Urteils-Kommentar zu Bundesverwaltungsgericht Urteil, 26. März 2025 - 6 C 6/23 von ra.de Redaktion

originally published: 12.09.2025 15:42, updated: 12.09.2025 15:48
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Bundesverwaltungsgericht Urteil, 26. März 2025 - 6 C 6/23

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Urteilskommentar zum BVerwG, Urt. v. 26.03.2025 – 6 C 6/23

Parlamentsbeschlüsse und Rechtsschutz – Zur Abgrenzung verfassungsrechtlicher und verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten


I. Einleitung

Das Urteil des 6. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. März 2025 markiert einen Wendepunkt in der Dogmatik des Verwaltungsprozessrechts. Die Leipziger Richter haben die jahrzehntelang in Rechtsprechung und Literatur vertretene Theorie der „doppelten Verfassungsunmittelbarkeit“ aufgegeben. Entscheidend ist nicht mehr, ob ausschließlich Verfassungsorgane beteiligt sind, sondern ob im Kern eine staatsorganisationsrechtliche Kompetenzfrage eines Verfassungsorgans zur Entscheidung steht. Damit verengt sich der Zugang zum Verwaltungsrechtsweg in Streitigkeiten über schlichte Parlamentsbeschlüsse erheblich.

II. Sachverhalt und Verfahrensgang

Ausgangspunkt war die sog. BDS-Resolution des Deutschen Bundestags vom 17. Mai 2019 („Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“, BT-Drs. 19/10191). Sie wertete die Argumentationsmuster der BDS-Bewegung als antisemitisch und forderte Bund, Länder und Kommunen auf, ihr keine Räume oder Fördermittel bereitzustellen.
Drei Aktivisten („BT3P“) klagten auf Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Resolution. Sie sahen sich in ihrer Meinungsfreiheit sowie mittelbar in der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit beeinträchtigt.

  • VG Berlin (2021): sah den Verwaltungsrechtsweg zunächst als eröffnet an, wies die Klage aber im Ergebnis ab.

  • OVG Berlin-Brandenburg (2023): verneinte die Zulässigkeit der Klage mit der Begründung, es handele sich um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit.

  • BVerwG (2025): bestätigte diese Sicht in letzter Instanz.


III. Rechtliche Würdigung

1. Maßgebliche Norm

Zentral ist § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO:

„Der Verwaltungsrechtsweg ist in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art eröffnet …“

Damit hängt die Rechtswegfrage an der negativen Voraussetzung „nichtverfassungsrechtlicher Art“.

2. Aufgabe der Theorie der „doppelten Verfassungsunmittelbarkeit“

Bislang wurde verlangt, dass

  1. ausschließlich Verfassungsorgane beteiligt sind und

  2. die Streitigkeit ihre Grundlage unmittelbar im Verfassungsrecht hat.

Nur dann wurde ein Verfahren als „verfassungsrechtlicher Art“ eingeordnet. Diese restriktive Sicht wurde vielfach kritisiert, weil sie einen großen Bereich des staatlichen Handelns den Verwaltungsgerichten unterstellte, obwohl der Bezug zur Verfassungsordnung evident war.

Das BVerwG verabschiedet sich hiervon:

Maßgeblich sei, „ob im Kern das staatsorganisationsrechtliche Können, Dürfen oder Müssen eines Verfassungsorgans verhandelt wird“ (BVerwG, Urt. v. 26.03.2025 – 6 C 6.23, juris Rn. 28).

Damit wird der funktionale Charakter des Handelns betont, nicht die personelle Beteiligung.

3. Anwendung auf Parlamentsresolutionen

Eine schlichte Parlamentsresolution ist keine Verwaltungsmaßnahme, sondern eine politische Willensbekundung des Bundestages in Ausübung seiner verfassungsrechtlichen Stellung. Sie unterscheidet sich grundlegend vom exekutiven Informationshandeln (Appelle, Warnungen, Pressemitteilungen von Regierungen), das verwaltungsgerichtlich überprüfbar ist.

Folge: Betroffene müssen direkt vor das Bundesverfassungsgericht (oder die jeweiligen Landesverfassungsgerichte bei Landtagsbeschlüssen) ziehen.

4. Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG)

Ein möglicher Einwand lautete: Wird der Verwaltungsrechtsweg versperrt, könne dies einen Verstoß gegen die Rechtsschutzgarantie bedeuten.
Das BVerwG verneint dies: Eine Verfassungsbeschwerde sei ausreichend, da bei schlichten Parlamentsbeschlüssen ohnehin nur Verfassungsrecht Prüfungsmaßstab sein könne.

Meinung: Diese Argumentation ist dogmatisch sauber, praktisch aber problematisch. Die Hürden der Verfassungsbeschwerde (Beschwerdebefugnis, Subsidiarität, Frist) sind hoch; die Möglichkeit einer konkreten Überprüfung durch Fachgerichte entfällt.


IV. Kritische Würdigung

1. Richtigkeit der Entscheidung

Das Urteil überzeugt insoweit, als es die besondere verfassungsrechtliche Stellung parlamentarischer Beschlüsse hervorhebt. Es vermeidet eine Vermischung von politischem Willensbildungsakt und rechtsverbindlichem Verwaltungshandeln.
Die Abgrenzung zum exekutiven Informationshandeln ist sachgerecht: Eine Resolution repräsentiert den Willen des gesamten Parlaments und besitzt allein dadurch eine verfassungsrechtliche Qualität.

2. Problemkreise und abweichende Auffassungen

  • Informationshandeln der Exekutive: Teile der Literatur wollten Parlamentsresolutionen wie Regierungsappelle behandeln. Das VG Berlin hatte dem zunächst zugestimmt.

  • Art. 19 Abs. 4 GG: Kritiker sehen eine Aushöhlung der Rechtsschutzgarantie, da faktisch kaum eine Verfassungsbeschwerde gegen Resolutionen Erfolg haben dürfte.

  • Verfassungsprozessuale Alternativen: Unklar bleibt, ob neben der Verfassungsbeschwerde auch Organstreitverfahren oder abstrakte Normenkontrolle eröffnet sein könnten. Da Einzelpersonen hierfür nicht antragsbefugt sind, entsteht eine Rechtsschutzlücke.

  • Abgrenzungsschwierigkeiten: Künftige Fälle könnten unklar bleiben, etwa wenn parlamentarische Beschlüsse zwar formal als Resolution auftreten, aber faktisch verbindliche Rechtsfolgen auslösen (z. B. Haushaltsbeschlüsse, Ressourcenzuweisungen).

3. Verhältnis zu früherer Rechtsprechung

  • BVerwG 2022 (8 C 9.21): Dort hatte das Gericht Raumverbote gegen BDS-Anhänger als Eingriff in die Meinungsfreiheit verurteilt. Der Unterschied: Es ging um eine konkrete Verwaltungspraxis, nicht um eine parlamentarische Willensäußerung.

  • BVerfG st. Rspr. zu Art. 19 Abs. 4 GG: Das BVerwG folgt der Linie, dass es keine umfassende „Vollüberprüfung“ jeder staatlichen Handlung geben muss, solange eine gerichtliche Instanz für die Geltendmachung von Grundrechtsverletzungen existiert.


V. Bedeutung für Praxis und Wissenschaft

  1. Prozessrechtlich:

    • Verwaltungsgerichte sind künftig bei Klagen gegen Parlamentsresolutionen nicht zuständig.

    • Betroffene müssen den Weg der Verfassungsbeschwerde wählen – mit allen Zulässigkeitshürden.

  2. Politisch-rechtlich:

    • Parlamentsresolutionen werden als „unverbindliche Meinungsäußerungen“ gestärkt, die praktisch kaum angreifbar sind.

    • Politische Minderheiten oder NGOs haben es schwerer, solche Beschlüsse gerichtlich überprüfen zu lassen.

  3. Dogmatisch:

    • Die Abkehr von der „doppelten Verfassungsunmittelbarkeit“ zugunsten einer funktionalen Betrachtung prägt künftig die Auslegung von § 40 VwGO.

    • Ob dies zu mehr Klarheit oder zu neuen Abgrenzungsproblemen führt, bleibt abzuwarten.


VI. Fazit

Das BVerwG-Urteil 6 C 6.23 ist ein Weichensteller:

  • Richtig ist, dass schlichte Parlamentsbeschlüsse keine Verwaltungsakte darstellen und damit nicht der Fachgerichtsbarkeit unterliegen.

  • Fraglich bleibt jedoch, ob die faktische Beschränkung des Rechtsschutzes durch die Verweisung auf das BVerfG mit Art. 19 Abs. 4 GG in der Praxis vereinbar ist.

  • Abweichende Meinungen betonen die Nähe zu exekutivem Informationshandeln und warnen vor einer Schutzlücke.

Lehre: Wer gegen Parlamentsbeschlüsse vorgehen will, muss künftig verfassungsprozessuale Wege beschreiten. Die Entscheidung verschiebt die Gewichte im Spannungsfeld von Demokratie, Rechtsschutz und Gewaltenteilung – zugunsten der politischen Eigenständigkeit des Parlaments.

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