keine Aussage getroffen werden. Nach neuesten wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus den Jahren 2010 und 2011 entferne sich die Lehrmeinung von den alten Vorstellungen, es müsse ein toxisch oder fassbar immun-entzündlich vermittelter Schaden am Gehirn entstehen, der dann die Epilepsie verursacht, wie die so genannte Impf-Encephalopathie. Das schließe die Diskussion um die Fieberfrage ein. Bekannt sei, dass die Hirnschädigung, die zu einem West-Syndrom führe, sehr subtil und auf einen anatomisch kleinen Bereich beschränkt sein könne. Die Art der Schädigung, Infarkt, Blutung, Entzündung, Genetik oder Fieber spiele für die Auslösung keine Rolle, sondern vielmehr die Vulnerabilität, eventuell eine genetische Präposition. Daher müsse nach den neuesten Untersuchungen auch nicht zwingend ein Fieber als Brückensymptom gefordert werden. Vielmehr könne die bei der Klägerin initial auftretende Wesensänderung ein Brückensymptom einer Encephalopathie darstellen. Allerdings gebe es für eine schwere immunologisch-entzündliche Reaktion bei der Klägerin keinen Anhalt. Die gesundheitliche Vorgeschichte der Klägerin einschließlich der Schwangerschaft ergebe keine Anhaltspunkte für eine Ursache der Erkrankung. Die damalige stationäre Abklärung der Anfälle habe weder klinisch noch laborchemisch einen Hinweis auf eine akute Encephalitis als Auslöser ergeben. Auch der Beginn des West-Syndroms sei typisch für die Erkrankung. Wenngleich ein Kausalzusammenhang nicht prinzipiell widerlegt werden könne, bleibe festzuhalten, dass die Ursache des Leidens der Klägerin ungewiss sei.

35

Wenn somit die Ursache des Leidens der Klägerin ungewiss ist, scheidet ein ursächlicher Zusammenhang mit der angeschuldigten Impfung aus. Angesichts der hohen Zahl der Impfungen nach der Vorsorgeuntersuchung U4 und dem typischen Auftreten des West-Syndroms im vierten Lebensmonat bleibt ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Impfung und erstmaligem Auftreten des West-Syndroms, der aber nicht ausreicht. Hierauf wird auch in der medizinischen Wissenschaft hingewiesen (vgl. Epidemiologisches Bulletin Nr. 25 vom 22. Juni 2007, S. 212).

36

Auch weist Dr. H... darauf hin, dass in der wissenschaftlichen Literatur weit über 200 Erkrankungen beschrieben seien, die ein BMS-Leiden verursachen könnten wie z.B. Infektionen, und dass Zeitpunkt der Ursache und Auftreten der Krampfanfälle meist mehrere Wochen auseinander liegen würden. Demgegenüber wurde nach dem überzeugenden Gutachten in der medizinischen Lehrmeinung lediglich hinsichtlich der Keuchhustenkomponente des Kombinationsimpfstoffs über neurologische Nebenwirkungen diskutiert, während hinsichtlich der übrigen Bestandteile und der Zusatzstoffe keine gesicherte Erkenntnis besteht. Hinsichtlich der Pertussis-Impfung wurde zwar in der Vergangenheit ein möglicher ursächlicher Zusammenhang mit einer Enzephalopathie angenommen (vgl. Anhaltspunkte 2005, Ziff. 57 11 a). Dies betraf jedoch einen anderen, älteren Wirkstoff, als er bei der Klägerin zur Anwendung kam und ist zudem wohl durch neuere Studien überholt. Hierauf weist insbesondere Dr. H... hin, der eher eine genetische Prädisposition als wesentlich ansieht. Aber auch nach dem Gutachten des Dr. H... gibt es angesichts der sehr seltenen Krankheitsfälle wie dem der Klägerin im Zusammenhang mit dem neueren Impfstoff keine geeignete Untersuchung, also auch keine wissenschaftliche Erkenntnis. Nach dem Gutachten des Prof. Dr. R... ist das Leiden typisch und schicksalshaft entstanden.

37

Von einem ursächlichen Zusammenhang kann der Senat sich daher nicht überzeugen.

38

Dem Gutachten des Dr. H... ist nicht zu folgen. Zunächst trifft die Aussage im Gutachten vom 07.09.2009 zwar zu, die Zulassung des Impfstoffs Hexavac sei im Jahr 2005 zurückgezogen worden wegen fraglicher Langzeitwirkung. Nicht erwähnt wurden von Dr. H... aber, dass gleichzeitig ausdrücklich zu diesem Impfstoff festgestellt wurde: „Es bestanden jedoch keine Bedenken hinsichtlich der Sicherheit des Impfstoffes. Empfehlungen der STIKO, Angehörige von Risikogruppen wie auch Säuglinge, Kinder und Jugendliche zu impfen, sind unvermindert gültig“ (vgl. Epidemiologisches Bulletin Nr. 46 vom 17. November 2006 S. 402). Dr. H... nennt als Ursache des West-Syndroms bei der Klägerin eine postvakzinale pathologische Immunreaktion, ohne aber mehr als den zeitlichen Zusammenhang als Indiz anführen zu können. Wenn er dann eine postvakzinale Enzephalopathie beschreibt, die nicht zwingend mit Fieber einhergehen müsse, wird nicht beachtet, dass nach den umfangreichen Untersuchungen der Klägerin im Juli und August 2002 im Klinikum K... das Vorliegen einer solchen Enzephalopathie ausgeschlossen werden konnte.

39

Dieser Sachverständige hat zudem mit den WHO-Vorgaben für unerwünschte Medikamentenebenwirkungen einen eigenen Maßstab zur Kausalitätsfeststellung herangezogen. Im Impfschadensrecht ist aber nicht dieser Maßstab entscheidend, sondern die Vorgaben in den Anhaltspunkten, jetzt Versorgungsmedizinischen Grundsätzen und der diese konkretisierenden Rechtsprechung (vgl. auch Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.02.2011, Aktenzeichen: L 6 (7) VJ 42/03 -juris). Danach reichen ein plausibles zeitliches Intervall, eine plausible Pathophysiologie und der Ausschuss anderer Ursachen nicht aus, um eine wesentliche Ursache annehmen zu können.

40

Aber auch die Voraussetzungen für die Gewährung der sog. Kannversorgung gemäß § 60 Abs. 1 IfSG i.V.m. § 61 S. 2 IfSG liegen nicht vor. Eine Versorgung ist nach diesen Vorschriften mit Zustimmung des zuständigen Ministeriums zu gewähren, wenn ein ursächlicher Zusammenhang nur deshalb nicht als wahrscheinlich angenommen werden kann, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht. Nach Teil C Nr. 4b Versorgungsmedizinische Grundsätze ist eine Kannversorgung zu prüfen, wenn über die Ätiologie und Pathogenese des als Schädigungsfolge geltend gemachten Leidens keine durch Forschung und Erfahrung genügend gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Auffassung herrscht und entsprechend die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen für die Entstehung oder den Verlauf des Leidens nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden kann. In diesen Fällen ist die Kannversorgung zu gewähren, wenn ein ursächlicher Einfluss des geltend gemachten schädigenden Tatbestandes in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen wird (Teil C Nr. 4b bb Versorgungsmedizinische Grundsätze). Dabei reicht die allein theoretische Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs nicht aus. Denn die Verwaltung ist nicht ermächtigt, bei allen Krankheiten ungewisser Genese immer die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs - die so gut wie nie widerlegt werden kann - ausreichen zu lassen (vgl. BSG, SozR 3-3200 § 81 Nr. 9 m.w.N.). Es genügt nicht, wenn ein Arzt oder auch mehrere Ärzte einen Ursachenzusammenhang nur behaupten. Vielmehr ist es erforderlich, dass diese Behauptung medizinisch-biologisch nachvollziehbar begründet und durch wissenschaftliche Fakten, in der Regel statistische Erhebungen (vgl. BSG, SozR 3-3200 § 81 Nr. 13), untermauert ist. Die Fakten müssen - in Abgrenzung zu den Voraussetzungen der Pflichtversorgung - zwar (noch) nicht so beschaffen sein, dass sie bereits die überwiegende medizinische Fachwelt überzeugen. Die niedrigere Schwelle zur Kannversorgung ist daher bereits dann überschritten, wenn die vorgelegte Begründung einschließlich der diese belegenden Fakten mehr als die einfache Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs belegt (vgl. BSG Urteil vom 12.12.1995 - 9 RV 17/94, sowie Urteil vom 17.07.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - juris) und damit zumindest einen eingeschränkten Personenkreis der Fachmediziner überzeugt ("Mindermeinung").

41

Das West-Syndrom der Klägerin ist eine Erkrankung, bei der es im Hinblick auf die als schädigende Ereignisse angenommenen Impfung an einer fundierten, einen Ursachenzusammenhang bejahenden medizinischen Lehrmeinung fehlt, bis auf diejenige des Dr. H.... Dies zeigen bereits die oben zitierten, von der STIKO im Epidemiologischen Bulletin 2007, Nr. 25 (Seite 212 ff) veröffentlichten Arbeitsergebnisse. Derzeit gibt es keine wissenschaftlichen Fakten oder Hinweise, die eine Verursachung der BNS-Anfälle durch eine der bei der Klägerin vorgenommenen Impfungen annehmen oder gar beweisen könnten, worauf Dr. H... eingehend hinweist. Ein anderes Ergebnis kann auch nicht dadurch gewonnen werden, dass der Sachverständige Dr. H... als einziger den Ursachenzusammenhang für wahrscheinlich hält. Diese Meinung ist nicht überzeugend begründet. Jedenfalls fehlt es hier für eine Kannversorgung an einer diese tatbestandlich zumindest stützenden wissenschaftlichen (Minder-)Meinung in der Medizin. Sollte sich dies aufgrund des Fortschreitens der medizinischen Erkenntnisse ändern, steht es der Klägerin jederzeit frei, einen neuen Antrag auf Versorgung zu stellen.

42

Die Berufung ist daher zurückzuweisen.

43

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG.

44

Die Revision wird nicht zugelassen, da Revisionszulassungsgründe (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG) nicht vorliegen.

(1) Soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, sind auf die Beweisaufnahme die §§ 358 bis 363, 365 bis 378, 380 bis 386, 387 Abs. 1 und 2, §§ 388 bis 390, 392 bis 406 Absatz 1 bis 4, die §§ 407 bis 444, 478 bis 484 der Zivilprozeßordnung entsprechend anzuwenden. Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Weigerung nach § 387 der Zivilprozeßordnung ergeht durch Beschluß.

(2) Zeugen und Sachverständige werden nur beeidigt, wenn das Gericht dies im Hinblick auf die Bedeutung des Zeugnisses oder Gutachtens für die Entscheidung des Rechtsstreits für notwendig erachtet.

(3) Der Vorsitzende kann das Auftreten eines Prozeßbevollmächtigten untersagen, solange die Partei trotz Anordnung ihres persönlichen Erscheinens unbegründet ausgeblieben ist und hierdurch der Zweck der Anordnung vereitelt wird.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil sie jedenfalls unbegründet ist.

2

Zwar umfasst der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich auch die ergänzende Anhörung von gerichtlichen Sachverständigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Januar 2012 - 1 BvR 2728/10 -, juris, Rn. 13). Art. 103 Abs. 1 GG verlangt jedoch nicht, einem Antrag auf mündliche Anhörung der Sachverständigen ausnahmslos Folge zu leisten, selbst wenn der Antrag rechtzeitig und nicht missbräuchlich gestellt ist (BVerfG, a.a.O., Rn. 15). Da Art. 103 Abs. 1 GG keinen Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung enthält (vgl. BVerfGE 60, 175 <210 f.>; 89, 381 <391>; 112, 185 <206> m.w.N.), besteht auch kein verfassungsrechtlicher Anspruch, das einfachrechtlich geregelte Fragerecht gegenüber Sachverständigen und Zeugen in jedem Fall mündlich auszuüben (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Januar 2012 - 1 BvR 2728/10 -, juris, Rn. 15 m.w.N.). Es ist verfassungsrechtlich daher jedenfalls nicht zu beanstanden, wenn die Fachgerichte die Beteiligten vorrangig darauf verweisen, Fragen und Einwendungen schriftlich vorzutragen, um Sachverständige oder sachverständige Zeugen damit zu konfrontieren. Die gegebenenfalls anschließende mündliche Befragung kann möglicherweise aber dann geboten sein, wenn sie sich nicht in der Wiederholung schriftlicher Äußerungen erschöpft, sondern darüber hinaus einen Mehrwert hat. Auch in diesem Fall ist es verfassungsrechtlich jedoch unbedenklich, wenn die Fachgerichte an die Beantragung mündlicher Sachverständigenbefragungen nicht weniger Anforderungen stellen als an eine schriftliche Befragung, die die Benennung konkreter Fragen und Einwendungen voraussetzt. Gegen die Einschätzung des Landessozialgerichts, dass es hieran im vorliegenden Fall gefehlt habe, ist verfassungsrechtlich nichts zu erinnern.

3

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

4

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Tenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 9. Juli 2010 - 5 U 219/09 - sowie das Urteil des Landgerichts Rostock vom 14. Oktober 2009 - 10 O 315/07 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Der ebenfalls angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 1. September 2010 - 5 U 219/09 - wird damit gegenstandslos. Die Sache wird an das Landgericht Rostock zurückverwiesen.

2. ...

3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 7.000 € (in Worten: siebentausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist eine Streitigkeit aus dem Arzthaftungsrecht.

2

1. Der Beschwerdeführer hatte sich durch die Beklagten des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Beklagte) an der Bandscheibe operieren lassen. Nach der Operation wurde festgestellt, dass hierbei offenbar ein Bauchmuskelnerv durchtrennt worden war. Der Beschwerdeführer machte hierauf vor dem Landgericht einen Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 10.000 € geltend.

3

Das Landgericht holte ein Sachverständigengutachten ein. Der Beschwerdeführer beantragte nach Vorlage des Gutachtens, den Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung des Gutachtens zu laden; die Frage, ob die Durchtrennung eines bestimmten Nervs für die Operation notwendig gewesen sei, habe der Sachverständige nicht beantwortet. Das Landgericht kam dem Antrag nicht nach und wies die Klage nach mündlicher Verhandlung ab. Zur Begründung führte es insoweit aus, dass das Recht auf mündliche Anhörung des Sachverständigen nicht grenzenlos gelte. Zwar müsse die Partei keine konkreten Fragen formulieren; nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Hinweis auf BGHZ 24, 9 <14 f.>) sei genügend, aber auch erforderlich, dass die Partei allgemein die Richtung angebe, in die eine weitere Aufklärung herbeigeführt werden solle. Das habe der Beschwerdeführer nicht beachtet.

4

Hiergegen legte der Beschwerdeführer Berufung ein, die das Oberlandesgericht nach vorherigem Hinweis mit Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückwies. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die Durchtrennung der Nervenfasern ausweislich des durch das Landgericht eingeholten Sachverständigengutachtens in einzelnen Fällen aufgrund anatomischer Varianten nicht vermeidbar und damit nicht schuldhaft erfolgt sei. Der Einwand des Beschwerdeführers, der Sachverständige habe sich nicht mit der Frage beschäftigt, ob bei ihm anatomische Besonderheiten vorgelegen hätten, und habe nicht erörtert, ob es nicht naheliegender sei, dass der Operateur den Nerv aufgrund Unachtsamkeit oder Nachlässigkeit durchtrennt habe, mache das Gutachten nicht unvollständig oder gar unbrauchbar. Der Sachverständige habe nicht feststellen können, ob letztlich anatomische Varianten oder eine geringe Resistenz gegenüber Manipulation und Zug zu der Nervenschädigung geführt hätten, dies aber als naheliegende und wahrscheinliche Möglichkeit angesehen.

5

Eine hiergegen erhobene Anhörungsrüge wies das Oberlandesgericht zurück. Zur Begründung führte es aus, dass alle Argumente des Beschwerdeführers berücksichtigt worden seien. Es stelle keinen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs dar, dass der Senat gemäß § 522 Abs. 2 ZPO von einer mündlichen Verhandlung abgesehen und daher den Sachverständigen nicht angehört habe. Zwar sei richtig, dass die Bindung des Berufungsgerichts an die im ersten Rechtszug festgestellten Tatsachen gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich entfalle, wenn das Erstgericht dem Antrag einer Partei auf Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen nicht entsprochen habe; auch müsse das Berufungsgericht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Hinweis auf BGH, Beschluss vom 10. Mai 2005 - VI ZR 245/04 -, MDR 2005, S. 1308) in einem solchen Fall dem im zweiten Rechtszug wiederholten Antrag grundsätzlich stattgeben. Im konkreten Fall gelte dies jedoch nicht. Denn trotz des Verfahrensfehlers des Landgerichts bestünden hier keine konkreten Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers könne ausgeschlossen werden, dass eine andere Entscheidung gerechtfertigt wäre. Jegliche Zweifel würden durch die gut nachvollziehbaren Bewertungen des Sachverständigen ausgeräumt.

6

2. Gegen die genannten Entscheidungen hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei einem Antrag einer Partei auf Ladung des Sachverständigen zur Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens grundsätzlich zu entsprechen. Dem seien aber weder Landgericht noch Oberlandesgericht nachgekommen. Das Oberlandesgericht habe den Verfahrensfehler des Landgerichts zwar gesehen, diesen aber für unbeachtlich gehalten. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht nach Anhörung des Sachverständigen zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

7

3. Die Verfassungsbeschwerde wurde dem Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern sowie den Beklagten zugestellt. Es wurden keine Stellungnahmen abgegeben.

8

4. Die Akte des Ausgangsverfahrens lag der Kammer vor.

II.

9

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des grundrechtsgleichen Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.

10

1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG.

11

a) Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, dass sowohl die gesetzliche Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Maß an rechtlichem Gehör eröffnet, das dem Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes auch in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gerecht wird und den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (vgl. BVerfGE 55, 1 <6>; 60, 305 <310>; 74, 228 <233>). Insbesondere haben die Beteiligten einen Anspruch darauf, sich vor Erlass der gerichtlichen Entscheidung zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern. Dem entspricht die Verpflichtung der Gerichte, Anträge und Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 67, 39 <41>; 86, 133 <146>).

12

aa) Die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs ist den Verfahrensordnungen überlassen, die im Umfang ihrer Gewährleistungen auch über das von Verfassungs wegen garantierte Maß hinausgehen können. Nicht jeder Verstoß gegen Vorschriften des Verfahrensrechts ist daher zugleich auch eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Die Schwelle einer solchen Verfassungsverletzung wird vielmehr erst erreicht, wenn die Gerichte bei der Auslegung oder Anwendung des Verfahrensrechts die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt haben (vgl. BVerfGE 60, 305 <310 f.>). Verletzungen einfachrechtlicher Verfahrensvorschriften sind somit im Einzelfall daraufhin zu überprüfen, ob unter Berücksichtigung des Wirkungszusammenhangs aller einschlägigen Normen der betroffenen Verfahrensordnung durch sie das unabdingbare Mindestmaß des verfassungsrechtlich gewährleisteten rechtlichen Gehörs verletzt worden ist (vgl. BVerfGE 60, 305 <311>).

13

bb) Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst grundsätzlich auch die Anhörung gerichtlicher Sachverständiger (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 1998 - 1 BvR 909/94 -, NJW 1998, S. 2273).

14

(1) Nach § 402 ZPO in Verbindung mit § 397 ZPO sind die Parteien berechtigt, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten. Der Bundesgerichtshof hat daraus in ständiger Rechtsprechung die Pflicht der Gerichte abgeleitet, dem Antrag einer Partei auf mündliche Befragung gerichtlicher Sachverständiger nachzukommen (vgl. BGHZ 6, 398 <400 f.>; BGH, Urteil vom 21. Oktober 1986 - VI ZR 15/85 -, NJW-RR 1987, S. 339 <340>; BGH, Urteil vom 17. Dezember 1996 - VI ZR 50/96 -, NJW 1997, S. 802 <802 f.>). Auf die Frage, ob das Gericht selbst das Sachverständigengutachten für erklärungsbedürftig hält, komme es nicht an. Es gehöre zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs, dass die Parteien den Sachverständigen Fragen stellen, ihnen Bedenken vortragen und sie um eine nähere Erläuterung von Zweifelspunkten bitten können (BGH, Urteil vom 21. Oktober 1986, a.a.O.). Ein Antrag auf Anhörung des Sachverständigen könne allerdings dann abgelehnt werden, wenn er verspätet oder rechtsmissbräuchlich gestellt wurde (BGHZ 35, 370 <371>; BGH, Urteile vom 21. Oktober 1986, a.a.O., und vom 17. Dezember 1996, a.a.O.). Habe das Erstgericht einem Antrag auf mündliche Anhörung des Sachverständigen verfahrensfehlerhaft nicht entsprochen, müsse das Berufungsgericht dem in zweiter Instanz wiederholten Antrag stattgeben (BGH, Beschlüsse vom 10. Mai 2005 - VI ZR 245/04 -, juris, und vom 14. Juli 2009 - VIII ZR 295/08 -, NJW-RR 2009, S. 1361 <1362>).

15

(2) Beachtet ein Gericht diese verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht, so liegt darin jedenfalls dann ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es einen Antrag auf Erläuterung des Sachverständigengutachtens völlig übergeht oder ihm allein deshalb nicht nachkommt, weil das Gutachten ihm überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erscheint. Dagegen verlangt Art. 103 Abs. 1 GG nicht, einem rechtzeitigen und nicht missbräuchlichen Antrag auf Anhörung der Sachverständigen ausnahmslos Folge zu leisten. Die mündliche Anhörung des Sachverständigen ist zwar die nächstliegende, aber nicht die einzig mögliche Behandlung eines derartigen Antrags (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 1998, a.a.O.; vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 1991 - VI ZR 234/90 -, NJW 1992, S. 1459 f.).

16

b) Einer Prüfung anhand dieser Maßstäbe halten die angegriffenen Entscheidungen nicht stand.

17

aa) Zwar hat sich das Oberlandesgericht sowohl mit dem Antrag des Beschwerdeführers auf Anhörung des Sachverständigen als auch mit der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eingehend auseinander gesetzt. Letzten Endes ist es dem Antrag jedoch allein deshalb nicht nachgekommen, weil es davon ausging, dass auch bei einer Anhörung die "eindeutigen und auch für die Parteien und das Gericht gut nachvollziehbaren Bewertungen" des Sachverständigen nicht in Frage gestellt worden wären; dies gelte umso mehr, als es sich um eine "für Arzthaftungssachen relativ einfache" Beweisfrage gehandelt habe. Damit hat sich das Oberlandesgericht allein darauf gestützt, dass ihm das Gutachten überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erschien.

18

bb) Die Entscheidung des Landgerichts leidet unter dem gleichen Mangel.

19

(1) So wird in der Urteilsbegründung ausgeführt, dass eine Ladung des Sachverständigen zum Termin nicht erforderlich gewesen sei, da "das Gutachten in sich schlüssig und nachvollziehbar" gewesen sei. Dabei verkennt das Landgericht ebenfalls, dass ein Antrag auf Erläuterung des Sachverständigengutachtens in Anbetracht des Rechts auf rechtliches Gehör nicht allein deshalb abgelehnt werden kann, weil ein Gutachten dem Gericht überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erscheint.

20

(2) Darüber hinaus geht die Einschätzung des Landgerichts fehl, eine Anhörung des Sachverständigen sei auch deshalb nicht erforderlich gewesen, weil der Beschwerdeführer nicht einmal allgemein angegeben habe, in welche Richtung er durch Fragen eine weitere Aufklärung herbeizuführen wünsche. Tatsächlich hat der Beschwerdeführer vorgetragen, dass der Sachverständige die Frage, ob die Durchtrennung eines Nervs für die Operation erforderlich gewesen sei, nicht beantwortet habe; hieraus lässt sich ohne Weiteres erkennen, dass der Beschwerdeführer in dieser Richtung noch tatsächlichen Aufklärungsbedarf sah. Mithin hat das Landgericht entweder den genannten Vortrag des Beschwerdeführers nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen, oder es hat die Voraussetzungen, unter denen einem Antrag auf Anhörung des Sachverständigen nachgekommen werden muss, angesichts der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs in erheblichem Maße überspannt. In jedem Fall offenbart sich in der Vorgehensweise des Landgerichts eine grundsätzliche Verkennung der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör.

21

2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auch auf dem Grundrechtsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es dem Beschwerdeführer in einer mündlichen Anhörung gelungen wäre, das Sachverständigengutachten in Frage zu stellen und damit auch die Überzeugung der Gerichte von dessen Richtigkeit zu erschüttern.

III.

22

Das Urteil des Landgerichts und der die Berufung zurückweisende Beschluss des Oberlandesgerichts sind hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben; die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen. Der die Anhörungsrüge zurückweisende Beschluss des Oberlandesgerichts wird damit gegenstandslos.

23

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Der nach § 37 Abs. 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit beträgt 7.000 €. Der Streitwert des Ausgangsverfahrens wurde um 30 % vermindert, da der Ausgangsstreit durch das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht endgültig beigelegt werden kann und die Rechtssache nur Probleme von unterdurchschnittlichem Schwierigkeitsgrad aufwarf (vgl. BVerfGE 79, 365 <371>).

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Februar 2013 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

Gründe

1

I. Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, auch bei Berufsunfähigkeit. Ihr Rentenantrag vom April 2006 blieb im Verwaltungs-, Widerspruchs-, Klage- und Berufungsverfahren erfolglos.

2

Im vom Senat (Beschluss vom 9.12.2010 - B 13 R 170/10 B) zurückverwiesenen Berufungsverfahren hat das LSG die zunächst verfahrensfehlerhaft (vgl dazu Senatsbeschluss aaO RdNr 18) unterbliebenen Anhörungen der Sachverständigen Dr. L. und Dr. M. auf die Einwände der Klägerin zu ihren im Jahr 2009 erstellten Gutachten eingeholt. Dr. M. hat zudem eine zusammenfassende Stellungnahme zu den Gesundheitsstörungen der Klägerin auf allen Fachgebieten abgegeben (Dr. L. vom 30.5.2011; Dr. M. vom 25.7.2011). Die nicht rechtskundig vertretene Klägerin hat daraufhin gegen die Beantwortung ihrer an die Sachverständigen gerichteten Fragen erneut Einwände erhoben (Schreiben vom 15.9. und 7.11.2011), zu denen diese wiederum Stellung genommen haben (Dr. L. vom 21.2.2012; Dr. M. vom 29.3.2012). In weiteren Schreiben (vom 4.4. und 4.6.2012) hat die Klägerin vorgetragen, dass ihre Fragen nach wie vor unzureichend beantwortet geblieben seien, und hat die mündliche Anhörung der Sachverständigen verlangt. Mit Schreiben vom 26.9.2012 hat die Klägerin einen an beide Sachverständige gerichteten Fragenkatalog überreicht. In der mündlichen Verhandlung vom 17.10.2012 hat sie der Sachverständigen Dr. M. einen Fragenkatalog (Fragen 1 bis 19.3 = 22 Fragen) zur Beantwortung vorgelegt. Nachdem die Sachverständige die Fragen 1 bis 9 mündlich beantwortet hatte (s Sitzungsprotokoll, Bl 434 ff LSG-Akte), hat das LSG die mündliche Verhandlung vertagt und Dr. M. die schriftliche Beantwortung der restlichen Fragen (10 bis 19.3) aufgegeben. Die Sachverständige hat diese Fragen mit dem Ergebnis beantwortet, dass sich keine Änderung der sozialmedizinischen Beurteilung im Vergleich zu ihrem Gutachten vom 19.10.2009 ergebe (Stellungnahme vom 15.11.2012). Im Schreiben vom 29.12.2012 hat die Klägerin ausgeführt, dass ihre Fragen (Nr 1 bis 19.3) jeweils nicht ausreichend beantwortet worden seien und hat fünf weitere an Dr. L. gerichtete Fragen formuliert.

3

In der mündlichen Verhandlung vom 27.2.2013 hat die Klägerin insbesondere an ihrem im Schreiben vom 29.12.2012 formulierten Fragenkatalog festgehalten und die schriftliche oder mündliche Anhörung von Dr. L. und Dr. M. beantragt, hilfsweise hat sie unter Bezugnahme auf ihren Schriftsatz vom 15.9.2011 die Einholung eines berufskundlichen Gutachtens und eines Gutachtens auf dem Gebiet der interdisziplinären Schmerztherapie beantragt.

4

Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs 1, 2 SGB VI), auch nicht bei Berufsunfähigkeit (§ 240 Abs 1 und Abs 2 SGB VI) habe. Im streitigen Zeitraum bis Oktober 2011 sei die Klägerin noch in der Lage gewesen, mindestens sechs Stunden täglich leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung ihrer qualitativen Gesundheitsstörungen zu verrichten. Dies folge aus den überzeugenden Gutachten der Sachverständigen Dr. M. und Dr. L. Ihre ergänzenden schriftlichen Stellungnahmen und die mündliche Anhörung von Dr. M. hätten zu keinem anderen Ergebnis geführt. Dr. M. habe die von der Klägerin vorgebrachten Vorbehalte überzeugend widerlegt. Der in der mündlichen Verhandlung erneut gestellte Antrag, die Sachverständigen zu diversen Fragen zu hören, sei objektiv nicht sachdienlich und daher abzulehnen gewesen. Bei der Klägerin liege weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor; doch selbst, wenn man dies unterstellte, sei die Klägerin in der Lage, Tätigkeiten als Telefonistin oder als Reiseverkehrskauffrau nach einer kurzen Umstellungsphase zu verrichten. Von einer solchen Verwendbarkeit seien Dr. M. und Dr. L. unter Berücksichtigung der in das Verfahren eingeführten berufskundlichen Stellungnahme des Landesarbeitsamts Hessen vom 28.2.2010 ausgegangen. Relevante Einschränkungen in der Wegefähigkeit der Klägerin seien unter Berücksichtigung aller medizinischen Erkenntnisse nicht festzustellen gewesen. Die Klägerin könne auch keine Erwerbsminderungsrente bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) verlangen. Ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Reiseleiterin sei eine ungelernte Tätigkeit; von dem erlernten Beruf der Reiseverkehrskauffrau habe sich die Klägerin bereits im Jahr 1996 gelöst. Sie genieße daher keinen Berufsschutz. Im Übrigen habe sie die Grenze des Rechtsmissbrauchs überschritten, wenn sie im Schriftsatz vom 29.12.2012 und in der mündlichen Verhandlung die erneute Befragung der Sachverständigen zu von ihr wiederholt aufgeworfenen Fragen beantragt habe. Beide Sachverständige hätten sich umfassend und ausführlich mit den von der Klägerin vorgetragenen Einwänden, Fragen und Vorhalten befasst und diese hinlänglich beantwortet. Zur Einholung eines berufskundlichen oder eines weiteren medizinischen Gutachtens habe nach den umfangreichen Sachverhaltsermittlungen kein Anlass mehr bestanden.

5

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin Verfahrensmängel und eine Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 und Nr 3 SGG. Das LSG habe den "verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, indem es die Anträge der Klägerin auf mündliche Anhörung des Sachverständigen Dr. L. und erneute Anhörung der Sachverständigen Dr. M. bzw deren ergänzende schriftliche Befragung unter Verstoß gegen § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO übergangen" und die Beweisanträge der Klägerin auf Einholung eines medizinischen und eines berufskundlichen Gutachtens abgelehnt habe. Aus dieser Verfahrensweise ergebe sich eine Abweichung von der Rechtsprechung des BSG bzw des BVerfG (S 48 der Beschwerdebegründung).

6

II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig aber unbegründet, soweit sie Verfahrensmängel geltend macht. Im Übrigen ist die Beschwerde unzulässig.

7

1. Soweit die Klägerin eine Verletzung ihres Fragerechts nach § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO und damit ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs(§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) geltend macht, ist die Gehörsrüge zwar hinreichend bezeichnet. In der Sache trifft sie jedoch nicht zu.

8

Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BSG, dass unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, jedem Beteiligten gemäß § 116 S 2, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO das Recht zusteht, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die er zur Aufklärung der Sache für dienlich erachtet(stRspr, vgl BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1, 2; Senatsbeschluss vom 17.4.2012 - B 13 R 355/11 B; BVerfG vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 - NJW 1998, 2273 - Juris RdNr 11).

9

Sachdienlichkeit iS von § 116 S 2 SGG ist insbesondere dann zu bejahen, wenn sich die Fragen im Rahmen des Beweisthemas halten und nicht abwegig oder bereits eindeutig beantwortet sind. Abgelehnt werden kann ein solcher Antrag prozessordnungsgemäß auch dann, wenn er rechtsmissbräuchlich gestellt ist, insbesondere wenn die Notwendigkeit einer Erörterung überhaupt nicht begründet wird, wenn die an den Sachverständigen zu richtenden Fragen nicht hinreichend genau benannt oder nur beweisunerhebliche Fragen angekündigt werden (vgl BVerfG vom 29.8.1995 - 2 BvR 175/95 - NJW-RR 1996, 183 - Juris RdNr 29 mwN). Das auf den og Rechtsgrundlagen beruhende Fragerecht begründet hingegen keinen Anspruch auf stets neue Befragungen, wenn der Beteiligte und der Sachverständige in ihrer Beurteilung nicht übereinstimmen.

10

Der Senat kann offenlassen, ob sich das Verhalten der Klägerin insgesamt als verfahrensverzögernd und damit rechtsmissbräuchlich darstellt. Jedenfalls sind die von der Klägerin dem LSG vorgelegten Fragen, zuletzt im Schreiben vom 29.12.2012, mit denen sie die schriftliche oder mündliche Anhörung der Sachverständigen erreichen wollte, nicht sachdienlich. Denn sie sind entweder bereits eindeutig beantwortet oder beweisunerheblich. Einer weiteren Anhörung der Sachverständigen bedarf es daher nicht.

11

a) Die Fragen 1 bis 19.3 im Fragenkatalog vom 17.10.2012 (wiederholt im Schreiben vom 29.12.2012) hat die Sachverständige Dr. M. im Termin zur mündlichen Verhandlung am 17.10.2012 und zuletzt in ihrer Stellungnahme vom 15.11.2012 eindeutig beantwortet:

12

Zu Frage 1 (psychologische Testverfahren) hat Dr. M. unmissverständlich ausgeführt, dass die angewandten psychologischen Testverfahren in Rentenverfahren nur eine untergeordnete Rolle spielen und hat dargelegt, welche anderen Faktoren sie bei der Bewertung von Leistungseinschränkungen als Folge einer Depression zugrunde gelegt hat.

13

Zu Fragen 2 bis 4 (Tinnitus) hat Dr. M. klargestellt, dass kein dekompensierter Tinnitus vorliegt, der zu maßgeblichen Leistungseinschränkungen führt. Zudem hat das LSG festgestellt, dass der Tinnitus erstmals zu einem Zeitpunkt nachgewiesen wurde, als die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt waren. Es besteht daher kein Grund, die Sachverständige erneut zu befragen, ob sie an ihrer Einschätzung festhält.

14

Zu Fragen 4 und 5 (psychische Beeinträchtigungen) hat Dr. M. ausführlich begründet, weshalb nach ihrer Einschätzung ein eher geringer Leidensdruck in Bezug auf die psychischen Beschwerden bei der Klägerin besteht. Dass die Klägerin diese Einschätzung nicht teilt, begründet keine Notwendigkeit, die Sachverständige erneut zu befragen, ob sie ihre Einschätzung ändert.

15

Auf Frage 6 hat Dr. M. eindeutig geantwortet, dass sie ihre Beurteilung in Kenntnis des Befundberichts der die Klägerin behandelnden Hausärztin nicht ändert.

16

Gegen die Beantwortung von Frage 7 hat die Klägerin in der Beschwerdebegründung (S 56) keine Einwände mehr erhoben.

17

Frage 8 (berufskundliche Kenntnisse der Sachverständigen) hat Dr. M. eindeutig beantwortet.

18

Fragen 9 bis 12 (Wegefähigkeit) hat Dr. M. sowohl mündlich als auch in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 15.11.2012 eindeutig beantwortet. Dass die Klägerin die Ergebnisse dieser Einschätzung nicht teilt, begründet keine Notwendigkeit, die Sachverständige erneut anzuhören.

19

Fragen 13 und 14 (Einsatz von Schmerzmitteln und Schonhaltung) sind von Dr. M. in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 15.11.2012 eindeutig beantwortet worden. Es besteht daher kein Anlass nachzufragen, ob die Sachverständige von dieser Einschätzung abrücken möchte.

20

Frage 15 (Asthma bronchiale und kardiovaskuläre Risikofaktoren) hat Dr. M. in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 15.11.2012 eindeutig beantwortet. Hiernach hat sie bei Beurteilung der Leistungseinschränkungen auch das Asthma bronchiale berücksichtigt, soweit den ärztlichen Unterlagen objektive Befunde zu Grunde lagen, und im Übrigen auf die Ergebnisse der internistischen Begutachtungen (zuletzt Gutachten des Internisten M. vom 15.11.2007) verwiesen.

21

Zu Frage 16 hat Dr. M. in ihrer Stellungnahme vom 15.11.2012 deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie ihre Beurteilung zum Leistungsvermögen der Klägerin auch in Kenntnis, dass diese ihre Schriftsätze nicht selbst verfasst oder geschrieben habe, aufrechterhält.

22

Die Notwendigkeit einer erneuten Beantwortung der Fragen 17 bis 19.3 hat die Klägerin in der Beschwerdebegründung (S 64) nicht mehr geltend gemacht.

23

Schließlich hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf eine weitere mündliche Anhörung der Sachverständigen Dr. M. zu den bereits schriftlich beantworteten Fragen. Art 103 Abs 1 GG gewährt keinen Anspruch darauf, das Fragerecht gegenüber Sachverständigen in jedem Fall mündlich auszuüben (vgl BVerfG vom 29.5.2013 - 1 BvR 1522/12 - Juris RdNr 2; vgl auch BVerfG vom 17.1.2012 - 1 BvR 2728/10 - NJW 2012, 1346, Juris RdNr 15 mwN). Es ist nicht erkennbar - und von der Klägerin auch nicht eingewendet -, dass eine mündliche Befragung einen über die Wiederholung schriftlicher Äußerungen hinausreichenden Mehrwert hätte (vgl BVerfG vom 29.5.2013, aaO).

24

b) Soweit die Klägerin die erneute Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen Dr. L. zu den Fragen 1 bis 5 im Schreiben vom 29.12.2012 beantragt hat, gilt nichts anderes. Die dort gestellten Fragen 1 bis 4 (zum Beruf der Warenaufmacherin; zur Berücksichtigung von wechselnden Körperpositionen, der Harndrang-Inkontinenz, der Geschicklichkeit der Hände bei Ausübung von Tätigkeiten als Pförtnerin, Mitarbeiterin in einer Poststelle bzw als Telefonistin) sind nicht beweiserheblich, denn das LSG hat die Klägerin nicht auf solche Tätigkeiten verwiesen (S 29, letzter Abs der Entscheidungsgründe). Frage 5 (zur somatoformen Schmerzstörung) hat Dr. L. (S 4 der Stellungnahme vom 30.5.2011) eindeutig beantwortet, wonach die Beurteilung der somatoformen Schmerzstörung Gegenstand des Gutachtens von Dr. M. gewesen ist.

25

2. Ausgehend von seiner Rechtsansicht musste sich das LSG auch noch nicht gedrängt sehen (vgl dazu BSG SozR 1500 § 160 Nr 5 S 6), den hilfsweise gestellten Beweisanträgen auf Einholung eines Gutachtens auf dem Gebiet der interdisziplinären Schmerztherapie bzw eines berufskundlichen Gutachtens nachzugehen. Daher kann dahingestellt bleiben, ob prozessordnungsgemäße Beweisanträge gestellt worden sind (vgl § 118 Abs 1 SGG iVm §§ 402, 403 ZPO).

26

a) Die Frage, ob bei der Klägerin eine somatoforme Schmerzstörung vorliegt und welche Leistungseinschränkungen hieraus resultieren, hat Dr. M. in ihrem Gutachten vom 19.10.2009 und den mehrfachen ergänzenden Stellungnahmen hinlänglich beantwortet (zuletzt in ihrer Stellungnahme vom 15.11.2012, Fragen 13 und 14). Die Notwendigkeit der Einholung eines Zusatzgutachtens auf dem Gebiet der "interdisziplinäre(n) Schmerztherapie" hat die Klägerin nicht ansatzweise substantiiert begründet, auch nicht in dem von ihr in Bezug genommenen Schriftsatz vom 15.9.2011, in dem sie auf die von Dr. M. diagnostizierte Schmerzstörung verwiesen und dort jedenfalls keine Einwände erhoben hat.

27

b) Das LSG musste sich auch nicht gedrängt sehen, ein berufskundliches Gutachten einzuholen zu der Frage, ob sich die Klägerin innerhalb von drei Monaten auf die aktuellen Anforderungen an den Beruf der Reiseverkehrskauffrau ein- bzw umstellen kann (Schriftsatz vom 15.9.2011). Denn hierauf kommt es nicht entscheidungserheblich an. Das LSG hat festgestellt, dass die Klägerin noch in der Lage gewesen ist, mindestens sechs Stunden täglich leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im streitigen Zeitraum bis Oktober 2011 zu verrichten. Es hat ferner unter Berücksichtigung der qualitativen Leistungseinschränkungen der Klägerin (S 14 ff der Entscheidungsgründe LSG) weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung festgestellt (S 22 Abs 2, S 23 vorletzter Abs der Entscheidungsgründe) und unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG (vom 10.12.2003 - B 5 RJ 64/02 R - BSG SozR 4-2600 § 44 Nr 1) ausgeführt, es sei nicht zu befürchten, dass der allgemeine Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung der qualitativen Leistungseinschränkungen für die Klägerin verschlossen sei. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl nur Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R - BSGE 109, 189 = SozR 4-2600 § 43 Nr 16, RdNr 36 ff)besteht in einem solchen Fall kein Erfordernis, der Klägerin eine Verweisungstätigkeit zu benennen. Nur für den - hier nicht festgestellten - Fall des Vorliegens einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung wäre erheblich, ob die Klägerin noch bestimmte Verweisungstätigkeiten ausüben kann. Da sie sich nach den Feststellungen des LSG auch auf keinen Berufsschutz berufen kann, weil sie sich bereits Mitte der 90iger Jahre von ihrem erlernten Beruf der Reiseverkehrskauffrau gelöst hat, musste es sich auch für die Frage, ob ein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) besteht, zu keinen weiteren berufskundlichen Ermittlungen gedrängt sehen.

28

3. Soweit sich die Klägerin auf eine Divergenz beruft, hat sie eine Rechtsprechungsabweichung nicht hinreichend bezeichnet (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG iVm § 160a Abs 2 S 3 SGG). Insofern ist die Nichtzulassungsbeschwerde bereits unzulässig.

29

Divergenz liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zu Grunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Dies ist der Fall, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt hat, der von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht. Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn das Urteil des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Abweichung. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass das angefochtene Urteil auf der Abweichung beruht.

30

Zur formgerechten Rüge des Zulassungsgrundes der Divergenz gehört es, in der Beschwerdebegründung nicht nur eine Entscheidung genau zu bezeichnen, von der die Entscheidung des LSG abgewichen sein soll; es ist auch deutlich zu machen, worin genau die Abweichung zu erachten sein soll. Der Beschwerdeführer muss daher darlegen, zu welcher konkreten Rechtsfrage eine die Berufungsentscheidung tragende Abweichung in den rechtlichen Ausführungen enthalten sein soll. Er muss mithin einen abstrakten Rechtssatz der vorinstanzlichen Entscheidung und einen abstrakten Rechtssatz aus dem höchstrichterlichen Urteil so bezeichnen, dass die Divergenz erkennbar wird. Nicht hingegen reicht es aus, auf eine bestimmte höchstrichterliche Entscheidung mit der Behauptung hinzuweisen, das angegriffene Urteil weiche hiervon ab. Schließlich muss aufgezeigt werden, dass das Revisionsgericht die oberstgerichtliche Rechtsprechung in einem künftigen Revisionsverfahren seiner Entscheidung zu Grunde zu legen haben wird (zum Ganzen vgl BSG vom 25.9.2002 - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 72 f mwN).

31

Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Die Klägerin hat es bereits versäumt, zwei sich einander widersprechende abstrakte Rechtssätze aus dem angefochtenen Berufungsurteil und aus einem Urteil des BSG bzw des BVerfG gegenüberzustellen. Hierfür genügt es jedenfalls nicht, die Ausführungen aus dem Beschluss des BVerfG vom 3.2.1998 (1 BvR 909/94, NJW 1998, 2273) umfänglich wiederzugeben (S 48 f der Beschwerdebegründung). Ebenso wenig reicht es vorzutragen, dass die angefochtene Entscheidung mit der Rechtsprechung des BSG nicht vereinbar sei, weil das LSG den Antrag der Klägerin auf erneute Befragung der Sachverständigen übergangen habe. Mit diesem Vortrag kleidet die Klägerin die zuvor erhobene Gehörsrüge lediglich in das Gewand einer Divergenzrüge. Auch damit aber kann sie nicht durchdringen.

32

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

33

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs 1 SGG.

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. November 2011 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

Das Hessische LSG hat im Urteil vom 25.11.2011 einen Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung verneint.

2

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem genannten LSG-Urteil macht sie Verfahrensmängel geltend.

3

Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig. Ihre Beschwerdebegründung vom 21.2.2012 genügt nicht der vorgeschriebenen Form, denn sie hat einen Verfahrensmangel nicht ordnungsgemäß bezeichnet (§ 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 S 3 SGG).

4

Wird die Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensmangels begehrt, ist in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde die bundesrechtliche Verfahrensnorm, die das Berufungsgericht verletzt haben soll, hinreichend genau zu benennen. Zudem müssen die tatsächlichen Umstände, welche den Verstoß begründen sollen, substantiiert dargetan und darüber hinaus muss dargestellt werden, inwiefern die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 4, Nr 21 RdNr 4 - jeweils mwN; Krasney in Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Aufl 2011, Kap IX RdNr 202 ff). Dabei ist zu beachten, dass ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG gestützt werden kann(§ 160 Abs 2 Nr 3 Teils 2 SGG)und dass die Rüge einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach § 103 SGG nur statthaft ist, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist(§ 160 Abs 2 Nr 3 Teils 3 SGG).

5

Diesen Anforderungen wird das Vorbringen der Klägerin nicht gerecht:

6

1. Sie rügt zunächst, das LSG habe gegen seine Verpflichtung zur Amtsermittlung (§ 103 SGG) verstoßen, weil es von ihr gestellten Beweisanträgen ohne hinreichende Begründung nicht nachgekommen sei. Sie habe im Schriftsatz vom 8.11.2011 den Antrag gestellt, "zum Beweis für die Tatsache, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum nicht in der Lage war, mindestens 6 Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein,

        

(1)     

den Diplom-Psychologen R. S. … als sachverständigen Zeugen zu vernehmen,

        

(2)     

den Kardiologen Dr. med. A. P. … als sachverständigen Zeugen zu vernehmen,

        

(3)     

ein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten von Amts wegen einzuholen."

7

Diese Anträge habe sie in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich aufrechterhalten, was sich aus dem Verhandlungsprotokoll ergebe, auch wenn sie dort - ob versehentlich oder absichtlich - nur verkürzt dargestellt seien.

8

Für die Darlegung einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht, wie sie hier gerügt wird, gelten besondere Anforderungen. Insoweit muss die Beschwerdebegründung folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, auf deren Grundlage bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3) Darlegung der von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (5) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5 mwN).

9

Die Beschwerdebegründung der Klägerin erfüllt diese Erfordernisse nicht. Es fehlt bereits an der Bezeichnung eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags. Dies folgt in Bezug auf den Antrag (3) zur Einholung eines "weiteren" medizinischen Sachverständigengutachtens schon daraus, dass weder aufgezeigt wird, dass und weshalb die Voraussetzungen gegeben sind, von denen nach § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 412 Abs 1 ZPO die Einholung eines weiteren Gutachtens abhängig ist, noch angegeben wird, auf welchem medizinischen Fachgebiet ein zusätzlicher Sachverständiger gehört werden soll.

10

Hinsichtlich der Anträge (1) und (2) zur Vernehmung sachverständiger Zeugen liegen prozessordnungsgemäße Beweisanträge schon deshalb nicht vor, weil die berufliche Leistungsfähigkeit einer Person als solche nicht Gegenstand eines Zeugenbeweises sein kann (vgl Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 745). Auch sachverständige Zeugen (§ 414 ZPO) könnten nur zu einzelnen Anknüpfungstatsachen - etwa dem zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessenen Blutdruck oder die in einem bestimmten Zeitraum beobachtete psychische Verfassung der Klägerin - befragt werden, die für eine Einschätzung der Leistungsfähigkeit von Bedeutung sein können. Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit ist keine Bekundung wahrgenommener Tatsachen. Konkrete Einzeltatsachen, welche Dr. P. und S. mitteilen sollten, hat die Klägerin in ihrem Antrag entgegen den Anforderungen nach § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 373, 414 ZPO nicht bezeichnet.

11

2. Soweit sie beanstandet, dass das LSG den Sachverständigen Dr. J. nicht zur mündlichen Verhandlung geladen habe, damit sie ihm ergänzende Fragen stellen lassen könne, zielt sie nicht auf die Rüge eines Verstoßes des LSG gegen seine Verpflichtung zur Sachaufklärung von Amts wegen (§ 103 SGG). Vielmehr macht sie damit im Kern eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) geltend, der im Zusammenhang mit der Einholung von Sachverständigengutachten in § 116 S 2, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO eine spezifische Ausprägung erfahren hat(BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 6, Nr 2 RdNr 4). Auch insoweit erfüllt die Beschwerdebegründung jedoch nicht die Anforderungen an die Bezeichnung eines solchen Verfahrensmangels.

12

a) Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BSG, dass - unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegenden Möglichkeit, zur weiteren Sachaufklärung von Amts wegen das Erscheinen des Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung anzuordnen - jedem Beteiligten gemäß § 116 S 2, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO das Recht zusteht, einem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die er zur Aufklärung der Sache für dienlich erachtet(BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 7, Nr 2 RdNr 5; Senatsbeschluss vom 17.4.2012 - B 13 R 355/11 B - RdNr 13, jeweils mwN; s auch BVerfG vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/04 - NJW 1998, 2273 - Juris RdNr 11 f). Dies gilt auch dann, wenn der Sachverständige - wie hier - ein Gutachten auf Antrag des Beteiligten gemäß § 109 SGG erstellt hat(BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1 S 5 f; Senatsbeschluss aaO). Sachdienliche Fragen iS von § 116 S 2 SGG liegen dann vor, wenn sie sich im Rahmen des Beweisthemas halten und nicht abwegig oder bereits eindeutig beantwortet sind(BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 10). Hierbei müssen keine Fragen formuliert werden; es reicht vielmehr aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen (vgl Senatsbeschluss aaO RdNr 15; BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1). Hingegen fehlt es an der Sachdienlichkeit, wenn der Antrag auf Anhörung des Sachverständigen rechtsmissbräuchlich gestellt ist, insbesondere wenn die Notwendigkeit einer Erörterung überhaupt nicht begründet wird oder nur beweisunerhebliche Fragen angekündigt werden (vgl BVerfG vom 29.8.1995 - 2 BvR 175/95 - NJW-RR 1996, 183 = Juris RdNr 29, mwN zur Rspr des BGH). Da das Fragerecht an den Sachverständigen der Verwirklichung des rechtlichen Gehörs dient, ist weiterhin erforderlich, dass der Beteiligte alles getan hat, um die Anhörung des Sachverständigen zu erreichen. Dieser Obliegenheit ist er jedenfalls dann nachgekommen, wenn er einen darauf gerichteten Antrag rechtzeitig gestellt, dabei schriftlich objektiv sachdienliche Fragen angekündigt und das Begehren bis zuletzt aufrechterhalten hat (BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 7).

13

b) Zur schlüssigen Bezeichnung (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) einer Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen muss sich hiernach aus der Beschwerdebegründung ergeben, (1) dass der Beschwerdeführer einen Antrag auf Befragung des Sachverständigen gestellt und bis zum Schluss aufrechterhalten hat; (2) welche einer Erläuterung durch den Sachverständigen bedürftigen Punkte der Beschwerdeführer gegenüber dem LSG benannt hat; (3) aufgrund welcher Umstände die benannten Punkte sachdienlich waren, insbesondere ist bei einem Antrag auf wiederholte Befragung desselben Sachverständigen zu erläutern, weshalb die Punkte noch nicht durch bereits vorliegende Stellungnahmen des Sachverständigen geklärt waren; (4) aufgrund welcher Umstände der Antrag als rechtzeitig zu werten ist; (5) aufgrund welcher Umstände die angefochtene Entscheidung auf der unterlassenen Befragung des Sachverständigen beruhen kann.

14

c) Der Vortrag der Klägerin entspricht diesen Anforderungen nicht. Zwar trägt sie (s <1> der obigen Anforderungen) vor, dass sie im Schriftsatz vom 8.11.2011 den Antrag aus ihrem Schriftsatz vom 30.9.2011, Dr. J. zur mündlichen Verhandlung zu laden, aufrechterhalten habe und dass dieser Antrag von ihr in der mündlichen Verhandlung wiederum ausdrücklich aufrechterhalten worden sei (Beschwerdebegründung S 6). Im Schriftsatz vom 8.11.2011 habe sie ausgeführt, das Gutachten des Dr. J. sei insgesamt völlig unschlüssig. Aus dessen ergänzender Stellungnahme vom 1.11.2011 ergebe sich nämlich, dass sie allenfalls dann in der Lage sei, die bestehenden Einschränkungen willentlich zu überwinden, wenn sie eine weitere Therapie unternehme und begleitend dazu Psychopharmaka einnehme; ersichtlich sei sie daher selbst nach Auffassung des Sachverständigen Dr. J. derzeit zu einer Erwerbstätigkeit noch nicht in der Lage. Auch weil dem Gutachten nicht entnommen werden könne, wie lange eine solche Therapie dauere, mit welchem Inhalt und Umfang und von welchem Therapeuten sie durchzuführen sei und ob sie überhaupt zu einem sicheren Erfolg führe, spreche alles dafür, dass sie jedenfalls derzeit nicht in der Lage sei, 6 Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein (Beschwerdebegründung S 4 f).

15

Diesen Ausführungen kann nicht entnommen werden, dass die Klägerin gegenüber dem LSG Punkte zum Gutachten des Dr. J. bzw zu dessen ergänzender Stellungnahme vom 1.11.2011 benannt hat, die einer Erläuterung durch den Sachverständigen bedürften (s <2> der obigen Anforderungen). Im Schriftsatz vom 8.11.2011 hat sie nach ihrer Darstellung vielmehr die bereits vorliegenden Ausführungen des Dr. J. gewürdigt und daraus abgeleitet, dass ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung eindeutig bestehe ("selbst nach Auffassung des Sachverständigen"). Hierin liegt jedoch keine Benennung erläuterungsbedürftiger Punkte. Zwar hat die Klägerin in der Beschwerdebegründung (S 9 2. Abs) dann konkrete Fragen formuliert; sie hat jedoch nicht hinreichend deutlich vorgetragen, dass diese bereits dem LSG gegenüber angekündigt gewesen seien. Sie gibt nämlich einerseits an, sie habe "in ihrem Schriftsatz vom 8.11.2011 zu Recht ausgeführt …, (dass) der Sachverständige dazu befragt werden (sollte), wieso …" (es folgen mehrere ausformulierte Fragen). Dem widerspricht jedoch andererseits nicht nur ihre eigene, oben wiedergegebene Darstellung des Inhalts jenes Schriftsatzes (auf S 4 f der Beschwerdebegründung), sondern auch die Angabe (S 7 der Beschwerdebegründung), das Berufungsurteil formuliere, die Klägerin habe im Schriftsatz vom 8.11.2011 zwar (lediglich) "angedeutet, zu welchem Fragenkomplex sie eine Anhörung des Sachverständigen Dr. J. durchgeführt wissen möchte"; eine "Beschreibung sachdienlicher Fragen" liege jedoch nicht vor.

16

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

17

Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

18

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Tenor

Der Antrag der Klägerin, ihr für das Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18. Juni 2013 Prozesskostenhilfe zu gewähren und ihr Rechtsanwalt B. aus H. beizuordnen, wird abgelehnt.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18. Juni 2013 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

I. Die 1969 geborene Klägerin begehrt in der Hauptsache die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Das beklagte Land lehnte ihren diesbezüglichen Antrag ab, weil sich der geltend gemachte sexuelle Missbrauch, der während der Kindheit der Klägerin durch den eigenen Vater erfolgt sein soll, nicht habe feststellen lassen (Bescheid vom 11.6.2004, Widerspruchsbescheid vom 6.1.2005). Das SG hat nach Einholung eines ärztlichen Gutachtens den Beklagten verurteilt, der Klägerin "Versorgung nach dem OEG nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 80 vH zu gewähren" (Urteil vom 5.3.2008). Das LSG hat auf die Berufung des beklagten Landes nach Vernehmung mehrerer Zeugen (Eltern, Bruder der Klägerin; frühere Lehrerinnen der Klägerin; frühere Freundinnen, früherer Freund der Klägerin) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen, weil nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG nicht habe festgestellt werden können(Urteil vom 24.2.2010). Der erkennende Senat hat auf die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision die Sache an das LSG zurückverwiesen. Die gerügte Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG)liege vor, weil das LSG dem Beweisantrag, die behandelnde Diplom-Psychologin G. zur Frage zu vernehmen, ob die bei der Klägerin festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückzuführen seien, ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei. Jedenfalls soweit es um die Vernehmung zu der Frage gehe, ob die Erinnerungen der Klägerin an sexuellen Missbrauch fremdinduziert (False-Memory-Syndrom) seien, habe es an einem Ablehnungsgrund gefehlt (Beschluss vom 7.4.2011).

2

Das LSG hat im wiedereröffneten Berufungsverfahren die Diplom-Psychologin G. als sachverständige Zeugin gehört, die eine Suggestion der Klägerin hinsichtlich der Genese ihrer Aussage zu sexuellen Übergriffen durch ihren Vater ausgeschlossen hat. Das LSG hat zusätzlich ein schriftliches aussagepsychologisches Gutachten bei Prof. Dr. K. eingeholt und diesen zur Erläuterung seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung vom 18.6.2013 angehört. Der Gutachter hat ua ausgeführt, bei der Klägerin dränge sich angesichts einer außerordentlichen Kumulation von Risikofaktoren eine Suggestionshypothese geradezu auf. Es könne daher nicht mehr zuverlässig zwischen einer Erlebnisgrundlage und einer Auto- oder Fremdsuggestion unterschieden werden, so dass von einer eigenen aussagepsychologischen Untersuchung der Klägerin abgesehen werde. Über die bloße Möglichkeit hinaus seien auch Schlussfolgerungen aus den vorhandenen psychischen Störungen auf sexuelle Übergriffe ausgeschlossen. Das LSG hat die Klage erneut abgewiesen und zur Begründung ua ausgeführt, es könne offenbleiben, ob die Beweiserleichterung des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) auch dann zum Tragen komme, wenn - wie hier - die Aussage des Antragstellers und die Aussage der als Täter beschuldigten Person gegenüber stünden. Auch wenn eine Glaubhaftmachung iS des § 15 KOVVfG ausreiche, könne ein tätlicher Angriff nicht im Sinne einer guten Möglichkeit festgestellt werden. Dies folge noch nicht allein aus dem aussagepsychologischen Gutachten, weil konkrete Aussagen zu der Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Aussage der Wahrheit entspreche, mit den Methoden der Glaubwürdigkeitsbegutachtung getroffen werden könnten. Es folge jedoch aus der umfassenden Würdigung der erhobenen Beweise. Aus der schweren psychischen Erkrankung könne dabei nicht auf eine traumatische Genese geschlossen werden. Die Angabe der sachverständigen Zeugin G. sei nach den Ausführungen des Sachverständigen insoweit wissenschaftlich ebenso wenig haltbar wie ihre Meinung, eine Fehlerinnerung der Klägerin könne ausgeschlossen werden. Angesichts einer Vielzahl von Risikofaktoren dränge sich vielmehr die gute Möglichkeit einer Scheinerinnerung auf (Urteil vom 18.6.2013).

3

Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil und beantragt hierfür Prozesskostenhilfe (PKH).

4

II. 1. Der Antrag der Klägerin, ihr PKH unter Beiordnung von Rechtsanwalt B. für die von ihr eingelegte und begründete Beschwerde zu gewähren, ist abzulehnen. Nach § 73a Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 114, 121 ZPO kann einem bedürftigen Beteiligten für das Beschwerdeverfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet werden, wenn ua die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Daran fehlt es. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist nämlich unzulässig (dazu 2.).

5

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 SGG iVm § 169 S 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der Divergenz und des Verfahrensmangels nach § 160 Abs 2 Nr 2 und 3 SGG.

6

a) Die Klägerin legt die für eine Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) notwendigen Voraussetzungen nicht in der gesetzlich gebotenen Weise dar. Wer eine Rechtsprechungsdivergenz entsprechend den gesetzlichen Anforderungen darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und dazu ausführen, weshalb beide miteinander unvereinbar seien sollen (vgl zB BSG Beschluss vom 28.7.2009 - B 1 KR 31/09 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 28.6.2010 - B 1 KR 26/10 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 4 mwN). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat (vgl zB BSG Beschluss vom 15.1.2007 - B 1 KR 149/06 B - RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 f mwN).

7

Die Klägerin führt zwar einen Rechtssatz an, macht aber schon nicht ausreichend deutlich, welchem Gericht sie diesen Rechtssatz als Aussage zuordnet, wenn sie hierzu ausführt,

        

"die angefochtene Entscheidung des Landessozialgerichts weicht in seiner Entscheidung von der Entscheidung des BSG vom 17.4.2013 (B 9 V 1/12 R), sofern sie den abstrakten Rechtssatz enthält:

Die Glaubhaftigkeit einer Aussage im Sinne des § 15 KOV-VfG kann nur im Rahmen eines aussagepsychologischen Gutachtens, welches nach dem Falsifikationsprinzip arbeitet (also von der sog. Unwahr- oder 'Null-Hyothese' als Ausgangsthese ausgeht), überprüft werden."

8

Unabhängig von dieser unklaren Zuordnung eines behaupteten Rechtssatzes stellt sie diesem Rechtssatz auch keinen abweichenden Rechtssatz des jeweils anderen Gerichts gegenüber, welcher einen Widerspruch im Grundsätzlichen belegen könnte. Dies gilt auch hinsichtlich eines von der Rechtsprechung des BSG (SozR 4-3800 § 1 Nr 20, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen) etwaig abweichenden Beweismaßstabs. Der Beschwerdebegründung lässt sich entnehmen, dass das LSG die Frage nach dem Beweismaßstab gerade offen gelassen hat. Der Hinweis auf die vom Sachverständigen angeführte Kumulation von Risikofaktoren und die darauf fußende Hypothese einer Scheinerinnerung belegen keine Divergenz hinsichtlich der durch den erkennenden Senat vorgegebenen und vom LSG zugrunde gelegten Beweismaßstäbe. Auch geringere Anforderungen an den Beweismaßstab gewährleisten das gewünschte Beweisergebnis nicht, unabhängig von den festgestellten Tatsachen. Soweit die Klägerin in diesem Kontext bemängelt, das LSG habe die Grenzen der aussagepsychologischen Begutachtung zum Anlass nehmen müssen, in weitere Ermittlungen hinsichtlich der Aussagegenese einzutreten, erhebt sie stattdessen die Aufklärungsrüge (§ 103 SGG; dazu II.2.b). Soweit sie darüber hinaus der Meinung ist, die Entscheidung des LSG verstoße gegen die Rechtsprechung des erkennenden Senats, rügt sie die Richtigkeit der Entscheidung des LSG. Diese ist indessen nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

9

b) Die Klägerin bezeichnet auch einen Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht hinreichend. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf den Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers stützt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr, vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 13 RdNr 4 mwN). Geltend gemacht werden kann nur ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der § 109 und § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

10

Die Klägerin rügt vorrangig, das LSG sei zwar formal entsprechend den Vorgaben im Beschluss des BSG vom 7.4.2011 gefolgt und habe antragsgemäß die sachverständige Zeugin G. angehört. Nachdem diese zugunsten der Klägerin eine Fremdinduzierung der Erinnerungen habe ausschließen können, habe das LSG aber nicht in weitere Ermittlungen eintreten dürfen. Damit rügt die Klägerin keinen Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht. Denn das Gericht darf eine Entscheidung nur treffen, wenn der Sachverhalt in der Weise ausermittelt ist, dass er für eine Überzeugungsbildung ausreicht (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG). Umgekehrt mussten die von der Klägerin dargelegten Grenzen aussagepsychologischer Begutachtung ebenso wenig wie die vom Sachverständigen angeführte wissenschaftliche Haltlosigkeit der Äußerungen der Zeugin G. das LSG zur Einholung des hilfsweise beantragten nichtaussagepsychologischen Sachverständigengutachtens veranlassen. Die Klägerin bezeichnet insoweit schon keinen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6 mwN). Die Klägerin bezieht sich nicht auf bisher noch nicht berücksichtigte Aspekte zur Genese der psychischen Erkrankung. Der von ihr wiedergegebene Antrag zielt vielmehr ausschließlich darauf ab, mit Hilfe einer weiteren Begutachtung zu einer abweichenden Beurteilung zu kommen. Damit stellt sich die angebliche Aufklärungsrüge in Wirklichkeit als ein durch § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 Alt 1 SGG ausgeschlossener Angriff auf die Beweiswürdigung dar. Die Würdigung unterschiedlicher Gutachtenergebnisse oder unterschiedlicher ärztlicher Auffassungen gehört wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung selbst. Eine Verpflichtung zur Einholung eines sogenannten Obergutachtens besteht auch bei einander widersprechenden Gutachtensergebnissen im Allgemeinen nicht; vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 7d, 7e mwN). Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen. Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 8).

11

Gründe für eine Ausnahme sind hier nicht dargelegt. Liegen bereits mehrere Gutachten (oder fachkundige Angaben) vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten (oder fachkundigen Angaben) grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9 mwN). Derartige Umstände hat die Klägerin nicht vorgetragen. Der Hinweis auf die bei der Klägerin durchgehend seit 1993 gestellte Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung durch nahezu alle behandelnden Therapeuten stellt den vom Sachverständigen begründeten Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit nicht in Frage. Die Grenzen der aussagepsychologischen Begutachtung beinhalten hinsichtlich des hier entscheidenden Aspekts der Fremdinduziertheit der Erinnerungen keinen konkreten Mangel.

12

3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

13

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.