Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Beschluss, 21. Dez. 2015 - 1 S 1125/15

bei uns veröffentlicht am21.12.2015

Tenor

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. November 2014 - 3 K 2532/13 - wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

 
1. Der Senat entscheidet unter Mitwirkung des Richters xxx, obwohl dieser erstinstanzlich mit dem Eilverfahren 3 K 1245/13 befasst war. Der hier allein in Betracht kommende Ausschlussgrund des § 54 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 41 Nr. 6 ZPO liegt nicht vor, weil er auf die Mitwirkung gerade bei der angefochtenen Entscheidung abstellt, an der es fehlt. Eine analoge Anwendung der Vorschrift auf Fälle der vorliegenden Art scheidet aus (vgl. BVerwG, Beschl. v. 02.10.1997 - 11 B 30.97 -, NVwZ-RR 1998, 268).
2. Der rechtzeitig gestellte und begründete, auf die Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
a) Das Zulassungsverfahren ist nicht entsprechend § 125 Abs. 1 in Verbindung mit § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO teilweise einzustellen, weil die Beklagte den mit Schriftsatz vom 19.05.2015 uneingeschränkt gestellten Zulassungsantrag nachträglich auf die erstinstanzliche Feststellung beschränkt hat, dass die von ihr am 25.05.2013 mündlich verfügte Beschränkung des Aufzugs des Klägers auf eine stationäre Kundgebung rechtswidrig gewesen ist. Hierin liegt entgegen der Auffassung des Klägers keine Teilrücknahme des Zulassungsantrags.
Nach § 124a Abs. 4 Satz 3 VwGO muss der Zulassungsantrag selbst nur das angefochtene Urteil bezeichnen. Erst die Antragsbegründung muss die Darlegung der Gründe enthalten, aus denen die Berufung zuzulassen ist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Das Gesetz verlangt mithin vom Antragsteller erst bei Ablauf der Antragsbegründungsfrist eine verbindliche Entscheidung darüber, welches - im Antrag konkret bestimmtes - Ziel er mit seinem Rechtsmittel erreichen will. Angesichts dessen wäre es widersprüchlich, den das Zulassungsziel noch nicht erkennen lassenden Zulassungsantrag bereits als umfassendes Rechtsmittel zu bewerten und den Antragsteller daran festzuhalten (vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl., § 124a Rn. 132, 176; ebenso VGH Bad.-Württ., Urt. v. 20.04.2012 - 8 S 198/11 -, NVwZ-RR 2012, 588 ; BVerwG, Urt. v. 20.06.1991 - 3 C 6.89 -, Buchholz 310 § 140 VwGO Nr. 5). Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von demjenigen, in dem ein bereits mit dem Zulassungsantrag klar und eindeutig umrissenes Zulassungsziel nachträglich eingeschränkt wird (vgl. Seibert, a.a.O., § 124a Rn. 177 m.w.N.).
b) Das hiernach von vornherein auf die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die von der Beklagten am 25.05.2013 mündlich verfügte Beschränkung des Aufzugs des Klägers auf eine stationäre Kundgebung rechtswidrig gewesen ist, beschränkte Zulassungsbegehren hat keinen Erfolg.
aa) Aus den von der Beklagten dargelegten Gründen bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils. Die Darlegung ernstlicher Zweifel im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erfordert, dass ein die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragender Rechtssatz oder eine für diese Entscheidung erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschl. v. 23.06.2000 - 1 BvR 830/00 -, VBlBW 2000, 392; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 03.05.2011 - 10 S 354/11 -, VBlBW 2011, 442). Dazu müssen zum einen die angegriffenen Rechtssätze oder Tatsachenfeststellungen - zumindest im Kern - zutreffend herausgearbeitet werden (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 11.08.1999 - 6 S 969/99 -, juris). Zum anderen sind schlüssige Bedenken gegen diese Rechtssätze oder Tatsachenfeststellungen aufzuzeigen, wobei sich der Darlegungsaufwand im Einzelfall nach den Umständen des jeweiligen Verfahrens richtet (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.08.1999, a.a.O., und vom 27.02.1998 - 7 S 216/98 -, VBlBW 1998, 378 m.w.N.), insbesondere nach Umfang und Begründungstiefe der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Der Zulassungsgrund liegt vor, wenn eine Überprüfung des dargelegten Vorbringens aufgrund der Akten ergibt, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils tatsächlich bestehen. Dies ist hier nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die mit dem Zulassungsantrag angefochtene Feststellung damit begründet, dass die Voraussetzungen für die nach § 15 Abs. 1 VersG grundsätzlich mögliche Auflage, die ursprünglich als Aufzug angemeldete Versammlung nur als ortsfeste Versammlung durchzuführen, nicht erfüllt gewesen seien. Zwar habe eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bestanden, weil davon auszugehen gewesen sei, dass der Aufzug des Klägers bei seinem Weg vom xxx in die Innenstadt von xxx Angriffen von Gegendemonstranten ausgesetzt sein würde. Allerdings sei der Kläger - mangels Ausgehens einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit von der von ihm geleiteten Versammlung - als Nichtstörer in Anspruch genommen worden, ohne dass die Voraussetzungen hierfür gegeben gewesen seien. Ein polizeilicher Notstand habe zum Zeitpunkt der mündlichen Anordnung am 25.05.2013 um 14:47 Uhr nicht vorgelegen. Insbesondere aus dem in den Akten der Staatsanwaltschaft enthaltenen Bericht des Führungs- und Einsatzstabs vom 22.08.2013, der Video-Dokumentation sowie der schriftlichen Einsatzdokumentation ergebe sich, dass es nicht objektiv unmöglich gewesen sei, die Durchführung des Aufzugs durch Inanspruchnahme der Störer zu ermöglichen. Danach seien um 14:25 Uhr, 14:30 Uhr und 14:38 Uhr erfolgte Lautsprecherdurchsagen mit der Aufforderung an die Gegendemonstranten, die xxxstraße und die Straße xx xxx für den Aufzug des Klägers freizugeben, erfolglos geblieben. Anschließend habe ein Abschnittseinsatzleiter mitgeteilt, dass eine Aufzugsbegleitung derzeit nicht möglich sei und die Einsatzkräfte an den Absperrungen gebunden seien, während nach Einschätzung eines anderen Abschnittseinsatzleiters ein Durchkommen nur mit massivem Schlagstockeinsatz möglich gewesen sei. Im Bericht des Führungs- und Einsatzstabs vom 22.08.2013 werde hierzu ausgeführt, dass bei einer Räumung der xxxstraße mit der Anwendung von unmittelbarem Zwang in Form von Wegschieben, Wegtragen bis hin zum Einsatz von Schlagstöcken und Polizeipferden hätte gerechnet werden müssen, ein Freimachen des Aufzugswegs trotz Schwierigkeiten „aber möglich erscheine“. Die Video-Dokumentation enthalte eine entsprechende, um 14:44 Uhr erfolgte Einschätzung des Leiters des Führungs- und Einsatzstabs gegenüber der Versammlungsbehörde („Von daher - also wir wären unter Aufbietung aller Kräfte - mit Pferde und so weiter - in der Lage - aber - es könnte zu deutlichen Ausschreitungen kommen.“), die dieser in der mündlichen Verhandlung bestätigt habe. Auch die Voraussetzungen des unechten polizeilichen Notstands hätten nicht vorgelegen. Es sei nicht erkennbar, dass durch einen Polizeieinsatz zur Räumung der xxxstraße unbeteiligte Dritte oder Gegendemonstranten zwangsläufig gegenwärtigen erheblichen Gefahren ausgesetzt worden wären, die die Inanspruchnahme der Störer als unverhältnismäßig hätten erscheinen lassen. Denn obwohl der Einsatz unmittelbaren Zwangs unumgänglich gewesen sei, sei nicht ersichtlich, dass die Versuche zur Räumung der Aufzugsstrecke mit der gebotenen Energie betrieben worden wären. Ein - gewissermaßen - schrittweises Vorrücken der Polizei hätte mit großer Wahrscheinlichkeit dazu geführt, dass der Großteil der Gegendemonstranten aus Personen des sogenannten bürgerlichen Spektrums sich zurückgezogen hätte. Dem Umstand, dass gewaltbereite Demonstrationsteilnehmer sich unter die große Menge friedfertiger Demonstranten gemischt hätten, hätte durch eine gezielte Inanspruchnahme der Störer begegnet werden müssen. Insgesamt habe keine Situation vorgelegen, die mit Gefahren für Leib und Gesundheit höchsten Ausmaßes für Versammlungsteilnehmer, Polizei, Unbeteiligte und Störer verbunden gewesen sei. Demgegenüber wiege die Beeinträchtigung des Klägers infolge der Beschränkung schwer, weil die auf eine stationäre Kundgebung reduzierte Versammlung in ihrem spezifischen Charakter verändert und die Verwirklichung ihres kommunikativen Anliegens wesentlich erschwert worden sei.
Die Beklagte wendet sich allein gegen die verwaltungsgerichtliche Wertung, dass die gegebenen Tatumstände eine Inanspruchnahme des Klägers als Nichtstörer auch nicht unter dem - vom Verwaltungsgericht durch Unterstellung als rechtfertigungsfähig eingestuften (UA S. 19) - Gesichtspunkt des unechten polizeilichen Notstands gerechtfertigt hätten, und greift damit der Sache nach das von ihr für falsch gehaltene Ergebnis der richterlichen Überzeugungsbildung an. Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es würdigt den Prozessstoff auf seinen Aussage- und Beweiswert für die Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen nur nach der ihm innewohnenden Überzeugungskraft. Diese „Freiheit“ des Gerichts ist erst dann überschritten, wenn es entweder seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 28.03.2012 - 8 B 76.11 -, Buchholz 428 § 6 VermG Nr. 76, m.w.N.). Mit Einwänden gegen die freie, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnene richterliche Überzeugung wird die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts dementsprechend erst dann in Frage gestellt, wenn gute Gründe dafür aufgezeigt werden, dass die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Überzeugungsbildung mangelhaft ist, etwa weil das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung mit Blick auf eine entscheidungserhebliche Tatsache von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist oder die Beweiswürdigung gedankliche Lücken oder Ungereimtheiten aufweist. Allein die Möglichkeit einer anderen Bewertung der Beweisaufnahme rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.07.2012 - 2 S 1265/12 -, NVwZ-RR 2012, 778; BayVGH, Beschl. v. 02.05.2014 - 10 ZB 13.1229 -, juris). Derartige Fehler bei der verwaltungsgerichtlichen Überzeugungsbildung werden mit dem Zulassungsantrag nicht aufgezeigt.
Den rechtlichen Ausgangspunkt des Verwaltungsgerichts, dass ein unechter polizeilicher Notstand nur dann vorliegt, wenn polizeiliche Maßnahmen gegen die für die befürchtete Störung Verantwortlichen einen Schaden herbeiführen würden, der in einem offenkundigen Missverhältnis zum angestrebten Erfolg stünde, und dass Voraussetzung des Einschreitens die vorherige Ausschöpfung aller anwendbaren Mittel ist, die eine Grundrechtsverwirklichung der friedlichen Demonstranten ermöglicht, stellt die Beklagte mit dem Zulassungsvorbringen nicht in Frage.
10 
Soweit die Beklagte sich gegen die Wertung des Verwaltungsgerichts wendet, dass es über die drei Lautsprecherdurchsagen hinaus weitere erfolgversprechende Maßnahmen gegeben hätte, mit denen gegen die Gegendemonstranten hätte vorgegangen werden können, ohne dass zwangsläufig die friedlichen Blockierer gefährdet worden wären (UA S. 19 f.), und pauschal beanstandet, das Verwaltungsgericht verkenne die tatsächliche Gefahrenlage, wenn es annehme, dass diese im Zeitpunkt der verfügten Versammlungsbeschränkung noch nicht das höchste Gefahrenausmaß für alle Beteiligten angenommen habe, zeigt sie einen Verstoß gegen die dargelegten Grundsätze der Beweiswürdigung nicht auf. Der behauptete Widerspruch zwischen der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass eine Räumung der Aufzugsstrecke unter Aufbietung aller Kräfte möglich gewesen wäre, und dessen Annahme, dass ein schrittweises Vorrücken der Polizei mit großer Wahrscheinlichkeit dazu geführt hätte, dass der Großteil der Gegendemonstranten aus Personen des sogenannten bürgerlichen Spektrums sich zurückgezogen hätte, liegt schon deshalb nicht vor, weil diese Aussagen in unterschiedlichen Zusammenhängen getroffen worden sind. Zum einen ging es um die Frage, ob die Beklagte gegen die Versammlung des Klägers unter den Voraussetzungen eines (echten) polizeilichen Notstands einschreiten durfte, weil die Gefahr auf andere Weise nicht abgewehrt und die Störung auf andere Weise nicht beseitigt werden konnte und die Beklagte nicht über ausreichende eigene, eventuell durch Amts- und Vollzugshilfe ergänzte, Mittel und Kräfte verfügte, um die Rechtsgüter wirksam zu schützen (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 01.10.2008 - 6 B 53.08 -, Buchholz 402.44 VersG Nr. 16 m.w.N.). Diese Frage hat das Verwaltungsgericht nach in jeder Hinsicht nachvollziehbarer - und mit dem Zulassungsvorbringen nicht angegriffener - Auswertung des Sachverhalts überzeugend verneint (UA S. 17 f.). Zum anderen hat das Verwaltungsgericht unter Anlegung der hierfür geltenden abweichenden Maßstäbe (vgl. dazu unten 2. b) bb)) untersucht, ob die Voraussetzungen des sogenannten unechten polizeilichen Notstands vorlagen; seine diesbezüglichen Darlegungen liegen dementsprechend inhaltlich auf einer anderen Ebene. Unabhängig davon lassen sich die beiden Aussagen auch ohne Weiteres miteinander vereinbaren, da es einmal um das Ob, das andere Mal um das Wie einer möglichen Räumung der Aufzugsstrecke geht. Weshalb das Verwaltungsgericht bei seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung sonst die tatsächliche Gefahrenlage verkannt haben sollte, ist nicht ersichtlich.
11 
Die vom Beklagten vorgelegte und auszugsweise zitierte Stellungnahme des Polizeipräsidiums Karlsruhe vom 09.06.2015 ist ebenfalls nicht geeignet, die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts in Zweifel zu ziehen. Der Leiter des Führungs- und Einsatzstabs wiederholt darin im Wesentlichen nur die bereits aus den erstinstanzlich vorgelegten Unterlagen des Polizeipräsidiums Karlsruhe hervorgehenden, von ihm in der mündlichen Verhandlung nochmals erläuterten und vom Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung zugrunde gelegten Erkenntnisse zum Einsatzablauf. Mit der - mangels Darlegungen zu Art und Ausmaß der erwarteten Ausschreitungen für die Annahme eines unechten polizeilichen Notstands ohnehin nicht ausreichenden (vgl. dazu unten 2. b) bb)) - Schlussfolgerung, dass aufgrund der bisher gezeigten hohen Gewaltbereitschaft und der tatsächlichen tätlichen Angriffe unterschiedlichster Art zwangsläufig davon auszugehen gewesen sei, dass es bei einer Räumung wiederholt zu einer massiven tätlichen Auseinandersetzung gekommen wäre, nimmt die Beklagte lediglich eine eigenständige Bewertung der Beweisaufnahme vor, ohne aufzuzeigen, dass das Verwaltungsgericht mit Blick auf eine entscheidungserhebliche Tatsache von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen wäre oder seine Beweiswürdigung gedankliche Lücken oder Ungereimtheiten aufwiese. Entsprechendes gilt, soweit die Beklagte lediglich pauschal moniert, das Verwaltungsgericht gehe fälschlicherweise davon aus, dass es den friedlichen Blockierern möglich gewesen wäre, sich aus der xxxstraße zu entfernen und einer Gefährdung zu entgegen.
12 
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung werden schließlich auch insoweit nicht aufgezeigt, als die Beklagte geltend macht, dass ein Abrücken der Polizeikräfte von den Absperrungen in Richtung Gegendemonstranten dazu geführt hätte, dass gewaltbereite Personen die Gittersperre überwunden hätten und es dann zu Ausschreitungen gekommen wäre. Das Verwaltungsgericht hat den bereits erstinstanzlich vorgebrachten Einwand der Beklagten, dass Einsatzkräfte an den Absperrungen gebunden gewesen seien, ausweislich der Urteilsgründe (UA S. 6 und 18) berücksichtigt, vermochte indes auch angesichts dessen nicht zu erkennen, dass durch einen Polizeieinsatz zur Räumung der xxxstraße unbeteiligte Dritte oder Gegendemonstranten zwangsläufig gegenwärtigen erheblichen Gefahren ausgesetzt worden wären, die die Inanspruchnahme der Störer als unverhältnismäßig hätten erscheinen lassen (UA S. 19). Dies ist mit Blick auf die von der Versammlungsbehörde für ihre Entscheidung, den Aufzug des Klägers auf eine stationäre Kundgebung zu beschränken, als maßgeblich erachtete Einschätzung des Leiters des Führungs- und Einsatzstabs vom 25.05.2013 um 14:44 Uhr nicht zu beanstanden. Denn zum einen impliziert dessen Aussage, eine Räumung der Aufzugsstrecke sei „unter Aufbietung aller Kräfte“ möglich, dass die verfügbaren Einsatzkräfte ein erfolgversprechendes Vorgehen gegen die Gegendemonstranten unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Absperrungen ermöglicht hätten. Zum anderen lassen sich weder der Video-Dokumentation noch der schriftlichen Einsatzdokumentation hinreichende Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass und inwieweit die mit den verfügbaren Einsatzkräften möglichen Maßnahmen nicht ausgereicht hätten, der gewaltbereiten Gegendemonstranten Herr zu werden, und deshalb die vom Leiter des Führungs- und Einsatzstabs befürchteten „deutlichen Ausschreitungen“ zwangsläufig zu Schäden an Leib oder Leben bei friedlichen Versammlungsteilnehmern oder unbeteiligten Dritten geführt hätten. Der Hinweis der Beklagten auf die hohe Emotionalisierung und Gewaltbereitschaft sowie die - begründete - Erwartung, dass gegen die gewaltbereiten Gegendemonstranten unmittelbarer Zwang in Form von Wegschieben, Wegtragen bis hin zum Einsatz von Schlagstöcken, Reizgas und Polizeipferden hätte angewendet werden müssen, genügen insoweit nicht, nachdem die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass es den friedlichen Blockierern bei einem schrittweisen Vorrücken der Polizeibeamten weiterhin möglich gewesen wäre, sich aus der xxxstraße zu entfernen und somit einer Gefährdung zu entgehen, mit dem Zulassungsvorbingen nicht durchgreifend in Frage gestellt wird.
13 
bb) Auch ein Fall grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegt nicht vor. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur dann zu, wenn das erstrebte weitere Gerichtsverfahren zur Beantwortung von entscheidungserheblichen konkreten Rechtsfragen oder im Bereich der Tatsachenfeststellungen nicht geklärten Fragen mit über den Einzelfall hinausreichender Tragweite beitragen könnte, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts höhergerichtlicher Klärung bedürfen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 05.06.1997 - 4 S 1050/97 -, VBlBW 1997, 420 m.w.N.; Beschl. v. 19.08.2010 - 8 S 2322/09 -, ZfWG 2010, 424). Daran fehlt es hier.
14 
Die Beklagte hält es für eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung, „unter welchen tatsächlichen Voraussetzungen der unechte polizeiliche Notstand überhaupt noch zur Anwendung kommen kann“. Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung. In der höhergerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 VersG gegen eine Versammlung, deren Veranstalter und Teilnehmer sich grundsätzlich friedlich verhalten, auch unter den Voraussetzungen des sogenannten unechten polizeilichen Notstands eingeschritten werden kann. Diese Rechtsfigur setzt voraus, dass polizeiliche Maßnahmen gegen die für die befürchtete Störung Verantwortlichen einen Schaden herbeiführen würden, der in einem offenkundigen Missverhältnis zum angestrebten Erfolg stünde (vgl. Senat, Urt. v. 28.08.1986 - 1 S 3241/85 -, NVwZ 1987, 237; HessVGH, Beschl. v. 17.09.1993 - 3 TH 2190/93 -, NVwZ-RR 1994, 86; BayVGH, Urt. v. 13.01.2004 - 24 BV 03.1301 -, juris; OVG Bln.-Bbg., Urt. v. 20.11.2008 - 1 B 5.06 -, juris, bestätigt durch BVerwG, Beschl. v. 05.02.2009 - 6 B 4.09 -, Buchholz 402.44 VersG Nr. 17), etwa weil gewalttätige Aktionen von Gegendemonstranten zu erwarten sind und hierdurch eine unmittelbare Gefahr für Leib oder Leben von Versammlungsteilnehmern und unbeteiligten Dritten oder für Sachen von erheblichem Wert besteht (vgl. Senat, Beschl. v. 29.03.1993 - 1 S 118/93 -, NVwZ-RR 1994, 87; BVerwG, Urt. v. 23.03.1999 - 1 C 12.97 -, Buchholz 402.44 VersG Nr. 12; vgl. auch BVerfG , Beschl. v. 15.08.1991 - 1 BvQ 8/91 -, NVwZ 1992, 54, v. 14.07.2000 - 1 BvR 1245/00 -, NJW 2000, 3051, v. 18.08.2000 - 1 BvQ 23/00 -, NJW 2000, 3053 und v. 12.05.2010 - 1 BvR 2636/04 -, BVerfGK 17, 303). Drohen Gewalttaten als Gegenreaktion auf Versammlungen, so ist es Aufgabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung berufenen staatlichen Stellen, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung der Versammlungsfreiheit für die Grundrechtsträger hinzuwirken (vgl. BVerfG , Beschl. v. 18.08.2000, a.a.O., v. 10.05.2006 - 1 BvQ 14/06 -, BVerfGK 8, 79 und v. 26.06.2007 - 1 BvR 1418/07 -, BVerfGK 11, 361). Hierzu gehört auch die Prüfung, ob eine Notstandslage durch Modifikation der Versammlungsmodalitäten entfallen kann, ohne dadurch den konkreten Zweck der Versammlung zu vereiteln (vgl. zur zeitlichen und örtlichen Begrenzung einer ursprünglich als Aufzug geplanten Veranstaltung auf eine stationäre Versammlung: BVerfG , Beschl. v. 10.05.2006, a.a.O.). Voraussetzung des Einschreitens ist allerdings eine hohe Wahrscheinlichkeit in der Gefahrenprognose sowie die vorherige Ausschöpfung aller anwendbaren Mittel, die eine Grundrechtsverwirklichung der friedlichen Demonstranten ermöglicht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.10.2008, a.a.O. m.w.N.); die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt dabei grundsätzlich bei der Behörde (vgl. BVerfG , Beschl. v. 12.05.2010 - 1 BvR 2636/04 -, BVerfGK 17, 303 und v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 -, NVwZ 2013, 570). Die Inanspruchnahme des Nichtstörers durch Auflösung oder Beschränkung der Ausgangsveranstaltung kommt daher nicht schon dann in Betracht, wenn mit Rechtsbruch oder Gegenwehr der Gegendemonstranten zu rechnen ist (vgl. Senat, Urt. v. 28.08.1986, a.a.O.; Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Aufl., § 1 Rn. 257; vgl. auch BVerfG , Beschl. v. 10.05.2006, a.a.O.). Insoweit bedarf es vielmehr der Darlegung, dass ein Schutz vor Gefahren für die öffentliche Sicherheit primär durch Maßnahmen gegenüber den Störern ins Werk gesetzt wird, dass er auf diese Weise aber nur unzureichend gewährleistet werden kann, weil die erforderlichen Gegenmaßnahmen Ausschreitungen befürchten lassen, die nach ihrer Art und ihrem Ausmaß zwangsläufig zu Schäden an Leib oder Leben bei friedlichen Versammlungsteilnehmern und unbeteiligten Dritten oder an Sachen von erheblichem Wert führen würden (vgl. zu diesem Gesichtspunkt der „gewalttätigen Eskalation“: BVerfG , Beschl. v. 12.05.2010, a.a.O.; BVerwG, Urt. v. 23.03.1999, a.a.O.; BayVGH, Urt. v. 13.01.2004, a.a.O.; OVG Bln.-Bbg., Urt. v. 20.11.2008, a.a.O.). Die Versammlungsbehörde muss sich an den genannten Voraussetzungen ausrichten, wenn sie gegen die Versammlung unter dem Gesichtspunkt des unechten polizeilichen Notstands einzuschreiten gedenkt. Es ist keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung, ob im Einzelfall die polizeiliche Gefahrenprognose geeignet ist, das Vorliegen der aufgezeigten Voraussetzungen für ein Einschreiten unter diesem Gesichtspunkt zu begründen.
15 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
16 
Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 3 und 1, § 52 Abs. 2 GKG.
17 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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Tenor Das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 16. April 2003 - 11 K 671/02 -, soweit darin die Klage des Beschwerdeführers auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Auflage Nr. 4 in dem

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(1) Für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen gelten §§ 41 bis 49 der Zivilprozeßordnung entsprechend.

(2) Von der Ausübung des Amtes als Richter oder ehrenamtlicher Richter ist auch ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat.

(3) Besorgnis der Befangenheit nach § 42 der Zivilprozeßordnung ist stets dann begründet, wenn der Richter oder ehrenamtliche Richter der Vertretung einer Körperschaft angehört, deren Interessen durch das Verfahren berührt werden.

Ein Richter ist von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen:

1.
in Sachen, in denen er selbst Partei ist oder bei denen er zu einer Partei in dem Verhältnis eines Mitberechtigten, Mitverpflichteten oder Regresspflichtigen steht;
2.
in Sachen seines Ehegatten, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht;
2a.
in Sachen seines Lebenspartners, auch wenn die Lebenspartnerschaft nicht mehr besteht;
3.
in Sachen einer Person, mit der er in gerader Linie verwandt oder verschwägert, in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder bis zum zweiten Grad verschwägert ist oder war;
4.
in Sachen, in denen er als Prozessbevollmächtigter oder Beistand einer Partei bestellt oder als gesetzlicher Vertreter einer Partei aufzutreten berechtigt ist oder gewesen ist;
5.
in Sachen, in denen er als Zeuge oder Sachverständiger vernommen ist;
6.
in Sachen, in denen er in einem früheren Rechtszug oder im schiedsrichterlichen Verfahren bei dem Erlass der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, sofern es sich nicht um die Tätigkeit eines beauftragten oder ersuchten Richters handelt;
7.
in Sachen wegen überlanger Gerichtsverfahren, wenn er in dem beanstandeten Verfahren in einem Rechtszug mitgewirkt hat, auf dessen Dauer der Entschädigungsanspruch gestützt wird;
8.
in Sachen, in denen er an einem Mediationsverfahren oder einem anderen Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung mitgewirkt hat.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus. Die Einwilligung gilt als erteilt, wenn der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Rücknahme enthaltenden Schriftsatzes widersprochen wird; das Gericht hat auf diese Folge hinzuweisen.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Klage als zurückgenommen gilt.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluß ein und spricht die sich nach diesem Gesetz ergebenden Rechtsfolgen der Zurücknahme aus. Der Beschluß ist unanfechtbar.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom Urteil vom 21. Oktober 2010 - 8 K 2833/08 - zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Die Klägerin ist Eigentümerin der Grundstücke ... Straße ... in Gomaringen (Flurstück Nr. ..., ..., ..., ..., ...). Die Grundstücke befinden sich im unbeplanten Innenbereich. Im Jahr 2006 genehmigte das Landratsamt Tübingen der Klägerin dort die Errichtung eines Lebensmittelmarkts und eines Fachmarkts mit zentrenrelevantem Sortiment und einer Verkaufsfläche von jeweils weniger als 800 m2.
Im Februar 2008 beantragte die Klägerin die Erteilung einer Änderungsbaugenehmigung, um u. a. anstelle des bestehenden Fachmarkts zwei Fachmärkte zu errichten, nämlich einen Textil- und einen Drogeriefachmarkt mit Verkaufsflächen von 588 m2 und 532,80 m2.
Die Klägerin legte eine in ihrem Auftrag von der ... GmbH im April 2008 erstellte „Markt- und Verträglichkeitsuntersuchung zum Ansiedlungsvorhaben verschiedener Einzelhandelsnutzungen am Standort ‘... Straße’ in der Gemeinde Gomaringen“ vor. Die Untersuchung kommt zum Ergebnis, dass die Standortverteilung der Einzelhandelsbetriebe im Nahbereich Gomaringen (Gomaringen, Dußlingen und Nehren) durch eine sehr disperse Struktur gekennzeichnet sei. Die Abgrenzung zentraler Versorgungsbereiche sei nur bedingt möglich bzw. im Fall der Gemeinde Nehren nicht sinnvoll. Nachhaltig negative städtebauliche Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit zentraler Versorgungsbereiche könnten nicht vermutet werden.
Das Regierungspräsidium Tübingen teilte dem Landratsamt durch Schreiben vom 24.04.2008 mit, dass aus seiner Sicht schädliche Auswirkungen auf zentrale Versorgungsbereiche im Sinne des § 34 Abs. 3 BauGB dann verhindert werden könnten, wenn u. a. das sogenannte Randsortiment des Drogeriemarktes dahingehend beschränkt werde, dass Spiel- und Schreibwaren nicht zulässig seien.
Das Landratsamt Tübingen erteilte deshalb mit Bescheid vom 29.04.2008 die beantragte Änderungsbaugenehmigung u. a. mit folgender Nebenbestimmung Nr. 27:
„Das so genannte Randsortiment des vorgesehenen Drogeriemarktes wird dahingehend beschränkt, dass Spiel- und Schreibwaren nicht zulässig sind.“
Gegen die Nebenbestimmung erhob die Klägerin unter Berufung auf das Gutachten der ... GmbH Widerspruch. Das Regierungspräsidium Tübingen wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.10.2008 zurück. Es begründete dies mit der Befürchtung, dass die Geschäfte, die in Gomaringen, Dußlingen und Nehren Spiel- und Schreibwaren anbieten, erheblich betroffen bzw. in ihrer Existenz gefährdet würden, wenn ein Fachmarktzentrum vergleichbare Produkte anbiete.
Die Klägerin hat am 12.11.2008 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen, in den Gemeinden Gomaringen, Dußlingen und Nehren bestünden keine zentralen Versorgungsbereiche und es seien auch keine schädlichen Auswirkungen zu erwarten.
Während des Klageverfahrens haben die Gemeinden Gomaringen, Dußlingen und Nehren Pläne über die dort vorhandenen Einzelhandelsgeschäfte vorgelegt.
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In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat die Klägerin ihren Bauantrag hinsichtlich der Sortimente Schreib- und Spielwaren auf eine Verkaufsfläche von jeweils 25 m2 beschränkt.
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Nach Einnahme eines Augenscheins hat das Verwaltungsgericht Sigmaringen mit Urteil vom 21.10.2010 die Nebenbestimmung Nr. 27 der Änderungsbaugenehmigung des Landratsamts Tübingen vom 29.04.2008 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 21.10.2008 aufgehoben und die Berufung zugelassen.
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Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts ist die Nebenbestimmung rechtswidrig. Sie finde in § 34 Abs. 3 BauGB keine Grundlage. Zwar gebe es in der Gemeinde Gomaringen einen zentralen Versorgungsbereich zwischen der Kreuzung Bahnhofstraße/Hinterweilerstraße und der Lindenstraße. Dies entspreche im Wesentlichen auch der Einschätzung im Gutachten der ... GmbH. Es seien jedoch keine schädlichen Auswirkungen zu erwarten. Eine relevante Versorgung mit Schreibwaren sei nur hinsichtlich des Schreiblädles in der Lindenstraße feststellbar. Dessen Verkaufsfläche von 40-50 m2 sei Indiz dafür, dass es durch das Schreibwarenangebot der Klägerin mit 25 m2 Verkaufsfläche zu keinem erheblichen Kaufkraftabfluss kommen werde. Diese Prognose werde in gewissem Umfang vom indiziell heranzuziehenden Gutachten der ... GmbH gestützt. Es sei zu vermuten, dass zu Fuß einkaufende Kunden ihre Besorgungen eher im zentralen Versorgungsbereich als bei der Klägerin erledigten. Beim zentralen Versorgungsbereich sei keine besondere Vorschädigung feststellbar. Es sei von einer hohen Stabilität des Schreibwarenabsatzes im Schreiblädle auszugehen. Das Schreiblädle beherberge die Gomaringer Filiale der Deutschen Post AG, so dass anzunehmen sei, dass Kunden der Post dort ihren Bedarf an Schreibwaren deckten. Im Übrigen ziele das Bauvorhaben der Klägerin nach seiner Lage auf die Kaufkraft von Käufern ab, die über Gomaringen nach Tübingen oder Reutlingen führen, wohingegen das Schreiblädle eher Anlaufpunkt für die „ihre“ Postfiliale aufsuchende Gomaringer Kundschaft sei. In der Gemeinde Dußlingen lasse sich das Vorliegen eines zentralen Versorgungsbereichs nicht feststellen. Die Geschäfte in Dußlingen, die Spiel- und Schreibwaren anböten, lägen außerhalb des mit einer Mehrzahl von Geschäften und Dienstleistungsanbietern besetzten Gebiets im Kreuzungsbereich der Uffhofenstraße, Austraße und Wilhelm-Herter-Straße. Für die Frage, ob ein zentraler Versorgungsbereich vorliege, komme es nicht darauf an, dass die Gemeinde Dußlingen bereits Haushaltsbefragungen in Auftrag gegeben habe, um in der neu zu schaffenden Ortsmitte im Bereich der bisherigen B 27-Kreuzung einen tragfähigen Sortimentsmix zu bedienen. Derzeit bestehe weder eine hinreichend konkretisierte städtebauliche Konzeption der Gemeinde noch ergebe sich das Vorliegen eines zentralen Versorgungsbereichs aus eindeutigen tatsächlichen Verhältnissen. Auch in der Gemeinde Nehren gebe es keinen zentralen Versorgungsbereich. Der Kreuzungsbereich von Hauptstraße, Luppachstraße und Kappelstraße sei nach dem beim Augenschein gewonnenen Eindruck um die Mittagszeit nicht belebt. Der Bereich vermittle nicht den Eindruck einer abgrenzbaren „Ortsmitte“, sondern eher einer Ansammlung vereinzelter Geschäfte. Schließlich könne die Änderungsbaugenehmigung sinnvoller- und rechtmäßigerweise auch ohne die angefochtene Auflage bestehen bleiben.
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Gegen das ihm am 27.12.2010 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 20.01.2011 Berufung eingelegt. Die Frist zur Begründung der Berufung wurde auf den am 24.02.2011 gestellten Antrag bis zum 30.03.2011 und auf den am 30.03.2011 gestellten Antrag bis zum 30.04.2011 verlängert. Am 29.04.2011 wurde die Berufung auf die Aufhebung der Nebenbestimmung Nr. 27 in Bezug auf Spielwaren beschränkt und wie folgt begründet.
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Es könne nicht ausgeschlossen, dass auch bei dem nur 25 m2 Verkaufsfläche umfassenden und damit sehr kleinen Schreibwarenangebot der Klägerin schädliche Auswirkungen zumindest in Gomaringen, aber auch in Dußlingen und Nehren entstünden. In kleineren Gemeinden könnten sich nur noch wenige Einzelhandelsgeschäfte halten. Diese Geschäfte könnten bereits durch geringfügige Angebotsveränderungen oder eine Verlagerung der Frequenz erheblich unter Druck geraten. In vergleichbaren Verfahren seien zeitnah negative Folgen bis hin zur Existenzgefährdung eingetreten. Es sei ein gewichtiges Anliegen des Landes, den Einzelhandel konsequent mit den Mitteln der Landes- und Regionalplanung sowie des Bauplanungsrechts zu steuern, um die Städte und Gemeinden zukunftsfähig zu erhalten und die städtebauliche Entwicklung im Interesse einer verbrauchernahen Versorgung und einer attraktiven Innenentwicklung geordnet zu gestalten.
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In Gomaringen sei keine funktionierende Ortsmitte vorhanden. Allein dem Schreiblädle komme die Funktion zu, durch die Kombination des Post- und Schreibwarenangebots für eine regelmäßige Frequenz zu sorgen. Es sei damit ein ganz wesentlicher Baustein für die Attraktivität und Lebendigkeit des Ortskerns. Es sei naheliegend, dass die Käufer im Fachmarktzentrum der Klägerin alles aus einer Hand erhielten und auch ihre Schreibwareneinkäufe miterledigten. Die Inhaberin des Schreiblädles habe in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht angegeben, dass die Einnahmen sich jeweils etwa zur Hälfte aus dem Schreibwarenhandel und dem Postbetrieb zusammensetzten und die Geschäftsbereiche einzeln nicht überlebensfähig wären. Das Schreibwarenangebot der Klägerin gefährde deshalb nicht nur den innerörtlichen Schreibwarenhandel, sondern auch den Postbetrieb. Das (preis-)attraktivere Angebot der Klägerin habe trotz der Beschränkung auf 25 m2 Verkaufsfläche naturgemäß einen Vorteil, der sich voraussichtlich in den Umsatzzahlen niederschlagen werde. Nach den Erhebungen des Instituts für ... ... ... seien die Flächenpotentiale im Sortimentsbereich Schreibwaren für die drei Gemeinden mit insgesamt etwa 200 m2 Verkaufsfläche bereits heute weitestgehend ausgeschöpft.
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In der bislang von der B 27 zerschnittenen Gemeinde Dußlingen gebe es kein gewachsenes Ortszentrum. Mit dem geplanten Ausbau der Bundesstraße und der Verlegung der Fahrstreifen in eine Tunnelröhre entstünden neue Innenstadtentwicklungspotentiale. Im Bereich der bisherigen Kreuzung der B 27 solle eine neue Ortsmitte geschaffen werden. Die Gemeinde habe die Gesellschaft für ... ... ... beauftragt, ein Einzelhandelskonzept zu erstellen. Dabei habe sich ergeben, dass insbesondere im mittelfristigen Bedarfsbereich bereits derzeit die größte Kaufkraftbindung im Segment Bücher, Schreibwaren und Zeitschriften erfolge. Zwei Anbieter, die dieses Segment bereits bedienten, ließen sich nur dann erhalten und aufwerten, wenn sie nicht durch das Vorhaben der Klägerin gefährdet würden. Es müssten auch solche zentrale Versorgungsbereiche mitumfasst werden, die anknüpfend an vorhandene oder auch nur in Ansätzen vorhandene Versorgungsbereiche weiterentwickelt und bzw. oder aufgewertet werden sollten.
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In Nehren mit nur ca. 4.000 Einwohnern könnten die Angebote naturgemäß keine Frequenz städtischer Prägung aufweisen, zumal es in kleinen Gemeinden immer noch üblich sei, dass Geschäfte über die Mittagszeit schlössen. Die Sicherung der Nahversorgung werde durch den Einsatz nicht unwesentlicher öffentlicher Mittel gefördert. Der Schutzbereich des § 34 Abs. 3 BauGB sollte dahinter nicht zurückbleiben, sondern auch auf kleinere gemeindliche Einheiten bezogen werden.
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Der Beklagte beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 21. Oktober 2010 - 8 K 2833/08 - zu ändern, soweit es die Beschränkung des Randsortiments in der Nebenbestimmung Nr. 27 zur Änderungsbaugenehmigung vom 29. April 2008 in Bezug auf Schreibwaren und den dazu ergangenen Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums vom 21. Oktober 2008 aufhebt, und die Klage insoweit abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Zur Begründung führt sie aus, in Gomaringen lasse sich schon aufgrund der Standortverteilung der Einzelhandelsbetriebe kein zentraler Versorgungsbereich abgrenzen. Die Geschäfte in der Bahnhofstraße seien räumlich deutlich abgesetzt von den Geschäften in der Lindenstraße. Im Umfeld des Schlosses verblieben vier Betriebe: Die Schloss-Apotheke, das Schreiblädle, ein Schuhgeschäft und das eher nicht als Lebensmittel-, sondern als Feinkostladen zu qualifizierende Geschäft ... ... Bei diesen vier Betrieben fehle es an einem breiten Spektrum der nahversorgungsrelevanten Angebotspalette. Künftige zentrale Versorgungsbereiche in Dußlingen könnten nicht berücksichtigt werden. In Nehren existierten nur mehrere kleine Einzelhandelsgeschäfte, nicht aber ein zentraler Versorgungsbereich.
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Unabhängig davon seien durch ihr auf 25 m2 beschränktes Schreibwarenangebot keine schädlichen Auswirkungen in Gomaringen zu erwarten. Dies werde durch den Hinweis des Beklagten bestätigt, dass das Flächenpotential für die drei Gemeinden im Sortimentsbereich Schreibwaren etwa 200 m2 betrage und dieses weitgehend ausgeschöpft sei. Es treffe nicht zu, dass die Inhaberin des Schreiblädles angegeben habe, dass Schreibwaren einerseits und Postagentur andererseits jeweils die Hälfte der Einnahmen ausmachten. Unabhängig davon falle der Umsatz im Schreiblädle nicht gänzlich weg, wenn der Drogeriemarkt der Klägerin 25 m2 Verkaufsfläche für Schreibwaren habe. Erst recht seien keine schädlichen Auswirkungen in Dußlingen und Nehren zu erwarten.
24 
In der Berufungsverhandlung hat der Vertreter des Beklagten auf Nachfrage des Gerichts mitgeteilt, dass seiner Ansicht nach das Vorliegen eines zentralen Versorgungsbereichs in Gomaringen nur hinsichtlich der in der geografischen Ortsmitte angesiedelten Einzelhandelsnutzungen in Betracht komme, nicht aber hinsichtlich der Einzelhandelsnutzungen in den Gewerbegebieten am Ortsrand. Ferner hat der Vertreter des Beklagten die Ansicht geäußert, es sei schwierig, in Dußlingen einen zentralen Versorgungsbereich zu definieren.
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Dem Senat liegen die Bauakten des Landratsamts Tübingen (fünf Bände) vor, die Widerspruchsakten des Regierungspräsidiums Tübingen, die Markt- und Verträglichkeitsuntersuchung der ... GmbH sowie die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Sigmaringen einschließlich der im verwaltungsgerichtlichen Verfahren von den Gemeinden Gomaringen, Dußlingen und Nehren vorgelegten Pläne über die vorhandenen Einzelhandelsgeschäfte. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt dieser Unterlagen sowie die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
26 
1. Das Berufungsverfahren ist nicht gem. § 125 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO teilweise einzustellen, soweit der Beklagte die Berufung auf die Aufhebung der Nebenbestimmung Nr. 27 in Bezug auf Spielwaren beschränkt hat. Hierin liegt keine teilweise Rücknahme der Berufung.
27 
Zwar hat der Beklagte in der Berufungsschrift ohne Einschränkung erklärt, Berufung einzulegen. Der später in der Berufungsbegründung gestellte einschränkende Antrag stellt jedoch keine teilweise Berufungsrücknahme dar. Gem. § 124a Abs. 2 Satz 2 VwGO muss die Berufung nur das angefochtene Urteil bezeichnen. Erst die Berufungsbegründung muss einen bestimmten Antrag sowie die Berufungsgründe enthalten (vgl. § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO). Das Gesetz verlangt vom Berufungsführer erst bei Ablauf der Berufungsbegründungsfrist eine verbindliche Entscheidung, welches - im Antrag konkret bestimmte - Ziel er mit seinem Rechtsmittel verfolgen will. Es wäre widersprüchlich, die ohne bestimmten Antrag eingelegte Berufung bereits als umfassendes Rechtsmittel zu bewerten und den Berufungsführer daran festzuhalten (ebenso BVerwG, Urteil vom 20.06.1991 - 3 C 6/89 - NJW 1992, 703 ; BGH, Beschluss vom 12.05.1989 - IVb ZB 25/89 - FamRZ 1989, 1064 ; a. A. BSG, Urteil vom 16.03.1971 - 10 RV 207/69 - juris § 164 abs. 2 satz 1 sgg a. f., wonach im sozialgerichtlichen verfahren bereits die revisionsschrift einen bestimmten antrag enthalten musste>). Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem Fall, in dem ein bereits gem. § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO gestellter Berufungsantrag nachträglich beschränkt und damit die Berufung teilweise zurückgenommen wird (vgl. Happ, in: Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Aufl. 2010, § 126, Rn. 1b; Redeker, in: Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl. 2010, § 126, Rn. 3 mit Verweis auf Bader, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2010, § 124a, Rn. 37).
28 
2. Die Berufung ist nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthaft und auch im Übrigen zulässig. Der Beklagte hat die Berufung entsprechend den Vorgaben des § 124a Abs. 2 VwGO eingelegt und in Übereinstimmung mit § 124a Abs. 3 VwGO begründet.
29 
3. Die Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beschränkung des Randsortiments in der Nebenbestimmung Nr. 27 zur Änderungsbaugenehmigung des Landratsamts Tübingen vom 29.04.2008 in Bezug auf Schreibwaren und den dazu ergangenen Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 21.10.2008 zu Recht aufgehoben.
30 
a) Das Verwaltungsgericht hat zutreffend unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 22.11.2000 - 11 C 2.00 -, BVerwGE 112, 221 m.w.N.) angenommen, dass die Klage als Anfechtungsklage statthaft und auch sonst zulässig ist. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts im Gliederungsabschnitt I. des Urteils vom 21.10.2010 und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (vgl. § 130b Satz 2 VwGO).
31 
b) Die Klage ist in dem im Berufungsverfahren noch zur Prüfung stehenden Umfang begründet. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung ist die Beschränkung des Randsortiments in der Nebenbestimmung Nr. 27 zur Änderungsbaugenehmigung vom 29.04.2008 in Bezug auf Schreibwaren rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, so dass die Änderungsbaugenehmigung und der Widerspruchsbescheid insoweit zu Recht aufgehoben wurden (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
32 
Rechtsgrundlage der Beschränkung des Randsortiments in der Nebenbestimmung Nr. 27 der Änderungsbaugenehmigung in Bezug auf Schreibwaren ist § 36 Abs. 1 LVwVfG. Entgegen der Vorgabe des § 36 Abs. 1 LVwVfG wird durch die Nebenbestimmung Nr. 27 in Bezug auf Schreibwaren aber nicht sichergestellt, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Änderungsbaugenehmigung erfüllt werden. Die Änderungsbaugenehmigung ist gem. § 58 Abs. 1 Satz 1 LBO zu erteilen, wenn dem genehmigungspflichtigen Vorhaben keine von der Baurechtsbehörde zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen. Der Erteilung der beantragten Änderungsbaugenehmigung ohne die genannte Nebenbestimmung steht insbesondere nicht die Vorschrift des § 34 Abs. 3 BauGB entgegen. Von dem Bauvorhaben sind keine schädlichen Auswirkungen auf zentrale Versorgungsbereiche in der Gemeinde oder in anderen Gemeinden zu erwarten.
33 
Zur Überzeugung des Senats fehlt es bereits an einem zentralen Versorgungsbereich in den insoweit allein in Betracht kommenden Gemeinden Gomaringen, Dußlingen und Nehren.
34 
aa) Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 14.12.2011 (- 8 S 1438/09 - juris) ausgeführt hat, sind zentrale Versorgungsbereiche im Sinne des § 34 Abs. 3 BauGB räumlich abgrenzbare Bereiche einer Gemeinde, denen aufgrund vorhandener Einzelhandelsnutzungen - häufig ergänzt durch diverse Dienstleistungen und gastronomische Angebote - eine Versorgungsfunktion über den unmittelbaren Nahbereich hinaus zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.10.2007 - 4 C 7.07 - BVerwGE 129, 307 = NVwZ 2008, 308). Entscheidend ist, dass der Versorgungsbereich nach Lage, Art und Zweckbestimmung eine für die Versorgung der Bevölkerung in einem bestimmten Einzugsbereich zentrale Funktion hat, wobei zentral nicht geografisch im Sinne einer Innenstadtlage oder Ortsmitte, sondern funktional zu verstehen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.2009 - 4 C 2.08 - BVerwGE 136, 10 = NVwZ 2010, 590; vgl. auch Beschluss vom 20.11.2006 - 4 B 50.06 - BRS 70 Nr. 114). Weiter setzt ein zentraler Versorgungsbereich im Sinne des § 34 Abs. 3 BauGB eine integrierte Lage voraus, so dass isolierte Standorte mit einzelnen Einzelhandelsbetrieben auch dann keinen zentralen Versorgungsbereich bilden, wenn sie über einen weiten Einzugsbereich verfügen und eine beachtliche Versorgungsfunktion erfüllen mögen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.2009, a.a.O.).
35 
Ein zentraler Versorgungsbereich setzt keinen übergemeindlichen Einzugsbereich voraus. Auch ein Bereich, der auf die Grund- und Nahversorgung eines bestimmten örtlich begrenzten Einzugsbereichs zugeschnitten ist, kann eine zentrale Versorgungsfunktion über den unmittelbaren Nahbereich hinaus wahrnehmen. Der Zweck des Versorgungsbereichs besteht in diesem Fall in der Sicherstellung einer wohnortnahen Grundversorgung der im Einzugsbereich lebenden Bevölkerung. Ein zentraler Versorgungsbereich muss jedoch einen gewissen, über seine eigenen Grenzen hinaus reichenden räumlichen Einzugsbereich mit städtebaulichem Gewicht haben und damit über den unmittelbaren Nahbereich hinaus wirken. Ob dies der Fall ist, hängt wiederum von Struktur und Größe der Gemeinde ab (vgl. - zum gesamten Absatz - BVerwG, Urteil vom 17.12.2009, a.a.O.).
36 
Die für einen zentralen Versorgungsbereich in ländlichen Gemeinden (Grund- und Nahversorgungszentrum) zumindest erforderliche Sicherstellung einer wohnortnahen Grundversorgung setzt ein Warenangebot voraus, das den kurzfristigen Bedarf und Teile des mittelfristigen Bedarfs abdeckt (so bereits OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.12.2006 - 7 A 964/05 - NVwZ 2007, 727, und - im Anschluss daran - OVG Niedersachsen, Beschluss vom 12.11.2007 - 1 ME 276/07 - BauR 2008, 1418). Dabei muss das Warenangebot zur Deckung des kurzfristigen Bedarfs aber nur die wesentlichen Bedürfnisse des täglichen Bedarfs befriedigen, insbesondere die Grundversorgung mit Lebensmitteln und Drogerieartikeln. Ein Angebot von Waren aller Art ist insoweit nicht erforderlich (a. A. wohl OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.12.2006, a.a.O.).
37 
Diese Auslegung folgt aus dem Wortlaut des § 34 Abs. 3 BauGB („Versorgungsbereiche“) und dem mit dieser Vorschrift verfolgten Ziel, gewachsene städtebauliche Strukturen zu erhalten und integrierte Lagen auch im Interesse der verbrauchernahen Versorgung zu entwickeln (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 14.12.2011, a.a.O.). Von einer verbrauchernahen Versorgung kann in ländlichen Gemeinden nur gesprochen werden, wenn die wesentlichen Bedürfnisse des täglichen Bedarfs durch das vor Ort vorhandene Warenangebot abgedeckt werden. Dies sind insbesondere Lebensmittel und Drogerieartikel. Ein Angebot von Waren aller Art ist zur Grundversorgung nicht nötig und in solchen ländlichen und zumeist kleineren Gemeinden regelmäßig auch nicht möglich. Zu den zu erhaltenden städtebaulichen Strukturen gehören in den genannten Gemeinden auch die dort üblicherweise vorhandenen Einzelhandelsgeschäfte mit einem eingeschränkten Angebot zur Deckung des mittelfristigen Bedarfs. Ist mangels hinreichend breiten Warenangebots keine verbrauchernahe Versorgung gewährleistet, ist der Anwendungsbereich des § 34 Abs. 3 BauGB nicht eröffnet. Sinn und Zweck des § 34 Abs. 3 BauGB ist nicht, einzelne Betriebe vor der Ansiedlung von Konkurrenz zu schützen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.12.2006, a.a.O.).
38 
bb) Gemessen daran ist weder in Gomaringen (ca. 10.000 Einwohner) noch in Dußlingen (ca. 5.500 Einwohner) noch in Nehren (ca. 4.000 Einwohner) ein zentraler Versorgungsbereich vorhanden.
39 
(1) In Gomaringen fehlt es an einem ausreichenden Warenangebot in integrierter Lage.
40 
Eine integrierte Lage weisen nur die Einzelhandelsgeschäfte auf, die sich im Bereich der Lindenstraße und Bahnhofstraße, gegebenenfalls auch der Tübinger Straße und Hinterweilerstraße befinden. Die Einzelhandelsgeschäfte in den Gewerbegebieten am nordöstlichen und südwestlichen Ortsrand befinden sich dagegen an isolierten Standorten. Dies entspricht auch der vom Vertreter des Beklagten in der Berufungsverhandlung vertretenen Ansicht, der Einschätzung der ... GmbH in ihrer Untersuchung vom April 2008 sowie der Beurteilung des Verwaltungsgerichts.
41 
Von den in der genannten integrierten Lage ansässigen Einzelhandelsgeschäften werden Lebensmittel nur vom Geschäft ... ... angeboten, dessen Warenangebot für eine Grundversorgung mit Lebensmitteln jedoch nicht ausreichend ist. Der Senat lässt die Beantwortung der Frage dahinstehen, ob sich dies bereits daraus ergibt, dass das Angebot des Geschäfts wohl beschränkt ist, insbesondere ein ausreichendes Angebot an Getränken wie z. B. Mineralwasser fehlen dürfte. Jedenfalls ist eine Grundversorgung deshalb nicht gewährleistet, weil das Geschäft nur sehr eingeschränkte Öffnungszeiten hat. Ausweislich des den Beteiligten bekannten Internetauftritts des Geschäfts ist dieses nur donnerstags bis samstags geöffnet. Die Deckung eines kurzfristig entstandenen Lebensmittelbedarfs ist damit montags bis mittwochs ausgeschlossen. Die Öffnungszeiten schränken auch die Versorgung mit leicht verderblichen Lebensmitteln ein. Von einer ausreichenden Deckung des „täglichen“ Bedarfs kann deshalb nicht mehr gesprochen werden.
42 
In integrierter Lage ist ferner keine Grundversorgung mit Drogerieartikeln sichergestellt. Der Drogeriemarkt in der Bahnhofstraße ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung nicht mehr in Betrieb. Das Angebot der in integrierter Lage ansässigen Apotheken reicht nach allgemeiner Lebenserfahrung für eine Grundversorgung mit Drogerieartikeln nicht aus.
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(2) Die in Dußlingen vorhandenen Einzelhandelsnutzungen befinden sich nicht in integrierter Lage.
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Für eine integrierte Lage der beiden Geschäfte in der Bundachstraße und der Hallstattstraße ist nichts ersichtlich. Auch die entlang der Uffhofenstraße und der Wilhelm-Herter-Straße vorhandenen Einzelhandelsgeschäfte bilden keinen räumlich abgrenzbaren Bereich, sondern eine bloße Agglomeration. Die Geschäfte befinden sich nicht mehr in fußläufiger Entfernung voneinander und werden durch den Fluss Steinlach und die B 27 zusätzlich voneinander getrennt. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts sind - anders als bei den Feststellungen zu Gomaringen - keine Parkplätze, Plätze, Hotels oder der ärztlichen oder sozialen Versorgung dienende Einrichtungen vorhanden, die als Annexe eines zentralen Versorgungsbereichs zu sehen wären. Gegen das Vorhandensein eines räumlich abgrenzbaren Bereichs mit Einzelhandelsnutzungen spricht auch, dass die Gemeinde Dußlingen eine neu zu schaffende Ortsmitte im Bereich der B 27-Kreuzung plant und somit selbst davon ausgeht, dass bislang keine geografische Ortsmitte und damit wohl auch keine integrierte Lage existiert. Auch der Vertreter des Beklagten hielt es in der Berufungsverhandlung für schwierig, in Dußlingen eine integrierte Lage zu definieren.
45 
Selbst wenn sich die insoweit allein in Betracht kommenden Einzelhandelsnutzungen entlang der Uffhofenstraße und der Wilhelm-Herter-Straße in integrierter Lage befänden, läge kein zentraler Versorgungsbereich vor. Insoweit ist die Grundversorgung mit Lebensmitteln nicht sichergestellt. Das einzige Lebensmittel anbietende Geschäft - das Geschäft ... in der Uffhofenstraße - hat nur ein eingeschränktes Angebot und eingeschränkte Öffnungszeiten. Ausweislich seiner zum Gegenstand der Berufungsverhandlung gemachten Werbung ist das Geschäft dienstags (9:00 bis 12:30 Uhr), donnerstags (9:00 bis 12:30 Uhr, 15:00 bis 18:30 Uhr) und freitags (9:00 bis 12:30 Uhr) geöffnet und werden Biolandgemüse aus eigenem Anbau, Naturkostwaren sowie Fruchtsäfte angeboten. Das Geschäft ... wird im Gutachten der ... GmbH auch nicht als ein in Dußlingen vorhandenes Lebensmittelgeschäft erwähnt.
46 
Rechtlich irrelevant in diesem Zusammenhang ist, dass die Gemeinde Dußlingen Haushaltsbefragungen mit der Zielsetzung in Auftrag gegeben hat, in der neu zu schaffenden Ortsmitte im Bereich der bisherigen B 27-Kreuzung einen tragfähigen Sortimentsmix zu bedienen. Denn etwaige Planungen zu einem zentralen Versorgungsbereich sind jedenfalls noch nicht verwirklicht (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 14.12.2011, a.a.O.).
47 
(3) Schließlich fehlt es auch in Nehren an einem ausreichenden Warenangebot in integrierter Lage.
48 
Sollten sich die Einzelhandelsnutzungen im Bereich der Kreuzung Luppachstraße/Wertstraße und Hauptstraße in integrierter Lage befinden, fehlt es an einem die Grundversorgung mit Lebensmitteln sicherstellenden Warenangebot. Die früher vorhandenen Lebensmittelgeschäfte in der Luppachstraße und Gartenstraße sind im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung abgemeldet. Die vorhandenen Bäckereien und die vorhandene Metzgerei gewährleisten die erforderliche Grundversorgung mit Lebensmitteln nicht. Es fehlt ferner eine Grundversorgung mit Drogerieartikeln. Der Drogeriemarkt in der Luppachstraße ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung nicht mehr in Betrieb. Das Angebot der Apotheke in der Bahnhofstraße reicht für eine Grundversorgung mit Drogerieartikeln nicht aus.
49 
Bei den entlang der Reutlinger Straße/L 384 angesiedelten und durch diese Straße voneinander getrennten Einzelhandelsbetrieben handelt es sich nicht um Einzelhandelsbetriebe in integrierter Lage, sondern um isolierte Standorte. Selbst wenn insoweit eine integrierte Lage vorläge, fehlt es jedenfalls an einem Angebot, das eine Grundversorgung mit Drogerieartikeln sicherstellt.
50 
Da es somit bereits an zentralen Versorgungsbereichen in Gomaringen, Dußlingen und Nehren fehlt, kommt es nicht darauf an, ob von dem Bauvorhaben der Klägerin schädliche Auswirkungen im Sinne des § 34 Abs. 3 BauGB ausgehen. Damit kann auch dahinstehen, wie es sich rechtlich auswirkt, dass die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ihren Bauantrag hinsichtlich des Sortiments Schreibwaren auf eine Verkaufsfläche von 25 m2 beschränkt hat, die Änderungsbaugenehmigung vom 29.04.2008 jedoch keine solche Beschränkung der Verkaufsfläche enthält.
51 
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO erfüllt ist.
52 
Beschluss vom 12. April 2012
53 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gem. § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1 GKG auf 3.750 EUR festgesetzt (entsprechend der Streitwertfestsetzung in erster Instanz unter Berücksichtigung der Beschränkung der Berufung und Begrenzung des Interesses der Klägerin auf ein Schreibwarenangebot mit 25 m2 Verkaufsfläche sowie in Anlehnung an Nr. 9.1.4 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).
54 
Der Beschluss ist unanfechtbar.

Gründe

 
26 
1. Das Berufungsverfahren ist nicht gem. § 125 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO teilweise einzustellen, soweit der Beklagte die Berufung auf die Aufhebung der Nebenbestimmung Nr. 27 in Bezug auf Spielwaren beschränkt hat. Hierin liegt keine teilweise Rücknahme der Berufung.
27 
Zwar hat der Beklagte in der Berufungsschrift ohne Einschränkung erklärt, Berufung einzulegen. Der später in der Berufungsbegründung gestellte einschränkende Antrag stellt jedoch keine teilweise Berufungsrücknahme dar. Gem. § 124a Abs. 2 Satz 2 VwGO muss die Berufung nur das angefochtene Urteil bezeichnen. Erst die Berufungsbegründung muss einen bestimmten Antrag sowie die Berufungsgründe enthalten (vgl. § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO). Das Gesetz verlangt vom Berufungsführer erst bei Ablauf der Berufungsbegründungsfrist eine verbindliche Entscheidung, welches - im Antrag konkret bestimmte - Ziel er mit seinem Rechtsmittel verfolgen will. Es wäre widersprüchlich, die ohne bestimmten Antrag eingelegte Berufung bereits als umfassendes Rechtsmittel zu bewerten und den Berufungsführer daran festzuhalten (ebenso BVerwG, Urteil vom 20.06.1991 - 3 C 6/89 - NJW 1992, 703 ; BGH, Beschluss vom 12.05.1989 - IVb ZB 25/89 - FamRZ 1989, 1064 ; a. A. BSG, Urteil vom 16.03.1971 - 10 RV 207/69 - juris § 164 abs. 2 satz 1 sgg a. f., wonach im sozialgerichtlichen verfahren bereits die revisionsschrift einen bestimmten antrag enthalten musste>). Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem Fall, in dem ein bereits gem. § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO gestellter Berufungsantrag nachträglich beschränkt und damit die Berufung teilweise zurückgenommen wird (vgl. Happ, in: Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Aufl. 2010, § 126, Rn. 1b; Redeker, in: Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl. 2010, § 126, Rn. 3 mit Verweis auf Bader, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2010, § 124a, Rn. 37).
28 
2. Die Berufung ist nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthaft und auch im Übrigen zulässig. Der Beklagte hat die Berufung entsprechend den Vorgaben des § 124a Abs. 2 VwGO eingelegt und in Übereinstimmung mit § 124a Abs. 3 VwGO begründet.
29 
3. Die Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beschränkung des Randsortiments in der Nebenbestimmung Nr. 27 zur Änderungsbaugenehmigung des Landratsamts Tübingen vom 29.04.2008 in Bezug auf Schreibwaren und den dazu ergangenen Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 21.10.2008 zu Recht aufgehoben.
30 
a) Das Verwaltungsgericht hat zutreffend unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 22.11.2000 - 11 C 2.00 -, BVerwGE 112, 221 m.w.N.) angenommen, dass die Klage als Anfechtungsklage statthaft und auch sonst zulässig ist. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts im Gliederungsabschnitt I. des Urteils vom 21.10.2010 und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (vgl. § 130b Satz 2 VwGO).
31 
b) Die Klage ist in dem im Berufungsverfahren noch zur Prüfung stehenden Umfang begründet. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung ist die Beschränkung des Randsortiments in der Nebenbestimmung Nr. 27 zur Änderungsbaugenehmigung vom 29.04.2008 in Bezug auf Schreibwaren rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, so dass die Änderungsbaugenehmigung und der Widerspruchsbescheid insoweit zu Recht aufgehoben wurden (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
32 
Rechtsgrundlage der Beschränkung des Randsortiments in der Nebenbestimmung Nr. 27 der Änderungsbaugenehmigung in Bezug auf Schreibwaren ist § 36 Abs. 1 LVwVfG. Entgegen der Vorgabe des § 36 Abs. 1 LVwVfG wird durch die Nebenbestimmung Nr. 27 in Bezug auf Schreibwaren aber nicht sichergestellt, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Änderungsbaugenehmigung erfüllt werden. Die Änderungsbaugenehmigung ist gem. § 58 Abs. 1 Satz 1 LBO zu erteilen, wenn dem genehmigungspflichtigen Vorhaben keine von der Baurechtsbehörde zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen. Der Erteilung der beantragten Änderungsbaugenehmigung ohne die genannte Nebenbestimmung steht insbesondere nicht die Vorschrift des § 34 Abs. 3 BauGB entgegen. Von dem Bauvorhaben sind keine schädlichen Auswirkungen auf zentrale Versorgungsbereiche in der Gemeinde oder in anderen Gemeinden zu erwarten.
33 
Zur Überzeugung des Senats fehlt es bereits an einem zentralen Versorgungsbereich in den insoweit allein in Betracht kommenden Gemeinden Gomaringen, Dußlingen und Nehren.
34 
aa) Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 14.12.2011 (- 8 S 1438/09 - juris) ausgeführt hat, sind zentrale Versorgungsbereiche im Sinne des § 34 Abs. 3 BauGB räumlich abgrenzbare Bereiche einer Gemeinde, denen aufgrund vorhandener Einzelhandelsnutzungen - häufig ergänzt durch diverse Dienstleistungen und gastronomische Angebote - eine Versorgungsfunktion über den unmittelbaren Nahbereich hinaus zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.10.2007 - 4 C 7.07 - BVerwGE 129, 307 = NVwZ 2008, 308). Entscheidend ist, dass der Versorgungsbereich nach Lage, Art und Zweckbestimmung eine für die Versorgung der Bevölkerung in einem bestimmten Einzugsbereich zentrale Funktion hat, wobei zentral nicht geografisch im Sinne einer Innenstadtlage oder Ortsmitte, sondern funktional zu verstehen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.2009 - 4 C 2.08 - BVerwGE 136, 10 = NVwZ 2010, 590; vgl. auch Beschluss vom 20.11.2006 - 4 B 50.06 - BRS 70 Nr. 114). Weiter setzt ein zentraler Versorgungsbereich im Sinne des § 34 Abs. 3 BauGB eine integrierte Lage voraus, so dass isolierte Standorte mit einzelnen Einzelhandelsbetrieben auch dann keinen zentralen Versorgungsbereich bilden, wenn sie über einen weiten Einzugsbereich verfügen und eine beachtliche Versorgungsfunktion erfüllen mögen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.2009, a.a.O.).
35 
Ein zentraler Versorgungsbereich setzt keinen übergemeindlichen Einzugsbereich voraus. Auch ein Bereich, der auf die Grund- und Nahversorgung eines bestimmten örtlich begrenzten Einzugsbereichs zugeschnitten ist, kann eine zentrale Versorgungsfunktion über den unmittelbaren Nahbereich hinaus wahrnehmen. Der Zweck des Versorgungsbereichs besteht in diesem Fall in der Sicherstellung einer wohnortnahen Grundversorgung der im Einzugsbereich lebenden Bevölkerung. Ein zentraler Versorgungsbereich muss jedoch einen gewissen, über seine eigenen Grenzen hinaus reichenden räumlichen Einzugsbereich mit städtebaulichem Gewicht haben und damit über den unmittelbaren Nahbereich hinaus wirken. Ob dies der Fall ist, hängt wiederum von Struktur und Größe der Gemeinde ab (vgl. - zum gesamten Absatz - BVerwG, Urteil vom 17.12.2009, a.a.O.).
36 
Die für einen zentralen Versorgungsbereich in ländlichen Gemeinden (Grund- und Nahversorgungszentrum) zumindest erforderliche Sicherstellung einer wohnortnahen Grundversorgung setzt ein Warenangebot voraus, das den kurzfristigen Bedarf und Teile des mittelfristigen Bedarfs abdeckt (so bereits OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.12.2006 - 7 A 964/05 - NVwZ 2007, 727, und - im Anschluss daran - OVG Niedersachsen, Beschluss vom 12.11.2007 - 1 ME 276/07 - BauR 2008, 1418). Dabei muss das Warenangebot zur Deckung des kurzfristigen Bedarfs aber nur die wesentlichen Bedürfnisse des täglichen Bedarfs befriedigen, insbesondere die Grundversorgung mit Lebensmitteln und Drogerieartikeln. Ein Angebot von Waren aller Art ist insoweit nicht erforderlich (a. A. wohl OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.12.2006, a.a.O.).
37 
Diese Auslegung folgt aus dem Wortlaut des § 34 Abs. 3 BauGB („Versorgungsbereiche“) und dem mit dieser Vorschrift verfolgten Ziel, gewachsene städtebauliche Strukturen zu erhalten und integrierte Lagen auch im Interesse der verbrauchernahen Versorgung zu entwickeln (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 14.12.2011, a.a.O.). Von einer verbrauchernahen Versorgung kann in ländlichen Gemeinden nur gesprochen werden, wenn die wesentlichen Bedürfnisse des täglichen Bedarfs durch das vor Ort vorhandene Warenangebot abgedeckt werden. Dies sind insbesondere Lebensmittel und Drogerieartikel. Ein Angebot von Waren aller Art ist zur Grundversorgung nicht nötig und in solchen ländlichen und zumeist kleineren Gemeinden regelmäßig auch nicht möglich. Zu den zu erhaltenden städtebaulichen Strukturen gehören in den genannten Gemeinden auch die dort üblicherweise vorhandenen Einzelhandelsgeschäfte mit einem eingeschränkten Angebot zur Deckung des mittelfristigen Bedarfs. Ist mangels hinreichend breiten Warenangebots keine verbrauchernahe Versorgung gewährleistet, ist der Anwendungsbereich des § 34 Abs. 3 BauGB nicht eröffnet. Sinn und Zweck des § 34 Abs. 3 BauGB ist nicht, einzelne Betriebe vor der Ansiedlung von Konkurrenz zu schützen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.12.2006, a.a.O.).
38 
bb) Gemessen daran ist weder in Gomaringen (ca. 10.000 Einwohner) noch in Dußlingen (ca. 5.500 Einwohner) noch in Nehren (ca. 4.000 Einwohner) ein zentraler Versorgungsbereich vorhanden.
39 
(1) In Gomaringen fehlt es an einem ausreichenden Warenangebot in integrierter Lage.
40 
Eine integrierte Lage weisen nur die Einzelhandelsgeschäfte auf, die sich im Bereich der Lindenstraße und Bahnhofstraße, gegebenenfalls auch der Tübinger Straße und Hinterweilerstraße befinden. Die Einzelhandelsgeschäfte in den Gewerbegebieten am nordöstlichen und südwestlichen Ortsrand befinden sich dagegen an isolierten Standorten. Dies entspricht auch der vom Vertreter des Beklagten in der Berufungsverhandlung vertretenen Ansicht, der Einschätzung der ... GmbH in ihrer Untersuchung vom April 2008 sowie der Beurteilung des Verwaltungsgerichts.
41 
Von den in der genannten integrierten Lage ansässigen Einzelhandelsgeschäften werden Lebensmittel nur vom Geschäft ... ... angeboten, dessen Warenangebot für eine Grundversorgung mit Lebensmitteln jedoch nicht ausreichend ist. Der Senat lässt die Beantwortung der Frage dahinstehen, ob sich dies bereits daraus ergibt, dass das Angebot des Geschäfts wohl beschränkt ist, insbesondere ein ausreichendes Angebot an Getränken wie z. B. Mineralwasser fehlen dürfte. Jedenfalls ist eine Grundversorgung deshalb nicht gewährleistet, weil das Geschäft nur sehr eingeschränkte Öffnungszeiten hat. Ausweislich des den Beteiligten bekannten Internetauftritts des Geschäfts ist dieses nur donnerstags bis samstags geöffnet. Die Deckung eines kurzfristig entstandenen Lebensmittelbedarfs ist damit montags bis mittwochs ausgeschlossen. Die Öffnungszeiten schränken auch die Versorgung mit leicht verderblichen Lebensmitteln ein. Von einer ausreichenden Deckung des „täglichen“ Bedarfs kann deshalb nicht mehr gesprochen werden.
42 
In integrierter Lage ist ferner keine Grundversorgung mit Drogerieartikeln sichergestellt. Der Drogeriemarkt in der Bahnhofstraße ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung nicht mehr in Betrieb. Das Angebot der in integrierter Lage ansässigen Apotheken reicht nach allgemeiner Lebenserfahrung für eine Grundversorgung mit Drogerieartikeln nicht aus.
43 
(2) Die in Dußlingen vorhandenen Einzelhandelsnutzungen befinden sich nicht in integrierter Lage.
44 
Für eine integrierte Lage der beiden Geschäfte in der Bundachstraße und der Hallstattstraße ist nichts ersichtlich. Auch die entlang der Uffhofenstraße und der Wilhelm-Herter-Straße vorhandenen Einzelhandelsgeschäfte bilden keinen räumlich abgrenzbaren Bereich, sondern eine bloße Agglomeration. Die Geschäfte befinden sich nicht mehr in fußläufiger Entfernung voneinander und werden durch den Fluss Steinlach und die B 27 zusätzlich voneinander getrennt. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts sind - anders als bei den Feststellungen zu Gomaringen - keine Parkplätze, Plätze, Hotels oder der ärztlichen oder sozialen Versorgung dienende Einrichtungen vorhanden, die als Annexe eines zentralen Versorgungsbereichs zu sehen wären. Gegen das Vorhandensein eines räumlich abgrenzbaren Bereichs mit Einzelhandelsnutzungen spricht auch, dass die Gemeinde Dußlingen eine neu zu schaffende Ortsmitte im Bereich der B 27-Kreuzung plant und somit selbst davon ausgeht, dass bislang keine geografische Ortsmitte und damit wohl auch keine integrierte Lage existiert. Auch der Vertreter des Beklagten hielt es in der Berufungsverhandlung für schwierig, in Dußlingen eine integrierte Lage zu definieren.
45 
Selbst wenn sich die insoweit allein in Betracht kommenden Einzelhandelsnutzungen entlang der Uffhofenstraße und der Wilhelm-Herter-Straße in integrierter Lage befänden, läge kein zentraler Versorgungsbereich vor. Insoweit ist die Grundversorgung mit Lebensmitteln nicht sichergestellt. Das einzige Lebensmittel anbietende Geschäft - das Geschäft ... in der Uffhofenstraße - hat nur ein eingeschränktes Angebot und eingeschränkte Öffnungszeiten. Ausweislich seiner zum Gegenstand der Berufungsverhandlung gemachten Werbung ist das Geschäft dienstags (9:00 bis 12:30 Uhr), donnerstags (9:00 bis 12:30 Uhr, 15:00 bis 18:30 Uhr) und freitags (9:00 bis 12:30 Uhr) geöffnet und werden Biolandgemüse aus eigenem Anbau, Naturkostwaren sowie Fruchtsäfte angeboten. Das Geschäft ... wird im Gutachten der ... GmbH auch nicht als ein in Dußlingen vorhandenes Lebensmittelgeschäft erwähnt.
46 
Rechtlich irrelevant in diesem Zusammenhang ist, dass die Gemeinde Dußlingen Haushaltsbefragungen mit der Zielsetzung in Auftrag gegeben hat, in der neu zu schaffenden Ortsmitte im Bereich der bisherigen B 27-Kreuzung einen tragfähigen Sortimentsmix zu bedienen. Denn etwaige Planungen zu einem zentralen Versorgungsbereich sind jedenfalls noch nicht verwirklicht (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 14.12.2011, a.a.O.).
47 
(3) Schließlich fehlt es auch in Nehren an einem ausreichenden Warenangebot in integrierter Lage.
48 
Sollten sich die Einzelhandelsnutzungen im Bereich der Kreuzung Luppachstraße/Wertstraße und Hauptstraße in integrierter Lage befinden, fehlt es an einem die Grundversorgung mit Lebensmitteln sicherstellenden Warenangebot. Die früher vorhandenen Lebensmittelgeschäfte in der Luppachstraße und Gartenstraße sind im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung abgemeldet. Die vorhandenen Bäckereien und die vorhandene Metzgerei gewährleisten die erforderliche Grundversorgung mit Lebensmitteln nicht. Es fehlt ferner eine Grundversorgung mit Drogerieartikeln. Der Drogeriemarkt in der Luppachstraße ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung nicht mehr in Betrieb. Das Angebot der Apotheke in der Bahnhofstraße reicht für eine Grundversorgung mit Drogerieartikeln nicht aus.
49 
Bei den entlang der Reutlinger Straße/L 384 angesiedelten und durch diese Straße voneinander getrennten Einzelhandelsbetrieben handelt es sich nicht um Einzelhandelsbetriebe in integrierter Lage, sondern um isolierte Standorte. Selbst wenn insoweit eine integrierte Lage vorläge, fehlt es jedenfalls an einem Angebot, das eine Grundversorgung mit Drogerieartikeln sicherstellt.
50 
Da es somit bereits an zentralen Versorgungsbereichen in Gomaringen, Dußlingen und Nehren fehlt, kommt es nicht darauf an, ob von dem Bauvorhaben der Klägerin schädliche Auswirkungen im Sinne des § 34 Abs. 3 BauGB ausgehen. Damit kann auch dahinstehen, wie es sich rechtlich auswirkt, dass die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ihren Bauantrag hinsichtlich des Sortiments Schreibwaren auf eine Verkaufsfläche von 25 m2 beschränkt hat, die Änderungsbaugenehmigung vom 29.04.2008 jedoch keine solche Beschränkung der Verkaufsfläche enthält.
51 
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO erfüllt ist.
52 
Beschluss vom 12. April 2012
53 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gem. § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1 GKG auf 3.750 EUR festgesetzt (entsprechend der Streitwertfestsetzung in erster Instanz unter Berücksichtigung der Beschränkung der Berufung und Begrenzung des Interesses der Klägerin auf ein Schreibwarenangebot mit 25 m2 Verkaufsfläche sowie in Anlehnung an Nr. 9.1.4 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).
54 
Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Die Revision kann bis zur Rechtskraft des Urteils zurückgenommen werden. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Revisionsbeklagten und, wenn der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus.

(2) Die Zurücknahme bewirkt den Verlust des eingelegten Rechtsmittels. Das Gericht entscheidet durch Beschluß über die Kostenfolge.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 14. Oktober 2010 - 2 K 3366/08 - wird zugelassen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Gründe

 
Die Berufung des Beklagten ist gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Auf Grund der hinreichend substantiierten Darlegung des Beklagten (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) ist im Rechtssinne ernstlich zweifelhaft, ob der Kostenbescheid des Landratsamtes Bodenseekreis vom 30.10.2007 in Gestalt des teilweisen Abhilfebescheids vom 16.5.2008 und in Gestalt der Widerspruchsbescheide des Regierungspräsidiums Tübingen vom 14.11.2008 und vom 8.2.2010 als rechtswidrig qualifiziert werden können.
Aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) dürfen die Anforderungen an die Begründung eines Zulassungsantrags nicht überspannt werden. Das gilt nicht nur hinsichtlich der Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe, sondern auch bezüglich der Auslegung und Anwendung der Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO (BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 21.12.2009 - 1 BvR 812/09 - NJW 2010, 1062, 1063 Tz. 14). Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind nicht erst gegeben, wenn im Zulassungsverfahren auf Grund summarischer Überprüfung der Erfolgsaussicht des Rechtsmittels der Erfolg wahrscheinlicher erscheint als der Misserfolg; denn das Zulassungsverfahren hat nicht die Funktion, das Berufungsverfahren vorwegzunehmen (BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 21.1.2009 - 1 BvR 2524/06 - NVwZ 2009, 515, 516). Bei einer überzogenen, (zu) strengen Wahrscheinlichkeitsprognose zum Erfolg des Rechtsmittels würde das Zulassungsverfahren funktionswidrig in die Nähe des Berufungsverfahrens gerückt, so dass das Rechtsmittel „leerlaufen“ könnte (Gaier, NVwZ 2011, 385, 388). Hinreichende Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind daher schon dann gegeben, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des angegriffenen Urteils mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschl. des Ersten Senats v. 3.3.2004 - 2 BvR 461/03 - E 110, 77, 83; 1. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 26.3.2007 - 1 BvR 2228/02 - BayVBl 2007, 624, 625 Tz. 25; 1. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - NJW 2009, 3642).
Das Verwaltungsgericht hat die von ihm in dem angegriffenen Urteil angenommene Rechtswidrigkeit des Kostenbescheids mit einem Ermessensfehler des Beklagten bei der Auswahl des Kostenschuldners begründet; der Beklagte habe die Heranziehung des Klägers zur Kostentragung fehlerhaft auf die Erwägung gestützt, dass dem Kläger ein Regressanspruch gegen die Lieferanten des Altholzes zustehe, was indessen der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs widerspreche. Hiergegen macht der Beklagte geltend, aus den im Kostenbescheid dargelegten umfassenden Ermessenserwägungen habe das Verwaltungsgericht nur einen Aspekt gewürdigt, dem überdies keine ausschlaggebende Bedeutung beizumessen sei. Ausgangs- und Widerspruchsbehörde haben in der Tat die Auswahl des Klägers als Kostenschuldner auch z. B. auf Gründe der Verfahrensökonomie und auf die Sachnähe des Klägers zum störenden Abfall bzw. die Sachherrschaft des Klägers über das Grundstück, auf dem sich der störende Abfall befand, gestützt. Diese (und weitere) Ermessenserwägungen zur Auswahl des Kostenschuldners sind vom Verwaltungsgericht in der angegriffenen Entscheidung nicht gewürdigt worden. Damit ist der Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gegeben; denn es ist ernstlich zweifelhaft, ob das angegriffene Urteil Bestand haben kann, wenn ein Teil der dem angefochtenen Verwaltungsakt zu Grunde liegenden Ermessensgesichtspunkte gar nicht überprüft werden und der Verwaltungsakt dennoch als ermessensfehlerhaft und damit als rechtswidrig qualifiziert wird.
Die Ablehnung der Berufungszulassung käme gleichwohl in Betracht, wenn sich das Ergebnis des angegriffenen Urteils aus anderen, vom Verwaltungsgericht nicht erörterten Gründen als richtig darstellte. Diese Annahme ist jedoch im Zulassungsverfahren nur dann tragfähig, wenn diese Gründe ohne weiteres auf der Hand liegen bzw. offensichtlich sind (BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschl. v. 2.3.2006 - 2 BvR 767/02 - NVwZ 2006, 683, 684 Tz. 17). Davon kann hier keine Rede sein. Ob die vom Beklagten angestellten Ermessenserwägungen, die das Verwaltungsgericht nicht gewürdigt hat, rechtlich fehlerfrei oder fehlerhaft sind, bedarf einer eingehenden Prüfung. Die Rechtswidrigkeit der im Kostenbescheid angeführten Ermessenserwägungen in ihrer Gesamtheit liegt weder auf der Hand noch ist sie dergestalt offensichtlich, dass schon im Zulassungsverfahren von der Ergebnisrichtigkeit der angegriffenen Entscheidung ausgegangen werden könnte. Auch insoweit gilt, dass die Entscheidung im Zulassungsverfahren die Berufungsentscheidung nicht vorwegnehmen darf.
Den Anforderungen an die Darlegung des Zulassungsgrundes (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat der Beklagte in seinem Schriftsatz zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung vom 28.2.2011 Rechnung getragen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

(1) Ein Unternehmen ist auf Antrag an den Berechtigten zurückzugeben, wenn es unter Berücksichtigung des technischen Fortschritts und der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung mit dem enteigneten Unternehmen im Zeitpunkt der Enteignung vergleichbar ist; der Anspruch auf Rückgabe von Anteils- oder Mitgliedschaftsrechten richtet sich gegen die in § 2 Abs. 3 bezeichneten Inhaber dieser Rechte, der Anspruch auf Rückgabe des Unternehmens gegen den dort bezeichneten Verfügungsberechtigten. Im Zeitpunkt der Rückgabe festzustellende wesentliche Verschlechterungen oder wesentliche Verbesserungen der Vermögens- oder Ertragslage sind auszugleichen; Schuldner bei wesentlicher Verschlechterung oder Gläubiger bei wesentlicher Verbesserung ist die Treuhandanstalt oder eine andere in § 24 Abs. 1 Satz 1 des D-Markbilanzgesetzes bezeichnete Stelle, wenn sie unmittelbar oder mittelbar an dem Verfügungsberechtigten beteiligt ist. Das Unternehmen ist mit dem enteigneten Unternehmen vergleichbar, wenn das Produkt- oder Leistungsangebot des Unternehmens unter Berücksichtigung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts im Grundsatz unverändert geblieben ist oder frühere Produkte oder Leistungen durch andere ersetzt worden sind. Ist das Unternehmen mit einem oder mehreren anderen Unternehmen zusammengefasst worden, so kommt es für die Vergleichbarkeit nur auf diesen Unternehmensteil an.

(1a) Berechtigter bei der Rückgabe oder Rückführung eines Unternehmens nach den §§ 6 und 12 ist derjenige, dessen Vermögenswerte von Maßnahmen gemäß § 1 betroffen sind. Dieser besteht unter seiner Firma, die vor der Schädigung im Register eingetragen war, als in Auflösung befindlich fort, wenn die im Zeitpunkt der Schädigung vorhandenen Gesellschafter oder Mitglieder oder Rechtsnachfolger dieser Personen, die mehr als 50 vom Hundert der Anteile oder Mitgliedschaftsrechte auf sich vereinen und namentlich bekannt sind, einen Anspruch auf Rückgabe des Unternehmens oder von Anteilen oder Mitgliedschaftsrechten des Rückgabeberechtigten angemeldet haben. Kommt das erforderliche Quorum für das Fortbestehen eines Rückgabeberechtigten unter seiner alten Firma nicht zustande, kann das Unternehmen nicht zurückgefordert werden. Satz 2 gilt nicht für Gesellschaften, die ihr im Beitrittsgebiet belegenes Vermögen verloren haben und hinsichtlich des außerhalb dieses Gebiets belegenen Vermögens als Gesellschaft oder Stiftung werbend tätig sind; in diesem Falle ist Berechtigter nur die Gesellschaft oder Stiftung.

(2) Eine wesentliche Verschlechterung der Vermögenslage liegt vor, wenn sich bei der Aufstellung der Eröffnungsbilanz zum 1. Juli 1990 nach dem D-Markbilanzgesetz oder der für die Rückgabe aufgestellten Schlussbilanz eine Überschuldung oder eine Unterdeckung des für die Rechtsform gesetzlich vorgeschriebenen Mindestkapitals ergibt. In diesem Falle stehen dem Unternehmen die Ansprüche nach den §§ 24, 26 Abs. 3 und § 28 des D-Markbilanzgesetzes zu; diese Ansprüche dürfen nicht abgelehnt werden. Im Falle des § 28 des D-Markbilanzgesetzes ist das Kapitalentwertungskonto vom Verpflichteten zu tilgen. Der Anspruch nach Satz 2 entfällt, soweit nachgewiesen wird, dass die Eigenkapitalverhältnisse im Zeitpunkt der Enteignung nicht günstiger waren. Der Verfügungsberechtigte kann den Anspruch nach Satz 2 auch dadurch erfüllen, dass er das erforderliche Eigenkapital durch Erlass oder Übernahme von Schulden schafft. Die D-Markeröffnungsbilanz ist zu berichtigen, wenn sich die Ansprüche nach den §§ 24, 26 Abs. 3, § 28 des D-Markbilanzgesetzes auf Grund des Vermögensgesetzes der Höhe nach ändern.

(3) Eine wesentliche Verbesserung der Vermögenslage liegt vor, wenn sich bei der Aufstellung der D-Markeröffnungsbilanz nach dem D-Markbilanzgesetz oder der für die Rückgabe aufgestellten Schlussbilanz eine Ausgleichsverbindlichkeit nach § 25 des D-Markbilanzgesetzes ergibt und nachgewiesen wird, dass das Unternehmen im Zeitpunkt der Enteignung im Verhältnis zur Bilanzsumme ein geringeres Eigenkapital hatte; bei der Berechnung der Ausgleichsverbindlichkeit sind dem Berechtigten, seinen Gesellschaftern oder Mitgliedern entzogene Vermögensgegenstände höchstens mit dem Wert anzusetzen, der ihnen ausgehend vom Zeitwert im Zeitpunkt der Schädigung unter Berücksichtigung der Wertabschläge nach dem D-Markbilanzgesetz zukommt. Ein geringeres Eigenkapital braucht nicht nachgewiesen zu werden, soweit die Ausgleichsverbindlichkeit dem Wertansatz von Grund und Boden oder Bauten, die zu keinem Zeitpunkt im Eigentum des Berechtigten, seiner Gesellschafter oder Mitglieder standen, entspricht. Eine nach § 25 Abs. 1 des D-Markbilanzgesetzes entstandene Ausgleichsverbindlichkeit entfällt, soweit eine wesentliche Verbesserung nicht auszugleichen ist. Die Ausgleichsverbindlichkeit ist zu erlassen oder in eine Verbindlichkeit nach § 16 Abs. 3 des D-Markbilanzgesetzes umzuwandeln, soweit das Unternehmen sonst nicht kreditwürdig ist. Die D-Markeröffnungsbilanz ist zu berichtigen, wenn sich die Ausgleichsverbindlichkeit auf Grund dieses Gesetzes der Höhe nach ändert.

(4) Eine wesentliche Veränderung der Ertragslage liegt vor, wenn die für das nach dem am 1. Juli 1990 beginnende Geschäftsjahr zu erwartenden Umsätze in Einheiten der voraussichtlich absetzbaren Produkte oder Leistungen unter Berücksichtigung der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung wesentlich höher oder niedriger als im Zeitpunkt der Enteignung sind. Müssen neue Produkte entwickelt werden, um einen vergleichbaren Umsatz zu erzielen, so besteht in Höhe der notwendigen Entwicklungskosten ein Erstattungsanspruch, es sei denn, das Unternehmen ist nicht sanierungsfähig. Ist der Umsatz wesentlich höher als im Zeitpunkt der Enteignung, insbesondere wegen der Entwicklung neuer Produkte, so entsteht in Höhe der dafür notwendigen Entwicklungskosten, soweit diese im Falle ihrer Aktivierung noch nicht abgeschrieben wären, eine Ausgleichsverbindlichkeit, es sei denn, dass dadurch eine wesentliche Verschlechterung der Vermögenslage nach Absatz 2 eintreten würde.

(5) Die Rückgabe der enteigneten Unternehmen an die Berechtigten erfolgt durch Übertragung der Rechte, die dem Eigentümer nach der jeweiligen Rechtsform zustehen. Ist das zurückzugebende Unternehmen mit einem oder mehreren anderen Unternehmen zu einer neuen Unternehmenseinheit zusammengefasst worden, so sind, wenn das Unternehmen nicht entflochten wird, Anteile in dem Wert auf den Berechtigten zu übertragen, der in entsprechender Anwendung der Absätze 1 bis 4 im Falle einer Entflechtung dem Verhältnis des Buchwertes des zurückzugebenden Unternehmens zum Buchwert des Gesamtunternehmens entspricht. Die Entflechtung kann nicht verlangt werden, wenn diese unter Berücksichtigung der Interessen aller Betroffenen einschließlich der Berechtigten wirtschaftlich nicht vertretbar ist; dies ist insbesondere der Fall, wenn durch die Entflechtung Arbeitsplätze in erheblichem Umfang verlorengehen würden. Verbleiben Anteile bei der Treuhandanstalt, insbesondere zum Ausgleich wesentlicher Werterhöhungen, so können diese von den Anteilseignern erworben werden, denen Anteilsrechte nach diesem Gesetz übertragen worden sind.

(5a) Zur Erfüllung des Anspruchs auf Rückgabe kann die Behörde anordnen, dass

a)
Anteile oder Mitgliedschaftsrechte an dem Verfügungsberechtigten auf den Berechtigten übertragen werden oder
b)
das gesamte Vermögen einschließlich der Verbindlichkeiten oder eine Betriebsstätte des Verfügungsberechtigten auf den Berechtigten einzeln oder im Wege der Gesamtrechtsnachfolge übertragen werden oder
c)
Anteile oder Mitgliedschaftsrechte an dem Verfügungsberechtigten auf die Gesellschafter oder Mitglieder des Berechtigten oder deren Rechtsnachfolger im Verhältnis ihrer Anteile oder Mitgliedschaftsrechte übertragen werden.
Wird der Anspruch auf Rückgabe nach Satz 1 Buchstabe c erfüllt, so haftet jeder Gesellschafter oder jedes Mitglied des Berechtigten oder deren Rechtsnachfolger für vor der Rückgabe entstandene Verbindlichkeiten des Berechtigten bis zur Höhe des Wertes seines Anteils oder Mitgliedschaftsrechts; im Verhältnis zueinander sind die Gesellschafter oder Mitglieder zur Ausgleichung nach dem Verhältnis des Umfangs ihrer Anteile oder Mitgliedschaftsrechte verpflichtet.

(5b) Zur Erfüllung des Anspruchs eines Gesellschafters oder Mitglieds eines Berechtigten oder ihrer Rechtsnachfolger auf Rückgabe entzogener Anteile oder auf Wiederherstellung einer Mitgliedschaft können diese verlangen, dass die Anteile an sie übertragen werden und ihre Mitgliedschaft wiederhergestellt wird; das Handels- oder Genossenschaftsregister ist durch Löschung eines Löschungsvermerks oder Wiederherstellung der Eintragung zu berichtigen. Mit der Rückgabe des Unternehmens in einer der vorbezeichneten Formen sind auch die Ansprüche der Gesellschafter oder Mitglieder des Berechtigten und ihrer Rechtsnachfolger wegen mittelbarer Schädigung erfüllt.

(5c) Hat ein Berechtigter staatlichen Stellen eine Beteiligung, insbesondere wegen Kreditverweigerung oder der Erhebung von Steuern oder Abgaben mit enteignendem Charakter, eingeräumt, so steht diese den Gesellschaftern des Berechtigten oder deren Rechtsnachfolgern zu, es sei denn, dass die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 nicht vorliegen. Die Gesellschafter oder deren Rechtsnachfolger können verlangen, dass die staatliche Beteiligung gelöscht oder auf sie übertragen wird. Die beim Erwerb der Beteiligung erbrachte Einlage oder Vergütung ist im Verhältnis zwei Mark der Deutschen Demokratischen Republik zu einer Deutschen Mark umzurechnen und von den Gesellschaftern oder deren Rechtsnachfolgern an den Verfügungsberechtigten (§ 2 Abs. 3) zurückzuzahlen, soweit dieser Betrag den Wert der Beteiligung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 des D-Markbilanzgesetzes nicht übersteigt; bei Unternehmen, deren Anteile sich ausschließlich bei der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben befinden oder befunden haben, ist die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben stets Verfügungsberechtigter. Nach früherem Recht gebildete Fonds, die weder auf Einzahlungen zurückzuführen noch Rückstellungen im Sinne des § 249 Abs. 1 des Handelsgesetzbuchs sind, werden, soweit noch vorhanden, dem Eigenkapital des zurückzugebenden Unternehmens zugerechnet. Ist eine Beteiligung im Sinne des Satzes 1 zurückgekauft worden, so kann der Berechtigte vom Kaufvertrag zurücktreten und die Löschung oder Rückübertragung nach den Sätzen 1 bis 4 verlangen.

(6) Der Antrag auf Rückgabe eines Unternehmens kann von jedem Gesellschafter, Mitglied oder einem Rechtsnachfolger und dem Rückgabeberechtigten gestellt werden. Der Antrag des Berechtigten gilt als zugunsten aller Berechtigten, denen der gleiche Anspruch zusteht, erhoben. Statt der Rückgabe kann die Entschädigung gewählt werden, wenn kein Berechtigter einen Antrag auf Rückgabe stellt. Sind Anteile oder Mitgliedschaftsrechte schon vor dem Zeitpunkt der Schädigung des Berechtigten entzogen worden, so gilt der Antrag des ehemaligen Inhabers der Anteile oder der Mitgliedschaftsrechte oder seines Rechtsnachfolgers auf Rückgabe seiner Anteile oder Mitgliedschaftsrechte gleichzeitig als Antrag auf Rückgabe des Unternehmens und gilt sein Antrag auf Rückgabe des Unternehmens gleichzeitig als Antrag auf Rückgabe der Anteile oder Mitgliedschaftsrechte.

(6a) Ist die Rückgabe nach § 4 Abs. 1 Satz 2 ganz oder teilweise ausgeschlossen, so kann der Berechtigte die Rückgabe derjenigen Vermögensgegenstände verlangen, die sich im Zeitpunkt der Schädigung in seinem Eigentum befanden oder an deren Stelle getreten sind, soweit die Vermögensgegenstände im Zeitpunkt der Stilllegung des enteigneten Unternehmens zu dessen Vermögen gehörten und das Unternehmen zu diesem Zeitpunkt im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 vergleichbar war; eine damals einem Gesellschafter oder Mitglied des geschädigten Unternehmens wegen der Schädigung tatsächlich zugeflossene Geldleistung ist im Verhältnis zwei Mark der Deutschen Demokratischen Republik zu einer Deutschen Mark umzurechnen und von diesem oder seinem Rechtsnachfolger an den Verfügungsberechtigten zurückzuzahlen, soweit dieser Betrag den Wert der Beteiligung des Gesellschafters oder des Mitglieds nach § 11 Abs. 1 Satz 1 oder 4 des D-Markbilanzgesetzes abzüglich von nach Satz 2 zu übernehmenden Schulden nicht übersteigt. Die Rückgabe erfolgt gegen Zahlung eines Betrages in Höhe der dem Vermögensgegenstand direkt zurechenbaren Verbindlichkeiten des Verfügungsberechtigten, zu dessen Vermögen der Vermögensgegenstand ab 1. Juli 1990 gehört oder gehört hat, sowie eines Teiles der übrigen Verbindlichkeiten dieses Verfügungsberechtigten; dieser Teil bestimmt sich im Wege der quotalen Zurechnung nach dem Anteil des Wertes des herauszugebenden Vermögensgegenstandes am Gesamtwert des Vermögens dieses Verfügungsberechtigten; ist oder war der Vermögensgegenstand einem Betriebsteil dieses Verfügungsberechtigten zuzuordnen, sind für die quotale Zurechnung die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Stillegung dieses Betriebsteils maßgeblich; die Zahlungsverpflichtung gilt auch in den Fällen, in denen das enteignete Unternehmen vor dem 1. Juli 1990 stillgelegt worden ist; Verbindlichkeiten, die am 29. März 1991 unmittelbar oder mittelbar dem Bund, Ländern oder Gemeinden oder einer anderen juristischen Person des öffentlichen Rechts zustanden, bleiben außer Betracht. Ist dem Verfügungsberechtigten die Rückgabe nicht möglich, weil er das Unternehmen oder nach Satz 1 zurückzugebende Vermögensgegenstände ganz oder teilweise veräußert hat oder das Unternehmen nach Absatz 1a Satz 3 nicht zurückgefordert werden kann, so können die Berechtigten vom Verfügungsberechtigten die Zahlung eines Geldbetrages in Höhe des ihrem Anteil entsprechenden Erlöses aus der Veräußerung verlangen, sofern sie sich nicht für die Entschädigung nach Absatz 7 entscheiden. Ist ein Erlös nicht erzielt worden oder unterschreitet dieser den Verkehrswert, den das Unternehmen oder nach Satz 1 zurückzugebende Vermögensgegenstände im Zeitpunkt der Veräußerung hatten, so können die Berechtigten innerhalb eines Jahres (Ausschlussfrist) den Anspruch auf Zahlung des Verkehrswertes gerichtlich geltend machen; übernimmt die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben die Verpflichtung nach Satz 3 und dem vorstehenden Halbsatz, bedarf die Schuldübernahme nicht der Genehmigung des Berechtigten nach § 415 des Bürgerlichen Gesetzbuchs; die Ausschlussfrist beginnt frühestens mit dem 1. November 2003, nicht jedoch vor der Bestandskraft der Entscheidung über die Rückgabe und dem Tag des Zugangs einer schriftlichen, mit einem Hinweis auf die Ausschlussfrist und den erzielten Erlös verbundenen Aufforderung des Verfügungsberechtigten an den Berechtigten, den Anspruch geltend zu machen. Für Streitigkeiten nach Satz 4 ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Ist das Insolvenzverfahren über das Vermögen eines Unternehmens entgegen § 3 Abs. 3 Satz 6 und 7 nicht abgewendet worden, so können die Berechtigten Zahlung des Verkehrswerts der einzelnen Vermögensgegenstände abzüglich der nach Satz 2 zu berücksichtigenden Schulden in Höhe des ihrem Anteil entsprechenden Betrags verlangen.

(7) Ist die Rückgabe nach Absatz 1 Satz 1 nicht möglich oder entscheidet sich der Berechtigte innerhalb der in § 8 Abs. 1 bestimmten Frist für eine Entschädigung, so besteht ein Anspruch auf Entschädigung nach Maßgabe des Entschädigungsgesetzes. Ein damals erhaltener Kaufpreis oder Ablösungsbetrag ist im Verhältnis zwei Mark der Deutschen Demokratischen Republik zu einer Deutschen Mark umzurechnen und vom Betrag der Entschädigung abzusetzen. Leistungen nach Absatz 6a werden auf einen verbleibenden Entschädigungsanspruch voll angerechnet.

(8) Ist in den Fällen des § 1 Abs. 1 Buchstabe d die Rückgabe im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bereits erfolgt, so kann der Berechtigte verlangen, dass die Rückgabe nach den Vorschriften dieses Gesetzes überprüft und an dessen Bedingungen angepasst wird.

(9) Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates das Verfahren und die Zuständigkeit der Behörden oder Stellen für die Durchführung der Rückgabe und Entschädigung von Unternehmen und Beteiligungen zu regeln sowie Vorschriften über die Berechnung der Veränderungen der Vermögens- und Ertragslage der Unternehmen und deren Bewertung zu erlassen.

(10) Das Gericht am Sitz des Rückgabeberechtigten hat unter den Voraussetzungen des Absatzes 1a Satz 2 auf Antrag Abwickler zu bestellen. Vor der Eintragung der Auflösung des Rückgabeberechtigten und seiner Abwickler ist ein im Register zu dem Berechtigten eingetragener Löschungsvermerk von Amts wegen zu löschen. Sind Registereintragungen zu dem Berechtigten nicht mehr vorhanden, so haben die Abwickler ihn, wenn er nach Absatz 1a Satz 2 fortbesteht, als in Auflösung befindlich zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden. Im Übrigen ist für die Abwicklung das jeweils für den Berechtigten geltende Recht anzuwenden. Die Fortsetzung des Berechtigten kann beschlossen werden, solange noch nicht mit der Verteilung des zurückzugebenden Vermögens an die Gesellschafter oder Mitglieder begonnen ist. Einer Eintragung oder Löschung im Register bedarf es nicht, wenn die zur Stellung des Antrags berechtigten Personen beschließen, dass der Berechtigte nicht fortgesetzt und dass in Erfüllung des Rückgabeanspruchs unmittelbar an die Gesellschafter des Berechtigten oder deren Rechtsnachfolger geleistet wird.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 16. April 2003 - 11 K 671/02 -, soweit darin die Klage des Beschwerdeführers auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Auflage Nr. 4 in dem Auflagenbescheid des Polizeipräsidiums Bielefeld vom 1. März 2002 - VL 12.5-231-W-02/01 - abgewiesen wird, und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. Oktober 2004 - 5 A 2764/03 -, soweit darin der Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung zurückgewiesen wird, verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 8 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Die Entscheidungen werden in dem vorgenannten Umfang aufgehoben. Die Sache wird zur Entscheidung an das Verwaltungsgericht Minden zurückverwiesen.

...

Gründe

1

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer als Veranstalter einer Versammlung gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die eine versammlungsrechtliche Auflage gemäß § 15 Abs. 1 VersG zum Gegenstand haben, aufgrund derer die Teilnehmer der Versammlung vor Beginn der Veranstaltung polizeilich durchsucht werden.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer meldete aus Anlass der vom 27. Januar bis zum 17. März 2002 in Bielefeld gezeigten Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 - 1944" (im Folgenden: Wehrmachtsausstellung) für den 2. März 2002 in Bielefeld eine Versammlung unter freiem Himmel mit dem Motto "Die Soldaten der Wehrmacht waren Helden, keine Verbrecher" an. Mit sofort vollziehbarer Verbotsverfügung vom 18. Februar 2002 verbot das Polizeipräsidium Bielefeld die Versammlung. Die hiergegen vom Beschwerdeführer angestrengten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor den Verwaltungsgerichten blieben erfolglos (vgl. VG Minden, Beschluss vom 27. Februar 2002 - 11 L 185/02 -, juris; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 1. März 2002 - 5 B 388/02 -, juris).

3

2. Mit Beschluss vom 1. März 2002 stellte die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts im Wege der einstweiligen Anordnung die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Beschwerdeführers gegen die Verbotsverfügung wieder her (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. März 2002 - 1 BvQ 5/02 -, NVwZ 2002, S. 982).

4

3. Mit Bescheid vom 1. März 2002 ordnete das Polizeipräsidium Bielefeld daraufhin für die Durchführung der Versammlung eine Reihe von Auflagen an, darunter auch die Auflage Nr. 4:

5

"Die Teilnehmer der Versammlung werden vor Beginn der Veranstaltung polizeilich durchsucht".

6

4. Im Laufe des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht legte der Beschwerdeführer eidesstattliche Versicherungen von zwei Teilnehmern der einen Monat zuvor am 2. Februar 2002 durchgeführten, ebenfalls gegen die Wehrmachtsausstellung gerichteten Versammlung der NPD vor (im Folgenden: Anti-Wehrmachtsausstellungs-Versammlung am 2. Februar 2002). Darin schilderten die zwei Teilnehmer, dass ihnen auf der Versammlung die Aufgabe zugefallen sei, den Lautsprecherwagen gegen eventuelle Übergriffe gewaltsamer Gegendemonstranten zu sichern, insbesondere zu verhindern, dass eventuell Steinwürfe oder sonstige Wurfgeschosse die Fenster beschädigten. Des Weiteren legte der Beschwerdeführer die eidesstattliche Versicherung eines Teilnehmers einer Versammlung am 1. September 2001 in Leipzig vor. Darin schilderte dieser, dass die Versammlung von linken Demonstranten mit Steinen, Flaschen und anderen Gegenständen beworfen worden sei. Nur den Ordnern der Versammlung sei es zu verdanken gewesen, dass die Teilnehmer der Versammlung von einer berechtigten Notwehrreaktion hätten zurückgehalten werden können. Einmal sei eine Polizeikette gegen die Teilnehmer vorgegangen, als sie sich hätten verteidigen wollen.

7

5. Mit angegriffenem Urteil vom 16. April 2003 wies das Verwaltungsgericht - unter anderem - die Klage des Beschwerdeführers auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Auflage Nr. 4 im Auflagenbescheid vom 1. März 2002 ab. Für seine Gefahrenprognose gemäß § 15 Abs. 1 VersG stützte sich das Verwaltungsgericht auf den Umstand, dass die zwei Teilnehmer der Anti-Wehrmachtsausstellungs-Versammlung am 2. Februar 2002 Steinwürfe oder sonstige Wurfgeschosse befürchtet hätten. Außerdem bezog das Verwaltungsgericht den Umstand mit ein, dass es laut der eidesstattlichen Versicherung des Teilnehmers der Versammlung am 1. September 2001 in Leipzig tatsächlich zu Gewalttätigkeiten durch Gegendemonstranten gekommen sei. Ebenso wie die beiden Teilnehmer der Anti-Wehrmachtsausstellungs-Versammlung am 2. Februar 2002 die Bereitschaft zu gewalttätigem (Angriffs- oder Abwehr-)Verhalten aus den Reihen der Gegenversammlung für möglich gehalten hätten, habe das Polizeipräsidium Bielefeld Vergleichbares bei der geplanten Versammlung vier Wochen später befürchten müssen, und zwar bei den Teilnehmern der vom Beschwerdeführer angemeldeten Versammlung genauso wie bei den Gegendemonstranten, zumal zu beiden Versammlungen am 2. März 2002 jeweils zahlreiche, in der Menge schwer zu kontrollierende Teilnehmer erwartet worden seien (der Beschwerdeführer sei bei der Anmeldung seiner Versammlung von 1.000 bis 2.000 Teilnehmern ausgegangen). Unter diesen Umständen hätten objektive Anhaltspunkte für das Auffinden sicherstellbarer Gegenstände bestanden, welche das Polizeipräsidium Bielefeld dazu berechtigt hätten, pauschal im Wege einer Auflage die polizeiliche Durchsuchung aller Versammlungsteilnehmer vor dem Veranstaltungsbeginn anzuordnen. Eines konkreten Verdachts gegen bestimmte Versammlungsteilnehmer, insbesondere gegen den Beschwerdeführer, habe es insoweit nicht bedurft.

8

6. Mit angegriffenem Beschluss vom 25. Oktober 2004 wies das Oberverwaltungsgericht - unter anderem - den auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützten Antrag auf Zulassung der Berufung bezüglich der Auflage Nr. 4 zurück. Zur Begründung verwies das Oberverwaltungsgericht entsprechend § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die Ausführungen in dem angegriffenen Urteil. Im Übrigen sei die Auflage Nr. 4 verhältnismäßig, weil sie dazu beitrage, die nach dem Versammlungsgesetz gebotene Gewaltlosigkeit der Versammlung und damit letztlich die Versammlung selbst zu sichern.

9

7. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seines Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.

10

8. Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Polizeipräsidium Bielefeld als Beklagter des Ausgangsverfahrens und der für das Versammlungsrecht zuständige Sechste Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts Stellung genommen. Das Polizeipräsidium hält die Auflage für durch eine hinreichende Gefahrenprognose gerechtfertigt. Demgegenüber hat das Bundesverwaltungsgericht Zweifel, ob die angegriffenen Entscheidungen in jeder Hinsicht mit der Versammlungsfreiheit übereinstimmen. Der Landtag Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

II.

11

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist.

12

1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen zur Reichweite der Gewährleistung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG bereits entschieden und dabei auch die zu berücksichtigenden Grundsätze entwickelt. Dies gilt insbesondere für die Bedeutung der Versammlungsfreiheit bei der Gefahrenprognose im Rahmen von Entscheidungen der Behörden und Gerichte anhand von § 15 Abs. 1 VersG (vgl. BVerfGE 69, 315 <349, 352 ff.>; speziell zu versammlungsrechtlichen Auflagen: Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2007 - 1 BvR 2793/04 -, NVwZ 2008, S. 671 <672>; vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 <835>), namentlich in der Konstellation von Störungen der öffentlichen Sicherheit durch Gegendemonstranten (vgl. BVerfGE 69, 315 <360 f.>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. März 2001 - 1 BvQ 15/01 -, NJW 2001, S. 1411 <1412>) und von polizeilichen Kontrollen im Vorfeld von Versammlungen (vgl. BVerfGE 69, 315 <349>; 84, 203 <209>).

13

2. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.

14

a) Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG ist eröffnet, da die Auflage, dass die Teilnehmer der Versammlung vor Beginn der Veranstaltung polizeilich durchsucht werden, den freien Zugang zu einer bevorstehenden Versammlung betrifft. Der gesamte Vorgang des Sich-Versammelns unterfällt dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 84, 203 <209>).

15

b) Die Auflage bedeutet auch einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit. Ein Eingriff ist nicht nur dann gegeben, wenn eine Versammlung verboten oder aufgelöst wird, sondern auch, wenn die Art und Weise ihrer Durchführung durch staatliche Maßnahmen beschränkt wird (vgl. BVerfGE 69, 315 <349>). Die Auflage, dass die Teilnehmer einer Versammlung vor Beginn der Veranstaltung polizeilich durchsucht werden, behindert den freien Zugang zu der Versammlung. Eine polizeiliche Durchsuchung ist - zumal wenn sie pauschal jeden Versammlungsteilnehmer erfasst - geeignet, einschüchternde, diskriminierende Wirkung zu entfalten, die Teilnehmer in den Augen der Öffentlichkeit als möglicherweise gefährlich erscheinen zu lassen und damit potentielle Versammlungsteilnehmer von einer Teilnahme abzuhalten.

16

c) Beschränkungen der Versammlungsfreiheit bedürfen gemäß Art. 8 Abs. 2 GG zu ihrer Rechtfertigung einer gesetzlichen Grundlage. Im vorliegenden Fall wurde die Auflage auf § 15 Abs. 1 VersG gestützt.

17

aa) Diese Norm sieht mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Versammlungsfreiheit Einschränkungen gegenüber Versammlungen nur für den Fall vor, dass die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde auch bei dem Erlass von Auflagen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen. Als Grundlage der Gefahrenprognose sind konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen hierzu nicht aus (vgl. Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 <835>; vom 19. Dezember 2007 - 1 BvR 2793/04 -, NVwZ 2008, S. 671 <672>; vom 7. November 2008 - 1 BvQ 43/08 -, juris Rn. 17). Für die Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplante Versammlung aufweisen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. September 2009 - 1 BvR 2147/09 -, NJW 2010, S. 141).

18

Wenn sich der Veranstalter und sein Anhang allerdings friedlich verhalten und Störungen der öffentlichen Sicherheit, insbesondere Gewalttaten, lediglich von Gegendemonstrationen ausgehen, müssen sich behördliche Maßnahmen primär gegen die störenden Gegendemonstrationen richten. Es ist Aufgabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung berufenen Polizei, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung des Versammlungsrechts hinzuwirken. Gegen die friedliche Versammlung, die den Anlass für die Gegendemonstration bildet, darf nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten werden (vgl. BVerfGE 69, 315 <360 f.>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. September 2000 - 1 BvQ 24/00 -, NVwZ 2000, S. 1406 <1407>).

19

Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt bei der Behörde (vgl.  BVerfG , Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. Mai 2001 - 1 BvQ 21/01 -, NJW 2001, S. 2078 <2079>; vom 4. September 2009 - 1 BvR 2147/09 -, NJW 2010, S. 141 <142>).

20

Zwar sind die Feststellung der Tatsachen, auf die sich die Gefahrenprognose gründet, sowie die Würdigung dieser Tatsachen grundsätzlich Sache der Fachgerichte und entziehen sich einer Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hat allerdings zu überprüfen, ob bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts der Einfluss der Versammlungsfreiheit hinreichend beachtet worden ist. Eine solche Prüfung verlangt eine intensivierte Kontrolle, ob die von den Fachgerichten getroffenen tatsächlichen Feststellungen die daraus gezogenen Schlussfolgerungen zu tragen vermögen (vgl. BVerfGE 84, 203 <210>).

21

bb) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen für die Gefahrenprognose im Rahmen von § 15 Abs. 1 VersG wird die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht gerecht.

22

(1) Die von dem Verwaltungsgericht herangezogenen Umstände sind nicht geeignet, eine von der Versammlung selbst ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit nahezulegen, die den Erlass einer gegenüber der Versammlung belastenden Auflage hätte rechtfertigen können.

23

Zwar durfte das Verwaltungsgericht grundsätzlich den Verlauf der Anti-Wehrmachtsausstellungs-Versammlung am 2. Februar 2002 als Indiz heranziehen, da sie wegen der Zielrichtung, hier der Propagierung einer bestimmten Interpretation der jüngeren deutschen Geschichte, des Ortes und der zeitlichen Nähe Ähnlichkeiten zu der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung aufwies. Die zwei Teilnehmer dieser Versammlung haben in ihren von dem Verwaltungsgericht angeführten eidesstattlichen Versicherungen indes lediglich organisatorische Vorsichtsmaßnahmen auf Veranstalterseite gegen eventuelle Übergriffe gewaltbereiter linker Gegendemonstranten beschrieben. Diese Aussagen privater Personen zu ihrerseits lediglich verdachtsgeleiteten Handlungen stellen keine nachvollziehbaren tatsächlichen Anhaltspunkte dar, wie sie für eine Gefahrenprognose im Rahmen des § 15 Abs. 1 VersG erforderlich sind. Vor allem lässt sich dieser Aussage nicht ansatzweise entnehmen, dass sich die Teilnehmer der Versammlung bei dieser Gelegenheit nicht rechtstreu verhalten haben.

24

Dagegen hat das Verwaltungsgericht keine tatsächlichen Feststellungen zu der Frage getroffen, ob und inwieweit die Versammlung am 1. September 2001 in Leipzig Ähnlichkeiten zu der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung aufwies und daher im Rahmen der Gefahrenprognose als Indiz herangezogen werden durfte. Außerdem hat der Teilnehmer der Versammlung in seiner von dem Verwaltungsgericht angeführten eidesstattlichen Versicherung lediglich Übergriffe gewalttätiger linker Gegendemonstranten beschrieben. Nach seiner Darstellung haben hauptsächlich die Ordner, in einem Fall die Einsatzkräfte der Polizei, die solchermaßen provozierten Teilnehmer der Versammlung erfolgreich im Zaum gehalten. Anhaltspunkte dafür, dass die Teilnehmer der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung aus eigenem Antrieb die gewalttätige Auseinandersetzung mit den linken Gegendemonstranten gesucht hätten, ergeben sich aus dieser Aussage nicht.

25

Auch soweit das Verwaltungsgericht bei seiner Gefahrenprognose auf die Größe des zu erwartenden Teilnehmerkreises der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung abgestellt hat, trägt dieser Umstand die Auflage nicht. Denn allein aus der Größe einer Versammlung kann nicht auf die Gewaltbereitschaft der Teilnehmer geschlossen werden.

26

Insgesamt scheint die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts allein auf der - nicht ausgesprochenen - Vermutung zu gründen, die Teilnehmer der vom Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung könnten durch frühere Störungen von gewalttätigen linken Gegendemonstranten gereizt nunmehr zum Präventivschlag ausholen. Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen ohne hinreichende konkrete Tatsachengrundlage reichen jedoch, wie dargelegt, für die Gefahrenprognose im Rahmen des § 15 Abs. 1 VersG nicht aus. Der Umstand, dass bei der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung Störungen der öffentlichen Sicherheit durch gewaltbereite linke Gegendemonstranten zu befürchten waren, hätte den zuständigen Behörden Anlass sein müssen, zuvörderst gegen die angekündigten Gegendemonstrationen Maßnahmen zu ergreifen. Das durch gewaltbereite Gegendemonstranten drohende Gefahrenpotential ist der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung nicht zurechenbar.

27

(2) Als Nichtstörerin hätte die vom Beschwerdeführer veranstaltete Versammlung daher nur im Wege des polizeilichen Notstandes in Anspruch genommen werden können.

28

Im Hinblick auf die besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes sind der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts indessen weder die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen noch Ansätze für deren notwendige rechtliche Würdigung zu entnehmen. Zwar dürfen die diesbezüglichen Anforderungen an Durchsuchungen, die letztlich nur der Ermöglichung einer friedlichen Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit dienen, in Situationen, die insgesamt durch drohende Gewalt geprägt sind, nicht zu hoch angesetzt werden. Jedoch bedarf es insoweit zumindest der Darlegung, dass ein Schutz vor Gefahren für die öffentliche Sicherheit primär durch Maßnahmen gegenüber den Störern ins Werk gesetzt wird und dass er auf diese Weise aber nur unzureichend gewährleistet werden kann. Hieran fehlt es indes. So fehlen insbesondere Ausführungen dazu, dass und inwieweit gegen die angekündigten Gegendemonstrationen gerichtete, behördliche Maßnahmen nicht ausgereicht haben, der gewaltbereiten Gegendemonstranten Herr zu werden und so der Gefahr einer etwaigen gewalttätigen Eskalation zu begegnen. Feststellungen hierzu hat das Verwaltungsgericht nicht getroffen. Unter dem Gesichtspunkt der Eskalation fehlt es weiterhin an konkreten und nachvollziehbaren tatsächlichen Anhaltspunkten für die Annahme, dass die Teilnehmer der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung überhaupt unter Rückgriff auf mitgebrachte Gegenstände zur Schutz- und Trutzwehr übergehen würden.

29

cc) Der angegriffene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts teilt den festgestellten Mangel des verwaltungsgerichtlichen Urteils. Das Oberverwaltungsgericht hat sich die Gründe des Verwaltungsgerichts ausdrücklich gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO zu Eigen gemacht. Der über diese Bezugnahme hinausgehende pauschale Verweis auf die behauptete Verhältnismäßigkeit der Auflage erweist sich angesichts der aufgezeigten verfassungsrechtlichen Defizite hinsichtlich der erforderlichen tatsächlichen Feststellungen und der notwendigen rechtlichen Würdigung als nicht tragfähig.

30

dd) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem aufgezeigten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei der erforderlichen erneuten Befassung und unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Anforderungen aus Art. 8 Abs. 1 GG zu einem anderen Ergebnis kommen. Hierbei werden die Gerichte - neben den bereits angesprochenen Gesichtspunkten - zu prüfen haben, ob und gegebenenfalls welche Gegenstände die polizeiliche Durchsuchung der Teilnehmer bei der Anti-Wehrmachtsausstellungs-Versammlung am 2. Februar 2002 zutage gefördert wurden, die laut der Stellungnahme des Polizeipräsidiums Bielefeld in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren bereits gegenüber dieser Versammlung angeordnet worden war.

31

3. Da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen des Verstoßes gegen Art. 8 Abs. 1 GG Erfolg hat, bedarf es keiner Prüfung, ob daneben weitere Grundrechte verletzt sind.

32

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Tenor

1. Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 15. Oktober 2010 - 3 L 1556/10 - und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2010 - 3 B 307/10 - verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 8 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes.

2. Die Kostenentscheidungen der Beschlüsse werden aufgehoben. Das Verfahren wird insoweit an das Sächsische Oberverwaltungsgericht zur erneuten Entscheidung über die Kosten des Verfahrens zurückverwiesen.

3. ...

4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verwaltungsgerichtliche Versagung vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine versammlungsrechtliche Auflage.

I.

2

1. Die Beschwerdeführer meldeten Anfang September 2010 bei der Stadt L. ihr Vorhaben an, am 16. Oktober 2010 (von 12.00 Uhr bis 20.00 Uhr) in L. eine Versammlung unter freiem Himmel durchzuführen. Die geplante Versammlung sollte aus drei Aufzügen und einer Abschlusskundgebung in der Innenstadt von L. bestehen. Die Teilnehmerzahl wurde von den Beschwerdeführern bei der Anmeldung auf 600 Personen geschätzt. Das Motto der geplanten Versammlung lautete "Recht auf Zukunft". Es bezog sich auf eine am 17. Oktober 2009 in L. von der Beschwerdeführerin zu 4), einer Unterorganisation der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), veranstaltete Versammlung, bei der es im Zusammenhang mit einer Versammlungsblockade durch Gegendemonstranten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und letztlich zu einer polizeilichen Auflösung der Versammlung kam.

3

Angesichts dieser Vorgeschichte und der Anmeldung von zahlreichen Gegendemonstrationen kam es zwischen der Anmeldung und der Durchführung der geplanten Versammlung zu umfangreichen Verhandlungen zwischen den Beschwerdeführern und der Stadt L., die unter anderem in Kooperationsgesprächen am 4., am 6. und am 13. Oktober 2010 eingehend die polizeilich sicherbare Anzahl der geplanten Aufzüge und die konkrete Streckenführung erörterten. In einer Gefährdungsanalyse am 4. Oktober 2010 bekundete die Polizeidirektion L. dabei laut den tatsächlichen Feststellungen des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, dass der Schutz von zwei der angemeldeten Aufzüge mit den zur Verfügung stehenden Einsatzkräften gewährleistet werden könne. Am 11. Oktober 2010 teilte der Beschwerdeführer zu 1) der Stadt schließlich mit, dass am 16. Oktober 2010 nunmehr lediglich ein einziger Aufzug stattfinden solle. Am 12. Oktober 2010 ergänzte die Polizeidirektion L. ihre Gefahrprognose insofern, dass nunmehr nur eine maximal vierstündige stationäre Kundgebung durchführbar sei, weil nach den Erfahrungen des Versammlungsgeschehens vom 17. Oktober 2009 mit einer höheren als der angemeldeten Teilnehmerzahl zu rechnen sei und jeweils ca. 10 bis 20 % der Teilnehmer der angemeldeten Demonstration und der Gegendemonstrationen als gewaltbereit einzustufen seien.

4

2. Mit Bescheid vom 13. Oktober 2010 untersagte die Stadt L. die Durchführung der Versammlung als Aufzug, verfügte die Durchführung als stationäre Kundgebung in der Zeit von 13.00 Uhr bis 17.00 Uhr in einem Bereich am L. Hauptbahnhof und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Auflage an. Die Polizeidirektion L. habe in ihrer Gefahrprognose vom 12. Oktober 2010 dargelegt, dass im Zeitraum vom 15. bis zum 17. Oktober 2010 aufgrund von zahlreichen Versammlungsanmeldungen widerstreitender politischer Lager eine latente Gefährdungssituation vorhanden sei, die einen außerordentlich hohen Kräfteeinsatz der Polizei erfordere. Es sei davon auszugehen, dass sich die Teilnehmer der Aufzüge bei Angriffen durch Personen der linksextremistischen Klientel provozieren ließen und darauf entsprechend reagierten. Die Polizei habe glaubhaft dargelegt, dass sie kräftetechnisch außerstande sei, einen Aufzug zu begleiten, da trotz bundesweiter Anfragen nur 29 der für erforderlich gehaltenen 44 Polizeihundertschaften, also nur 66 % der geplanten Polizeikräfte, zur Verfügung stünden. Die Ausübung der Versammlungsfreiheit werde trotz der Beschränkungen nicht vereitelt, da der zugewiesene Ort eine hinreichende Öffentlichkeitswirksamkeit und eine räumliche Trennung der gegensätzlichen politischen Lager gewährleiste.

5

3. Dagegen erhoben die Beschwerdeführer noch am gleichen Tag Widerspruch und stellten beim Verwaltungsgericht Leipzig die Anträge, die aufschiebende Wirkung ihrer Widersprüche gegen die Auflage, nur eine stationäre Kundgebung durchzuführen, wiederherzustellen sowie im Wege einer einstweiligen Anordnung ein Verbot sämtlicher Versammlungen in einem Umkreis von 300 m um die angemeldeten Aufzugstrecken anzuordnen. Das Verwaltungsgericht Leipzig lehnte die Eilanträge mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 ab und begründete dies im Wesentlichen damit, dass der Bescheid vom 13. Oktober 2010 rechtmäßig sei und somit das öffentliche Interesse am Sofortvollzug des Bescheids die Interessen der Beschwerdeführer überwiege. Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens, die Stadt L., sei auf der Grundlage der Einschätzung der Polizeidirektion L. nachvollziehbar davon ausgegangen, dass infolge zahlreicher Gegenaktionen und -demonstrationen bei Durchführung des im Zuge der Kooperation der Beschwerdeführer zuletzt noch geplanten einzigen Aufzuges eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bestehe. Bei der Vielzahl der angemeldeten und geplanten Veranstaltungen am 16.10.2010, unter anderem ein Fußballspiel, und in Anbetracht der beschriebenen begrenzten Kräftelage der Polizei sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einhergehenden Personen- und Sachschäden zu rechnen, denen nur mit der Beschränkung auf eine stationäre Kundgebung begegnet werden könne. Dieser Gefahr könne in Anbetracht der besonderen Veranstaltungssituation am 16. Oktober 2010 auch nicht durch Maßnahmen gegen potentielle Störer begegnet werden.

6

4. Gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts legten die Beschwerdeführer Beschwerde ein. Das Sächsische Oberverwaltungsgericht wies die Beschwerde mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 zurück. Ob ein polizeilicher Notstand vorliege, sei im Rahmen der summarischen Prüfung nicht abschließend zu beurteilen. Der Einschätzung der Polizeidirektion lasse sich entnehmen, dass aufgrund des Versammlungsgeschehens im Vorjahr mit gewalttätigen Auseinandersetzungen einer Anzahl von 10 bis 20 % der Teilnehmer sowohl auf Seiten der Beschwerdeführer wie auf Seiten linker Demonstranten gerechnet werde. Zwar erschließe sich dem Gericht nicht, wodurch sich das Gefährdungspotential innerhalb kurzer Zeit so erhöht haben solle, dass statt der zwei Aufzüge, die die Polizeidirektion ursprünglich noch mit den zur Verfügung stehenden Einsatzkräften für sicherbar gehalten habe, nunmehr nur noch eine stationäre Kundgebung möglich sein solle. Wegen der fehlenden Überprüfungsmöglichkeit sei aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden. Danach sei die Beschwerde zurückzuweisen, weil für den Antragsteller die mit der Durchführung einer nur stationären Kundgebung verbundenen Beeinträchtigungen hinnehmbar seien.

7

5. Die Beschwerdeführer beantragten sodann beim Bundesverfassungsgericht zunächst den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Diesen Antrag hat die Kammer aufgrund der besonderen Voraussetzungen der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch das Bundesverfassungsgericht abgelehnt, dabei jedoch zugleich auf die Möglichkeit der Klärung der aufgeworfenen Fragen in einem verfassungsgerichtlichen Hauptsachverfahren hingewiesen (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Oktober 2010 - 1 BvQ 39/10 -, juris).

8

6. Hieraufhin erhoben die Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Leipzig und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts fristgemäß Verfassungsbeschwerde mit der Rüge, durch die angegriffenen Entscheidungen in ihren Rechten aus Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG verletzt zu sein.

9

7. Das Bundesverfassungsgericht hat der Stadt L. als Gegnerin des Ausgangsverfahrens, dem Sächsischen Staatsministerium der Justiz und für Europa sowie der Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

10

Nach Auffassung des Rechtsamtes der Stadt L. liegen die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde nicht vor. Das Sächsische Staatsministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts hat eine Stellungnahme des unter anderem für das Versammlungsrecht zuständigen 6. Revisionssenats übersandt, in der dieser Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Entscheidungen äußert.

II.

11

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen bereits entschieden (vgl. insbesondere BVerfGE 69, 315 <340 ff.>; 110, 77 <83 ff.>). Nach diesen Maßstäben ist die Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Leipzig und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts zulässig und begründet.

12

1. Der Zulässigkeit der Rüge der Verletzung des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG steht weder der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde noch das Erfordernis eines Rechtsschutzinteresses entgegen.

13

a) Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache nur, soweit die geltend gemachte Verletzung von Freiheitsrechten oder von Art. 19 Abs. 4 GG durch die Entscheidung der Gerichte in der Hauptsache noch ausgeräumt werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 <835>). Hier rügen die Beschwerdeführer allerdings gerade die Missachtung der Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG bei der Zurückweisung ihres Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz, die im Hauptsacheverfahren nicht mehr behandelt werden würde.

14

b) Auch ein Rechtsschutzbedürfnis der Beschwerdeführer besteht, obwohl der Demonstrationstermin verstrichen und damit der Sofortvollzug der strittigen Auflagen gegenstandslos geworden ist. Sind verfassungsrechtliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung nicht (mehr) zu klären, besteht ein Rechtsschutzbedürfnis auch nach Erledigung des ursprünglichen Begehrens im Falle einer Wiederholungsgefahr, also wenn ein Gericht die bereits herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht beachtet hat und bei hinreichend bestimmter Gefahr einer gleichartigen Entscheidung bei gleichartiger Sach- und Rechtslage zu befürchten ist, dass es diese auch in Zukunft verkennt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 <835>). Hier führten die Beschwerdeführer bereits konflikthafte Versammlungen in L. durch und planen auch in Zukunft die Durchführung von Versammlungen in L., bei denen sie mit ähnlichen Konfliktsituationen rechnen und gegebenenfalls gleichartige Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts befürchten müssten.

15

2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG.

16

a) Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen (vgl. BVerfGE 104, 92 <104>; 128, 226 <250>). Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe, die auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt, ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend (vgl. BVerfGE 69, 315 <344 f.>; 128, 226 <250>) und wird im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung grundsätzlich auch den Gegnern der Freiheit gewährt (vgl. BVerfGE 124, 300 <320>). Damit die Bürger selbst entscheiden können, wann, wo und unter welchen Modalitäten sie ihr Anliegen am wirksamsten zur Geltung bringen können, gewährleistet Art. 8 Abs. 1 GG nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben, sondern umfasst zugleich ein Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung (vgl. BVerfGE 69, 315 <343> oder <355 ff.>; 128, 226 <250 f.>).

17

Beschränkungen der Versammlungsfreiheit bedürfen gemäß Art. 8 Abs. 2 GG zu ihrer Rechtfertigung einer gesetzlichen Grundlage (vgl. BVerfGE 69, 315 <350 f.>; BVerfGK 17, 303 <307>). Nach § 15 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) vom 24. Juli 1953 in der Fassung vom 8. Dezember 2008 (BGBl I S. 2366; im Folgenden: VersG) kann die zuständige Behörde die Versammlung von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Danach kann im Einzelfall auch die Festlegung geboten sein, dass eine ursprünglich als Aufzug angemeldete Versammlung nur als ortsfeste Versammlung durchgeführt werden darf (vgl. BVerfGK 2, 1 <8>). Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde allerdings auch bei dem Erlass von Auflagen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen. Als Grundlage der Gefahrenprognose sind konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen hierzu nicht aus (BVerfGE 69, 315 <353 f.>; BVerfGK 17, 303 <307>). Ferner gilt, dass, soweit sich der Veranstalter und die Versammlungsteilnehmer grundsätzlich friedlich verhalten und Störungen der öffentlichen Sicherheit vorwiegend aufgrund des Verhaltens Dritter - insbesondere von Gegendemonstrationen - zu befürchten sind, die Durchführung der Versammlung zu schützen ist und behördliche Maßnahmen primär gegen die Störer zu richten sind (vgl. BVerfGE 69, 315 <360 f.>; BVerfGK 8, 79 <81>; BVerfG , Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. September 2000 - 1 BvQ 24/00, NVwZ 2000, S. 1406 <1407>). Gegen die friedliche Versammlung selbst kann dann nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten werden (vgl. BVerfGE 69, 315 <360 f.>; BVerfGK 17, 303 <308>). Dies setzt voraus, dass die Versammlungsbehörde mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anderenfalls wegen der Erfüllung vorrangiger staatlicher Aufgaben und trotz des Bemühens, gegebenenfalls externe Polizeikräfte hinzuzuziehen, zum Schutz der von dem Antragsteller angemeldeten Versammlung nicht in der Lage wäre; eine pauschale Behauptung dieses Inhalts reicht allerdings nicht (vgl. BVerfGK 8, 79 <82>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2001 - 1 BvQ 13/01 -, NJW 2001, S. 2069 <2072>). Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt grundsätzlich bei der Behörde (vgl. BVerfGK 17, 303 <308>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. September 2009 - 1 BvR 2147/09 -, NJW 2010, S. 141 <142>).

18

b) Art. 19 Abs. 4 GG garantiert einen effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 67, 43 <58>; 96, 27 <39>). Im Verfahren auf Wiederherstellung oder Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs, das für den Regelfall sicherstellt, dass die Verwaltungsbehörden keine irreparablen Maßnahmen durchführen, bevor die Gerichte deren Rechtmäßigkeit geprüft haben, ist der Rechtsschutzanspruch des Bürgers umso stärker, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung wiegt und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken (vgl. BVerfGE 35, 382 <401 f.>; 69, 315 <363>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 <835>). Insbesondere im Bereich des Versammlungsrechts muss das verwaltungsgerichtliche Eilverfahren angesichts der Zeitgebundenheit von Versammlungen zum Teil Schutzfunktionen übernehmen, die sonst das Hauptsacheverfahren erfüllt (vgl. BVerfGE 69, 315 <363 f.>; 110, 77 <87>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 23. März 2004 - 1 BvR 745/01 -, juris, Rn. 13). Die einstweilige Anordnung im verfassungsgerichtlichen Verfahren als außerhalb der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG liegender Rechtsbehelf kann die primäre Rechtsschutzfunktion der Fachgerichte ebenfalls nicht übernehmen. Angesichts der Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts und im Hinblick auf die weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung auslösen kann, ist hierbei zudem ein strenger, von den verwaltungsgerichtlichen Kriterien grundsätzlich unterschiedener Maßstab anzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 16. Oktober 2010 - 1 BvQ 39/10 -, juris, Rn. 4). Daher müssen die Verwaltungsgerichte zum Schutz von Versammlungen, die auf einen einmaligen Anlass bezogen sind, schon im Eilverfahren durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sofortvollzug der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form führt. Soweit möglich, ist als Grundlage der gebotenen Interessenabwägung die Rechtmäßigkeit der Maßnahme in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht nur summarisch zu prüfen (vgl. BVerfGE 69, 315 <363 f.>; 110, 77 <87>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 <835>). Sofern dies nicht möglich ist, haben die Fachgerichte jedenfalls eine sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese hinreichend substantiiert zu begründen, da ansonsten eine Umgehung der beschriebenen strengen Voraussetzungen für Beschränkungen der Versammlungsfreiheit möglich erschiene.

19

3. Diese Maßstäbe haben das Verwaltungsgericht Leipzig und das Sächsische Oberverwaltungsgericht bei den ihnen obliegenden Entscheidungen über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht hinreichend berücksichtigt. Beide Entscheidungen werden den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG im Hinblick auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen versammlungsbeschränkende behördliche Maßnahmen nicht gerecht.

20

a) Die vom Verwaltungsgericht Leipzig herangezogenen Umstände sind nicht geeignet, die Annahme einer von der Versammlung selbst ausgehenden unmittelbaren Gefährdung für die öffentliche Sicherheit zu tragen, die die Verhinderung der Versammlung in Form eines Aufzugs hätte rechtfertigen können. Das Verwaltungsgericht legt insofern bereits nicht hinreichend deutlich dar, ob seiner Auffassung nach auch von der Versammlung selbst eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht oder diese Gefahr ausschließlich aufgrund der zahlreichen Gegendemonstrationen und den hieraus zu erwartenden Störungen der Versammlung besteht. Dass das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung zur Begründung seines Standpunktes im Wesentlichen lediglich auf die Einschätzung der Polizeidirektion L., die ohne nähere Erläuterung 10 bis 20 % der Teilnehmer der angemeldeten Demonstration dem gewaltbereiten Klientel zurechnete, verweist, genügt den Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG insofern jedenfalls nicht.

21

Auch im Hinblick auf eine Inanspruchnahme der Veranstalter als Nichtstörer im Wege des polizeilichen Notstandes genügen die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts den Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Das Verwaltungsgericht weist insofern zur Begründung des Vorliegens einer nicht durch Maßnahmen gegen potentielle Störer abwendbaren Gefahr, insbesondere auf die besondere Veranstaltungssituation am 16. Oktober 2010 und die deswegen nur begrenzt zur Verfügung stehenden Polizeikräfte, hin und beruft sich dabei pauschal auf die Einschätzung der Polizeidirektion L. vom 13. Oktober 2010. Berücksichtigt man aber den Umstand, dass die Polizeidirektion in ihrer Gefährdungsanalyse vom 4. Oktober 2010 offenbar noch zwei der angemeldeten Aufzüge mit den ihr voraussichtlich zur Verfügung stehenden Kräften für sicherbar hielt, erfüllt diese pauschale Bezugnahme auf die Einschätzung der Polizeidirektion vom 13. Oktober 2010 nicht die den Anforderungen an die entsprechend obigen Maßstäben bereits im Eilverfahren gebotene intensivere Rechtmäßigkeitsprüfung. Vielmehr hätte die kurzfristige Änderung der polizeilichen Einschätzung, die sich nicht ohne weiteres erschließt, das Verwaltungsgericht zu einer substantiierteren Prüfung der veränderten polizeilichen Einschätzung und zur Nachfrage einer genaueren Begründung ihrer Entscheidung veranlassen müssen. Dass dies vorliegend aus zeitlichen Gründen nicht möglich gewesen wäre, ist nicht erkennbar. Auch im Übrigen hätte es dezidierterer Feststellungen bedurft, aufgrund welcher konkreter Gefahren für die öffentliche Sicherheit und aufgrund welcher konkreter, vorrangig zu schützender sonstiger Veranstaltungen keine ausreichenden Polizeikräfte mehr zum Schutz der angemeldeten Versammlung und der Rechtsgüter Dritter zur Verfügung gestanden hätten. Die behauptete Bindung von Polizeikräften durch die zeitgleich stattfindenden Gegendemonstrationen kann nach obigen Maßstäben jedenfalls nicht ohne weiteres als hinreichendes Argument dafür herangezogen werden. Auch die Bindung von Polizeikräften aufgrund eines parallel stattfindenden Fußballspiels und sonstiger Veranstaltungen, deren vorrangige Schutzwürdigkeit sich nicht ohne weiteres erschließt, reicht hierfür nicht aus.

22

b) Die angegriffene Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts hält den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG ebenfalls nicht stand. Zwar hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht deutliche Bedenken am Vorliegen der Voraussetzungen eines für die Rechtfertigung der versammlungsrechtlichen Auflage erforderlichen polizeilichen Notstandes geäußert und nachvollziehbar dargelegt, dass sich ihm nicht erschließe, wodurch sich das Gefährdungspotential innerhalb des kurzen Zeitraumes zwischen der Gefährdungsanalyse der Polizeidirektion L. vom 4. Oktober 2010 und dem Erlass der Auflage am 13. Oktober 2010 so erhöht haben soll, dass statt der zwei Aufzüge, die ursprünglich noch mit den zur Verfügung stehenden Einsatzkräften für sicherbar gehalten wurden, nunmehr nur noch eine stationäre Kundgebung möglich sein solle. Auch erscheint es nachvollziehbar, dass dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht in der Kürze der ihm zur Verfügung stehenden Zeit die Vornahme der hier grundsätzlich gebotenen und soweit als möglich nicht lediglich summarischen Rechtmäßigkeitskontrolle der behördlichen Auflage nicht mehr möglich war. Allerdings hätte es dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht in dieser Konstellation, um der Freiheitsvermutung zugunsten der Versammlungsfreiheit zumindest in der Sache Rechnung zu tragen, oblegen, eine besonders sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese in der Begründung seiner Entscheidung hinreichend offenzulegen. Vorliegend hat sich das Sächsische Oberverwaltungsgericht in der Begründung seiner Entscheidung jedoch im Wesentlichen darauf beschränkt, auf die vermeintlich geringe Beeinträchtigung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit hinzuweisen, ohne auch nur ansatzweise ausreichend auf das Bestehen einer die Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit überwiegenden potentiellen Beeinträchtigung anderer Rechtsgüter einzugehen.

23

4. Demgemäß ist festzustellen, dass sowohl der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig als auch der angegriffene Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG verletzen. Einer Aufhebung der Entscheidungen und Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung bedarf es darüberhinausgehend nur bezüglich der Kostenentscheidungen, da in der Sache selbst Erledigung eingetreten ist (vgl. Schemmer, in: Umbach/Clemens/Dollinger, 2. Aufl. 2005, BVerfGG, § 93c Rn. 33).

24

5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Sind Gebühren, die sich nach dem Streitwert richten, mit der Einreichung der Klage-, Antrags-, Einspruchs- oder Rechtsmittelschrift oder mit der Abgabe der entsprechenden Erklärung zu Protokoll fällig, setzt das Gericht sogleich den Wert ohne Anhörung der Parteien durch Beschluss vorläufig fest, wenn Gegenstand des Verfahrens nicht eine bestimmte Geldsumme in Euro ist oder gesetzlich kein fester Wert bestimmt ist. Einwendungen gegen die Höhe des festgesetzten Werts können nur im Verfahren über die Beschwerde gegen den Beschluss, durch den die Tätigkeit des Gerichts aufgrund dieses Gesetzes von der vorherigen Zahlung von Kosten abhängig gemacht wird, geltend gemacht werden. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht in Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit.

(2) Soweit eine Entscheidung nach § 62 Satz 1 nicht ergeht oder nicht bindet, setzt das Prozessgericht den Wert für die zu erhebenden Gebühren durch Beschluss fest, sobald eine Entscheidung über den gesamten Streitgegenstand ergeht oder sich das Verfahren anderweitig erledigt. In Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen oder der Finanzgerichtsbarkeit gilt dies nur dann, wenn ein Beteiligter oder die Staatskasse die Festsetzung beantragt oder das Gericht sie für angemessen hält.

(3) Die Festsetzung kann von Amts wegen geändert werden

1.
von dem Gericht, das den Wert festgesetzt hat, und
2.
von dem Rechtsmittelgericht, wenn das Verfahren wegen der Hauptsache oder wegen der Entscheidung über den Streitwert, den Kostenansatz oder die Kostenfestsetzung in der Rechtsmittelinstanz schwebt.
Die Änderung ist nur innerhalb von sechs Monaten zulässig, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat.

(1) Im Rechtsmittelverfahren bestimmt sich der Streitwert nach den Anträgen des Rechtsmittelführers. Endet das Verfahren, ohne dass solche Anträge eingereicht werden, oder werden, wenn eine Frist für die Rechtsmittelbegründung vorgeschrieben ist, innerhalb dieser Frist Rechtsmittelanträge nicht eingereicht, ist die Beschwer maßgebend.

(2) Der Streitwert ist durch den Wert des Streitgegenstands des ersten Rechtszugs begrenzt. Das gilt nicht, soweit der Streitgegenstand erweitert wird.

(3) Im Verfahren über den Antrag auf Zulassung des Rechtsmittels und im Verfahren über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung des Rechtsmittels ist Streitwert der für das Rechtsmittelverfahren maßgebende Wert.

(1) In Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen.

(2) Bietet der Sach- und Streitstand für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, ist ein Streitwert von 5 000 Euro anzunehmen.

(3) Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf bezogenen Verwaltungsakt, ist deren Höhe maßgebend. Hat der Antrag des Klägers offensichtlich absehbare Auswirkungen auf künftige Geldleistungen oder auf noch zu erlassende, auf derartige Geldleistungen bezogene Verwaltungsakte, ist die Höhe des sich aus Satz 1 ergebenden Streitwerts um den Betrag der offensichtlich absehbaren zukünftigen Auswirkungen für den Kläger anzuheben, wobei die Summe das Dreifache des Werts nach Satz 1 nicht übersteigen darf. In Verfahren in Kindergeldangelegenheiten vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit ist § 42 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 entsprechend anzuwenden; an die Stelle des dreifachen Jahresbetrags tritt der einfache Jahresbetrag.

(4) In Verfahren

1.
vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit, mit Ausnahme der Verfahren nach § 155 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung und der Verfahren in Kindergeldangelegenheiten, darf der Streitwert nicht unter 1 500 Euro,
2.
vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit und bei Rechtsstreitigkeiten nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz nicht über 2 500 000 Euro,
3.
vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit über Ansprüche nach dem Vermögensgesetz nicht über 500 000 Euro und
4.
bei Rechtsstreitigkeiten nach § 36 Absatz 6 Satz 1 des Pflegeberufegesetzes nicht über 1 500 000 Euro
angenommen werden.

(5) Solange in Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit der Wert nicht festgesetzt ist und sich der nach den Absätzen 3 und 4 Nummer 1 maßgebende Wert auch nicht unmittelbar aus den gerichtlichen Verfahrensakten ergibt, sind die Gebühren vorläufig nach dem in Absatz 4 Nummer 1 bestimmten Mindestwert zu bemessen.

(6) In Verfahren, die die Begründung, die Umwandlung, das Bestehen, das Nichtbestehen oder die Beendigung eines besoldeten öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnisses betreffen, ist Streitwert

1.
die Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen, wenn Gegenstand des Verfahrens ein Dienst- oder Amtsverhältnis auf Lebenszeit ist,
2.
im Übrigen die Hälfte der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen.
Maßgebend für die Berechnung ist das laufende Kalenderjahr. Bezügebestandteile, die vom Familienstand oder von Unterhaltsverpflichtungen abhängig sind, bleiben außer Betracht. Betrifft das Verfahren die Verleihung eines anderen Amts oder den Zeitpunkt einer Versetzung in den Ruhestand, ist Streitwert die Hälfte des sich nach den Sätzen 1 bis 3 ergebenden Betrags.

(7) Ist mit einem in Verfahren nach Absatz 6 verfolgten Klagebegehren ein aus ihm hergeleiteter vermögensrechtlicher Anspruch verbunden, ist nur ein Klagebegehren, und zwar das wertmäßig höhere, maßgebend.

(8) Dem Kläger steht gleich, wer sonst das Verfahren des ersten Rechtszugs beantragt hat.

(1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts können vorbehaltlich des § 99 Abs. 2 und des § 133 Abs. 1 dieses Gesetzes sowie des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angefochten werden.

(2) Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt für Entscheidungen des beauftragten oder ersuchten Richters oder des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle § 151 entsprechend.