Bundesgerichtshof Beschluss, 11. Apr. 2013 - IX ZB 100/11

bei uns veröffentlicht am11.04.2013
vorgehend
Amtsgericht Kassel, 660 IN 72/07, 25.02.2010
Landgericht Kassel, 3 T 773/10, 03.02.2011

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
IX ZB 100/11
vom
11. April 2013
in dem Insolvenzverfahren
Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Richter Vill, Raebel,
Dr. Pape, Grupp und die Richterin Möhring
am 11. April 2013

beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Kassel vom 3. Februar 2011 wird auf Kosten der Schuldnerin als unzulässig verworfen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 5.000 € festgesetzt.
Der Antrag der Schuldnerin auf Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Der weiteren Beteiligten zu 1 wird Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren ohne Eigenbeitrag bewilligt. Ihr wird Rechtsanwältin S. beigeordnet.

Gründe:


1
Die statthafte (§§ 6, 7 aF, § 289 Abs. 2 Satz 1 InsO, Art. 103f EGInsO, § 238 Abs. 2 Satz 1, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO) Rechtsbeschwerde ist unzulässig (§ 574 Abs. 2 ZPO). Die aufgeworfene, als rechtsgrundsätzlich bezeichnete Frage nach der Erforderlichkeit einer Rechtsmittelbelehrung bei ge- richtlichen Entscheidungen im Insolvenzverfahren, obwohl eine solche weder in der Zivilprozessordnung noch in der Insolvenzordnung vorgesehen ist (vgl. künftig § 232 ZPO in der Fassung des Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess und zur Änderung anderer Vorschriften vom 5. Dezember 2012 mit Wirkung ab 1. Januar 2014, BGBl I 2418), ist für den Streitfall nicht klärungsbedürftig.
2
Entgegen den Ausführungen in der Rechtsbeschwerdebegründung lagen die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung von Amts wegen zum Zeitpunkt der Einlegung der sofortigen Beschwerde am 2. September 2010 und selbst bis Mitte Oktober 2010 nicht vor. Einem Rechtsmittelführer muss Wiedereinsetzung von Amts wegen gemäß § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO gewährt werden, wenn die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung bei Nachholung der versäumten Handlung innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO offenkundig sind oder bei Ausübung der Hinweispflicht nach § 139 ZPO offenkundig werden (BGH, Beschluss vom 31. Januar 2007 - XII ZB 207/06, FamRZ 2007, 801 Rn. 5; vom 8. Dezember 2010 - XII ZB 334/10, FuR 2011, 151 Rn. 10; Zöller /Greger, ZPO, 29. Aufl., § 236 Rn. 5; HK-ZPO/Saenger, 5. Aufl., § 236 Rn. 8). Vorliegend erlangte die Schuldnerin spätestens am 2. September 2010 über die Erforderlichkeit eines Rechtsmittels, die Art des Rechtsmittels und die Rechtsmittelfristen Kenntnis, weil sie spätestens an diesem Tag ihren Verfahrensbevollmächtigten aufgesucht hatte. Über den Inhalt der gesamten Akte wusste sie Bescheid, nachdem ihr Verfahrensbevollmächtigter am 16. September 2010 Akteneinsicht genommen hatte. Mithin war das Hindernis nach § 234 Abs. 2 ZPO spätestens an diesem Tage behoben und die Wiedereinsetzungsfrist begann zu laufen. Bis zu ihrem Ablauf war jedoch weder ersichtlich noch offenkundig, dass die Schuldnerin die versäumte Prozesshandlung innerhalb der Antragsfrist nachgeholt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2003 - IX ZB 36/03, NZI 2004, 85, 86). Denn aus den Akten ergab sich in diesem Zeitraum nicht, wann sie Kenntnis über das Rechtsmittel und seine Fristen erhalten hat. Ebenso wenig war in dieser Zeit aus den Akten ersichtlich oder offenkundig , dass die Schuldnerin gerade infolge der fehlenden Belehrung die Rechtsmittelfrist versäumt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2003 aaO). Der Belehrungsmangel müsste jedoch für die Versäumung der Rechtsmittelfrist ursächlich geworden sein, bevor gegebenenfalls unwiderlegbar vermutet werden könnte, dass den Rechtsmittelführer an der Versäumung der Rechtsmittelfrist kein Verschulden trifft (BGH, Beschluss vom 26. März 2009 - V ZB 174/08, BGHZ 180, 199 Rn. 21). Bekannt war bis zur Begründung der Beschwerde im November 2010 nur, dass der Versagungsbeschluss nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen war. Nicht bekannt war jedoch, ob die Schuldnerin aufgrund der unterlassenen Rechtsmittelbelehrung von der rechtzeitigen Einlegung eines Rechtsmittels abgesehen hat.
3
Wegen fehlender Aussicht auf Erfolg der Rechtsbeschwerde war der Antrag der Schuldnerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren abzulehnen (§ 114 Satz 1 ZPO), der weiteren Beteiligten zu 1 war demgegenüber nach §§ 114, 115, 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO die beantragte Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
Vill Raebel Pape
Grupp Möhring

Vorinstanzen:
AG Kassel, Entscheidung vom 25.02.2010 - 660 IN 72/07 -
LG Kassel, Entscheidung vom 03.02.2011 - 3 T 773/10 -

ra.de-Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 11. Apr. 2013 - IX ZB 100/11

Urteilsbesprechung schreiben

0 Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 11. Apr. 2013 - IX ZB 100/11

Referenzen - Gesetze

Bundesgerichtshof Beschluss, 11. Apr. 2013 - IX ZB 100/11 zitiert 12 §§.

Zivilprozessordnung - ZPO | § 574 Rechtsbeschwerde; Anschlussrechtsbeschwerde


(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn1.dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder2.das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.§ 542 Ab

Zivilprozessordnung - ZPO | § 114 Voraussetzungen


(1) Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Re

Zivilprozessordnung - ZPO | § 139 Materielle Prozessleitung


(1) Das Gericht hat das Sach- und Streitverhältnis, soweit erforderlich, mit den Parteien nach der tatsächlichen und rechtlichen Seite zu erörtern und Fragen zu stellen. Es hat dahin zu wirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über

Zivilprozessordnung - ZPO | § 115 Einsatz von Einkommen und Vermögen


(1) Die Partei hat ihr Einkommen einzusetzen. Zum Einkommen gehören alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert. Von ihm sind abzusetzen: 1. a) die in § 82 Abs. 2 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch bezeichneten Beträge;b) bei Parteien, die ein Einkommen

Zivilprozessordnung - ZPO | § 234 Wiedereinsetzungsfrist


(1) Die Wiedereinsetzung muss innerhalb einer zweiwöchigen Frist beantragt werden. Die Frist beträgt einen Monat, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschw

Zivilprozessordnung - ZPO | § 238 Verfahren bei Wiedereinsetzung


(1) Das Verfahren über den Antrag auf Wiedereinsetzung ist mit dem Verfahren über die nachgeholte Prozesshandlung zu verbinden. Das Gericht kann jedoch das Verfahren zunächst auf die Verhandlung und Entscheidung über den Antrag beschränken. (2) A

Zivilprozessordnung - ZPO | § 119 Bewilligung


(1) Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe erfolgt für jeden Rechtszug besonders. In einem höheren Rechtszug ist nicht zu prüfen, ob die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint, wenn d

Insolvenzordnung - InsO | § 289 Einstellung des Insolvenzverfahrens


Im Fall der Einstellung des Insolvenzverfahrens kann Restschuldbefreiung nur erteilt werden, wenn nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit die Insolvenzmasse nach § 209 verteilt worden ist und die Einstellung nach § 211 erfolgt.

Einführungsgesetz zur Insolvenzordnung - EGInsO | Art 103f Überleitungsvorschrift zum Gesetz zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung


Für Entscheidungen über die sofortige Beschwerde nach § 6 der Insolvenzordnung, bei denen die Frist des § 575 der Zivilprozessordnung am 27. Oktober 2011 noch nicht abgelaufen ist, ist die Insolvenzordnung in der bis zum 27. Oktober 2011 geltenden Fa

Zivilprozessordnung - ZPO | § 232 Rechtsbehelfsbelehrung


Jede anfechtbare gerichtliche Entscheidung hat eine Belehrung über das statthafte Rechtsmittel, den Einspruch, den Widerspruch oder die Erinnerung sowie über das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf einzulegen ist, über den Sitz des Gerichts und über di

Referenzen - Urteile

Urteil einreichen

Bundesgerichtshof Beschluss, 11. Apr. 2013 - IX ZB 100/11 zitiert oder wird zitiert von 5 Urteil(en).

Bundesgerichtshof Beschluss, 11. Apr. 2013 - IX ZB 100/11 zitiert 3 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bundesgerichtshof Beschluss, 31. Jan. 2007 - XII ZB 207/06

bei uns veröffentlicht am 31.01.2007

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS XII ZB 207/06 vom 31. Januar 2007 in der Familiensache Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGHR: ja ZPO §§ 234 Abs. 1 B, 236 Abs. 2 Satz 2, 115 Abs. 4 Hat eine anwaltlich vertretene Partei innerhalb der Rechtsmittelf

Bundesgerichtshof Beschluss, 26. März 2009 - V ZB 174/08

bei uns veröffentlicht am 26.03.2009

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS V ZB 174/08 vom 26. März 2009 in der Zwangsversteigerungssache Nachschlagewerk: ja BGHZ: ja BGHR: ja ZVG § 98, ZPO §§ 869, 793 a) Für die gemäß §§ 869, 793 ZPO befristeten Rechtsmittel in Zwangsversteige

Bundesgerichtshof Beschluss, 08. Dez. 2010 - XII ZB 334/10

bei uns veröffentlicht am 08.12.2010

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS XII ZB 334/10 vom 8. Dezember 2010 in dem Rechtsstreit Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGHR: ja ZPO §§ 236 Abs. 2 D, 520 Abs. 2 Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt nach § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO
2 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Bundesgerichtshof Beschluss, 11. Apr. 2013 - IX ZB 100/11.

Bundesgerichtshof Beschluss, 16. Jan. 2018 - VIII ZB 61/17

bei uns veröffentlicht am 16.01.2018

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS VIII ZB 61/17 vom 16. Januar 2018 in dem Rechtsstreit Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGHR: ja GG Art. 2 Abs. 1 (iVm dem Rechtsstaatsprinzip) Aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip

Bundesgerichtshof Beschluss, 26. Juni 2014 - V ZB 187/13

bei uns veröffentlicht am 26.06.2014

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS V ZB 187/13 vom 26. Juni 2014 in dem Rechtsstreit Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. Juni 2014 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, den Richter Dr. Roth, die Richterinnen Dr. Brückner und Weinl

Referenzen

Im Fall der Einstellung des Insolvenzverfahrens kann Restschuldbefreiung nur erteilt werden, wenn nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit die Insolvenzmasse nach § 209 verteilt worden ist und die Einstellung nach § 211 erfolgt.

Für Entscheidungen über die sofortige Beschwerde nach § 6 der Insolvenzordnung, bei denen die Frist des § 575 der Zivilprozessordnung am 27. Oktober 2011 noch nicht abgelaufen ist, ist die Insolvenzordnung in der bis zum 27. Oktober 2011 geltenden Fassung weiter anzuwenden. Für Entscheidungen über die sofortige Beschwerde nach Artikel 102 § 7 Satz 1 des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung gilt Satz 1 entsprechend.

(1) Das Verfahren über den Antrag auf Wiedereinsetzung ist mit dem Verfahren über die nachgeholte Prozesshandlung zu verbinden. Das Gericht kann jedoch das Verfahren zunächst auf die Verhandlung und Entscheidung über den Antrag beschränken.

(2) Auf die Entscheidung über die Zulässigkeit des Antrags und auf die Anfechtung der Entscheidung sind die Vorschriften anzuwenden, die in diesen Beziehungen für die nachgeholte Prozesshandlung gelten. Der Partei, die den Antrag gestellt hat, steht jedoch der Einspruch nicht zu.

(3) Die Wiedereinsetzung ist unanfechtbar.

(4) Die Kosten der Wiedereinsetzung fallen dem Antragsteller zur Last, soweit sie nicht durch einen unbegründeten Widerspruch des Gegners entstanden sind.

(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn

1.
dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder
2.
das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.
§ 542 Abs. 2 gilt entsprechend.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist die Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.

(3) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Der Rechtsbeschwerdegegner kann sich bis zum Ablauf einer Notfrist von einem Monat nach der Zustellung der Begründungsschrift der Rechtsbeschwerde durch Einreichen der Rechtsbeschwerdeanschlussschrift beim Rechtsbeschwerdegericht anschließen, auch wenn er auf die Rechtsbeschwerde verzichtet hat, die Rechtsbeschwerdefrist verstrichen oder die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen worden ist. Die Anschlussbeschwerde ist in der Anschlussschrift zu begründen. Die Anschließung verliert ihre Wirkung, wenn die Rechtsbeschwerde zurückgenommen oder als unzulässig verworfen wird.

Jede anfechtbare gerichtliche Entscheidung hat eine Belehrung über das statthafte Rechtsmittel, den Einspruch, den Widerspruch oder die Erinnerung sowie über das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf einzulegen ist, über den Sitz des Gerichts und über die einzuhaltende Form und Frist zu enthalten. Dies gilt nicht in Verfahren, in denen sich die Parteien durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen müssen, es sei denn, es ist über einen Einspruch oder Widerspruch zu belehren oder die Belehrung ist an einen Zeugen oder Sachverständigen zu richten. Über die Möglichkeit der Sprungrevision muss nicht belehrt werden.

(1) Die Wiedereinsetzung muss innerhalb einer zweiwöchigen Frist beantragt werden. Die Frist beträgt einen Monat, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde einzuhalten.

(2) Die Frist beginnt mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist.

(3) Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist an gerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.

(1) Das Gericht hat das Sach- und Streitverhältnis, soweit erforderlich, mit den Parteien nach der tatsächlichen und rechtlichen Seite zu erörtern und Fragen zu stellen. Es hat dahin zu wirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen, die Beweismittel bezeichnen und die sachdienlichen Anträge stellen. Das Gericht kann durch Maßnahmen der Prozessleitung das Verfahren strukturieren und den Streitstoff abschichten.

(2) Auf einen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, darf das Gericht, soweit nicht nur eine Nebenforderung betroffen ist, seine Entscheidung nur stützen, wenn es darauf hingewiesen und Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. Dasselbe gilt für einen Gesichtspunkt, den das Gericht anders beurteilt als beide Parteien.

(3) Das Gericht hat auf die Bedenken aufmerksam zu machen, die hinsichtlich der von Amts wegen zu berücksichtigenden Punkte bestehen.

(4) Hinweise nach dieser Vorschrift sind so früh wie möglich zu erteilen und aktenkundig zu machen. Ihre Erteilung kann nur durch den Inhalt der Akten bewiesen werden. Gegen den Inhalt der Akten ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

(5) Ist einer Partei eine sofortige Erklärung zu einem gerichtlichen Hinweis nicht möglich, so soll auf ihren Antrag das Gericht eine Frist bestimmen, in der sie die Erklärung in einem Schriftsatz nachbringen kann.

5
1. Die Rechtsbeschwerde ist nicht innerhalb der am 5. Juni 2006 (Montag ) abgelaufenen Rechtsbeschwerdefrist (§ 569 Abs. 1 Satz 1 ZPO) eingelegt worden. Dem Kläger kann insoweit auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Zwar ist einer Partei auch nach Ablehnung eines innerhalb der Frist für die versäumte Prozesshandlung angebrachten vollständigen Prozesskostenhilfegesuchs Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren , wenn sie vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung ihres Gesuchs rechnen musste. Diese Voraussetzung war jedoch spätestens in dem Zeitpunkt entfallen , in dem der Rechtspfleger beim Bundesgerichtshof dem anwaltlich vertretenen Kläger - unter eingehender Darlegung des Zahlenmaterials - mitgeteilt hatte , dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe gemäß § 115 Abs. 4 ZPO nicht vorlägen. Jedenfalls nach dieser seinem Prozessbevollmächtigten am 21. September 2006 zugegangenen Mitteilung durfte der Kläger nicht mehr davon ausgehen, dass seinem Prozesskostenhilfegesuch entsprochen werde. Daran ändert auch der Hinweis der Rechtsbeschwerde nichts, dass § 115 Abs. 4 ZPO rechtspolitisch umstritten sei. Der Kläger durfte insbesondere nicht zuwarten, bis der Senat sein Prozesskostenhilfegesuch - mit der bereits vom Rechtspfleger gegebenen und jedenfalls für seinen Prozessbevollmächtigten ohne weiteres nachvollziehbaren - Begründung ablehnen würde. Vielmehr hätte der anwaltlich vertretene Kläger binnen der bereits mit dem ausführlich begründeten Bescheid des Rechtspflegers beginnenden 14-Tage-Frist (§ 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO) auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand antragen und die versäumte Rechtsbeschwerde nachholen müssen. Das ist indes nicht geschehen. Der Kläger hat vielmehr erst am 7. November 2006 - mithin nach Ablauf der am 21. September 2006 beginnenden 14tägigen Wiedereinsetzungsfrist - die Wiedereinsetzung in die Rechtsbeschwerdefrist beantragt und die Rechtsbeschwerde durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Anwalt eingelegt. Das Wiedereinsetzungsgesuch ist deshalb ohne Erfolg und die Rechtsbeschwerde unzulässig.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
XII ZB 334/10
vom
8. Dezember 2010
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
ZPO §§ 236 Abs. 2 D, 520 Abs. 2
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt nach § 236 Abs. 2 Satz 2
ZPO von Amts wegen nur dann in Betracht, wenn die unverschuldete Fristversäumung
offensichtlich oder innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist glaubhaft gemacht
ist.
BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2010 - XII ZB 334/10 - KG Berlin
LG Berlin
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. Dezember 2010 durch die
Vorsitzende Richterin Dr. Hahne und die Richter Weber-Monecke,
Prof. Dr. Wagenitz, Dose und Dr. Günter

beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 8. Zivilsenats des Kammergerichts in Berlin vom 10. Juni 2010 wird auf Kosten der Beklagten verworfen. Beschwerdewert: 14.280 €

Gründe:


I.

1
Das landgerichtliche Urteil wurde der Beklagten am 15. April 2010 zugestellt. Am 14. Mai 2010 ging die an das Landgericht gerichtete Berufung der Beklagten dort ein. Nach Vorlage an die Einzelrichterin verfügte diese am 18. Mai 2010 die sofortige Weiterleitung des Schriftsatzes an das Kammergericht als zuständigem Berufungsgericht und informierte den Prozessbevollmächtigten der Beklagten telefonisch von der Weiterleitung. Am 18. Mai 2010 ging eine weitere Berufung der Beklagten mit einem Wiedereinsetzungsantrag und dessen Begründung beim Kammergericht ein.
2
Das Kammergericht hat den Antrag der Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist zurückgewiesen und die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beklagten.

II.

3
Die Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist jedoch nicht zulässig, weil es an den Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO fehlt. Denn eine Entscheidung des Beschwerdegerichts ist entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache oder zur Fortbildung des Rechts erforderlich.
4
1. Dabei kann dahinstehen, ob die Beklagte die Berufungsfrist schuldhaft versäumt und das Berufungsgericht ihr deswegen zu Recht die begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt hat.
5
Denn das Berufungsgericht hat die Berufung jedenfalls deswegen zu Recht als unzulässig verworfen, weil sie nicht innerhalb der Frist des § 520 Abs. 2 ZPO begründet wurde. Das angefochtene Urteil des Landgerichts ist der Beklagten am 15. April 2010 zugestellt worden. Nach § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO beträgt die Frist für die Berufungsbegründung zwei Monate ab Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils. Sie war hier folglich am 15. Juni 2010 (Dienstag) abgelaufen. Innerhalb dieser Frist hat die Beklagte ihre Berufung weder begründet noch die Verlängerung dieser Frist nach § 520 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO beantragt. Ein Verlängerungsantrag der Beklagten hinsichtlich der Berufungsbegründungsfrist ist erst mit dem am gleichen Tag eingegangenen Schriftsatz vom 17. Juni 2010 (Donnerstag), also verspätet, eingegangen.
6
2. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist kommt nicht in Betracht. Die Beklagte hat dies weder nach § 236 Abs. 1 ZPO beantragt, noch kann die Wiedereinsetzung nach § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO von Amts wegen erfolgen.
7
Denn der Prozessbevollmächtigte der Beklagten hat entgegen § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO innerhalb der einmonatigen Frist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO weder die eine Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen vorgetragen und glaubhaft gemacht, noch sind diese sonst offensichtlich. Bei Unterzeichnung seines Gesuchs um Fristverlängerung vom 17. Juni 2010 war er verpflichtet , den Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist eigenständig zu prüfen (Senatsbeschluss vom 11. Februar 2004 - XII ZB 263/03 - FamRZ 2004, 696). Dabei hätte er erkennen müssen, dass die Berufungsfrist nicht wie nach früherem Prozessrecht einen Monat nach Ablauf der Berufungsfrist, sondern gemäß § 520 Abs. 2 ZPO nach Ablauf von zwei Monaten seit Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, also am 15. Juni 2010, abgelaufen war. Er hätte deswegen innerhalb eines Monats, spätestens am 17. Juli 2010, Tatsachen vortragen müssen, die auch diese Fristversäumung als unverschuldet darstellen. Dem ist die Beklagte auch in der Folgezeit nicht nachgekommen.
8
3. Weil die Beklagte ihre Berufung jedenfalls nicht fristgerecht begründet hat, hat das Oberlandesgericht sie zu Recht als unzulässig verworfen. Einer Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist bedarf es danach nicht mehr.
Hahne Weber-Monecke Wagenitz Dose Günter

Vorinstanzen:
LG Berlin, Entscheidung vom 13.04.2010 - 25 O 505/09 -
KG Berlin, Entscheidung vom 10.06.2010 - 8 U 55/10 -

(1) Die Wiedereinsetzung muss innerhalb einer zweiwöchigen Frist beantragt werden. Die Frist beträgt einen Monat, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde einzuhalten.

(2) Die Frist beginnt mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist.

(3) Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist an gerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.

21
b) Unterbleibt die von Verfassungs wegen gebotene Rechtsmittelbelehrung , kommt dem Betroffenen - entsprechend dem Rechtsgedanken aus § 44 Satz 2 StPO - die unwiderlegliche Vermutung zugute, dass ihn an der Versäumung der Rechtsmittelfrist kein Verschulden trifft, sofern der Belehrungsmangel für die Versäumung der Rechtsmittelfrist ursächlich geworden ist (Senat, Beschl. v. 28. Februar 2008, V ZB 107/07, NJW-RR 2008, 1084, 1085; ferner BGHZ 150, 390, 397 ff. zu § 43 WEG a.F.). Für die Ursächlichkeit spricht bei einem nicht anwaltlich vertretenen Beteiligten eine tatsächliche Vermutung.

(1) Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Für die grenzüberschreitende Prozesskostenhilfe innerhalb der Europäischen Union gelten ergänzend die §§ 1076 bis 1078.

(2) Mutwillig ist die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung, wenn eine Partei, die keine Prozesskostenhilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände von der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung absehen würde, obwohl eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht.

(1) Die Partei hat ihr Einkommen einzusetzen. Zum Einkommen gehören alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert. Von ihm sind abzusetzen:

1.
a)
die in § 82 Abs. 2 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch bezeichneten Beträge;
b)
bei Parteien, die ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielen, ein Betrag in Höhe von 50 vom Hundert des Regelsatzes, der für den alleinstehenden oder alleinerziehenden Leistungsberechtigten vom Bund gemäß der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch festgesetzt oder fortgeschrieben worden ist;
2.
a)
für die Partei und ihren Ehegatten oder ihren Lebenspartner jeweils ein Betrag in Höhe des um 10 vom Hundert erhöhten Regelsatzes, der für den alleinstehenden oder alleinerziehenden Leistungsberechtigten vom Bund gemäß der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch festgesetzt oder fortgeschrieben worden ist;
b)
bei weiteren Unterhaltsleistungen auf Grund gesetzlicher Unterhaltspflicht für jede unterhaltsberechtigte Person jeweils ein Betrag in Höhe des um 10 vom Hundert erhöhten Regelsatzes, der für eine Person ihres Alters vom Bund gemäß den Regelbedarfsstufen 3 bis 6 nach der Anlage zu § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch festgesetzt oder fortgeschrieben worden ist;
3.
die Kosten der Unterkunft und Heizung, soweit sie nicht in einem auffälligen Missverhältnis zu den Lebensverhältnissen der Partei stehen;
4.
Mehrbedarfe nach § 21 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und nach § 30 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch;
5.
weitere Beträge, soweit dies mit Rücksicht auf besondere Belastungen angemessen ist; § 1610a des Bürgerlichen Gesetzbuchs gilt entsprechend.
Maßgeblich sind die Beträge, die zum Zeitpunkt der Bewilligung der Prozesskostenhilfe gelten. Soweit am Wohnsitz der Partei aufgrund einer Neufestsetzung oder Fortschreibung nach § 29 Absatz 2 bis 4 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch höhere Regelsätze gelten, sind diese heranzuziehen. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz gibt bei jeder Neufestsetzung oder jeder Fortschreibung die maßgebenden Beträge nach Satz 3 Nummer 1 Buchstabe b und Nummer 2 und nach Satz 5 im Bundesgesetzblatt bekannt. Diese Beträge sind, soweit sie nicht volle Euro ergeben, bis zu 0,49 Euro abzurunden und von 0,50 Euro an aufzurunden. Die Unterhaltsfreibeträge nach Satz 3 Nr. 2 vermindern sich um eigenes Einkommen der unterhaltsberechtigten Person. Wird eine Geldrente gezahlt, so ist sie an Stelle des Freibetrages abzusetzen, soweit dies angemessen ist.

(2) Von dem nach den Abzügen verbleibenden Teil des monatlichen Einkommens (einzusetzendes Einkommen) sind Monatsraten in Höhe der Hälfte des einzusetzenden Einkommens festzusetzen; die Monatsraten sind auf volle Euro abzurunden. Beträgt die Höhe einer Monatsrate weniger als 10 Euro, ist von der Festsetzung von Monatsraten abzusehen. Bei einem einzusetzenden Einkommen von mehr als 600 Euro beträgt die Monatsrate 300 Euro zuzüglich des Teils des einzusetzenden Einkommens, der 600 Euro übersteigt. Unabhängig von der Zahl der Rechtszüge sind höchstens 48 Monatsraten aufzubringen.

(3) Die Partei hat ihr Vermögen einzusetzen, soweit dies zumutbar ist. § 90 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch gilt entsprechend.

(4) Prozesskostenhilfe wird nicht bewilligt, wenn die Kosten der Prozessführung der Partei vier Monatsraten und die aus dem Vermögen aufzubringenden Teilbeträge voraussichtlich nicht übersteigen.

(1) Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe erfolgt für jeden Rechtszug besonders. In einem höheren Rechtszug ist nicht zu prüfen, ob die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint, wenn der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat.

(2) Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Zwangsvollstreckung in das bewegliche Vermögen umfasst alle Vollstreckungshandlungen im Bezirk des Vollstreckungsgerichts einschließlich des Verfahrens auf Abgabe der Vermögensauskunft und der eidesstattlichen Versicherung.