Bundesverfassungsgericht Nichtannahmebeschluss, 28. Juli 2016 - 2 BvR 1468/16

ECLI:ECLI:DE:BVerfG:2016:rk20160728.2bvr146816
bei uns veröffentlicht am28.07.2016

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gründe

I.

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1. Der Beschwerdeführer ist georgischer Staatsangehöriger. Mit seiner am 14. Juli 2016 beim Bundesverfassungsgericht eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet er sich gegen einen Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 27. Juni 2016, mit dem seine Auslieferung an die Russische Föderation zum Zweck der Strafverfolgung für zulässig erklärt wurde.

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2. Mit Beschluss vom 18. November 2015 ordnete das Oberlandesgericht gegen den Beschwerdeführer Auslieferungshaft zum Zweck der Auslieferung an die Russische Föderation zur Strafverfolgung an.

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a) Das Oberlandesgericht folgte damit einem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe. Zuvor hatte die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation mit einer an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz gerichteten Note vom 20. Oktober 2015 um Auslieferung des Beschwerdeführers zur Strafverfolgung ersucht. Das Auslieferungsersuchen der Russischen Föderation enthielt die Garantie, dass dem Beschwerdeführer alle Möglichkeiten zum Schutz, einschließlich der Hilfe von Anwälten, zur Verfügung gestellt würden, dass er nicht gefoltert, grausam, unmenschlich oder erniedrigend behandelt oder bestraft werde, dass das Auslieferungsersuchen nicht die Verfolgung aus politischen Gründen beinhalte und dass der Beschwerdeführer nicht aufgrund von Rasse, Glaubensbekenntnis oder Nationalität verfolgt werde. Zudem wurde garantiert, dass der Beschwerdeführer nur wegen der Straftaten strafrechtlich verfolgt werde, derentwegen Russland um seine Auslieferung ersuche, und er die Russische Föderation nach der strafrechtlichen Verfolgung oder dem gerichtlichen Verfahren beziehungsweise im Falle seiner Verurteilung nach Verbüßung der Strafe verlassen dürfe. Ohne Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland werde der Beschwerdeführer auch nicht an einen Drittstaat ausgeliefert. Außerdem wurde garantiert, dass der Beschwerdeführer im Falle der Auslieferung in einer Anstalt untergebracht werde, in der alle Normen der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 und die Europäischen Gefängnisregeln vom 11. Januar 2006 berücksichtigt würden. Schließlich werde den Mitarbeitern des konsularischen Dienstes der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland jederzeit die Möglichkeit gegeben, den Beschwerdeführer zu besuchen.

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b) Dem Auslieferungsersuchen der Russischen Föderation waren ein Beschluss des Bezirksgerichts Presnenskij der Stadt Moskau vom 15. Juni 2012 über die Auswahl der Vorbeugungsmaßnahme als Inhaftnahme, ein Beschluss der Untersuchungsverwaltung im Untersuchungskomitee der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Stadt Moskau vom 25. Juni 2010 über die Heranziehung des Beschwerdeführers als Beschuldigten, ein Beschluss der Staatsanwaltschaft der Stadt Moskau vom 23. Februar 2007 über die internationale Fahndung nach dem Beschwerdeführer, ein Beschluss der Stadt Moskau vom 2. März 2007 über die Ausschreibung des Beschwerdeführers zur internationalen Fahndung sowie die anwendbaren russischen Strafbestimmungen beigefügt. Im Beschluss des Bezirksgerichts Presnenskij der Stadt Moskau vom 15. Juni 2012 über die Auswahl der Vorbeugungsmaßnahme als Inhaftnahme, der im Beschluss des Oberlandesgerichts vom 18. November 2015 faksimiliert wiedergegeben ist, wird dem Beschwerdeführer vorgeworfen, als Mitglied einer Bande am 28. April 2006 mittäterschaftlich an einem bewaffneten Raubüberfall in Moskau beteiligt gewesen zu sein. Die im Anschluss an den Raubüberfall erfolgte Tötung zweier Milizionäre wird ausschließlich einem anderen Bandenmitglied vorgeworfen und nicht den weiteren Mittätern des Raubüberfalls zugerechnet, da die Tötung nicht vom Tatplan der Bande umfasst gewesen sei.

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c) Aufgrund des Beschlusses des Oberlandesgerichts wurde der Beschwerdeführer am 30. November 2015 durch das Amtsgericht Schwäbisch Hall vernommen. In der Vernehmung erklärte er, dass er wegen einer HIV-Infektion und einer damit verbundenen gesellschaftlichen Diskriminierung mit seiner Frau nach Deutschland geflohen sei und hier einen Asylantrag gestellt habe. Politisch verfolgt würden er und seine Frau nicht. Zum Zeitpunkt der ihm von den russischen Strafverfolgungsbehörden vorgeworfenen Tat habe er sich nicht in Russland aufgehalten. Mit einer vereinfachten Auslieferung erklärte er sich nicht einverstanden.

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3. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 19. Dezember 2015 beantragte der Beschwerdeführer beim Oberlandesgericht, seine Auslieferung an die Russische Föderation für unzulässig zu erklären und den Auslieferungshaftbefehl vom 18. November 2015 aufzuheben. Zwar finde im Auslieferungsverfahren eine Tatverdachtsprüfung grundsätzlich nicht statt, eine solche Prüfung sei jedoch zulässig und geboten, wenn und soweit hinreichende Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass der ersuchte Staat seinen Anspruch auf Auslieferung missbräuchlich geltend mache oder die besonderen Umstände des Falles befürchten ließen, dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung einem Verfahren ausgesetzt wäre, das gegen unabdingbare, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze und damit gegen den völkerrechtlichen Mindeststandard verstieße, und die Tatverdachtsprüfung darüber Aufschluss geben könne. In Ausnahmefällen könne folglich eine Tatverdachtsprüfung veranlasst sein, so etwa wenn sich das vom Verfolgten vorgebrachte Alibi aufgrund des glaubhaften Vortrags oder glaubwürdiger Zeugenaussagen derart verdichtet habe, dass er die ihm vorgeworfene Tat nicht begangen haben könne. Dies sei hier der Fall. Es lägen besondere Umstände im Sinne von § 10 Abs. 2 IRG vor, die eine Prüfung des Tatverdachts durch die Bewilligungsbehörde beziehungsweise das Oberlandesgericht erforderlich machten:

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a) Der Beschwerdeführer habe sich zum angeblichen Tatzeitpunkt nicht in Russland aufgehalten. Zwar sei zutreffend, dass er von 1995 bis 2002 in Russland gelebt habe. Er sei jedoch am 22. Januar 2002 aus Russland abgeschoben worden und habe eine Einreisesperre erhalten. Seit diesem Zeitpunkt sei er nicht mehr in die Russische Föderation eingereist. Dem Schriftsatz beigefügt war die Kopie einer Bestätigung des georgischen Innenministeriums, wonach der Beschwerdeführer seit seiner Abschiebung aus Russland nach Georgien am 22. Januar 2002 nicht mehr aus Georgien ausgereist sei. Zudem benannte er hierfür mehrere ehemalige Nachbarn des Beschwerdeführers sowie dessen Ehefrau als Zeugen. Erst am 19. August 2012 habe der Beschwerdeführer die georgisch-türkische Grenze überquert und sei am 24. August 2012 nach Georgien zurückgekehrt. Danach sei er am 24. April 2015 von Tiflis über Istanbul nach Amsterdam geflogen. Es sei fraglich, weshalb der Grenzübertritt unproblematisch gewesen sei, wenn der Beschwerdeführer international gesucht werde.

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b) Es sei auch nicht davon auszugehen, dass den Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung nach Russland ein faires Verfahren erwarte. Vielmehr sei zu befürchten, dass er durch Folter zu einem Geständnis gepresst oder nach einem Verfahren abgeurteilt werde, das den Grundsätzen der Art. 3, 5 und 6 EMRK widerspreche.

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c) Schließlich sei der Beschwerdeführer an HIV erkrankt. Aufgrund seiner Erkrankung sei zu befürchten, dass er in russischer Untersuchungshaft geächtet und einer menschenunwürdigen Behandlung ausgesetzt werde. Infolge unzureichender medizinischer Behandlung und der in Russland herrschenden Haftbedingungen werde sich dort sein Gesundheitszustand zudem deutlich verschlechtern.

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4. Nachdem die Generalstaatsanwaltschaft dem Vorbringen des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 22. Dezember 2015 unter Hinweis auf die Möglichkeit undokumentierter Grenzübertritte des Beschwerdeführers und gleichzeitiger Anregung, hinsichtlich der Erkrankung des Beschwerdeführers und in Russland bestehender Behandlungsmöglichkeiten weitere Sachverhaltsaufklärung zu betreiben, entgegengetreten war, wies das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 29. Dezember 2015 den Antrag des Beschwerdeführers auf Aufhebung des Auslieferungshaftbefehls zurück, da trotz der zahleichen erhobenen Einwendungen nicht davon ausgegangen werden könne, dass sich seine Auslieferung als offensichtlich unzulässig im Sinne von § 15 Abs. 2 IRG erweisen werde, vielmehr eine sachgerechte Beurteilung des Vorbringens erst nach zumindest teilweise durchzuführender Sachverhaltsaufklärung im Zulässigkeitsverfahren möglich sein werde. Zugleich ordnete das Oberlandesgericht die Fortdauer der Auslieferungshaft an.

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5. Mit Schreiben vom 21. Januar 2016 bat das Oberlandesgericht die Justizvollzugsanstalt Karlsruhe im Hinblick auf die HIV-Infektion des Beschwerdeführers um Beantwortung folgender Fragen:

a) Nimmt der Verfolgte weiterhin das 3-Komponenten-Medikament "Atripla" ein?

b) Ist dieses Medikament oder ein solches mit gleichen Wirkstoffen auch in anderen Ländern, insbesondere in Russland erhältlich?

c) Welche Kosten fallen bei der derzeitigen Dosis bei der Vergabe des Medikaments unter Zugrundelegung deutscher Preise monatlich an?

d) Ist die weitere Verabreichung des Medikaments für den Verfolgten lebensnotwendig?

e) Welche Folgen hätte ein Absetzen des Medikaments für den Verfolgten?

f) Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Absetzen des Medikamentes zum Ausbruch der Infektion führt?

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Mit Schreiben vom 2. Februar 2016 beantwortete eine Anstaltsärztin der Krankenabteilung der Justizvollzugsanstalt die Fragen wie folgt:

"Ad a) Herr J. nimmt in der JVA Karlsruhe täglich das Medikament Atripla ein.

Ad b) Nach meiner Kenntnis gibt es das Medikament Atripla (300mg TDF +200mg FDC+600mg EFV) in Russland nicht zu kaufen. Alternativ soll Truvada (300mg TDF+200mg FTC) und Stocrin (600mg EFV) im Handel sein. Genauere Auskünfte können beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (ZIRF-Counselling-Formular für Individualfragen) erfragt werden.

Ad c) Derzeit kostet Atripla monatlich 1240,35 €.

Ad d) Auf längere Sicht ist die antiretrovirale Therapie lebensnotwendig.

Ad e) Ein Absetzen des Medikaments führt zur Entwicklung einer Immunschwäche und in Folge zum Auftreten bestimmter Erkrankungen (AIDS).

Ad f) Die Wahrscheinlichkeit, dass die HIV-Infektion ohne medikamentöse Therapie zur Immunschwäche führt, ist sehr hoch. Über den zeitlichen Verlauf können im Einzelfall keine konkreten Aussagen gemacht werden, da dies individuell sehr unterschiedlich ist und von mehreren Faktoren abhängt. In der Literatur wird beschrieben, dass ein symptomfreies Stadium ohne Therapie 5-10 Jahre dauern kann. Ich fand jedoch keine verlässlichen Angaben über den Verlauf, wenn eine bereits begonnene Therapie abgebrochen wird."

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6. Mit Beschluss vom 26. Februar 2016 stellte das Oberlandesgericht fest, dass eine weitere Aufklärung des Sachverhalts notwendig sei, und ordnete zugleich die Fortdauer der Auslieferungshaft an. Nach Überzeugung des Oberlandesgerichts machten die Einwendungen des Beschwerdeführers und die dem Oberlandesgericht obliegende Aufklärungspflicht eine weitere Aufklärung des Sachverhalts nach § 30 Abs. 1 Satz 1 IRG notwendig.

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a) Zwar sei die Durchführung einer Tatverdachtsprüfung nicht veranlasst. Das deutsche Auslieferungsverfahren sei kein eigenständiges Strafverfahren, sondern diene lediglich der Unterstützung einer ausländischen Strafverfolgung. Insoweit obliege dem Oberlandesgericht im Auslieferungsverfahren nur die Überprüfung der Einhaltung der in den Auslieferungsbestimmungen geschaffenen formellen Sicherungen gegen eine unzulässige Unterstützung des ausländischen Verfahrens. Besondere Umstände, welche ausnahmsweise nach § 10 Abs. 2 IRG eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten, vermöge das Oberlandesgericht nicht zu erkennen. So bestünden zunächst keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die russischen Justizbehörden ihren Anspruch auf Auslieferung missbräuchlich geltend machten oder aufgrund der besonderen Umstände des Falles zu befürchten wäre, dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung einem Verfahren ausgesetzt sei, das gegen den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard im Sinne von Art. 25 GG verstieße, und die Tatverdachtsprüfung darüber Aufschluss geben könnte. Bei der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Tat eines Raubüberfalls handele es sich um ein Delikt aus der allgemeinen Kriminalität, welchem keine politische Motivation innewohne und welches keinen politischen Hintergrund habe. Allein der Umstand, dass bei dem Überfall zwei Angehörige der russischen Miliz getötet worden seien, rechtfertige keine andere Bewertung. Nach vorläufiger Beurteilung liege auch kein Fall vor, in dem durch sichere und auf der Hand liegende Umstände eine Täterschaft ausgeschlossen werden könne. Die vom Beschwerdeführer für seinen Aufenthalt in Georgien zum Zeitpunkt der Tat am 28. April 2006 benannten Zeugen und vorgelegten Dokumente ließen einen solchen zweifelsfreien Schluss nicht zu.

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b) Gleichwohl seien die benannten Zeugen und vorgelegten Dokumente nicht unbeachtlich. Der Grundsatz eines fairen Verfahrens könne es nämlich im Einzelfall gebieten, dem ersuchenden Staat eine diesem ersichtlich nicht bekannte Einlassung eines aus dortiger Sicht Tatverdächtigen mit der Bitte um Prüfung der Aufrechterhaltung des Auslieferungsersuchens zur Kenntnis zu bringen, wenn die Angaben substantiellen Gehalt aufwiesen. So liege der Fall hier. In Anbetracht der vom Beschwerdeführer vorgelegten Bescheinigung des georgischen Innenministeriums über seine Grenzübertritte sowie einer weiteren, zwischenzeitlich vorgelegten Bescheinigung vom 13. Januar 2016 seines früheren Arbeitgebers in Georgien, wonach der Beschwerdeführer vom 1. Januar 2004 bis zum 3. April 2007 dort als Taxifahrer gearbeitet habe und bei einer regelmäßigen Arbeitszeit von Montag bis Freitag jeweils zwischen 9 und 19 Uhr nie unentschuldigt dem Arbeitsplatz ferngeblieben sei, werde die Generalstaatsanwaltschaft um Veranlassung gebeten, den russischen Justizbehörden die genannten Einlassungen des Beschwerdeführers zur Kenntnis zu bringen und anzufragen, ob ihnen diese Umstände bekannt seien und ob sie in Anbetracht dieser ihr Auslieferungsersuchen aufrecht erhalten wollten.

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Eine weitere Aufklärung des Sachverhalts sei auch insoweit geboten, als dies Fragen der Haftverhältnisse in der Russischen Föderation sowie der Reichweite der bereits erteilten Zusicherungen betreffe. Insoweit werde die Generalstaatsanwaltschaft um Veranlassung der Einholung einer ergänzenden Erklärung der russischen Justizbehörden sowie um Beantwortung einzelner, vom Oberlandesgericht in seinem Beschluss konkret formulierter Fragen zur Unterbringung des Beschwerdeführers im Falle seiner Auslieferung und zur Möglichkeit völkerrechtlich verbindlicher Zusicherungen zur medizinischen Behandlung des Beschwerdeführers und zur Einsichtnahme deutschen Botschaftspersonals in seine Krankenakten gebeten.

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Des Weiteren bat das Oberlandesgericht die Generalstaatsanwaltschaft um Veranlassung der Einholung einer ergänzenden Erklärung und Beantwortung einzelner, vom Oberlandesgericht in seinem Beschluss ebenfalls konkret formulierter Fragen zum Umfang der Zusicherung der russischen Behörden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung nur wegen der Straftaten verfolgt werde, wegen derer um Auslieferung ersucht wurde. Insbesondere wurde um Erläuterung gebeten, ob dies auch den Verzicht auf die Ahndung der Tat wegen eines Tötungsdelikts enthalte und welche Strafvorschriften hierfür in Betracht kämen. Sollte eine Verurteilung wegen eines Tötungsdelikts nach russischem Recht möglich sein, werde um eine völkerrechtliche Zusicherung gebeten, dass in diesem Falle die Todesstrafe nicht vollstreckt werde und dass bei Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe eine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit bestehe. Zudem werde in diesem Fall um Mitteilung gebeten, ob und gegebenenfalls zu welchem Zeitpunkt eine vorzeitige Entlassung möglich sei.

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7. Nachdem dem Oberlandesgericht infolge des Beschlusses vom 26. Februar 2016 ein vom 30. März 2016 datierendes, an das Bundesamt für Justiz gerichtetes Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation zugegangen war, ordnete es mit Beschluss vom 11. April 2016 die Fortdauer der Auslieferungshaft an, da nicht davon ausgegangen werden könne, dass sich die Auslieferung nach § 15 Abs. 2 IRG als voraussichtlich unzulässig erweisen werde.

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a) In ihrem Schreiben vom 30. März 2016 erklärte die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation, dass die Todesstrafe für die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Straftaten nicht vorgesehen sei. Die deutsche Botschaft in Moskau werde eine Abschrift des gerichtlichen Urteils erhalten. Im Falle seiner Auslieferung werde der Beschwerdeführer eine seiner HIV-Erkrankung entsprechende Behandlung bekommen, einschließlich der Versorgung mit Medikamenten, die den in Deutschland verabreichten Medikamenten äquivalent seien. Er werde im Falle der Haft in einer Zelle für nicht mehr als vier Personen untergebracht werden. Er könne von Ärzten besucht werden, die von der deutschen Botschaft bestimmt werden könnten. Diese Ärzte erhielten auch Zugang zur Krankenakte. Darüber hinaus wurden einzelne Angaben zur baulichen und sanitären Ausstattung der in Betracht kommenden Untersuchungshaftanstalt gemacht. Die Ausweitung des Tatvorwurfs gegenüber dem Beschwerdeführer auf ein Tötungsdelikt wurde nach seinerzeitigem Stand ausgeschlossen. Falls es erforderlich sein werde, ihn zur strafrechtlichen Verantwortung für andere Straftaten, die im Auslieferungsersuchen nicht genannt seien, zu ziehen, werde die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation einen entsprechenden Antrag an die zuständigen Behörden der Bundesrepublik Deutschland stellen. Zuletzt wurden noch Angaben über das zu erwartende Strafmaß gemacht. Für die Begehung einer Straftat nach Art. 209 Abs. 2, Art. 162 Abs. 4 Buchstabe a) StGB RF sei die Verhängung einer Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren möglich. Für die Begehung einer Straftat nach Art. 222 Abs. 3 StGB RF sei eine Freiheitsstrafe von bis zu acht Jahren vorgesehen. Nach Art. 69 Abs. 1 StGB RF werde bei einer Gesamtheit von Straftaten die Strafe gesondert für jede begangene Straftat festgesetzt. Wenn nach Art. 69 Abs. 3 StGB RF wenigstens eine der Straftaten eine schwere oder schwerste Straftat darstelle, werde die Gesamtstrafenbildung durch teilweise oder vollständige Zusammenlegung der Strafen vorgenommen. Dabei dürfe die Gesamtstrafe die Dauer derjenigen Strafe, die für die schwerste der begangenen Straftaten vorgesehen sei, um nicht mehr als die Hälfte übersteigen. Laut Art. 79 Abs. 1 StGB RF bestehe nach zwei Dritteln der Haftzeit die Möglichkeit einer bedingten Strafaussetzung, wenn das Gericht erkläre, dass die Person, die eine Freiheitsstrafe verbüße, für ihre Besserung die volle Verbüßung der festgesetzten Strafe nicht brauche.

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b) Der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe sowie dem Beschwerdeführer und seinen Rechtsbeiständen gab das Oberlandesgericht Gelegenheit zur abschließenden Stellungnahme bis zum 2. Mai 2016. Zudem erhielten der Beschwerdeführer und seine Rechtsbeistände Gelegenheit, der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation die vom Oberlandesgericht in seinem Beschluss vom 26. Februar 2016 aufgeführten Einlassungen und Einwendungen des Beschwerdeführersunmittelbar vorzutragen.

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8. Mit Schriftsatz vom 29. April 2016 rügte der Beschwerdeführer, dass das Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation trotz des Umstands, dass das Oberlandesgericht in seinem Beschluss vom 26. Februar 2016 eine weitere Aufklärung des Sachverhalts für erforderlich gehalten habe, keine Stellungnahme zum Vorbringen des Beschwerdeführers, er habe sich zur Tatzeit nicht in Moskau aufgehalten, enthalte. Er verband dies mit der ausdrücklichen Anfrage, ob die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe die Einlassung des Beschwerdeführers nebst vorgelegten Urkunden an die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation weitergeleitet und diese um Abgabe einer entsprechenden Stellungnahme ersucht habe.

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9. Mit Schreiben vom 3. Mai 2016 erwiderte das Oberlandesgericht, dass die russischen Justizbehörden hinsichtlich des Vorbringens des Beschwerdeführers eine Erklärung nicht hätten abgeben können, weil das Bundesamt für Justiz diese Anfrage aus außenpolitischen Gründen nicht weitergeleitet habe. Da eine Tatverdachtsprüfung im Auslieferungsverfahren grundsätzlich nicht vorgesehen sei und die vom Oberlandesgericht vorgesehene Unterrichtung der russischen Justizbehörden ausschließlich zur Wahrung des rechtlichen Gehörs des Verfolgten auch im ersuchenden Staat habe erfolgen sollen, habe es das Oberlandesgericht im Beschluss vom 11. April 2016 für ausreichend angesehen, dass der Beschwerdeführer seine Einwendungen unmittelbar über seinen Rechtsbeistand den russischen Justizbehörden zur Kenntnis bringe. Es gab dem Beschwerdeführer bis zum 21. Mai 2016 erneut Gelegenheit zur abschließenden Stellungnahme. Mit Schreiben vom 20. Mai 2016 rügte dieser die Vorgehensweise des Bundesamts für Justiz und beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie die Prüfung des Tatverdachts nach § 10 Abs. 2 IRG.

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10. Mit Schriftsatz vom 8. Juni 2016 legte der Beschwerdeführer zudem eine am 3. Juni 2016 ausgestellte ärztliche Bescheinigung vor, wonach er aufgrund seiner Erkrankung im Zeitraum vom 23. April 2006 bis zum 5. Mai 2006 im wissenschaftlichen Forschungszentrum für Infektionskrankheiten, Aids und klinische Immunologie in Tiflis behandelt worden sei. Die Bescheinigung enthielt auch Angaben zu einer allgemeinen Blutanalyse des Beschwerdeführers.

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11. Mit dem im Rahmen der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 27. Juni 2016 erklärte das Oberlandesgericht die Auslieferung des Beschwerdeführers aufgrund des Auslieferungsersuchens der Russischen Föderation vom 20. Oktober 2015 mit folgenden Maßgaben und Beschränkungen für zulässig:

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a) Die Auslieferung des Beschwerdeführers sei zulässig, soweit diesem im Beschluss über die Auswahl der Vorbeugungsmaßnahme als Inhaftnahme des Bezirksgerichts der Stadt Moskau vom 15. Juni 2012 die Begehung eines Verbrechens des Raubes nach Art. 162 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation (StGB RF) vorgeworfen werde. Sie sei nicht zulässig, soweit hierin auch eine Ahndung der dem Verfolgten vorgeworfenen Tat unter folgenden rechtlichen Gesichtspunkten beabsichtigt sei:

- Verbrechen nach Abs. 3 Art. 222 StGB RF (gesetzwidriger Erwerb von Waffen, Übergabe, Besitz, Verkauf, Verbringung oder Tragen von Waffen oder deren Hauptteilen, Munition, Explosivstoffen und Sprengvorrichtungen);

- Verbrechen nach Abs. 1 Art. 209 StGB RF (Banditentum).

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b) Die Auslieferung sei nur mit der Maßgabe zulässig, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Überstellung an die Russische Föderation entsprechend den von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation im Auslieferungsersuchen vom 20. Oktober 2015 sowie mit Note vom 30. März 2016 für das vorliegende Auslieferungsverfahren speziell erteilten Zusicherungen und Garantien

- während der Untersuchungs- und gegebenenfalls sich anschließenden Strafhaft in einem Haftraum mit einer Belegung von nicht mehr als vier Personen untergebracht werde,

- aufgrund seiner HIV-Infizierung umgehend nach seiner Überstellung bis auf weiteres die Medikamente Tenofir (TDF) 300 mg und Lamivudin (3 TL) 300 mg in aus ärztlicher Sicht notwendigem Umfang erhalte und

- sowohl Mitarbeitern des konsularischen Dienstes der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Russischen Föderation als auch von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland bei Bedarf beauftragten sonstigen Personen - insbesondere von dieser beauftragten Ärzten - die Möglichkeit eingeräumt werde, den Beschwerdeführer jederzeit in der Haftanstalt zu besuchen und - mit dessen ausdrücklicher Zustimmung - Einsicht in die Krankenakten beziehungsweise Behandlungsunterlagen des Verfolgten zu nehmen.

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Zugleich wurde die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet.

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12. Zur Begründung führte das Oberlandesgericht im Wesentlichen aus, dass die Auslieferung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation zur Strafverfolgung zulässig sei, da die Auslieferungsvoraussetzungen vorlägen und bestehende Auslieferungshindernisse durch Einschränkungen der Zulässigkeitsentscheidung überwunden werden könnten.

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a) Zunächst lägen die Auslieferungsvoraussetzungen nach Art. 2 Abs. 1 EuAlÜbk in Verbindung mit § 3 Abs. 1 IRG vor, da die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Handlungen sowohl nach dem Recht des ersuchenden als auch des ersuchten Staates mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens einem Jahr strafbewehrt seien. Der dem Beschwerdeführer im Beschluss über die Auswahl der Vorbeugungsmaßnahme als Inhaftnahme des Bezirksgerichts der Stadt Moskau vom 15. Juni 2012 vorgeworfene, am 28. April 2006 in Moskau begangene Raubüberfall, welcher dort unter anderem auch als Verbrechen des Raubes nach Art. 162 StGB RF gewertet werde, stelle sich nach deutschem Recht zumindest als Verbrechen des schweren Raubes nach §§ 249, 250, 25 Abs. 2 StGB dar und sei damit auslieferungsfähig.

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b) Die vom Beschwerdeführer beantragte Durchführung einer Tatverdachtsprüfung sei nicht veranlasst. Insoweit werde auf die ausführliche Begründung im Beschluss des Oberlandesgerichts vom 26. Februar 2016 verwiesen, zu deren Abänderung auch der weitere Sachvortrag des Beschwerdeführers und die von diesem vorgelegten Dokumente keinen Anlass gäben. Nach abschließender Prüfung liege kein Fall vor, in dem durch sichere und auf der Hand liegende Umstände eine Täterschaft des Verfolgten ausgeschlossen werden könne oder aber sich das vom Verfolgten vorgebrachte Alibi aufgrund glaubwürdiger Zeugenaussagen oder sonstiger Beweisumstände derart verdichtet hätte, dass der Beschwerdeführer die ihm vorgeworfene Tat nicht begangen haben könne. Insoweit ließen die vom Beschwerdeführer für seinen Aufenthalt in Georgien zum Zeitpunkt der Tat am 28. April 2006 benannten Zeugen und vorgelegten Dokumente einen solchen zweifelsfreien Schluss nicht zu, vielmehr könnten diese nur in dem Verfahren in der Russischen Föderation auf ihre Glaubwürdigkeit und Relevanz überprüft und gewürdigt werden.

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c) Die Auslieferung sei auch nicht deshalb nach § 73 Satz 1 IRG unzulässig, weil dem Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung die Gefahr des Todes, schwerwiegender körperlicher Beeinträchtigungen oder aber menschenunwürdiger Behandlung drohten. In Anbetracht der HIV-Infizierung des Beschwerdeführers habe das Oberlandesgericht eine weitere Sachaufklärung vorgenommen und neben den Erklärungen im Auslieferungsersuchen vom 20. Oktober 2015 eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung sowohl im Hinblick auf die Haftbedingungen als auch die medizinische Versorgung eingeholt. Danach könne nicht davon ausgegangen werden, dass dem Verfolgten im Falle seiner Überstellung Gefahr für sein Leben oder schwerste gesundheitliche Beeinträchtigungen auch im Hinblick auf die Ausgestaltung seiner Haftbedingungen drohten. Aus der Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vom 30. März 2016 ergebe sich, dass der Beschwerdeführer in eine Strafvollzugsanstalt eingeliefert werde, in der er eine Überwachung und Behandlung seiner HIV-Infektion und die insoweit zur Vermeidung eines Ausbruchs seiner Krankheit notwendigen Medikamente bekommen werde, wobei das Oberlandesgericht aus hygienischen Gründen eine Unterbringung in einem Haftraum mit nicht mehr als vier Personen für unerlässlich halte. Das Oberlandesgericht habe keine Zweifel daran, dass die Russische Föderation sich an diese Zusicherungen, welche nochmals als formelle Zulässigkeitseinschränkungen in den Tenor dieses Beschlusses aufgenommen worden seien, halten werde, zumal diese auch dadurch abgesichert würden, dass der deutschen Botschaft Besuche des Beschwerdeführers in der Haftanstalt gestattet worden seien und bei Bedarf insoweit sogar eine ärztliche Kontrolle durch von der deutschen Botschaft beauftragte Ärzte möglich sei.

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d) Dem Beschwerdeführer drohe im Falle seiner Auslieferung auch keine unerträglich harte oder schlechterdings unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessene Strafe. Die Vorschrift des Art. 162 StGB RF, für welche die Auslieferung für zulässig erklärt worden sei, sehe in der hier zur Anwendung kommenden Fallgestaltung des Raubüberfalls durch eine organisierte Gruppe (Art. 162 Abs. 4a StGB RF) einen Strafrahmen von sieben bis zu zwölf Jahren vor, welcher für die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Straftaten angemessen erscheine. Aus der Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vom 30. März 2016 ergebe sich zudem, dass eine Ahndung der dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Tat unter dem Gesichtspunkt eines Tötungsdelikts nicht beabsichtigt sei und widrigenfalls die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland hierzu eingeholt werde.

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e) Der Beschwerdeführer habe in der Bundesrepublik Deutschland auch ein faires Verfahren gehabt. Soweit das Oberlandesgericht im Beschluss vom 26. Februar 2016 ausgesprochen habe, dass es der Grundsatz des fairen Verfahrens im Einzelfall gebieten könne, dem ersuchenden Staat eine diesem ersichtlich nicht bekannte Einlassung eines aus dortiger Sicht Tatverdächtigen mit der Bitte um Prüfung der Aufrechterhaltung des Auslieferungsersuchens zur Kenntnis zu bringen, sei das Bundesamt für Justiz diesem Anliegen zwar aus außenpolitischen Gründen zunächst nicht nachgekommen, habe jedoch die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation am 14. Juni 2016 unterrichtet. Unabhängig davon, dass eine solche Unterrichtung im Verfahren nach § 29 IRG nicht entscheidungserheblich sei, obliege es nämlich grundsätzlich dem Beschwerdeführer selbst, im ersuchenden Staat seine Einwendungen gegen die Berechtigung einer dortigen Haftanordnung geltend zu machen, sei es im Vorverfahren oder während der Hauptverhandlung. Auf diese Möglichkeit sei der Beschwerdeführer im Beschluss vom 11. April 2016 und mit Verfügung vom 3. Juni 2016 ausdrücklich hingewiesen worden. Er habe dies jedoch durch Schreiben seines der russischen Sprache mächtigen Pflichtbeistandes vom 20. Mai 2016 ablehnen lassen und die Ansicht vertreten, es sei nicht seine Aufgabe, den russischen Justizbehörden die aus seiner Sicht entlastenden Beweismittel zur Kenntnis zu bringen. Damit verkenne er Sinn und Zweck des deutschen Auslieferungsverfahrens, welches kein eigenständiges Strafverfahren darstelle, sondern lediglich ein Verfahren zur Unterstützung einer ausländischen Strafverfolgung sei, weshalb eine auch vorliegend nicht veranlasste Prüfung des hinreichenden Tatverdachts im Auslieferungsverfahren im Regelfall nicht stattfinde.

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13. Der Beschwerdeführer rügt in seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung des in Art. 3 Abs. 1 GG verankerten Willkürverbots sowie des aus den einzelnen Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abzuleitenden Gebots der Verhältnismäßigkeit.

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a) Die Einwände des Beschwerdeführers richten sich zunächst gegen die Ausführungen des Oberlandesgerichts zu dem nach russischem Strafrecht zu erwartenden Strafmaß. Verfassungsrechtlich bedenklich sei, dass das Oberlandesgericht offensichtlich sich aufdrängende Fakten schlicht ignoriert oder nicht berücksichtigt habe. Offensichtlich rechtsfehlerhaft sei beispielsweise der Ausgangspunkt des Oberlandesgerichts, dass den Beschwerdeführer eine Maximalstrafe von 13 (sic!) Jahren erwarte. Tatsächlich hätten die russischen Behörden mitgeteilt, dass eine Höchststrafe von 15 Jahren erwartet werden könne. Wegen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG zähle es zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen Verfassungsordnung, dass eine angedrohte oder verhängte Strafe nicht grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein dürfe. Die gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung müsse erkennen lassen, dass das Gericht die Vereinbarkeit der Auslieferung mit den verfassungsrechtlichen Mindeststandards sorgfältig geprüft habe. Hinsichtlich der Höhe der zu erwartenden Strafe habe das Oberlandesgericht falsch recherchiert.

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b) Zudem habe sich das Oberlandesgericht mit Zusicherungen der Russischen Föderation zufrieden gegeben, obwohl aus vielerlei Hinsicht erkennbar sei, dass diese abstrakten Zusicherungen nicht den Realitäten entsprächen. Es wäre die Aufgabe des Oberlandesgerichts gewesen, weitere Recherchen anzustellen, um die Realität sowohl der Strafhaft als auch des zu erwartenden Strafverfahrens zu überprüfen. Dies betreffe sowohl die notwendige medizinische Behandlung des HIV-infizierten Beschwerdeführers als auch eine drohende Verurteilung wegen weiterer Straftatbestände, die nicht Gegenstand des Auslieferungsersuchens seien. Eine solche Aufklärung habe das Oberlandesgericht nicht betrieben. Es habe damit die sich aufdrängende Gefahr einer missbräuchlichen Nutzung des Auslieferungsverfahrens durch die russischen Behörden und die Justiz erhöht und dazu beigetragen, die Gefahr der Grundrechtsverletzung zu Lasten des Beschwerdeführers zu stabilisieren.

37

c) Schließlich habe das Oberlandesgericht die Auslegung von § 10 Abs. 2 IRG in verfassungswidriger Weise verengt. Es überspanne die Anforderungen, wenn es ohne gesetzliche Anhaltspunkte davon ausgehe, dass besondere Umstände im Sinne von § 10 Abs. 2 IRG erst vorliegen könnten, wenn die von der Verteidigung vorgelegten Unterlagen einen zweifelsfreien und eindeutigen Schluss zuließen, dass der Beschwerdeführer die ihm vorgeworfene Tat nicht begangen haben könne. Die Krankenhausbescheinigung, wonach der Beschwerdeführer in einem bestimmten Zeitraum "im wissenschaftlichen Forschungszentrum […] behandelt wurde", lasse primär nur die Deutung zu, dass der Beschwerdeführer sich in dieser Zeit im Krankenhaus aufgehalten habe und daher nicht am Tatort habe sein können. Überspannte Anforderungen würden auch deutlich, wenn das Oberlandesgericht den Zeugenbeweis in diesem Zusammenhang ablehne, weil Zeugenaussagen gewürdigt werden müssten. Da dies für alle Zeugenaussagen gelte, erscheine es weder einfachrechtlich noch verfassungsrechtlich nachvollziehbar, hieraus zu gewinnende Erkenntnisse bei der Tatsachensammlung nach § 10 Abs. 2 IRG vollständig auszublenden. Eine nicht willkürliche Auslegung des § 10 IRG müsse eine hohe Wahrscheinlichkeit der fehlenden Täterschaft des Beschwerdeführers ausreichen lassen, um ein Auslieferungsbegehren für unzulässig zu erklären.

II.

38

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, da sie keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. § 93a Abs. 2 BVerfGG).

39

Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestands sowie die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den konkreten Fall sind auch im Auslieferungsverfahren Sache der Fachgerichte; das Bundesverfassungsgericht greift hier nur ein, wenn spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist, wenn also der Fehler gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegt (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>).

40

Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinen Grundrechten. Die Auslieferung des Beschwerdeführers ist verfassungsrechtlich zulässig. Die dem Beschwerdeführer im Falle einer Verurteilung in der Russischen Föderation drohende Strafe ist nicht unerträglich hart (1.). Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Russischen Föderation im Hinblick auf die von ihr erteilten Zusagen kein Vertrauen entgegengebracht werden kann (2.). Schließlich erscheint die vom Oberlandesgericht vorgenommene Auslegung von § 10 Abs. 2 IRG im Ergebnis nicht willkürlich (3.).

41

1. Die dem Beschwerdeführer im Falle einer Verurteilung in der Russischen Föderation drohende Strafe ist nicht unerträglich hart.

42

a) Im Auslieferungsverfahren gilt der Grundsatz der Amtsaufklärung (vgl. BVerfGE 60, 348 <358>; BVerfGK 18, 63 <73>). Behörden und Gerichte müssen sich vergewissern, dass die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen vereinbar sind (vgl. BVerfGE 63, 332 <337 f.>; 75, 1 <19>; 108, 129 <136>; 113, 154 <162>). Einfachrechtlich erklärt § 73 Satz 1 IRG die Auslieferung für unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widerspräche.

43

aa) Zu den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen zählt das aus den einzelnen Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Gebot der Verhältnismäßigkeit. Den zuständigen Organen der Bundesrepublik Deutschland ist es verwehrt, einen Verfolgten auszuliefern, wenn die Strafe, die ihm im ersuchenden Staat droht, unerträglich hart, mithin unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheint. Tatbestand und Rechtsfolge müssen sachgerecht aufeinander abgestimmt sein (vgl. BVerfGE 50, 205 <214 f.>; 75, 1 <16>; 113, 154 <162>). Ebenso zählt es wegen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen Verfassungsordnung, dass eine angedrohte oder verhängte Strafe nicht grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein darf (vgl. BVerfGE 75, 1 <16 f.>; 108, 129 <136 f.>).

44

bb) Anderes gilt, wenn die zu vollstreckende Strafe lediglich als in hohem Maße hart anzusehen ist und bei einer Beurteilung allein anhand deutschen Verfassungsrechts nicht mehr als angemessen erachtet werden könnte. Da das Grundgesetz von der Eingliederung Deutschlands in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft ausgeht (vgl. Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 23 bis Art. 26 GG; vgl. auch BVerfGE 111, 307 <317 ff.>), gebietet es zugleich, im Rechtshilfeverkehr auch dann Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten (vgl. BVerfGE 75, 1 <16 f.>; 108, 129 <137>), wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen. Soll der in gegenseitigem Interesse bestehende zwischenstaatliche Auslieferungsverkehr erhalten und die außenpolitische Handlungsfreiheit der Bundesregierung unangetastet bleiben, so dürfen die Gerichte nur die Verletzung der unabdingbaren Grundsätze der deutschen Verfassungsordnung als unüberwindbares Hindernis für eine Auslieferung zugrunde legen (vgl. BVerfGE 113, 154 <162 f.>).

45

b) Vor diesem Hintergrund hatte das Bundesverfassungsgericht keine Bedenken gegen eine Auslieferung zur Strafverfolgung nach Griechenland, obwohl dem Auszuliefernden dort eine lebenslange Freiheitsstrafe drohte. Diese Strafdrohung hat die Kammer nicht für unerträglich hart befunden, weil die Anklage einen Fall schwerer Drogenkriminalität und damit eine Tat betraf, die auch nach deutschem Recht mit Freiheitsstrafe von 15 Jahren bedroht war, und das griechische Recht nach einer Verbüßung von 20 Jahren der Freiheitsstrafe bei guter Führung die Entlassung aus der Haft gewährte. Angesichts der konkreten Chance auf vorzeitige Entlassung stand die drohende Freiheitsstrafe zu der - schwerwiegenden - Verfehlung nicht so außer Verhältnis, dass sie als schlechthin unangemessen anzusehen war (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. März 1994 - 2 BvR 2037/93 -, juris, Rn. 14 ff.).

46

Das Bundesverfassungsgericht hatte auch keine Bedenken gegen eine Auslieferung nach Indien, obwohl dem Betroffenen dort ebenfalls eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Betrugsdelikten drohte. Da die einzelnen Staaten gerade im Bereich der Vermögensdelikte unterschiedliche Auffassungen über die Strafwürdigkeit hätten, sei diese Strafdrohung nicht unerträglich hart im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 108, 129 <143 f.>). Ebenso wenig ist eine Auslieferung an die Vereinigten Staaten von Amerika beanstandet worden, wo dem Betroffenen wegen "schweren Mordes" eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit der vorzeitigen Bewährung drohte (vgl. BVerfGE 113, 154). Bei schwersten Rechtsgutverletzungen kann die Anordnung einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit dem Gebot des sinn- und maßvollen Strafens vereinbar sein (vgl. BVerfGE 45, 187 <254 ff.>; 64, 261 <271>; 113, 154 <163 f.>), sofern für den Betroffenen zumindest eine praktische Möglichkeit besteht, seine Freiheit wiederzuerlangen (vgl. BVerfGE 113, 154 <166 f.>).

47

c) In Anbetracht dessen erscheint die Dauer einer dem Beschwerdeführer im Falle seiner Verurteilung in Russland drohenden Strafhaft von bis zu 15 Jahren nicht unerträglich hart. Zwar hat das Oberlandesgericht bei der Ermittlung des Strafmaßes eine Höchstdauer von zwölf Jahren angenommen, obwohl die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation das Höchstmaß der zu erwartenden Strafe mit 15 Jahren beziffert hatte. Angesichts der oben aufgezeigten Maßstäbe ergeben sich jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Haftdauer von bis zu 15 Jahren grob unverhältnismäßig wäre, zumal auch nach deutschem Strafrecht ein schwerer Raub nach § 250 StGB mit mindestens drei Jahren Freiheitsstrafe belegt ist und selbst in minder schweren Fällen die Freiheitsstrafe nach § 250 Abs. 3 StGB ein Jahr bis zu zehn Jahre beträgt.

48

2. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Russischen Föderation im Hinblick auf die von ihr erteilten Zusagen kein Vertrauen entgegengebracht werden kann.

49

a) Auch wenn im Auslieferungsverfahren der Grundsatz der Amtsaufklärung gilt, ist im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und anderen Staaten, insbesondere wenn dieser auf einer völkervertraglichen Grundlage durchgeführt wird, dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen. Dieser Grundsatz kann so lange Geltung beanspruchen, wie er nicht durch entgegenstehende Tatsachen erschüttert wird (vgl. BVerfGE 109, 13 <35 f.>; 109, 38 <61>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14 -, juris, Rn. 68). Ausnahmen von diesem Grundsatz sind nur in besonders gelagerten Fällen gerechtfertigt (vgl. BVerfGE 60, 348 <355 f.>; 63, 197 <206>; 109, 13 <33>; 109, 38 <59>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14 -, juris, Rn. 68). Vor diesem Hintergrund hat der Betroffene - wie auch im asylrechtlichen Verfahren - eine Darlegungslast, mit der er den an der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung beteiligten Stellen hinreichende Anhaltspunkte für ihre Ermittlungen geben muss (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14 -, juris, Rn. 69; BVerfGK 6, 334 <342>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, juris, Rn. 17).

50

b) Die von einem Verfolgten behauptete Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung steht einer Auslieferung nicht schon dann entgegen, wenn sie aufgrund eines bekanntgewordenen früheren Vorfalls nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Vielmehr müssen begründete Anhaltspunkte für die Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung vorliegen (vgl. BVerfGE 108, 129 <138>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14 -, juris, Rn. 71; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, juris, Rn. 17). Es müssen stichhaltige Gründe gegeben sein, nach denen gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass in dem ersuchenden Staat die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht eingehalten werden. Auf konkrete Anhaltspunkte kommt es in der Regel nur dann nicht an, wenn in dem ersuchenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte herrscht. Die Auslieferung in Staaten, die eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweisen, wird regelmäßig die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der elementaren Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung begründen (vgl. BVerfGE 108, 129 <138 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14 -, juris, Rn. 71; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Oktober 2007 - 2 BvR 1680/07 -, NVwZ 2008, S. 71 <72>).

51

c) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind vom ersuchenden Staat im Auslieferungsverkehr gegebene völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird (vgl. BVerfGE 63, 215 <224>; 109, 38 <62>; BVerfGK 2, 165 <172 f.>; 3, 159 <165>; 6, 13 <19>; 6, 334 <343>; 13, 128 <136>; 13, 557 <561>; 14, 372 <377 f.>); auch ist die Zusicherung der Spezialität der Strafverfolgung in der Regel als ausreichende Garantie gegen eine drohende politische Verfolgung des Auszuliefernden anzusehen (vgl. BVerfGE 15, 249 <251 f.>; 38, 398 <402>; 60, 348 <358>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. April 2015 - 2 BvR 221/15 -, juris, Rn. 17).

52

d) Die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation hat zugesichert, der Beschwerdeführer werde in Übereinstimmung mit Art. 3 EMRK nicht gefoltert, grausam, unmenschlich oder erniedrigend behandelt oder bestraft. Ferner hat die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation zugesagt, dass der Beschwerdeführer eine seiner HIV-Infektion entsprechende medizinische Betreuung erhalten und in einer Zelle untergebracht werde, die mit insgesamt nicht mehr als vier Personen belegt würde. Darüber hinaus wurde eine Garantie abgegeben, dass den Mitarbeitern des Konsulardienstes der Deutschen Botschaft beziehungsweise von ihr bestimmten Ärzten die Möglichkeit gegeben werde, den Beschwerdeführer in der Vollzugsanstalt zum Zweck der Kontrolle der Einhaltung der abgegebenen Garantien und zur Überprüfung seines Gesundheitszustandes zu besuchen; auch wurde die Möglichkeit der Einsichtnahme in die Krankenakte des Beschwerdeführers durch die von der deutschen Botschaft bestimmten Ärzte zugesichert. Diese Zusicherung ermöglicht die gebotene effektive Kontrolle der konventionskonformen Behandlung des Beschwerdeführers durch deutsche Stellen und ist daher geeignet, etwaige Zweifel an ihrer Einhaltung zu zerstreuen. Zweifel an der Zusicherung könnten sich etwa dann ergeben, wenn sich erwiese, dass in der Vergangenheit abgegebene Zusicherungen und Garantien durch den ersuchenden Staat nicht eingehalten worden wären. Hierfür ist aber weder etwas vorgetragen noch aus den Verfahrensakten oder auf sonstige Weise ersichtlich. Die allgemeinen Bedenken, die der Beschwerdeführer gegen das russische Strafverfahren und den russischen Strafvollzug vorträgt, vermögen die Belastbarkeit der von der Russischen Föderation gegebenen Zusicherungen im vorliegenden Fall nicht zu erschüttern.

53

3. Die vom Oberlandesgericht vorgenommene Auslegung von § 10 Abs. 2 IRG erscheint im Ergebnis nicht willkürlich. Mit Blick auf das in Art. 3 Abs. 1 GG niedergelegte Willkürverbot prüft das Bundesverfassungsgericht, ob die Anwendung der einschlägigen einfachrechtlichen Bestimmungen und das dazu eingeschlagene Verfahren unter keinem denkbaren Gesichtspunkt vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung des Fachgerichts auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 80, 48 <51>; 108, 129 <137, 142 f.>; 109, 13 <33>; 109, 38 <59>; BVerfGK 2, 82 <85>; 2, 165 <173>; 6, 334 <342>). Dabei macht eine fehlerhafte Auslegung des Gesetzes allein eine Gerichtsentscheidung noch nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird (vgl. BVerfGE 87, 273 <279>; BVerfGK 17, 178 <184>).

54

a) Nach § 10 Abs. 2 IRG ist der dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Tatverdacht nur zu prüfen, wenn besondere Umstände hierzu Anlass geben. Die vom Oberlandesgericht insoweit vorgenommene Auslegung dieser Vorschrift ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Wahrheitsgehalt von im Rahmen des Auslieferungsverfahrens abgegebenen Zeugenaussagen und Bestätigungen kann jedenfalls angezweifelt werden und macht insbesondere weitere Ermittlungen notwendig. Derartige Überprüfungen und Erhebungen sind aber stets Sache des Staates, der das Strafverfahren betreibt und um Auslieferung ersucht, nicht Sache des um die Auslieferung ersuchten Staates (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2008 - 2 BvR 2386/08 -, juris, Rn. 15).

55

b) Zwar ist nicht nachvollziehbar, weshalb das Oberlandesgericht von seiner ursprünglichen Auffassung, der Grundsatz eines fairen Verfahrens könne es im Einzelfall gebieten, dem ersuchenden Staat eine diesem ersichtlich nicht bekannte Einlassung eines aus dortiger Sicht Tatverdächtigen mit der Bitte um Prüfung der Aufrechterhaltung des Auslieferungsersuchens zur Kenntnis zu bringen, abgewichen ist, indem es die Nichtweiterleitung einer entsprechenden Anfrage an die russischen Behörden durch das Bundesamt für Justiz zunächst hingenommen und auch nach Weiterleitung der Anfrage nicht auf den Eingang einer Antwort durch die russischen Behörden gewartet und auf die ursprünglich für erforderlich erachtete Prüfung durch die russischen Behörden verzichtet hat. Im Ergebnis ist dies jedoch unschädlich, da eine Tatverdachtsprüfung nach § 10 Abs. 2 IRG im vorliegenden Fall verfassungsrechtlich nicht geboten war. Das Oberlandesgericht hat in noch vertretbarer Weise ausgeführt, dass die Angaben des Beschwerdeführers und die von ihm vorgelegten Bescheinigungen nicht frei von Zweifeln seien und nur in dem Strafverfahren in der Russischen Föderation geprüft werden könnten. Diese Auslegung und Anwendung von § 10 Abs. 2 IRG war jedenfalls nicht willkürlich.

III.

56

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

57

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

58

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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(1) Die Auslieferung ist nur zulässig, wenn wegen der Tat ein Haftbefehl, eine Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung oder ein vollstreckbares, eine Freiheitsentziehung anordnendes Erkenntnis einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates und eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen vorgelegt worden sind. Wird um Auslieferung zur Verfolgung mehrerer Taten ersucht, so genügt hinsichtlich der weiteren Taten anstelle eines Haftbefehls oder einer Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung die Urkunde einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates, aus der sich die dem Verfolgten zur Last gelegte Tat ergibt.

(2) Geben besondere Umstände des Falles Anlaß zu der Prüfung, ob der Verfolgte der ihm zur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig erscheint, so ist die Auslieferung ferner nur zulässig, wenn eine Darstellung der Tatsachen vorgelegt worden ist, aus denen sich der hinreichende Tatverdacht ergibt.

(3) Die Auslieferung zur Vollstreckung einer Strafe oder einer sonstigen Sanktion, die in einem dritten Staat verhängt wurde, ist nur zulässig, wenn

1.
das vollstreckbare, eine Freiheitsentziehung anordnende Erkenntnis und eine Urkunde des dritten Staates, aus der sich sein Einverständnis mit der Vollstreckung durch den Staat ergibt, der die Vollstreckung übernommen hat,
2.
eine Urkunde einer zuständigen Stelle des Staates, der die Vollstreckung übernommen hat, nach der die Strafe oder sonstige Sanktion dort vollstreckbar ist,
3.
eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen sowie
4.
im Fall des Absatzes 2 eine Darstellung im Sinne dieser Vorschrift
vorgelegt worden sind.

(1) Nach dem Eingang des Auslieferungsersuchens kann gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft angeordnet werden, wenn

1.
die Gefahr besteht, daß er sich dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung entziehen werde, oder
2.
auf Grund bestimmter Tatsachen der dringende Verdacht begründet ist, daß der Verfolgte die Ermittlung der Wahrheit in dem ausländischen Verfahren oder im Auslieferungsverfahren erschweren werde.

(2) Absatz 1 gilt nicht, wenn die Auslieferung von vornherein unzulässig erscheint.

(1) Reichen die Auslieferungsunterlagen zur Beurteilung der Zulässigkeit der Auslieferung nicht aus, so entscheidet das Oberlandesgericht erst, wenn dem ersuchenden Staat Gelegenheit gegeben worden ist, ergänzende Unterlagen beizubringen. Für ihre Beibringung kann eine Frist gesetzt werden.

(2) Das Oberlandesgericht kann den Verfolgten vernehmen. Es kann sonstige Beweise über die Zulässigkeit der Auslieferung erheben. Im Fall des § 10 Abs. 2 erstreckt sich die Beweiserhebung über die Zulässigkeit der Auslieferung auch darauf, ob der Verfolgte der ihm zur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig erscheint. Art und Umfang der Beweisaufnahme bestimmt das Oberlandesgericht, ohne durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein.

(3) Das Oberlandesgericht kann eine mündliche Verhandlung durchführen.

(1) Die Auslieferung ist nur zulässig, wenn wegen der Tat ein Haftbefehl, eine Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung oder ein vollstreckbares, eine Freiheitsentziehung anordnendes Erkenntnis einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates und eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen vorgelegt worden sind. Wird um Auslieferung zur Verfolgung mehrerer Taten ersucht, so genügt hinsichtlich der weiteren Taten anstelle eines Haftbefehls oder einer Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung die Urkunde einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates, aus der sich die dem Verfolgten zur Last gelegte Tat ergibt.

(2) Geben besondere Umstände des Falles Anlaß zu der Prüfung, ob der Verfolgte der ihm zur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig erscheint, so ist die Auslieferung ferner nur zulässig, wenn eine Darstellung der Tatsachen vorgelegt worden ist, aus denen sich der hinreichende Tatverdacht ergibt.

(3) Die Auslieferung zur Vollstreckung einer Strafe oder einer sonstigen Sanktion, die in einem dritten Staat verhängt wurde, ist nur zulässig, wenn

1.
das vollstreckbare, eine Freiheitsentziehung anordnende Erkenntnis und eine Urkunde des dritten Staates, aus der sich sein Einverständnis mit der Vollstreckung durch den Staat ergibt, der die Vollstreckung übernommen hat,
2.
eine Urkunde einer zuständigen Stelle des Staates, der die Vollstreckung übernommen hat, nach der die Strafe oder sonstige Sanktion dort vollstreckbar ist,
3.
eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen sowie
4.
im Fall des Absatzes 2 eine Darstellung im Sinne dieser Vorschrift
vorgelegt worden sind.

Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.

(1) Nach dem Eingang des Auslieferungsersuchens kann gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft angeordnet werden, wenn

1.
die Gefahr besteht, daß er sich dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung entziehen werde, oder
2.
auf Grund bestimmter Tatsachen der dringende Verdacht begründet ist, daß der Verfolgte die Ermittlung der Wahrheit in dem ausländischen Verfahren oder im Auslieferungsverfahren erschweren werde.

(2) Absatz 1 gilt nicht, wenn die Auslieferung von vornherein unzulässig erscheint.

(1) Die Auslieferung ist nur zulässig, wenn wegen der Tat ein Haftbefehl, eine Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung oder ein vollstreckbares, eine Freiheitsentziehung anordnendes Erkenntnis einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates und eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen vorgelegt worden sind. Wird um Auslieferung zur Verfolgung mehrerer Taten ersucht, so genügt hinsichtlich der weiteren Taten anstelle eines Haftbefehls oder einer Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung die Urkunde einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates, aus der sich die dem Verfolgten zur Last gelegte Tat ergibt.

(2) Geben besondere Umstände des Falles Anlaß zu der Prüfung, ob der Verfolgte der ihm zur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig erscheint, so ist die Auslieferung ferner nur zulässig, wenn eine Darstellung der Tatsachen vorgelegt worden ist, aus denen sich der hinreichende Tatverdacht ergibt.

(3) Die Auslieferung zur Vollstreckung einer Strafe oder einer sonstigen Sanktion, die in einem dritten Staat verhängt wurde, ist nur zulässig, wenn

1.
das vollstreckbare, eine Freiheitsentziehung anordnende Erkenntnis und eine Urkunde des dritten Staates, aus der sich sein Einverständnis mit der Vollstreckung durch den Staat ergibt, der die Vollstreckung übernommen hat,
2.
eine Urkunde einer zuständigen Stelle des Staates, der die Vollstreckung übernommen hat, nach der die Strafe oder sonstige Sanktion dort vollstreckbar ist,
3.
eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen sowie
4.
im Fall des Absatzes 2 eine Darstellung im Sinne dieser Vorschrift
vorgelegt worden sind.

(1) Die Auslieferung ist nur zulässig, wenn die Tat auch nach deutschem Recht eine rechtswidrige Tat ist, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, oder wenn sie bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts auch nach deutschem Recht eine solche Tat wäre.

(2) Die Auslieferung zur Verfolgung ist nur zulässig, wenn die Tat nach deutschem Recht im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist oder wenn sie bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts nach deutschem Recht mit einer solchen Strafe bedroht wäre.

(3) Die Auslieferung zur Vollstreckung ist nur zulässig, wenn wegen der Tat die Auslieferung zur Verfolgung zulässig wäre und wenn eine freiheitsentziehende Sanktion zu vollstrecken ist. Sie ist ferner nur zulässig, wenn zu erwarten ist, daß die noch zu vollstreckende freiheitsentziehende Sanktion oder die Summe der noch zu vollstreckenden freiheitsentziehenden Sanktionen mindestens vier Monate beträgt.

(1) Wer mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.

(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.

(1) Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu erkennen, wenn

1.
der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub
a)
eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt,
b)
sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden,
c)
eine andere Person durch die Tat in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bringt oder
2.
der Täter den Raub als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Raub oder Diebstahl verbunden hat, unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds begeht.

(2) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub

1.
bei der Tat eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet,
2.
in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 eine Waffe bei sich führt oder
3.
eine andere Person
a)
bei der Tat körperlich schwer mißhandelt oder
b)
durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt.

(3) In minder schweren Fällen der Absätze 1 und 2 ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.

(1) Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selbst oder durch einen anderen begeht.

(2) Begehen mehrere die Straftat gemeinschaftlich, so wird jeder als Täter bestraft (Mittäter).

Die Leistung von Rechtshilfe sowie die Datenübermittlung ohne Ersuchen ist unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde. Bei Ersuchen nach dem Achten, Neunten, Zehnten und Dreizehnten Teil ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn die Erledigung zu den in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde.

(1) Hat sich der Verfolgte nicht mit der vereinfachten Auslieferung (§ 41) einverstanden erklärt, so beantragt die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht die Entscheidung des Oberlandesgerichts darüber, ob die Auslieferung zulässig ist.

(2) Die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht kann die Entscheidung des Oberlandesgerichts auch dann beantragen, wenn sich der Verfolgte mit der vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt hat.

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

(1) Die Auslieferung ist nur zulässig, wenn wegen der Tat ein Haftbefehl, eine Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung oder ein vollstreckbares, eine Freiheitsentziehung anordnendes Erkenntnis einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates und eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen vorgelegt worden sind. Wird um Auslieferung zur Verfolgung mehrerer Taten ersucht, so genügt hinsichtlich der weiteren Taten anstelle eines Haftbefehls oder einer Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung die Urkunde einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates, aus der sich die dem Verfolgten zur Last gelegte Tat ergibt.

(2) Geben besondere Umstände des Falles Anlaß zu der Prüfung, ob der Verfolgte der ihm zur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig erscheint, so ist die Auslieferung ferner nur zulässig, wenn eine Darstellung der Tatsachen vorgelegt worden ist, aus denen sich der hinreichende Tatverdacht ergibt.

(3) Die Auslieferung zur Vollstreckung einer Strafe oder einer sonstigen Sanktion, die in einem dritten Staat verhängt wurde, ist nur zulässig, wenn

1.
das vollstreckbare, eine Freiheitsentziehung anordnende Erkenntnis und eine Urkunde des dritten Staates, aus der sich sein Einverständnis mit der Vollstreckung durch den Staat ergibt, der die Vollstreckung übernommen hat,
2.
eine Urkunde einer zuständigen Stelle des Staates, der die Vollstreckung übernommen hat, nach der die Strafe oder sonstige Sanktion dort vollstreckbar ist,
3.
eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen sowie
4.
im Fall des Absatzes 2 eine Darstellung im Sinne dieser Vorschrift
vorgelegt worden sind.

(1) Die Verfassungsbeschwerde bedarf der Annahme zur Entscheidung.

(2) Sie ist zur Entscheidung anzunehmen,

a)
soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt,
b)
wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 genannten Rechte angezeigt ist; dies kann auch der Fall sein, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht.

(1) Die Auslieferung ist nur zulässig, wenn wegen der Tat ein Haftbefehl, eine Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung oder ein vollstreckbares, eine Freiheitsentziehung anordnendes Erkenntnis einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates und eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen vorgelegt worden sind. Wird um Auslieferung zur Verfolgung mehrerer Taten ersucht, so genügt hinsichtlich der weiteren Taten anstelle eines Haftbefehls oder einer Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung die Urkunde einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates, aus der sich die dem Verfolgten zur Last gelegte Tat ergibt.

(2) Geben besondere Umstände des Falles Anlaß zu der Prüfung, ob der Verfolgte der ihm zur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig erscheint, so ist die Auslieferung ferner nur zulässig, wenn eine Darstellung der Tatsachen vorgelegt worden ist, aus denen sich der hinreichende Tatverdacht ergibt.

(3) Die Auslieferung zur Vollstreckung einer Strafe oder einer sonstigen Sanktion, die in einem dritten Staat verhängt wurde, ist nur zulässig, wenn

1.
das vollstreckbare, eine Freiheitsentziehung anordnende Erkenntnis und eine Urkunde des dritten Staates, aus der sich sein Einverständnis mit der Vollstreckung durch den Staat ergibt, der die Vollstreckung übernommen hat,
2.
eine Urkunde einer zuständigen Stelle des Staates, der die Vollstreckung übernommen hat, nach der die Strafe oder sonstige Sanktion dort vollstreckbar ist,
3.
eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen sowie
4.
im Fall des Absatzes 2 eine Darstellung im Sinne dieser Vorschrift
vorgelegt worden sind.

Die Leistung von Rechtshilfe sowie die Datenübermittlung ohne Ersuchen ist unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde. Bei Ersuchen nach dem Achten, Neunten, Zehnten und Dreizehnten Teil ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn die Erledigung zu den in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde.

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.

(2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.

(3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.

(1) Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.

(2) Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

(1) Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu erkennen, wenn

1.
der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub
a)
eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt,
b)
sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden,
c)
eine andere Person durch die Tat in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bringt oder
2.
der Täter den Raub als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Raub oder Diebstahl verbunden hat, unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds begeht.

(2) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub

1.
bei der Tat eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet,
2.
in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 eine Waffe bei sich führt oder
3.
eine andere Person
a)
bei der Tat körperlich schwer mißhandelt oder
b)
durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt.

(3) In minder schweren Fällen der Absätze 1 und 2 ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.

Tenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 7. November 2014 - III - 3 Ausl 108/14 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit er die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt; er wird in diesem Umfang aufgehoben. Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 27. November 2014 - III - 3 Ausl 108/14 - gegenstandslos.

2. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen.

3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

A.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Italien auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Beschwerdeführers ergangenen Strafurteils erlassen wurde.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Vereinigten Staaten von Amerika. Mit rechtskräftigem Urteil der Corte di Appello von Florenz aus dem Jahr 1992 wurde er in Abwesenheit wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie der Einfuhr und des Besitzes von Kokain zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt. Im Jahr 2014 wurde er aufgrund eines Auslieferungsersuchens der Italienischen Republik, das sich auf einen Europäischen Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft bei der Corte di Appello von Florenz aus demselben Jahr stützt, in Deutschland festgenommen.

3

a) Mit dem Europäischen Haftbefehl wird die Auslieferung des Beschwerdeführers zur Vollstreckung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe begehrt. Aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass dem Beschwerdeführer das zugrunde liegende Urteil aus dem Jahr 1992 nicht persönlich zugestellt wurde. Das Formblatt zum Europäischen Haftbefehl lautet insoweit:

d) Geben Sie an, ob die Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, persönlich erschienen ist:

1. Ja, die Person ist zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, persönlich erschienen.

2. Nein, die Person ist zu der Verhandlung, die zur Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen.

3. Bitte geben Sie zu der unter Nummer 2 angekreuzten Möglichkeit an, dass eine der folgenden Möglichkeiten zutrifft:

3.4 der Person wurde die Entscheidung nicht persönlich zugestellt, aber

- sie wird die Entscheidung unverzüglich nach der Übergabe zugestellt erhalten, und

- sie wird bei der Zustellung der Entscheidung ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann, und

- sie wird von der Frist in Kenntnis gesetzt werden, über die sie verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen, die … Tage beträgt.

4

Punkt 3.4 hatte die Generalstaatsanwaltschaft Florenz angekreuzt. Punkt 2, wonach die ersuchende Behörde bestätigt, dass die auszuliefernde Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, ließ sie hingegen offen. Die Länge der in Punkt 3.4 des Formblatts zum Europäischen Haftbefehl genannten Antragsfrist gab die Generalstaatsanwaltschaft Florenz ebenfalls nicht an.

5

b) Buchstabe d, Punkt 3.4 des Formblatts zum Europäischen Haftbefehl geht auf Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl EU Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl EU Nr. L 81 vom 27. März 2009, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl bzw. RbEuHb) zurück. Art. 4a Abs. 1 RbEuHb lautet:

Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist

(1) Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls auch verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats

a) rechtzeitig

i) entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte,

und

ii) davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

oder

b) in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist;

oder

c) nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:

i) ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht;

oder

ii) innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat;

oder

d) die Entscheidung nicht persönlich zugestellt erhalten hat, aber

i) sie unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten wird und ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann

und

ii) von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die sie gemäß dem einschlägigen Europäischen Haftbefehl verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen.

6

Italien hat eine nach Artikel 8 Absatz 3 des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI zulässige Erklärung abgegeben (ABl Nr. L 97 vom 16. April 2009, S. 26), infolge derer der Rahmenbeschluss spätestens ab dem 1. Januar 2014 Anwendung findet auf die Anerkennung und Durchführung von Entscheidungen der zuständigen italienischen Behörden, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, bei der die betroffene Person nicht anwesend war.

7

c) Die für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls maßgeblichen nationalen Vorschriften finden sich im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen - IRG - (BGBl I 1982 S. 2071). In der hier anwendbaren Fassung des Gesetzes vom 20. Juli 2006 (BGBl I S. 1721) lauteten § 73 und § 83:

§ 73 Grenze der Rechtshilfe

Die Leistung von Rechtshilfe sowie die Datenübermittlung ohne Ersuchen ist unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde. Bei Ersuchen nach dem Achten, Neunten und Zehnten Teil ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn die Erledigung zu den in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde.

§ 83 Ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzungen

Die Auslieferung ist nicht zulässig, wenn

3. bei Ersuchen zur Vollstreckung das dem Ersuchen zugrunde liegende Urteil in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist und der Verfolgte zu dem Termin nicht persönlich geladen oder nicht auf andere Weise von dem Termin, der zu dem Abwesenheitsurteil geführt hat, unterrichtet worden war, es sei denn, dass der Verfolgte in Kenntnis des gegen ihn gerichteten Verfahrens, an dem ein Verteidiger beteiligt war, eine persönliche Ladung durch Flucht verhindert hat oder ihm nach seiner Überstellung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend überprüft wird, und auf Anwesenheit bei der Gerichtsverhandlung eingeräumt wird … .

8

d) Mit Beschluss vom 14. August 2014 entschied das Oberlandesgericht Düsseldorf, dass mit Blick auf das Vorliegen eines Abwesenheitsurteils die sich aus § 83 Nr. 3 IRG ergebenden Voraussetzungen derzeit nicht feststellbar seien.

9

Aus den Angaben der italienischen Behörden folge nicht mit der erforderlichen Sicherheit, dass der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit habe, nachträglich eine umfassende gerichtliche Überprüfung der in seiner Abwesenheit erfolgten Verurteilung im Sinne einer neuen tatsächlichen Überprüfung der Feststellungen zum Schuldvorwurf und der erkannten Rechtsfolge zu erreichen. Dem Europäischen Haftbefehl lasse sich nicht entnehmen, dass der Beschwerdeführer dies durch einen einfachen Rechtsbehelf erreichen könne, der nicht an besondere Voraussetzungen geknüpft sei und der ihm keine Beweislast auferlege. Die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß Art. 630 ff. CPP (Codice di procedura penale - italienische Strafprozessordnung) sei als außerordentlicher Rechtsbehelf ein Instrument mit Ausnahmecharakter und als solches an streng geregelte Wiederaufnahmegründe - insbesondere das Vorliegen neuer Beweise - gebunden. Das Oberlandesgericht forderte von den italienischen Behörden deshalb ergänzende Auskünfte zur tatsächlichen Kenntnis des Beschwerdeführers vom Verhandlungstermin und seiner anwaltlichen Vertretung sowie eine Zusicherung, dass ihm nach seiner Überstellung vorbehaltlos das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren in seiner Anwesenheit eingeräumt werde, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend geprüft werde.

10

Mit Schreiben vom 7. Oktober 2014 teilte die Generalstaatsanwaltschaft Florenz mit, dass nach Art. 175 CPP der Verurteilte innerhalb von dreißig Tagen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Rechtsmittelfrist beantragen könne, welche im Fall der Auslieferung aus dem Ausland mit dem Datum der Überstellung beginne. Über diesen Antrag werde der Richter entscheiden, der bei Antragstellung tätig sei, im Falle einer Verurteilung der Richter, der für die Rechtsmitteleinlegung zuständig sei. Gegen die Anordnung, die den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückweise, könne Kassationsbeschwerde eingelegt werden. Ferner heißt es (zitiert nach der im Ausgangsverfahren in Auftrag gegebenen Übersetzung):

Falls dem Antrag stattgegeben wird, muss erneut eine Hauptverhandlung gegen den Verurteilten stattfinden, welcher erneut durch Anordnung geladen wird. Dem Verurteilten wird sein Verteidigungsrecht ohne Vorbehalt zugesichert.

11

Außerdem fügte die Generalstaatsanwaltschaft den Wortlaut des Art. 175 CPP in der Fassung des Gesetzes Nr. 60 vom 22. April 2005, also in der vor der Strafprozessreform aus dem Jahr 2014 geltenden Fassung, bei. Dieser lautet auszugsweise (zitiert nach der im Ausgangsverfahren in Auftrag gegebenen Übersetzung):

2. Falls ein Versäumnisurteil oder ein Strafbefehl erlassen wurde, wird der Verurteilte auf seinen Antrag in die Rechtmittelfristen oder Einspruchsfristen wiedereingesetzt, es sei denn, dass dieser in Kenntnis des Verfahrens oder der Verfügung war und freiwillig auf Einspruch oder Rechtsmittel verzichtet hat. Zu diesem Zwecke wird die Justizbehörde jede erforderliche Prüfung vornehmen.

12

Über die Kenntnis des Beschwerdeführers vom Verhandlungstermin und seine anwaltliche Vertretung gab die Generalstaatsanwaltschaft Florenz keine näheren Auskünfte.

13

e) Mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2014 machte der Beschwerdeführer geltend, er sei in Abwesenheit und ohne seine Kenntnis verurteilt worden. Ferner trug er unter Berufung auf deutschsprachige Literatur vor, die Wiedereinsetzung zur Einlegung eines Rechtsmittels stehe einem Recht auf das entzogene erstinstanzliche Verfahren nicht gleich. Die "verspätete" Berufung genüge wegen der beschränkten Prüfungskompetenz grundsätzlich nicht den Anforderungen an eine nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs. Im Regelfall finde in der Hauptverhandlung keine erneute Beweisaufnahme statt. Es handele sich um ein reines Aktenverfahren, in dem eine Beweisaufnahme nur in Ausnahmefällen möglich sei. Nach aktueller Gesetzeslage sei eine erneute Beweisaufnahme im Falle einer Abwesenheitsverurteilung nicht vorgesehen. Der Beschwerdeführer teilte dem Oberlandesgericht den Inhalt des einschlägigen Art. 603 CPP in italienischer und deutscher Sprache mit. Dieser ist in seinen Absätzen 1 bis 3 seit seinem Inkrafttreten 1988 unverändert und lautet (Italienische Strafprozeßordnung, Zweisprachige Ausgabe, Bauer/König/Kreuzer/Riz/Zanon, 1991):

1. Hat eine Partei in der Berufungsschrift oder in den gemäß Artikel 585 Absatz 4 hinterlegten Gründen die neuerliche Aufnahme von Beweisen, die bereits im Verfahren erster Instanz aufgenommen worden sind, oder die Aufnahme neuer Beweise beantragt, so ordnet das Gericht, wenn es der Ansicht ist, dass es auf Grund der Aktenlage nicht entscheiden kann, die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung an.

2. Sind die neuen Beweise erst nach dem Verfahren erster Instanz entstanden oder aufgefunden worden, so ordnet das Gericht in den in Artikel 495 Absatz 1 vorgesehenen Grenzen die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung an.

3. Die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung wird von Amts wegen angeordnet, wenn das Gericht sie für unumgänglich notwendig erachtet (604 Abs. 6).

14

Der Beschwerdeführer machte geltend, nach dem möglicherweise anwendbaren (mittlerweile allerdings durch Gesetz vom 28. April 2014 abgeschafften) Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 werde eine neue Gerichtsverhandlung nur durchgeführt, wenn der Verurteilte nachweise, dass er von dem gegen ihn geführten Verfahren in keiner Weise und zu keinem Zeitpunkt Kenntnis gehabt und diesen Umstand auch nicht zu vertreten habe. Der Beschwerdeführer teilte auch den Inhalt von Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 in italienischer und deutscher Sprache mit. Dieser lautet (Italienische Strafprozeßordnung, Zweisprachige Ausgabe, Bauer/König/Kreuzer/Riz/Zanon, 1991):

4. Das Gericht ordnet außerdem die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung an, wenn der in erster Instanz säumige Angeklagte einen entsprechenden Antrag stellt und den Beweis erbringt, dass er wegen Zufalls, wegen höherer Gewalt oder deswegen, weil er keine Kenntnis vom Ladungsdekret erhalten hatte, nicht erscheinen konnte, freilich vorausgesetzt, dass dieser Umstand im gegebenen Fall nicht auf sein Verschulden zurückzuführen ist oder dass er sich, wenn die Ladung zum Verfahren erster Instanz durch Aushändigung an den Verteidiger in den in Artikeln 159, 161, Absatz 4, und 169 vorgesehenen Fällen erfolgt ist, nicht willentlich der Kenntnisnahme von den Verfahrenshandlungen entzogen hat.

15

Die in Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 geregelte Beweis- und Darlegungslast sei identisch mit der Regelung in den früheren (vor 2005 geltenden) Fassungen des Art. 175 Abs. 2 CPP. Diese hätten dem Verurteilten die Beweis- und Darlegungslast hinsichtlich seiner Nichtkenntnis über das Verfahren auferlegt, was nach der einhelligen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ein Auslieferungshindernis begründet habe. Es liege nahe, dass Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 auf ihn anwendbar sei, weil nach einer Entscheidung der italienischenCorte di Cassazione vom 17. Juli 2014 (No. 36848) auf Abwesenheitsverfahren, die vor Inkrafttreten des Gesetzes vom 28. April 2014 durchgeführt worden seien, die alte Rechtslage Anwendung finde. Die Entscheidung der Corte di Cassazione teilte der Beschwerdeführer dem Oberlandesgericht im Wortlaut mit. Dass Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 auf ihn anwendbar sei, werde auch dadurch belegt, dass die Generalstaatsanwaltschaft Florenz den Wortlaut des Art. 175 CPP in der vor der Strafprozessreform des Jahres 2014 geltenden Fassung von 2005 übersandt habe.

16

f) Mit dem angegriffenen Beschluss vom 7. November 2014 erklärte das Oberlandesgericht die Auslieferung für zulässig. § 83 Nr. 3 IRG stehe ihr nicht entgegen. Nach den ergänzenden Angaben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 gehe der Senat davon aus, dass der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren habe, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend überprüft werde und in dem ihm auch ein Recht auf Anwesenheit zustehe. Eine solche Überprüfung des Anklagevorwurfs sei durch den Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Art. 175 CPP in der dort mitgeteilten Fassung gewährleistet. Danach werde der Verurteilte "auf seinen Antrag in die Rechtsmittel- oder Einspruchsfristen wieder eingesetzt, es sei denn, dass dieser in Kenntnis des Verfahrens oder der Verfügung" gewesen sei "und freiwillig auf den Einspruch oder Rechtsmittel verzichtet" habe.

17

Es sei davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer ein tatsächlich wirksamer, von seinem Antrag abhängiger und nicht im Ermessen der italienischen Justizbehörden stehender Rechtsbehelf auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Verfügung stehe. Zugleich sei eine umfassende Überprüfung des Abwesenheitsurteils gewährleistet. Offen bleiben könne, ob diese Prüfung im Rahmen einer Berufungshauptverhandlung oder in einem neuen erstinstanzlichen Verfahren stattfinde. Es sei schon fraglich, ob der Einwand des Beschwerdeführers, das Berufungsverfahren nach italienischem Recht biete keine umfassende Überprüfung im Sinne des § 83 Nr. 3 IRG, überhaupt durchgreifen könne. Selbst wenn - wie vom Beschwerdeführer vorgetragen - im Rahmen des italienischen Berufungsverfahrens ("appello", Art. 593 ff. CPP) in der Hauptverhandlung im Regelfall keine erneute Beweisaufnahme stattfinde, so handele es sich doch um ein Rechtsmittel, mit dem sowohl die Tat- als auch die Rechtsfrage der erneuten Prüfung unterworfen würden (unter Verweis auf Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 237). Daraus ergebe sich, dass in der Sache eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung des Abwesenheitsurteils stattfinde, in deren Rahmen eine erneute Beweisaufnahme "jedenfalls nicht ausgeschlossen" sei.

18

Ein solches Verfahren genüge den Anforderungen des § 83 Nr. 3 IRG. Die Vorschrift gehe auf Art. 5 Nr. 1 RbEuHb (in der Fassung vom 13. Juni 2002, ABl EU Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1) zurück. Bei dessen Umsetzung in deutsches Recht seien (zwar) die Voraussetzungen, unter denen ein Abwesenheitsurteil Grundlage der Auslieferung sein könne, an die von Rechtsprechung und Schrifttum zu § 73 IRG entwickelten Grundsätze angenähert worden. Aus den zu § 73 IRG entwickelten Grundsätzen ergebe sich indes kein Anspruch auf ein neues Gerichtsverfahren im Sinne einer vollständigen ersten Tatsachen- und Rechtsinstanz. Vielmehr reiche die Möglichkeit, sich nach Erlangung der Kenntnis von dem Urteil rechtliches Gehör verschaffen und wirksam verteidigen zu können. Dass mit der Einführung von § 83 Nr. 3 IRG eine Anhebung des zu § 73 IRG entwickelten Standards habe verbunden werden sollen, sei nicht ersichtlich.

19

Unabhängig von diesen allgemeinen Erwägungen ergebe sich für den vorliegenden Fall auch aus dem Antwortschreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 hinreichend deutlich, dass der Vorwurf gegen den Beschwerdeführer in einem neuen Gerichtsverfahren umfassend überprüft werde. Nach diesem Schreiben bestehe im Falle der Wiedereinsetzung ausdrücklich ein Anspruch auf eine neue Hauptverhandlung und eine erneute Ladung; auch werde dem Beschwerdeführer sein Verteidigungsrecht ohne Vorbehalt zugesichert. Auf die Frage, ob dieser gegebenenfalls einen Anspruch auf Nichtigkeitsfeststellung und/oder auf eine Wiederaufnahme gemäß Art. 603 Abs. 4 CPP habe, komme es nach alledem nicht mehr an. Die Einholung eines Rechtsgutachtens zur aktuellen Rechtslage in Italien sei nicht erforderlich gewesen.

20

2. a) Mit Gegenvorstellung vom 13. November 2014 machte der Beschwerdeführer geltend, mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Art. 175 CPP könne er nach italienischem Strafprozessrecht überhaupt nur erreichen, in die Rechtsmittelfrist einer Berufung eingesetzt zu werden. Das ergebe sich bereits aus dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014. Soweit die Generalstaatsanwaltschaft vortrage, es werde erneut eine Hauptverhandlung gegen den Verurteilten stattfinden, könne damit nur die Durchführung einer Berufungshauptverhandlung (Art. 593 ff. CPP) gemeint sein, da Art. 175 CPP lediglich die Wiedereinsetzung in eine Rechtsmittelfrist der Berufung ermögliche. Das Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen oder die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten, hätte der Beschwerdeführer nach italienischem Strafprozessrecht nur ganz ausnahmsweise, da er die Beweislast dafür trage, dass er von dem damaligen Verfahren keine Kenntnis gehabt habe. Ob eine erneute Beweisaufnahme stattfinde oder nicht, stehe zudem im Ermessen des Richters.

21

b) Mit Beschluss vom 27. November 2014 wies das Oberlandesgericht die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers als unbegründet zurück. Der Senat halte an seiner Auffassung fest, dass dem Beschwerdeführer bereits mit der - effektiv gegebenen - Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in die Rechtsmittelfrist des italienischen Berufungsverfahrens die Möglichkeit einer umfassenden Überprüfung des gegen ihn gerichteten Vorwurfs im Sinne von § 83 Nr. 3 IRG zur Verfügung stehe, da auf diese Weise eine vollständige Überprüfung der Stichhaltigkeit des gegen den Beschwerdeführer erhobenen Vorwurfs nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht gewährleistet sei. Dass die Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers gemäß Art. 6 Abs. 3 EMRK im Rahmen der Berufungshauptverhandlung eingeschränkt wären, vermöge der Senat mit Blick auf die ergänzende Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 nicht zu erkennen. Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestehe im Übrigen bei einem in erster Instanz ergangenen Abwesenheitsurteil kein Anspruch auf Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens; vielmehr solle eine Neuverhandlung vor einem Rechtsmittelgericht genügen.

22

Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahre 1985 die verspätete Berufung nach italienischem Recht als nicht ausreichende Überprüfungsmöglichkeit angesehen habe, führe vorliegend zu keiner anderen Beurteilung. Nach den damals maßgeblichen Vorschriften habe das Berufungsgericht über die Stichhaltigkeit der Anklage unter tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten nur entscheiden dürfen, wenn es der Ansicht gewesen sei, dass ein Verstoß der zuständigen Behörden gegen die bei der Erklärung einer strafverfolgten Person für "latitante" (untergetaucht) oder gegen die bei der Zustellung von Verfahrensdokumenten zu beachtenden Bestimmungen vorgelegen habe; zudem habe der Angeklagte beweisen müssen, dass er sich der Gerechtigkeit nicht habe entziehen wollen.

23

Eine derartige Beschränkung des italienischen Berufungsgerichts vermöge der Senat jedoch auch unter Berücksichtigung der von dem Beschwerdeführer vorgebrachten Bedenken für das auf diesen nunmehr anwendbare Berufungsverfahren nicht zu erkennen. Die danach jedenfalls bestehende Möglichkeit einer erneuten Erhebung bereits in erster Instanz erhobener Beweise bei der Überprüfung des Abwesenheitsurteils genüge den vom Senat in seinem Beschluss vom 7. November 2014 bereits ausführlich dargelegten Anforderungen an eine umfassende Überprüfung des Anklagevorwurfs im Sinne des § 83 Nr. 3 IRG. Die konkrete Ausgestaltung und Praxis des Berufungsverfahrens nach deutschem Recht könne im Rahmen der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union insoweit kein Maßstab sein.

II.

24

Auf den mit der Verfassungsbeschwerde verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die 3. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 27. November 2014 entschieden, die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Italienischen Republik bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen auszusetzen. Mit Beschluss vom 13. Mai 2015 hat die 3. Kammer des Zweiten Senats und mit Beschluss vom 3. November 2015 der Zweite Senat die einstweilige Anordnung vom 27. November 2014 für die Dauer von jeweils weiteren sechs Monaten, längstens jedoch bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, wiederholt (§ 32 Abs. 6 Satz 2 BVerfGG).

III.

25

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2, Art. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG, seines Grundrechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 3 EMRK), eine Verletzung der nach Art. 25 GG verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandards sowie einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 EMRK. Er habe zu keinem Zeitpunkt davon Kenntnis gehabt, dass in Italien ein Ermittlungs- beziehungsweise Strafverfahren gegen ihn geführt worden sei. Zudem sei nicht gewährleistet, dass ihm nach seiner Auslieferung das Recht auf ein Gerichtsverfahren eingeräumt werde, in dem die Tatvorwürfe in seiner Anwesenheit erneut in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überprüft würden.

26

Eine ausreichende Zusicherung der italienischen Regierung liege insoweit nicht vor. Dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 komme nicht die notwendige völkerrechtliche Verbindlichkeit zu. Das Oberlandesgericht habe die fehlende ausdrückliche Zusicherung nicht durch eine eigenständige Würdigung des Schreibens der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 ersetzen dürfen. Es hätte überprüfen müssen, ob dieser Zusicherung mit absoluter Sicherheit vertraut werden könne. Bestehende Aufklärungsmöglichkeiten, etwa die Einholung eines Sachverständigengutachtens des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, habe es nicht ausgeschöpft.

27

Dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz lasse sich auch nicht entnehmen, in welcher Weise und in welchem Rechtszug neu verhandelt würde. Da Art. 175 CPP nur die Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist gewähre, sei nach italienischem Strafverfahrensrecht (Art. 593 ff. CPP) eine erneute Beweisaufnahme nicht garantiert. Das Berufungsverfahren sei ein reines "Aktenverfahren", bei dem es nur in Ausnahmefällen zu einer erneuten Beweisaufnahme komme. Dies hänge davon ab, ob dem Beschwerdeführer der Nachweis der Unkenntnis von dem in Abwesenheit gegen ihn geführten Verfahren gelinge. Ob eine neue Beweisaufnahme durchgeführt werde, stehe zudem im Ermessen des Richters. Dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft lasse sich nicht entnehmen, dass mit der neuen Verhandlung eine erstinstanzliche Hauptverhandlung gemeint sei.

IV.

28

Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Senat vorgelegen. Der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, alle Landesregierungen, der Generalbundesanwalt und die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf hatten Gelegenheit zur Äußerung. Von den Äußerungsberechtigten hat nur der Generalbundesanwalt Stellung genommen. Er hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

29

Die Rechtsanwendung durch das Oberlandesgericht sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Die fachgerichtliche Würdigung der Erklärungen der italienischen Strafverfolgungsbehörden sei jedenfalls vertretbar. Die Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 habe das Oberlandesgericht als völkerrechtlich verbindliche Zusicherung eines neuen Verfahrens unter Wahrung der vollständigen Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers verstehen dürfen. Die Erklärung enthalte sowohl die Zusicherung eines Verfahrens, in welchem der Tatvorwurf in tatsächlicher Hinsicht geprüft werde, als auch der Wahrung der Verteidigungsrechte.

30

Das Oberlandesgericht sei verfassungsrechtlich nicht gehalten gewesen, den Sachverhalt weiter aufzuklären. Es sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht der Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vertraue. Italien sei ein Mitgliedstaat der Europäischen Union, der bei der Anwendung seiner nationalen Rechtsnormen an die Vorgaben der Rahmenbeschlüsse der Europäischen Union und die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden sei. Dass Italien die eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen verletzen würde, habe das Oberlandesgericht nicht unterstellen müssen, zumal dies dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zuwiderlaufe, der das Recht der Europäischen Union präge.

31

Der Einwand des Beschwerdeführers, das Oberlandesgericht habe die Regelungen des italienischen Strafverfahrensrechts unzureichend interpretiert, gehe fehl. Die Behauptung, aus der Rechtsprechung der italienischen Corte di Cassazione ergebe sich, dass auf Verurteilungen, die vor dem 28. April 2014 erfolgt seien, Art. 175 CPP in seiner früheren Fassung anzuwenden sei, greife nicht durch. Eine solche Lesart sei im Antragsvorbringen nicht belegt. Dass die italienische Corte di Cassazione - unter eklatantem Bruch der Europäischen Menschenrechtskonvention und entgegen dem eindeutigen Willen des italienischen Gesetzgebers - zu der vor 2005 geltenden Rechtslage zurückgekehrt sei, erscheine derart fernliegend, dass es keiner weiteren Ausführungen hierzu bedurft habe. Zudem bezögen sich die Darlegungen des Beschwerdeführers primär auf die - offenbar im Jahr 2014 aufgehobene - Regelung zum Nichtigkeitsverfahren.

32

Der vom Beschwerdeführer behaupteten Umkehr der Beweislast zu seinen Lasten stehe jedenfalls die Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 entgegen, die die Anwendbarkeit der Beweislastregeln in der seit 2005 geltenden Fassung von Art. 175 CPP bestätigt habe. Dieser Fassung sei eine Beweislast zum Nachteil des Angeklagten nicht zu entnehmen. Das Oberlandesgericht habe deshalb keinen Grund zu der Annahme gehabt, der Antragsteller müsse - im Wiederaufnahmeverfahren - seine fehlende Kenntnis von dem gegen ihn in Abwesenheit geführten Verfahren beweisen.

33

In Anbetracht der Zusicherung der italienischen Behörden habe das Oberlandesgericht auch nicht der Frage nachgehen müssen, ob dem Beschwerdeführer die neue Hauptverhandlung in einem erstinstanzlichen Verfahren oder - bei mangelndem Erfolg eines Antrags auf Feststellung der Nichtigkeit des Abwesenheitsurteils aus dem Jahre 1992 - in einem Berufungsverfahren eröffnet würde. Es habe entscheidend darauf abstellen dürfen, dass der gegen den Beschwerdeführer erhobene Tatvorwurf nach seiner Überstellung in einer Tatsacheninstanz unter Wahrung sämtlicher Verteidigungsrechte geprüft werde. Die Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 sichere dies unter Buchstabe d zu. Im Übrigen genüge es den verfassungsrechtlichen Vorgaben, wenn der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und wirksame Verteidigung in einem Verfahren wahrnehmen könne. Die Einhaltung dieser Mindestvoraussetzungen habe das Oberlandesgericht angesichts der vorliegenden Zusicherung als gewährleistet betrachten dürfen.

B.

34

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Die strengen Voraussetzungen für eine Identitätskontrolle (vgl. Rn. 49) sind erfüllt. Im Kern zutreffend setzt sich die Beschwerdeschrift mit den verfassungsrechtlichen Aspekten von in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteilen sowie mit den damit zusammenhängenden Aufklärungspflichten der Gerichte auseinander. Aus der Verfassungsbeschwerde ergibt sich nachvollziehbar die Möglichkeit, dass dem Beschwerdeführer nach seiner Überstellung nach Italien kein Rechtsbehelf zur Verfügung stehen wird, durch den das in seiner Abwesenheit ergangene Strafurteil in einer Weise angefochten werden kann, die seine nach dem Grundgesetz unabdingbaren und von der Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG umfassten Verteidigungsrechte gewährleistet (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG). Wird die Verletzung der Menschenwürdegarantie geltend gemacht, so prüft das Bundesverfassungsgericht - ungeachtet der bisherigen Rechtsprechung zur Unzulässigkeit von Verfassungsbeschwerden und Vorlagen, mit denen die Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschafts- beziehungsweise Unionsrecht gerügt wurde (vgl. BVerfGE 73, 339 <378 ff.>; 102, 147 <161 ff.>) - einen solchen schwerwiegenden Grundrechtsverstoß im Rahmen der Identitätskontrolle (vgl. BVerfGE 113, 273 <295 ff.>; 123, 267 <344, 353 f.>; 126, 286 <302 f.>; 129, 78 <100>; 134, 366 <384 f. Rn. 27>; dazu sogleich unter C.I.2.bis 5.).

C.

35

Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 und Art. 79 Abs. 3 GG.

I.

36

Hoheitsakte der Europäischen Union und - soweit sie durch das Unionsrecht determiniert werden - Akte der deutschen öffentlichen Gewalt sind mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich nicht am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu messen (1.). Der Anwendungsvorrang findet seine Grenze jedoch in den durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Grundsätzen der Verfassung (2.). Dazu gehören namentlich die Grundsätze des Art. 1 GG einschließlich des in der Menschenwürdegarantie verankerten Schuldprinzips im Strafrecht (3.). Die Gewährleistung dieser Grundsätze ist auch bei der Anwendung des Rechts der Europäischen Union oder unionsrechtlich determinierter Vorschriften durch die deutsche öffentliche Gewalt im Einzelfall sicherzustellen (4.). Eine Verletzung dieses unabdingbaren Maßes an Grundrechtsschutz kann vor dem Bundesverfassungsgericht allerdings nur gerügt werden, wenn substantiiert dargelegt wird, dass die Würde des Menschen im konkreten Fall tatsächlich beeinträchtigt wird (5.).

37

1. Nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG wirkt die Bundesrepublik Deutschland an der Gründung und Fortentwicklung der Europäischen Union mit. Für den Erfolg der Europäischen Union ist die einheitliche Geltung ihres Rechts von zentraler Bedeutung (vgl. BVerfGE 73, 339 <368>; 123, 267 <399>; 126, 286 <301 f.>). Als Rechtsgemeinschaft von derzeit 28 Mitgliedstaaten könnte sie nicht bestehen, wenn die einheitliche Geltung und Wirksamkeit ihres Rechts nicht gewährleistet wäre (vgl. grundlegend EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Costa/ENEL, 6/64, Slg. 1964, S. 1251 <1269 f.>). Art. 23 Abs. 1 GG enthält insoweit auch ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen für das unionale Recht (vgl. BVerfGE 126, 286 <302>).

38

Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen, billigt das Grundgesetz daher die im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen enthaltene Einräumung eines Anwendungsvorrangs zugunsten des Unionsrechts. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 129, 78 <100>) und führt bei einer Kollision im konkreten Fall in aller Regel zu dessen Unanwendbarkeit (vgl. BVerfGE 126, 286 <301>).

39

Auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG kann der Integrationsgesetzgeber nicht nur Organe und Stellen der Europäischen Union, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt ausüben, von einer umfassenden Bindung an die Grundrechte und andere Gewährleistungen des Grundgesetzes freistellen, sondern auch deutsche Stellen, die Recht der Europäischen Union vollziehen (vgl. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 247 ff.). Das gilt nicht zuletzt für die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene, wenn diese Sekundär- oder Tertiärrecht umsetzen, ohne dabei über einen Gestaltungsspielraum zu verfügen (vgl. BVerfGE 118, 79 <95>; 122, 1 <20>). Umgekehrt sind die bei Bestehen eines Gestaltungsspielraums zur Ausfüllung erlassenen Rechtsakte einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich (vgl. BVerfGE 122, 1 <20 f.>; 129, 78 <90 f.>).

40

2. Der Anwendungsvorrang reicht jedoch nur soweit, wie das Grundgesetz und das Zustimmungsgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten erlauben oder vorsehen (vgl. BVerfGE 73, 339 <375 f.>; 89, 155 <190>; 123, 267 <348 ff.>; 126, 286 <302>; 129, 78 <99>; 134, 366 <384 Rn. 26>). Der im Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl kann nur im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung erteilt werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <402>). Grenzen für die Öffnung deutscher Staatlichkeit ergeben sich - jenseits des im Zustimmungsgesetz niedergelegten Integrationsprogramms in seiner konkreten Ausgestaltung - aus der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Verfassungsidentität des Grundgesetzes (a). Dies ist mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) vereinbar (b) und wird auch dadurch bestätigt, dass sich im Verfassungsrecht der meisten anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vergleichbare Grenzen finden (c).

41

a) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts wird im Wesentlichen durch die in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsänderungs- und integrationsfest ausgestaltete Verfassungsidentität des Grundgesetzes begrenzt (aa). Zu deren Sicherstellung dient die Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht (bb).

42

aa) Soweit Maßnahmen eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen geschützte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge (vgl. BVerfGE 113, 273 <296>; 123, 267 <348>; 134, 366 <384 Rn. 27>). Auf eine Rechtsfortbildung zunächst verfassungsmäßiger Einzelermächtigungen kann sie ebenfalls nicht gestützt werden, weil das Organ oder die Stelle der Europäischen Union damit ultra vires handelte (vgl. BVerfGE 134, 366 <384 Rn. 27>).

43

bb) Im Rahmen der Identitätskontrolle ist zu prüfen, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze durch eine Maßnahme der Europäischen Union berührt werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <344, 353 f.>; 126, 286 <302>; 129, 78 <100>; 134, 366 <384 f. Rn. 27>). Diese Prüfung kann - wie der Solange-Vorbehalt (vgl. BVerfGE 37, 271 <277 ff.>; 73, 339 <387>; 102, 147 <161 ff.>) oder die Ultra-vires-Kontrolle (BVerfGE 58, 1 <30 f.>; 75, 223 <235, 242>; 89, 155 <188>; 123, 267 <353 ff.>; 126, 286 <302 ff.>; 134, 366 <382 ff. Rn. 23 ff.>) - im Ergebnis dazu führen, dass Unionsrecht in Deutschland in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar erklärt werden muss. Um zu verhindern, dass sich deutsche Behörden und Gerichte ohne weiteres über den Geltungsanspruch des Unionsrechts hinwegsetzen, verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Art. 79 Abs. 3 GG zum Schutz der Funktionsfähigkeit der unionalen Rechtsordnung und bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aber, dass die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleibt (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>). Dies wird auch durch die Regelung des Art. 100 Abs. 2 GG unterstrichen, nach der bei Zweifeln, ob eine allgemeine Regel des Völkerrechts Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt, das Bundesverfassungsgericht angerufen werden muss (vgl. BVerfGE 37, 271 <285>). Mit der Identitätskontrolle kann das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) befasst werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <354 f.>).

44

b) Die Identitätskontrolle verstößt nicht gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit im Sinne von Art. 4 Abs. 3 EUV. Sie ist vielmehr in Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV der Sache nach angelegt (vgl. zur Berücksichtigung der nationalen Identität auch EuGH, Urteil vom 2. Juli 1996, Kommission/Luxemburg, C-473/93, SIg. 1996, I-3207, Rn. 35; Urteil vom 14. Oktober 2004, Omega, C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 31 ff.; Urteil vom 12. Juni 2014, Digibet und Albers, C-156/13, EU:C:2014:1756, Rn. 34) und entspricht insoweit auch den besonderen Gegebenheiten der Europäischen Union. Die Europäische Union ist ein Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund, der seine Grundlagen letztlich in völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten findet. Als Herren der Verträge entscheiden diese durch nationale Geltungsanordnungen darüber, ob und inwieweit das Unionsrecht im jeweiligen Mitgliedstaat Geltung und Vorrang beanspruchen kann (vgl. BVerfGE 75, 223 <242>; 89, 155 <190>; 123, 267 <348 f., 381 ff.>; 126, 286 <302 f.>; 134, 366 <384 Rn. 26>). Nicht entscheidend ist, ob die Geltungsanordnung - wie in Frankreich (Art. 55 FrzVerf.), Österreich (Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union, BGBl für die Republik Österreich Nr. 744/1994) oder Spanien (Art. 96 Abs. 1 SpanVerf.) - im nationalen Verfassungsrecht oder - wie in Großbritannien - im Zustimmungsgesetz (European Communities Act 1972; vgl. Court of Appeal, Macarthys v. Smith, <1981> 1 All ER 111 <120>; Macarthys v. Smith, <1979> 3 All ER 325 <329>; House of Lords, Garland v. British Rail Engineering, <1982> 2 All ER 402 <415>) ausdrücklich niedergelegt ist, ob sie - wie in Deutschland - aufgrund einer systematischen, teleologischen und historischen Auslegung dem Zustimmungsgesetz entnommen oder ob die Nachrangigkeit des nationalen Rechts gegenüber dem Unionsrecht - wie in Italien - durch eine einzelfallbezogene Handhabung des nationalen Rechts erreicht wird (vgl. Corte Costituzionale, Entscheidung Nr. 170/1984, Granital, EuGRZ 1985, S. 98).

45

Es bedeutet daher keinen Widerspruch zur Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (Präambel, Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG), wenn das Bundesverfassungsgericht unter eng begrenzten Voraussetzungen die Maßnahme eines Organs oder einer Stelle der Europäischen Union für in Deutschland ausnahmsweise nicht anwendbar erklärt (vgl. BVerfGE 37, 271 <280 ff.>; 73, 339 <374 ff.>; 75, 223 <235, 242>; 89, 155 <174 f.>; 102, 147 <162 ff.>; 123, 267 <354, 401>).

46

Eine substantielle Gefahr für die einheitliche Anwendung des Unionsrechts ergibt sich daraus nicht. Zum einen wird gerade im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Grundsätze des Art. 1 GG eine Verletzung schon deshalb nur selten vorkommen, weil Art. 6 EUV, die Charta der Grundrechte und die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Regel einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union gewährleisten (vgl. nur EuGH, Urteil vom 9. November 2010, Schecke und Eifert, C-92/09 und C-93/09, Slg. 2010, I-11063, Rn. 43 ff.; Urteil vom 8. April 2014, Digital Rights Ireland und Seitlinger, C-293/12 und C-594/12, EU:C:2014:238, Rn. 23 ff.; Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C-131/12, EU:C:2014:317, Rn. 42 ff., 62 ff., 89 ff.; Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C-362/14, EU:C:2015:650, Rn. 91 ff.). Zum anderen sind die dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltenen Kontrollbefugnisse zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben (vgl. BVerfGE 126, 286 <303>). Soweit erforderlich, legt es seiner Prüfung dabei die Maßnahme in der Auslegung zugrunde, die ihr in einem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV durch den Gerichtshof der Europäischen Union gegeben wurde. Das gilt nicht nur im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle, sondern auch vor der Feststellung der Unanwendbarkeit einer Maßnahme von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union in Deutschland wegen einer Berührung der durch Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 1 und 20 GG geschützten Verfassungsidentität (vgl. BVerfGE 123, 267 <353>; 126, 286 <304>; 134, 366 <385 Rn. 27>).

47

c) Die Vereinbarkeit der verfassungsgerichtlichen Identitätskontrolle mit dem Unionsrecht wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass sich, mit Modifikationen im Detail, auch im Verfassungsrecht zahlreicher anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union Vorkehrungen zum Schutz der Verfassungsidentität und der Grenzen der Übertragung von Souveränitätsrechten auf die Europäische Union finden (vgl. insoweit BVerfGE 134, 366 <387 Rn. 30>). Die weitaus überwiegende Zahl der Verfassungs- und Obergerichte der anderen Mitgliedstaaten teilt für ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, dass der (Anwendungs-)Vorrang des Unionsrechts nicht unbegrenzt gilt, sondern dass ihm durch das nationale (Verfassungs-)Recht Grenzen gezogen werden (vgl. für das Königreich Dänemark: Højesteret, Urteil vom 6. April 1998 - I 361/1997 -, Abschn. 9.8; für die Republik Estland: Riigikohus, Urteil vom 12. Juli 2012 - 3-4-1-6-12 -, Abs.-Nr. 128, 223; für die Französische Republik: Conseil Constitutionnel, Entscheidung Nr. 2006-540 DC vom 27. Juli 2006, 19. Erwägungsgrund; Entscheidung Nr. 2011-631 DC vom 9. Juni 2011, 45. Erwägungsgrund; Conseil d'État, Urteil vom 8. Februar 2007, Nr. 287110 , Société Arcelor Atlantique et Lorraine, EuR 2008, S. 57 <60 f.>; für Irland: Supreme Court of Ireland, Crotty v. An Taoiseach, <1987>, I.R. 713 <783>; S.P.U.C. Ltd. v. Grogan, <1989>, I.R. 753 <765>; für die Italienische Republik: Corte Costituzionale, Entscheidung Nr. 98/1965, Acciaierie San Michele, EuR 1966, S. 146; Entscheidung Nr. 183/1973, Frontini, EuR 1974, S. 255; Entscheidung Nr. 170/1984, Granital, EuGRZ 1985, S. 98; Entscheidung Nr. 232/1989, Fragd; Entscheidung Nr. 168/1991; Entscheidung Nr. 117/1994, Zerini; für die Republik Lettland: Satversmes tiesa, Urteil vom 7. April 2009 - 2008-35-01 -, Abs.-Nr. 17; für die Republik Polen: Trybunal Konstytucyjny, Urteile vom 11. Mai 2005 - K 18/04 -, Rn. 4.1., 10.2.; vom 24. November 2010 - K 32/09 -, Rn. 2.1. ff.; vom 16. November 2011 - SK 45/09 -, Rn. 2.4., 2.5.; für das Königreich Spanien: Tribunal Constitucional, Erklärung vom 13. Dezember 2004, DTC 1/2004, Punkt 2 der Entscheidungsgründe, EuR 2005, S. 339 <343> und Entscheidung vom 13. Februar 2014, STC 26/2014, Punkt 3 der Entscheidungsgründe, HRLJ 2014, S. 475 <477 f.>; für die Tschechische Republik: Ústavni Soud, Urteil vom 8. März 2006, Pl. ÚS 50/04, Abschn. VI.B.; Urteil vom 3. Mai 2006, Pl. ÚS 66/04, Rn. 53; Urteil vom 26. November 2008, Pl. ÚS 19/08, Rn. 97, 113, 196; Urteil vom 3. November 2009, Pl. ÚS 29/09, Rn. 110 ff.; Urteil vom 31. Januar 2012, Pl. ÚS 5/12, Abschn. VII.; für das Vereinigte Königreich: High Court, Urteil vom 18. Februar 2002, Thoburn v. Sunderland City Council, <2002> EWHC 195 , Abs.-Nr. 69; UK Supreme Court, Urteil vom 22. Januar 2014, R v. The Secretary of State for Transport, <2014> UKSC 3, Abs.-Nr. 79, 207; Urteil vom 25. März 2015, Pham v. Secretary of State for the Home Department, <2015> UKSC 19, Abs.-Nr. 54, 58, 72 bis 92).

48

3. Zu den Schutzgütern der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt sind, gehören die Grundsätze des Art. 1 GG, also die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG), aber auch der in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt (vgl. BVerfGE 123, 267 <413>).

49

4. Die in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Schutzgüter dulden auch keine Relativierung im Einzelfall (vgl. BVerfGE 113, 273 <295 ff.>; 123, 267 <344>; 126, 286 <302 f.>; 129, 78 <100>; 129, 124 <177 ff.>; 132, 195 <239 ff. Rn. 106 ff.>; 134, 366 <384 ff. Rn. 27 ff.>). Dies gilt insbesondere mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG. Die Menschenwürde stellt den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>; 30, 173 <193>; 32, 98 <108>; 117, 71 <89>). Ihre Achtung und ihr Schutz gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 45, 187 <227>; 131, 268 <286>; stRspr), denen auch der in der Präambel und in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG zum Ausdruck kommende Integrationsauftrag und die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>; 126, 286 <303>; 129, 124 <172>; 132, 287 <292 Rn. 11>) Rechnung tragen müssen. Vor diesem Hintergrund gewährleistet das Bundesverfassungsgericht im Wege der Identitätskontrolle den gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall.

50

5. Die strengen Voraussetzungen für eine Aktivierung der Identitätskontrolle schlagen sich in erhöhten Zulässigkeitsanforderungen an entsprechende Verfassungsbeschwerden nieder. Es muss im Einzelnen substantiiert dargelegt werden, inwieweit im konkreten Fall die durch Artikel 1 GG geschützte Garantie der Menschenwürde verletzt ist.

II.

51

Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts überschreitet die durch Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 und Art. 79 Abs. 3 GG gezogenen Grenzen. Der Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl betrifft das Schuldprinzip, das in der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) wurzelt und Teil der unverfügbaren Verfassungsidentität des Grundgesetzes ist (1.). Dies rechtfertigt und gebietet eine auf dieses Schutzgut beschränkte Prüfung der Entscheidung des Oberlandesgerichts am Maßstab des Grundgesetzes, obwohl diese unionsrechtlich determiniert ist (2.). Zwar genügen die der Entscheidung zugrunde liegenden Vorgaben des Unionsrechts und das zu dessen Umsetzung ergangene deutsche Recht den Anforderungen des Art. 1 Abs. 1 GG, da sie die notwendigen Rechte des Verfolgten bei Auslieferungen zur Vollstreckung von in Abwesenheit ergangenen Strafurteilen gewährleisten und eine angemessene Sachverhaltsaufklärung der mit der Auslieferung befassten Gerichte nicht nur zulassen, sondern fordern (3.). Ihre Anwendung durch das Oberlandesgericht verletzt das Schuldprinzip und damit den Beschwerdeführer jedoch in seinem Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG, weil sie der Bedeutung und Tragweite der Menschenwürde bei der Auslegung der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen nicht hinreichend Rechnung trägt (4.).

52

1. Durch den Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl kann Art. 1 Abs. 1 GG verletzt werden, weil bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils eine strafrechtliche Reaktion auf ein sozialethisches Fehlverhalten durchgesetzt wird, die ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit der Garantie der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar wäre (a). Auch in dem unionsrechtlich determinierten Verfahren der Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls müssen daher die der Ermittlung des wahren Sachverhalts dienenden rechtsstaatlichen Mindestgarantien an Verfahrensrechten des Beschuldigten sichergestellt sein, die zur Verwirklichung des materiellen Schuldprinzips erforderlich sind (b).

53

a) Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz (BVerfGE 123, 267 <413>; 133, 168 <197 Rn. 53>). Dieser den gesamten Bereich staatlichen Strafens beherrschende Grundsatz ist in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen sowie im Rechtsstaatsprinzip verankert (vgl. BVerfGE 45, 187 <259 f.>; 86, 288 <313>; 95, 96 <140>; 120, 224 <253 f.>; 130, 1 <26>; 133, 168 <197 Rn. 53>). Mit seiner Grundlage in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG gehört der Schuldgrundsatz zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist (vgl. BVerfGE 123, 267 <413>). Er muss daher auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils gewahrt werden.

54

aa) Der Grundsatz "Keine Strafe ohne Schuld" (nulla poena sine culpa) setzt die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann. Dem Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten (vgl. BVerfGE 45, 187 <227>; 123, 267 <413>; 133, 168 <197 Rn. 54>). Deshalb bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG auf dem Gebiet der Strafrechtspflege die Auffassung vom Wesen der Strafe und dem Verhältnis von Schuld und Sühne (vgl. BVerfGE 95, 96 <140>) sowie den Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt (vgl. BVerfGE 57, 250 <275>; 80, 367 <378>; 90, 145 <173>; 123, 267 <413>; 133, 168 <197 f. Rn. 54>). Mit der Strafe wird dem Täter ein sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 95, 96 <140>; 110, 1 <13>; 133, 168 <198 Rn. 54>). Das damit verbundene Unwerturteil berührt den Betroffenen in seinem in der Menschenwürde wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch (vgl. BVerfGE 96, 245 <249>; 101, 275 <287>). Eine solche staatliche Reaktion wäre ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit der Garantie der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 95, 96 <140>; 133, 168 <198 Rn. 54>).

55

bb) Der Schuldgrundsatz ist somit zugleich ein zwingendes Erfordernis des Rechtsstaatsprinzips. Das Rechtsstaatsprinzip ist eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes (BVerfGE 20, 323 <331>; 133, 168 <198 Rn. 55>). Es sichert den Gebrauch der Freiheitsrechte, indem es Rechtssicherheit gewährt, die Staatsgewalt an das Gesetz bindet und Vertrauen schützt (BVerfGE 95, 96 <130>). Das Rechtsstaatsprinzip umfasst als eine der Leitideen des Grundgesetzes auch die Forderung nach materieller Gerechtigkeit (vgl. BVerfGE 7, 89 <92>; 7, 194 <196>; 45, 187 <246>; 74, 129 <152>; 122, 248 <272>) und schließt den Grundsatz der Rechtsgleichheit als eines der grundlegenden Gerechtigkeitspostulate ein (vgl. BVerfGE 84, 90 <121>). Für den Bereich des Strafrechts werden diese rechtsstaatlichen Anliegen in dem Grundsatz aufgenommen, dass keine Strafe ohne Schuld verwirkt wird (BVerfGE 95, 96 <130 f.>; 133, 168 <198 Rn. 55>). Gemessen an der Idee der Gerechtigkeit müssen Straftatbestand und Rechtsfolge sachgerecht aufeinander abgestimmt sein (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 25, 269 <286>; 27, 18 <29>; 50, 205 <214 f.>; 120, 224 <241>; stRspr). Die Strafe muss in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 45, 187 <228>; 50, 5 <12>; 73, 206 <253>; 86, 288 <313>; 96, 245 <249>; 109, 133 <171>; 110, 1 <13>; 120, 224 <254>; 133, 168 <198 Rn. 55>). In diesem Sinne hat die Strafe die Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein (vgl. BVerfGE 45, 187 <253 f.>; 109, 133 <173>; 120, 224 <253 f.>; 133, 168 <198 Rn. 55>).

56

b) Die Verwirklichung des Schuldgrundsatzes ist gefährdet, wenn die Ermittlung des wahren Sachverhalts nicht sichergestellt ist (aa). Die Zumessung einer angemessenen Strafe, die zugleich einen sittlich-ethischen Vorwurf darstellt, setzt die Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten und damit grundsätzlich dessen Anwesenheit voraus. Der Schuldgrundsatz macht daher Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten im Strafprozess erforderlich, durch die gewährleistet wird, dass der Beschuldigte Umstände vorbringen und prüfen lassen kann, die zu seiner Entlastung führen oder für die Strafzumessung relevant sein können (bb). Diese Garantien müssen auch bei der Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils gewahrt werden (cc).

57

aa) Die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt, ist zentrales Anliegen des Strafprozesses (vgl. BVerfGE 57, 250 <275>; 118, 212 <231>; 122, 248 <270>; 130, 1 <26>; 133, 168 <199 Rn. 56>). Dessen Aufgabe ist es, den Strafanspruch des Staates um des Schutzes der Rechtsgüter Einzelner und der Allgemeinheit willen in einem justizförmigen Verfahren durchzusetzen und dem mit Strafe Bedrohten eine wirksame Sicherung seiner Grundrechte zu gewährleisten. Der Strafprozess hat das aus der Würde des Menschen als eigenverantwortlich handelnder Person und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Prinzip, dass keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf, zu sichern und entsprechende verfahrensrechtliche Vorkehrungen bereitzustellen (vgl. BVerfGE 122, 248 <270>; 133, 168 <199 Rn. 56>). Dem Täter müssen Tat und Schuld prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden (vgl. BVerfGE 9, 167 <169>; 74, 358 <371>; 133, 168 <199 Rn. 56>). Bis zum Nachweis der Schuld wird seine Unschuld vermutet (vgl. BVerfGE 35, 311 <320>; 74, 358 <371>; stRspr).

58

bb) Ziel und Aufgabe des Strafverfahrens ist es, die dem Täter und der Tat angemessene Strafe auszusprechen. Im deutschen Rechtskreis ist mit Strafe weit mehr als ein belastender Rechtseingriff oder ein Übel, das den Täter trifft, gemeint. Als Charakteristikum der Kriminalstrafe wird hier neben einem solchen Eingriff oder Übel mit dem Strafausspruch auch ein Tadel oder Vorwurf zum Ausdruck gebracht. Es handelt sich um einen sozial-ethischen Vorwurf oder um eine besondere sittliche Missbilligung. Mit Strafe im Sinne des Grundgesetzes ist also nicht nur der Vorwurf irgendeiner Rechtsverletzung gemeint, sondern die Verletzung eines Teils des Rechts, das eine tiefere, nämlich eine sozial-ethische Fundierung besitzt (vgl. BVerfGE 25, 269 <286>; 90, 145 <200 - abw. M.>; 95, 96 <140>; 96, 10 <25>; 96, 245 <249>; 109, 133 <167>; 109, 190 <217>; 120, 224 <240>; 123, 267 <408>; siehe im Vergleich hierzu die Bewertung von Geldbußen in BVerfGE 42, 261 <263>; aus der Literatur siehe nur Weigend, in: Leipziger Kommentar, Band 1, 12. Aufl. 2007, Einleitung Rn. 1; Radtke, in: MüKo, StGB, 2. Aufl. 2012, Vorbem. zu §§ 38 ff., Rn. 14; ders., GA 2011, S. 636 <646>; Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 46, S. 89). Daraus folgt aber, dass eine Strafe, die die Persönlichkeit des Täters nicht umfassend berücksichtigt, keine der Würde des Angeklagten angemessene Strafe sein kann. Dies wiederum setzt grundsätzlich voraus, dass das Gericht in der öffentlichen Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten einen Einblick in seine Persönlichkeit, seine Beweggründe, seine Sicht der Tat, des Opfers und der Tatumstände erhält. Jedenfalls muss für den Angeklagten das Recht gewährleistet sein, insbesondere rechtfertigende, entschuldigende oder strafmildernde Umstände dem Gericht persönlich, im Gegenüber von Angeklagtem und Richter, darzulegen. Denn der Vorwurf eines sozial-ethischen Fehlverhaltens ist ein die Persönlichkeit des Verurteilten treffender Vorwurf (vgl. BVerfGE 96, 245 <249>; 101, 275 <287>), der ihn in seinem Wert- und Achtungsanspruch, der in der Menschenwürde wurzelt, berührt.

59

cc) Die durch den Schuldgrundsatz gebotenen Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten im Strafprozess sind auch bei der Entscheidung über die Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils zu beachten (1). Die deutschen Gerichte trifft insoweit eine "Gewährleistungsverantwortung" mit Blick auf den ersuchenden Staat (2).

60

(1) In ständiger Rechtsprechung geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass bei der Auslieferung zur Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 ff.>; BVerfGK 3, 27 <32>; 3, 314 <317>; 6, 13 <18>; 6, 334 <341 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. November 1986 - 2 BvR 1255/86 -, NJW 1987, S. 830 <830>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 1991 - 2 BvR 1704/90 -, NJW 1991, S. 1411 <1411>) beziehungsweise der unverzichtbare Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung (BVerfGE 63, 332 <338>) zu beachten sind. Der Senat hat daher die Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen ausländischen Strafurteils für unzulässig erklärt, sofern der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Verfahrens unterrichtet noch ihm eine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet war, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und effektiv zu verteidigen (vgl. BVerfGE 63, 332 <338>; BVerfGK 3, 27 <32 f.>; 3, 314 <318>; 6, 13 <18>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 1991 - 2 BvR 1704/90 -, NJW 1991, S. 1411 <1411>).

61

Soll der Verfolgte im ersuchenden Staat nicht zum bloßen Objekt eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden, muss er die Möglichkeit haben, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen sowie deren Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen.

62

(2) Die zuständigen Auslieferungsgerichte tragen insoweit auch für die Behandlung des Verfolgten im ersuchenden Staat Verantwortung. Zwar endet die grundrechtliche Verantwortlichkeit der deutschen öffentlichen Gewalt grundsätzlich dort, wo ein Vorgang in seinem wesentlichen Verlauf von einem fremden souveränen Staat nach dessen eigenem, von der Bundesrepublik Deutschland unabhängigen Willen gestaltet wird (vgl. BVerfGE 66, 39 <56 ff., 63 f.>). Gleichwohl darf die deutsche Hoheitsgewalt die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 f.>; 60, 348 <355 ff.>; 63, 332 <337 f.>; 75, 1 <19>; 108, 129 <136 f.>; 113, 154 <162 f.>).

63

Das über die Auslieferung entscheidende Gericht trifft deshalb eine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts, die ebenfalls dem Schutz von Art. 1 Abs. 1 GG unterfällt (a). Dies gilt unbeschadet des den europäischen Auslieferungsverkehr beherrschenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens (b).

64

(a) Inhalt und Umfang der prozessualen Aufklärungspflicht im gerichtlichen Auslieferungsverfahren lassen sich nicht abstrakt-generell festlegen, sondern hängen von den Gegebenheiten des Einzelfalls ab.

65

Zu dem von den deutschen Gerichten zu ermittelnden Sachverhalt gehört insbesondere die Behandlung, die der Verfolgte im ersuchenden Staat zu erwarten hat. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung haben sie grundsätzlich die ihnen möglichen Ermittlungen zur Aufklärung einer behaupteten Verletzung der verfassungsrechtlichen Grundsätze von Amts wegen durchzuführen; den Betroffenen trifft insoweit keine Beweislast (vgl. BVerfGE 8, 81 <84 f.>; 52, 391 <406 f.>; 63, 215 <225>; 64, 46 <59>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, EuGRZ 1996, S. 324 <326>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Dezember 1996 - 2 BvR 2407/96 -, juris, Rn. 6; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. September 2000 - 2 BvR 1560/00 -, NJW 2001, S. 3111 <3112>).

66

Umfang und Ausmaß der Ermittlungen, zu deren Vornahme das Gericht im Hinblick auf die Einhaltung des Schuldprinzips verpflichtet ist, richten sich nach Art und Gewicht der vom Verfolgten vorgetragenen Anhaltspunkte für eine Unterschreitung des durch Art. 1 Abs. 1 GG gebotenen Mindeststandards. Als Beweismittel kommen dabei sämtliche Erkenntnismittel in Betracht, die nach den Grundsätzen der Logik, allgemeiner Erfahrung oder wissenschaftlicher Erkenntnis geeignet sind oder geeignet sein können, die Überzeugung des Gerichts vom Vorhandensein entscheidungserheblicher Tatsachen und von der Richtigkeit einer Beurteilung oder Wertung von Tatsachen zu begründen (vgl. W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 98 Rn. 3; Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, § 30 Rn. 22). Auch bietet sich eine Anfrage beim ersuchenden Staat an (vgl. § 30 Abs. 1, § 78 Abs. 1 IRG). Gegebenenfalls kann es erforderlich werden, ein Gutachten oder eine amtliche Auskunft einzuholen.

67

(b) Dies bedeutet nicht, dass die Grundlagen eines Auslieferungsersuchens von deutschen Gerichten stets umfassend nachvollzogen werden müssten. Gerade im europäischen Auslieferungsverkehr gilt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Dieses Vertrauen kann jedoch erschüttert werden. Die Grundsätze, die den Auslieferungsverkehr auf völkerrechtlicher Grundlage beherrschen (aa), sind auf Auslieferungen im Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl im hier in Rede stehenden Umfang übertragbar (bb).

68

(aa) Im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und anderen Staaten ist dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen. Dieser Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens kann so lange Geltung beanspruchen, wie er nicht durch entgegenstehende Tatsachen erschüttert wird (vgl. BVerfGE 109, 13 <35 f.>; 109, 38 <61>). Ausnahmen sind nur in besonders gelagerten Fällen gerechtfertigt (vgl. BVerfGE 60, 348 <355 f.>; 63, 197 <206>; 109, 13 <33>; 109, 38 <59>).

69

Der Verfolgte hat - wie auch im asylrechtlichen Verfahren - eine Darlegungslast, mit der er den an der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung beteiligten Stellen hinreichende Anhaltspunkte für ihre Ermittlungen geben muss (vgl. BVerfGK 6, 334 <342>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, EuGRZ 1996, S. 324 <326>). Anlass zur Prüfung, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte mit dem vom Grundgesetz geforderten Mindeststandard an Grundrechtsschutz vereinbar sind, kann insbesondere bestehen, wenn ein ausländisches Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 ff.>; 63, 332 <337>; BVerfGK 3, 27 <31 f.>; 6, 13 <17>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 1991 - 2 BvR 1704/90 -, NJW 1991, S. 1411 <1411>).

70

Eine entsprechende, im Auslieferungsverfahren erteilte, völkerrechtlich verbindliche Zusicherung ist grundsätzlich geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird (vgl. BVerfGE 63, 215 <224>; 109, 38 <62>; BVerfGK 2, 165 <172 f.>; 3, 159 <165>; 6, 13 <19>; 6, 334 <343>; 13, 128 <136>; 13, 557 <561>; 14, 372 <377>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2008 - 2 BvR 2386/08 -, juris, Rn. 16).

71

Die von einem Verfolgten behauptete Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung steht einer Auslieferung nicht schon dann entgegen, wenn sie aufgrund eines bekanntgewordenen früheren Vorfalls nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Vielmehr müssen begründete Anhaltspunkte für die Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung vorliegen (vgl. BVerfGE 108, 129 <138>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 1992 - 2 BvR 1901/91 -, juris, Rn. 4; vom 31. Mai 1994 - 2 BvR 1193/93 -, NJW 1994, S. 2883 <2884>; vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, EuGRZ 1996, S. 324 <326>). Es müssen stichhaltige Gründe gegeben sein, nach denen gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass in dem ersuchenden Staat die völkerrechtlichen Mindeststandards nicht beachtet werden. Auf konkrete Anhaltspunkte kommt es in der Regel nur dann nicht an, wenn in dem ersuchenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte herrscht. Die Auslieferung in Staaten, die eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweisen, wird regelmäßig die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der elementaren Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung begründen (vgl. BVerfGE 108, 129 <138 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Oktober 2007 - 2 BvR 1680/07 -, NVwZ 2008, S. 71 <72>).

72

(bb) Dies gilt, soweit es um die Gewährleistung des Schuldprinzips geht, auch für Auslieferungen, die auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl stattfinden.

73

Zwar ist einem Mitgliedstaat der Europäischen Union im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich besonderes Vertrauen entgegenzubringen. Die Europäische Union bekennt sich zur Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören (vgl. Art. 2 EUV). Ihre Mitgliedstaaten haben sich sämtlich der Europäischen Menschenrechtskonvention unterstellt. Soweit sie Unionsrecht durchführen, sind sie überdies an die Gewährleistungen der Charta der Grundrechte gebunden (vgl. Art. 51 Abs. 1 GRCh). Das Vertrauen in die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes umfasst namentlich die im Europäischen Haftbefehl getätigten Angaben des um Auslieferung ersuchenden Mitgliedstaats. Das für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zuständige Gericht ist daher grundsätzlich nicht verpflichtet, bestehende Aufklärungsmöglichkeiten auszuschöpfen oder positiv festzustellen, dass dem um Auslieferung ersuchenden Mitgliedstaat hinsichtlich der Wahrung des Schuldprinzips vertraut werden kann.

74

Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wird jedoch dann erschüttert, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im Falle einer Auslieferung die unverzichtbaren Anforderungen an den Schutz der Menschenwürde nicht eingehalten würden. Das über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidende Gericht trifft insoweit die Pflicht, Ermittlungen hinsichtlich der Rechtslage und der Praxis im ersuchenden Mitgliedstaat vorzunehmen, wenn der Betroffene hinreichende Anhaltspunkte für solche Ermittlungen dargelegt hat. Anlass zur Prüfung, ob die Auslieferung mit der Verfassungsidentität des Grundgesetzes vereinbar ist, besteht nicht allein deswegen, weil das Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist. Ein Mitgliedstaat, der um die Auslieferung zur Vollstreckung einer in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Entscheidung nach Art. 4a Abs. 1 RbEuHb ersucht, erklärt durch seine ordnungsgemäß getätigten Angaben im Formblatt, dass der Verfolgte entweder tatsächlich von der Verhandlung und davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch in seiner Abwesenheit ergehen kann (vgl. Art. 4a Abs. 1 Buchstabe a RbEuHb), dass der Verfolgte in Kenntnis der Verhandlung von einem Rechtsbeistand vertreten wurde (vgl. Art. 4a Abs. 1 Buchstabe b RbEuHb) oder dass der Verfolgte berechtigt ist, einen Rechtsbehelf gegen die Verurteilung einzulegen, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann (vgl. Art. 4a Abs. 1 Buchstabe c und d RbEuHb).

75

Stellt sich nach Abschluss der Ermittlungen heraus, dass der vom Grundgesetz geforderte Mindeststandard vom ersuchenden Mitgliedstaat nicht eingehalten wird, darf das zuständige Gericht die Auslieferung nicht für zulässig erklären.

76

2. Die Absicherung des integrationsfesten Schuldprinzips rechtfertigt und gebietet eine auf diese verfahrensrechtlichen Mindestgarantien beschränkte Prüfung der Entscheidung des Oberlandesgerichts am Maßstab des Grundgesetzes, obwohl diese unionsrechtlich determiniert ist. Dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl kommt in der deutschen Rechtsordnung grundsätzlich Anwendungsvorrang zu (a). Dieser enthält nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in Bezug auf die Auslieferung bei Abwesenheitsurteilen eine abschließende Regelung (b). Das entbindet das Oberlandesgericht jedoch nicht von der Verpflichtung, auch bei einer Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls die Grundsätze des Art. 1 Abs. 1 GG in der Ausprägung des Schuldgrundsatzes sicherzustellen (c).

77

a) Am Anwendungsvorrang des Unionsrechts nehmen auch Rahmenbeschlüsse teil. In diesem Zusammenhang verlangt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziel in Einklang steht (vgl. EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer, C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835, Rn. 115 f.; Urteil vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge, C-42/11, EU:C:2012:517, Rn. 56).

78

In der Sache hat der Gerichtshof bereits mehrfach festgestellt, dass die nationalen Justizbehörden die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur in den im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vorgesehenen Fällen ablehnen können (vgl. EuGH, Urteil vom 1. Dezember 2008, Leymann und Pustovarov, C-388/08 PPU, Slg. 2008, I-8993, Rn. 51; Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 36 m.w.N.). In der Rechtssache Melloni hat er betont, dass die Geltung des Rahmenbeschlusses nicht dadurch beeinträchtigt werden könne, dass ein Staat Vorschriften des nationalen Rechts, und hätten sie auch Verfassungsrang, gegen diesen ins Feld führt (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, EU:C:2013:107, Rn. 59). Grenzen einer rahmenbeschlusskonformen Auslegung des nationalen Rechts hat er bislang nicht thematisiert, obwohl das spanische Tribunal Constitucional seine Vorlage damit begründet hatte, dass die Auslieferung zur Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen eine Verletzung des Wesensgehalts eines fairen Verfahrens im Sinne der spanischen Verfassung in einer Weise darstellen könne, die die Menschenwürde berühre (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 20; das spanische Tribunal Constitucional hat daraufhin allerdings betont, dass für den Fall, dass das Recht der Europäischen Union in seiner weiteren Entwicklung nicht mehr mit der spanischen Verfassung in Einklang zu bringen wäre, die Wahrung der Souveränität des spanischen Volkes und der Vorherrschaft, mit der sich die Verfassung versehen hat, in letzter Instanz verlangen könnten, die Probleme über die einschlägigen verfassungsrechtlichen Verfahren anzugehen, so Entscheidung vom 13. Februar 2014, STC 26/2014, Punkt 3 der Entscheidungsgründe, HRLJ 2014, S. 475 <478>).

79

b) Art. 4a RbEuHb regelt die Bedingungen, von denen Auslieferungen zur Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen abhängig gemacht werden können, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs abschließend.

80

Nach Art. 1 Abs. 2 RbEuHb vollstrecken die Mitgliedstaaten einen Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses. Sie sind grundsätzlich verpflichtet, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, und dürfen seine Vollstreckung nur in den Fällen an Bedingungen knüpfen, die in den Art. 3 bis 5 des Rahmenbeschlusses aufgeführt sind (vgl. EuGH, Urteil vom 1. Dezember 2008, Leymann und Pustovarov, C-388/08 PPU, Slg. 2008, I-8993, Rn. 51; Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 36 m.w.N.).

81

Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls darf - wie im 10. Erwägungsgrund der Präambel zum Rahmenbeschluss vorgesehen - nach Auffassung des Gerichtshofs daher nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV mit den Folgen von Art. 7 Abs. 2 EUV festgestellt worden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 49). Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhe auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf, dass die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage seien, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der Charta anerkannten Grundrechte zu bieten. Daher müssten Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen worden sei, etwaige Rechtsschutzmöglichkeiten im Ausstellungsmitgliedstaat nutzen, um die Rechtmäßigkeit des Verfahrens der Strafverfolgung, der Strafvollstreckung oder der Verhängung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung oder auch des strafrechtlichen Hauptverfahrens, das zur Verhängung dieser Strafe oder Maßregel geführt habe, in Frage zu stellen (vgl. EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010, Aguirre Zarraga, C-491/10 PPU, Slg. 2010, I-14247, Rn. 70 f.).

82

In der Rechtssache Melloni hat der Gerichtshof speziell mit Blick auf Art. 4a RbEuHb entschieden, dass die Vollstreckung eines Haftbefehls nicht von der Bedingung abhängig gemacht werden dürfe, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden könne (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, EU:C:2013:107, Rn. 46), wenn der Betroffene einer der vier in dieser Bestimmung aufgeführten Fallgestaltungen unterfalle (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 61). Überdies gestatte es auch Art. 53 GRCh den Mitgliedstaaten nicht, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person von der Bedingung abhängig zu machen, dass die Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat einer Überprüfung unterworfen werden könne (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 64).

83

c) Diese Vorgaben entbinden deutsche Behörden und Gerichte jedoch nicht von der Verpflichtung, auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Grundsätze des Art. 1 Abs. 1 GG sicherzustellen (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG). Sie sind vielmehr gehalten, beim Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen sicherzustellen, dass die von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten auch im ersuchenden Mitgliedstaat beachtet werden, oder - wo dies nicht möglich ist - von einer Auslieferung abzusehen. Insoweit wird der den europäischen Auslieferungsverkehr beherrschende Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens durch die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG begrenzt. In diesem Umfang trifft das Gericht auch die beschriebene verfassungsrechtliche Ermittlungspflicht.

84

3. Einer unter Rückgriff auf Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG begründeten Begrenzung des dem Rahmenbeschluss zukommenden Anwendungsvorrangs bedarf es im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht, weil sowohl der Rahmenbeschluss selbst (a) als auch das diesen umsetzende Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (b) eine Auslegung gebieten, die den von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten bei einer Auslieferung Rechnung trägt. Insofern genügen die einschlägigen Vorgaben des Unionsrechts den durch das Grundgesetz zur Absicherung des integrationsfesten Schuldprinzips gebotenen Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten.

85

a) Die Pflicht, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, ist schon unionsrechtlich begrenzt (vgl. Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 82 AEUV Rn. 37 ; Gaede, NJW 2013, S. 1279 <1280>). Das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, das ausweislich des 10. Erwägungsgrundes der Präambel des Rahmenbeschlusses Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist, kann erschüttert werden; erhebliche Grundrechtsverletzungen im Einzelfall sind selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen grundsätzlich in der Lage sind, einen dem Grundgesetz gleichwertigen und wirksamen Schutz der Grundrechte zu bieten. Einem Europäischen Haftbefehl ist auch nach unionsrechtlichen Maßstäben nicht Folge zu leisten, wenn er den Anforderungen des Rahmenbeschlusses nicht genügt (aa) oder die Auslieferung mit einer Verletzung der unionalen Grundrechte einherginge (bb). Auch aus der Sicht des Unionsrechts gilt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens insoweit nicht unbegrenzt (cc), so dass die Verweigerung der Auslieferung wegen eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Strafurteils unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein kann (dd).

86

aa) Nach Art. 4a Abs. 1 RbEuHb kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn nicht bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.

87

Art. 4a Abs. 1 Buchstabe a und b RbEuHb sieht eine Pflicht zur Auslieferung zwecks Vollstreckung von Entscheidungen vor, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist, wenn diese Person tatsächlich offiziell von der Verhandlung und davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch bei Abwesenheit ergehen kann, beziehungsweise diese Person in Kenntnis der Verhandlung von einem Rechtsbeistand vertreten wurde. Insofern handelt es sich um Fälle, in denen die Person auf ihr persönliches Anwesenheitsrecht aus freiem Willen und unmissverständlich verzichtet hat.

88

Art. 4a Abs. 1 Buchstabe c und d RbEuHb erfasst dagegen Konstellationen, in denen die betroffene Person berechtigt ist, einen Rechtsbehelf gegen die Verurteilung einzulegen, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann. Dem Angeklagten wird es in diesen Fällen also ermöglicht, die ihm zur Last gelegten Vorwürfe durch ein Gericht auch in tatsächlicher Hinsicht überprüfen zu lassen. Das setzt voraus, dass auch das für ein eventuelles Rechtsbehelfsverfahren zuständige Gericht den Angeklagten anhört und prozessrechtlich dazu in der Lage ist, die ihm zur Last gelegten Vorwürfe nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen. Soweit Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb ein Verfahren vorschreibt, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprüngliche Entscheidung aufgehoben werden "kann", wird dem mit der Sache befassten Gericht damit kein Ermessen eingeräumt. Das in Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb verwendete Verb "kann" dient vielmehr der Kennzeichnung der Befugnisse des Gerichts und bedeutet so viel wie "in der Lage ist". Treffender ist in der englischen Fassung von einem "retrial, or an appeal, in which the person has the right to participate and which allows the merits of the case, including fresh evidence, to be re-examined", die Rede oder in der französischen Fassung von einer "nouvelle procédure de jugement ou (…) une procédure d'appel, à laquelle l'intéressé a le droit de participer et qui permet de réexaminer l'affaire sur le fond, en tenant compte des nouveaux éléments de preuve".

89

Dieses Verständnis von Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb entspricht auch dem Willen des europäischen Gesetzgebers. Die Regelung wurde durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist (ABl. Nr. L 81 vom 27. März 2009, S. 24 - "Rahmenbeschluss über Abwesenheitsurteile") in den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl eingefügt. Ziel des Rahmenbeschlusses war es gemäß dessen Art. 1 Abs. 1, die Verfahrensrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist, zu stärken, zugleich die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zu erleichtern und insbesondere die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern. Erwägungsgrund 11 des Rahmenbeschlusses über Abwesenheitsurteile lautet:

Die gemeinsamen Lösungen in Bezug auf die Gründe für die Nichtanerkennung in den einschlägigen geltenden Rahmenbeschlüssen sollten den unterschiedlichen Gegebenheiten in Bezug auf das Recht der betroffenen Person auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren Rechnung tragen. Eine solche Wiederaufnahme des Verfahrens oder Berufung bezweckt die Wahrung der Verteidigungsrechte und ist durch folgende Aspekte gekennzeichnet: Die betroffene Person hat das Recht, anwesend zu sein, der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, wird (erneut) geprüft und das Verfahren kann zur Aufhebung der ursprünglich ergangenen Entscheidung führen.

Die Formulierung "der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, wird (erneut) geprüft" zeigt, dass der Rat ersichtlich nicht von einem Ermessen des mit dem Berufungs- oder Wiederaufnahmeverfahren betrauten Richters, sondern davon ausging, dass die betroffene Person einen Anspruch darauf hat, dass die Beweismittel, die sie zu ihrer Entlastung vorbringt, erneut oder erstmals geprüft werden.

90

Teleologische Überlegungen erhärten diesen Befund. Könnte das Gericht von einer erneuten Prüfung des Sachverhalts gegen den Willen des in Abwesenheit Verurteilten absehen, könnte es eine erneute Prüfung der ihm zur Last gelegten Vorwürfe vereiteln. Der Verteidigung würde die Möglichkeit genommen, in einem Wiederaufnahmeverfahren die Zulassung neuer Beweise zu beantragen (vgl. EGMR, Jones v. Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 9. September 2003, Nr. 30900/02; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 85). Die prozessuale Möglichkeit, das Abwesenheitsurteil anzufechten, würde sich in diesem Fall als unwirksam erweisen (vgl. auch EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 30; Medenica v. Schweiz, Urteil vom 14. Juni 2001, Nr. 20491/92, § 55).

91

bb) Auch die Bindung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union an die Grundrechte (1), die Ausstrahlungswirkung der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht (2) sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofes für Menschenrechte, die für die Bestimmung der sachlichen Tragweite des Art. 4a Abs. 1 RbEuHb beachtlich ist, sprechen für die dargelegte Auslegung des Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb (3).

92

(1) Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dürfen - ungeachtet des Art. 7 EUV - einander nicht die Hand zu Menschenrechtsverletzungen reichen (Art. 6 Abs. 1 EUV; vgl. OLG München, Beschluss vom 15. Mai 2013 - OLG Ausl 31 Ausl A 442/13 <119/13> -, StV 2013, S. 710 <711>). Bei der Durchführung des Unionsrechts müssen sie die Unionsgrundrechte beachten (vgl. Art. 51 Abs. 1 GRCh; EuGH, Urteil vom 12. November 1969, Stauder, 29/69, Slg. 1969, S. 419, Rn. 7; Urteil vom 13. Juli 1989, Wachauf, 5/88, Slg. 1989, S. 2609, Rn. 19; Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino, C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 58 f.). Diese sind daher auch für die Auslegung (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Dezember 1983, Kommission/Rat, C-218/82, Slg. 1983, S. 4063, Rn. 15; Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino, C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 58 ff.) und Rechtmäßigkeit (vgl. Art. 263, 267 Abs. 1 Buchstabe b AEUV; Art. 51 Abs. 1 GRCh; EuGH, Urteil vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld, C-303/05, Slg. 2007, I-3633, Rn. 45; Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, EU:C:2013:107, Rn. 48 ff.) des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl maßgeblich.

93

In diesem Sinne heißt es in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb ausdrücklich, dass der Rahmenbeschluss nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind, zu achten. Nach dem 12. Erwägungsgrund achtet der Rahmenbeschluss die Grundrechte und wahrt die in Art. 6 EUV anerkannten Grundsätze, die in der Grundrechtecharta, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen (Satz 1). Konsequenterweise darf keine Bestimmung des Rahmenbeschlusses in dem Sinne ausgelegt werden, dass eine Pflicht zur Übergabe einer Person besteht, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann (Satz 2). Gemäß dem 13. Erwägungsgrund soll zudem niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.

94

Vor diesem Hintergrund ist ein Europäischer Haftbefehl dann nicht zu vollstrecken, wenn dem die gegenüber dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vorrangige Grundrechtecharta entgegensteht (vgl. Kommissionsdokumente KOM <2006> 8 endgültig vom 24. Januar 2006, S. 7 und KOM <2011> 175 endgültig vom 11. April 2011, S. 7; BTDrucks 15/1718, S. 14; BRDrucks 70/06, S. 31; Schlussanträge GA Bot zu EuGH, Wolzenburg, C-123/08, Slg. 2009, I-9621, Rn. 147 ff. und zu EuGH, Mantello, C-261/09, Slg. 2010, I-11477, Rn. 87 f.; GA Cruz Villalón zu EuGH, I.B., C-306/09, Slg. 2010, I-10341, Rn. 43 f.; GA Mengozzi zu EuGH, Lopes da Silva Jorge, C-42/11, EU:C:2012:151, Rn. 28; GA Sharpston zu EuGH, Radu, C-396/11, EU:C:2012:648, Rn. 69 ff.).

95

Das wird durch die Entstehungsgeschichte des Rahmenbeschlusses bestätigt. Zwar konnte sich der Vorschlag, als weiteren Ablehnungsgrund vorzusehen, dass das Auslieferungsersuchen mit den Grundprinzipien des Vollstreckungsstaats oder der öffentlichen Ordnung unvereinbar ist, nicht durchsetzen. Dieser Vorschlag fand allerdings nur deshalb keinen Niederschlag im Text des Rahmenbeschlusses, weil sowohl in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb als auch in den Erwägungsgründen 10, 12, 13 und 14 darauf verwiesen wird, dass für die strikte Wahrung der Grundrechte und individuellen Freiheiten, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet sind und sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben (Art. 6 Abs. 2 EUV), Sorge zu tragen ist (vgl. RatsDok 14867/01 vom 4. Dezember 2001, S. 3).

96

(2) Die Grundrechtecharta verlangt im Hinblick auf Auslieferungen zur Vollstreckung von Abwesenheitsverurteilungen, dass auch das für ein eventuelles Rechtsbehelfsverfahren zuständige Gericht den Angeklagten hört und prozessrechtlich in der Lage ist, die diesem zur Last gelegten Vorwürfe nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen.

97

Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts (vgl. EuGH, Urteil vom 15. Mai 1986, Johnston, C-222/84, Slg. 1986, S. 1651, Rn. 19; Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl EU Nr. C 303 vom 14. Dezember 2007, S. 17 <29>). Dazu gehört - als Teilgewährleistung - auch der Anspruch auf rechtliches Gehör in einem gerichtlichen Verfahren nach Art. 47 GRCh (vgl. Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, nach Art. 6 EUV Rn. 369 ). Dieser Anspruch gewährleistet, dass der Richter erst nach der Anhörung der Parteien und der Würdigung der Beweismittel über den Antrag entscheidet und seine Entscheidung begründet (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 1998, Schröder und Thamann/Kommission, C-221/97 P, Slg. 1998, I-8255, Rn. 24).

98

(3) Nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh haben die Rechte der Grundrechtecharta, soweit sie den durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der Konvention verliehen wird. Das Recht der Union kann zwar einen weitergehenden Schutz gewähren (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh); das Schutzniveau nach der Grundrechtecharta darf jedoch nicht unter jenes der Konvention sinken. Nach den Erläuterungen zur Grundrechtecharta entspricht Art. 47 Abs. 2 GRCh dem Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 48 GRCh dem Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK (vgl. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl EU Nr. C 303 vom 14. Dezember 2007, S. 17 <30>). Vor diesem Hintergrund stellen die Garantien des Art. 6 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Mindestgarantien auch für den Rahmenbeschluss auf, hinter die dieser nicht zurückfallen darf.

99

Nach der Europäischen Menschenrechtskonvention ist eine Auslieferung unzulässig, wenn begründete Tatsachen ("substantial grounds") für die Annahme vorliegen, dass die betreffende Person im Falle ihrer Auslieferung einem realen Risiko ("real risk") der Folter, einer unmenschlichen oder herabwürdigenden Behandlung ausgesetzt wird (vgl. EGMR , Soering vs. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7. Juli 1989, Nr. 14038/88, § 91) oder eine eklatante Verweigerung eines fairen Verfahrens droht ("risks suffering a flagrant denial of a fair trial"; vgl. EGMR , Soering vs. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7. Juli 1989, Nr. 14038/88, § 113).

100

Insoweit verpflichtet Art. 6 EMRK jedes nationale Gericht zur Prüfung, ob der Verfolgte Kenntnis vom Verfahren erlangt hat (vgl. EGMR, Somogyi v. Italien, Urteil vom 18. Mai 2004, Nr. 67972/01, § 72). Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährt zudem einen Anspruch auf rechtliches Gehör und in der Sache ein Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren. Jede Partei muss grundsätzlich die Möglichkeit haben, Beweise anzubieten, und sich zu allen erbrachten Beweisen oder Vorbringen äußern können, die darauf gerichtet sind, die Entscheidung des Gerichts zu beeinflussen (vgl. EGMR, Mantovanelli v. Frankreich, Urteil vom 18. März 1997, Nr. 21497/93, § 33). Das Gericht hat die Pflicht, die Ausführungen und Beweisangebote der Parteien ernsthaft zu prüfen (vgl. EGMR, Van de Hurk v. Niederlande, Urteil vom 19. April 1994, Nr. 16034/90, § 59). In einem Strafverfahren bedeutet dies, dass sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung die Möglichkeit haben müssen, zu Vortrag und Beweismitteln der anderen Seite Stellung zu nehmen (vgl. EGMR, Lietzow v. Deutschland, Urteil vom 13. Februar 2001, Nr. 24479/94, § 44).

101

Für ein faires Strafverfahren ist es von zentraler Bedeutung, dass der Angeklagte persönlich am Verfahren teilnimmt (vgl. EGMR, Poitrimol v. Frankreich, Urteil vom 23. November 1993, Nr. 14032/88, § 35). Das dient nicht nur allgemein seinem Anspruch auf rechtliches Gehör, sondern gibt dem Gericht auch die Möglichkeit, die Stichhaltigkeit seiner Aussagen zu prüfen und sie mit denen des Opfers und der Zeugen zu vergleichen (vgl. EGMR, a.a.O., § 35). Auch wenn dies nicht ausdrücklich in Art. 6 Abs. 1 EMRK angeführt wird, so folgt doch aus Sinn und Zweck dieses Rechts, dass eine Person, die einer Straftat angeklagt ist, das Recht hat, an der Verhandlung teilzunehmen (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 27). Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten können allerdings mit der Konvention vereinbar sein, wenn dieser auf sein Anwesenheits- und Verteidigungsrecht verzichtet hat oder ein Gericht die ihm zur Last gelegten Vorwürfe erneut in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht prüft, nachdem es den Angeklagten gehört hat (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 29 f.; Medenica v. Schweiz, Urteil vom 14. Juni 2001, Nr. 20491/92, § 55).

102

Die Anwesenheit der Strafverteidigung - sei es im Ausgangsverfahren oder bei nochmaliger Prüfung - gehört zu den wesentlichen Anforderungen von Art. 6 EMRK. Ist es der Verteidigung in einem Wiederaufnahmeverfahren gestattet, an der Verhandlung vor dem (Berufungs-)Gericht teilzunehmen und die Zulassung neuer Beweise zu beantragen, ist eine neue Bewertung des Schuldvorwurfs in faktischer und rechtlicher Hinsicht möglich. Das Verfahren kann dann in seiner Gesamtheit als fair angesehen werden (vgl. EGMR, Jones v. Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 9. September 2003, Nr. 30900/02; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 85). Umgekehrt führt die Weigerung des Gerichts, das Verfahren wiederzueröffnen, im Falle einer Abwesenheitsverurteilung - von den erwähnten Ausnahmen abgesehen - regelmäßig zu einem Verstoß gegen Art. 6 EMRK und die ihm zugrunde gelegten Prinzipien (vgl. EGMR, Stoichkov v. Bulgarien, Urteil vom 24. März 2005, Nr. 9808/02, § 56).

103

Ein Rechtsmittel muss in dieser Hinsicht effektiv sein. Deshalb darf dem Angeklagten nicht der Nachweis dafür obliegen, dass er sich einer Verurteilung nicht entziehen wollte oder seine Abwesenheit auf höhere Gewalt zurückgeht (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 30). Den nationalen Behörden bleibt es allerdings unbenommen zu prüfen, ob der Angeklagte gute Gründe für seine Abwesenheit hatte oder ob sich in seiner Prozessakte etwas findet, das eine unverschuldete Abwesenheit stützt (vgl. EGMR, Medenica v. Schweiz, Urteil vom 14. Juni 2001, Nr. 20491/92, § 57; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 88).

104

Verzichtet eine Person aus freiem Willen ausdrücklich oder konkludent auf die Garantie eines fairen Verfahrens, stehen dem weder Wortlaut noch Geist von Art. 6 EMRK entgegen (vgl. EGMR, Kwiatkowska v. Italien, Entscheidung vom 30. November 2000, Nr. 52868/99; Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 86). Der Verzicht muss allerdings unmissverständlich ausgedrückt werden und gewissen Mindestanforderungen genügen (vgl. EGMR, Jones v. Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 9. September 2003, Nr. 30900/02). Dass ein Angeklagter, der nicht persönlich informiert wurde, auf mangelhafter faktischer Grundlage als flüchtig ("latitante") eingestuft wird, rechtfertigt jedenfalls nicht die Annahme eines freiwilligen Verzichts auf Anwesenheits- und Verteidigungsrechte (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 28; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 87).

105

cc) Dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch nach Unionsrecht nicht schrankenlos ist, bedeutet zugleich, dass die nationalen Justizbehörden bei entsprechenden Anhaltspunkten unionsrechtlich berechtigt und verpflichtet sind, die Einhaltung der rechtsstaatlichen Anforderungen zu prüfen, selbst wenn der Europäische Haftbefehl in formaler Hinsicht den Voraussetzungen des Rahmenbeschlusses entspricht (vgl. Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., Vor § 78 Rn. 26, 35 ). Das Unionsrecht steht daher Ermittlungen hinsichtlich der Wahrung der in der Grundrechtecharta garantierten rechtsstaatlichen Anforderungen durch die nationalen Justizbehörden nicht nur nicht im Wege, es verlangt sie. Zu Recht entfällt nach Ansicht der Europäischen Kommission die Pflicht zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, wenn die vollstreckende Justizbehörde unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls davon überzeugt ist, dass die Übergabe zu einem Verstoß gegen die Grundrechte des Betroffenen führen würde (vgl. Kommissionsdokument KOM <2011> 175 endgültig vom 11. April 2011, S. 7). Entstehende Verzögerungen im Auslieferungsverkehr sind hinzunehmen, auch wenn dies dem Ziel des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl zuwiderläuft, die Auslieferung zu beschleunigen (vgl. Erwägungsgrund 1 und 5 Präambel RbEuHb). Dementsprechend sieht der Rahmenbeschluss auch keine starren Fristen für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vor (vgl. Art. 17 Abs. 2<"sollte">, Abs. 3 <"sollte">, Abs. 4 <"Sonderfällen">, Abs. 7 <"bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände"> RbEuHb).

106

Ausweislich des 12. Erwägungsgrunds belässt der Rahmenbeschluss den Mitgliedstaaten unter anderem die Freiheit zur Anwendung ihrer verfassungsmäßigen Regelungen über ein ordnungsgemäßes und faires Gerichtsverfahren (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 53). Außerdem müssen Entscheidungen zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls einer ausreichenden Kontrolle durch die Gerichte der Mitgliedstaaten unterliegen (8. Erwägungsgrund; vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 46). Eine effektive gerichtliche Kontrolle im Sinne der Art. 47, 52 Abs. 3 GRCh, Art. 6, 13 EMRK setzt jedoch auch aus der Sicht des Unionsrechts voraus, dass das zuständige Gericht in der Lage ist, entsprechende Ermittlungen anzustellen, solange nur die praktische Wirksamkeit des durch den Rahmenbeschluss errichteten Auslieferungssystems nicht in Frage gestellt wird (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 53; zum parallelen Problem im Asylrecht: EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S., C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 94).

107

dd) Damit bleiben die unionsrechtlichen Anforderungen an die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht hinter denjenigen zurück, die das Grundgesetz als von Art. 1 Abs. 1 GG gebotene Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten enthält. Ob und inwieweit zur Auslegung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl auf Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV zurückzugreifen ist, wonach die Europäische Union die jeweilige nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet, und der Rahmenbeschluss daher unter Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Rechtslage auszulegen ist (vgl. v. Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, Art. 4 EUV Rn. 13 ), kann deshalb offen bleiben.

108

b) Auch das den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl umsetzende Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen begegnet im Hinblick auf den Schuldgrundsatz und seine in der Garantie der Menschenwürde verankerten Gewährleistungsinhalte insoweit keinen Bedenken. § 73 Satz 2 IRG sieht vor, dass bei Ersuchen nach dem Achten Teil ("Auslieferungs- und Durchlieferungsverkehr mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union") die Leistung von Rechtshilfe unzulässig ist, wenn die Erledigung zu den in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde. Wie immer diese Verweisung im Einzelnen zu verstehen sein mag, hindert sie Behörden und Gerichte jedenfalls nicht daran, bei der Auslegung der §§ 78 ff. IRG den norminternen Direktiven des Art. 1 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen (vgl. allgemein BVerfGE 7, 198 <205 ff.>; 115, 320 <367>; stRspr).

109

4. Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts wird diesen Anforderungen nicht in vollem Umfang gerecht. Zwar hat es zutreffend gesehen, dass die Auslieferung des Beschwerdeführers nur zulässig ist, wenn ihm nach seiner Überstellung ein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung steht. Es hat jedoch den Umfang der ihm obliegenden Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts und damit Bedeutung und Tragweite von Art. 1 Abs. 1 GG (a) verkannt. Der Beschwerdeführer hat substantiiert dargelegt, dass ihm das italienische Prozessrecht nicht die Möglichkeit eröffne, eine erneute Beweisaufnahme im Berufungsverfahren zu erwirken. Dem ist das Oberlandesgericht nicht in ausreichendem Maße nachgegangen. Es hat sich damit zufrieden gegeben, dass eine erneute Beweisaufnahme in Italien "jedenfalls nicht ausgeschlossen sei". Dies verletzt die Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 1 Abs. 1 GG (b).

110

a) Beim Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen müssen die Gerichte im Einzelfall sicherstellen, dass die Rechte des Verfolgten zumindest insoweit gewahrt werden, als sie am Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG teilhaben. Mit Blick auf den in Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Schuldgrundsatz gehört dazu, dass dem Verfolgten, der in Abwesenheit verurteilt wurde und nicht über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Verfahrens unterrichtet war, zumindest die tatsächliche Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Kenntniserlangung wirksam zu verteidigen, insbesondere Umstände vorzubringen und prüfen zu lassen, die zu seiner Entlastung führen können. Das über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidende Gericht trifft eine Pflicht, Ermittlungen hinsichtlich der Rechtslage und Praxis im ersuchenden Staat vorzunehmen, wenn der Verfolgte hinreichende Anhaltspunkte für entsprechende Ermittlungen dargelegt hat. Inhalt und Umfang dieser Aufklärungspflicht bemessen sich nach den vom Verfolgten vorgebrachten Anhaltspunkten für eine Unterschreitung des durch die Menschenwürde garantierten Mindeststandards. Stellt sich nach Abschluss der Ermittlungen heraus, dass dieser Mindeststandard vom ersuchenden Mitgliedstaat nicht eingehalten wird, darf das zuständige Gericht die Auslieferung nicht für zulässig erklären.

111

b) Zwar ist der Italienischen Republik - wie allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union - auch im Auslieferungsverkehr grundsätzlich Vertrauen im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes entgegenzubringen. Im vorliegenden Fall haben sich jedoch Fragen ergeben, die eine weitere Aufklärung des Sachverhalts erforderlich gemacht hätten.

112

Die Generalstaatsanwaltschaft Florenz hat mit dem Europäischen Haftbefehl erklärt, dass dem Beschwerdeführer die Entscheidung, mit der die Freiheitsstrafe gegen ihn verhängt worden ist, nicht persönlich zugestellt worden sei, er diese aber unverzüglich nach der Übergabe erhalten werde. Der Beschwerdeführer habe zudem ein Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren, an dem er teilnehmen könne und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden könne. Sie hat damit konkludent erklärt, dass es dem Beschwerdeführer ermöglicht werde, die ihm zur Last gelegten Vorwürfe nach Anhörung durch ein Gericht in faktischer und rechtlicher Hinsicht überprüfen zu lassen. Darüber hinaus hat die Generalstaatsanwaltschaft Florenz mit Schreiben vom 7. Oktober 2014 erklärt, dass der Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Rechtsmittelfrist innerhalb von dreißig Tagen beantragen und sich ohne Vorbehalt verteidigen könne.

113

Das allein genügte im vorliegenden Fall jedoch nicht, um den von Art. 1 Abs. 1 GG gebotenen Mindeststandard an Beschuldigtenrechten und damit die Subjektstellung des Beschwerdeführers in dem in Italien durchzuführenden Strafprozess sicherzustellen. Denn der Beschwerdeführer hat begründete Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass ihm trotz der Zusicherung der Generalstaatsanwaltschaft Florenz keine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet sei, sich zu verteidigen, insbesondere Umstände vorzubringen und prüfen zu lassen, die zu seiner Entlastung führen können (aa). Die Begründung des Oberlandesgerichts, es reiche aus, dass im Berufungsverfahren eine erneute Beweisaufnahme "jedenfalls nicht ausgeschlossen" sei, ist nicht geeignet, die vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Bedenken auszuräumen (bb). Auch mit Blick auf weitere Umstände hätte für das Oberlandesgericht Anlass bestanden, die Wahrung des dem Beschwerdeführer zustehenden Mindestbestands an prozessualen Verteidigungsmöglichkeiten eingehender zu prüfen (cc).

114

aa) Der Beschwerdeführer hat gegenüber dem Oberlandesgericht mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2014 erklärt, dass er in Abwesenheit und ohne seine Kenntnis verurteilt worden sei, ohne auf sein Anwesenheitsrecht aus freiem Willen und unmissverständlich verzichtet zu haben. Dabei hat er plausibel dargelegt, dass er mit der ihm nach italienischem Recht eröffneten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur erreichen könne, in die Rechtsmittelfrist für eine Berufung eingesetzt zu werden. Auch hat er unter Hinweis auf Fundstellen zum italienischen Strafprozessrecht in der deutschsprachigen Literatur vorgetragen, dass die nach italienischem Recht mögliche verspätete Berufung den Anforderungen an eine nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs wegen der beschränkten Prüfungskompetenz des Rechtsmittelgerichts nicht genüge, weil in der Berufungshauptverhandlung im Regelfall keine erneute Beweisaufnahme stattfinde. Um dies zu belegen, hat er dem Oberlandesgericht den Inhalt von Art. 603 CPP in der Fassung des Gesetzes vom 28. April 2014 wie auch nach der Gesetzeslage vor Inkrafttreten dieses Gesetzes in italienischer und deutscher Sprache mitgeteilt.

115

Aus dem Wortlaut des Art. 603 CPP scheint zu folgen, dass im Berufungsverfahren grundsätzlich keine Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung stattfindet. Nach dessen Absatz 3 wird die erneute Durchführung des Beweisverfahrens von Amts wegen nur angeordnet, wenn sie das Gericht für unbedingt erforderlich hält. Beantragt eine Partei die Erhebung von Beweisen, verfügt das Gericht die Beweisaufnahme, wenn es nicht in der Lage ist, aufgrund der Aktenlage zu entscheiden (Abs. 1), oder die neuen Beweise erst nach dem Verfahren erster Instanz entstanden sind oder entdeckt wurden (Abs. 2). Nach Art. 603 Abs. 4 CPP a.F. (1988), der nach Angaben des Beschwerdeführers erst durch Gesetz vom 28. April 2014 abgeschafft worden ist, verfügt der Richter die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung nur dann, wenn der in der ersten Instanz abwesende Beschuldigte dies beantragt und nachweist, dass er nicht in der Lage war, vor Gericht zu erscheinen, und zwar aufgrund von Ereignissen zufälligen Charakters oder höherer Gewalt oder weil er keine Kenntnis von der Ladungsschrift erhalten hat, sofern dies nicht durch seine Schuld geschehen ist, oder er sich nicht aus freiem Willen der Kenntnisnahme des Verfahrens entzogen hat. Der Beschwerdeführer hat plausibel dargelegt, dass Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 auf ihn Anwendung finden könnte. Zur Begründung hat er auch auf eine Entscheidung ("Sentenza") der italienischen Corte di Cassazione vom 17. Juli 2014 verwiesen, wonach für Rechtsmittel gegen Verurteilungen in Abwesenheit, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 28. April 2014 ergangen seien, die alte Rechtslage gelte. Diese Entscheidung hat er dem Oberlandesgericht im Wortlaut mitgeteilt. Dass im vorliegenden Fall tatsächlich die alte Rechtslage gelten könnte, erscheint auch deshalb nicht fernliegend, weil die Generalstaatsanwaltschaft Florenz in ihrem Schreiben vom 7. Oktober 2014 den Wortlaut des Art. 175 CPP in der vor der Strafprozessreform des Jahres 2014 geltenden Fassung übersandt hat. Auch hierauf hat der Beschwerdeführer das Oberlandesgericht hingewiesen.

116

Das Vorbringen des Beschwerdeführers lässt daher befürchten, dass ihm die Möglichkeit, eine erneute Beweisaufnahme im Berufungsverfahren zu erwirken, nach italienischem Recht nicht sicher eröffnet ist. Findet Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 Anwendung, müsste er den negativen Beweis erbringen, dass er wegen Zufalls, wegen höherer Gewalt oder deswegen, weil er keine Kenntnis von der Ladungsschrift erhalten hat, nicht in der Lage war, vor Gericht zu erscheinen, vorausgesetzt, dass dies nicht durch seine Schuld geschehen ist oder - wenn die Ladungsschrift vom Gericht erster Instanz mittels Übergabe an den Verteidiger zugestellt wurde - er sich nicht aus freiem Willen der Kenntnisnahme des Verfahrens entzogen hat. Diese Formel entspricht jener des Art. 175 CPP in der bis 2005 geltenden Fassung. Hiernach konnte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Erhebung eines Rechtsmittels vom Angeklagten beantragt werden, wenn dieser nachwies, dass er von der Verfügung tatsächlich keine Kenntnis erlangt hatte, sofern der Umstand nicht auf eigenes Verschulden zurückzuführen war, oder er sich nicht bewusst der Kenntnisnahme der Verfahrenshandlungen entzogen hatte, wenn das Säumnisurteil durch Aushändigung an den Verteidiger zugestellt worden war (vgl. Italienische Strafprozeßordnung, Zweisprachige Ausgabe, Bauer/König/Kreuzer/Riz/Zanon, 1991). Da ein Beweis von Negativtatsachen kaum zu führen ist, wurde die alte Fassung des Art. 175 CPP von den Oberlandesgerichten (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 19. Dezember 1991 - Ausl A 413/91 -, StV 1993, S. 207; OLG Nürnberg, Beschluss vom 31. Juli 1997 - Ausl. 9/97 -, StV 1997, S. 648 <649>; ThürOLG, Beschluss vom 2. Februar 1998 - Ausl 2/97 -, StV 1999, S. 265 <267 f.>; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. August 1998 - 4 Ausl (A) 201/98 - 259 - 250/98 III -, StV 1999, S. 270 <272>; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. August 1998 - 1 AK 14/98 -, StV 1999, S. 268 <270>; OLG Köln, Beschluss vom 15. Januar 2003 - Ausl 913/01 -, juris, Rn. 38; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. September 2004 - 1 AK 0/04 -, juris, Rn. 10; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 13. September 2004 - 1 AK 6/04 -, StV 2004, S. 547 <548>), vom Bundesgerichtshof (vgl. BGHSt 47, 120 <126>) sowie von der Ersten Sektion und der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit Blick auf die hier in Rede stehenden Schutzgüter beanstandet (vgl. EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 10. November 2004, Nr. 56581/00, § 40; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 103 ff.). Schon 1985 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Sache Colozza v. Italien die Wirksamkeit des Rechtsmittels der "scheinbar verspäteten Berufung" nach italienischem Recht gerügt, weil das Berufungsgericht unter tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten nur entscheiden durfte, wenn die betreffende Person beweisen konnte, dass sie sich der Justiz nicht habe entziehen wollen (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 31).

117

Selbst wenn Art. 603 CPP in seiner durch Gesetz vom 28. April 2014 geänderten Fassung Anwendung finden sollte, ist denkbar, dass dem Beschwerdeführer keine wirksame Möglichkeit eröffnet wird, sich zu verteidigen. Nach Art. 603 CPP findet eine Beweisaufnahme nämlich nur statt, wenn die Beweise erst nach dem Urteil erster Instanz entstanden oder entdeckt worden sind (Abs. 2), wenn der Richter nicht in der Lage ist, nach dem Stand der Akten zu entscheiden (Abs. 1) oder wenn er die Durchführung einer Beweisaufnahme für unbedingt erforderlich hält (Abs. 3). Der Wortlaut von Art. 603 CPP in der der Entscheidung des Oberlandesgerichts zugrunde gelegten Version legt nahe, dass dem Berufungsgericht ein nicht unerheblicher Beurteilungsspielraum bei der Entscheidung über eine erneute Beweisaufnahme zukommt. Eine Pflicht des Berufungsgerichts, auf Antrag des Verfolgten überhaupt Beweis zu erheben, ergibt sich daraus nicht. Jedenfalls ist mit Blick auf den wenig bestimmten Wortlaut des Art. 603 Abs. 1 bis 3 CPP unklar, ob der Pflicht zur Ermittlung der Wahrheit im Strafverfahren hinreichend Rechnung getragen wird.

118

Die vom Beschwerdeführer mit Blick auf das italienische Berufungsverfahren vorgetragenen Bedenken werden dadurch verstärkt, dass in der Vergangenheit mehrere Oberlandesgerichte die Auslieferung nach Italien aufgrund einer Abwesenheitsverurteilung mit der Begründung abgelehnt haben, dass nach italienischem Recht in der Berufungsinstanz eine erneute umfassende gerichtliche Überprüfung der Sachentscheidung nicht stattfinde (vgl. OLG Frankfurt, 2 Ausl. 54/82, 2. September 1983, Nr. U 75, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rechtsprechungssammlung 1949-1992, 2. Aufl. 1993, S. 285 <288 f.>; OLG München, OLG Ausl. 77/85, 26. Juni 1985, Nr. U 112, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rechtsprechungssammlung 1949-1992, 2. Aufl. 1993, S. 412 <416>; KG Berlin, (4) Ausl. A. 277/85 (143/85), 24. März 1986, Nr. U 123, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rechtsprechungssammlung 1949-1992, 2. Aufl. 1993, S. 435 <438>; SchlHOLG, Beschluss vom 14. Januar 1994 - 1 Ausl 8/93 -, StV 1996, S. 102 <103>). Die damit verbundenen Bedenken werden auch in der Literatur geteilt (vgl. Schomburg/Hackner und Lagodny, jeweils in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, § 15 IRG Rn. 33e bzw. § 73 IRG Rn. 86).

119

bb) Den substantiierten und plausiblen Einwänden des Beschwerdeführers hätte das Oberlandesgericht nachgehen müssen. Seine Ermittlungen stellen sich als unzureichend dar.

120

Das Oberlandesgericht versucht, die Bedenken des Beschwerdeführers mit dem Argument auszuräumen, es genüge, wenn im italienischen Berufungsverfahren in der Sache eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung der Abwesenheitsverurteilung stattfinde, im Rahmen derer eine erneute Beweisaufnahme "jedenfalls nicht ausgeschlossen" sei. Damit ist jedoch nicht sichergestellt, dass dem Beschwerdeführer tatsächlich eine Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung der Kenntnis von der Abwesenheitsverurteilung wirksam zu verteidigen, insbesondere entlastende Umstände vorzutragen und deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls Berücksichtigung zu erreichen.

121

Der Einwand, dass es sich, selbst wenn im italienischen Berufungsverfahren im Regelfall keine erneute Beweisaufnahme stattfinde, doch um ein Rechtsmittel handele, mit dem sowohl die Tat- als auch die Rechtsfrage der erneuten Prüfung unterworfen würden, vermag ebenso wenig zu überzeugen. Wie eine umfassende Überprüfung der Tatfrage ohne Beweisaufnahme erfolgen soll, erschließt sich nicht. Darüber hinaus stützt sich das Oberlandesgericht für seine Ansicht lediglich auf eine einzige Quelle (Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 237). Eine genaue Darstellung des strafrechtlichen Berufungsverfahrens nach italienischem Recht lässt sich dieser Fundstelle nicht entnehmen. Vielmehr wird auch hier darauf hingewiesen, dass das Verfahren in zweiter Instanz grundsätzlich ein Aktenverfahren sei und keine erneute Beweisaufnahme stattfinde. Wie sich dieser Umstand mit einer erneuten Prüfung der Tatfrage vereinbaren lässt, wird nicht erläutert. Dass in der Sache eine umfassende tatsächliche Überprüfung des Abwesenheitsurteils stattfinde und die uneingeschränkte Möglichkeit einer erneuten Erhebung von bereits in erster Instanz erhobenen Beweisen bestehe, wie vom Oberlandesgericht angenommen, ergibt sich aus der zitierten Quelle nicht.

122

Der Hinweis des Oberlandesgerichts in seinem Beschluss vom 27. November 2014, dass bei einem in erster Instanz ergangenen Abwesenheitsurteil kein Anspruch auf Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens bestehe, vielmehr eine Neuverhandlung vor einem Rechtsmittelgericht ausreiche, trägt seine Entscheidung ebenfalls nicht. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die bei der Auslegung auch der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 83, 119 <128>; 111, 307 <317>; 120, 180 <200 f.>; 128, 326 <367 f.>), ist geklärt, dass das Gericht verpflichtet ist, die dem Verurteilten zur Last gelegten Vorwürfe erneut in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu prüfen, nachdem es diesen gehört hat (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 29; Einhorn v. Frankreich, Entscheidung vom 16. Oktober 2001, Nr. 71555/01, § 33). Zudem müssen sich die prozeduralen Möglichkeiten nach Recht und Praxis des Vertragsstaates als effektiv erweisen (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 30; Medenica v. Schweiz, Urteil vom 14. Juni 2001, Nr. 20491/92, § 55). Zwar folgt aus der Entscheidung in der Sache Colozza v. Italien, wie das Oberlandesgericht zutreffend feststellt, dass bei einem in erster Instanz ergangenen Abwesenheitsurteil kein Anspruch auf Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens besteht. Der Entscheidung kann allerdings nicht entnommen werden, dass dem in Abwesenheit Verurteilten, der keine Kenntnis von dem erstinstanzlichen Verfahren hatte, von vornherein kein Recht auf Durchführung einer Beweisaufnahme zustünde. Vielmehr betont der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung das aus Art. 6 Abs. 1 EMRK fließende Recht, Beweis anzubieten und sich zu allen erbrachten Beweisen oder Vorbringen, die darauf gerichtet sind, die Entscheidung des Gerichts zu beeinflussen, äußern zu können (vgl. EGMR, Mantovanelli v. Frankreich, Urteil vom 18. März 1997, Nr. 21497/93, § 33; Lietzow v. Deutschland, Urteil vom 13. Februar 2001, Nr. 24479/94, § 44).

123

Die Auffassung des Oberlandesgerichts, es genüge, wenn im italienischen Berufungsverfahren in der Sache eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung des Abwesenheitsurteils stattfinde, im Rahmen derer eine erneute Beweisaufnahme "jedenfalls nicht ausgeschlossen" sei, greift insoweit zu kurz.

124

cc) Darüber hinaus ist mit Blick auf die Aufklärungspflicht des Oberlandesgerichts zu bedenken, dass die Rechtslage in Italien angesichts der in der Vergangenheit erfolgten Beanstandungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und der zahlreichen Änderungen des italienischen Codice Penale für einen deutschen Richter nicht ohne weiteres zu überblicken ist. Auch hat die Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 nur wenig zur Aufklärung beigetragen. Die italienischen Justizbehörden wurden vom Oberlandesgericht gebeten, ergänzende Auskunft über die tatsächliche Kenntnis des Beschwerdeführers vom Verhandlungstermin und dessen anwaltlicher Vertretung beziehungsweise eine Zusicherung zu erteilen, dass dem Beschwerdeführer nach seiner Überstellung vorbehaltlos das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren in seiner Anwesenheit eingeräumt wird, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend geprüft werden wird. Ergänzende Auskunft über die Kenntnis des Beschwerdeführers vom Verhandlungstermin und dessen anwaltlicher Vertretung gab die Generalstaatsanwaltschaft Florenz nicht, obwohl sie im Europäischen Haftbefehl nicht angegeben hatte, ob der Beschwerdeführer zu der Verhandlung, die zu seiner Verurteilung geführt hat, persönlich erschienen war oder nicht. Eine Zusicherung, dass dem Beschwerdeführer nach seiner Überstellung vorbehaltlos das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren in seiner Anwesenheit eingeräumt wird, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend geprüft werden wird, erteilte sie ebenfalls nicht. Trotz des präzisen Ersuchens um Auskunft und Zusicherung durch das Oberlandesgericht wies sie lediglich abstrakt darauf hin, dass unter der Bedingung, dass "dem Antrag stattgegeben wird", erneut eine Hauptverhandlung gegen den Verurteilten stattfinden werde. Dem Verurteilten wurde sein Verteidigungsrecht zwar ohne Vorbehalt zugesichert; der Umfang dieses Verteidigungsrechts blieb jedoch unklar.

D.

125

Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bedarf es nicht. Die richtige Anwendung des Unionsrechts ist derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt ("acte clair", vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, Slg. 1982, S. 3415, Rn. 16 ff.). Das Unionsrecht gerät mit dem Menschenwürdeschutz des Grundgesetzes nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG im vorliegenden Fall nicht in Konflikt. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl verpflichtet, wie dargelegt, deutsche Gerichte und Behörden nicht, einen Europäischen Haftbefehl ohne Prüfung auf seine Vereinbarkeit mit den aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Anforderungen zu vollstrecken. Dass die Grenzen der Ermittlungspflicht, insbesondere mit Blick auf den Umfang der nach Unionsrecht zulässigen Ermittlungen und der hiermit verbundenen Verzögerungen beim Vollzug des Haftbefehls in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht geklärt sind, ändert daran nichts. Jedenfalls im hier zu entscheidenden Fall ist kein Anhaltspunkt erkennbar, dass Unionsrecht einer Pflicht des Oberlandesgerichts, die Wahrung der Rechte des Beschwerdeführers eingehender zu prüfen, entgegen stand. Das gilt vor allem mit Blick auf die substantiierten Anhaltspunkte, die der Beschwerdeführer dem Oberlandesgericht dafür vorgetragen hat, dass ihm nach italienischem Prozessrecht keine Möglichkeit eröffnet sei, sich wirksam zu verteidigen.

E.

126

Da die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet ist, sind dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG vollständig zu erstatten.

(1) Die Auslieferung ist nur zulässig, wenn wegen der Tat ein Haftbefehl, eine Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung oder ein vollstreckbares, eine Freiheitsentziehung anordnendes Erkenntnis einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates und eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen vorgelegt worden sind. Wird um Auslieferung zur Verfolgung mehrerer Taten ersucht, so genügt hinsichtlich der weiteren Taten anstelle eines Haftbefehls oder einer Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung die Urkunde einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates, aus der sich die dem Verfolgten zur Last gelegte Tat ergibt.

(2) Geben besondere Umstände des Falles Anlaß zu der Prüfung, ob der Verfolgte der ihm zur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig erscheint, so ist die Auslieferung ferner nur zulässig, wenn eine Darstellung der Tatsachen vorgelegt worden ist, aus denen sich der hinreichende Tatverdacht ergibt.

(3) Die Auslieferung zur Vollstreckung einer Strafe oder einer sonstigen Sanktion, die in einem dritten Staat verhängt wurde, ist nur zulässig, wenn

1.
das vollstreckbare, eine Freiheitsentziehung anordnende Erkenntnis und eine Urkunde des dritten Staates, aus der sich sein Einverständnis mit der Vollstreckung durch den Staat ergibt, der die Vollstreckung übernommen hat,
2.
eine Urkunde einer zuständigen Stelle des Staates, der die Vollstreckung übernommen hat, nach der die Strafe oder sonstige Sanktion dort vollstreckbar ist,
3.
eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen sowie
4.
im Fall des Absatzes 2 eine Darstellung im Sinne dieser Vorschrift
vorgelegt worden sind.

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

(1) Die Auslieferung ist nur zulässig, wenn wegen der Tat ein Haftbefehl, eine Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung oder ein vollstreckbares, eine Freiheitsentziehung anordnendes Erkenntnis einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates und eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen vorgelegt worden sind. Wird um Auslieferung zur Verfolgung mehrerer Taten ersucht, so genügt hinsichtlich der weiteren Taten anstelle eines Haftbefehls oder einer Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung die Urkunde einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates, aus der sich die dem Verfolgten zur Last gelegte Tat ergibt.

(2) Geben besondere Umstände des Falles Anlaß zu der Prüfung, ob der Verfolgte der ihm zur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig erscheint, so ist die Auslieferung ferner nur zulässig, wenn eine Darstellung der Tatsachen vorgelegt worden ist, aus denen sich der hinreichende Tatverdacht ergibt.

(3) Die Auslieferung zur Vollstreckung einer Strafe oder einer sonstigen Sanktion, die in einem dritten Staat verhängt wurde, ist nur zulässig, wenn

1.
das vollstreckbare, eine Freiheitsentziehung anordnende Erkenntnis und eine Urkunde des dritten Staates, aus der sich sein Einverständnis mit der Vollstreckung durch den Staat ergibt, der die Vollstreckung übernommen hat,
2.
eine Urkunde einer zuständigen Stelle des Staates, der die Vollstreckung übernommen hat, nach der die Strafe oder sonstige Sanktion dort vollstreckbar ist,
3.
eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen sowie
4.
im Fall des Absatzes 2 eine Darstellung im Sinne dieser Vorschrift
vorgelegt worden sind.

(1) Die Entscheidung nach § 93b und § 93c ergeht ohne mündliche Verhandlung. Sie ist unanfechtbar. Die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde bedarf keiner Begründung.

(2) Solange und soweit der Senat nicht über die Annahme der Verfassungsbeschwerde entschieden hat, kann die Kammer alle das Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffenden Entscheidungen erlassen. Eine einstweilige Anordnung, mit der die Anwendung eines Gesetzes ganz oder teilweise ausgesetzt wird, kann nur der Senat treffen; § 32 Abs. 7 bleibt unberührt. Der Senat entscheidet auch in den Fällen des § 32 Abs. 3.

(3) Die Entscheidungen der Kammer ergehen durch einstimmigen Beschluß. Die Annahme durch den Senat ist beschlossen, wenn mindestens drei Richter ihr zustimmen.