Entziehung Minderjähriger

erstmalig veröffentlicht: 30.06.2010, letzte Fassung: 05.03.2024
beiRechtsanwalt Dirk Streifler - Partner

Der Tatbestand des § 235 StGB dient neben dem Schutz des Personensorgerechts auch unmittelbar dem Schutz der entzogenen Person in ihrer körperlichen und seelischen Integrität. Da der Schutz des Kindes bzw. des Jugendlichen aber nur neben dem familienrechtlichen Sorgerecht steht, vermag eine Einwilligung des Minderjährigen die Tat nicht zu rechtfertigen. Das Schutzalter dieser Norm liegt grundsätzlich bei 18 Jahren.

I.    Geschützte Personen

Bei den geschützten Personen ist zwischen dem Objekt der Entziehung und den davon betroffenen Schutzpersonen zu unterscheiden:


1.    Objekt der Entziehung

Gemäß § 235 Abs. 1 Nr. 2 StGB kann Tatobjekt der Entziehung (ohne Verwendung von Zwangsmitteln) nur ein Kind bis zu 14 Jahren durch einen „nicht“ verwandten Dritten sein. Im Übrigen kann jeder Minderjährige unter 18 Jahren als Entziehungsopfer von Angehörigen oder Dritten in Betracht kommen.

2.    Durch Entziehung betroffene Schutzperson
Hier kommen sie als Eltern bzw. Elternteil, als Vormund oder als Pfleger des Entzogenen in Betracht. Diese Aufzählung ist abschließend, somit fallen beispielsweise die Großeltern und Geschwister nicht unter den Begriff der Schutzpersonen. Zu den Eltern (§§1626 ff. BGB) gehören sowohl die leiblichen als auch die Adoptiveltern. Wie nunmehr gesetzlich klargestellt ist, sind sie als Eltern nicht nur gemeinschaftlich, sondern jeweils als Elternteil geschützt, so dass die Tat auch zwischen Eltern begangen werden kann. Dies gilt auch gegenüber demjenigen Elternteil, dem lediglich ein persönliches Umgangsrecht zusteht. Vormund und Pfleger sind die Personen, die nach den Vorschriften des §§ 1773 ff., 1909 ff. BGB dazu bestellt sind.


II.    Tathandlungen des § 235 Abs. 1 StGB

Die Tathandlung besteht im Abs. 1 im „Entziehen“ oder „Vorenthalten“. Ein „Entziehen“ liegt dann vor, wenn sie in der Ausübung des Elternrechts in seinem wesentlichen Inhalt beeinträchtigt werden. Für die Beeinträchtigung muss eine „räumliche Trennung“ des Minderjährigen vom Sorgeberechtigten erfolgen. Zudem ist eine „gewisse Dauer“ der Entziehung erforderlich (BGH, Urteil vom 07.03.1996 - 4 StR 35/96). Das bloße Überziehen bei der Wahrnehmung eines Umgangsrechts reicht nicht aus, um von einer Entziehung zu sprechen. Der Grad der Fürsorgebedürftigkeit des Kindes kann für die Beurteilung, ob eine Entziehung vorliegt, von Bedeutung sein. Hier spielt insbesondere das Alter des Kindes eine Rolle, aber auch Krankheiten können entscheidender Faktor sein.

Für die Tatalternative der „Vorenthaltung“ ist erforderlich, dass der Täter die Herausgabe des Kindes erschwert, indem er beispielsweise den Aufenthaltsort des Kindes vor ihnen verheimlicht.

Als Tatmittel des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB wird Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel oder List vorausgesetzt. Das Tatmittel kann gegenüber dem Entziehungsopfer selbst als auch gegenüber dem Sorgeberechtigten oder einem Dritten angewandt werden.

Opfer der Entziehung kann jeder Minderjährige im Alter von bis zu 18 Jahren sein.

Täter kann jedermann sein. Es kommen also Dritte, aber auch die Eltern selbst in Betracht

Die Tatbestandsalternative des § 235 Abs. 1 Nr. 2 StGB setzt für das Entziehen oder Vorenthalten eines Minderjährigen kein bestimmtes Tatmittel voraus. Da die meisten zur Anzeige gebrachten Fälle auf Streitigkeiten geschiedener oder getrennt lebender Eltern um das gemeinsame Kind zurückzuführen sind, war es nötig, den Tatbestand einzuschränken. Zum einen durch die Begrenzung des Schutzes von Kindern bis zu einem Alter von 14 Jahren, da bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren gegen ein Entziehen ohne Anwendung von Täuschung– oder Zwangsmitteln kein besonderes Strafbedürfnis zu erkennen ist. Ferner ergibt sich in täterschaftlicher Hinsicht eine Eingrenzung dahingehend, dass sich nur „nicht“ verwandte Dritte der Entziehung des Kindes strafbar machen können.

III.    Tathandlungen des § 235 Abs. 2 StGB

Mit den neu eingefügten Tathandlungen des § 235 Absatz 2 StGB sollen die Auslandsentführungen verhindert werden.

Im Falle einer „aktiven“ Entführung im Sinne von § 235 Abs. 2 Nr. 1 StGB muss das Kind entzogen werden. Ob im In- oder Ausland spielt hier noch keine Rolle, die Verbringung ins Ausland muss vom Täter lediglich beabsichtigt sein.

Im Falle der „passiven“ Entführung, d.h. der Vorenthaltung nach § 235 Abs.2 Nr. 2 StGB, befindet sich das Entziehungsopfer bereits im Ausland, gleichgültig, ob es durch ihr Einverständnis als Sorgeberechtigten oder auf strafbare Weise dorthin verbracht wurde.

Tatmittel wie Gewalt, Drohung oder List ist in beiden Fallgruppen des Absatz 2 nicht erforderlich. Es genügt das schlichte Vorenthalten des Kindes.

Entziehungsopfer können hier allerdings nur Kinder bis zu 14 Jahren sein. Da die Auslandsentführung häufig zwischen dem sorgeberechtigten Elternteil und dem nur Umgangsberechtigten Elternteil verwirklicht wird, kommen als Täter neben außenstehenden Dritten auch Angehörige des Kindes in Betracht.

Auch die Tatbegehung im Ausland ist strafbar. Das Entziehungsopfer selbst oder die sorgeberechtigte Person müssen allerdings ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründen.

IV.    Vollendung der Tat

Entziehen: Die Tat ist vollendet, sobald zwischen dem Minderjährigen und seiner Schutzperson eine räumliche Trennung von erheblicher Dauer herbeigeführt wurde.

Vorenthalten: Bei der Variante des Vorenthaltens kommt es auf die erforderliche Erschwerung der Rückkehr der entzogenen Person an.

Der Versuch ist auch in nicht qualifizierten Fällen strafbar gemäß § 235 Abs. 3 StGB. Hierdurch soll erreicht werden, dass Ermittlungen bereits vor der Tatvollendung aufgenommen werden können, um die Ausreise des Kindes rechtzeitig zu verhindern.

V.    Qualifikation des § 235 StGB

Die Entziehung Minderjähriger wird in § 235 Abs. 4 StGB durch zwei Varianten zu einem Verbrechen im Sinne von § 12 StGB qualifiziert.

§ 235 Abs. 4 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass der Täter das Opfer bzw. den entzogenen Minderjährigen durch die Tat in die Gefahr des Todes, einer schweren Gesundheitsschädigung oder einer erheblichen Schädigung der körperlichen und seelischen Entwicklung bringt. Demnach ist es erforderlich, dass der Täter durch die Tat zumindest bedingt vorsätzlich eine konkrete Gefahr für das Opfer herbeiführt (BGH vom 9. 2. 2006 - 5 StR 564/05).

§ 235 Abs. 4 Nr. 2 StGB hingegen setzt voraus, dass der Täter die Tat gegen Entgelt oder in Bereicherungsabsicht für sich oder einen Dritten begeht. (BGH  vom 14. 7. 2010 - 2 StR 104/10).

Es ist nicht erforderlich, dass die Bereicherung als solche rechtswidrig ist. Vermögensvorteile, die an den Aufenthaltsort des Minderjährigen selbst anknüpfen wie beispielsweise Unterhaltszahlungen sind ausreichend, um die Tat zu einem Verbrechen im Sinne von § 12 StGB zu qualifizieren.

VI.    Erfolgsqualifikation des § 235 StGB

Führt der Täter durch die Tat den Tod des Opfers herbei, ist § 235 Abs. 5 StGB einschlägig. Der Täter muss nach den allgemeinen Grundsätzen im Sinne von § 18 StGB zumindest fahrlässig handeln.

VII.    Regelstrafe und Strafschärfung

§ 235 StGB sieht als Regelstrafe eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vor.

In § 235 Abs.4 Nr.1 StGB wird eine Freiheitsstrafe von einem bis zehn Jahren angedroht, selbes gilt für die Qualifikation in § 235 Abs.4 Nr. 2 StGB.

Eine weitere Strafschärfung mit einer Mindeststrafe von drei Jahren ist in § 235 Abs. 5 StGB für den Fall vorgesehen, dass der Täter durch die Tat den Tod des Opfers verursacht. Hinsichtlich der Todesherbeiführung genügt Fahrlässigkeit, wobei diese in der Entziehung oder dem Vorenthalten liegen muss.

VIII.    Antragsdelikt

Durch § 235 Abs.7 StGB wurde die Entziehung Minderjähriger in ein relatives Antragsdelikt umgestaltet. Dadurch ist nun die Verfolgung einer Tat nach den Absätzen 1 bis 3 nicht nur auf Antrag, sondern auch von Amts wegen möglich, wenn die Staatsanwaltschaft ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bejaht und daher eine Strafverfolgung für geboten erachtet. Ein besonderes öffentliches Interesse ist nach dem Willen des Gesetzgebers z.B. dann anzunehmen, wenn es sich um einen vorbestraften Täter handelt.

Die Qualifikationstatbestände der Absätze 4 und 5 sind als Verbrechen im Sinne von § 12 Abs. 1 StGB sogenannte Offizialdelikte. Hier ist die Staatsanwaltschaft ohne Rücksicht auf den Willen des Geschädigten verpflichtet die Strafverfolgung einzuleiten.

In Absatz 7 ist nicht geregelt, welcher Personenkreis berechtigt ist Strafantrag zu stellen. Demnach sind nach § 77 Abs.1 StGB die aus der Tat Verletzten antragsberechtigt. Zum einen ist dies der Inhaber des Personensorgerechts selbst, aber auch der gesetzliche Vertreter in persönlichen Angelegenheiten sowie der der Personensorgeberechtigte in Vertretung.

Sind mehrere Personen von der Straftat betroffen, da die gesetzliche Vertretung und die Personensorge nebeneinander ausgeübt wird oder sind durch die Tat mehrere Sorgeberechtigte verletzt, so kann jeder aus seinem eigenen Recht selbständig den Antrag im Sinne von § 77 Abs.4 StGB stellen. Dies gilt z.B. dann, wenn sie selbst als Elternteil das Sorgerecht innehaben und dem anderen Elternteil lediglich das persönliche Umgangsrecht zusteht.

Die Anzeige einer Straftat und der Strafantrag können bei der Staatsanwaltschaft, den Behörden und Beamten des Polizeidienstes und den Amtsgerichten mündlich oder schriftlich gemäß § 158 Abs.2 StPO angebracht werden. Ein Telefonanruf genügt jedoch nicht (BGH vom 24.03.1971 – 2 StR 63/71).

Die Frist für den Strafantrag richtet sich nach § 77b StGB und beträgt drei Monate. Der Lauf der Frist beginnt mit Beendigung der Tat, d.h. mit dem Ende der Entzeihung oder Vorenthaltung des Kindes oder Jugendlichen.

Gemäß § 77d StGB kann der Antrag zurückgenommen werden.

 

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