Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 30. August 2011 und des Widerspruchsbescheides vom 10. August 2012 verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU zu erteilen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 1/4 und die Beklagte zu 3/4.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die (rückwirkende) Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern.

2

Der Kläger wurde am 10. Januar 1996 in Ecuador geboren und ist ecuadorianischer Staatsangehöriger. Seine Mutter … ist ebenfalls ecuadorianische Staatsangehörige und hat ein weiteres Kind, den Halbbruder des Klägers, der 2007 geboren wurde und spanischer Staatsangehöriger ist. Die Mutter des Klägers reiste mit ihrem Ehemann - dem Stiefvater des Klägers - und dem Halbbruder des Klägers am 15. März 2009 ins Bundesgebiet ein. Am 8. Juni 2009 beantragten der Halbbruder, die Mutter und der Stiefvater des Klägers die Ausstellung einer Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht gemäß § 5 Abs. 1 FreizügG/EU a.F. (Halbbruder) bzw. einer Aufenthaltskarte gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU a.F. (Mutter und Stiefvater). Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 9. Dezember 2009 ab, da keine ausreichenden Existenzmittel und kein ausreichender Krankenversicherungsschutz vorlägen. Dagegen legten der Halbbruder, die Mutter und der Stiefvater des Klägers im Dezember 2009 Widerspruch ein. Mit Vergleich vom 12. Mai 2010 erteilte die Beklagte die beantragte Aufenthaltsbescheinigung sowie die beantragten Aufenthaltskarten und der Widerspruch wurde zurückgenommen.

3

Der Kläger reiste im Februar 2011 mit einem Schengen-Besuchsvisum in das Bundesgebiet ein und stellte am 13. April 2011 einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 2 FreizügG/EU a.F. Zur Begründung trug er vor, dass er mit seinem spanischen Halbbruder, seiner Mutter und seinem Stiefvater in einer häuslichen Gemeinschaft lebe. Die Mutter übe das alleinige Sorgerecht aus. Der Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltskarte folge aus dem Unionsrecht bzw. in Auslegung und Anwendung des § 3 Abs. 1 und Abs. 2 FreizügG/EU. Eine Verweigerung des Aufenthaltsrechts für den Kläger würde zur Folge haben, dass seine Mutter gezwungen werde, das Unionsgebiet zu verlassen. Dies wäre europarechtswidrig. Dem Antrag hatte der Kläger eine Übersetzung u.a. der Sorgerechtsübertragung des Kinder- und Jugendgerichts in Ecuador vom 27. Januar 2011 beigefügt. Daraus ergibt sich, dass das Sorgerecht von dem in Ecuador lebenden Vater auf die in Deutschland lebende Mutter des Klägers übertragen werde, um dem Kläger die besseren Lebensbedingungen in Deutschland in wirtschaftlicher Hinsicht zu ermöglichen und weil der Kläger auf diese Weise seine Ausbildung verwirklichen könne. Weiterhin solle dem Kläger ermöglicht werden, alle Sozialleistungen, die ihm in Deutschland zustünden, zu erhalten.

4

Mit Bescheid vom 30. August 2011 lehnte die Beklagte die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU sowie einen Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz ab. Zur Begründung führte sie aus, dass der Kläger als Halbbruder eines spanischen Staatsangehörigen nicht zu den vom Freizügigkeitsgesetz begünstigten Familienangehörigen von Unionsbürgern zähle und daher kein Aufenthaltsrecht ableiten könne. Auch die Einreise ohne das entsprechende Visum in das Bundesgebiet (§ 2 Abs. 4 FreizügG/EU), stehe einem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltskarte entgegen. Eine Aufenthaltserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz könne nicht erteilt werden, da die Voraussetzungen nach § 5 AufenthG nicht erfüllt seien.

5

Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Er trug ergänzend vor, dass ein fehlendes Visum nicht zur Verweigerung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts führen dürfe. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe nämlich entschieden, dass die Mitgliedstaaten keine Regelungsbefugnis hätte, um den Nachzug von drittstaatsangehörigen Familienangehörigen zu regeln. Er sei Bruder eines spanischen Kindes und habe die gleiche Mutter wie dieser. Er falle damit unter den Familienbegriff des Art. 8 EMRK, Art. 7 Grundrechtscharta und Art. 6 Abs. 1 EUV. Selbst wenn der Kläger nicht unter den Familienangehörigenbegriff falle, bestehe dennoch ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht. Denn der EuGH habe neben dem Anwendungsbereich der Freizügigkeitsrichtlinie weitere aufenthaltsrechtliche Konstellationen anerkannt.

6

Mit Widerspruchsbescheid vom 10. August 2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie führte ergänzend aus, dass auch die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 (Freizügigkeitsrichtlinie) zur erleichterten Gewährung von Aufenthaltstiteln für nicht freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige nicht erfüllt seien. Darüber hinaus habe der Kläger keine ausreichenden Existenzmittel nachgewiesen. Die Mutter als einzige nach dem Aufenthaltsgesetz Unterhaltsverpflichtete in Deutschland habe derzeit keine Einkünfte. Der Stiefvater des Klägers sei ihm gegenüber nicht unterhaltspflichtig, so dass dessen Einkünfte nicht zur Existenzsicherung des Klägers herangezogen werden könnten. Weiterhin liege kein außergewöhnlicher Härtefall i.S.d. § 36 Abs. 2 AufenthG vor. Weder die Mutter noch der Halbbruder seien auf die Anwesenheit des Klägers im Bundesgebiet angewiesen. Dieser habe bis zu seiner Einreise bei seinem leiblichen Vater in Ecuador gelebt und sei dort aufgewachsen und sozialisiert worden. Die Übertragung des Sorgerechts auf die Mutter sei offensichtlich allein aus wirtschaftlichen Gründen erfolgt. Demnach könne das Sorgerecht jederzeit wieder auf den Vater rückübertragen werden, wenn der Kläger in sein Heimatland zurückkehre.

7

Dagegen hat der Kläger am 13. August 2012 Klage erhoben. Zur Begründung führt er ergänzend aus, dass die Übertragung des Sorgerechts eine höchstpersönliche Entscheidung sei, die sich am Kindeswohl und nicht am Willen der Beklagten zu orientieren habe. Des Weiteren gehöre der Stiefvater zur Bedarfsgemeinschaft, so dass sein Einkommen zwingend zu berücksichtigen sei. In Bezug auf den Begriff der Familienangehörigen, sei zu berücksichtigten, dass die Europäische Kommission von einer fehlerhaften bzw. nicht erfolgten Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie durch die deutsche Rechtslage ausgehe. So sei kein Verfahren zur Erleichterung von Einreise und Aufenthalt für Angehörige des erweiterten Familienkreises eines EU-Bürgers eingeführt worden. Es sei auch zu berücksichtigen, dass der Begriff des Familienangehörigen in § 3 Abs. 2 FreizügG/EU weitergehe, als die Freizügigkeitsrichtlinie. In § 3 Abs. 2 FreizügG/EU sei nur von Verwandten in auf- und absteigender Linie, jedoch nicht von Verwandten in „gerader“ Linie die Rede. Günstigere einzelstaatliche Rechtsvorschriften in Bezug auf die Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie seien den Mitgliedstaaten unbenommen.

8

Der Kläger beantragt,

9

die Verfügung vom 30. August 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. August 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 2 FreizügG/EU rückwirkend ab Zeitpunkt der Antragstellung vom 13. April 2011 auszustellen.

10

Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

12

Zur Begründung führt sie ergänzend aus, dass die sozialrechtliche Anrechnung des Einkommens im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft keinen Einfluss auf die Berechnung der Lebensunterhaltssicherung nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Freizügigkeitsgesetz habe. § 3 Abs. 1 FreizügG/EU sei nicht anwendbar, da der Kläger kein Familienangehöriger eines Unionsbürgers i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 5 FreizügG/EU sei. § 3 Abs. 2 FreizügG/EU sei keine eigene Anspruchsgrundlage, sondern eine Legaldefinition. Auch habe die Mutter des Klägers kein Daueraufenthaltsrecht erworben, da bis zum 1. Juni 2010 weder ausreichende Existenzmittel noch ausreichender Krankenversicherungsschutz nachgewiesen worden seien. Da der Stiefvater des Klägers seit 2011 selbständig tätig sei, bestünden auch Zweifel an einem Fortbestand des ausreichenden Krankenversicherungsschutzes.

13

Der Kläger hat mit der Klagschrift vom 13. August 2012 und die Beklagte mit Schreiben vom 24. August 2012 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle der Kammer erteilt. In der mündlichen Verhandlung am 18. Februar 2014 haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.

14

Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Sachakten der Beklagten, die das Gericht beigezogen hat und die bei der Entscheidung im schriftlichen Verfahren vorlagen, sowie die Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

15

Im jeweiligen Einverständnis der Beteiligten durfte der Berichterstatter anstelle der Kammer (vgl. § 87a Abs. 2 und 3 VwGO) im schriftlichen Verfahren (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO) entscheiden.

II.

16

Die zulässige Klage ist überwiegend begründet. Der Kläger hat im bei der Verpflichtungsklage maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt - vorliegend dem Zeitpunkt der Entscheidung im schriftlichen Verfahren - einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU (1.). Hingegen besteht kein Anspruch auf eine rückwirkende Ausstellung ab dem 13. April 2011 (2.).

17

1. Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU wird freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, von Amts wegen innerhalb von sechs Monaten, nachdem sie die erforderlichen Angaben gemacht haben, eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern ausgestellt, die fünf Jahre gültig sein soll.

18

Diese Voraussetzungen sind seit dem 8. Juni 2014 gegeben, da der Kläger seit diesem Zeitpunkt als freizügigkeitsberechtigter Familienangehöriger anzusehen ist. Zwar scheidet eine unmittelbare Anwendung des § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU aus [a)]. Jedoch ist § 3 Abs. 1 FreizügG/EU analog auf den Fall des Klägers, nämlich den Familiennachzug zu daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen, die mit einem daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürger zusammenleben, anzuwenden [b)]. Die übrigen Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU liegen vor [c)].

19

a) § 3 Abs. 1 FreizügG/EU ist nicht unmittelbar auf den Kläger anwendbar. Nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU haben Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürger das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, also das Recht der Freizügigkeit, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU sind Familienangehörige u.a. die Verwandten in absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 FreizügG/EU genannten Personen oder ihrer Ehegatten, die noch nicht 21 Jahre alt sind. Nach Nr. 2 sind Familienangehörige u.a. die Verwandten in aufsteigender und in absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten oder Lebenspartner, denen diese Personen oder ihre Ehegatten oder Lebenspartner Unterhalt gewähren. Der Kläger ist kein Familienangehöriger i.S.d. § 3 Abs. 2 FreizügG/EU seines spanischen Halbbruders, der gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU als nichterwerbstätiger Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt ist. § 3 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FreizügG/EU greifen nicht ein, denn Brüder sind nicht in auf- und absteigender Linie miteinander verwandt.

20

Zwar ist der Kläger gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU ein Familienangehöriger eines Daueraufenthaltsberechtigten, da seine Mutter ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU erworben hat [siehe unten b)]. Jedoch sind Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU genannten Daueraufenthaltsberechtigten von dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 FreizügG/EU nicht erfasst (vgl. 4a.0.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift des Bundesministerium des Innern zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 26. Oktober 2009 - Verwaltungsvorschrift FreizügG/EU; Hailbronner, AuslR, Stand: April 2013, § 3 FreizügG/EU, Rn. 16).

21

b) Der Kläger ist ein Familienangehöriger eines daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen eines daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgers, der mit diesem in familiärer Lebensgemeinschaft zusammenlebt [aa)]. Auf diesen Sachverhalt ist § 3 Abs. 1 FreizügG/EU analog anzuwenden [bb)].

22

aa) Der achtzehnjährige Kläger ist gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU ein Familienangehöriger i.S.d. Freizügigkeitsgesetzes/EU. Er ist nämlich in absteigender Linie mit seiner Mutter, die eine in § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU genannte Person ist, da sie ein Daueraufenthaltsrecht erworben hat, verwandt. Die Mutter des Klägers (wie auch der Stiefvater des Klägers und gemäß § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU der Halbbruder des Klägers) hat ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU erworben. Gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU haben Familienangehörige, die nicht Unionsbürger sind, ein Daueraufenthaltsrecht, wenn sie sich seit fünf Jahren mit dem Unionsbürger ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben.

23

Das Entstehen eines Rechts auf Daueraufenthalt setzt unionsrechtlich voraus, dass der Betroffene während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG erfüllt hat (BVerwG, Urt. v. 31.5.2012, 10 C 8/12, juris, Rn. 16). Bei der Berechnung des fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalts kommt es auf die materielle Rechtslage und nicht auf den Zeitpunkt der Ausstellung der Aufenthaltskarte an, da diese lediglich deklaratorische Bedeutung hat (Dienelt in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl., 2013, § 4a, Rn. 15; Epe in: GK-AufenthG, Band VII, Stand: Juli 2013, IX, § 4a FreizügG/EU, Rn. 13). Das Recht auf Einreise und Aufenthalt ist von der Erteilung eines nationalstaatlichen Aufenthaltstitels nämlich nicht abhängig (vgl. bereits zu den Vorgängerrichtlinien 68/360/EWG und 73/148/EWG: EuGH, Urt. v. 25.7.2002, C-459/99 - MRAX, juris).

24

Die Mutter des Klägers hat als Familienangehörige des spanischen Halbbruders des Klägers [(1)] seit dem 8. Juni 2009 ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des § 4 FreizügG bzw. des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG erfüllt [(2)]. Daran ändert auch die Rücknahme des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 11. Dezember 2009 im Rahmen des Vergleichs vom 12. Mai 2010 nichts [(3)].

25

(1) Die Mutter des Klägers ist als Personensorgeberechtigte für den spanischen Halbbruder des Klägers, der ein nicht erwerbstätiger Unionsbürger ist (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU), in entsprechender Anwendung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU als Familienangehörige im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes/EU anzusehen (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 22.3.2010, 11 S 1626/08, juris, Rn. 34 ff.; Epe in: GK-AufenthG, Band VII, Stand: Juli 2013, IX, § 3 FreizügG/EU, Rn. 33).

26

(2) Seit dem 8. Juni 2009 waren die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU (hinsichtlich der Mutter und des Stiefvaters des Klägers i.V.m. § 3 Abs. 1 FreizügG/EU), der zur Umsetzung des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG erlassen wurde, für die Mutter den Stiefvater und den Halbbruder des Klägers gegeben. Nach § 4 FreizügG/EU bzw. Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b) der Richtlinie 2004/38/EG haben nicht erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Dabei bestehen die Freizügigkeitsvoraussetzungen (Lebensunterhaltssicherung und Krankenversicherungsschutz) schon dann, wenn sie erst durch die geplante Aufnahme einer Arbeit erfüllt werden (VG München, Urt. v. 27.9.2007, M 10 K 06.1564, juris, Rn. 22). Dieser Rechtsauffassung hat sich die Beklagte angeschlossen (S. 4 der Fachanweisung Nr. 2/2013 zum Freizügigkeitsrecht). Bei der Frage, ob ausreichende Existenzmittel gegeben sind, ist die Herkunft der Mittel zur Lebensunterhaltssicherung unerheblich (Epe in GK-AufenthG, Band VII, Stand: Juli 2013, IX, § 4 FreizügG, Rn. 21; vgl. zur Auslegung der insoweit vergleichbaren Regelung in der Richtlinie 90/364/EWG: EuGH, Urt. v. 19.10.2004, C-200/02 - Chen, juris Rn. 30). Es ist eine ausländerbehördliche Prognose anzustellen, ob voraussichtlich keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedsstaats in Anspruch genommen werden müssen (vgl. Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG; VG München, Urt. v. 27.9.2007, M 10 K 06.1564, juris, Rn. 20). Solange keine Sozialhilfe bezogen wird, ist davon auszugehen, dass der Lebensunterhalt gesichert ist (Epe in GK-AufenthG, Band VII, Stand: Juli 2013, IX, § 4 FreizügG, Rn. 22; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: April 2013, § 4 FreizügG/EU, Rn. 16).

27

Gemessen an diesem Maßstab haben die Mutter, der Stiefvater und der Halbbruder des Klägers seit dem 8. Juni 2009 über ausreichende Existenzmittel [(a)] und ausreichenden Krankenversicherungsschutz [(b)] verfügt.

28

(a) Nach eigenen, von der Beklagten nicht bestrittenen Angaben, an denen auch sonst keine Zweifel bestehen, haben die Mutter und der Stiefvater des Klägers den Lebensunterhalt für sich und den spanischen Halbbruder des Klägers zunächst aus eigenen Ersparnissen bestritten. Dies ist ausreichend, da nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Herkunft der Mittel zur Existenzsicherung unerheblich ist. Ab dem 31. März 2009 hatte der Stiefvater des Klägers ein konkretes Arbeitsangebot für eine sozialversicherungspflichtige Anstellung mit einem Bruttolohn von 1500,-- Euro (S. 12 der Ausländerakte des Stiefvaters des Klägers) und ab dem 2. April 2009 hatten die Mutter und der Stiefvater des Klägers zusätzlich jeweils ein Angebot für einen Minijob (S. 13 f. der Ausländerakte des Stiefvaters). Zwar enthielten die Arbeitsangebote für die Minijobs noch keine genauen Angaben zur Höhe des zu erwartenden Arbeitslohns. Jedoch hätten die beiden zusätzlichen Minijobangebote bei der Unterhaltsberechnung - ohne Hinweis darauf, dass die Beklagte insoweit von einer fehlenden Substantiierung ausgeht - bei der Prognoseentscheidung nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Insoweit erweist sich schon die in Ausländerakte des Stiefvaters enthaltene Berechnung der Lebensunterhaltssicherung (S. 40) als fehlerhaft.

29

Unabhängig davon ist ausschlaggebend für das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel die Tatsache, dass die Mutter und der Stiefvater des Klägers nach den Auskünften des Sozialen Dienstleistungszentrums des Bezirksamts … vom 20. März 2014 und des Jobcenter team.arbeit.hamburg vom 25. März 2014 zu keinem Zeitpunkt während ihres bisherigen Aufenthalts im Bundesgebiet seit dem 15. März 2009 Sozialleistungen (weder nach dem SGB II noch nach dem SGB XII) in Anspruch genommen haben, so dass von ausreichenden Existenzmitteln seit der Einreise auszugehen ist.

30

Entgegen der Auffassung der Beklagten wurde die Vermutung ausreichender Existenzmittel aufgrund der Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen für den Zeitraum seit der Einreise ins Bundesgebiet am 15. März 2009 bis zur Vorlage der Arbeitsangebote am 8. Juni 2009 auch nicht dadurch erschüttert, dass ausreichende Existenzmittel erst durch die Arbeitsaufnahme der Mutter und des Stiefvaters erwirtschaftet werden sollten. Denn diese Behauptung ist unzutreffend. Wie bereits ausgeführt, gaben die Mutter und der Stiefvater des Klägers bei ihrem Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltskarte am 8. Juni 2009 an, dass der Lebensunterhalt seit der Einreise durch Ersparnisse gesichert werde (S. 4 der Ausländerakte der Mutter des Klägers und S. 5 der Ausländerakte des Stiefvaters des Klägers). Diese Angabe hat die Beklagte weder bestritten, noch bestehen sonst Zweifel an ihnen. Andere Gründe, die die Vermutung ausreichender Existenzmittel bei Nichtinanspruchnahme öffentlicher Leistungen hätten erschüttern können, hat die Beklagte nicht vorgetragen und sind auch sonst nicht ersichtlich.

31

(b) Die Mutter und der Stiefvater des Klägers haben durch Vorlage ihrer damals gültigen spanischen Krankenversicherungskarten mit dem am 8. Juni 2009 per Fax vorab übersandten Schreiben einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz nachgewiesen. Zwar konnte der Halbbruder des Klägers diesen Schutz nicht durch Vorlage der lediglich bis zum Dezember 2008 gültigen - also zum Zeitpunkt der Vorlage bei der Beklagten abgelaufenen - spanischen Krankenversicherungskarte nachweisen. Jedoch haben die Mutter, der Stiefvater und der Halbbruder des Klägers durch die Vorlage des konkreten Angebots einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung des Stiefvaters des Klägers am 8. Juni 2009 (vgl. S. 12 der Ausländerakte des Stiefvaters des Klägers) einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz nachgewiesen. Denn die die Familienversicherung von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten führt zu einer ausreichenden Krankenversicherung auch der Mutter (Ehefrau des Stiefvaters) und des Halbbruders (Sohn des Stiefvaters) des Klägers. Dieser Krankenversicherungsschutz wurde auch nicht durch den Beginn der selbstständigen Tätigkeit des Stiefvaters des Klägers im Jahre 2011 unterbrochen. Mit Schreiben vom 19. Mai 2014 hat die Krankenkasse der Familie des Klägers mitgeteilt, dass der spanische Halbbruder des Klägers seit dem 1. Juli 2010 sowohl in der Kranken- als auch in der Pflegeversicherung ununterbrochen familienversichert ist.

32

(3) An dem Vorliegen ausreichender Existenzmittel und eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ändert auch die Rücknahme des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 11. Dezember 2009 im Rahmen des Vergleichs vom 12. Mai 2010 nichts.

33

Zwar führt die Rücknahme eines Rechtsbehelfs gegen einen feststellenden Verwaltungsakt grundsätzlich zur Bestandskraft des Verwaltungsakts und damit der in ihm enthaltenen Feststellung. Die Rücknahme des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 11. Dezember 2009, mit dem die Beklagte das Nichtbestehen der Freizügigkeitsberechtigung festgestellt hat, steht aber aus zwei - unabhängig voneinander die Entscheidung tragenden - Gründen der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Halbbruders, der Mutter und des Stiefvaters des Klägers nicht entgegen. Zum einen kommt es bei der Berechnung des fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalts entscheidend auf die materielle Rechtslage an (Dienelt in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl., 2013, § 4a, Rn. 15; Epe in GK-AufenthG, Band VII, Stand: Juli 2013, IX, § 4a FreizügG/EU, Rn. 13). Die Feststellung, dass die Freizügigkeitsberechtigung nicht besteht, war aber rechtswidrig, da seit dem 8. Juni 2009 die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU in Form ausreichender Existenzmittel und ausreichendem Krankenversicherungsschutz vorlagen [s.o. (2)]. Bei materiell-rechtlicher Betrachtung hielten sich der Halbbruder, die Mutter und der Stiefvater des Klägers seit dem 8. Juni 2009 als Freizügigkeitsberechtigte und damit rechtmäßig i.S.d. § 4a Abs. 1 FreizügG/EU im Bundesgebiet auf.

34

Zum anderen ist die Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts nicht bestandskräftig geworden. Denn im Rahmen des Vergleichs vom 12. Mai 2010 kam es gleichzeitig zur Rücknahme des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 11. Dezember 2009 und zur Ausstellung der Freizügigkeitsbescheinigung für den Halbbruder und der Aufenthaltskarten für die Mutter und den Stiefvater des Klägers (vgl. S. 66 f. der Ausländerakte des Stiefvaters des Klägers). Damit hat die Beklagte selbst zum Ausdruck gebracht, dass der Bescheid vom 11. Dezember 2009 keine Wirkungen mehr entfaltet. Denn wäre der Bescheid wirksam geblieben, wäre die Beklagte aufgrund von § 11 Abs. 2 FreizügG/EU gehindert gewesen, in dem Vergleich aufgrund des § 5 Abs. 1 und Abs. 2 FreizügG/EU (in der damals gültigen Fassung) eine Freizügigkeitsbescheinigung bzw. Aufenthaltskarten für Familienangehörige auszustellen. Bei einer wirksamen Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung findet nämlich nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU nicht mehr das Freizügigkeitsgesetz/EU, sondern das Aufenthaltsgesetz Anwendung. Vor diesem Hintergrund ist - angesichts der Verpflichtung der Beklagten zu rechtmäßigem Verhalten (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) - davon auszugehen, dass sie mit der Ausstellung der Freizügigkeitsbescheinigung und der Aufenthaltskarte den rechtswidrigen Bescheid vom 11. Dezember 2009 konkludent zurückgenommen hat. Zwar kann die konkludente Rücknahme gemäß § 48 HmbVwVfG mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit erfolgen. Da es sich um einen belastenden, rechtswidrigen Verwaltungsakt handelt, ist - wiederum angesichts der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz, in diesem Fall an die materiellen Vorschriften des Freizügigkeitsgesetzes/EU - von einer konkludenten Rücknahme mit Wirkung ex-tunc auszugehen. Zwar ist bei der Rücknahme eines belastenden Verwaltungsakts grundsätzlich die Rücknahme sowohl ex tunc als auch ex nunc möglich (Sachs in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 8. Aufl., 2014, § 48, Rn. 105). Jedoch hätte die Beklagte angesichts der belastenden Wirkung des rechtswidrigen Bescheids vom 11. Dezember 2009 zu erkennen geben müssen, welche Erwägungen gegen die rückwirkende Aufhebung spricht und welches Interesse an der Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Bescheids für die Vergangenheit besteht. Dies hat sie aber nicht getan, so dass von einem Überwiegen des Interesses an der Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände auch für die Vergangenheit auszugehen ist.

35

bb) Nach Auffassung des Gerichts ist § 3 Abs. 1 FreizügG/EU im Lichte des Freizügigkeitsrechts der Daueraufenthaltsberechtigten gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU analog auf den Familiennachzug zu daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen, die mit einem daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürger zusammenleben, anzuwenden. Die Voraussetzungen eines Analogieschlusses sind erfüllt.

36

Eine Analogie setzt als gesetzesimmanente richterliche Rechtsfortbildung eine planwidrige Regelungslücke und eine vergleichbarere Sach- und Interessenlage zu den Sachverhalten, die von der analog anzuwendenden Regelung erfasst werden, voraus (vgl. BVerwG, Urt. v. 2.4.2014, 5 C 40/12, juris, Rn. 21; Urt. v. 12.9.2013, 5 C 35/12, juris, Rn. 27). Hat der Gesetzgeber hingegen eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürfen die Gerichte diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern oder durch eine judikative Lösung ersetzen (BVerwG, Urt. v. 12.9.2013, a.a.O.). Ob eine Regelungslücke vorliegt, ist danach zu beurteilen, ob die vom Regelungsprogramm des Gesetzgebers erfassten Fälle in den Vorschriften des Gesetzes tatsächlich Berücksichtigung gefunden haben. Sie ist zu bejahen, wenn festzustellen ist, dass der Wortlaut des Gesetzes nicht alle Fälle erfasst, die nach deren Sinn und Zweck erfasst sein sollten (vgl. BVerwG, Urt. v. 2.4.2014, a.a.O; Urt. v. 12.9.2013, a.a.O.).

37

Diese Voraussetzungen liegen vor. Eine Regelungslücke ist gegeben. Der Familiennachzug zu Daueraufenthaltsberechtigten i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU ist im Freizügigkeitsgesetz/EU nicht geregelt (vgl. 4a.0.2 Verwaltungsvorschrift FreizügG/EU). Dies dürfte darauf beruhen, dass auch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38EG den Familiennachzug zu Daueraufenthaltsberechtigten nicht regelt.

38

Diese Regelungslücke ist auch planwidrig und im Vergleich zu den Fallgruppen der Freizügigkeitsberechtigten nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 5 FreizügG/EU, zu denen ein Familiennachzug gemäß des Wortlauts des § 3 Abs. 1 FreizügG/EU vorgesehen ist, besteht eine vergleichbarere Sach- und Interessenlage.

39

Für den Fall des Familiennachzugs zu daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU ist dies allgemein anerkannt und es wird insoweit eine entsprechende Anwendung des § 3 Abs. 1 FreizügG/EU befürwortet (vgl. Punkt 4a.0.2 der Verwaltungsvorschrift Freizügigkeitsgesetz/EU; Epe in: GK-AufenthG, Stand: Juli 2013, § 3 FreizügG/EU, Rn. 45; Dienelt in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl., 2013, § 4a FreizügG/EU, Rn. 27). Anhaltspunkte dafür, dass die Regelung des § 3 Abs. 1 FreizügG/EU abschließend sein soll und bewusst der Familiennachzug zu Daueraufenthaltsberechtigten i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU ausgeschlossen werden sollte, sind nicht ersichtlich. In der Gesetzesbegründung anlässlich der Aufnahme des Daueraufenthaltsrechts in das Freizügigkeitsgesetz/EU im Jahre 2008 heißt es zum neu gefassten § 3 Abs. 1 FreizügG/EU (BT-Drs. 16/5065, S. 209): „Die Neufassung passt Absatz 1 an Artikel 7 Abs. 1 Buchstabe d der Freizügigkeitsrichtlinie an und berücksichtigt die Änderung in § 2 Abs. 2 […] und die Streichung des § 4 Satz 2 […].“ Zum geänderten § 3 Abs. 2 FreizügG/EU wird lediglich ausgeführt, dass es sich um Folgeänderungen handelt (BT-Drs. 16/5065, S. 209). Die Frage, ob auch Familienangehörige von Daueraufenthaltsberechtigten i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU ein Nachzugsrecht erhalten sollen, wird in der Gesetzesbegründung nicht erörtert. In der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU heißt es unter Punkt 4a.0.2: „Es fehlt jedoch eine Regelung über den Erwerb eines Aufenthaltsrechts, wenn der Unionsbürger, zu dem der Nachzug erfolgen soll, bereits ein Daueraufenthaltsrecht erlangt hat, der Familienangehörige die Voraussetzungen für den Daueraufenthalt selbst aber noch nicht erfüllt. Da Familienangehörige von freizügigkeitsberechtigten, aber noch nicht daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern ein Aufenthaltsrecht haben, muss dies erst recht für Familienangehörige von daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern gelten. Letztere haben eine stärkere aufenthaltsrechtliche Position als 'gewöhnlich' freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger. Anknüpfungspunkt für die Beurteilung entsprechender Fälle ist das Freizügigkeitsrecht, das der Daueraufenthaltsberechtigte derzeit innehat.“

40

Nach Ansicht des Gerichts ist diese Wertung auf den Familiennachzug zu daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen, die mit einem daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürger zusammenleben, zu übertragen, so dass auch insoweit die Voraussetzungen einer entsprechenden Anwendung des § 3 Abs. 1 FreizügG/EU gegeben sind.

41

Dem steht nicht entgegen, dass in Art. 12 Abs. 2 Satz 4 und Art. 13 Abs. 2 Satz 4 der Richtlinie 2004/38/EG für den Fall des Todes des Unionsbürgers bzw. für den Fall der Scheidung vom Unionsbürger die betreffenden Familienangehörigen ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage behalten (so aber wohl Hailbronner, AuslR, Stand: April 2013, § 3 FreizügG/EU, Rn. 16). Hailbronner führt selbst einschränkend aus: „Mit Ausnahme der Familienangehörigen, die ein Daueraufenthaltsrecht erworben haben, gibt es keinen 'Kettennachzugsanspruch' von Familienangehörigen zu freizügigkeitsberechtigten Familienmitgliedern.“ (Hailbronner, AuslR, a.a.O.). Dies deutet daraufhin, dass auch nach Auffassung von Hailbronner ein Familiennachzug zu daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU nicht ausgeschlossen ist. Darüber hinaus ist der Hinweis auf Art. 12 Abs. 2 Satz 4 und Art. 13 Abs. 2 Satz 4 der Richtlinie 2004/38/EG für den vorliegenden Fall unergiebig, da sich diese Normen nur auf das „gewöhnliche“ Aufenthaltsrecht aber nicht auf das Daueraufenthaltsrecht von Familienangehörigen beziehen.

42

Gegen eine Übertragung der Wertung spricht auch nicht, dass sich daueraufenthaltsberechtigte Unionsbürger und daueraufenthaltsberechtigte Familienangehörige von Unionsbürgern hinsichtlich des Status der Unionsbürgerschaft voneinander unterscheiden. Denn hinsichtlich des Rechts auf Freizügigkeit, welches das einzige der in Art. 20 Abs. 2 AEUV genannten Rechte der Unionsbürger ist, das in der Freizügigkeitsrichtlinie geregelt wird, sind die daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen von Unionsbürgern den daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern durch Art. 16 Abs. 1 und Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG vollkommen gleich gestellt. Das Daueraufenthaltsrecht von Familienangehörigen nach § 4a Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU ist wie das Daueraufenthaltsrecht von Unionsbürgern nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU an keine weiteren Bedingungen geknüpft. Es erlischt auch nicht bei Tod des Unionsbürgers oder bei einer Scheidung des drittstaatsangehörigen Daueraufenthaltsberechtigten vom Unionsbürger (vgl. Epe in GK-AufenthG, Band VII, Stand: Juli 2013, IX, § 4a FreizügG/EU, Rn. 18). Aufgrund dieser Interessensgleichheit von daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen und daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern ist kein Grund ersichtlich, weshalb in Bezug auf den Familiennachzug zwischen beiden Fallgruppen unterschieden werden sollte. Sowohl die daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen als auch die daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern sind auf die Möglichkeit des Familiennachzugs angewiesen, um ihr Freizügigkeitsrecht effektiv ausüben zu können.

43

Für eine entsprechende Anwendung des § 3 Abs. 1 FreizügG/EU auf den Familiennachzug zu daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen, die mit einem daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürger zusammenleben, spricht schließlich der Sinn und Zweck der Freizügigkeitsrichtlinie, zu deren Umsetzung das Freizügigkeitsgesetz/EU erlassen wurde. Gemäß Abschnitt 6 der Präambel der Freizügigkeitsrichtlinie ist die Wahrung der Einheit der Familie ein wichtiges Ziel der Richtlinie. Nach Abschnitt 17 der Präambel der Richtlinie verstärkt das Recht auf Daueraufenthalt das Gefühl der Unionsbürgerschaft und trägt entscheidend zum sozialen Zusammenhalt bei. Das Recht auf Daueraufenthalt wird seinerseits gestärkt und kann damit seine Funktion, das Gefühl der Unionsbürgerschaft zu verstärken und zum sozialen Zusammenhalt beizutragen, besser erfüllen, wenn auch die Möglichkeit des Familiennachzugs zu freizügigkeitsberechtigten Daueraufenthaltsberechtigten i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU besteht.

44

c) Die übrigen Voraussetzungen des entsprechend anzuwendenden § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU liegen vor. Dabei kann dahinstehen, ob es sich bei dem Familiennachzug des Klägers um einen Nachzug zu einem erwerbstätigen oder nichterwerbstätigen Daueraufenthaltsberechtigten handelt (vgl. zur Frage des Anknüpfungspunkts beim Familiennachzug zu Daueraufenthaltsberechtigten Nr. 4a.0.2 der Verwaltungsvorschrift FreizügG/EU). Denn auch die weitergehenden Anforderungen des § 4 FreizügG/EU sind erfüllt. Der Kläger verfügt über ausreichend Existenzmittel. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, dass die gesamte Familie des Klägers seit seiner Einreise im Februar 2011 nach den Auskünften des Sozialen Dienstleistungszentrums des Bezirksamts … vom 20. März 2014 und des Jobcenter team.arbeit.hamburg vom 25. März 2014 zu keinem Zeitpunkt Sozialleistungen (weder nach dem SGB II noch nach dem SGB XII) in Anspruch genommen hat, so dass von ausreichenden Existenzmitteln auch für den Kläger auszugehen ist [s.o b) aa) (2) (a)].

45

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist dabei das Einkommen des Stiefvaters des Klägers zu berücksichtigen, auch wenn dieser nicht gesetzlich zur Unterhaltsleistung verpflichtet ist (vgl. EuGH, Urt. v. 23.3.2006, C-408/03, juris, Rn. 46 f.).

46

Ebenfalls liegt für den Kläger ein ausreichender Krankenversicherungsschutz vor. Mit Schreiben vom 19. Mai 2014 hat die Krankenkasse der Familie des Klägers mitgeteilt, dass der Kläger seit dem 18. April 2011 sowohl in der Kranken- als auch in der Pflegeversicherung ununterbrochen familienversichert ist.

47

Entgegen der Auffassung der Beklagten steht der Erteilung einer Aufenthaltskarte auch nicht entgegen, dass er nicht mit einem bei der deutschen Auslandsvertretung zu beantragenden Visum zur Familienzusammenführung eingereist ist. § 2 Abs. 4 FreizügG/EU ist im Lichte des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Richtlinie 2004/38/EG europarechtskonform so auszulegen, dass lediglich ein von der Grenzpolizei auszustellendes Einreisevisum (vgl. § 14 Abs. 2 AufenthG) gefordert werden darf (vgl. ausführlich: Epe in: GK-AufenthG, Stand: Oktober 2010, § 2 FreizügG/EU, Rn. 136 f.). Das Schengen-Visum des Klägers (S. 4 der Ausländerakte des Klägers) genügte diesen Anforderungen.

48

2. Hingegen ist der Antrag, dem Kläger eine Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Antragstellung vom 13. April 2011 auszustellen, unbegründet. Denn die Voraussetzungen des entsprechend anzuwendenden § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU liegen erst seit dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts gemäß § 4a FreizügG/EU durch die Mutter des Klägers am 8. Juni 2014 vor [s.o. 1. b) aa)]. Trotz Aufforderung durch die Beklagte und durch das Gericht, den Krankenversicherungsschutz des Halbbruders des Klägers für den Zeitraum seit der Einreise am 15. März 2009 bis zum Nachweis des Angebots der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung des Stiefvaters am 8. Juni 2009 zu belegen, hat der Kläger nicht weiter dazu vorgetragen. Zwar ergibt sich aus der Ausländerakte des Stiefvaters des Klägers (S. 65), dass der Halbbruder des Klägers noch mit Schreiben vom 14. April 2010 eine spanische Sozialversicherungsnummer erhalten hat. Damit ist aber weiterhin nicht nachgewiesen, dass im Zeitraum zwischen dem 15. März 2009 und dem 8. Juni 2009 tatsächlich ein ausreichender spanischer Krankenversicherungsschutz bestand.

III.

49

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Kostenverteilung von 3/4 von der Beklagten und 1/4 vom Kläger zu tragenden Kosten beruht darauf, dass das Gericht die Bedeutung des Ausspruchs über das Bestehen des Freizügigkeitsrechts für deutlich gewichtiger hält, als die Frage, ab wann dieser bestand. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Entscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

IV.

50

Die Berufung war gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Die Frage, ob § 3 Abs. 1 FreizügG/EU analog auf den Familiennachzug zu daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen, die mit einem daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürger zusammenleben, anzuwenden ist, ist - soweit ersichtlich - weder vom Hamburgischen Oberverwaltungsgericht noch von einem anderen Oberverwaltungsgericht oder dem Bundesverwaltungsgericht entschieden worden.

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Zivilprozessordnung - ZPO | § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung


Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:1.Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;2.Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;3.Urteile, dur

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(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs. (2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungskl

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(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der

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(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden. (2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung

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(1) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass 1. der Lebensunterhalt gesichert ist,1a. die Identität und, falls er nicht zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt ist, die Staatsangehörigkeit des Ausländers geklärt is

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(1) Der Vorsitzende entscheidet, wenn die Entscheidung im vorbereitenden Verfahren ergeht,1.über die Aussetzung und das Ruhen des Verfahrens;2.bei Zurücknahme der Klage, Verzicht auf den geltend gemachten Anspruch oder Anerkenntnis des Anspruchs, auc

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(1) Den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, § 25 Absatz 1 oder Absatz 2 Satz 1 erste Alternative, eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Absatz 3 oder nach Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nac

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(1) Die Einreise eines Ausländers in das Bundesgebiet ist unerlaubt, wenn er 1. einen erforderlichen Pass oder Passersatz gemäß § 3 Abs. 1 nicht besitzt,2. den nach § 4 erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt,2a. zwar ein nach § 4 erforderliche

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(1) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass

1.
der Lebensunterhalt gesichert ist,
1a.
die Identität und, falls er nicht zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt ist, die Staatsangehörigkeit des Ausländers geklärt ist,
2.
kein Ausweisungsinteresse besteht,
3.
soweit kein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht, der Aufenthalt des Ausländers nicht aus einem sonstigen Grund Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder gefährdet und
4.
die Passpflicht nach § 3 erfüllt wird.

(2) Des Weiteren setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, einer Blauen Karte EU, einer ICT-Karte, einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU voraus, dass der Ausländer

1.
mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und
2.
die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat.
Hiervon kann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Satz 2 gilt nicht für die Erteilung einer ICT-Karte.

(3) In den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 24 oder § 25 Absatz 1 bis 3 ist von der Anwendung der Absätze 1 und 2, in den Fällen des § 25 Absatz 4a und 4b von der Anwendung des Absatzes 1 Nr. 1 bis 2 und 4 sowie des Absatzes 2 abzusehen. In den übrigen Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 kann von der Anwendung der Absätze 1 und 2 abgesehen werden. Wird von der Anwendung des Absatzes 1 Nr. 2 abgesehen, kann die Ausländerbehörde darauf hinweisen, dass eine Ausweisung wegen einzeln zu bezeichnender Ausweisungsinteressen, die Gegenstand eines noch nicht abgeschlossenen Straf- oder anderen Verfahrens sind, möglich ist. In den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 26 Absatz 3 ist von der Anwendung des Absatzes 2 abzusehen.

(4) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist zu versagen, wenn ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Absatz 1 Nummer 2 oder 4 besteht oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a erlassen wurde.

(1) Den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, § 25 Absatz 1 oder Absatz 2 Satz 1 erste Alternative, eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Absatz 3 oder nach Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Absatz 4 besitzt, ist abweichend von § 5 Absatz 1 Nummer 1 und § 29 Absatz 1 Nummer 2 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält.

(2) Sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers kann zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Auf volljährige Familienangehörige sind § 30 Abs. 3 und § 31, auf minderjährige Familienangehörige ist § 34 entsprechend anzuwenden.

(1) Der Vorsitzende entscheidet, wenn die Entscheidung im vorbereitenden Verfahren ergeht,

1.
über die Aussetzung und das Ruhen des Verfahrens;
2.
bei Zurücknahme der Klage, Verzicht auf den geltend gemachten Anspruch oder Anerkenntnis des Anspruchs, auch über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe;
3.
bei Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache, auch über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe;
4.
über den Streitwert;
5.
über Kosten;
6.
über die Beiladung.

(2) Im Einverständnis der Beteiligten kann der Vorsitzende auch sonst anstelle der Kammer oder des Senats entscheiden.

(3) Ist ein Berichterstatter bestellt, so entscheidet dieser anstelle des Vorsitzenden.

(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein polnischer Staatsangehöriger, begehrt die Ausstellung einer Bescheinigung über das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 6 Satz 1 FreizügG/EU.

2

Der 1977 geborene Kläger reiste im September 1989 mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Berlin (West) ein. Nach einem erfolglosen Asylverfahren erhielt er ab Juli 1991 bis April 2006 Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen. Nachdem er die Hauptschule abgeschlossen hatte, erteilte ihm das Arbeitsamt im Mai 1994 eine unbefristete und unbeschränkte Arbeitsgenehmigung. Der Kläger brach 1996 eine Lehre als Elektroinstallateur ab. Sein 2004 unternommener Versuch, ein Reinigungsunternehmen zu eröffnen, blieb ohne Erfolg. Der Kläger bezieht seit seiner Einreise immer wieder Sozialleistungen.

3

Im Juli 2005 beantragte der Kläger die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen bzw. die Ausstellung einer Bescheinigung über sein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht. Im Oktober 2005 erteilte ihm das beklagte Land letztmalig eine bis April 2006 gültige Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Gleichzeitig wies es darauf hin, die Aufenthaltserlaubnis nicht über diesen Zeitpunkt hinaus verlängern zu wollen, wenn der Kläger weiterhin auf die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel angewiesen sei.

4

Mit Bescheid vom 22. März 2006 lehnte der Beklagte die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab, da der Lebensunterhalt des Klägers nach wie vor nicht gesichert sei. Die Voraussetzungen für Aufenthaltsansprüche nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU erfülle er nicht, da er weder Arbeitnehmer sei noch einen gesicherten Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel nachweisen könne. Bis auf den gescheiterten Versuch selbstständiger Tätigkeit seien keine Arbeitsbemühungen nachgewiesen worden. Dem Kläger wurde die Abschiebung nach Polen für den Fall nicht fristgerechter Ausreise binnen 15 Tagen nach Unanfechtbarkeit des Bescheids angedroht. Über den hiergegen eingelegten Widerspruch hat der Beklagte nicht entschieden.

5

Das Verwaltungsgericht gab der Klage, die auf Ausstellung einer Bescheinigung über das Bestehen eines unbefristeten Daueraufenthaltsrechts gerichtet war, im Februar 2007 statt. Dabei ging es davon aus, dass Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG jedem Unionsbürger, der sich fünf Jahre rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten habe, ein Daueraufenthaltsrecht gewähre, ohne dass es darauf ankomme, ob er über ausreichende Existenzmittel verfüge.

6

Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 28. April 2009 den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger erfülle nicht die Anforderungen für das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU. Er halte sich zwar seit mehr als fünf Jahren im Bundesgebiet auf. Rechtmäßig im Sinne dieser Vorschrift sei aber nur ein Aufenthalt, der nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU auf einem Freizügigkeitsrecht beruhe. Berücksichtigungsfähig seien zudem nur Zeiten, in denen der Herkunftsstaat Mitglied der Europäischen Union gewesen sei. Nach dem Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 sei der Kläger nicht freizügigkeitsberechtigt gewesen, da er als nichterwerbstätiger Unionsbürger nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt habe (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU). Anders als bei Arbeitnehmern und selbstständig Erwerbstätigen seien in diesem Fall Zeiten des Sozialleistungsbezugs nicht als Zeiten rechtmäßigen Aufenthalts zu berücksichtigen. Dies stehe im Einklang mit Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG. Danach müsse ein Unionsbürger für ein Daueraufenthaltsrecht fünf Jahre die Voraussetzungen des Art. 7 der Richtlinie 2004/38/EG erfüllen. Bei Nichterwerbstätigen verlange auch Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG, dass sie über ausreichende Existenzmittel verfügten, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssten.

7

Der Kläger erstrebt mit seiner Revision die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung. Er ist der Auffassung, für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt genüge ein nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaats rechtmäßiger Aufenthalt von fünf Jahren.

8

Der Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung.

9

Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich am Verfahren beteiligt. Er hält die Revision ebenfalls für unbegründet, ist aber der Auffassung, dass § 4a FreizügG/EU nur verlangt, dass der Aufenthalt jedenfalls zuletzt nach Freizügigkeitsrecht rechtmäßig war. Insofern gehe die Vorschrift über die Richtlinie 2004/38/EG hinaus.

10

Mit Beschluss vom 13. Juli 2010 - BVerwG 1 C 14.09 - hat der seinerzeit zuständige 1. Senat das Verfahren ausgesetzt und eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zur Klärung der Voraussetzungen für den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG eingeholt. Der EuGH hat die Vorlagefragen mit Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-424/10 u.a. - beantwortet.

Entscheidungsgründe

11

Die Revision, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist zulässig und begründet. Das Berufungsgericht hat die Klage mit einer Begründung abgewiesen, die Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Denn es ist davon ausgegangen, dass sich ein Daueraufenthaltsrecht nur aus Aufenthaltszeiten des Klägers im Bundesgebiet nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union ergeben kann. Nach der zwischenzeitlichen Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) können aber auch Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen vor dem Beitritt seines Herkunftslands zur Europäischen Union ein Recht auf Daueraufenthalt begründen. Da das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - keine tatsächlichen Feststellungen zum Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet vor dem Beitritt Polens zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 getroffen hat, kann der Senat in der Sache nicht selbst abschließend entscheiden. Der Rechtsstreit ist daher zur weiteren Aufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

12

1. Gegenstand des Verfahrens ist nur das Begehren des Klägers auf Ausstellung einer Bescheinigung über das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 6 Satz 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU). Dieses Begehren zielt auf ein schlicht hoheitliches Verwaltungshandeln, das mit der allgemeinen Leistungsklage zu verfolgen ist. Die Ablehnung des Beklagten, die humanitäre Aufenthaltserlaubnis des Klägers zu verlängern, sowie die Abschiebungsandrohung sind nicht Gegenstand dieses Verfahrens geworden.

13

2. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist bei Verpflichtungsklagen, die auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels gerichtet sind, grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz abzustellen (stRspr, vgl. Urteile vom 16. Juni 2004 - BVerwG 1 C 20.03 - BVerwGE 121, 86 <88> m.w.N. und vom 7. April 2009 - BVerwG 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329 Rn. 37 ff.). Nichts anderes gilt, wenn im Wege der allgemeinen Leistungsklage die Ausstellung einer Bescheinigung über das Bestehen eines unionsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts begehrt wird. Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens - hier etwa das Inkrafttreten des Reformvertrags von Lissabon zum 1. Dezember 2009 - sind allerdings zu beachten, da das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (stRspr, vgl. Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 276 <279 f.>).

14

3. Das Berufungsurteil verstößt insoweit gegen Bundesrecht, als das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen ist, dass sich ein Daueraufenthaltsrecht des Klägers nur aus Aufenthaltszeiten im Bundesgebiet nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 ergeben kann. Nach § 5 Abs. 6 Satz 1 FreizügG/EU wird Unionsbürgern auf Antrag unverzüglich ihr Daueraufenthalt bescheinigt. Nach der hier allein in Betracht kommenden Grundnorm des § 4a Abs. 1 FreizügG/EU haben Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und Lebenspartner, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht). In § 2 Abs. 2 FreizügG/EU sind die nach Unionsrecht freizügigkeitsberechtigten Personengruppen aufgezählt. Der Formulierung in § 4a FreizügG/EU "unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2" ist zu entnehmen, dass nicht jeder nach nationalem Recht rechtmäßige Aufenthalt ausreicht, sondern das Entstehen des Daueraufenthaltsrechts an das Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU anknüpft und nur ein einmal entstandenes Daueraufenthaltsrecht durch einen späteren Wegfall dieser Voraussetzungen nicht mehr berührt wird (vgl. Vorlagebeschluss vom 13. Juli 2010 - BVerwG 1 C 14.09 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 41 Rn. 14).

15

Mit dem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 eingefügten § 4a FreizügG/EU hat der Gesetzgeber das schon zuvor auf nationaler Ebene bestehende - und über das bisherige Unionsrecht hinausgehende - Daueraufenthaltsrecht für freizügigkeitsberechtigte Personen und die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 - sog. Unionsbürgerrichtlinie - zusammengefasst (BTDrucks 16/5065 S. 210). Nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitel III der Richtlinie 2004/38/EG geknüpft.

16

Zur Auslegung dieser Bestimmung hat der EuGH in seinem Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-424/10 u.a., Ziolkowski u.a. - (NVwZ-RR 2012, 121) darauf hingewiesen, dass ein Unionsbürger, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eine Aufenthaltszeit von über fünf Jahren nur aufgrund des nationalen Rechts dieses Staates zurückgelegt hat, nicht so betrachtet werden kann, als habe er das Recht auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG erworben, wenn er während dieser Aufenthaltszeit die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG nicht erfüllt hat (LS 1 und Rn. 51). Zur Begründung hat der Gerichtshof darauf abgestellt, dass es sich bei dem Begriff des "rechtmäßigen Aufenthalts" in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG um einen autonomen Begriff des Unionsrechts handelt, der in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen ist (Rn. 33). Rechtmäßig im Sinne des Unionsrechts ist daher nur ein Aufenthalt, der im Einklang mit den in der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehenen, insbesondere mit den in Art. 7 der Richtlinie 2004/38/EG aufgeführten Voraussetzungen steht (Rn. 46). Hergeleitet hat der Gerichtshof diese Auslegung zum einen aus dem Ziel der Richtlinie, die bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts zu überwinden und in einer Kodifikation zusammenzufassen (Rn. 35 ff.). Zum anderen hat er darauf abgestellt, dass sich aus der Systematik der Richtlinie ein gestuftes System von Aufenthaltsrechten ergibt, das im Recht auf Daueraufenthalt mündet (Rn. 38 ff.). Damit richtet sich die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auch in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG nicht nach dem im jeweiligen Aufnahmemitgliedstaat geltenden - möglicherweise günstigeren - nationalen Recht. Vielmehr setzt das Entstehen eines Rechts auf Daueraufenthalt unionsrechtlich voraus, dass der Betroffene während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG erfüllt hat.

17

Nach der zwischenzeitlichen Klärung durch den EuGH kann sich ein Recht auf Daueraufenthalt allerdings auch aus Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat ergeben, bevor der Drittstaat der Europäischen Union beigetreten ist. Diese Aufenthaltszeiten sind in Ermangelung spezifischer Bestimmungen in den Beitrittsakten für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG aber nur berücksichtigungsfähig, sofern der Betroffene nachweisen kann, dass sie im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG zurückgelegt wurden (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 a.a.O. LS 2 und Rn. 62 f.). Diese Vorwirkung der Richtlinie gilt bei der gebotenen unionskonformen Auslegung auch für die nationale Regelung in § 4a FreizügG/EU, die die unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG umsetzt.

18

4. Der Senat kann weder in positiver noch in negativer Hinsicht abschließend in der Sache selbst entscheiden. Da nach dem Urteil des EuGH vom 21. Dezember 2011 (a.a.O.) auch Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen vor dem Beitritt seines Herkunftsstaats zur Europäischen Union für ein Daueraufenthaltsrecht zu berücksichtigen sind, wenn sie im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG zurückgelegt wurden, das Berufungsgericht zum Aufenthalt des Klägers vor dem Beitritt Polens am 1. Mai 2004 aber keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, ist der Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

19

5. In dem erneuten Berufungsverfahren wird das Oberverwaltungsgericht zu prüfen haben, ob der Kläger über einen ununterbrochenen Zeitraum von fünf Jahren die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG erfüllt hat und sein Aufenthalt deshalb für die Prüfung des Erwerbs eines Rechts auf Daueraufenthalt dem Aufenthalt eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers gleichzustellen ist.

20

Die für diese Prüfung maßgebliche Frage, ob es für das Entstehen des Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU erforderlich ist, dass der Betroffene während des gesamten Zeitraums von fünf Jahren freizügigkeitsberechtigt war, oder ob es - wie vom Vertreter des Bundesinteresses vorgetragen - ausreicht, wenn der Aufenthalt fünf Jahre lang erlaubt war und jedenfalls zuletzt auf einem Freizügigkeitsrecht beruhte (so auch Nr. 4a.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 26. Oktober 2009 - VwV-FreizügG/EU - GMBl S. 1270), hat der 1. Senat im Vorlagebeschluss vom 13. Juli 2010 - BVerwG 1 C 14.09 - (Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 41 Rn. 15) offengelassen. Der erkennende Senat entscheidet sie zugunsten der vom Berufungsgericht vertretenen Auffassung, dass sich der Betroffene während des gesamten Zeitraums von fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben muss und über den gesamten Zeitraum freizügigkeitsberechtigt war. Für eine insoweit - gemäß Art. 37 der Richtlinie 2004/38/EG zulässige - überschießende Umsetzung im Freizügigkeitsgesetz/EU sind weder dem Gesetzeswortlaut noch den Gesetzesmaterialien Anhaltspunkte zu entnehmen. Der Gesetzgeber wollte das zuvor in § 2 Abs. 5 FreizügG/EU nicht unionsrechtlich vorgezeichnete, sondern aufgrund nationaler Regelungen ausgeformte Daueraufenthaltsrecht für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger (vgl. dazu BTDrucks 15/420 S. 102 f.) mit den durch die Unionsbürgerrichtlinie eingeführten neuen Vorgaben in § 4a FreizügG/EU zusammenfassen (BTDrucks 16/5065 S. 210). Systematisch spricht entscheidend für einen engen, auch auf die Freizügigkeitsvoraussetzungen abstellenden Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts in § 2 Abs. 5 FreizügG/EU a.F. und § 4a FreizügG/EU, dass der Gesetzgeber in der Anrechnungsregelung des § 11 Abs. 3 FreizügG/EU "Zeiten des rechtmäßigen Aufenthalt nach diesem Gesetz" den Zeiten eines (titelabhängigen) rechtmäßigen Aufenthalts nach dem Aufenthaltsgesetz gegenüber gestellt hat (BTDrucks 15/420 S. 106). Dass es im Kontext des Freizügigkeitsgesetzes/EU für die Annahme eines rechtmäßigen Aufenthalts der Freizügigkeitsberechtigung bedarf, entspricht auch der auf eine zunehmende Integration infolge eines gesicherten Aufenthalts abstellenden Begründung des Gesetzentwurfs (BTDrucks 15/420 S. 103) sowie dem Sinn und Zweck der Regelung, der durch den freizügigkeitsgestützten Voraufenthalt erhöhten Integration durch ein Daueraufenthaltsrecht Rechnung zu tragen.

21

Die Zeitspanne, in der zur Begründung eines Daueraufenthaltsrechts fünf Jahre lang ununterbrochen die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG vorgelegen haben müssen, braucht indes nicht der Zeitraum unmittelbar vor der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz zu sein (a.A. VGH Mannheim, Beschluss vom 14. März 2006 - 13 S 220/06, AuAS 2006, 218 zu § 2 Abs. 5 FreizügG/EU). Der Senat entnimmt der Entscheidung des Gerichtshofs im Urteil vom 7. Oktober 2010 - Rs. C-162/09, Lassal - (NVwZ 2011, 32 Rn. 33 - 39), dass der ununterbrochene Fünfjahreszeitraum nicht bis zuletzt angedauert haben muss, sondern auch weiter zurück in der Vergangenheit liegen kann.

22

Im vorliegenden Fall bestimmen sich die Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung auch für Aufenthaltszeiten, die vor dem Beitritt Polens am 1. Mai 2004 liegen, nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG. Im Unterschied zu der Fallgestaltung einer Unionsbürgerin der ersten Stunde, die dem Urteil vom 7. Oktober 2010 (a.a.O. Rn. 40) zugrunde lag, hat der Gerichtshof für die hier vorliegende Fallkonstellation eines ehemaligen Drittstaaters, dessen Herkunftsland mittlerweile der Union beigetreten ist, im Urteil vom 21. Dezember 2011 (a.a.O. Rn. 61 f.) die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG enthaltenen Voraussetzungen als maßgeblich für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts erachtet.

23

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben wird das Berufungsgericht insbesondere der Frage nachzugehen haben, ob der Kläger die Stellung eines Arbeitnehmers im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG erworben und die Erwerbstätigeneigenschaft über fünf Jahre behalten hat. Dafür könnte sprechen, dass er nach Aktenlage im Jahr 1994 eine Lehre zum Elektroinstallateur begonnen hat. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann eine in der Berufsausbildung befindliche Person Arbeitnehmer im Sinne des Art. 45 AEUV sein, wenn diese Ausbildung unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis durchgeführt wird (EuGH, Urteile vom 26. Februar 1992 - Rs. C-3/90, Bernini - Slg. I-1071 Rn. 14 und vom 17. März 2005 - Rs. C-109/04, Kranemann - Slg. I-2421 Rn. 14, 17 f.). Mit Blick auf die Ausgestaltung der dualen Berufsausbildung in Deutschland dürfte nicht daran zu zweifeln sein, dass ein Lehrling den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff erfüllt.

24

Zwar hat der Kläger nach Aktenlage die Lehre im Jahr 1996 abgebrochen. Das Berufungsgericht wird aber zu prüfen haben, ob er anschließend weiter als Arbeitnehmer tätig gewesen ist, so dass der (ergänzende) Bezug von Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz seine Arbeitnehmereigenschaft nicht ohne Weiteres in Frage stellen würde (vgl. EuGH, Urteil vom 3. Juni 1986 - Rs. C-139/85, Kempf - Slg. 1986, 1741 Rn. 14). Im Übrigen würde dem Kläger die Erwerbstätigeneigenschaft erhalten bleiben, solange er einen der Tatbestände des Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG erfüllt hätte.

25

Sollte das Berufungsgericht zu dem Ergebnis kommen, dass der Kläger die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG genannten Voraussetzungen nicht über einen ununterbrochenen Zeitraum von fünf Jahren erfüllt hat, würde sich die Frage stellen, ob er als Nichterwerbstätiger über ausreichende Existenzmittel verfügte, so dass er während seines Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen musste (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG). Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz sind Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG. Auch für ab dem 1. Januar 2005 bezogene Leistungen der Grundsicherung nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) spricht viel dafür, dass es sich jedenfalls bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§§ 19 ff. SGB II) um aufenthaltsrechtlich schädliche Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG handelt. Dafür ist es nicht entscheidend, dass finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, nicht als Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG angesehen werden können (EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009 - Rs. C-22/08 u.a., Vatsouras - Slg. 2009, I-4585 Rn. 45) und ob Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II eine solche Leistung bilden. Der in beiden Bestimmungen der Richtlinie enthaltene Begriff der Sozialhilfe muss nicht zwingend deckungsgleich sein (a.A. offenbar Breidenbach, ZAR 2011, 233 <236>). Denn die aufenthaltsrechtliche Fragestellung, ob ein Unionsbürger über ausreichend eigene Existenzmittel verfügt und keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen muss (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG), ist nach Sinn und Zweck der Regelung sowie ihrer systematischen Einordnung von der sozialrechtlichen Fragestellung zu unterscheiden, in welchem Umfange ein Aufnahmemitgliedstaat nach dem Gebot der Gleichbehandlung von Unionsbürgern mit Angehörigen des Mitgliedstaats (Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG) oder nach sonstigem Primär- (Art. 18 Abs. 1, Art. 21, 45 Abs. 2 AEUV) oder Sekundärrecht (vgl. z.B. der Verordnung Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit) gehindert ist, Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten von dem Bezug bestimmter steuerfinanzierter Sozialleistungen auszuschließen.

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 31. Januar 2008 - 9 K 2257/06 - geändert.

Die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 3. August 2006 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.
Der am … März 1973 in Tunesien geborene Kläger ist tunesischer Staatangehöriger. Er reiste erstmals 1988 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er etwa fünf Monate bei einer Tante in ... lebte. Dort lernte er seine spätere Ehefrau kennen, eine deutsche Staatsangehörige, die er am 29. Juli 1991 in Tunesien heiratete. Am 1. Dezember 1991 kehrte er im Rahmen des Familiennachzugs in die Bundesrepublik Deutschland zurück. Am 24. August 1992 wurde die gemeinsame Tochter ... geboren. Im Jahre 1993 trennte er sich von seiner Ehefrau. Mit Urteil vom 1. Juni 1995 wurde die Ehe geschieden und die elterliche Sorge für die gemeinsame Tochter zunächst der Mutter und im Februar 1996 auf ihn übertragen.
Am 7. September 1995 wurde der aus einer nichtehelichen Beziehung stammende Sohn ... geboren, der in einer Pflegefamilie lebt.
Am 2. April 1998 erhielt er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Ende der 90er-Jahre begann er, gelegentlich Kokain zu konsumieren, weshalb er in der Folge nur noch unregelmäßig an seinem jeweiligen Arbeitsplatz erschien. Im Jahre 2000 wurde er arbeitslos und lebte seitdem von Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe. Seine Leben war vor allem von Diskotheken- und Partybesuchen geprägt. Bei diesen Gelegenheiten betrank er sich häufig und konsumierte gelegentlich Kokain. Mehrfach musste er in alkoholisiertem Zustand in Polizeigewahrsam genommen werden. Das Jugendamt der Stadt ... wurde im Oktober 2002 auf die familiäre Situation aufmerksam. Auf seine Veranlassung wurde ihm wegen Vernachlässigung der Kindesinteressen und erzieherischen Versagens mit Beschluss des Familiengerichtes ... vom 12. März 2004 das Sorgerecht für die Tochter ... entzogen, die seit Mai 2003 bei der Schwester seiner geschiedenen Ehefrau lebte.
Von September 2003 bis 4. März 2004 hielt er sich in Tunesien auf. Nach seiner Rückkehr wurde er am gleichen Tag verhaftet und in Untersuchungshaft genommen.
Mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts ... vom 16. November 2004 (4 KLs 800 Js 24295/02) wurde er wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 97 Fällen sowie unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Bereits vorher war er mehrfach im Bundesgebiet straffällig geworden.
Nach vorheriger Anhörung wies das Regierungspräsidium Karlsruhe den Kläger mit Verfügung vom 3. August 2006 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm die Abschiebung nach Tunesien an. Zur Begründung führte das Regierungspräsidium aus: Er erfülle den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 2 AufenthG. Da er besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG genieße, könne er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche seien hier als Regelfall im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gegeben. Atypische Umstände lägen nicht vor. Zwar werde die Ist-Ausweisung gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zur Regel-Ausweisung herabgestuft. Es lägen jedoch keine Gründe für die Annahme eines atypischen Ausnahmefalles vor. Insbesondere ergebe sich ein solcher nicht aus dem Umstand, dass der Kläger Vater eines Sohnes sei und auch nicht aus dem Schutz der familiären Beziehung zu seiner deutschen Tochter, auch wenn er seine Bereitschaft zur Durchführung einer Drogentherapie erklärt habe. Selbst wenn ein atypischer Sachverhalt vorläge, sei nach Abwägung seiner Interessen mit dem öffentlicher Interesse an seiner Ausreise auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine Ausweisung aus Ermessensgründen gerechtfertigt und geboten.
Die Verfügung wurde dem Kläger am 21. August 2006 zugestellt.
10 
Am 8. September 2006 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Karlsruhe und beantragte zugleich die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.
11 
Der Beklagte trat der Klage aus den Gründen der angegriffenen Entscheidung entgegen.
12 
Mit Beschluss vom 29. Januar 2007 (9 K 2258/06) lehnte das Verwaltungsgericht das vorläufige Rechtsschutzbegehren ab. Die hiergegen erhobene Beschwerde wies der Senat mit Beschluss vom 15. März 2007 - 11 S 428/07 - zurück.
13 
Am 16. März 2007 wurde der Kläger aus der Haft heraus abgeschoben, nachdem der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt worden war.
14 
Im Laufe des Monats Dezember 2007 reiste der Kläger unerlaubt wieder in die Bundesrepublik Deutschland ein.
15 
Aus einer nichtehelichen Beziehung zu der litauischen Staatsangehörigen ... ... ging der am 19. September 2008 in Frankreich geborene gemeinsame Sohn ... hervor; beide Eltern üben gemeinsam das Sorgerecht aus. Frau ... lebte und lebt in ..., wo sie mittlerweile einer Vollzeitbeschäftigung als Zimmermädchen nachgeht.
16 
Durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts ... vom 7. Februar 2009 (5227 Js 2836/08.b Ds) wurde der Kläger wegen der illegalen Einreise zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von 6 Monaten ohne Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Der Kläger verbüßte in der Folgezeit diese Strafe vollständig.
17 
Unter dem 6. Juni 2008 widerrief das Landgericht ... die Aussetzung des Strafrestes aus dem Urteil vom 16. November 2004 zur Bewährung. Da der Aufenthalt des Klägers in der Folgezeit seit 2. November 2008 nicht bekannt war, erging am 4. Dezember 2008 ein Vollstreckungshaftbefehl der Staatsanwaltschaft .... Zuvor hatte er mit Frau ... und dem gemeinsamen Sohn zusammen in ... gelebt. Seit 7. Juli 2009 verbüßt der Kläger in der Justizvollzugsanstalt ... den Strafrest.
18 
Mit Urteil vom 31. Januar 2008 wies das Verwaltungsgericht Karlsruhe die Klage ab und führte zur Begründung aus: Die Klage sei schon wegen nachträglichen Entfallens des Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Ein Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzbedürfnisses komme im Einzelfall auch dann in Betracht, wenn das Verhalten eines Rechtsschutzsuchenden Anlass zu der Annahme biete, dass ihm an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen sei. Berechtigte Zweifel am Fortbestehen des Interesses an einer Sachentscheidung durch das Gericht könne ein Kläger auch durch den Abbruch des Kontakts zu einem das Gerichtsverfahren betreibenden Bevollmächtigten begründen. So lägen die Dinge hier. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers habe sowohl in einem Telefongespräch gegenüber dem Berichterstatter als auch schriftlich mitgeteilt, dass sie keinen Kontakt zum Kläger mehr habe.
19 
Das Urteil wurde dem Kläger am 27. März 2008 zugestellt.
20 
Am 14. April 2008 beantragte der Kläger die Zulassung der Berufung und trug zur Begründung eine ladungsfähige Anschrift vor, weshalb wieder das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis bestehe.
21 
Durch Beschluss vom 20. Juni 2008 - dem Kläger am 26. Juni 2008 zugestellt - ließ der Senat die Berufung zu, die der Kläger am 17. Juli 2008 unter Stellung eines Antrags begründete.
22 
Er führt aus: Mit Rücksicht auf das gemeinsame Sorgerecht für den Sohn ..., der auch wegen dem durch seine Mutter gesicherten Lebensunterhalt freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger sei, sei er selbst nach den Grundsätzen des EuGH-Urteils in der Sache Chen freizügigkeitsberechtigt. Er habe früher über viele Jahre selbst gearbeitet. Seit seiner Inhaftierung im März 2004 habe er keine Drogen mehr zu sich genommen. Anfang des Jahres 2009 seien mehrere kontrollierte Drogentests mit negativem Ergebnis gemacht worden. Er sei bis zum Haftantritt in regelmäßiger ambulanter ärztlicher und therapeutischer Betreuung gewesen, insbesondere habe er regelmäßig den Drogenverein ... aufgesucht, woraus sich auch ableiten lasse, dass er sich - entgegen den Vermutungen des Beklagten - ständig weiter in ... aufgehalten habe. Beim ihm liege allerdings eine Polytoxikomanie vor und es sei eine schizoaffektive Psychose diagnostiziert worden. Er wolle seine Verlobte heiraten, was aber erhebliche Schwierigkeiten mache und auch sehr viel Zeit koste, da die Ehescheidung noch in einem aufwändigen Verfahren in Tunesien anerkannt werden müsse. Die Zweifel des Beklagten an der Beziehung des Klägers zu seiner Verlobten und seinem Kind und der Intensität der Beziehung seien nicht berechtigt. Das Kind sei in ... geboren worden, weil sie an sich die Absicht gehabt hätten, nach Frankreich zu gehen, was sich dann aber zerschlagen habe, weshalb sie wieder nach ... zurückgekehrt seien.
23 
Der Kläger beantragt,
24 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 31. Januar 2008 - 9 K 2257/06 - zu ändern und die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 3. August 2006 aufzuheben.
25 
Die Beklagte tritt der Berufung entgegen und führt aus: Entgegen der Auffassung des Klägers sei er nicht freizügigkeitsberechtigt, weil sein Sohn ihm keinen Unterhalt leiste und auch er ihm keinen leisten könne. Die vom EuGH in der Rechtssache Chen entwickelten Grundsätze beträfen daher einen anderen Fall. Nachdem nunmehr Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK zugunsten des Klägers zu berücksichtigen seien, könne die Ausweisung nur noch als Ermessensentscheidung ergehen. Dabei sei aber zu berücksichtigen, dass mit Rücksicht auf die beim Kläger gestellte Diagnose und seinen früheren Drogenkonsum von diesem nach wie vor eine erhebliche Gefährdung ausgehe, weshalb an der Ausweisung festgehalten werde. Gewisse Zweifel an der Beziehung zu Frau ... und dem Kind ... bestünden deshalb, weil das Kind nach der Geburtsurkunde in Frankreich geboren sei und hiernach Frau ... auch dort gewohnt haben soll.
26 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen. Dem Senat liegen die Ausländerakten der Stadt ..., die Akten des Regierungspräsidiums Karlsruhe sowie die Strafakten des Landgerichts ... einschließlich der hierzu gehörenden Vollstreckungsakten der Staatsanwaltschaft ... vor; weiter die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes angefallenen Akten des Verwaltungsgerichts Karlsruhe und des Senats.

Entscheidungsgründe

 
27 
Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO).
28 
Die vom Senat zugelassene Berufung, die rechtzeitig und formgerecht unter Stellung eines Antrags begründet wurde, hat Erfolg.
29 
Zu dem maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (vgl. BVerwG, Urteil v. 15. November 2007 – 1 C 45.06 – BVerwGE 130, 20 <22 ff.>) ist die angegriffene Ausweisung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
30 
Nachdem mittlerweile eine ladungsfähige Anschrift des Klägers wieder bekannt geworden ist, sind die vom Verwaltungsgericht formulierten Einwände gegen das Bestehen des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses behoben.
31 
Die vom Beklagten ausgesprochene Ausweisungsverfügung wurde von ihm auf die §§ 53 ff. AufenthG gestützt. Diese Rechtsgrundlagen sind indes nicht mehr geeignet, die Verfügung zu tragen, weil der Kläger mittlerweile Familienangehöriger eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger geworden ist (1.) und die streitgegenständliche Verfügung auch nicht nach § 47 LVwVfG in eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU umgedeutet werden kann (2.).
1.
32 
Der Kläger ist in entsprechender bzw. erweiternder unionsrechtskonformer Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU Familienangehöriger seines am 19. September 2008 in Frankreich geborenen und nach der Geburt im Bundesgebiet lebenden Sohnes litauischer Staatsangehörigkeit. Die Mutter des Sohnes, die ebenfalls die litauische Staatsangehörigkeit besitzt, lebte vor der Geburt und lebt auch weiterhin mit ihrem Sohn im Bundesgebiet in häuslicher Gemeinschaft. Sie ist im Besitz einer Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU der Stadt... und im Übrigen seit 19. August 2009 (auf ein Jahr befristet) bei der Firma ... ... in Vollzeitarbeit beschäftigt und mit dem Sohn gesetzlich krankenversichert.
33 
Ausgehend hiervon hat der Sohn des Klägers die Stellung eines Freizügigkeit genießenden Unionsbürgers (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 5 und § 4 FreizügG/EU).
34 
Der Kläger, der zusammen mit seiner Lebensgefährtin sorgeberechtigt ist, ist auch Familienangehöriger im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU. Der Senat kann offen lassen, ob insoweit auch vorausgesetzt wird, dass weiterhin eine familiäre Lebensgemeinschaft besteht und diese nicht endgültig aufgehoben sein darf (vgl. im Einzelnen Epe, in: GK-AufenthG § 3 FreizügG/EU Rdn. 35). Denn jedenfalls bestand - ohne dass insoweit hieran durchgreifende Zweifel bestünden - eine solche zunächst bei der Geburt und im Anschluss daran. Auch wenn der Kläger sich in der Folgezeit nach Erlass des Vollstreckungshaftbefehls vom 4. Dezember 2008 vorübergehend nicht in der gemeinsamen Wohnung aufgehalten haben sollte, ist diese vorübergehende Trennung ebenso unschädlich wie die spätere am 7. Juli 2009 erfolgte Inhaftierung zur Verbüßung der Reststrafe, jedenfalls wenn nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand und den Plänen der Beteiligten eine Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft nach der Haftentlassung zu erwarten ist.
35 
Zwar sind nach dem Wortlaut der Vorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU nur solche Verwandten in aufsteigender Linie auch freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige, denen der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger Unterhalt gewährt, was der Sohn des Klägers offensichtlich nicht tut. Nach Auffassung des Senats ist die Bestimmung namentlich mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK sowie Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union jedoch erweiternd dahingehend zu verstehen, dass die Einschränkung der Unterhaltsgewährung nicht für minderjährige freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger gilt, wenn der Verwandte in aufsteigender Linie sorgeberechtigt ist, es sich also insbesondere um einen sorgeberechtigten Elternteil handelt.
36 
Unübersehbar hat der Gesetzgeber bei der Formulierung der später verabschiedeten Fassung des § 3 Abs. 2 AufenthG in erster Linie die Fälle im Auge gehabt, in denen der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger volljährig und erwerbstätig ist und hat deshalb den Nachzug seiner Verwandten in aufsteigender Linie restriktiv gefasst, um eine Belastung der öffentlichen Kassen zu vermeiden bzw. zu begrenzen. Andererseits hat er aber durchaus in der gleichen Bestimmung die besondere Situation des nicht aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigten Elternteils, der das Sorgerecht hinsichtlich eines minderjährigen Kindes ausübt, gesehen und gewürdigt. In § 3 Abs. 4 FreizügG/EU (vgl. auch Art. 12 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG v. 29. April 2004) wird für den Fall des Todes oder Wegzugs des freizügigkeitsberechtigten anderen Elternteils den Kindern und dem personensorgeberechtigten Elternteil bis zum Abschluss der Ausbildung der Kinder ein Aufenthaltsrecht eingeräumt, und zwar völlig losgelöst von irgendwelchen Unterhaltszahlungen. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht nachzuvollziehen und nicht zu rechtfertigen, dass gewissermaßen bis zum Zeitpunkt des Todes oder des Wegzugs bei bis dahin erfolgender gemeinsamer Ausübung der Personensorge der drittstaatsangehörige sorgeberechtigte Elternteil zur Wahrung der Familieneinheit nicht an der Freizügigkeit teilnähme und lediglich den allgemeinen Status eines Drittstaatsangehörigen hätte.
37 
Zwar entspricht die Definition des Familienangehörigen nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU einschließlich des Unterhaltserfordernisses den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben des Art. 2 Nr. 2 lit. d) der Richtlinie 2004/38/EG v. 29. April 2004. Auch in diesem Zusammenhang bestimmt, wie bereits oben angesprochen, Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie, dass weder infolge des Wegzugs des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat oder dessen Todes für den anderen Elternteil, der die elterliche Sorge ausübt, oder das Kind das Recht auf Aufenthalt verloren geht, solange das Kind in einer Bildungseinrichtung eingeschrieben ist. Weiter muss in diesem Zusammenhang zum sachgerechten Verständnis Art. 3 Abs. 2 a dieser Richtlinie einbezogen werden. Hiernach soll der Aufenthalt auch solcher Personen begünstigt werden, die gerade nicht der engeren Begrifflichkeit des Art. 2 Nr. 2 lit. d) der Richtlinie 2004/38/EG entsprechen, die jedoch früher im Heimatstaat mit dem freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen zusammen in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben. Auch hier wäre es nur schwer verständlich, wenn der sorgeberechtigte Elternteil im Falle der Geburt in einem Mitgliedstaat, der von diesem Zeitpunkt zusammen in familiärer Gemeinschaft lebte, anders und wesentlich ungünstiger behandelt würde mit der Folge, dass jedenfalls im Unionsrecht auf sekundärrechtlicher Ebene eine Gewährleistung der Familieneinheit nicht effektiv gesichert wäre. Denn die Richtlinie 2003/86/EG v. 22. September 2003 betrifft nur den Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen zu Drittstaatszugehörigen und würde auch bei einer entsprechenden Anwendung von deren Art. 4 Abs. 2 lit. b) nicht weiter helfen, ganz abgesehen davon, dass insoweit gemeinschaftsrechtlich nur eine Öffnungsklausel für die jeweilige nationale Gesetzgebung der Mitgliedstaaten besteht. Denn auch hier besteht die Verknüpfung mit der Leistung von Unterhalt. Sekundärrechtlich bestünden damit keine wirksamen Vorkehrungen gegen eine Trennung der gemeinsam sorgeberechtigten Elternteile voneinander bzw. eines Elternteils von den minderjährigen Kindern. Es ist nicht ersichtlich, dass nach der Konzeption des FreizügG/EU wie auch der des Unionsrechts solches beabsichtigt gewesen sein könnte.
38 
Der Europäische Gerichtshof hat zum inhaltlich im Wesentlichen gleich lautenden Art. 1 Abs. 2 lit. b) der – aufgehobenen - Richtlinie 90/364/EWG v. 28. Juni 1990 in Fällen, in denen nur ein Elternteil für ein freizügigkeitsberechtigtes Kleinkind tatsächlich gesorgt hat, sich vom strikten Wortlaut der Norm gelöst und dem betreffenden Elternteil ein Freizügigkeitsrecht als Familienangehöriger zuerkannt, obwohl er von dem Kind keinen Unterhalt erhielt, und dies damit begründet, dass andernfalls dem freizügigkeitsbedingten Aufenthaltsrecht des Kindes nach Art. 21 AEUV „jede praktische Wirksamkeit genommen würde“ (vgl. EuGH; Urt. v. 19. Oktober 2004 – C-200/99, Zhu und Chen - InfAuslR 2004, 413 Rn. 45 f. auch unter Hinweis auf das Urteil v. 17. September 2002 – C-413/99, Baumbast - InfAuslR 2002, 463 Rn. 71 ff.). Allerdings unterschied sich die Rechtssache Zhu und Chen von der hier zu beurteilenden Fallgestaltung dadurch, dass bei Frau Zhu eine wirtschaftliche Existenzsicherung gegeben war (in diesem Sinne auch Ziff. 3.2.2.2 AVwV-FreizügG/EU), während hier die wirtschaftliche Lage des Klägers - im Gegensatz zu der seines Sohnes - jedenfalls gegenwärtig und solange er noch seine Reststrafe verbüßt und keine Perspektive einer eigenen Erwerbstätigkeit von einigem Gewicht besteht, ungesichert erscheint (vgl. auch § 3 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 4 FreizügG/EU). Wie aber bereits ausgeführt, wäre es im Hinblick auf den durch Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gerade auch unionsrechtlich zu gewährleistenden effektiven Schutz der familiären Gemeinschaft mit einem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger nicht gerechtfertigt, eine hiervon abweichende Behandlung der vorliegenden Fallkonstellation zu befürworten (vgl. zur Bedeutung des Art. 8 EMRK in diesem Zusammenhang EuGH, Urteil v. v. 17. September 2002 – C-413/99, a.a.O. Rdn. 72). Der sorgeberechtigte Vater ist mithin auch ohne Unterhaltsgewährung durch das Kind gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU „Familienangehöriger“ seines leiblichen Kindes.
2.
39 
Eine Umdeutung der Ausweisungsverfügung in eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU scheidet aus. Nach § 47 LVwVfG kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Das gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt, in den der fehlerhafte Verwaltungsakt umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspräche oder seine Rechtsfolgen für den Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsaktes.
40 
Ein Verwaltungsakt ist u.a. dann nicht auf das gleiche Ziel gerichtet, wenn der Verwaltungsakt, in den umgedeutet würde, gegenüber dem ursprünglichen Verwaltungsakt wesensverschieden wäre (vgl. Sachs, in: Stelkens/ Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., 2008, § 47 Rdn. 34 ff.; Schwemmer, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, § 47 Rdn. 21 ff.). Davon ist hier auszugehen. Denn die Verlustfeststellung beträfe eine völlig andere – wesentlich privilegiertere – Rechtsstellung, die darüber hinaus einem grundlegend anders strukturierten rechtlichen Regime unterliegt.
41 
Ob eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU getroffen werden kann und auch soll, hat der Beklagte daher zunächst in eigener Zuständigkeit und Verantwortung zu klären und zu entscheiden.
42 
Der Senat kann deshalb offen lassen, ob - als unabdingbare Voraussetzung einer Umdeutung - das Regierungspräsidium Karlsruhe hier abweichend von der allgemeinen Zuständigkeit der unteren Ausländerbehörde gleichfalls zuständig wäre. Zwar wird ihm in § 6 Abs. 3 der Aufenthalts- und Asyl-Zuständigkeitsverordnung (AAZuVO) v. 2. Dezember 2008 eine solche Zuständigkeit ausdrücklich eingeräumt. In der Eingangsformel der Verordnung wird allerdings insoweit keine einschlägige Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der Rechtsverordnung genannt (vgl. Art. 61 Abs. 1 LV BW). Eine solche ist auch nicht ersichtlich. Insbesondere ist § 71 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nach § 11 Abs. 1 FreizügG/EU gerade nicht anzuwenden und auch § 12 Abs. 1 Satz 2 LVG a.F. betrifft bei einer an sich bestehenden Zuständigkeit der Regierungspräsidien nur den Fall der Konzentration auf ein einziges Regierungspräsidium. § 12 Abs. 1 Satz 1 LVG a.F. wird in der Eingangsformel nicht in Bezug genommen und enthielte im Übrigen keine eigenständige und originäre Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer Rechtsverordnung. § 6 Abs. 3 AAZuVO könnte mithin nichtig sein.
43 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
44 
Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (vgl. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
45 
Beschluss vom 22. März 2010
46 
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird gem. den §§ 47 Abs. 1 und 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,- EUR festgesetzt.
47 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Gründe

 
27 
Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO).
28 
Die vom Senat zugelassene Berufung, die rechtzeitig und formgerecht unter Stellung eines Antrags begründet wurde, hat Erfolg.
29 
Zu dem maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (vgl. BVerwG, Urteil v. 15. November 2007 – 1 C 45.06 – BVerwGE 130, 20 <22 ff.>) ist die angegriffene Ausweisung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
30 
Nachdem mittlerweile eine ladungsfähige Anschrift des Klägers wieder bekannt geworden ist, sind die vom Verwaltungsgericht formulierten Einwände gegen das Bestehen des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses behoben.
31 
Die vom Beklagten ausgesprochene Ausweisungsverfügung wurde von ihm auf die §§ 53 ff. AufenthG gestützt. Diese Rechtsgrundlagen sind indes nicht mehr geeignet, die Verfügung zu tragen, weil der Kläger mittlerweile Familienangehöriger eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger geworden ist (1.) und die streitgegenständliche Verfügung auch nicht nach § 47 LVwVfG in eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU umgedeutet werden kann (2.).
1.
32 
Der Kläger ist in entsprechender bzw. erweiternder unionsrechtskonformer Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU Familienangehöriger seines am 19. September 2008 in Frankreich geborenen und nach der Geburt im Bundesgebiet lebenden Sohnes litauischer Staatsangehörigkeit. Die Mutter des Sohnes, die ebenfalls die litauische Staatsangehörigkeit besitzt, lebte vor der Geburt und lebt auch weiterhin mit ihrem Sohn im Bundesgebiet in häuslicher Gemeinschaft. Sie ist im Besitz einer Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU der Stadt... und im Übrigen seit 19. August 2009 (auf ein Jahr befristet) bei der Firma ... ... in Vollzeitarbeit beschäftigt und mit dem Sohn gesetzlich krankenversichert.
33 
Ausgehend hiervon hat der Sohn des Klägers die Stellung eines Freizügigkeit genießenden Unionsbürgers (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 5 und § 4 FreizügG/EU).
34 
Der Kläger, der zusammen mit seiner Lebensgefährtin sorgeberechtigt ist, ist auch Familienangehöriger im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU. Der Senat kann offen lassen, ob insoweit auch vorausgesetzt wird, dass weiterhin eine familiäre Lebensgemeinschaft besteht und diese nicht endgültig aufgehoben sein darf (vgl. im Einzelnen Epe, in: GK-AufenthG § 3 FreizügG/EU Rdn. 35). Denn jedenfalls bestand - ohne dass insoweit hieran durchgreifende Zweifel bestünden - eine solche zunächst bei der Geburt und im Anschluss daran. Auch wenn der Kläger sich in der Folgezeit nach Erlass des Vollstreckungshaftbefehls vom 4. Dezember 2008 vorübergehend nicht in der gemeinsamen Wohnung aufgehalten haben sollte, ist diese vorübergehende Trennung ebenso unschädlich wie die spätere am 7. Juli 2009 erfolgte Inhaftierung zur Verbüßung der Reststrafe, jedenfalls wenn nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand und den Plänen der Beteiligten eine Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft nach der Haftentlassung zu erwarten ist.
35 
Zwar sind nach dem Wortlaut der Vorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU nur solche Verwandten in aufsteigender Linie auch freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige, denen der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger Unterhalt gewährt, was der Sohn des Klägers offensichtlich nicht tut. Nach Auffassung des Senats ist die Bestimmung namentlich mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK sowie Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union jedoch erweiternd dahingehend zu verstehen, dass die Einschränkung der Unterhaltsgewährung nicht für minderjährige freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger gilt, wenn der Verwandte in aufsteigender Linie sorgeberechtigt ist, es sich also insbesondere um einen sorgeberechtigten Elternteil handelt.
36 
Unübersehbar hat der Gesetzgeber bei der Formulierung der später verabschiedeten Fassung des § 3 Abs. 2 AufenthG in erster Linie die Fälle im Auge gehabt, in denen der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger volljährig und erwerbstätig ist und hat deshalb den Nachzug seiner Verwandten in aufsteigender Linie restriktiv gefasst, um eine Belastung der öffentlichen Kassen zu vermeiden bzw. zu begrenzen. Andererseits hat er aber durchaus in der gleichen Bestimmung die besondere Situation des nicht aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigten Elternteils, der das Sorgerecht hinsichtlich eines minderjährigen Kindes ausübt, gesehen und gewürdigt. In § 3 Abs. 4 FreizügG/EU (vgl. auch Art. 12 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG v. 29. April 2004) wird für den Fall des Todes oder Wegzugs des freizügigkeitsberechtigten anderen Elternteils den Kindern und dem personensorgeberechtigten Elternteil bis zum Abschluss der Ausbildung der Kinder ein Aufenthaltsrecht eingeräumt, und zwar völlig losgelöst von irgendwelchen Unterhaltszahlungen. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht nachzuvollziehen und nicht zu rechtfertigen, dass gewissermaßen bis zum Zeitpunkt des Todes oder des Wegzugs bei bis dahin erfolgender gemeinsamer Ausübung der Personensorge der drittstaatsangehörige sorgeberechtigte Elternteil zur Wahrung der Familieneinheit nicht an der Freizügigkeit teilnähme und lediglich den allgemeinen Status eines Drittstaatsangehörigen hätte.
37 
Zwar entspricht die Definition des Familienangehörigen nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU einschließlich des Unterhaltserfordernisses den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben des Art. 2 Nr. 2 lit. d) der Richtlinie 2004/38/EG v. 29. April 2004. Auch in diesem Zusammenhang bestimmt, wie bereits oben angesprochen, Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie, dass weder infolge des Wegzugs des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat oder dessen Todes für den anderen Elternteil, der die elterliche Sorge ausübt, oder das Kind das Recht auf Aufenthalt verloren geht, solange das Kind in einer Bildungseinrichtung eingeschrieben ist. Weiter muss in diesem Zusammenhang zum sachgerechten Verständnis Art. 3 Abs. 2 a dieser Richtlinie einbezogen werden. Hiernach soll der Aufenthalt auch solcher Personen begünstigt werden, die gerade nicht der engeren Begrifflichkeit des Art. 2 Nr. 2 lit. d) der Richtlinie 2004/38/EG entsprechen, die jedoch früher im Heimatstaat mit dem freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen zusammen in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben. Auch hier wäre es nur schwer verständlich, wenn der sorgeberechtigte Elternteil im Falle der Geburt in einem Mitgliedstaat, der von diesem Zeitpunkt zusammen in familiärer Gemeinschaft lebte, anders und wesentlich ungünstiger behandelt würde mit der Folge, dass jedenfalls im Unionsrecht auf sekundärrechtlicher Ebene eine Gewährleistung der Familieneinheit nicht effektiv gesichert wäre. Denn die Richtlinie 2003/86/EG v. 22. September 2003 betrifft nur den Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen zu Drittstaatszugehörigen und würde auch bei einer entsprechenden Anwendung von deren Art. 4 Abs. 2 lit. b) nicht weiter helfen, ganz abgesehen davon, dass insoweit gemeinschaftsrechtlich nur eine Öffnungsklausel für die jeweilige nationale Gesetzgebung der Mitgliedstaaten besteht. Denn auch hier besteht die Verknüpfung mit der Leistung von Unterhalt. Sekundärrechtlich bestünden damit keine wirksamen Vorkehrungen gegen eine Trennung der gemeinsam sorgeberechtigten Elternteile voneinander bzw. eines Elternteils von den minderjährigen Kindern. Es ist nicht ersichtlich, dass nach der Konzeption des FreizügG/EU wie auch der des Unionsrechts solches beabsichtigt gewesen sein könnte.
38 
Der Europäische Gerichtshof hat zum inhaltlich im Wesentlichen gleich lautenden Art. 1 Abs. 2 lit. b) der – aufgehobenen - Richtlinie 90/364/EWG v. 28. Juni 1990 in Fällen, in denen nur ein Elternteil für ein freizügigkeitsberechtigtes Kleinkind tatsächlich gesorgt hat, sich vom strikten Wortlaut der Norm gelöst und dem betreffenden Elternteil ein Freizügigkeitsrecht als Familienangehöriger zuerkannt, obwohl er von dem Kind keinen Unterhalt erhielt, und dies damit begründet, dass andernfalls dem freizügigkeitsbedingten Aufenthaltsrecht des Kindes nach Art. 21 AEUV „jede praktische Wirksamkeit genommen würde“ (vgl. EuGH; Urt. v. 19. Oktober 2004 – C-200/99, Zhu und Chen - InfAuslR 2004, 413 Rn. 45 f. auch unter Hinweis auf das Urteil v. 17. September 2002 – C-413/99, Baumbast - InfAuslR 2002, 463 Rn. 71 ff.). Allerdings unterschied sich die Rechtssache Zhu und Chen von der hier zu beurteilenden Fallgestaltung dadurch, dass bei Frau Zhu eine wirtschaftliche Existenzsicherung gegeben war (in diesem Sinne auch Ziff. 3.2.2.2 AVwV-FreizügG/EU), während hier die wirtschaftliche Lage des Klägers - im Gegensatz zu der seines Sohnes - jedenfalls gegenwärtig und solange er noch seine Reststrafe verbüßt und keine Perspektive einer eigenen Erwerbstätigkeit von einigem Gewicht besteht, ungesichert erscheint (vgl. auch § 3 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 4 FreizügG/EU). Wie aber bereits ausgeführt, wäre es im Hinblick auf den durch Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gerade auch unionsrechtlich zu gewährleistenden effektiven Schutz der familiären Gemeinschaft mit einem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger nicht gerechtfertigt, eine hiervon abweichende Behandlung der vorliegenden Fallkonstellation zu befürworten (vgl. zur Bedeutung des Art. 8 EMRK in diesem Zusammenhang EuGH, Urteil v. v. 17. September 2002 – C-413/99, a.a.O. Rdn. 72). Der sorgeberechtigte Vater ist mithin auch ohne Unterhaltsgewährung durch das Kind gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU „Familienangehöriger“ seines leiblichen Kindes.
2.
39 
Eine Umdeutung der Ausweisungsverfügung in eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU scheidet aus. Nach § 47 LVwVfG kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Das gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt, in den der fehlerhafte Verwaltungsakt umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspräche oder seine Rechtsfolgen für den Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsaktes.
40 
Ein Verwaltungsakt ist u.a. dann nicht auf das gleiche Ziel gerichtet, wenn der Verwaltungsakt, in den umgedeutet würde, gegenüber dem ursprünglichen Verwaltungsakt wesensverschieden wäre (vgl. Sachs, in: Stelkens/ Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., 2008, § 47 Rdn. 34 ff.; Schwemmer, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, § 47 Rdn. 21 ff.). Davon ist hier auszugehen. Denn die Verlustfeststellung beträfe eine völlig andere – wesentlich privilegiertere – Rechtsstellung, die darüber hinaus einem grundlegend anders strukturierten rechtlichen Regime unterliegt.
41 
Ob eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU getroffen werden kann und auch soll, hat der Beklagte daher zunächst in eigener Zuständigkeit und Verantwortung zu klären und zu entscheiden.
42 
Der Senat kann deshalb offen lassen, ob - als unabdingbare Voraussetzung einer Umdeutung - das Regierungspräsidium Karlsruhe hier abweichend von der allgemeinen Zuständigkeit der unteren Ausländerbehörde gleichfalls zuständig wäre. Zwar wird ihm in § 6 Abs. 3 der Aufenthalts- und Asyl-Zuständigkeitsverordnung (AAZuVO) v. 2. Dezember 2008 eine solche Zuständigkeit ausdrücklich eingeräumt. In der Eingangsformel der Verordnung wird allerdings insoweit keine einschlägige Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der Rechtsverordnung genannt (vgl. Art. 61 Abs. 1 LV BW). Eine solche ist auch nicht ersichtlich. Insbesondere ist § 71 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nach § 11 Abs. 1 FreizügG/EU gerade nicht anzuwenden und auch § 12 Abs. 1 Satz 2 LVG a.F. betrifft bei einer an sich bestehenden Zuständigkeit der Regierungspräsidien nur den Fall der Konzentration auf ein einziges Regierungspräsidium. § 12 Abs. 1 Satz 1 LVG a.F. wird in der Eingangsformel nicht in Bezug genommen und enthielte im Übrigen keine eigenständige und originäre Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer Rechtsverordnung. § 6 Abs. 3 AAZuVO könnte mithin nichtig sein.
43 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
44 
Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (vgl. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
45 
Beschluss vom 22. März 2010
46 
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird gem. den §§ 47 Abs. 1 und 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,- EUR festgesetzt.
47 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Gewährung weiterer Beihilfeleistungen für die Anschaffung der ihm ärztlich verordneten zwei Hörgeräte.

2

Er ist als Bundesbeamter im Ruhestand Versorgungsempfänger der Beklagten mit einem Beihilfebemessungssatz von 70 v.H.

3

Am 17. Januar 2011 beantragte der Kläger die Gewährung von Beihilfe für die am selben Tag erfolgte Beschaffung von zwei Hörgeräten zu einem Preis von jeweils 2 099 € sowie für die Beschaffung von zwei Maßotoplastiken zu einem Preis von jeweils 69 €. Der Rechnungsbetrag belief sich nach Abzug eines Kundenrabatts auf 4 124,10 €. Mit Bescheid vom 26. Januar 2011 setzte die Beklagte die Beihilfe insoweit auf einen Betrag von 1 435 € fest. Sie stützte sich auf die Höchstbetragsregelung des § 25 Abs. 1 Satz 2 der Bundesbeihilfeverordnung - BBhV - i.V.m. Ziff. 1 der Anlage 5, die die Beihilfefähigkeit der Aufwendungen für Hörgeräte, einschließlich der Nebenkosten, auf einen Betrag von 1 025 € je Ohr beschränkte.

4

Auf die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine weitere Beihilfe in Höhe von 1 451,87 € zu gewähren.

5

Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung der Beklagten stattgegeben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Aufwendungen für beide Hörgeräte seien zwar grundsätzlich beihilfefähig, da sie im Sinne des § 6 Abs. 1 BBhV notwendig sowie wirtschaftlich angemessen und die Hörgeräte - wie von § 25 Abs. 1 BBhV vorausgesetzt - erforderlich seien. Die Beihilfefähigkeit der Aufwendungen für Hörgeräte einschließlich der Nebenkosten sei aber durch § 25 Abs. 1 Satz 2 BBhV i.V.m. Ziff. 1 der Anlage 5 wirksam auf 1 025 € je Ohr begrenzt. Diese Höchstbetragsregelung finde ihre Rechtsgrundlage in § 80 Abs. 4 Bundesbeamtengesetz. Sie verstoße nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Ebenso stehe sie mit der verfassungsrechtlich in Art. 33 Abs. 5 GG verankerten Fürsorgepflicht des Dienstherrn in Einklang. Das Fehlen einer abstrakt-generellen Härtefallregelung für die Fälle, in denen ein Beamter wegen der Höhe seiner Alimentation in nicht mehr zumutbarer Weise mit krankheitsbedingten Aufwendungen belastet werde, ändere daran nichts. Denn unzumutbare Belastungen könnten, ohne dass es auf das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke ankomme, bis zum Erlass einer ausdrücklichen Regelung im Einzelfall durch die entsprechende Anwendung der Belastungsgrenze des § 50 Abs. 1 BBhV vermieden werden. Ob dem Kläger bei Anwendung der Belastungsgrenze eine weitere Beihilfe zustehe, sei in einem von ihm durch einen entsprechenden Antrag einzuleitenden gesonderten Verwaltungsverfahren zu ermitteln. Einen solchen Antrag habe der Kläger bisher nicht gestellt, so dass auch das (hilfsweise) auf Neubescheidung gerichtete Begehren keinen Erfolg habe.

6

Mit seiner Revision macht der Kläger Rechts- und Verfahrensfehler geltend. Er rügt eine Verletzung des Art. 33 Abs. 5 GG. Eine Höchstbetragsregelung, die - wie nach der hier noch maßgeblichen beihilferechtlichen Bestimmung - in den typischen Fällen keine ausreichende Versorgung mit Hörgeräten gewährleiste, verstoße gegen die Fürsorgepflicht des Dienstherrn. Der für Hörgeräte festgesetzte Höchstbetrag von 1 025 € je Ohr sei willkürlich und mit den tatsächlichen durchschnittlichen Kosten für Hörgeräte nicht in Übereinstimmung zu bringen. Dies stelle auch eine Art der Altersdiskriminierung dar, da Schwerhörigkeit eine Erkrankung sei, die in der Regel im fortgeschrittenen Lebensalter auftrete. Das angefochtene Urteil verletze zudem § 50 Abs. 1 BBhV. Diese Regelung könne nicht analog angewandt werden, da es sowohl an einer planwidrigen Regelungslücke als auch an einer Vergleichbarkeit der Sachverhalte fehle. Erforderliche Hilfsmittel seien in der Regel erheblich teurer als nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel. Darüber hinaus habe das Oberverwaltungsgericht das Gebot der prozessualen Fairness verletzt und eine unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen.

7

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.

Entscheidungsgründe

8

Die Revision, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg. Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), soweit das Oberverwaltungsgericht entscheidungstragend angenommen hat, § 50 Abs. 1 der Bundesbeihilfeverordnung vom 13. Februar 2009 (BGBl I S. 326) in der hier anzuwendenden Fassung der Ersten Verordnung zur Änderung der Bundesbeihilfeverordnung vom 17. Dezember 2009 (BGBl I S. 3922) - BBhV - sei auf Aufwendungen, die den in der Bundesbeihilfeverordnung für Hörgeräte einschließlich Nebenkosten festgesetzten Höchstbetrag überstiegen, entsprechend anzuwenden. Vielmehr ist insoweit § 25 Abs. 4 Satz 1 BBhV analog heranzuziehen. Ob ein Anspruch auf die geltend gemachte weitere Beihilfe bei Berücksichtigung dieser Vorschrift abzulehnen ist und sich die Entscheidung somit aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig erweist, kann der Senat mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen nicht entscheiden. Die Sache ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen. Damit bedarf es keiner Entscheidung über die von der Revision vorgebrachten Verfahrensrügen.

9

Die Voraussetzungen für die geltend gemachte weitere Beihilfe, die sich aus § 2 Abs. 1 Nr. 2, § 6 Abs. 1 Satz 1 und § 25 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. Ziff. 1 Anlage 5 BBhV ergeben, sind dem Grunde nach erfüllt. Für die rechtliche Beurteilung beihilferechtlicher Streitigkeiten ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Entstehens der Aufwendungen maßgeblich, für die Beihilfe verlangt wird (stRspr, vgl. Urteil vom 8. November 2012 - BVerwG 5 C 4.12 - Buchholz 270.1 § 22 BBhV Nr. 1 Rn. 12 m.w.N.). Maßgeblicher Zeitpunkt ist danach hier der Tag der Rechnungsstellung des Hörgeräteakustikers am 17. Januar 2011. Nach den genannten Bestimmungen haben Versorgungsempfänger einen Anspruch auf Beihilfe zu den notwendigen und wirtschaftlich angemessenen Aufwendungen für ein ärztlich verordnetes Hilfsmittel, das im Einzelfall erforderlich ist, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Das Hilfsmittel muss zudem in Anlage 5 BBhV genannt sein. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen steht zwischen den Beteiligten nicht im Streit. Zu entscheiden ist allein darüber, ob die Beihilfefähigkeit der Aufwendungen für die Anschaffung von Hörgeräten einschließlich der Nebenkosten zum maßgeblichen Zeitpunkt wirksam auf den Höchstbetrag von 1 025 € je Ohr beschränkt war. Das war der Fall. Ein Ausschluss - oder wie hier - eine Begrenzung der Beihilfefähigkeit stellt sich als Einschränkung des im Beihilferecht verankerten Grundsatzes dar, dass Beihilfe gewährt wird, soweit die Aufwendungen notwendig und angemessen sind (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 BBhV). Sie bedürfen deshalb in formeller Hinsicht einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage (1.) und müssen in materieller Hinsicht mit höherrangigem Recht vereinbar sein (2.) (vgl. Urteile vom 8. November 2012 a.a.O. Rn. 17 und vom 28. Mai 2009 - BVerwG 2 C 28.08 - Buchholz 270 § 6 BhV Nr. 19 Rn. 14 m.w.N.).

10

1. § 25 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Ziff. 1 der Anlage 5 BBhV bestimmt, dass die notwendigen und angemessenen Aufwendungen für die Anschaffung ärztlich verordneter Hörgeräte, einschließlich der Nebenkosten bis zu 1 025 € je Ohr gegebenenfalls zuzüglich der Aufwendungen einer medizinisch notwendigen Fernbedienung beihilfefähig sind.

11

Diese Verordnungsregelung beruht auf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Verordnungsermächtigung. Denn sie wurde auf der Grundlage des § 80 Abs. 4 Bundesbeamtengesetz - BBG - vom 5. Februar 2009 (BGBl I S. 160) in der rückwirkend zum 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes vom 14. November 2011 (BGBl I S. 2219) erlassen. Danach regelt das Bundesministerium des Innern im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium der Finanzen, dem Bundesministerium der Verteidigung und dem Bundesministerium für Gesundheit durch Rechtsverordnung die Einzelheiten der Beihilfegewährung, insbesondere der Höchstbeträge, des völligen oder teilweisen Ausschlusses von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln in Anlehnung an das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch und der Berücksichtigung von Kindern. Von dieser Verordnungsermächtigung ist die in Rede stehende Höchstbetragsregelung gedeckt. Konkrete inhaltliche Vorgaben für die Festlegung und Ausgestaltung der Höchstbeträge sind der Verordnungsermächtigung nicht zu entnehmen. Sie verpflichtet den Verordnungsgeber insbesondere nicht, sich insoweit an den Regelungen des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung (z.B. § 36 Abs. 3 i.V.m. § 35 Abs. 5 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB V - in der Fassung des Gesetzes vom 20. Dezember 1988 , zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. März 2014 ), zu orientieren. Dafür sprechen bereits deutlich der Wortlaut des § 80 Abs. 4 BBG und dessen binnensystematische Gliederung. Nach dem Satzbau bezieht sich das Gebot, sich an das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch anzulehnen, nur auf den ebenfalls beispielhaft aufgezählten völligen oder teilweisen Ausschluss von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, nicht aber auf Höchstbeträge. Dieser Befund wird durch den in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers bestätigt. In der Gesetzesbegründung zu § 80 Abs. 4 BBG wird zwischen der Festlegung von Höchstbeträgen und dem Ausschluss der Beihilfefähigkeit von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln unterschieden. Die entsprechenden Regelungen des Fünften Buches Sozialgesetzbuch werden dabei - wie sich aus dem Wort "insoweit" erschließt - allein im Hinblick auf die dem Verordnungsgeber eingeräumte Möglichkeit in Bezug genommen, die Beihilfefähigkeit von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln auszuschließen. Nur "insoweit" soll sichergestellt werden, dass für die Beihilfe das gleiche Leistungsprogramm wie für gesetzlich Krankenversicherte gilt (vgl. BTDrucks 16/70769 S. 119).

12

2. Die Begrenzung der Beihilfefähigkeit für Hörgeräte auf den Höchstbetrag des § 25 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Ziff. 1 der Anlage 5 BBhV verletzt weder den allgemeinen Gleichheitssatz (a) noch die Fürsorgepflicht des Dienstherrn (b).

13

a) Die Höchstbetragsregelung für Hörgeräte ist mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Sie beruht auf einer angesichts der Begrenzung der Beihilfefähigkeit geforderten (vgl. Urteil vom 28. Mai 2009 a.a.O.) inneren, den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG standhaltenden Rechtfertigung (aa). Der Vergleich mit den Regelungen der gesetzlichen Krankenversicherung kann keinen Gleichheitsverstoß begründen (bb). Eine gleichheitswidrige Benachteiligung älterer Beihilfeberechtigter gegenüber jüngeren Beihilfeberechtigten liegt nicht vor (cc).

14

aa) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich zu behandeln, stellt es aber dem Normgeber frei, aufgrund autonomer Wertungen die Differenzierungsmerkmale auszuwählen, an die er eine Gleich- oder Ungleichbehandlung anknüpft. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz unterschiedliche Grenzen für den Normgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen können (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 13. März 2007 - 1 BvF 1/05 - BVerfGE 118, 79 <100> und vom 21. Juni 2011 - 1 BvR 2035/07 - BVerfGE 129, 49 <68> m.w.N.). Knüpft die Ungleichbehandlung nicht an ein personenbezogenes, d.h. von den Betroffenen gar nicht oder nur schwer beeinflussbares Merkmal, sondern an Lebenssachverhalte an oder hängt sie von freiwilligen Entscheidungen der Betroffenen ab, hat der Normgeber grundsätzlich einen weiten Gestaltungsspielraum. Ein Gleichheitsverstoß ist nur dann anzunehmen, wenn sich im Hinblick auf die Eigenart des geregelten Sachbereiches ein vernünftiger, einleuchtender Grund für die Regelung schlechthin nicht finden lässt, die Regelung also willkürlich erscheint. Bei der Ungleichbehandlung von Personengruppen unterliegt der Normgeber dagegen regelmäßig engen rechtlichen Bindungen. Dies gilt auch, wenn eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten mittelbar eine Ungleichbehandlung von Personengruppen bewirkt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. März 2007 a.a.O. m.w.N.). Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz kann in diesen Fällen schon dann angenommen werden, wenn für die Differenzierung keine Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können. Für beide Fallgruppen gilt, dass die vom Normgeber für eine Differenzierung im Beihilferecht angeführten Gründe auch vor der verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht des Dienstherrn Bestand haben müssen, in der die Beihilfe ihre Grundlage hat (vgl. zu Vorstehendem insgesamt Urteile vom 13. Dezember 2012 - BVerwG 5 C 3.12 - Buchholz 271 LBeihilfeR Nr. 43 Rn. 29 und vom 5. Mai 2010 - BVerwG 2 C 12.10 - ZBR 2011, 126 Rn. 10 f. jeweils m.w.N.). Zwar begründet die Durchbrechung einer vom Gesetz selbst statuierten Sachgesetzlichkeit für sich genommen noch keine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG. Sie kann jedoch ein Indiz für eine objektiv willkürliche Regelung oder das Fehlen eines nach Art und Gewicht hinreichenden Rechtfertigungsgrundes darstellen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. September 2009 - 1 BvR 2275/07 - ZOV 2009, 291 <295> m.w.N.). Solange der Gesetzgeber am gegenwärtig praktizierten "Mischsystem" aus privat finanzierter Vorsorge und ergänzender Beihilfe festhält, ist daher eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes indiziert, wenn eine bestimmte Regelung die im Beihilfesystem angelegte Sachgesetzlichkeit, dass notwendige und angemessene Aufwendungen beihilfefähig sind, ohne zureichenden Grund verlässt.

15

Hieran gemessen ist der für Hörgeräte in § 25 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Ziff. 1 der Anlage 5 BBhV festgesetzte Höchstbetrag nicht als willkürlich zu beanstanden. Der Senat ist auf eine Willkürprüfung beschränkt, da dieser Betrag an sachliche Unterschiede zwischen den in Anlage 5 BBhV genannten Hilfsmitteln anknüpft und hierdurch auch keine mittelbare Ungleichbehandlung von Personengruppen bewirkt wird. Die durch den Höchstbetrag bedingte Leistungsbegrenzung beruht auf einem auch unter Berücksichtigung der Fürsorgepflicht plausiblen und sachlich vertretbaren Grund. Bei der Entscheidung, ob und für welche Hilfsmittel im Einzelnen die notwendigen und angemessenen Anschaffungskosten nur bis zu einer bestimmten Obergrenze als beihilfefähig anerkannt und demzufolge die Beihilfeberechtigten gegebenenfalls mit einem Teil dieser Kosten belastet werden, steht dem Normgeber ein Gestaltungsspielraum zu (vgl. Urteile vom 28. April 2011 - BVerwG 2 C 51.08 - ZBR 2011, 379 Rn. 14 und vom 31. Januar 2002 - BVerwG 2 C 1.01 - Buchholz 237.0 § 101 BaWüLBG Nr. 1 S. 2 f.). Die Festlegung des in Rede stehenden Höchstbetrages für Hörgeräte überschreitet diesen Spielraum nicht. Sie erlaubt in einer Vielzahl von Fällen die Anschaffung medizinisch notwendiger und technisch hochwertiger Hörgeräte. Soweit eine Zuzahlung erforderlich ist, liegt dem Höchstbetrag erkennbar die willkürfreie Wertung zugrunde, dass es sich insoweit um hochpreisige Hilfsmittel handelt, die im Allgemeinen eine längere Lebensdauer aufweisen und nicht in kürzeren Abständen angeschafft werden müssen. Demzufolge verteilt sich eine etwaige den Beihilfeberechtigten treffende finanzielle Belastung rechnerisch auf mehrere Jahre, sodass dieser regelmäßig in der Lage sein wird, hierfür eine entsprechende Eigenvorsorge zu treffen.

16

bb) Eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG lässt sich auch nicht damit begründen, dass gesetzlich Krankenversicherte nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 17. Dezember 2009 - B 3 KR 20/08 R - BSGE 105, 170) einen Anspruch auf kostenfreie Versorgung mit einem Hörgerät haben, das einen im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung festgelegten Festbetrag übersteigt, wenn eine objektiv ausreichende Versorgung zum Festbetrag unmöglich ist. Unabhängig davon, ob hier überhaupt ein solcher Fall vorliegt, wird das Gebot der Gleichbehandlung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG in der Regel und so auch hier durch Unterschiede in der Leistungsgewährung nach den Beihilfevorschriften des Bundes und den Vorschriften des Fünften Buches Sozialgesetzbuch nicht verletzt. Denn die Krankheitsvorsorge aufgrund von Beihilfe und ergänzender Privatversicherung unterscheidet sich im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Verankerung, die Finanzierung, die Leistungsvoraussetzungen, das Leistungsspektrum und die Leistungsformen grundlegend von der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. Urteil vom 5. Mai 2010 a.a.O. Rn. 17 m.w.N.).

17

cc) Die höhenmäßige Begrenzung der Beihilfefähigkeit für Hörgeräte benachteiligt - entgegen der Auffassung des Klägers - auch nicht gleichheitswidrig Beihilfeberechtigte "im fortgeschrittenen Lebensalter" gegenüber jüngeren Beihilfeberechtigten. Sie unterscheidet nicht zwischen diesen beiden Personengruppen, sondern gilt unterschiedslos für alle Beihilfeberechtigten. Mithin wird der Beihilfeanspruch für ältere Beihilfeberechtigte nicht von anderen als den für jedermann geltenden Voraussetzungen abhängig gemacht. Zwar kann auch eine gesetzliche Regelung, deren Wortlaut eine Ungleichbehandlung vermeidet, dann dem Gleichheitssatz widersprechen, wenn sich aus ihrer praktischen Auswirkung eine offenbare und sachlich nicht mehr zu rechtfertigende Ungleichheit ergibt und diese ungleiche Auswirkung gerade auf die rechtliche Gestaltung zurückzuführen ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Dezember 1968 - 2 BvE 1, 3 und 5/67 - BVerfGE 24, 300 <358> und Beschluss vom 9. August 1978 - 2 BvR 831/76 - BVerfGE 49, 148 <165>). Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor. Es ist bereits nicht offensichtlich, dass die Begrenzung der Beihilfefähigkeit für Hörgeräte typischerweise und damit in aller Regel einen Kreis von Beihilfeberechtigten in der Weise betrifft, dass eine Art. 3 Abs. 1 GG zuwiderlaufende "Altersdiskriminierung" - wie sie der Kläger geltend macht - in Erwägung gezogen werden könnte.

18

b) Die Höchstbetragsregelung für Hörgeräte muss mit der Fürsorgepflicht des Dienstherrn, die auf Bundesebene einfachgesetzlich in § 78 BBG normiert und als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG verfassungsrechtlich verankert ist (vgl. Urteil vom 13. Dezember 2012 a.a.O. Rn. 15 ff.), in Einklang stehen (aa). Dabei kann hier offenbleiben, ob die Bundesbeihilfeverordnung in Bezug auf die Leistungsbegrenzung gemäß § 25 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Ziff. 1 der Anlage 5 BBhV den Anforderungen der verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht nur dann in vollem Umfang gerecht wird, wenn sie eine abstrakt-generelle Regelung zur Vermeidung unzumutbarer Härten im Einzelfall vorhält. Denn an einer solchen Härtefallregelung mangelt es hier nicht (bb).

19

aa) Die Fürsorgepflicht ergänzt die ebenfalls in Art. 33 Abs. 5 GG gewährleistete Alimentationspflicht des Dienstherrn. Sie fordert, dass der Dienstherr den amtsangemessenen Lebensunterhalt der Beamten bzw. Versorgungsempfänger und ihrer Familien auch in besonderen Belastungssituationen wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Geburt oder Tod sicherstellt. Ob er diese Pflicht über eine entsprechende Bemessung der Dienstbezüge, über Sachleistungen, Zuschüsse oder in sonst geeigneter Weise erfüllt, bleibt von Verfassungs wegen seiner Entscheidung überlassen (stRspr, vgl. z.B. Urteile vom 10. Oktober 2013 - BVerwG 5 C 32.12 - zur Veröffentlichung in Buchholz vorgesehen Rn. 24 = NVwZ-RR 2014, 240 <242>; vom 13. Dezember 2012 - BVerwG 5 C 3.12 - Buchholz 271 LBeihilfeR Nr. 43 Rn. 18; vom 28. April 2011 - BVerwG 2 C 51.08 - ZBR 2011, 379 Rn. 14 und vom 28. Mai 2008 - BVerwG 2 C 1.07 - Buchholz 237.8 § 90 RhPLBG Nr. 4 Rn. 25 jeweils m.w.N.). Für die genannten besonderen Belastungssituationen wird die Fürsorgepflicht grundsätzlich abschließend durch die Beihilfevorschriften konkretisiert (stRspr, vgl. z.B. Urteil vom 10. Oktober 2013 a.a.O. Rn. 25 m.w.N.). Im Bereich der Krankenvorsorge verpflichtet sie den Dienstherrn, den Beamten bzw. Versorgungsempfänger von in Hinblick auf seine Alimentation unzumutbaren und unabwendbaren Belastungen freizuhalten (vgl. Beschluss vom 22. März 2005 - BVerwG 2 B 9.05 -), gebietet aber keine lückenlose Erstattung aller krankheitsbedingten Kosten. Daher ist der Dienstherr aus Gründen der Fürsorgepflicht grundsätzlich nicht gehindert, im Rahmen der nach medizinischer Einschätzung behandlungsbedürftigen Leiden Unterschiede zu machen und die Beihilfefähigkeit aus triftigen Gründen zu beschränken oder ganz auszuschließen (stRspr, vgl. z.B. Urteile vom 13. Dezember 2012 a.a.O. Rn. 19; vom 24. Februar 2011 - BVerwG 2 C 9.10 - USK 2011, 88 Rn. 15 und vom 28. Mai 2008 a.a.O. Rn. 25 f. sowie Beschluss vom 18. Januar 2013 - BVerwG 5 B 44.12 - juris Rn. 8, jeweils m.w.N.). Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat der Dienstherr, wenn er sich - wie nach dem gegenwärtig praktizierten System - entscheidet, seiner Fürsorgepflicht durch die Zahlung von Beihilfen nachzukommen, die zu der aus der gewährten Alimentation zu bestreitenden Eigenvorsorge ergänzend hinzutreten, und dabei für bestimmte krankheitsbedingte Aufwendungen einen Leistungsausschluss oder eine Leistungsbegrenzung vorsieht, dafür zu sorgen, dass der Beamte bzw. Versorgungsempfänger nicht mit erheblichen finanziellen Kosten belastet bleibt, die er durch die Regelalimentation und eine zumutbare Eigenvorsorge nicht bewältigen kann. Geschieht dies nicht und führt eine Beschränkung zu unzumutbaren Belastungen, ist der nicht zur Disposition des Dienstherrn stehende Wesenskern der Fürsorgepflicht mit der Folge betroffen, dass die Beihilfefähigkeit nicht ausgeschlossen oder begrenzt werden darf (vgl. Urteil vom 13. Dezember 2012 a.a.O. Rn. 21 m.w.N.).

20

bb) Es kann hier dahinstehen, ob und in wie vielen Fällen die mit dem Höchstbetrag verbundene Begrenzung der Beihilfefähigkeit für Hörgeräte ausnahmsweise zu einer unzumutbaren Belastung der Beihilfeberechtigten führt. Ferner muss nicht entschieden werden, ob der Verordnungsgeber aus Gründen der verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht für solche Fälle normative Vorkehrungen treffen musste. Ebenso kann offenbleiben, ob die Leistungsbegrenzung gemäß § 25 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Ziff. 1 der Anlage 5 BBhV ohne eine abstrakt-generelle Regelung zur Vermeidung unzumutbarer Härten insgesamt oder nur teilweise unwirksam gewesen ist. Denn selbst wenn es einer Härtefallregelung bedurfte, fehlte es zu dem entscheidungserheblichen Zeitpunkt an einer solchen nicht. Das Oberverwaltungsgericht hat zwar Bundesrecht verletzt, soweit es der Sache nach § 50 Abs. 1 BBhV analog angewandt hat ((1)). Eine etwaige Regelungslücke war aber durch analoge Anwendung des § 25 Abs. 4 Satz 1 BBhV zu schließen ((2)).

21

(1) Eine Analogie zu § 50 Abs. 1 BBhV scheidet aus. Jede Art der gesetzesimmanenten richterlichen Rechtsfortbildung - hier die Analogie - setzt eine Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes - hier im materiellen Sinne - voraus. Ob eine Regelungslücke vorliegt, ist danach zu beurteilen, ob die vom Regelungsprogramm des Verordnungsgebers erfassten Fälle in den Vorschriften der Verordnung tatsächlich Berücksichtigung gefunden haben. Sie ist zu bejahen, wenn festzustellen ist, dass der Wortlaut der Verordnungsregelungen nicht alle Fälle erfasst, die nach deren Sinn und Zweck erfasst sein sollten (vgl. z.B. für Gesetze im formellen Sinne Urteil vom 12. September 2013 - BVerwG 5 C 35.12 - zur Veröffentlichung in Buchholz vorgesehen Rn. 27 = DVBl 2014, 307 <309> m.w.N.). Darüber hinaus ist eine vergleichbare Sach- und Interessenlage erforderlich. Die Bundesbeihilfeverordnung weist zwar für Härtefälle, die sich aus der Anwendung der Höchstbetragsregelung für Hörgeräte ergeben, eine planwidrige Regelungslücke auf ((a)). Die Sach- und Interessenlage in derartigen Fällen ist indessen nicht die gleiche, die der in § 50 Abs. 1 BBhV getroffenen Regelung zugrunde liegt ((b)).

22

(a) Die hier anzuwendende Bundesbeihilfeverordnung vom 13. Februar 2009 in der Fassung der Ersten Verordnung zur Änderung der Bundesbeihilfeverordnung vom 17. Dezember 2009 war lückenhaft. Sie traf - was zwischen den Beteiligten nicht im Streit steht - für den in Rede stehenden Sachverhalt keine ausdrückliche Härtefallregelung. Allerdings war ihr zu entnehmen, dass den Beihilfeberechtigten nach dem Plan des Verordnungsgebers ausnahmsweise ein über das geregelte Beihilfeniveau hinausgehender Anspruch zugestanden werden soll, wenn und soweit sie infolge eines teilweisen oder vollständigen Ausschlusses der Beihilfefähigkeit mit Kosten belastet blieben, die ihre finanziellen Möglichkeiten erheblich übersteigen. Dafür sprechen die bereits in der hier anzuwendenden Fassung enthaltenen zahlreichen Härtefallregelungen für andere Konstellationen. So sind beispielsweise nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 BBhV andere (als notwendige und wirtschaftlich angemessene) Aufwendungen ausnahmsweise beihilfefähig, soweit die Ablehnung der Beihilfe im Hinblick auf die Fürsorgepflicht nach § 78 BBG eine besondere Härte darstellen würde. Darüber hinaus regelt § 25 Abs. 4 Satz 1 BBhV, dass getätigte Aufwendungen für Hilfsmittel und Geräte zur Selbstbehandlung und Selbstkontrolle im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 BBhV, die weder in Anlage 5 oder 6 aufgeführt noch mit den aufgeführten Gegenständen vergleichbar sind, ausnahmsweise beihilfefähig sind, wenn dies im Hinblick auf die Fürsorgepflicht nach § 78 BBG notwendig ist. Des Weiteren sieht § 31 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 BBhV vor, dass Fahrtkosten einschließlich Flugkosten anlässlich von Behandlungen außerhalb der Europäischen Union ausnahmsweise beihilfefähig sind, soweit sie aus zwingenden medizinischen Gründen im Hinblick auf die Fürsorgepflicht nach § 78 BBG erforderlich sind. In dieselbe Richtung weist § 41 Abs. 3 BBhV, wonach das Bundesministerium des Innern die Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für Maßnahmen zur Früherkennung, Überwachung und Verhütung von Erkrankungen, die nicht nach anderen Vorschriften dieser Verordnung beihilfefähig sind, in Verwaltungsvorschriften für diejenigen Fälle ausnahmsweise zulassen kann, in denen die Gewährung von Beihilfe im Hinblick auf die Fürsorgepflicht nach § 78 BBG notwendig ist. Ebenso bestimmt § 47 Abs. 1 BBhV, dass die oberste Dienstbehörde oder eine von ihr bestimmte Behörde im Hinblick auf die Fürsorgepflicht nach § 78 BBG den Bemessungssatz für Aufwendungen anlässlich einer Dienstbeschädigung angemessen erhöhen kann, soweit nicht bereits Ansprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz bestehen; gemäß § 47 Abs. 3 Satz 1 BBhV kann sie den Bemessungssatz in weiteren besonderen Ausnahmefällen im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern angemessen erhöhen, wenn dies im Hinblick auf die Fürsorgepflicht nach § 78 BBG zwingend geboten ist. Dass der Verordnungsgeber die angeführten Regelungen nicht als abschließend und demzufolge den Höchstbetrag für Hörgeräte nicht als starre Obergrenze verstanden hat, zeigt sich daran, dass er in die am 20. September 2012 in Kraft getretene Dritte Verordnung zur Änderung der Bundesbeihilfeverordnung vom 8. September 2012 (BGBl I S. 1935) - BBhV n.F. - eine ausdrückliche Härtefallregelung für Hörgeräte aufgenommen hat. Nach Ziff. 8.8 der Anlage 11 zu § 25 Abs. 1 und 4 BBhV n.F. kann der Höchstbetrag für Hörgeräte überschritten werden, soweit dies erforderlich ist, um eine ausreichende Versorgung bei beidseitiger an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit oder bei vergleichbar schwerwiegenden Sachverhalten zu gewährleisten. Zudem hat der Verordnungsgeber mit § 6 Abs. 7 Satz 1 BBhV n.F. eine allgemeine Härtefallregelung geschaffen.

23

(b) Eine Analogie scheidet jedoch aus, weil der hier zu beurteilende Sachverhalt mit dem von § 50 Abs. 1 BBhV erfassten Sachverhalt nicht vergleichbar ist. Der Verordnungsgeber wollte mit §§ 49 und 50 BBhV die Maßnahmen des zum 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz - GMG -) vom 14. November 2003 (BGBl I S. 2190) wirkungsgleich auf den Beihilfebereich übertragen. Die Beihilfeberechtigten sollten in entsprechender Weise wie die gesetzlich Krankenversicherten zur Kostentragung herangezogen werden. Dementsprechend sieht § 49 BBhV vergleichbar der Regelung der gesetzlichen Krankenversicherung über die Zuzahlungspflicht (§ 61 SGB V) einen Abzug von Eigenbehalten vor (vgl. Begründung des Entwurfs der Bundesbeihilfeverordnung, Stand: 2. April 2007, S. 34). § 50 Abs. 1 BBhV setzt daneben die Regelung der gesetzlichen Krankenversicherung über die Begrenzung der Zuzahlungspflicht (§ 62 SGB V) um (vgl. Begründung des Entwurfs der Beihilfeverordnung a.a.O. S. 36). Danach sind auf Antrag Eigenbehalte nach § 49 BBhV von den beihilfefähigen Aufwendungen oder der Beihilfe für ein Kalenderjahr nicht abzuziehen, soweit sie die Belastungsgrenze nach Satz 4, d.h. zwei oder ein Prozent der jährlichen Einnahmen nach § 39 Abs. 3 Satz 3 bis 7 BBhV, übersteigen. Im Unterschied dazu geht es bei der Gewährung einer über das geregelte Beihilfeniveau hinausgehenden Leistung nicht darum, eine wirkungsgleiche Belastung zwischen Beihilfeberechtigten und gesetzlich Krankenversicherten herzustellen. Die Einräumung eines Beihilfeanspruchs über den festgelegten Höchstbetrag hinaus dient allein der Erfüllung der Fürsorgepflicht des Dienstherrn im Einzelfall.

24

(2) Die planwidrige Regelungslücke ist mit Blick auf die vergleichbare Sach- und Interessenlage durch entsprechende Heranziehung des § 25 Abs. 4 Satz 1 BBhV zu schließen.

25

Nach § 25 Abs. 4 Satz 1 BBhV sind getätigte Aufwendungen für Hilfsmittel und Geräte zur Selbstbehandlung und Selbstkontrolle im Sinne des Absatzes 1 Satz 1, die weder in Anlage 5 oder 6 aufgeführt noch mit den aufgeführten Gegenständen vergleichbar sind, ausnahmsweise beihilfefähig, wenn dies im Hinblick auf die Fürsorgepflicht nach § 78 BBG notwendig ist. Die Entscheidung hierüber ist von Amts wegen in dem durch Beihilfeantrag eingeleiteten Verfahren zu treffen. Bei wertender Betrachtung macht es aus der Sicht der Fürsorgepflicht keinen sachlichen Unterschied, ob bei der Anschaffung von Hilfsmitteln der vollständige Ausschluss der Beihilfefähigkeit oder deren höhenmäßige Begrenzung zu einer unzumutbaren finanziellen Belastung der Beihilfeberechtigten führt. Sowohl in den in § 25 Abs. 4 Satz 1 BBhV geregelten Fallkonstellationen als auch in dem nicht geregelten Fall, dass für ein in der Anlage 5 genanntes Hilfsmittel ein Höchstbetrag als Obergrenze für die Beihilfefähigkeit der Aufwendungen festgelegt ist, bedarf es eines über das geregelte Beihilfeniveau hinausgehenden Anspruchs, um zu gewährleisten, dass der verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht auch unter Berücksichtigung des pauschalierenden und typisierenden Charakters der Beihilfevorschriften im Einzelfall genügt wird.

26

Das Oberverwaltungsgericht hat keine tatsächlichen Feststellungen dazu getroffen, ob die Ablehnung der Gewährung weiterer Beihilfeleistungen für die Anschaffung der Hörgeräte eine besondere Härte für den Kläger darstellt. Die Sache ist daher an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen, damit es diese Prüfung nachholen kann.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für die Unterbringung der Klägerin zu 2 in der Kinderkrippe einer privaten Elterninitiative in der Zeit vom 8. April bis zum 15. Oktober 2011.

2

Die Klägerin zu 1 ist die Mutter der am 8. April 2009 geborenen Klägerin zu 2. Anfang Dezember 2009 beantragte die Klägerin zu 1 erstmals bei der beklagten Stadt als Trägerin der Jugendhilfe, ihrer Tochter einen Krippen- bzw. Kindergartenplatz zuzuteilen. Weil die Beklagte hierauf nicht reagierte, brachte die Klägerin zu 1 ihr Kind ab Juli 2010 in der genannten privaten Einrichtung unter. Ein im Oktober 2010 gestellter Antrag der Klägerin zu 1 auf Übernahme des Elternbeitrags für die Unterbringung in der privaten Krippe blieb ohne Erfolg. Mit Schreiben vom 26. Februar und 1. März 2011 machte die Klägerin zu 1 bei der Beklagten erneut den Anspruch geltend, ihrer Tochter einen Kindergartenplatz zur Verfügung zu stellen.

3

Am 22. September 2011 hat die Klägerin zu 1 Klage auf Zuweisung eines Kindergartenplatzes sowie auf Kostenerstattung für die ab 8. April 2011 aufgewendeten Kosten für die Unterbringung in der privaten Elterninitiative erhoben. Die Beklagte stellte der Klägerin zu 2 ab dem 16. Oktober 2011 einen Kindergartenplatz zur Verfügung. Daraufhin hat die Klägerin zu 1 ihr Begehren auf die Kostenübernahme beschränkt. Mit Einverständnis der Beklagten ist die Klage ferner um die Klägerin zu 2 erweitert worden.

4

Das Verwaltungsgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerinnen einen Betrag in Höhe von 2 187,77 € zu zahlen.

5

Die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Nach dem rheinland-pfälzischen Kindertagesstättengesetz habe das Jugendamt der Beklagten zu gewährleisten, dass für jedes Kind vom vollendeten zweiten Lebensjahr ein Platz in einer Kindertagesstätte beitragsfrei zur Verfügung stehe. Diesen Anspruch habe die Beklagte nicht erfüllen können. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Jugendhilferecht sei seit jeher anerkannt, dass die Kostenübernahme vom Jugendhilfeträger verlangt werden könne, wenn die Leistung zu Recht begehrt worden sei und ohne Vermittlung des Jugendhilfeträgers in Anspruch genommen werden musste. Nach dieser Rechtsprechung setze sich die "Primärverantwortung" des für die Gewährleistung verantwortlichen Jugendhilfeträgers sekundär in der Verantwortung für die Übernahme der Kosten fort, wenn die geschuldete Leistung anderweitig beschafft werden musste. Diese Rechtsgrundsätze seien auch durch die Schaffung des § 36a Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) im Jahre 2005 nicht in Zweifel gezogen oder ausgeschlossen worden. Die Voraussetzungen eines solchen Übernahmeanspruchs seien hier erfüllt. Neben der Klägerin zu 2 könne auch die sorgeberechtigte Klägerin zu 1 Kostenerstattung beanspruchen. Denn nach der gesetzlichen Konzeption stehe der Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz auch den Sorgeberechtigten zu. Maßgeblich dafür sei ihre gesetzlich bezweckte Begünstigung, eine durch öffentliche Mittel hoch subventionierte Einrichtung in Anspruch nehmen zu können.

6

Mit ihrer Revision macht die Beklagte geltend, die Klägerin zu 1 sei bereits nicht aktivlegitimiert, weil der Primäranspruch auf Verschaffung eines Kindergartenplatzes nach den klaren gesetzlichen Regelungen nur dem Kind zustehe und nicht den sorgeberechtigten Personen. Für einen Anspruch der Klägerin zu 2 auf Erstattung der Kosten des selbstbeschafften Kindergartenplatzes gebe es keine Rechtsgrundlage. Eine Ausdehnung des richterrechtlichen Haftungsinstituts für selbstbeschaffte Leistungen bei Systemversagen auf die vorliegende Fallgruppe der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen sei nicht zulässig. Das Haftungsinstitut zum Kostenersatz für selbstbeschaffte Hilfen bei Systemversagen sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur im Rahmen der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfe anwendbar. Mit § 90 Abs. 3 SGB VIII bestehe eine selbständige und abschließende Sonderregelung zur Kostentragung für das Kindergartenrecht. Zudem sei der Rückgriff auf das richterrechtliche Haftungsinstitut ausgeschlossen, weil § 36a Abs. 3 SGB VIII eine abschließende Spezialregelung über den Kostenersatz für selbstbeschaffte Hilfe bei Systemversagen für das SGB VIII darstelle. Insbesondere die systematische Ausgestaltung dieser Vorschrift sowie ihre Regelungshistorie belegten die Annahme des Gesetzgebers, dass sich die richterrechtlichen Grundsätze mit ihrer Einführung erledigt hätten und nicht mehr ergänzend herangezogen werden könnten. Das Berufungsgericht habe auch deshalb Bundesrecht verletzt, weil es zu Unrecht angenommen habe, dass die Voraussetzungen des richterrechtlichen Haftungsinstituts vorlägen. Dieser Anspruch sei schon wegen der fehlenden Inanspruchnahme verwaltungsgerichtlichen Primärrechtsschutzes ausgeschlossen. Es sei den Klägerinnen zuzumuten gewesen, ihren Verschaffungsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Wege eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO durchzusetzen. Ein Anspruch der Klägerinnen auf Kostenerstattung scheitere weiter daran, dass Elterninitiativen nach den Vorgaben des rheinland-pfälzischen Kindertagesstättengesetzes nicht in rechtmäßiger Weise den Primäranspruch auf Verschaffung eines Kindergartenplatzes erfüllen könnten, weil sie nicht Träger einer Kindertagesstätte im Sinne des Gesetzes seien.

7

Die Klägerinnen verteidigen das angegriffene Urteil.

8

Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich an dem Verfahren und unterstützt die Rechtsauffassung der Beklagten.

Entscheidungsgründe

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Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Oberverwaltungsgericht hat den Klägerinnen den im Streit stehenden Aufwendungsersatzanspruch zugesprochen, ohne dass dies im Sinne des § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO Bundesrecht verletzt.

10

Soweit das Oberverwaltungsgericht die Existenz des aus dem Landesrecht folgenden Aufwendungsersatzanspruchs vom Verständnis bundesrechtlicher Grundsätze abhängig macht, ist dies einer revisionsgerichtlichen Überprüfung zugänglich (1.). Der vom Oberverwaltungsgericht angenommene Rechtssatz, dass nach Bundesrecht unter bestimmten Voraussetzungen ein Sekundäranspruch auf Ersatz von Aufwendungen besteht, wenn der Primäranspruch auf Verschaffung eines Kinderbetreuungsplatzes nicht erfüllt oder in rechtswidriger Weise verweigert wird, und das rheinland-pfälzische Landesrecht dem folgt, ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden (2.). Eine Verletzung von Bundesrecht liegt auch im Übrigen nicht vor (3.).

11

1. Obgleich der von den Klägerinnen geltend gemachte und vom Oberverwaltungsgericht bejahte Sekundäranspruch auf Aufwendungsersatz seine Grundlage im irrevisiblen Landesrechts findet (a), sind die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts zu der Frage, ob es im Bundesrecht einen entsprechenden Anspruch auf Aufwendungsersatz für selbstbeschaffte Kinderbetreuungsplätze gibt, im Revisionsverfahren zu überprüfen (b).

12

a) Der Anspruch der Klägerinnen auf Aufwendungsersatz ist ein Sekundäranspruch, der seiner Rechtsnatur nach dem Landesrecht angehört. Dies beruht darauf, dass der diesem zugrunde liegende (primäre) Leistungsanspruch auf Verschaffung eines Kindergartenplatzes auf einen Gesetzesbefehl des Landesrechts zurückgeht. Nach § 5 Abs. 1 des Kindertagesstättengesetzes des Landes Rheinland-Pfalz - KitaG - vom 15. März 1991 (GVBl S. 79) in der Fassung der Änderung durch das Gesetz vom 16. Dezember 2005 (GVBl S. 502) haben Kinder vom vollendeten zweiten Lebensjahr bis zum Schuleintritt Anspruch auf Erziehung, Bildung und Betreuung im Kindergarten (Satz 1), wobei das Jugendamt zu gewährleisten hat, dass für jedes Kind rechtzeitig ein Kindergartenplatz in zumutbarer Entfernung zur Verfügung steht (Satz 2). Mit dem Wirksamwerden des Satzes 1 dieser Vorschrift ab dem 1. August 2010 ist in Rheinland-Pfalz ein Rechtsanspruch bereits für zweijährige Kinder eingeräumt worden, der nach der bundesrechtlich nicht zu beanstandenden Auslegung des Oberverwaltungsgerichts nicht an weitere Voraussetzungen (wie etwa die Erwerbstätigkeit der Eltern) geknüpft ist.

13

Dem Bundesrecht ließ sich im hier maßgeblichen Zeitraum von April bis Oktober 2011, für den die Klägerinnen Aufwendungsersatz begehren, kein entsprechender Betreuungsanspruch für zweijährige Kinder entnehmen. Das Sozialgesetzbuch Achtes Buch - SGB VIII - (Art. 1 des Gesetzes vom 26. Juni 1990 in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Dezember 2006 , zuletzt geändert durch Gesetz vom 10. Dezember 2008 ) sah in § 24 Abs. 1 SGB VIII (a.F.) einen (unbedingten) Rechtsanspruch nur für Kinder ab dem vollendeten dritten Lebensjahr vor. Für Kinder unter drei Jahren enthielt das Bundesrecht lediglich eine Verpflichtung der Jugendhilfeträger, ein bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen vorzuhalten (§ 24 Abs. 2 SGB VIII a.F.), und begründete eine Förderungsverpflichtung nur unter bestimmten Voraussetzungen, wie etwa der Erwerbstätigkeit der Erziehungsberechtigten (§ 24 Abs. 3, § 24a Abs. 3 und 4 SGB VIII). Die Neuregelung des § 24 Abs. 3 SGB VIII (in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 ), die ab dem 1. August 2013 einen Rechtsanspruch für Kinder, die das erste Lebensjahr vollendet haben, gewährt, ist hier noch nicht anwendbar.

14

Ist der maßgebliche Primäranspruch - hier auf Verschaffung eines Kindergartenplatzes - landesrechtlicher Natur, so folgt daraus, dass auch die an seine Verletzung oder Nichterfüllung geknüpften sekundärrechtlichen Folgen dem Landesrecht zuzuordnen sind. Der Sekundäranspruch - hier auf Aufwendungsersatz gerichtet - teilt in aller Regel und so auch hier die Rechtsnatur des ihm zugrunde liegenden Leistungsanspruchs (vgl. etwa zum öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch und zum Anspruch aus öffentlich-rechtlicher Geschäftsführung ohne Auftrag: Urteile vom 16. Mai 2000 - BVerwG 4 C 4.99 - BVerwGE 111, 162 <172> = Buchholz 316 § 56 VwVfG Nr. 13 S. 10 und vom 6. Oktober 1989 - BVerwG 8 C 52.87 - BVerwGE 82, 350 <351>; vgl. ferner Beschluss vom 3. Januar 1992 - BVerwG 6 B 20.91 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 240).

15

b) Soweit das Berufungsgericht Landesrecht ausgelegt und angewendet hat, ist das Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich daran gebunden (§ 137 Abs. 1 VwGO, § 173 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 560 ZPO). Es hat aber nachzuprüfen, ob die Vorinstanz eine irrevisible Norm des Landesrechts unter Verkennung von oder im Widerspruch zu Bundesrecht ausgelegt hat (vgl. Urteile vom 18. Dezember 1987 - BVerwG 4 C 9.86 - BVerwGE 78, 347 <351> = Buchholz 310 § 42 VwGO Nr. 151 S. 9, vom 23. August 1994 - BVerwG 1 C 18.91 - BVerwGE 96, 293 <294 f.> = Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 230 S. 15 und vom 21. September 2005 - BVerwG 6 C 16.04 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 40). Zudem ist eine revisionsgerichtliche Überprüfung auch dann eröffnet, wenn die Vorinstanz die Auslegung des irrevisiblen Rechts wesentlich vom Verständnis des Bundesrechts abhängig gemacht hat (vgl. Urteil vom 6. September 1984 - BVerwG 3 C 16.84 - BVerwGE 70, 64 <65> = Buchholz 415.16 § 28 BJagdG Nr. 1 S. 2 f.; Neumann, in: Sodan/Ziekow , VwGO, 3. Aufl. 2010, § 137 Rn. 106). So liegt es hier.

16

Das Oberverwaltungsgericht hat sich bei seiner Prüfung des dem Landesrecht zuzuordnenden Sekundäranspruchs auf Aufwendungsersatz im Wesentlichen davon leiten lassen, wie dieser Anspruch im Bundesrecht entwickelt und konturiert wird. Daran anknüpfend ist es der Sache nach davon ausgegangen, dass das Landesrecht dem folge. Es hat sich mithin bei der Konkretisierung des landesrechtlichen Sekundäranspruchs wesentlich vom Verständnis des Bundesrechts abhängig gemacht. Dies erschließt sich insbesondere daraus, dass es im Hinblick auf den im Streit stehenden Sekundäranspruch auf Aufwendungsersatz keine spezifisch landesrechtlichen Erwägungen angestellt, sondern maßgeblich auf die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts herausgebildeten Grundsätze zum Jugendhilferecht des Bundes abgestellt und sich an diesen ausgerichtet hat. Soweit die Erwägungen des Berufungsgerichts Inhalt und Grenzen eines bundesrechtlichen Sekundäranspruchs betreffen, unterliegen sie der revisionsgerichtlichen Kontrolle.

17

2. Der vom Oberverwaltungsgericht angenommene Rechtssatz, dass aus dem Bundesrecht ein Sekundäranspruch abzuleiten ist, wonach unter bestimmten Voraussetzungen Aufwendungsersatz für selbstbeschaffte Leistungen der Jugendhilfe verlangt werden kann, wenn der Primäranspruch - hier auf Verschaffung eines Kinderbetreuungsplatzes - nicht erfüllt oder in rechtswidriger Weise verweigert wird, ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden. Er beruht auf einer analogen Anwendung des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII.

18

a) Dem Oberverwaltungsgericht ist darin zuzustimmen, dass ein solcher bundesrechtlicher Rechtssatz ursprünglich in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Wege richterlicher Rechtsfortbildung entwickelt worden ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Rechtsprechung sowohl zum Jugendwohlfahrts- und Jugendhilferecht als auch zum Sozialhilferecht stets angenommen, dass der Jugendhilfe- bzw. Sozialhilfeträger zur Übernahme der Kosten bereits durchgeführter selbstbeschaffter Hilfemaßnahmen verpflichtet sein kann (Beschluss vom 25. August 1987 - BVerwG 5 B 50.87 - Buchholz 436.51 § 5 JWG Nr. 2 = NVwZ-RR 1989, 252 m.w.N.). Besondere praktische Bedeutung erlangte dieser Anspruch auf Kostenübernahme für selbstbeschaffte Leistungen im Jugendhilferecht namentlich im Bereich der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Erziehung (vgl. Urteil vom 13. Juni 1991 - BVerwG 5 C 27.88 - Buchholz 436.51 § 6 JWG Nr. 13). Er war aber nicht darauf beschränkt, sondern erstreckte sich grundsätzlich auf alle Leistungen der Jugendhilfe.

19

Dies und die Voraussetzungen eines entsprechenden Sekundäranspruchs hat das Bundesverwaltungsgericht mit den Worten zum Ausdruck gebracht, "dass dann, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Jugendhilfe vorlagen, erforderliche Maßnahmen aber nicht vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe, sondern von Dritten durchgeführt wurden, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe Jugendhilfe noch nachträglich leisten könne und müsse, indem er die Kosten der bereits durchgeführten Maßnahme übernimmt" (Urteil vom 28. September 2000 - BVerwG 5 C 29.99 - BVerwGE 112, 98 <100> = Buchholz 436.511 § 35a KJHG/SGB VIII Nr. 3 S. 2). Der Jugendhilfeträger hat für diese Kosten aber nur dann aufkommen müssen, wenn der Hilfebedarf rechtzeitig an ihn herangetragen worden ist (Urteil vom 28. September 2000 a.a.O. <103> bzw. S. 5; bestätigt durch Urteil vom 11. August 2005 - BVerwG 5 C 18.04 - BVerwGE 124, 83 <86> = Buchholz 436.511 § 35a KJHG/SGB VIII Nr. 4 S. 10). Die Notwendigkeit, den Träger von Anfang an mit einzubeziehen, hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich daraus hergeleitet, dass die Träger der öffentlichen Jugendhilfe nur in diesem Fall ihre aus § 79 Abs. 1 SGB VIII folgende Gesamtverantwortung für die Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben wie auch ihre Planungsverantwortung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGB VIII nicht nur institutionell, sondern auch durch die Hilfegestaltung im individuellen Einzelfall wahrnehmen (Urteil vom 28. September a.a.O. <103> bzw. S. 4 f. unter Hinweis auf das Urteil vom 27. Januar 2000 - BVerwG 5 C 19.99 - BVerwGE 110, 320 = Buchholz 436.511 § 90 KJHG/SGB VIII Nr. 7 - Selbstbeschaffung eines Kinderkrippenplatzes).

20

Diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Fachschrifttum wie auch von Berufungsgerichten zu Recht dahin verstanden worden, dass damit ein richterrechtliches Haftungsinstitut für das Jugendhilferecht konkretisiert worden ist. Danach ist eine Selbstbeschaffung mit der Folge eines (Sekundär-)Anspruchs auf Ersatz von Aufwendungen gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe grundsätzlich nur zulässig, wenn ein (Primär-)Anspruch auf die beschaffte Leistung bestanden hat, diese Leistung nicht rechtzeitig erbracht oder zu Unrecht abgelehnt worden ist (mithin ein "Systemversagen" bei der Leistungsgewährung zu verzeichnen war) und es dem Leistungsberechtigten wegen der Dringlichkeit seines Bedarfs nicht zuzumuten war, die Bedarfsdeckung aufzuschieben (vgl. insbes. die Stellungnahme der Ständigen Fachkonferenz 1 "Grund- und Strukturfragen" des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V., ZfJ 2003, 61 ff.; OVG Münster, Urteil vom 14. März 2003 - 12 A 1193/01 - NVwZ-RR 2003, 864 m.w.N.). Der Anwendungsbereich dieser Grundsätze ist im Fachschrifttum teilweise auch ausdrücklich und zu Recht auf die Selbstbeschaffung von Leistungen der Kinderbetreuung nach § 24 SGB VIII erstreckt worden (Fischer, JAmt 2002, 492<493>).

21

b) Dem Oberverwaltungsgericht ist nicht darin beizupflichten, dass der Anspruch der Klägerinnen seine Grundlage in dem dargestellten richterrechtlichen Haftungsinstitut bei zulässiger Selbstbeschaffung findet. Dies folgt daraus, dass der Anspruch auf Aufwendungsersatz für selbstbeschaffte Leistungen im Jugendhilferecht nunmehr durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe vom 8. September 2005 (BGBl I S. 2729) mit Wirkung zum 1. Oktober 2005 in § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII geregelt worden ist. Damit hat der Gesetzgeber der Sache nach im Wesentlichen den zuvor richterrechtlich begründeten Anspruch auf Aufwendungsersatz kodifiziert. In der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung wird ausdrücklich auf die zuvor genannte Rechtsprechung und Literatur Bezug genommen (nämlich auf das Urteil des Senats vom 28. September 2000 a.a.O., die Stellungnahme der Ständigen Fachkonferenz 1 a.a.O. und das Urteil des OVG Münster vom 14. März 2003 a.a.O.) und dazu ausgeführt, diese Rechtsprechung solle nunmehr im Interesse der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit eine positiv-rechtliche Grundlage erfahren (BRDrucks 586/04 S. 45 und BTDrucks 15/3676 S. 26).

22

Die nunmehr geschaffene gesetzliche Grundlage geht dem richterrechtlichen Haftungsinstitut vor. Zwar ist § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII hier nicht unmittelbar anzuwenden (aa). Jedoch liegen die Voraussetzungen einer analogen Anwendung vor (bb). Da die gesetzesübersteigende richterliche Rechtsfortbildung nur dann als zulässig erachtet werden kann, wenn die Lösung nicht im Wege der Auslegung oder der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung (etwa der Analogie) gefunden werden kann (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 426), haben ihr gegenüber die Formen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung Vorrang.

23

aa) Eine unmittelbare Anwendung des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII auf die Fälle der Selbstbeschaffung von Kindergartenplätzen scheidet aus.

24

Dies erschließt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift. § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII bezieht sich auf "Hilfen" und erfasst damit nicht alle der in § 2 Abs. 2 SGB VIII aufgelisteten Leistungen der Jugendhilfe, sondern nur solche, die sich als Hilfen im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 4 bis 6 SGB VIII darstellen, also nicht zu der Leistungsform der Angebote (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 SGB VIII) gehören. Bei den Regelungen über die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege (§ 22 ff. SGB VIII) handelt es sich um die zuletzt genannte Kategorie (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII).

25

Auch die systematische Stellung des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII im Vierten Abschnitt des Gesetzes spricht in gewichtiger Weise dafür, dass diese Vorschrift unmittelbar nur die in diesem Abschnitt geregelten Hilfen, nicht aber die im Dritten Abschnitt normierten Angebote erfasst. Zudem lassen die Gesetzesmaterialien erkennen, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 36a SGB VIII die Hilfen im Auge hatte und insbesondere die Selbstbeschaffung von Leistungen der Eingliederungshilfe (§ 35a SGB VIII) begrenzen wollte (BTDrucks 15/3676 S. 36).

26

bb) § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ist jedoch auf jugendhilferechtliche Leistungen, welche die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege betreffen, entsprechend anzuwenden. Die Voraussetzungen eines Analogieschlusses sind erfüllt.

27

Jede Art der gesetzesimmanenten richterlichen Rechtsfortbildung - hier die Analogie - setzt eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus (vgl. Urteile vom 18. April 2013 - BVerwG 5 C 18.12 - NJW 2013, 2457 Rn. 22 und zur Veröffentlichung in Buchholz vorgesehen, vom 15. November 2012 - BVerwG 3 C 12.12 - LKV 2013, 78 Rn. 19 und vom 20. Mai 1999 - BVerwG 3 C 3.98 - Buchholz 451.512 MGVO Nr. 134 S. 5). Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürfen die Gerichte diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern oder durch eine judikative Lösung ersetzen. Ob eine Gesetzeslücke vorliegt, ist danach zu beurteilen, ob die vom Regelungsprogramm des Gesetzgebers erfassten Fälle in den gesetzlichen Vorschriften tatsächlich Berücksichtigung gefunden haben. Sie ist zu bejahen, wenn festzustellen ist, dass der Wortlaut der Vorschrift nicht alle Fälle erfasst, die nach dem Sinn und Zweck der Regelung erfasst sein sollten (vgl. Urteil vom 18. April 2013 a.a.O. Rn. 22 m.w.N.).

28

(1) Das Sozialgesetzbuch Achtes Buch weist die danach vorausgesetzte Gesetzeslücke auf. Der in Rede stehende Sachverhalt, ob und welche Rechtsfolgen das Bundesrecht daran knüpft, wenn ein Rechtsanspruch auf Verschaffung eines Kinderbetreuungsplatzes nicht erfüllt und die Leistung selbst beschafft wird, wird weder unmittelbar von § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII noch von einer sonstigen gesetzlichen Bestimmung des Kinder- und Jugendhilferechts erfasst.

29

(a) Der Einwand der Beklagten, dass mit § 90 Abs. 3 SGB VIII eine selbständige und abschließende Sonderregelung zur Kostentragung für das Kindergartenrecht bestehe, verfängt insoweit nicht. Nach dieser Vorschrift soll im Falle des Abs. 1 Nr. 3 (der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege nach den §§ 22 bis 24 SGB VIII) der Kostenbeitrag auf Antrag ganz oder teilweise erlassen oder ein Teilnahmebeitrag auf Antrag ganz oder teilweise vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe übernommen werden, wenn die Belastung den Eltern und dem Kind nicht zuzumuten ist. Für die Feststellung der zumutbaren Belastung kommt es auf das maßgebliche Einkommen an (§ 90 Abs. 4 SGB VIII).

30

Diese Regelung ist nicht auf die Fälle der Selbstbeschaffung von Kinderbetreuungsplätzen wegen Systemversagens zugeschnitten. Vielmehr bezieht sich der Übernahmeanspruch nach § 90 Abs. 3 SGB VIII auf eine andere Sachlage. Er setzt im Wesentlichen die Unzumutbarkeit der Belastung voraus und ist neben der sozialen Staffelung (§ 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII) eine weitere soziale Komponente der Ausgestaltung der Kostenbeteiligung der Eltern (vgl. etwa Wiesner, in: ders. , SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 90 Rn. 20).

31

Soweit das Bundesverwaltungsgericht - worauf die Beklagte hinweist - im Urteil vom 25. April 2002 (- BVerwG 5 C 16.01 - Buchholz 436.511 § 90 KJHG/ SGB VIII Nr. 9) ausgeführt hat, dass nach der Systematik des Gesetzes die Kostenbeteiligung für die in § 90 SGB VIII bezeichnete Inanspruchnahme von Angeboten der Jugendhilfe abschließend in dieser Vorschrift geregelt sei, beziehen sich diese Ausführungen allein auf die Kostenbeteiligung der Eltern und damit auf die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Eltern einen Kostenbeitrag zu zahlen oder Anspruch auf Erlass dieses Beitrags haben bzw. seine Übernahme durch den Jugendhilfeträger beanspruchen können. Für die hier in Rede stehende Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Aufwendungsersatzanspruch daran geknüpft ist, wenn der Primäranspruch des Kindes auf Verschaffung eines Betreuungsplatzes von dem Träger der Jugendhilfe nicht erfüllt worden ist, ist damit keine Aussage getroffen worden.

32

(b) Dies gilt auch für die gesetzlich normierten Erstattungsansprüche für selbstbeschaffte Leistungen bei Systemversagen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 13 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB V -) und im Schwerbehindertenrecht (§ 15 Abs. 1 Satz 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX -). Diese betreffen andere Regelungsbereiche und bieten keine Anhaltspunkte dafür, dass ihnen für den Bereich des Jugendhilferechts Aussagekraft zukommen soll.

33

(c) Eine gesetzliche Regelungslücke kann schließlich auch nicht deshalb abgelehnt werden, weil - wie die Beklagte meint - das Staatshaftungsrecht allgemeine Haftungsinstitute wie den Folgenbeseitigungsanspruch und die Amtshaftung vorsieht. Aus der Existenz des Amtshaftungsanspruchs (Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB), der ein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten eines Amtswalters voraussetzt und nicht nur Aufwendungs-, sondern weiterreichenden Schadensersatz gewährt, ist wegen dieser Unterschiede für die Frage, ob eine gesetzliche Regelungslücke im Hinblick auf einen verschuldensunabhängigen, an ein Systemversagen bei der Erfüllung von Kinderbetreuungsplätzen anknüpfenden Sekundäranspruch besteht, nichts herzuleiten. Auch die Existenz von ungeschriebenen allgemeinen Haftungsinstituten wie des Folgenbeseitigungsanspruchs gibt keine Antwort auf die Frage, ob das Gesetz in einem bestimmten Bereich - wie hier im Bereich der Nichterfüllung von jugendhilferechtlichen Ansprüchen auf Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen - Unvollständigkeiten aufweist.

34

(2) Die festgestellte Gesetzeslücke stellt sich auch als planwidrig dar. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist § 36a Abs. 3 SGB VIII nicht als abschließende Spezialregelung für das gesamte Jugendhilferecht zu begreifen, die eine Ausdehnung des Erstattungsanspruchs auf Leistungen des Kinder- und Jugendhilferechts, die nicht unmittelbar Gegenstand der Vorschrift sind, ausschließt. Vielmehr entspricht es dem Plan des Gesetzgebers, den Erstattungsanspruch auch auf die Fälle der Nichterfüllung eines Anspruchs auf Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege anzuwenden. Dies erschließt sich vor allem aus den in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Intentionen.

35

Der Gesetzgeber verfolgte mit der Schaffung des § 36a Abs. 3 SGB VIII - wie oben aufgezeigt - das Ziel, die Rechtsprechung zum Anspruch auf Aufwendungsersatz im Fall der Selbstbeschaffung von Leistungen im Jugendhilferecht zu kodifizieren. Mit dem Anspruch auf Übernahme der erforderlichen Aufwendungen hat der Gesetzgeber im Vergleich zur früheren Rechtslage keine Schlechterstellung der Berechtigten bezweckt (Urteil vom 1. März 2012 - BVerwG 5 C 12.11 - BVerwGE 142, 115 = Buchholz 436.511 § 33 SGB VIII Nr. 2 jeweils Rn. 23). Da das richterliche Haftungsinstitut - wie oben ebenfalls dargelegt - auch die sekundärrechtlichen Folgen eines enttäuschten (Primär-)Anspruchs auf Kinderbetreuung umfasste, bleibt § 36a Abs. 3 SGB VIII insoweit hinter dem Plan des Gesetzgebers zurück.

36

(3) Die planwidrige Lücke ist durch analoge Anwendung des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zu schließen. Die Rechtsfolge des Aufwendungsersatzanspruchs ist auf den hier zur Beurteilung stehenden Sachverhalt übertragbar, weil eine vergleichbare Sach- und Interessenlage zu den geregelten Fällen besteht.

37

Kennzeichnend für die in § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII normierten Fälle ist, dass ein gesetzlicher Primäranspruch, der keine bloße Geldleistung, sondern eine Sach- und Dienstleistung zum Gegenstand hat (nämlich insbesondere der Anspruch auf Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Erziehung) nicht erfüllt wird und diejenigen, die sich die unaufschiebbar notwendige Leistung, deren Gewährung der Jugendhilfeträger zu Unrecht abgelehnt oder über die er nicht rechtzeitig entschieden hat, selbstbeschaffen, nicht schlechter stehen sollen als diejenigen, deren Leistungsbegehren rechtzeitig erfüllt worden ist (vgl. Urteil vom 1. März 2012 a.a.O. Rn. 23). Weil der Anspruch (etwa auf Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Erziehung) mit Zeitablauf nicht mehr erfüllt werden kann, verhindert der Betroffene durch die Selbstbeschaffung den Verlust der Leistung. Es würde gegen die gesetzliche Gewährung des Rechtsanspruchs verstoßen, wenn der Hilfebedürftige seinen Anspruch allein deshalb verlieren würde, weil er die ihm zustehende Hilfe nicht rechtzeitig vom Leistungsträger erhalten hat (vgl. bereits die Rechtsprechung des Senats zum Sozialhilferecht: Urteil vom 23. Juni 1994 - BVerwG 5 C 26.92 - BVerwGE 96, 152 <155> = Buchholz 436.0 § 5 BSHG Nr. 12 S. 4).

38

Die Sach- und Interessenlage, die besteht, wenn der Jugendhilfeträger einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz in einer Kindertagesstätte nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt, ist der zuvor beschriebenen ähnlich und mit ihr wertungsmäßig vergleichbar. Die Kinderbetreuung, die - trotz Rechtsanspruchs - nicht für den Zeitraum gewährt wird, für den sie begehrt wird, lässt sich nicht verschieben, sondern bleibt für diesen Zeitraum in irreversibler Weise unerfüllt; der Anspruch auf Zuweisung eines real verfügbaren Platzes erledigt sich durch Zeitablauf (vgl. Rixen, NJW 2012, 2839 <2841>; Schübel-Pfister, NVwZ 2013, 385 <390>). Soweit der Primäranspruch auf einen Betreuungsplatz nicht auf andere Weise rechtzeitig durchgesetzt werden kann, ist der Betroffene - wenn er den endgültigen Anspruchsverlust verhindern will - auf eine Selbstbeschaffung verwiesen, die es ihm dann noch ermöglicht, den Bedarf zu decken und zumindest die erforderlichen Aufwendungen hierfür erstattet zu bekommen.

39

Wegen der ähnlichen Sach- und Interessenlage ist der Analogieschluss auch auf alle Tatbestandsmerkmale, die 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII an die Rechtsfolge des Aufwendungsersatzanspruchs knüpft, sinngemäß zu erstrecken. Das gilt insbesondere für das Merkmal, dass der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Bedarf in Kenntnis gesetzt haben muss (Nr. 1). Die Bedeutung dieses Merkmals und seine Notwendigkeit, es als Voraussetzung für einen entsprechend hergeleiteten Aufwendungsersatzanspruch anzusehen, erschließt sich aus dem systematischen Zusammenhang des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zu Absatz 1 dieser Vorschrift. Gesetzlicher Leitgedanke des § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist die Steuerungsverantwortung des Jugendhilfeträgers. Nach dieser Regelung hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten der Hilfe grundsätzlich nur dann zu tragen, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Der Vorschrift liegt der Gedanke zugrunde, dass es nicht dem gesetzlichen Auftrag des Jugendhilfeträgers entspricht, nur "Zahlstelle" und nicht Leistungsträger zu sein. Das Jugendhilferecht zielt auf eine partnerschaftliche Hilfe unter Achtung familiärer Autonomie und auf kooperative pädagogische Entscheidungsprozesse. Nur wenn die Eltern bzw. der Hilfeempfänger grundsätzlich den Träger der Jugendhilfe von Anfang an in den Entscheidungsprozess einbeziehen, kann er seine aus § 36a Abs. 1, § 79 Abs. 1 SGB VIII folgende Gesamtverantwortung für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben und die Planungsverantwortung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGB VIII wahrnehmen (Urteil vom 18. Oktober 2012 - BVerwG 5 C 21.11 - BVerwGE 145, 1 = Buchholz 436.511 § 36a SGB VIII Nr. 2 jeweils Rn. 31; Beschluss vom 22. Mai 2008 - BVerwG 5 B 130.07 - JAmt 2008, 600).

40

Der genannte Gedanke, dass eine Vorbefassung des Trägers der Jugendhilfe erforderlich ist, bevor ein Bedarf im Wege der Selbstbeschaffung gedeckt wird, greift auch für die Ansprüche auf Kinderbetreuung. Auch im Hinblick auf die Verpflichtung zur Erfüllung dieser Rechtsansprüche hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe - unabhängig davon, ob der Anspruch im Bundesrecht oder wie hier im Landesrecht (§ 5 Abs. 1 KitaG) wurzelt - seine Gewährleistungspflicht zunächst durch eine bedarfsgerechte Planung entsprechend den objektivrechtlichen Vorgaben der §§ 79, 80 SGB VIII zu erfüllen und dabei bereits das Wunsch- und Wahlrecht der Eltern zu berücksichtigen. Der Jugendhilfeträger trägt so für die Bereitstellung eines bedarfsgerechten Angebots die Gesamtverantwortung, der er etwa durch die Finanzierung von Betreuungsplätzen kommunaler Träger und durch finanzielle Förderung nichtstaatlicher (freier) Träger nachkommt.

41

3. Das angefochtene Urteil ist auch im Übrigen revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.

42

a) Soweit das Oberverwaltungsgericht davon ausgeht, dass der an die Nichterfüllung des landesrechtlichen Verschaffungsanspruchs anknüpfende Sekundäranspruch auf Aufwendungsersatz dem bundesrechtlichen Maßstab folgt, unterliegt dies ebenso wenig der revisionsgerichtlichen Kontrolle wie seine Prüfung, ob im konkreten Fall die Voraussetzungen des landesrechtlichen Aufwendungsersatzanspruchs erfüllt sind. Dies entzieht sich grundsätzlich der revisionsgerichtlichen Überprüfung, weil es sich insoweit um die Anwendung von Landesrecht handelt.

43

b) Der Einwand der Beklagten, das Oberverwaltungsgericht habe jedenfalls der Klägerin zu 1 zu Unrecht einen Aufwendungsersatzanspruch zugebilligt, weil der Primäranspruch auf Verschaffung eines Kindergartenplatzes nach den gesetzlichen Regelungen nur dem Kind und nicht den sorgeberechtigten Personen zustehe, begründet ebenfalls nicht die Annahme eines Bundesrechtsverstoßes.

44

aa) Die auf der Auslegung und Anwendung des § 5 Abs. 1 KitaG beruhende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, dass auch die Klägerin zu 1 als Sorgeberechtigte nach dieser Vorschrift anspruchsberechtigt sei, ist als Auslegung irrevisiblen Landesrechts für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend, § 137 Abs. 1 VwGO, § 173 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 560 ZPO (Urteil vom 21. September 2005 - BVerwG 6 C 16.04 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 40).

45

Das Oberverwaltungsgericht hat die Anspruchsberechtigung der Sorgeberechtigten vorrangig auf landesrechtliche Erwägungen gestützt. Es hat dazu in den Urteilsgründen ausgeführt, zwar ergebe sich aus dem Wortlaut des § 5 Abs. 1 KitaG, dass der Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz zunächst dem Kind eingeräumt sei. Er stehe nach der gesetzlichen Konzeption aber ebenso den Sorgeberechtigten zu. Maßgeblich dafür sei nicht ihre Befreiung von dem verhältnismäßig geringen Anteil an den Personalkosten in der Form des Elternbeitrags (§ 13 Abs. 2 KitaG), sondern die Begünstigung durch die Inanspruchnahme einer durch öffentliche Mittel hoch subventionierten Einrichtung.

46

bb) Eine revisionsgerichtliche Prüfung ist auch nicht deshalb eröffnet, weil sich das Oberverwaltungsgericht für seine Auslegung des Landesrechts im Wesentlichen vom Bundesrecht hätte leiten lassen (vgl. Urteil vom 6. September 1984 - BVerwG 3 C 16.84 - BVerwGE 70, 64 = Buchholz 415.16 § 28 BJagdG Nr. 1) oder weil es von der Annahme ausgegangen wäre, es sei an Bundesrecht gebunden und müsse aufgrund eines bundesrechtlichen Rechtsanwendungsbefehls § 5 Abs. 1 KitaG im Hinblick auf die Anspruchsberechtigung genauso auslegen wie eine bundesrechtliche Vorschrift (vgl. Urteile vom 18. Mai 1977 - BVerwG 8 C 44.76 - BVerwGE 54, 54 <56 f.> = Buchholz 454.51 MRVerbG Nr. 1 S. 2 f. und vom 16. Januar 2003 - BVerwG 4 CN 8.01 - BVerwGE 117, 313 <317> = Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 160 S. 96).

47

Zwar hat das Oberverwaltungsgericht auch eine im entscheidungserheblichen Zeitraum geltende bundesrechtliche Regelung ausgelegt und dabei zu Unrecht angenommen, dass Anspruchsinhaber nach § 24 Abs. 1 SGB VIII a.F. nicht nur das Kind, sondern auch die sorgeberechtigte Person gewesen sei. Letzteres trifft nicht zu, weil nach dem unmissverständlichen Wortlaut dieser Vorschrift ausdrücklich und allein das Kind als Berechtigter genannt wird. Dies lässt sich auch im Hinblick auf die Systematik des SGB VIII, Rechtsansprüche entweder dem Kind bzw. Jugendlichen (wie etwa bei Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII) oder den personensorgeberechtigten Eltern (wie etwa bei der Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII) zuzuweisen, nur als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers interpretieren, allein dem Kind den Anspruch nach § 24 Abs. 1 SGB VIII a.F. auf Verschaffung eines Betreuungsplatzes zu vermitteln. Soweit das Oberverwaltungsgericht diese bundesrechtliche Anspruchsberechtigung verkannt hat, wirkt sich dies hier jedoch nicht aus.

48

Das Oberverwaltungsgericht gelangt zu der in Rede stehenden Anspruchsberechtigung eigenständig tragend auch durch rein landesrechtlich ausgerichtete Erwägungen. Maßgeblich sei die Begünstigung der Eltern durch die Inanspruchnahme einer durch öffentliche Mittel hoch subventionierten Einrichtung. Das Oberverwaltungsgericht legt insoweit sowohl die bundesrechtliche als auch die landesrechtliche Anspruchsgrundlage - mit gleichem Ergebnis - parallel aus.

49

cc) Schließlich ist die Auslegung des § 5 Abs. 1 KitaG auch nicht deswegen revisionsgerichtlich zu beanstanden, weil das Bundesrecht ein anderes als das vom Oberverwaltungsgericht vertretene Ergebnis gebieten würde (vgl. Urteil vom 23. August 1994 - BVerwG 1 C 18.91 - BVerwGE 96, 293 <294 f.> = Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 230 S. 15). Denn eine einschränkende bundesrechtskonforme Auslegung war weder im Hinblick auf einfaches noch auf Verfassungsrecht des Bundes erforderlich. Vielmehr ist der Landesgesetzgeber gemäß § 24 Abs. 6 SGB VIII frei darin, weitergehende Begünstigungen als der Bund zu gewähren. Denn nach dieser Vorschrift bleibt weitergehendes Landesrecht unberührt.

50

c) Ein Bundesrechtsverstoß ergibt sich schließlich auch nicht daraus, dass die Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses auf einen Grundsatz vom Vorrang des verwaltungsgerichtlichen Primärrechtsschutzes verweisen und dazu geltend machen, ein Aufwendungsersatzanspruch sei hier ausgeschlossen, weil es die Klägerinnen versäumt hätten, den Verschaffungsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Wege eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO durchzusetzen.

51

Ob die Inanspruchnahme verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes eine Voraussetzung des landesrechtlichen Sekundäranspruchs auf Aufwendungsersatz darstellt und ob diese etwaige Voraussetzung im konkreten Fall erfüllt ist, ist als Auslegung und Anwendung von Landesrecht der revisionsgerichtlichen Überprüfung grundsätzlich nicht zugänglich. Darüber hinaus ist es zweifelhaft, ob im Rahmen des Anspruchs auf Aufwendungsersatz nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII die vorherige Inanspruchnahme von Eilrechtsschutz geboten ist. Im Wortlaut des § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII, der nur verlangt, dass die Deckung des Bedarfs durch die selbstbeschaffte Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet haben darf und der dabei zwischen dem Fall der Bedarfsdeckung bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung (Buchst. a) und dem Fall bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung (Buchst. b) unterscheidet, hat das Erfordernis des Eilrechtsschutzes keinen Ausdruck gefunden.

52

Diese Frage bedarf jedoch keiner abschließenden Klärung, weil jedenfalls gegen die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, dass das Nachsuchen um vorläufigen Rechtsschutz nur dann verlangt werden kann, wenn es dem Betroffenen zumutbar ist, bundesrechtlich nichts zu erinnern ist. Selbst beim Amtshaftungsanspruch, bei dem der grundsätzliche Vorrang des primären gerichtlichen Rechtsschutzes in deutlicher Form in § 839 Abs. 3 BGB niedergelegt ist, wird die Inanspruchnahme von Primärrechtsschutz nur verlangt, wenn durch diese eine rechtzeitige Abhilfe überhaupt erwartet werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Januar 1995 - III ZR 71/93 - BGHZ 128, 346 <358>; s. auch BVerwG, Urteil vom 28. Mai 1998 - BVerwG 2 C 29.97 - BVerwGE 107, 29 <32 f.> = Buchholz 232 § 23 BBG Nr. 40 S. 3). Dies war jedoch nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts nicht der Fall. Es hat dazu ausgeführt, dass eine Abhilfe auch dann nicht zu erwarten gewesen wäre, wenn die Sorgeberechtigten von Anfang an versucht hätten, den Primäranspruch im Verwaltungsrechtsweg durchzusetzen.

(1) Die Einreise eines Ausländers in das Bundesgebiet ist unerlaubt, wenn er

1.
einen erforderlichen Pass oder Passersatz gemäß § 3 Abs. 1 nicht besitzt,
2.
den nach § 4 erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt,
2a.
zwar ein nach § 4 erforderliches Visum bei Einreise besitzt, dieses aber durch Drohung, Bestechung oder Kollusion erwirkt oder durch unrichtige oder unvollständige Angaben erschlichen wurde und deshalb mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen oder annulliert wird, oder
3.
nach § 11 Absatz 1, 6 oder 7 nicht einreisen darf, es sei denn, er besitzt eine Betretenserlaubnis nach § 11 Absatz 8.

(2) Die mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden können Ausnahme-Visa und Passersatzpapiere ausstellen.

(1) Wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt, so sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen. Sind die Kosten gegeneinander aufgehoben, so fallen die Gerichtskosten jedem Teil zur Hälfte zur Last. Einem Beteiligten können die Kosten ganz auferlegt werden, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.

(2) Wer einen Antrag, eine Klage, ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf zurücknimmt, hat die Kosten zu tragen.

(3) Kosten, die durch einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entstehen, fallen dem Antragsteller zur Last.

(4) Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, können diesem auferlegt werden.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.