Gericht

Verwaltungsgericht Bayreuth

Tenor

1. Der Bescheid der Stadt Hof vom 16.09.2011 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v. H. des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der am ... in ... geborene Kläger ist nach den vorliegenden Erkenntnissen wohl marokkanischer Staatsangehöriger und reiste am 14.11.1995 zusammen mit seiner Mutter und zwei Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der Antrag der Familie auf Anerkennung als Asylberechtigte wurde mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 12.12.1995 abgelehnt. Weiterhin wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 03.05.1996 (Az. B 3 K 95.31422) als offensichtlich unbegründet abgewiesen.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Bayreuth vom 29.08.1996 (Az. VII 0184/96) wurde die Vormundschaft für den Kläger und seine Geschwister Herrn I... übertragen, weil die Mutter seit August 1996 unbekannten Aufenthalts war und der Vater in Marokko getötet worden sein soll. Bemühungen der Ausländerbehörde, die Identität der Kinder festzustellen und Passpapiere vom Generalkonsulat des Königreichs Marokko zu erhalten, blieben erfolglos. Auch konnte der Aufenthaltsort der Mutter nicht ermittelt werden. Aufgrund dessen und unter Berücksichtigung des Kindeswohls wurde entschieden, dem Kläger und seinen Geschwistern ab dem 20.02.2001 Aufenthaltsbefugnisse zu erteilen. Am 15.08.2008 wurde dem Kläger von der Ausländerbehörde der Stadt Hof eine Niederlassungserlaubnis erteilt.

Mit Urteil des Landgerichts Hof vom 20.10.2010 Az. KLs 21 Js 6196/10 jug. wurde der Kläger wegen schwerer räuberischer Erpressung in zwei tatmehrheitlichen Fällen zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt.

Neben dieser Verurteilung ist der Kläger wie folgt strafrechtlich auffällig geworden:

- Urteil des Amtsgerichts Hof vom 13.09.2007 Az. 14 Ls 25 Js 8065/06 jug. wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Besitz einer verbotenen Waffe in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis: 80 Stunden gemeinnützige Arbeit, 6 Monate Sperre für die Fahrerlaubnis;

- Urteil des Amtsgerichts Hof vom 15.05.2006 Az. 10 Ds 25 Js 120600/05 jug. wegen vorsätzlicher Körperverletzung in 2 Fällen, Hehlerei, Störung von Telekommunikationsanlagen, versuchten Diebstahls und Diebstahls: 4 Wochen Dauerarrest, 120 Stunden gemeinnützige Arbeit, Teilnahme an sozialem Trainingskurs;

- Anzeige der Polizeiinspektion Hof vom 02.07.2006 wegen eines besonders schweren Falles des Diebstahls in/aus einer Gaststätte und Kantine: Verfahren nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt (Az. 25 Js 9789/06);

- Anzeige der Polizeiinspektion Hof vom 21.09.2006 wegen gefährlicher Körperverletzung: Verfahren nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt (Az. 25 Js 14255/06);

- Anzeige der Polizeiinspektion Hof vom 13.03.2007 wegen eines besonders schweren Falles des Diebstahls in/aus einem Dienst- und Büroraum: Verfahren nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt (Az. 25 Js 4320/07);

- Anzeige der Polizeiinspektion Hof vom 27.02.1008 wegen Sachbeschädigung auf Straßen, Wegen und Plätzen: öffentliches Interesse an der Strafverfolgung wurde verneint (Az. 25 Js 3074/08 jug.);

- Urteil des Amtsgerichts Hof vom 19.01.2009 Az. 10 Ds 25 Js 14508/08-jug wegen Beleidigung: 80 Stunden gemeinnützige Arbeit und Geldstrafe;

Am 23.08.2006 und am 20.11.2007 wurden dem Kläger ausländerrechtliche Verwarnungen erteilt.

Auf die Anhörung zur beabsichtigten Ausweisung äußerte der Kläger sich dahingehend, dass er die Straftat sehr bereue und begründete sie mit dem falschen Umgang und Problemen. Er habe aus seinen Fehlern gelernt und strebe nun eine Ausbildung in der Justizvollzugsanstalt ... an. Mit Schreiben vom 26.07.2011 teilte eine Frau O. (wohl die Mutter der Lebensgefährtin des Klägers) mit, dass sie dem Kläger nach seiner Haftentlassung die Möglichkeit einer Anstellung als Möbelpacker in ihrem Geschäft gewährleiste.

Mit Bescheid vom 16.09.2011 wies die Stadt Hof den Kläger unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus dem Bundesgebiet aus und ordnete den Vollzug der Ausweisung durch Abschiebung in das Königreich Marokko oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist, an. Auf die Gründe wird Bezug genommen.

Mit Schriftsatz seines damaligen Bevollmächtigten vom 08.10.2011, per Telefax eingegangen am 10.10.2011, erhob der Kläger Klage gegen diesen Bescheid mit dem Antrag,

den Bescheid der Beklagten vom 16.09.2011 aufzuheben.

Der zugleich gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO (Streitsache B 1 S 11.657) erledigte sich, nachdem die Beklagte aufgrund von Bedenken des Gerichts die sofortige Vollziehung ausgesetzt hatte.

Zur Begründung der Klage wurde im Wesentlichen geltend gemacht, dass es dem Kläger nicht möglich sei, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Versuche des ehemaligen Vormunds des Klägers und seiner Geschwister, marokkanische Pässe zu besorgen, seien erfolglos geblieben. Die vom marokkanischen Generalkonsulat verlangten Unterlagen seien bis auf eine (in Kopie beigefügte) Geburtsurkunde nicht zu beschaffen gewesen. Aus diesem Grund sei im jetzigen Ausweisersatz des Klägers eingetragen: „Staatsangehörigkeit ungeklärt“.

Unzutreffend sei die Annahme der Beklagten, die Mutter des Klägers lebe in Marokko, so dass über sie die erforderlichen Papiere beschafft werden könnten. Die Mutter lebe vielmehr in Belgien und sei dort verheiratet. Der Kläger habe keinen Kontakt zu ihr.

Weiterhin gingen die Erwägungen der Beklagten zum Teil von unrichtigen Sachverhalten aus. Soweit der Bescheid aus dem gegen den Kläger ergangenen Strafurteil des Landgerichts Hof zitiere, der Kläger habe bei der von ihm begangenen Straftat eine Waffe benutzt und das Opfer mit dem Tode bedroht, treffe dies auf den Kläger nicht zu, sondern auf den damaligen Mitangeklagten, der deshalb auch eine um zwei Jahre höhere Freiheitsstrafe erhalten habe als der Kläger. Bei der Feststellung, dass beim Kläger Wiederholungsgefahr bestehe, habe die Beklagte in ihre Erwägungen nicht eingestellt, dass die gegen den Kläger verhängte Freiheitsstrafe den Zweck der Besserung und Abschreckung vor weiteren Straftaten verfolge. Es werde beantragt, den neuesten Führungsbericht beizuziehen. Schließlich werde an den Ausführungen der Beklagten gerügt, es sei zweifelhaft, ob der Kläger faktischer Inländer geworden sei. Eine Ermessensentscheidung dürfe nur auf einen Gesichtspunkt gestützt werden, der sicher sei und nicht nur „zweifelhaft“. Abgesehen davon sei der Kläger in Deutschland voll integriert. Er sei als kleines Kind nach Deutschland gekommen und hier aufgewachsen. Die deutsche Hauptschule habe er abgeschlossen. Er beherrsche ausschließlich die deutsche Sprache. Soweit ihm die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid entgegenhalte, er habe keine Berufsausbildung und sei straffällig geworden, grenze ihn dies nicht von der übrigen Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland aus, denn auch deutsche Staatsangehörige hätten keine Berufsausbildung und würden kriminell.

Weiter beantragte der Bevollmächtigte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

Mit Schreiben vom 08.11.2011 übermittelte die Beklagte die Ausländerakte und beantragte,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wurde auf den angefochtenen Bescheid verwiesen und ergänzend vorgetragen, es möge richtig sein, dass in der Vergangenheit vergeblich versucht worden sei, marokkanische Papiere für den Kläger zu beschaffen. Aus der Sicht der Beklagten sei es aber nicht ausgeschlossen, dennoch Papiere für den Kläger zu erhalten. Von der ZRS Südbayern sei der Beklagten telefonisch mitgeteilt worden, dass sich ein neuer marokkanischer Konsul im Amt befinde. Die Beklagte verweise zudem darauf, dass eine Ausweisung ihren ordnungsrechtlichen Zweck sowohl unter spezialpräventiven als auch unter generalpräventiven Gesichtspunkten erreichen könne, wenn sie nicht zu einer Abschiebung in das Heimatland führe sondern nur zu einer Verschlechterung der aufenthaltsrechtlichen Position im Bundesgebiet.

Weiter wurde dargelegt, dass der Kläger bei der letzten Straftat ein Taschenmesser mit sich geführt habe und die Täter aufgrund eines gemeinsamen Tatplans gehandelt hätten. Das Landgericht sei bei der Strafzumessung von einer hohen Rückfallgeschwindigkeit des Klägers ausgegangen.

Selbst wenn die Führung des Klägers laut dem Führungsbericht der JVA keinerlei Anlass zu Beanstandungen gegeben habe, ändere dies nichts an der bestehenden Wiederholungsgefahr (wird näher ausgeführt).

Der Aufenthalt der Mutter des Klägers in Belgien sei gegenüber der Beklagten nicht nachgewiesen worden. Auch wenn sich die Mutter des Klägers nicht in Marokko aufhalte, führe dies zu keiner anderen Entscheidung. Der Kläger sei als notorischer und unbelehrbarer Wiederholungstäter mit ständig steigender Tendenz und Neigung zu vorsätzlichen kriminellen Handlungen zu klassifizieren, dessen Verhalten auf Dauer in dieser Weise nicht mehr hingenommen werden könne. Unter Berücksichtigung der Häufigkeit der vom Kläger in der Vergangenheit verzeichneten strafrechtlichen Verfehlungen und der hieraus resultierenden Beeinträchtigungen gewichtiger Schutzgüter (Leben, Gesundheit und Eigentum) sei die Entscheidung der Beklagten rechtmäßig und insbesondere verhältnismäßig.

Der Kläger habe weder eine Schul- bzw. Berufsausbildung im Bundesgebiet absolviert noch sei er in der Bundesrepublik Deutschland einer nennenswerten Erwerbstätigkeit nachgegangen. Im Urteil des Landgerichts Hof werde entgegen dem Klagevorbringen mehrfach ausgeführt, dass der Kläger die Schulausbildung nicht abgeschlossen habe. Gegen eine hinreichende Integration spreche auch die Tatsache, dass er in der Vergangenheit vielfach und in kurzen Abständen straffällig geworden sei. Der Vergleich mit deutschen Staatsangehörigen könne nicht auf den vorliegenden Fall projiziert werden.

Der frühere Bevollmächtigte des Klägers entgegnete darauf mit Schriftsatz vom 24.11.2011 insbesondere, dass auch ein neuer Konsul ohne die erforderlichen Nachweise dem Kläger keine Heimreisepapiere ausstellen werde. Der frühere Vormund des Klägers sei selbst nach Marokko gereist, um für den Kläger einen Pass zu besorgen. Dies sei ihm misslungen, weil er keine Nachweise über die Identität des Klägers habe beibringen können. Selbst der Geburtsort des Klägers habe nicht eindeutig geklärt werden können. Bei ihrer Ermessensentscheidung habe die Beklagte das bisherige Lebensschicksal des Klägers zu wenig gewichtet. Der Kläger sei von seiner Mutter als kleines Kind verlassen worden. Er sei dann in einem Kinderheim aufgewachsen. Er sei der Meinung gewesen, seine Mutter lebe nicht mehr. Als die Mutter plötzlich aufgetaucht sei, sei der Kläger 13 Jahre alt gewesen und habe sich mitten in der Pubertät befunden. Er habe einen schweren Schock erlitten und im Bezirkskrankenhaus behandelt werden müssen. Von dort sei die Unterbringung in einer psychotherapeutischen Einrichtung vorgeschlagen worden, was das Jugendamt aus Kostengründen abgelehnt habe. Der Kläger habe sich auch um eine Berufsausbildung bemüht. Nach seinem Hauptschulabschluss habe er eine Ausbildung beim Berufsbildungswerk der Diakonie Hochfranken begonnen und dort ausgezeichnete Ergebnisse erzielt. Wegen seiner Inhaftierung habe er die Ausbildung nicht abschließen können. Einen qualifizierten Schulabschluss oder eine Berufsausbildung habe er im Gefängnis nicht machen dürfen. Für eine Förderung durch die Bundesagentur für Arbeit erfülle er nicht die Voraussetzungen des § 63 SGB III.

Dass die Mutter des Klägers, die im Übrigen einen gemeinsamen Besuch beim Generalkonsulat in Frankfurt zur Klärung der Identität des Klägers abgelehnt habe, in Belgien lebe, habe sein ehemaliger Vormund dadurch nachgewiesen, dass er eine Farbkopie des belgischen Ausweises der Mutter an das Ausländeramt der Beklagten geschickt habe. Dem Schriftsatz beigefügt war die Kopie eines Kurzberichts der Diakonie Hochfranken vom 27.04.2007, der den Kläger überwiegend positiv beurteilt.

Die Beklagte nahm hierzu mit Schreiben vom 06.12.2011 im Wesentlichen dahingehend Stellung, dass eine Ausweisung des Klägers ihren ordnungsrechtlichen Zweck auch ohne Abschiebung erreichen könne. Weiter wird auf die Straftaten und die hohe Rückfallgeschwindigkeit eingegangen. Eine Reise des Vormunds nach Marokko lasse sich den Akten nicht entnehmen, der Geburtsort sei durch die Geburtsurkunde nachgewiesen. Die Ablichtung des belgischen Ausweises sei in der Akte des Herrn B. gefunden worden, bei dem es sich um den Onkel des Klägers handeln dürfte. Inwieweit es sich tatsächlich um den Ausweis der Mutter handle, könne nicht zweifelsfrei bestätigt werden, da sich aus der Akte für diese ein anderes Geburtsdatum ergebe. Nachdem der Ausweis bereits 2005 ausgestellt wurde, besage dies nicht, dass die Mutter sich noch in Belgien aufhalte und nicht wieder ins Königreich Marokko zurückgekehrt sei. Auch wenn die Mutter sich nicht in Marokko aufhalte führe dies zu keiner anderen Entscheidung (wird näher ausgeführt).

Mit Schriftsatz vom 16.05.2012 teilte der Bevollmächtigte des Klägers mit, dass dieser wegen guter Führung vorzeitig aus der Strafhaft entlassen worden sei. Er sei bei seiner Verlobten gemeldet. Eine beabsichtigte Umstellung der Klage auf den Freistaat Bayern als Beklagten nahm der Klägerbevollmächtigte auf Hinweis des Berichterstatters wieder zurück (Schreiben vom 08.06.2012).

Nach dem Tod des früheren Klägerbevollmächtigten wurde der nunmehrige Bevollmächtigte von der Rechtsanwaltskammer zum Abwickler der Kanzlei bestellt.

Die Stadt Hof hat mit Bescheid vom 21.03.2013 und Berichtigungsbescheid vom 12.06.2013 die Wirkungen der Ausweisung des Klägers auf die Dauer von drei Jahren, gerechnet ab der Abschiebung bzw. der freiwilligen Ausreise; befristet. Der Bevollmächtigte des Klägers hat die dagegen zunächst erhobene Klage (Streitsache B 1 K 13.287) nach Erlass des Berichtigungsbescheides mit Schriftsatz vom 20.06.2013 für erledigt erklärt, die Beklagte mit Schreiben vom 08.07.2013 ebenfalls. Das Verfahren wurde daher mit Beschluss vom 09.07.2013 eingestellt.

Im Laufe des Verfahrens hat die Beklagte die ursprünglich vorgelegte Ausländerakte durch Übermittlung neuer Unterlagen ergänzt, u. a. zu einem Strafverfahren gegen den Kläger wegen Körperverletzung, in dem dieser jedoch freigesprochen wurde.

Mit Beschluss vom 13.02.2014 hat die Kammer dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt ... beigeordnet. Auf die Gründe wird Bezug genommen.

Die Beklagte machte im Hinblick auf den ergangenen Beschluss mit Schreiben vom 12.03.2014 im Wesentlichen geltend, dass die Ausweisung generalpräventiv über die strafrechtliche Sanktion hinaus zur Abschreckung und Verhaltenssteuerung anderer Ausländer dringend geboten sei, um künftigen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland vorzubeugen (wird näher ausgeführt).

Weiter wird vorgetragen, es spreche nichts für eine Integration des Klägers in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland. Er könne keinerlei Integrationsleistungen vorweisen, die dazu führen könnten, ihn als sog. „faktischen Inländer“ anzusehen (wird näher ausgeführt).

Das Landgericht Hof sei im Rahmen der Beweiswürdigung davon ausgegangen, dass beim Kläger schädliche Neigungen im Sinne des § 17 JGG vorliegen.

Weiterhin müsse davon ausgegangen werden, dass die „Beziehung“ zu seinen im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen (Schwester und Bruder bzw. Onkel) nicht geeignet gewesen sei, ihn von der Begehung der Straftaten abzuhalten.

Unter Berücksichtigung der Häufigkeit der vom Kläger begangenen strafrechtlichen Verfehlungen und der hieraus resultierenden Beeinträchtigungen gewichtiger Schutzgüter (Leben, Gesundheit und Eigentum) sei die Entscheidung auch unter Berücksichtigung seiner durch Art. 2 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange rechtmäßig und insbesondere verhältnismäßig (wird näher ausgeführt). Die Schutzgüter müssten auch nicht hinter möglichen Problemen des Klägers bei der Wiedereingliederung im Heimatland zurückstehen.

Es sei zu sehen, dass eine Ausweisung ihren ordnungsrechtlichen Zweck unter spezial- und generalpräventiven Gesichtspunkten ebenfalls erreichen könne, wenn sie nicht zu einer Abschiebung des Klägers in sein Heimatland, sondern „nur“ zu einer Verschlechterung seiner aufenthaltsrechtlichen Position im Bundesgebiet führen sollte. In diesem Zusammenhang müsse berücksichtigt werden, dass sich der Kläger allein durch sein eigenes kriminelles Verhalten in diese Situation gebracht habe.

Mit weiterem Schreiben vom 13.03.2014 teilte die Beklagte mit, dass gegen den Kläger von der Polizeiinspektion M. und der Polizeiinspektion S. zwei Ermittlungsverfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung eingeleitet wurden. Die Staatsanwaltschaft Hof habe am 20.01.2014 Anklage wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen erhoben. Der Kläger habe erneut gewichtige Schutzgüter beeinträchtigt. Von ihm gehe weiter eine Wiederholungsgefahr aus. Selbst das anhängige ausländerrechtliche Verfahren habe den Kläger unbeeindruckt gelassen. Die Beziehung mit seiner deutschen Lebensgefährtin sei nicht geeignet gewesen, ihn zu einem gesetzestreuen Verhalten zu bewegen. Der Kläger sei ganz offensichtlich nicht gewillt, die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu beachten. Die Allgemeinheit habe ein Recht darauf, vor weiteren Gefahren, die vom Kläger ausgehen, effektiv geschützt zu werden.

Die Unterlagen zu den angeführten Delikten wurden zur Ergänzung der Akten vorgelegt und vom Gericht dem Klägerbevollmächtigten zur Einsicht zugeleitet.

Auf ein Hinweisschreiben des Gerichts vom 24.03.2014 nahm die Beklagte mit Schreiben vom 27.03.2014 nochmals Stellung. Insbesondere trug sie dabei unter Hinweis auf Erwägungen des Landgerichts Hof vor, sie sehe bei der verurteilten Straftat der schweren räuberischen Erpressung in zwei tatmehrheitlichen Fällen eine besondere Schwere der Straftat im Hinblick auf die Generalprävention. Es sei zwar richtig, dass der Kläger seit seinem 5. Lebensjahr in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen sei. Von einer echten Integration könne angesichts der Vorstrafen und der fehlenden Ausbildungsergebnisse nicht gesprochen werden. Soweit dem Kläger eine Rückkehr in sein Geburtsland Marokko wegen einer möglichen „Entwurzelung“ nicht mehr zugemutet werden könne, könne sich die Schutzwirkung des Art. 8 EMRK letztlich nur auf die Abschiebung als solches beziehen (Ziffer 4 und 5 des angefochtenen Bescheides). Der Kläger sei nach Auffassung der Beklagten in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland nicht derart integriert, dass er vor einer Verschlechterung seiner Aufenthaltssituation in Deutschland geschützt sei. Die beiden neuerlichen Ermittlungsverfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung zeigten, dass eine echte Integration in Deutschland nicht gegeben sei. Hierzu liege zumindest die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Hof vom 20.01.2014 vor. Die Geschädigte leide noch heute an Verletzungsfolgen.

Im Schreiben vom 12.03.2014 hatte die Beklagte Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Der Klägerbevollmächtigte verzichtete mit Schreiben vom 12.03.2014 ebenfalls auf mündliche Verhandlung.

Hinsichtlich der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die übermittelten Behördenakten Bezug genommen (§ 117 Abs.3 Satz 2 VwGO).

Gründe

Im Einverständnis der Beteiligten kann über den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

In der vorliegenden Sache ist rechtlich von besonderer Bedeutung, ob die Ausweisung des Klägers mit Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 2 Abs. 1 GG vereinbar oder aber wegen Eingriffs in sein Recht auf Achtung des Privatlebens unverhältnismäßig ist. Die Beklagte hat diese Frage zwar geprüft und verneint, dabei aber zur Überzeugung des Gerichts wesentliche Gesichtspunkte außer Acht gelassen. Soweit sie dabei verneint hat, dass der Kläger im Bundesgebiet verwurzelt und sog. „faktischer Inländer“ geworden sei, weil er weder eine Schul- bzw. Berufsausbildung im Bundesgebiet abgeschlossen noch in nennenswertem Umfang erwerbstätig gewesen sei sowie wiederholt straffällig geworden sei, entspricht dies zwar der früheren herrschenden Rechtsprechung, erscheint jedoch nach neuerer Rechtsprechung nicht mehr haltbar. Insbesondere hat z. B. das Bundesverwaltungsgericht entschieden, allein der Umstand, dass ein im Bundesgebiet geborener und hier aufgewachsener Ausländer weder über einen Schulabschluss noch über eine Berufsausbildung verfügt und seinen Lebensunterhalt bislang nahezu ausschließlich aus öffentlichen Sozialleistungen bestritten hat, reiche für sich allein nicht aus, um ungeachtet aller anderen Besonderheiten des Falles eine Verwurzelung des 20 Jahre alten Ausländers zu verneinen (BVerwG, B. v. 19.1.2010 - 1 B 25.09 - NVwZ 2010,707 - juris Rn. 4). In der vorliegenden Sache hat die Ausländerbehörde auch nach den Ausführungen des Gerichts im Prozesskostenhilfebeschluss und dem späteren Hinweisschreiben mit den Schreiben vom 12.03.2014 und 27.03.2014 noch immer maßgeblich auf das Fehlen einer Integration mangels Schulabschlusses und abgeschlossener Ausbildung sowie auf die begangenen Straftaten abgestellt und damit nach wie vor die Bedeutung und Tragweite des Rechtes auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 2 Abs. 1 GG nicht richtig erkannt und unzureichend gewichtet. Letztlich werden seitens der Beklagten immer nur die - zweifellos vorhandenen - Integrationsdefizite des Klägers betont, auch im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts jedoch nicht hinreichend gewürdigt, inwieweit der Kläger sonst durch seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland geprägt ist. Hierbei ist bei der vom Gericht vorzunehmenden Abwägung zu beachten, dass nach dem unwidersprochenen Vortrag zur Klagebegründung der Kläger ausschließlich die deutsche Sprache beherrscht, was von der Ausländerbehörde bei ihren Erwägungen nicht berücksichtigt wurde. Zwar hält es das Gericht für möglich, dass der Kläger sich mit seinen ebenfalls in Hof lebenden Angehörigen in seiner Muttersprache unterhalten hat, nachdem er jedoch bereits im Alter von 6 Jahren nach Deutschland kam und ausschließlich hier die Schule besucht hat, ist davon auszugehen, dass er sprachlich und kulturell weit überwiegend durch seinen Aufenthalt in Deutschland geprägt wurde, was von der Beklagten nach wie vor nicht hinreichend gewichtet wird (vgl. hierzu insbesondere EGMR, U. v. 25.3.2010 - 40601/05 - InfAuslR 2010, 325 - juris Rn. 54 u. 58 - und U. v. 23.6.2008 - 1638/03 - InfAuslR 2008, 333 - EGMR-Datenbank Rn. 71, 96/97; BVerfG, B. v. 21.2.2011 - 2 BvR 1392/10 - InfAuslR 2011, 420 - juris Rn. 20/21 - und B. v. 10.8.2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300 - juris Rn. 29/30; BVerwG, U. v. 27.1.2009 - 1 C 40.07 - NVwZ 2009, 979 - juris Rn. 20; BayVGH, B. v. 29.1.2014 - 10 ZB 13.1137 - juris Rn. 11; SächsOVG, B. v. 16.9.2013 - 3 B 389/13 - juris Rn. 6).

Insbesondere aber hat die Beklagte zu wenig beachtet und nicht hinreichend gewichtet, dass auch die Entwurzelung des Klägers hinsichtlich seines Herkunftslands Marokko und seine bei einer etwaigen dortigen Reintegration zu erwartenden Schwierigkeiten wesentliche und bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit seiner Ausweisung nach Art. 8 EMRK zu berücksichtigende Gesichtspunkte sind (vgl. insb. EGMR, U. v. 25.3.2010 a. a. O.; BVerwG, U. v. 14.2.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255 - juris Rn. 20 - und U. v. 27.1.2009 - 1 C 40.07 - NVwZ 2009, 979 - juris Ls. 4 u. Rn. 20; SächsOVG a. a. O.; OVG RhPf, U. v. 15.3.2012 - 7 A 11268/11 - juris Rn. 24 ff.). Dies hat die Beklagte im angefochtenen Bescheid auf Seite 11 mit dem Satz „Es kann davon ausgegangen werden, dass kulturelle, sprachliche und soziale Kontakte in Marokko wieder aufgenommen werden können bzw. noch bestehen“ tatsächlich und rechtlich völlig unzureichend behandelt. Auch die Annahme auf Seite 10 des Bescheides, dass die Mutter in Marokko lebe, erscheint nicht hinreichend gesichert. Angesichts deren offensichtlich unsteten Lebenswandels kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass diese aus einem Urteil des Landgerichts Hof gegen den Bruder bzw. Onkel (die Ausführungen hierzu sind widersprüchlich) des Klägers stammende Angabe noch immer zutrifft. Weiter kann im Hinblick darauf, dass die Mutter den Kläger im Alter von nur 6 Jahren einfach zurückgelassen hat, wohl kaum davon ausgegangen werden, dass diese ihn bei einer Eingliederung in Marokko unterstützen würde. Auch mit ihren nachträglichen Ausführungen im Klageverfahren wird die Beklagte diesem wichtigen Gesichtspunkt nicht gerecht, wenn sie geltend macht, dass bei Schwierigkeiten einer (Wieder-)Eingliederung im Herkunftsstaat die Schutzwirkung des Art. 8 EMRK nur die tatsächliche Durchführung der Ausweisung durch Abschiebung beträfe, im angefochtenen Bescheid somit nur die Abschiebungsandrohung. Zum Einen wird damit immer noch die Bedeutung der Prägung des Klägers durch sein Aufwachsen in Deutschland verkannt, zum Anderen kann nicht allein deswegen, weil die Beklagte nach wie vor keine Heimreisepapiere für den Kläger besitzt davon ausgegangen werden, dass der Kläger tatsächlich nicht abgeschoben werden kann und wohl Duldungen erhalten würde. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der streitgegenständlichen Maßnahme nach Art. 8 EMRK ist vielmehr auf deren abstrakte Bedeutung abzustellen, hier also, dass der Kläger aufgrund der verfügten Ausweisung sich nicht mehr in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten dürfte und ihm die angedrohte Abschiebung nach Marokko droht. Es kann nicht einfach unterstellt werden, dass der Aufenthalt ggf. weiter geduldet werden wird und es in letzter Konsequenz wohl faktisch nicht zum Vollzug der Ausweisung kommen würde (vgl. hierzu VGH BW, U. v. 18.11.2009 - 13 S 2002/09 - juris Ls. 3 und Rn. 42).

Weiter hat die Ausländerbehörde im angefochtenen Bescheid (Seite 10) unzutreffend angenommen, dass die familiären Beziehungen des Klägers zu seinen Geschwistern im Bundesgebiet nicht in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK fallen würden. Vielmehr stellt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch die Beziehung junger Erwachsener zu den Eltern und anderen nahen Familienmitgliedern Familienleben im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK dar und bildet ohnehin die Gesamtheit der sozialen Beziehungen des Ausländers zu der Gemeinschaft, in der er lebt, einen Teil des geschützten Privatlebens im Sinne von Art. 8 EMRK (vgl. u. a. EGMR, U. v. 12.1.2010 - 47486/06 - InfAuslR 2010, 369 - EGMR-Datenbank Rn. 42 ff. - und U. v. 23.6.2008 a. a. O.). Dazu gehört auch die Beziehung des Klägers zu seiner deutschen Freundin, die offenbar bereits bei Erlass des angefochtenen Bescheides so gefestigt war, dass deren Mutter dem Kläger eine Beschäftigung nach seiner Haftentlassung angeboten hatte. Auch in den Stellungnahmen vom 12.03.2014 und 27.03.2014 ist die Beklagte nicht darauf eingegangen, dass die einzigen familiären Beziehungen, die nach den vorliegenden Erkenntnissen beim Kläger bestehen, diejenigen zu seiner Schwester und seinem Bruder/Onkel sind, die ebenfalls in Deutschland (Hof) leben. Auch deshalb ist die in der vorliegenden Sache erforderliche Ermessensausübung durch die Beklagte wegen Nichtberücksichtigung eines wesentlichen Gesichtspunktes fehlerhaft.

Nicht hinreichend in ihre Erwägungen einbezogen hat die Ausländerbehörde schließlich auch, dass der Kläger die im angefochtenen Bescheid dargestellten Straftaten als Jugendlicher bzw. Heranwachsender begangen hat und das Landgericht Hof im letzten Urteil vom 20.10.2010 erhebliche Reiferückstände angenommen und deshalb Jugendstrafrecht angewandt hat (vgl. Bl. 663 d. Ausländerakte). Bei der Prüfung, ob eine Ausweisung nach Art. 8 Abs. 1 EMRK unverhältnismäßig ist, spielt auch eine wichtige Rolle, ob die Straftaten als Jugendlicher oder Erwachsener begangen wurden (vgl. insbesondere EGMR, U. v. 23.6.2008 - 1638/03 - InfAuslR 2008, 333 - EGMR-Datenbank Rn. 72, zitiert auch in U. v. 25.3.2010 - 40601/05 - InfAuslR 2010, 325 - juris Rn. 54; EGMR, U. v. 17.4.2003 - 52853/99 - NJW 2004, 2147 - juris Rn. 46; VGH BW, U. v. 4.11.2009 - 11 S 2472/08 - InfAuslR 2010, 103 - juris Rn. 43/44). Soweit die Beklagte in den Stellungnahmen vom 12.03.2014 und 27.03.2014 die Auffassung vertritt, dass die Ausweisung auch unter dem Gesichtspunkt der Generalprävention gerechtfertigt sei, weil von einer besonders schweren Straftat auszugehen sei, kann dem nach Auffassung des Gerichts nicht gefolgt werden. Nach der neueren Rechtsprechung kann eine Ausweisung bei Ausländern, die in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK fallen, in der Regel nicht mehr tragend generalpräventiv begründet werden (vgl. VGH BW, U. v. 23.10.2012 - 11 S 1470/11 - InfAuslR 2013, 146 - und U. v. 18.3.2011 - 11 S 2/11 - InfAuslR 2011, 293). Eine Ausnahme kann nur dann angenommen werden, wenn aufgrund ganz besonderer Schwere der Straftat ein dringendes Bedürfnis besteht, durch die Ausweisung generalpräventiv andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten abzuhalten (vgl. insbesondere BVerfG, B. v. 10.8.2007 - 2 BvR 535/06 - InfAuslR 2007, 443; BVerwG, U. v. 14.2.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255; VGH BW, U. v. 15.4.2011 - 11 S 189/11 - DÖV 2011, 702 - juris Rn. 56 ff.). Eine solche besondere Schwere der Straftat ist hier nach Auffassung des Gerichts entgegen der Meinung der Ausländerbehörde nicht anzunehmen. Die Fälle, in denen in der Rechtsprechung generalpräventive Gesichtspunkte als tragfähig anerkannt wurden, betrafen wesentlich schwerer wiegende Straftaten mit längeren Haftstrafen (vgl. hierzu z. B. VGH BW, U. v. 15.4.2011 a. a. O. zu neun Jahren Freiheitsstrafe wegen unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln u. a. - nachgehend BVerwG, U. v. 13.12.2012 - 1 C 20/11 - InfAuslR 2013, 169 - juris Rn. 24; andererseits z. B. VGH BW, U. v. 23.10.2012 a. a. O.: dort wurde bei Geiselnahme mit gefährlicher Körperverletzung und einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten die Ausweisung als unverhältnismäßig nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK angesehen). In den angeführten Stellungnahmen führt die Beklagte aus dem Strafurteil nur die gegen den Kläger sprechenden Einzelpunkte an, lässt die bei der erforderlichen Gesamtwürdigung ebenfalls zu berücksichtigenden positiven Umstände jedoch unberücksichtigt. So hat das Landgericht Hof z. B. dargelegt, dass der Kläger erhebliche Reiferückstände aufwies und nicht selbstständig in der Lage war, sein Leben zu organisieren. Er habe sich an aus seiner Sicht Autorität ausstrahlenden Dritten wie dem seinerzeitigen Mittäter orientiert. Zugunsten des Klägers wurde gewürdigt, dass er umfassend geständig war und dem auch besondere Bedeutung zukam, weil keine objektiven Beweismittel vorlagen. Das Geständnis sei auch von Schuldeinsicht und Reue geprägt gewesen und er habe sich frühzeitig schriftlich bei den Tatopfern entschuldigt. Zugunsten des Klägers wurde auch berücksichtigt, dass keine Gewaltanwendung geplant war, was bei der aufenthaltsrechtlichen Würdigung ebenfalls ein zu berücksichtigender Umstand ist (vgl. EGMR, U. v. 23.6.2008 - 1638/03 - InfAuslR 2008, 333 - EGMR-Datenbank Rn. 100).

Bei der Würdigung der Straftaten des Klägers hat die Ausländerbehörde nach Auffassung der Kammer außerdem auch die Frage der Wiederholungsgefahr und der Generalprävention zu pauschal und undifferenziert gesehen. Im Hinblick auf die vom Strafgericht festgestellten Reiferückstände ist zu beachten, dass der Kläger nach der Begehung der Taten im November und Dezember 2009 bisher nicht erneut straffällig wurde und deswegen in Verbindung mit den oben dargestellten Gesamtumständen der Begehung eine Wiederholungsgefahr zumindest hinsichtlich ähnlich schwerer Taten wie der abgeurteilten räuberischen Erpressung derzeit nicht mehr ohne weiteres angenommen werden kann (vgl. hierzu u. a. EGMR, U. v. 12.1.2010 und U. v. 23.6.2008 a. a. O.; BVerwG, U. v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - NVwZ 2013, 361 - juris Rn. 20 ff. - und U. v. 15.11.2007 - 1 C 45.06 - NVwZ 2008, 434 - juris Rn. 12 ff.; SächsOVG, B. v. 16.9.2013 - 3 B 389/13 - juris Rn. 6/7; VGH BW, U. v. 9.8.2011 - 11 S 245/11 - NVwZ-RR 2011, 994 - juris 38 ff.). Die von der Ausländerbehörde mitgeteilten aktuellen strafrechtlichen Ermittlungen haben noch nicht zu einer Verurteilung geführt und können daher nicht entscheidend ins Gewicht fallen, insbesondere im Hinblick darauf, dass die Anklage wegen einer ähnlichen Tat zu einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen führte (AG Hof, U. v. 14.2.2013 - 8 Ds 22 Js 12054/12 - Beiakte VI). Zudem sind die dem Kläger aktuell vorgeworfenen Körperverletzungsdelikte keinesfalls so schwerwiegend wie die Taten der räuberischen Erpressung und eher mit dem wohl immer noch nicht abgeschlossenen Reifeprozess des Klägers in Verbindung zu bringen.

Mit Blick darauf, dass der im Bundesgebiet aufgewachsene Kläger die für sein Familien- und Privatleben nach Art. 8 EMRK konstitutiven Bindungen und sein Daueraufenthaltsrecht durch die Ausweisung unwiederbringlich verlieren würde, erscheint diese bei der nach Art. 8 Abs. 1, Abs. 2 EMRK, Art. 2 Abs. 1 GG im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmenden Gesamtwürdigung aller Verhältnisse des Einzelfalls (vgl. angeführte Rechtsprechung sowie BayVGH, B. v. 6.12.2010 - 10 ZB 10.1375 - juris Rn. 2; OVG Bremen, U. v. 28.6.2011 - 1 A 141/11 - InfAuslR 2011, 432 - juris Rn. 38 ff.) nicht gerechtfertigt. Den für eine Ausweisung sprechenden Gründen kommt, selbst wenn man mit der Beklagten von einer gewissen Wiederholungsgefahr ausgehen wollte, kein überragendes Gewicht im Sinne der dargestellten Rechtsprechung zu. Jedenfalls aber hat die Beklagte bei ihren Ermessenserwägungen auch unter Berücksichtigung der ergänzenden Stellungnahmen im Klageverfahren wesentliche Abwägungsbelange nicht oder nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt, weshalb der angefochtene Bescheid trotz der eingeschränkten Prüfungskompetenz des Verwaltungsgerichts nach § 114 Satz 1 VwGO als ermessensfehlerhaft aufzuheben ist.

Der Klage ist nach allem mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben und der angefochtene Bescheid aufzuheben. Die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und die Abwendungsbefugnis richten sich nach § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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Verwaltungsgericht Bayreuth Urteil, 28. März 2014 - 1 K 11.656 zitiert 15 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 113


(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 80


(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a). (2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur 1. bei der

Zivilprozessordnung - ZPO | § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung


Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:1.Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;2.Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;3.Urteile, dur

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 167


(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs. (2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungskl

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 2


(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unver

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 6


(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinsc

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 101


(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden. (2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 117


(1) Das Urteil ergeht "Im Namen des Volkes". Es ist schriftlich abzufassen und von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterzeichnen. Ist ein Richter verhindert, seine Unterschrift beizufügen, so wird dies mit dem Hinderungsgr

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 114


Soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens übersch

Strafprozeßordnung - StPO | § 154 Teileinstellung bei mehreren Taten


(1) Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen, 1. wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Bes

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 8


(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Jugendgerichtsgesetz - JGG | § 17 Form und Voraussetzungen


(1) Die Jugendstrafe ist Freiheitsentzug in einer für ihren Vollzug vorgesehenen Einrichtung. (2) Der Richter verhängt Jugendstrafe, wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder

Sozialgesetzbuch (SGB) Drittes Buch (III) - Arbeitsförderung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 24. März 1997, BGBl. I S. 594) - SGB 3 | § 63 Fahrkosten


(1) Als Bedarf für Fahrkosten werden folgende Kosten der oder des Auszubildenden zugrunde gelegt: 1. Kosten für Fahrten zwischen Unterkunft, Ausbildungsstätte und Berufsschule (Pendelfahrten),2. bei einer erforderlichen auswärtigen Unterbringung Kost

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Verwaltungsgericht Bayreuth Urteil, 28. März 2014 - 1 K 11.656 zitiert oder wird zitiert von 9 Urteil(en).

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Bundesverwaltungsgericht Urteil, 13. Dez. 2012 - 1 C 20/11

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Tatbestand 1 Der im Jahr 1981 in Deutschland geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine unbefristete Ausweisung.

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Tenor Auf die Berufung des Klägers hin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 - 4 K 3079/10 - geändert.Der Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 wird aufgehoben.Das beklagte Land trägt die Kosten des Ve

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Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 15. September 2011 wird der Bescheid der Beklagten vom 27. Dezember 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Stadtrechtsausschusses der Beklagten vom 6. Apr

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 15. Apr. 2011 - 11 S 189/11

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Tenor Soweit der Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt worden ist, wird das Verfahren eingestellt. In Übrigen wird die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12.03.2008 - 8 K 3985/06 - zurückgewiese

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 18. März 2011 - 11 S 2/11

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Tenor Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21. Juli 2010 - 5 K 1778/09 - insoweit geändert, als es die Klage als unbegründet abgewiesen hat.Der Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 23. Juni 20

Bundesverfassungsgericht Stattgebender Kammerbeschluss, 21. Feb. 2011 - 2 BvR 1392/10

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Tenor Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 9. April 2010 - 13 B 1300/10 - und der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 20. Mai 2010 - 11 ME 129/10 - verle

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 18. Nov. 2009 - 13 S 2002/09

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Tenor Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 10. Juni 2009 – 8 K 73/09 – geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheids vom 30. September 2008 und des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsi

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 04. Nov. 2009 - 11 S 2472/08

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Tenor Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 13. Juni 2008 - 5 K 1766/06 - geändert. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Regierungspräsidiums Freiburg vom 27. September 2006 verp

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(1) Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen,

1.
wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten wegen einer anderen Tat rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt oder
2.
darüber hinaus, wenn ein Urteil wegen dieser Tat in angemessener Frist nicht zu erwarten ist und wenn eine Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, zur Einwirkung auf den Täter und zur Verteidigung der Rechtsordnung ausreichend erscheint.

(2) Ist die öffentliche Klage bereits erhoben, so kann das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren in jeder Lage vorläufig einstellen.

(3) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat bereits rechtskräftig erkannten Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, wieder aufgenommen werden, wenn die rechtskräftig erkannte Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nachträglich wegfällt.

(4) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat zu erwartende Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, binnen drei Monaten nach Rechtskraft des wegen der anderen Tat ergehenden Urteils wieder aufgenommen werden.

(5) Hat das Gericht das Verfahren vorläufig eingestellt, so bedarf es zur Wiederaufnahme eines Gerichtsbeschlusses.

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

(1) Als Bedarf für Fahrkosten werden folgende Kosten der oder des Auszubildenden zugrunde gelegt:

1.
Kosten für Fahrten zwischen Unterkunft, Ausbildungsstätte und Berufsschule (Pendelfahrten),
2.
bei einer erforderlichen auswärtigen Unterbringung Kosten für die An- und Abreise und für eine monatliche Familienheimfahrt oder anstelle der Familienheimfahrt für eine monatliche Fahrt einer oder eines Angehörigen zum Aufenthaltsort der oder des Auszubildenden.
Eine auswärtige Unterbringung ist erforderlich, wenn die Ausbildungsstätte vom Familienwohnort aus nicht in angemessener Zeit erreicht werden kann.

(2) Abweichend von Absatz 1 Nummer 2 werden bei einer Förderung im Ausland folgende Kosten der oder des Auszubildenden zugrunde gelegt:

1.
bei einem Ausbildungsort innerhalb Europas die Kosten für eine Hin- und Rückreise je Ausbildungshalbjahr,
2.
bei einem Ausbildungsort außerhalb Europas die Kosten für eine Hin- und Rückreise je Ausbildungsjahr.
In besonderen Härtefällen können die notwendigen Aufwendungen für eine weitere Hin- und Rückreise zugrunde gelegt werden.

(3) Die Fahrkosten werden in Höhe des Betrags zugrunde gelegt, der bei Benutzung des zweckmäßigsten regelmäßig verkehrenden öffentlichen Verkehrsmittels in der niedrigsten Klasse zu zahlen ist; bei Benutzung sonstiger Verkehrsmittel wird für Fahrkosten die Höhe der Wegstreckenentschädigung nach § 5 Absatz 1 des Bundesreisekostengesetzes zugrunde gelegt. Bei nicht geringfügigen Fahrpreiserhöhungen hat auf Antrag eine Anpassung zu erfolgen, wenn der Bewilligungszeitraum noch mindestens zwei weitere Monate andauert. Kosten für Pendelfahrten werden nur bis zur Höhe des Betrags zugrunde gelegt, der nach § 86 insgesamt erbracht werden kann.

(1) Die Jugendstrafe ist Freiheitsentzug in einer für ihren Vollzug vorgesehenen Einrichtung.

(2) Der Richter verhängt Jugendstrafe, wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

(1) Das Urteil ergeht "Im Namen des Volkes". Es ist schriftlich abzufassen und von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterzeichnen. Ist ein Richter verhindert, seine Unterschrift beizufügen, so wird dies mit dem Hinderungsgrund vom Vorsitzenden oder, wenn er verhindert ist, vom dienstältesten beisitzenden Richter unter dem Urteil vermerkt. Der Unterschrift der ehrenamtlichen Richter bedarf es nicht.

(2) Das Urteil enthält

1.
die Bezeichnung der Beteiligten, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Bevollmächtigten nach Namen, Beruf, Wohnort und ihrer Stellung im Verfahren,
2.
die Bezeichnung des Gerichts und die Namen der Mitglieder, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben,
3.
die Urteilsformel,
4.
den Tatbestand,
5.
die Entscheidungsgründe,
6.
die Rechtsmittelbelehrung.

(3) Im Tatbestand ist der Sach- und Streitstand unter Hervorhebung der gestellten Anträge seinem wesentlichen Inhalt nach gedrängt darzustellen. Wegen der Einzelheiten soll auf Schriftsätze, Protokolle und andere Unterlagen verwiesen werden, soweit sich aus ihnen der Sach- und Streitstand ausreichend ergibt.

(4) Ein Urteil, das bei der Verkündung noch nicht vollständig abgefaßt war, ist vor Ablauf von zwei Wochen, vom Tag der Verkündung an gerechnet, vollständig abgefaßt der Geschäftsstelle zu übermitteln. Kann dies ausnahmsweise nicht geschehen, so ist innerhalb dieser zwei Wochen das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung der Geschäftsstelle zu übermitteln; Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung sind alsbald nachträglich niederzulegen, von den Richtern besonders zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übermitteln.

(5) Das Gericht kann von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es der Begründung des Verwaltungsakts oder des Widerspruchsbescheids folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt.

(6) Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hat auf dem Urteil den Tag der Zustellung und im Falle des § 116 Abs. 1 Satz 1 den Tag der Verkündung zu vermerken und diesen Vermerk zu unterschreiben. Werden die Akten elektronisch geführt, hat der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle den Vermerk in einem gesonderten Dokument festzuhalten. Das Dokument ist mit dem Urteil untrennbar zu verbinden.

(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 9. April 2010 - 13 B 1300/10 - und der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 20. Mai 2010 - 11 ME 129/10 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Hannover zurückverwiesen.

...

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000,- € (in Worten: achttausend Euro) und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 4.000,- € (in Worten: viertausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach Ablehnung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis.

2

1. Der 19jährige Beschwerdeführer ist türkischer und libanesischer Staatsangehöriger. Er wurde im Bundesgebiet geboren und lebt zusammen mit seiner Mutter und vier Geschwistern in häuslicher Gemeinschaft in H.. Seine Mutter, libanesische Staatsangehörige, sowie drei Geschwister besitzen unbefristete Aufenthaltserlaubnisse, sein älterer Bruder die deutsche Staatsbürgerschaft. Der Vater des Beschwerdeführers stammt aus der Türkei; er wurde wegen Nichtableistung des Wehrdienstes aus der Türkei ausgebürgert; während des Ausgangsverfahrens befand er sich in der Justizvollzugsanstalt V. in Haft. Bis zum Eintritt der Volljährigkeit im September 2009 besaß der Beschwerdeführer eine von seiner Mutter abgeleitete Aufenthaltserlaubnis.

3

Der Beschwerdeführer ist bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Er verließ 2007 die Hauptschule mit einem Abgangszeugnis, das durchweg die Noten "mangelhaft" und "ungenügend" ausweist. Anschließend nahm er an einem Berufsvorbereitungsjahr teil und besuchte verschiedene Bildungs- und Integrationsmaßnahmen. Bis Ende Februar 2010 bezog er Leistungen nach dem SGB II.

4

2. Die Ausländerbehörde lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 2. März 2010 ab und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Der Aufenthaltserlaubnis stehe nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG die fehlende Lebensunterhaltssicherung entgegen; ein Abweichen von der Regelerteilungsvoraussetzung sei wegen fehlender Integration in Deutschland und geringer Motivation, den Lebensunterhalt dauerhaft aus eigenen Mitteln sicherzustellen, nicht möglich. Der Beschwerdeführer könne sich auch nicht mit Erfolg auf § 25 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 EMRK berufen, da er nicht faktisch zum Inländer geworden sei. Seine fehlende Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse sei so stark, dass es auf die Möglichkeit der Integration in der Türkei nur noch untergeordnet ankomme. Dabei dürfe nicht unbeachtet bleiben, dass sein vollziehbar ausreisepflichtiger Vater mit ihm in die Türkei umsiedeln könne; sein Vater habe zudem Freunde in der Türkei, die den Beschwerdeführer dort unterstützen könnten. Das Verlassen des Bundesgebiets würde für den Beschwerdeführer auch keine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG bedeuten.

5

3. Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid Klage, über die noch nicht entschieden worden ist. Gleichzeitig beantragte er die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Die Ausländerbehörde habe sich nur unzureichend mit der Reichweite des Art. 8 EMRK, den Integrationsleistungen des Beschwerdeführers und den tatsächlichen Folgen einer Ausreise auseinandergesetzt. Der Beschwerdeführer sei in Deutschland geboren, habe hier sein gesamtes bisheriges Leben verbracht und verfüge über gute Deutschkenntnisse. Trotz des formalen Eintritts der Volljährigkeit sei er auf die Hilfe und Zuwendung seiner Familie angewiesen. Mit der Türkei verbinde ihn nur die Staatsangehörigkeit. Er sei noch nie dort gewesen, verfüge über keine sozialen Bindungen dorthin und habe dort weder Verwandte noch Bekannte; die türkische Sprache beherrsche er nicht. Seine Familie sei nicht in der Lage, ihn in der Türkei finanziell zu unterstützen. Der Beschwerdeführer könne auch nicht gemeinsam mit seinem Vater zurückkehren, da dieser zum einen ausgebürgert worden sei, zum anderen frühestens im Oktober 2010 aus der Haft entlassen werde. Der Verweis auf Freunde des Vaters sei rein spekulativ. Insgesamt sei nicht nachvollziehbar, wie es dem Beschwerdeführer möglich sein solle, sich in der Türkei zu (re-)integrieren.

6

4. Mit Beschluss vom 9. April 2010 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag ab, da sich der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig erweise. Das Gericht folgte der Begründung des Bescheids. Ergänzend wies es darauf hin, dass der Beschwerdeführer trotz der Ausbürgerung seines Vaters türkischer Staatsangehöriger bleibe, dass es ihm zumutbar sei, die türkische Sprache zu erlernen, und dass es seinen in Deutschland lebenden Familienangehörigen freistehe, mit ihm in die Türkei zurückzukehren.

7

5. Mit seiner Beschwerde gegen diese Entscheidung machte der Beschwerdeführer geltend, das Verwaltungsgericht habe den zugrundeliegenden Sachverhalt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unzutreffend gewürdigt und sich mit seinen familiären Bindungen in Deutschland nur unzureichend auseinandergesetzt. Soweit es davon ausgegangen sei, Freunde des Vaters könnten den Beschwerdeführer in der Türkei unterstützen, hätte es zwingend weiterer Sachverhaltsklärung bedurft. Offen geblieben sei zudem, wie der Beschwerdeführer in der Zeit bis zum Erlernen der türkischen Sprache in der Türkei kommunizieren solle.

8

6. Mit Beschluss vom 20. Mai 2010 wies das Oberverwaltungsgericht die Beschwerde zurück: Das Verwaltungsgericht sei zu Recht davon ausgegangen, dass die Klage voraussichtlich keinen Erfolg haben werde, weil der Beschwerdeführer die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht erfülle und keinen Anspruch nach § 25 Abs. 4 Satz 2 oder Abs. 5 AufenthG habe. Eine im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK hinreichende Integration des Beschwerdeführers könne nicht festgestellt werden, da ihm in keiner Weise eine berufliche Verwurzelung gelungen sei. Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK dürfte auch unter dem Aspekt des Familienlebens nicht betroffen sein, da gesundheitliche Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers nicht ersichtlich seien und er nicht näher dargelegt habe, inwiefern er auf die Hilfe seiner Mutter und seines älteren Bruders angewiesen sei. Jedenfalls sei der Eingriff nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt. Mangels beruflicher Integration habe das Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Einwanderungskontrolle ein überwiegendes Gewicht. Das Leben in der Türkei sei dem Beschwerdeführer nicht unzumutbar. Er sei arbeitsfähig und könne sich wegen seiner Deutschkenntnisse insbesondere im Tourismusgewerbe bewerben. Es sei ihm zuzumuten, sich in Regionen niederzulassen, in denen arabisch gesprochen wird; auch sei er in der Lage, in angemessener Zeit türkisch zu lernen. Unabhängig davon, ob Verwandte oder Freunde des Vaters den Beschwerdeführer unterstützen könnten, sei zu berücksichtigen, dass sein Vater jedenfalls nach der Haftentlassung mit ihm ausreisen könnte; die Ausbürgerung des Vaters stelle kein Hindernis dar, da er sich ohne Weiteres wieder einbürgern lassen könne.

9

7. Mit der fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, dass die Gerichte die Bedeutung von Art. 6 Abs. 1 GG verkannt hätten. Das Verwaltungsgericht habe sich mit dem grundrechtlichen Schutz der Familie und den tatsächlichen Familienverhältnissen überhaupt nicht befasst. Das Oberverwaltungsgericht habe die persönlichen Konsequenzen, die der Verlust der familiären Bindungen für den Beschwerdeführer bedeute, bei der Abwägung nicht berücksichtigt. Der Verweis der Gerichte auf den Vater des Beschwerdeführers und dessen vermeintliche Freunde sei ungeeignet, den Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG zu rechtfertigen. Da der Beschwerdeführer in der Türkei wegen Mittellosigkeit und fehlender Sprachkenntnisse einer sozialen Isolation ausgesetzt wäre, sei Art. 6 Abs. 1 GG bereits durch die Versagung von Eilrechtsschutz verletzt.

10

Darüber hinaus lägen Verstöße gegen Art. 2 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG vor. Die angegriffenen Beschlüsse verkennten die Bedeutung, die der Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK zukomme, da sie die für die Abwägung wesentlichen Umstände nicht erkannt beziehungsweise unberücksichtigt gelassen hätten. Zudem hätten die Gerichte die Entscheidungen auf die fehlenden Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt, obwohl eine hinreichende Berücksichtigung des Vortrags des Beschwerdeführers zu dem Ergebnis geführt hätte, dass die Aussichten der Klage offen seien und ein Anordnungsanspruch bestehe; die eigenen Feststellungen der Gerichte zeigten, dass der Sachverhalt in wesentlichen Punkten noch klärungsbedürftig sei.

11

8. Das Bundesverfassungsgericht untersagte im Wege der einstweiligen Anordnung der Ausländerbehörde, bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde die angedrohte Abschiebung zu vollziehen (Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 2010 - 2 BvR 1392/10 -).

12

9. Dem Niedersächsischen Justizministerium wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

II.

13

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen Art. 19 Abs. 4 GG.

14

1. Der Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen. Der Beschwerdeführer hat deutlich gemacht, dass er bereits durch die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes in verfassungsmäßigen Rechten verletzt ist (vgl. zu diesem Erfordernis BVerfGE 35, 382 <397 f.>; 53, 30 <53 f.>; 59, 63 <83 f.>; 76, 1 <40>). Er zeigt auf, dass und weshalb die angegriffenen Entscheidungen die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache hätten abhängig machen dürfen, und greift damit eine spezifische Besonderheit des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes an. Der Beschwerdeführer war daher nicht gehalten, vor der Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts zunächst den Rechtsweg in der Hauptsache zu durchlaufen.

15

2. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG.

16

a) Der in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Garantie eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes kommt wesentliche Bedeutung bereits für den vorläufigen Rechtsschutz zu, dessen Versagung vielfach irreparable Folgen hat. Die nach § 80 Abs. 1 VwGO für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage ist insoweit eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie. Andererseits gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozess nicht schlechthin. Überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsakts ist daher ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt (vgl. BVerfGE 35, 382 <401 f.>; 69, 220 <227 f.>; BVerfGK 5, 328 <334>; 11, 179 <186 f.>). Geltung und Inhalt dieser Leitlinien sind nicht davon abhängig, ob der Sofortvollzug eines Verwaltungsakts einer gesetzlichen (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO) oder einer behördlichen Anordnung (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) entspringt (vgl. BVerfGE 69, 220 <228 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. Oktober 2003 - 1 BvR 2025/03 -, NVwZ 2004, S. 93 <94>).

17

b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen auch dann nicht gerecht, wenn man hier den in § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG normierten grundsätzlichen Vorrang des Vollziehungsinteresses in Rechnung stellt und daraus folgert, dass die Gerichte - neben der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache - zu einer Einzelfallbetrachtung grundsätzlich nur im Hinblick auf solche Umstände angehalten sind, die von den Beteiligten vorgetragen werden und die Annahme rechtfertigen können, dass im konkreten Fall von der gesetzgeberischen Grundentscheidung ausnahmsweise abzuweichen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. Oktober 2003 - 1 BvR 2025/03 -, NVwZ 2004, S. 93 <94>). Ausgehend von der Erkenntnis, dass der Fall im Hauptsacheverfahren zu klärende Sach- und Rechtsfragen aufwirft und deshalb die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache abhängig gemacht werden kann, hätten sich die Verwaltungsgerichte mit den substantiiert vorgetragenen persönlichen Belangen des Beschwerdeführers in einer der Bedeutung dieser Umstände für die Aussetzungsentscheidung angemessenen Weise auseinandersetzen müssen. Daran fehlt es. Zwar ist es grundsätzlich Sache der Fachgerichte, den Sachverhalt zu ermitteln und rechtlich zu würdigen; die Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht ist auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts beschränkt (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; stRspr). Eine solche Verletzung liegt hier jedoch vor. Die Gerichte haben das Vorbringen des Beschwerdeführers einer abschließenden Würdigung in der Art einer Hauptsacheentscheidung unterzogen, ohne naheliegende Einwände zu berücksichtigen und auf die Vorläufigkeit ihrer Würdigung sowie den interimistischen Charakter ihrer Entscheidungen Bedacht zu nehmen, und damit das Gebot effektiven Rechtsschutzes verfehlt.

18

Der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten ist vor allem die Frage, ob die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vor dem Recht auf Achtung des Privatlebens, das Art. 8 Abs. 1 EMRK neben dem Recht auf Achtung des Familienlebens schützt, Bestand haben kann. Die angegriffenen Entscheidungen halten es grundsätzlich für möglich, dass sich ein Ausländer zur Begründung eines Aufenthaltsrechts auf den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK berufen kann, stellen jedoch fest, dass die Voraussetzungen, unter denen hieraus ein rechtliches Ausreisehindernis im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG folge oder eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG anzunehmen sei, im Falle des Beschwerdeführers nicht erfüllt seien. Diese Feststellung ist nicht in einer die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes rechtfertigenden Weise begründet. Sowohl das Verwaltungsgericht - durch Inbezugnahme des Bescheids der Ausländerbehörde - als auch das Oberverwaltungsgericht haben einseitig auf die berufliche Integration des Beschwerdeführers abgestellt und damit den Schutzgehalt von Art. 8 Abs. 1 EMRK verkürzt; die Rechtfertigungsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK lässt eine hinreichende Auseinandersetzung mit den konkreten Lebensverhältnissen des Beschwerdeführers vermissen.

19

aa) Das Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind (vgl. EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 9. Oktober 2003 - 48321/99 -, Fall Slivenko , EuGRZ 2006, S. 560 <561>) und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfGK 11, 153 <159 f.>; BVerwGE 133, 72 <82 f.> m.w.N.). Ein Eingriff in die Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK muss nach Art. 8 Abs. 2 EMRK eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme darstellen, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (vgl. BVerfGK 11, 153 <160> m.w.N.).

20

bb) Hiermit im Einklang steht zwar die in den angegriffenen Entscheidungen vorgenommene Maßstabsbildung, wonach zur Herleitung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ein durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiertes Privatleben erforderlich sei, das nur noch im Bundesgebiet geführt werden kann, und dass es hierfür einerseits auf die Integration des Ausländers in Deutschland, andererseits die Möglichkeit zur (Re-)Integration im Staat der Staatsangehörigkeit ankomme. Allerdings wird die konkrete Würdigung der vom Beschwerdeführer vorgetragenen Umstände zur Verwurzelung in Deutschland und der Entwurzelung hinsichtlich der Türkei dem auf die Erfassung der individuellen Lebensverhältnisse des Ausländers angelegten Prüfprogramm (vgl. BVerfGK 12, 37 <44>; BVerwGE 133, 72 <82 ff.>) nicht gerecht.

21

Die angegriffenen Entscheidungen nehmen keine gewichtende Gesamtbewertung der Lebensumstände des Beschwerdeführers vor (vgl. BVerwGE 133, 72 <84>). Stattdessen stellen sie hinsichtlich des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK einseitig auf die - aus ihrer Sicht fehlenden - wirtschaftlichen Bindungen des Beschwerdeführers an die Bundesrepublik Deutschland ab, indem sie eine misslungene berufliche Integration konstatieren. Die Geburt des Beschwerdeführers in Deutschland sowie das Gewicht des über 18 Jahre andauernden rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet werden nur unzureichend gewürdigt. Der Umstand, dass die gesamte Familie des Beschwerdeführers in Deutschland lebt, und die sonstigen persönlichen Bindungen an die Bundesrepublik Deutschland bleiben gänzlich unberücksichtigt. Nicht in den Blick genommen wird auch das angesichts der bisherigen Straflosigkeit des Beschwerdeführers vergleichsweise geringe Gewicht des die Aufenthaltsbeendigung rechtfertigenden öffentlichen Interesses (vgl. BVerfGK 12, 37 <45>). Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ist das Oberverwaltungsgericht - ebenso wie das Verwaltungsgericht in seinen ergänzenden Hinweisen - dem Fehlen tatsächlicher Verbindungen zur Türkei nicht individuell nachgegangen, obwohl sich in Ansehung der Lebensgeschichte des Beschwerdeführers die Notwendigkeit aufdrängt, die vorgetragene Entwurzelung - insbesondere die fehlenden Kenntnisse der türkischen Sprache und Kultur sowie das Fehlen jeglicher Bezugsperson in der Türkei - aufzuklären. Der Verweis darauf, in angemessener Zeit türkisch lernen und in der Türkei Arbeit finden oder sich jedenfalls in arabisch sprechenden Landesteilen niederlassen und im Tourismusgewerbe bewerben zu können, stützt sich auf globale Erkenntnisse, deren konkrete Bedeutung für den Beschwerdeführer nicht ermittelt worden ist und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung wohl auch nicht ermittelt werden kann. Entsprechendes gilt für die Behauptung, der ausreisepflichtige Vater könne - jedenfalls nach seiner Haftentlassung - mit dem Beschwerdeführer in die Türkei ausreisen, weil insoweit nicht nur unberücksichtigt geblieben ist, dass die Haftentlassung frühestens im Oktober 2010 möglich war, sondern es auch jeglichen Eingehens auf mögliche konkrete Lebensperspektiven des Vaters und des Beschwerdeführers ermangelt.

22

3. Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf der Grundrechtsverletzung. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wären. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG die angegriffenen Beschlüsse auf und verweist die Sache an das Verwaltungsgericht zurück. Auf das Vorliegen der weiteren gerügten Grundrechtsverstöße kommt es nicht an.

III.

23

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Tenor

I.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III.

Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Kläger verfolgt mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 9. April 2013 seine Klage auf Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 15. Februar 2012, mit dem der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen wurde und die Wirkungen der Ausweisung auf fünf Jahre befristet wurden, weiter.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und eines Verfahrensmangels, auf dem das Urteil beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO), nicht vorliegen. Der Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) ist schon nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt bzw. liegt nicht vor.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils, die die Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO rechtfertigen könnten, lägen nur vor, wenn der Kläger einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt hätte (BVerfG, B. v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11). Dies ist jedoch nicht der Fall.

Das Erstgericht hat seine Entscheidung tragend darauf gestützt, dass schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG in der Person des Klägers vorlägen. Es bestünden solche Gründe sowohl in spezial- als auch in generalpräventiver Hinsicht. Beim Kläger liege aus spezialpräventiver Sicht kein atypischer Sonderfall vor. Angesichts der Verurteilung wegen zweifacher Vergewaltigung und vorsätzlicher Körperverletzung seien Schutzgüter von hohem Rang betroffen, nämlich die sexuelle Selbstbestimmung und die körperliche Integrität. An die Wiederholungsgefahr seien damit nur geringe Anforderungen zu stellen. Bei den der Verurteilung zugrundeliegenden Taten handle es sich nicht um eine einmalige Beziehungstat. Der Kläger habe zwei Vergewaltigungen und mehrere Jahre danach eine versuchte Nötigung und eine Körperverletzung begangen. Beziehe man die Zeugenaussage der ersten Ehefrau ein, so könne von einem kriminellen Fehlverhalten über viele Jahre hinweg ausgegangen werden. Aus der Tatsache, dass der Kläger nur bei zwei von vier Beziehungen Vergewaltigungen und Körperverletzungen begangen habe, könne nicht geschlossen werden, dass von ihm keine Wiederholungsgefahr ausgehe. Für eine Wiederholungsgefahr spreche insbesondere, dass der Kläger selbst angegeben habe, er wolle eine Therapie beginnen. Das Gericht sehe es daher als wahrscheinlich an, dass der Kläger auch in Zukunft in ähnlicher Weise straffällig werde. Unabhängig davon bestünden schwerwiegende Gründe i. S. d. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auch in generalpräventiver Hinsicht. Die Generalprävention scheitere nicht daran, dass es sich bei den abgeurteilten Straftaten um Beziehungstaten handle. Die Verurteilung beruhe gerade nicht auf einer einmaligen Affekttat, so dass eine Abschreckungswirkung bei anderen Ausländern erzielt werden könne. Es bestehe ein dringendes Bedürfnis, andere Ausländer von derartigen Straftaten abzuhalten, denn Sexual- und Gewaltstraftaten gegenüber Frauen würden von der deutschen Rechtsordnung nicht geduldet. Die von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung sei nicht zu beanstanden. Sie habe in der mündlichen Verhandlung die nach Bescheidserlass eingetretenen Umstände im Rahmen einer ergänzenden Ermessensausübung gewürdigt und in die Erwägungen des streitgegenständlichen Bescheids einbezogen. Die getroffene Entscheidung verstoße nicht gegen Art. 8 Abs. 2 EMRK. Der Kläger sei erst im Alter von 20 Jahren in das Bundesgebiet eingereist und habe überwiegend Sozialleistungen bezogen. Er könne sich verbal in seiner Muttersprache verständigen. Das Erlernen der hebräischen Gebärdensprache sei für ihn zumutbar. Es lebten noch Verwandte des Klägers in seinem Heimatland. Ihm stünden aufgrund seines Lotteriegewinns auch erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung. Art. 6 GG sei ebenfalls nicht verletzt. Das alleinige Sorgerecht für die beiden deutschen Kinder des Klägers liege bei deren Mutter. Ihm stehe bislang kein Umgangsrecht zu. Er habe seit seiner Inhaftierung im Oktober 2010 keinerlei Kontakt zu den Kindern. Durch die Ausweisung würden die Kontaktmöglichkeiten zu seinen Kindern derzeit nicht eingeschränkt, weil diese zusammen mit ihrer Mutter inzwischen wieder in Israel lebten. Selbst wenn die Kinder wieder nach Deutschland einreisen sollten, wäre es dem Kläger zumutbar, telefonisch oder brieflich Kontakt zu halten bzw. Betretenserlaubnisse zu beantragen. Die Befristung der Sperrwirkung der Ausweisung auf fünf Jahre sei rechtmäßig.

Der Kläger macht ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils mit der Begründung geltend, das Verwaltungsgericht München gehe zu Unrecht davon aus, dass eine Wiederholungsgefahr vorliege. Es verkenne, dass es sich bei den vom Kläger begangenen Straftaten um Beziehungstaten handle. Auch differenziere das Gericht zu Unrecht zwischen dem Verhalten des Klägers in der Ehe und in den Lebensgemeinschaften mit den beiden in der mündlichen Verhandlung vernommenen Zeuginnen. Das Gericht hätte ein sexualpsychologisches Gutachten einholen müssen, dass die Straftaten beim Kläger auf den konkreten Beziehungen zu seinen Ehefrauen, nicht aber auf einem ihm innewohnenden Verhaltensmuster beruhten. Der Wunsch, dass der Kläger eine Sexualtherapie durchführen wolle, dürfe nicht zur Begründung der Wiederholungsgefahr herangezogen werden. Zudem habe das Verwaltungsgericht das positive Nachtatverhalten nicht berücksichtigt.

Mit diesen Ausführungen stellt der Kläger die Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage. Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr bejaht. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i. S. d. § 56 Abs. 1 Satz 2 liegen in der Regel in Fällen des § 53 AufenthG vor (§ 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Der Kläger hat den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass ein atypischer Sonderfall nicht vorliegt, weil eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Kläger weitere (schwere) Straftaten begeht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U. v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18; U. v. 10.7.2012 -1 C 19.11 - juris Rn. 16) sind für die im Rahmen des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG für das Vorliegen der schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderliche, durch eine die tatrichterliche Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Außerdem müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht (BVerwG, U. v. 11.6.1996 - Az. 1 C 24/94 - Rn. 26). Diese Wiederholungsgefahr ergibt sich in der Person des Klägers aus der der Verurteilung vom 14. April 2011 zugrundeliegenden zweifachen Vergewaltigung und der vorsätzlichen Körperverletzung seiner Ehefrau. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, dass es sich bei diesen Straftaten nicht um eine sog. „Beziehungstat“ handelt. Eine Beziehungstat liegt nach dem Verständnis des Verwaltungsgerichts bei einer einmaligen Tat vor, die aus einem nicht wiederholbaren Affektzustand heraus begangen wurde (sog. elementar-eruptive Gewalttat). Eine Beziehungstat in diesem Sinne liegt nicht immer schon dann vor - wie offensichtlich der Kläger meint -, wenn die Tat im Rahmen einer Beziehung begangen wurde. Daher hat das Verwaltungsgericht zu Recht darauf abgestellt, dass der Kläger im Zeitraum von 2004 bis 2009 mehrfach schwere Straftaten gegenüber seiner Ehefrau begangen hat und diese jeweils nicht einem Affektzustand geschuldet waren, sondern nach den Feststellungen des Strafurteils, auf das sich das Erstgericht ausdrücklich bezogen hat, darauf beruhten, dass der Kläger einem Kulturkreis entstammt, in dem sich traditionsgemäß die Frau dem Mann unterzuordnen habe. Gerade die Körperverletzung und die versuchte Nötigung im Jahr 2009, also mehr als vier Jahre nach den Vergewaltigungen, sprächen gegen eine einmalige Beziehungstat. In einer einmaligen emotionalen Ausnahmesituation befand sich der Kläger bei Begehung der Straftaten gegenüber seiner Ehefrau nicht. Dagegen spricht die Häufung der schweren Straftaten (die weiteren von der Ehefrau angezeigten Vergewaltigungen wurden aufgrund einer tatsächlichen Verständigung im Strafverfahren nach § 154 StPO eingestellt). Hinzukommt, dass der Kläger auch gegenüber seiner ersten Ehefrau während der gesamten Ehedauer gewalttätig war.

Im Ergebnis zutreffend ist das Verwaltungsgericht auch davon ausgegangen, dass für die Wiederholungsgefahr in der Person des Klägers auch die bislang nicht absolvierte Therapie spricht. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht die der strafrechtlichen Verurteilung zugrundeliegenden Taten gegenüber seiner zweiten Ehefrau, aber auch Körperverletzungsdelikte gegenüber seiner ersten Ehefrau eingeräumt. Zugleich hat er angegeben, an einer Therapie teilnehmen zu wollen, „um selbst zu wissen, wie krank er sei oder warum er dies getan habe oder nicht getan habe“. Zwar beruft sich der Kläger im Zulassungsverfahren auf die unproblematischen Beziehungen zu seinen Lebensgefährtinnen in den Jahren 1998 bis 2003 und im Juli 2009. Letztlich vermögen diese beiden Beziehungen die durch die begangenen Straftaten manifestierte hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger erneut im Bereich der Körperverletzungs- und Sexualdelikte straffällig werden wird, nicht zu entkräften. Der Kläger hat seine beiden Ehefrauen fast während der gesamten Dauer die Ehe körperlich misshandelt und geschlagen. Besonders brutal war das der Verurteilung zugrundeliegende Körperverletzungsdelikt, bei dem er zunächst auf seine Ehefrau einschlug, sie dann packte und gegen die Wand warf und sie dann nach weiteren Schlägen würgte, dann nackt auszog und im Intimbereich fotografierte und ihr drohte, die Bilder im Internet zu veröffentlichen. Auch die harmonische Beziehung vor der zweiten Ehe hinderte den Kläger also nicht, gegenüber seiner zweiten Ehefrau massiv gewalttätig zu werden. Offensichtlich ist sich der Kläger bislang selbst nicht bewusst, aus welchen Gründen er Gewalt anwendet. Insoweit bedarf sein Verhalten einer therapeutischen Aufarbeitung. Im Blickpunkt stehen hier nicht nur Sexualdelikte, sondern auch die vom Kläger begangenen Körperverletzungsdelikte gegenüber beiden Ehefrauen. Auch wenn dem Kläger trotz erklärter Therapiebereitschaft eine entsprechende Therapie aufgrund der ungeklärten ausländerrechtlichen Situation bislang verweigert wurde, lässt dies die Wiederholungsgefahr nicht entfallen (BVerwG, B. v. 15.4.2013 - 1 B 22/12 - juris Rn. 19). Zur Beantwortung der Frage, ob noch eine Wiederholungsgefahr besteht, ist entscheidend darauf abzustellen, ob bei bestehender Therapiebedürftigkeit tatsächlich die erforderliche Therapie durchgeführt wurde (BayVGH, B. v. 14.11.2012 -10 ZB 12.1172 Rn. 6 m. w. N.).

Das positive Nachtatverhalten des Klägers führt ebenfalls nicht zum Entfallen der von der Beklagten und dem Erstgericht angenommenen Wiederholungsgefahr. Auch wenn der Kläger sich in der Haft einwandfrei geführt hat, ein Studium der Religionsphilosophie abgeschlossen hat, gegenüber seiner Ehefrau Schuldeinsicht und Reue gezeigt hat und eine finanzielle Wiedergutmachung geleistet hat, besteht aufgrund der Schwere und der Zahl der Straftaten und der bislang nicht durchgeführten Therapie nach wie vor die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass sich die vom Kläger ausgehende Gefahr der Begehung weiterer Straftaten nach seiner Haftentlassung realisiert. Schließlich kam es in den Jahren 1992 bis 2009, wenn auch mit Unterbrechungen, immer wieder zu Straftaten. Das letzte, besonders massive Körperverletzungsdelikt hat der Kläger erst im Juli 2009 begangen. Zwischen diesem Delikt und seiner Inhaftierung im Oktober 2010 liegt nur ein gutes Jahr, so dass angesichts des langen Zeitraums, in dem er immer wieder Gewalttaten begangen hat, keine belastbaren Erkenntnisse zum Verhalten des Klägers in Freiheit vorliegen. Entscheidende Bedeutung kommt auch insoweit dem Gesichtspunkt zu, dass der Kläger den Hintergrund seiner Straftaten bislang nicht aufarbeiten konnte, obwohl er dies selbst für erforderlich hält.

Das Erstgericht ist weiter zutreffend davon ausgegangen, dass schwerwiegende Gründe i. S. d. § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG auch in generalpräventiver Hinsicht vorliegen. Im Falle der vom Kläger begangenen Straftaten besteht über die strafrechtliche Sanktion hinaus ein besonderes Bedürfnis, durch die Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Erforderlich ist hierfür regelmäßig, dass eine Ausweisungspraxis, die an die Begehung ähnlicher Straftaten anknüpft, geeignet ist, auf potentielle weitere Straftäter abschreckend zu wirken (Hailbronner, AuslR, Stand 2009, § 56 Rn. 41). Ausschlaggebend sind insoweit also die Art und die Schwere der Straftat. Nur in der Person des betroffenen Ausländers bestehende Strafmilderungsgründe bleiben bei einer generalpräventiven Ausweisung unberücksichtigt, da sie nur bei der Strafzumessung, nicht aber bei der Einordnung der Straftat nach Art und Schwere eine Rolle spielen. Insoweit hat das Verwaltungsgericht für die Annahme schwerwiegender Gründe in generalpräventiver Hinsicht zu Recht auf die kontinuierliche Ausweisungspraxis im Bereich der körperlichen und/oder seelischen Gewalt gegen Frauen sowie das Fehlen einer einmaligen Affekttat abgestellt. Denn bei Ausweisungen aus Anlass von Beziehungs- oder Leidenschaftstaten kann es an einer generalpräventiven Wirkung fehlen, weil nach kriminologischen Erfahrungen nicht damit zu rechnen ist, dass sie gleichen oder ähnlichen Delikten vorbeugen könnten (BayVGH, U. v. 15.9.2009 - 19 B 09.1312 - juris Rn. 25 m. w. N.). Für das Erstgericht war insoweit auch nicht die Höhe der verhängten Strafe, sondern der Rang der betroffenen Schutzgüter, nämlich die sexuelle Selbstbestimmung und die körperliche Integrität, ausschlaggebend. Die persönliche Entwicklung des Ausländers nach der Tat bleibt insoweit unerheblich, da die Abschreckungswirkung der mit der Begehung der Straftat einhergehenden Ausweisung nur dann nicht eintritt, wenn bereits die Art und Weise der Begehung der Straftat von besonderen individuellen Faktoren gekennzeichnet ist, die nicht auf einen größeren Kreis potentieller Straftäter zutrifft. Das Nachtatverhalten des Täters hat auf die hier ausschlaggebende Art und die Schwere der Straftat keinen Einfluss.

Ist somit das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass in der Person des Klägers aufgrund der von ihm begangenen Straftaten, die sich über einen längeren Zeitraum hinzogen, und der bislang nicht absolvierten Therapie eine Wiederholungsgefahr i. S. d. § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG besteht, erweisen sich auch die von der Beklagten angestellten Ermessenserwägungen, soweit sie im Rahmen des § 114 Satz 1 VwGO vom Gericht überprüfbar sind, als rechtmäßig. Entgegen dem Vorbringen des Klägers im Zulassungsverfahren hat das Erstgericht bei der Überprüfung der Ermessenserwägungen der Beklagten auch berücksichtigt, dass das Vollzugsverhalten des Klägers beanstandungsfrei war, er andere Häftlinge in Gebärdensprache unterrichtet sowie ein erhebliches Engagement zur Verbesserung seiner deutschen Sprachkenntnisse gezeigt und 10.000 Euro Schadensersatz an seine Ehefrau bezahlt hat und dass die abgeurteilten Straftaten schon mehrere Jahre zurückliegen. Das Erstgericht hat insoweit auf die Ermessenserwägungen der Beklagten, die diese in der mündlichen Verhandlung vom 9. April 2013 ergänzt hat, Bezug genommen und zum Ausdruck gebracht, dass diese rechtlich nicht zu beanstanden sind.

Das Vorbringen des Klägers im Zulassungsverfahren ist auch nicht geeignet, die Feststellungen des Verwaltungsgerichts zur Vereinbarkeit der Ausweisungsentscheidung mit Art. 8 EMRK ernstlich in Zweifel zu ziehen. Auch wenn der Kläger nach fast 20 Jahren Aufenthalt in der Bundesrepublik nach einer beruflichen Rehabilitationsmaßnahme im Jahr 2009 eine Berufstätigkeit aufgenommen hat, ändert dies nichts an der Tatsache, dass er sich in den Jahren davor nicht sonderlich gut in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert hatte. Selbst wenn ihm zuletzt auch beruflich eine weitgehende Integration, die allerdings durch die zu verbüßende Strafhaft unterbrochen wurde, gelungen sein sollte, führt dies nicht dazu, dass dem Kläger wegen der Besonderheiten seines Falls ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, nicht mehr zuzumuten ist. Diese sog. Entwurzelung setzt voraus, dass er zu seinem Heimatstaat keinen Bezug mehr hat (SächsOVG, B. v. 17.6.2013 - 3 B 316/12 - juris Rn. 11 m. w. N.). Wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, liegt ein solcher Fall beim Kläger gerade nicht vor, da er die Hälfte seines Lebens in seinem Heimatland verbracht hat, die hebräische Sprache beherrscht und nach wie vor ein guter Kontakt zu seiner Familie besteht. Selbst wenn dem Kläger aufgrund seiner Behinderung (hochgradige Schwerhörigkeit) und des inzwischen über 20jährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik eine Reintegration in die Lebensverhältnisse seines Heimatlandes trotz seiner finanziellen Absicherung nicht leicht fallen dürfte, ist die Ausweisung im Hinblick auf die vom Erstgericht festgestellte erhebliche Wiederholungsgefahr und die durchgreifenden generalpräventiven Erwägungen bei einer Gesamtabwägung nicht unverhältnismäßig.

Bezüglich der Bindung zu seinen beiden Kindern (geb. 24. September 2005 und 15. September 2006), die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, hat das Verwaltungsgericht zu Recht darauf abgestellt, dass der Kläger seit der Inhaftierung keinen Kontakt zu seinen Kindern hat, die Ehefrau des Klägers die alleinige Inhaberin des Sorgerechts ist und er auch kein Umgangsrecht für seine Kinder besitzt. Auch aus der Tatsache, dass die Ehefrau des Klägers mit den Kindern derzeit in Israel lebt, und dadurch die Einholung des vom Familiengericht beschlossenen Sachverständigengutachtens zur Frage, inwiefern ein Umgang des Klägers mit seinen Kindern dem Kindeswohl entspräche, nicht realisiert werden kann, kann der Kläger mit Blick auf Art. 8 EMRK oder Art. 6 GG letztlich nichts zu seinen Gunsten herleiten. Zudem hat das Verwaltungsgericht zu Recht darauf hingewiesen, dass selbst dann, wenn dem Kläger ein Umgangsrecht mit seinen Kindern zuerkannt werden sollte und diese wieder in die Bundesrepublik zurückkehren würden, ihm zunächst die Herstellung eines Kontakts auf telefonischem und brieflichem Wege von Israel aus zuzumuten sei und eine persönliche Kontaktaufnahme durch Betretenserlaubnisse zu erreichen wäre.

Bezüglich der Dauer des Einreiseverbots genügt das Zulassungsvorbringen bereits nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO. Unzutreffend ist bereits der Ansatzpunkt des Klägers, wonach die Höchstdauer der Befristung fünf Jahre beträgt. Nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG darf die Dauer der Sperrwirkung der Ausweisung fünf Jahre überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Dies trifft auf den Kläger zu. Der Kläger legt mit seinem Zulassungsvorbringen insbesondere nicht dar, inwieweit eine nur dreijährige Dauer des Einreiseverbots gerechtfertigt wäre. Die Behauptung, eine Wiederholungsgefahr bestehe nicht, trifft aus den o. g. Gründen nicht zu.

Die vom Verwaltungsgericht im Urteil getroffene Kostenentscheidung rechtfertigt die Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nicht. Führt nicht bereits das Vorbringen des Klägers bezüglich der Richtigkeit des Urteils in Bezug auf die Ausweisungs- und Befristungsentscheidung zur Zulassung der Berufung, so scheidet die Zulassung der Berufung (allein) wegen der nach Auffassung des Klägers unrichtigen Kostenentscheidung bereits aufgrund von § 158 Abs. 1 VwGO aus. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zur Befristung der Wirkungen der Ausweisung erweist sich jedoch als zutreffend, nachdem die Beklagte die nach neuer Rechtslage wohl nicht mehr zulässigen Bedingungen für eine Befristung in der mündlichen Verhandlung aufgehoben hat.

Der Zulassungsgrund der besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) ist nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) bzw. liegt ebenfalls nicht vor. Besondere rechtliche Schwierigkeiten sind anzunehmen, wenn entscheidungserhebliche Rechtsfragen in qualitativer Hinsicht nur mit überdurchschnittlichen Schwierigkeiten beantwortet werden können (BayVGH, B. v. 17.4.2013 - 10 ZB 12.2364 - juris Rn. 17). Die vom Kläger aufgeworfene Frage der Kostenquotelung ist schon nicht entscheidungserheblich, weil die Klage von Verwaltungsgericht zu Recht abgewiesen wurde und somit eine Kostenquotelung ohnehin ausscheidet. Zudem ist nicht dargelegt, worin die besondere Schwierigkeit bei der Beantwortung dieser Frage besteht. Ebenso fehlt es an der hinreichenden Darlegung der besonderen tatsächlichen Schwierigkeiten. Sie muss verdeutlichen, weshalb der Sachverhalt besonders unübersichtlich oder/und schwierig zu ermitteln ist (Happ in Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 124a Rn. 71). Der Sachverhalt bezüglich des Aufenthaltsorts der Kinder ist geklärt. Die vom Kläger beantragte Einholung eines Sachverständigengutachtens genügt dafür jedenfalls nicht. Die vom Kläger geltend gemachte unrichtige Entscheidung des Erstgerichts bezüglich des Beweisantrags zur Einholung eines Sachverständigengutachtens könnte allenfalls das Vorliegen des Zulassungsgrunds des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO begründen.

Auch der geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) liegt nicht vor. Der Kläger bringt insoweit vor, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht den in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag abgelehnt und damit gegen § 86 Abs. 2 VwGO verstoßen und sei seiner Amtsermittlungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) nicht nachgekommen. Die Aufklärungsrüge nach § 86 Abs. 1 VwGO setzt eine Darlegung voraus, welche Tatsachen ermittlungsbedürftig gewesen wären, welche Beweismittel zur Verfügung gestanden hätten, weshalb sich die unterbliebene Beweiserhebung hätte aufdrängen müssen, welches Ergebnis die Beweisaufnahme erbracht hätte und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen könnte (Happ in Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 124a Rn. 74; BVerwG, B. v. 8.7.2009 - 4 BN 12.09 - juris Rn. 7). Diesen Anforderungen genügt die Aufklärungsrüge nicht. Das Verwaltungsgericht hat seine Auffassung, es bestehe die Gefahr, dass der Kläger wieder Straftaten begehen werde, darauf gestützt, dass die der Verurteilung zugrundeliegenden Straftaten über einen längeren Zeitraum hinweg begangen wurden. Ergänzend hat es zur Begründung der Wiederholungsgefahr auch die bereits verjährten Straftaten gegenüber der ersten Ehefrau des Klägers herangezogen. Auch hat es die Straftaten des Klägers nicht als Beziehungstaten gewertet, weil es sich nicht um Affekttaten handelte. Zudem stellt es darauf ab, dass der Kläger sich seine Straftaten selbst nicht erklären kann und deshalb eine Therapie beginnen möchte. Die Frage, ob eine Wiederholungsgefahr vorliegt, kann und muss das Gericht aufgrund der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls selbst beurteilen. Eines fachpsychologischen Gutachtens bedarf es nur, wenn die Gefahrenprognose aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht ohne spezielle Sachkunde erstellt werden kann, weil sich aus dem Prozessstoff Hinweise auf eine besondere Entwicklung in der Persönlichkeit des Täters ergeben, die nur mit entsprechender Fachkunde beurteilt werden können (BVerwG, B. v. 22.10.2008 - 1 B 5.08 - juris Rn. 5 und U. v.4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 12; VGH BW, U. v. 9.8.2011 - 11 S 245/11 - juris Rn. 31). So verhält es sich hier aber gerade nicht, weil das Verwaltungsgericht dem Kläger keine Persönlichkeitsstörung unterstellt, sondern zur Begründung der Wiederholungsgefahr allein die Anzahl der begangenen schweren Straftaten über einen längeren Zeitraum, den fehlenden Affektzustand und die Aussage in der mündlichen Verhandlung, er wolle wissen, warum er dies getan habe, ausreichen lässt. Seine Prognose sieht das Verwaltungsgericht auch durch die Tatsache, dass der Kläger gegenüber zwei anderen Frauen keine Gewalttaten begangen hat, nicht als widerlegt an. Ein fachpsychiatrisches Gutachten des Inhalts, dass der Kläger an keiner psychischen Erkrankung leide, die eine erneute Vergewaltigung oder sexuelle Übergriffe indiziere, wäre demnach für das Erstgericht nicht entscheidungserheblich gewesen, weil die Annahme der in der Person des Klägers bestehenden Wiederholungsgefahr nicht entscheidend darauf beruht, dass er an einer entsprechenden Erkrankung leidet. Die im Beweisantrag aufgestellte Behauptung, dass die Straftaten des Klägers aus der konkreten Beziehung zu seinen Ehefrauen erklärbar seien, dient nur der Erläuterung des Beweisantrags zum Nichtvorliegen einer psychischen Erkrankung und lässt sich durch ein sexualpsychologisches Gutachten nicht klären

Eine Verletzung von § 86 Abs. 2 VwGO liegt nicht vor, weil das Verwaltungsgericht den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag durch einen begründeten Beschluss abgelehnt hat. Soweit der Kläger vorbringt, der Beweisantrag sei zu Unrecht abgelehnt worden, trifft dies nicht zu. Das Erstgericht hat den Beweisantrag zutreffend als nicht entscheidungserheblich abgelehnt, weil es auf die im Beweisantrag gestellte Frage nach der Rechtsauffassung des Erstgerichts nicht ankam. Ist die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, den Beweisantrag abzulehnen, aber prozessual zutreffend, scheidet die vom Kläger geltend gemachte Verletzung des rechtlichen Gehörs aus.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 9. April 2013 rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 15. September 2011 wird der Bescheid der Beklagten vom 27. Dezember 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Stadtrechtsausschusses der Beklagten vom 6. April 2011 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Klägern eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz zu erteilen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung von Seiten der Kläger gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abzuwenden, sofern nicht diese zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Berufungsverfahren auf 5.000,00 € festgesetzt (§§ 47, 52 Abs. 2 GKG).

Tatbestand

1

Die Kläger begehren die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen.

2

Die Klägerin zu 1) wurde 1982 in Z. als jugoslawische Staatsangehörige geboren. Sie gehört zur Volksgruppe der Roma. Ihre derzeitige Staatsangehörigkeit ist nach dem Zerfall Jugoslawiens ungeklärt. Im August 1991 reiste sie zusammen mit ihren Eltern und ihren Geschwistern, die seit ihrer - der Klägerin zu 1) - Geburt bis zur Ausreise in Kroatien gelebt hatten, in das Bundesgebiet ein und stellten einen Asylantrag, der ohne Erfolg blieb. Das Asylverfahren ist seit dem 31. Mai 1997 rechtskräftig abgeschlossen. In der Folgezeit wurde sie zunächst - ebenso wie ihre Eltern und Geschwister - geduldet. Sowohl die kroatischen als auch die mazedonischen Behörden erklärten sich nicht zur Aufnahme der Klägerin zu 1) bereit, da sie keine kroatische bzw. mazedonische Staatsangehörige sei.

3

Der Kläger zu 2) ist ihr Sohn. Er wurde im Oktober 1999 in L. geboren und besucht dort die Realschule Plus.

4

Die Kläger bestritten ihren Lebensunterhalt zunächst allein mit Hilfe von Sozialleistungen. Im Jahr 2001 legte die Klägerin zu 1) der Beklagten einen Mietvertrag vor, in dem sie die Angaben zu den Nebenkosten gefälscht hatte, so dass sie niedriger erschienen, als sie tatsächlich waren, um eine Übernahme der Unterkunftskosten durch die Beklagte zu erreichen. Die daraufhin bewilligten Unterkunftskosten forderte die Beklagte, als ihr dies bekannt wurde, von ihr zurück. Strafrechtliche Folgen hatte dieses Verhalten nicht.

5

Die Klägerin zu 1) besitzt weder einen Schulabschluss noch eine Berufsausbildung. Ausweislich des Versicherungsverlaufs der Deutschen Rentenversicherung nahm sie im Januar 2005 eine geringfügige Beschäftigung, ab Juni 2005 eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit als Reinigungskraft bei verschiedenen Firmen auf. Hierbei erzielte sie zuletzt ein monatliches Einkommen von rund 1.300,00 € brutto. Im November 2007 verlor sie ihre Arbeitsstelle und bezog für rund sechs Monate Arbeitslosengeld I. In der Folgezeit war sie mehrmals für einige Monate als Reinigungskraft beschäftigt und im Übrigen arbeitslos. Sie erhielt teils ergänzend, teils ausschließlich Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

6

Im März 2006 beantragten die Kläger die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Nachdem die Beklagte ihnen zunächst das Erschleichen von Sozialleistungen entgegengehalten hatte, erklärte sie mit Schreiben vom 18. August 2006, sie werde dem Antrag entsprechen angesichts dessen, dass die Ausreiseverpflichtung nicht durchsetzbar sei und die Klägerin zu 1) sich mittlerweile sehr gut integriert habe und auch eine wirtschaftliche Integration vorliege. Am 4. September 2006 erteilte sie ihnen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG mit einer Gültigkeitsdauer von einem Jahr, die auf der Grundlage von § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG zunächst bis September 2009 und am 29. September 2009 letztmalig bis zum 28. September 2010 verlängert wurde.

7

Am 11. September 2009 erkannte der mazedonische Staatsangehörige M., der vollziehbar ausreisepflichtig ist und seinerzeit nach mehrmaligen vorangegangenen Abschiebungen und illegalen Wiedereinreisen unter Benutzung gefälschter Papiere inhaftiert war, an, der Vater des Klägers zu 2) zu sein. Nach seiner Entlassung aus der Haft heiratete er am … 2010 in L. die Klägerin zu 1).

8

Auf den Hinweis der Beklagten, dass die ihnen erteilte Aufenthaltserlaubnis abgelaufen sei, stellten die Kläger am 30. September 2010 einen Verlängerungsantrag. Mit Bescheid vom 27. Dezember 2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab und drohte ihnen die Abschiebung nach Mazedonien an. Das Verlassen des Bundesgebiets stelle für die Kläger keine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG dar. Die Klägerin zu 1) sei insbesondere in schulischer, beruflicher und wirtschaftlicher Hinsicht in Deutschland nur unzureichend verwurzelt. Obwohl sie im Alter von neun Jahren eingereist sei, sei ein Schulbesuch in Deutschland nicht nachweisbar. Eine Berufsausbildung habe sie nicht angetreten. Ihre Erwerbsbiografie weise erhebliche Lücken auf. Nach einer längeren Zeit durchgehender Beschäftigung von Februar 2005 bis November 2007 sei sie immer nur kurzfristig, allenfalls über wenige Monate hinweg beschäftigt gewesen und habe zwischenzeitlich öffentliche Leistungen in Anspruch nehmen müssen. Sie habe sich auch nicht hinreichend in die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland eingefügt, wie der von ihr begangene Sozialhilfebetrug zeige. Als sich die Klägerin zu 1) entschlossen habe, dem Vaterschaftsanerkenntnis durch ihren jetzigen Ehemann zuzustimmen und ihn zu heiraten, habe sie auch mit einer Ausreise nach Mazedonien rechnen müssen. Denn ihr Ehemann sei ein ausreisepflichtiger mazedonischer Staatsangehöriger, dem die Lebensverhältnisse seines Heimatstaates nicht fremd seien. Sprachschwierigkeiten, auf die sie in Mazedonien treffen könne, seien überwindbar. Gleiches gelte für den elfjährigen Kläger zu 2). Zwar sei er hier geboren und aufgewachsen und besuche eine weiterführende Schule. Sein Sozialisationsprozess sei aber noch im Gange. Sprachschwierigkeiten könne auch er bewältigen, zumal er sich in einem Alter befinde, in dem das Erlernen einer neuen Sprache erfahrungsgemäß noch leicht falle. Mit der Sprache der Roma sei er durch seine Eltern und Großeltern ohnehin vertraut.

9

Am … 2011 gebar die Klägerin zu 1) Zwillinge.

10

Nach erfolgloser Durchführung des Widerspruchsverfahrens (Widerspruchsbescheid vom 6. April 2011) haben die Kläger Klage erhoben, zu deren Begründung sie geltend machen, ihnen stehe ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 8 EMRK zu. Sowohl die als Kleinkind nach Deutschland eingereiste Klägerin zu 1) als auch der hier geborene Kläger zu 2) seien in den hiesigen Lebensverhältnissen verwurzelt. In Mazedonien, dem Herkunftsland des Ehemannes bzw. Vaters, lebten keine Verwandten, da die Familie aus Kroatien stamme. Die in Mazedonien verwendete kyrillische Schrift beherrschten sie nicht.

11

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 15. September 2011 die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG scheide schon deswegen aus, weil der Verlängerungsantrag erst am 30. September 2010 und damit nach dem Erlöschen der nur bis zum 28. September 2010 gültigen Aufenthaltserlaubnis gestellt worden sei. Die Voraussetzungen für eine Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG seien ebenfalls nicht erfüllt. Nach der Ausreise ihres Ehemannes nach Mazedonien könne die Klägerin zu 1) diesem als Ehefrau auch ohne Erwerb der mazedonischen Staatsangehörigkeit folgen. Eine Ausreise nach Mazedonien sei ihnen auch nicht unzumutbar. Zur Begründung könne auf die zutreffenden Ausführungen im Ausgangsbescheid der Beklagten zum Nichtvorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Sinne von § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG Bezug genommen werden.

12

Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung wiederholen die Kläger ihr erstinstanzliches Vorbringen und führen ergänzend aus, die Klägerin zu 1) habe seit November 2011 wieder eine Teilzeitbeschäftigung gefunden. Nachdem die Beklagte ihr mit Schreiben vom 18. August 2006 bescheinigt habe, in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland gut integriert zu sein, habe sie nicht damit rechnen müssen, dass die Beklagte sie wegen fehlender wirtschaftlicher Integration zur Ausreise nach Mazedonien auffordern würde, als sie im Jahr 2010 den Vater ihres Kindes geheiratet habe. Sie habe auch nie in Mazedonien gelebt und spreche die mazedonische Sprache nicht.

13

Die Kläger beantragen,

14

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 15. September 2011 den Bescheid der Beklagten vom 27. Dezember 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Stadtrechtsausschusses der Beklagten vom 6. April 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihnen eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu erteilen.

15

Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil und beantragt,

16

die Berufung zurückzuweisen.

17

Hinsichtlich des Vorbringens der Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung vom 15. März 2012 wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, die vorgelegten Behördenakten und die Gerichtsakten des Verfahrens 2 L 751/10.NW verwiesen, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

18

Die Berufung ist begründet.

19

Das Verwaltungsgericht hätte der Klage stattgeben müssen. Den Klägern steht ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 27. Dezember 2010 und der hierzu ergangene Widerspruchsbescheid vom 6. April 2011 sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten.

20

Nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Eine Ausreise ist aus rechtlichen Gründen unmöglich, wenn ihr rechtliche Hindernisse entgegenstehen, welche die Ausreise ausschließen oder als unzumutbar erscheinen lassen. Derartige rechtliche Hindernisse können sich unter anderem aus einem Abschiebungsverbot mit Blick auf Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK ergeben, bei dessen Bestehen in aller Regel auch eine freiwillige Ausreise nicht zuzumuten und damit rechtlich unmöglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2006 - 1 C 14/05 -, BVerwGE 126, 192 [197 f.]).

21

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG liegen hier vor.

22

Die Klägerin zu 1) ist vollziehbar ausreisepflichtig. Ihre Ausreisepflicht ist mit Ablauf der Geltungsdauer der ihr zuletzt erteilten Aufenthaltserlaubnis vom 29. September 2009 entstanden (vgl. §§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auch vollziehbar, da aufgrund des von ihr erst nach Ablauf der Geltungsdauer ihrer Aufenthaltserlaubnis gestellten Verlängerungsantrags die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG über den Fortbestand des bisherigen Aufenthaltstitels nicht greift (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Juni 2011 - 1 C 5/10 -, juris, Rn. 15 f. = BVerwGE 140, 64; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Januar 2012, § 58 AufenthG, Rn. 15).

23

Eine Ausreise der Klägerin zu 1) ist aus rechtlichen Gründen unmöglich, weil ihre Abschiebung nach Mazedonien mit Art. 8 EMRK nicht zu vereinbaren ist und ihr aus denselben Gründen auch eine freiwillige Ausreise nicht zugemutet werden kann.

24

Das nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst, auch soweit es keinen familiären Bezug hat, die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2010 - 1 C 18/09 -, juris, Rn. 14 m. w. N.). Ein Privatleben im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK, das den Schutzbereich der Vorschrift eröffnet, kommt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich nur auf der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und eines schutzwürdigen Vertrauens auf den Fortbestand des Aufenthalts in Betracht (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2010, a. a. O., m. w. N.; offen gelassen im Beschluss des Senats vom 18. August 2011 - 7 B 10795/11.OVG -, veröffentlicht in ESOVGRP).

25

Hiervon ausgehend greift die Beendigung des Aufenthalts in die Rechte der Klägerin zu 1) aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ein. Nachdem ihr Aufenthalt zunächst lediglich asylverfahrensrechtlich gestattet und anschließend geduldet worden war, wurde ihr am 4. September 2006 eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt, die auf der Grundlage des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG letztmals bis zum 28. September 2010 verlängert wurde. Sie war mithin vor Stellung ihres Aufenthaltserlaubnisantrags vom 30. September 2010 vier Jahre im Besitz eines Aufenthaltstitels. Das ihr eingeräumte Aufenthaltsrecht begründete auch ein berechtigtes Vertrauen auf Fortbestand, nachdem die Beklagte ihr mit Schreiben vom 18. August 2006 mitgeteilt hatte, sie sei mittlerweile sehr gut integriert.

26

Der Eingriff in ihre Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ist nicht nach Abs. 2 der Bestimmung gerechtfertigt. Denn eine Aufenthaltsbeendigung der Klägerin zu 1) ist unverhältnismäßig und daher nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK.

27

Bei der hierbei anzustellenden Verhältnismäßigkeitsprüfung ist zum einen zu berücksichtigen, inwieweit der Ausländer in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Gesichtspunkte sind hierbei insbesondere das Alter des Ausländers, die Dauer und der Grund seines Aufenthalts in Deutschland sowie dessen rechtlicher Status, der Stand seiner Kenntnisse der deutschen Sprache in Wort und Schrift, seine berufliche Tätigkeit und seine wirtschaftliche Integration bzw. bei einem Kind, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen seine Integration in eine Schul-, Hochschul- oder Berufsausbildung, seine Wohnverhältnisse, seine sozialen Kontakte sowie die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote. Zum anderen ist zu berücksichtigen, welche Schwierigkeiten für den Ausländer mit einer (Re-)Integration in das Land seiner Herkunft bzw. Staatsangehörigkeit verbunden sind. Gesichtspunkte sind diesbezüglich vor allem, inwieweit Kenntnisse der dort gesprochenen und geschriebenen Sprache bestehen bzw. erworben werden können, inwieweit der Ausländer mit den dortigen Verhältnissen vertraut ist und inwieweit er dort bei der (Wieder-)Eingliederung auf Hilfestellung durch Verwandte und sonstige Dritte rechnen kann, soweit diese erforderlich sein sollte. Schließlich ist zu berücksichtigen, welches Gewicht dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zukommt (vgl. Beschluss des Senats vom 18. August 2011, a. a. O., m. w. N.).

28

Bei der Klägerin zu 1) ist hinsichtlich ihrer Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse folgendes festzustellen: Die heute 30jährige Klägerin zu 1) hält sich seit August 1991 und damit seit über 20 Jahren im Bundesgebiet auf. Sie war bei ihrer Einreise neun Jahre alt und hat daher einen Teil ihrer Kindheit und ihre gesamte Jugend in Deutschland verbracht. Ihr Aufenthalt war zunächst bis Mai 1997 asylverfahrensrechtlich gestattet. In der Folgezeit wurde sie bis September 2006 geduldet, weil nach dem Zerfall Jugoslawiens sowohl Kroatien als auch Mazedonien sie nicht als ihre Staatsangehörige betrachteten und ihre Aufnahme ablehnten. Anschließend erhielt sie bis September 2010 eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Sie spricht fließend deutsch. Ihre Eltern leben geduldet in L., ebenso wohnt ihr Bruder dort. Strafrechtlich ist sie bislang nicht in Erscheinung getreten. Der im Jahr 2001 von ihr begangene Rechtsverstoß durch Vorlage eines bezüglich der Nebenkosten gefälschten Mietvertrages, um die Übernahme der Unterkunftskosten aus öffentlichen Mitteln zu erreichen, ist ohne strafrechtliche Folgen geblieben. Er liegt zudem lange zurück und hat auch die Beklagte nicht davon abgehalten, ihr mit Schreiben vom 18. August 2006 eine sehr gute Integration zu bescheinigen und im September 2006 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen. Demnach sprechen gewichtige Umstände für eine weitgehende Verwurzelung der Klägerin zu 1) in Deutschland.

29

Gegen eine vollständig gelungene Integration spricht allerdings das Fehlen eines Schulabschlusses und einer Berufsausbildung. Angesichts der fehlenden schulischen und beruflichen Bildung und ihrer bisherigen Erwerbsbiografie, in der sie seit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes als Reinigungskraft im November 2007 überwiegend auf Sozialleistungen nach dem SGB II ergänzend oder sogar ausschließlich angewiesen war, ist zu erwarten, dass sie auch künftig zumindest ergänzend Sozialleistungen wird in Anspruch nehmen müssen. Dies gilt umso mehr, als nach der Geburt ihrer Zwillinge im Februar 2011 ihre Familie und damit auch der Unterhaltsbedarf gewachsen ist.

30

Gleichwohl ist zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Umstand, dass ein im Bundesgebiet aufgewachsener Ausländer weder über einen Schulabschluss noch über eine Berufsausbildung verfügt und seinen Lebensunterhalt bislang nahezu ausschließlich aus öffentlichen Sozialleistungen bestritt, für sich allein nicht schon ausreicht, um ungeachtet aller Besonderheiten des Falles eine Verwurzelung zu verneinen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 2010 - 1 B 25/09 -, juris, Rn. 4; vgl. auch Urteil des Senats vom 3. November 2011 - 7 A 10842/11.OVG -, veröffentlicht in ESOVGRP). Zugunsten der Klägerin zu 1) ist in diesem Zusammenhang zudem zu berücksichtigen, dass sie sich trotz fehlender Schul- und Berufsbildung nach dem Verlust ihrer früheren Arbeitsstelle im November 2007 immer wieder um eine Erwerbstätigkeit als Reinigungskraft bemüht hat und diese Bemühungen auch nicht völlig ohne Erfolg geblieben sind, sondern mehrfach zu einer Beschäftigung für mehrere Monate geführt haben. Seit November 2011 hat sie einen bis April 2012 befristeten Arbeitsvertrag, mit dessen Verlängerung bei höherem Beschäftigungsumfang im Fall der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu rechnen ist.

31

Ferner sind die Schwierigkeiten, die sie bei einem Leben in Mazedonien zu bewältigen hätte, erheblich. Die Klägerin zu 1) besitzt nicht die mazedonische Staatsangehörigkeit und hat vor ihrer Einreise nach Deutschland nie in Mazedonien gelebt, sondern in Kroatien, wo sie geboren wurde. Vor allem beherrscht sie weder die offizielle Landessprache Mazedonisch noch die von einer starken Minderheit verwendete Sprache Albanisch auch nur in Grundzügen. Sie spricht neben Deutsch Serbokroatisch und die Sprache der Roma. Von ihrem mazedonischen Ehemann hat sie lediglich einige Worte Mazedonisch gelernt. Zwar sind Serbokroatisch und Mazedonisch verwandte slawische Sprachen, so dass die Ähnlichkeit des Mazedonischen mit dem ihr geläufigen Serbokroatischen das Erlernen der mazedonischen Sprache erleichtern dürfte. Auch könnte ihr ausreisepflichtiger mazedonischer Ehemann sie dabei unterstützen. Es handelt sich aber gleichwohl um eine für sie neue und erst noch zu erlernende Sprache. Mit einer Hilfestellung durch nähere Verwandte - neben ihrem Ehemann - kann sie nicht rechnen, da diese in Deutschland (Eltern und Bruder) bzw. Kroatien (Schwester) leben. Außerdem ist ihr die für die mazedonische Sprache verwendete kyrillische Schrift fremd.

32

Das öffentliche Interesse an einer Beendigung des Aufenthalts der Klägerin zu 1) besteht - neben dem generellen öffentlichen Interesse an der Erfüllung einer bestehenden Ausreisepflicht - darin, die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel durch sie zu verhindern, da sie, wie oben ausgeführt, voraussichtlich auch künftig zumindest ergänzend Sozialleistungen benötigen wird, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Dieses Interesse ist grundsätzlich von erheblichem Gewicht, wie auch der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 2 Abs. 3 AufenthG - Sicherung des Lebensunterhalts ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel - zu entnehmen ist.

33

Gleichwohl erweist sich eine Aufenthaltsbeendigung der Klägerin zu 1) angesichts der dargelegten weitgehenden Verwurzelung in Deutschland und der erheblichen Schwierigkeiten, die von ihr in Mazedonien zu bewältigen wären, als unverhältnismäßiger Eingriff in ihr durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht auf Achtung des Privatlebens, so dass ihr auch eine freiwillige Ausreise unzumutbar ist. Mit dem Wegfall dieses Ausreisehindernisses ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen (vgl. § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG). Die Klägerin zu 1) ist auch unverschuldet an der Ausreise gehindert (vgl. § 25 Abs. 5 Sätze 3 und 4 AufenthG).

34

Aus dem Vorstehenden folgt zugleich, dass auch die allgemeine Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, wonach in der Regel der Lebensunterhalt gesichert sein muss, der Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis nicht entgegensteht. Denn hier liegt eine Ausnahme vom Regelfall vor. Ein solcher Ausnahmefall ist unter anderem dann anzunehmen, wenn die Versagung des Aufenthaltstitels mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen - insbesondere Art. 6 GG - nicht vereinbar ist (vgl. Hailbronner, a. a. O., § 5 AufenthG, Rn. 5 f. m. w. N.). Gleiches gilt im vorliegenden Fall, in dem eine Aufenthaltsbeendigung ebenso wie die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis trotz der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel mit den durch Art. 8 EMRK geschützten Rechten der Klägerin zu 1) unvereinbar wäre (vgl. Urteil des Senats vom 3. November 2011 - 7 A 10842/11.OVG -).

35

Sind demnach die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis erfüllt, so steht deren Erteilung nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG ("kann") zwar im Ermessen der Ausländerbehörde der Beklagten. Nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG soll die Aufenthaltserlaubnis jedoch erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist. Dies war bei der Klägerin zu 1) vor der erstmaligen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im September 2006 der Fall. Gründe, die ein Absehen von der Soll-Regelung rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich.

36

Steht nach alledem der Klägerin zu 1) ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu, so gilt Gleiches im Ergebnis für den Kläger zu 2). Denn eine Abschiebung des 1999 in Deutschland geborenen und hier mit seiner Mutter aufgewachsenen, derzeit 12jährigen Klägers zu 2) ohne seine Mutter nach Mazedonien wäre mit dem durch Art. 6 GG gewährleisteten Schutz der Familie nicht zu vereinbaren, so dass ihm auch eine freiwillige Ausreise nicht zugemutet werden kann. Sie ist daher aus rechtlichen Gründen unmöglich im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG. Im Übrigen gilt bezüglich der Voraussetzung der §§ 25 Abs. 5, 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG das zur Klägerin zu 1) Ausgeführte für ihn entsprechend.

37

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

38

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

39

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 10. Juni 2009 – 8 K 73/09 – geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheids vom 30. September 2008 und des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 5. Dezember 2008 verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der 1970 geborene Kläger ist serbischer Staatsangehöriger. Er reiste erstmals im Jahre 1992 längerfristig zu seiner seit 1971 in Stuttgart lebenden Mutter in die Bundesrepublik Deutschland ein und hielt sich hier bis zum Jahre 1996 geduldet auf. Am 13. März 1994 wurde sein aus einer nicht-ehelichen Beziehung hervorgegangener Sohn Aleksander geboren, der in der Folgezeit bei der Mutter in xxx lebte. Am 3. November 1995 heiratete er in Stuttgart die slowenische Staatsangehörige M. xxx. Während dieses Aufenthalts wurde der Kläger, wie folgt, strafgerichtlich verurteilt:
- Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 28. Februar 1991 wegen Beihilfe zum Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30,00 DM.
- Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 21. Juli 1993 wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 30,00 DM.
- Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 4. April 1995 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Der Kläger verließ am 22. Dezember 1996 das Bundesgebiet.
Im Januar 1999 reiste er mit einem von der französischen Botschaft in Belgrad für einen Besuchsaufenthalt ausgestellten Schengenvisum erneut in das Bundesgebiet ein und beantragte zunächst am 15. März 1999 die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwecke des Ehegattennachzugs zu seiner Ehefrau. Der Antrag wurde durch Verfügung der Beklagten vom 4. Januar 2000 abgelehnt, nachdem die eheliche Lebensgemeinschaft jedenfalls im September 1999 aufgelöst worden war. Am 16. Oktober 2000 stellte der Kläger einen Asylantrag. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 17. September 2001 ab und stellte gleichzeitig fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht vorliegen und auch keine Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG bestehen. Der Kläger wurde unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aus dem Bundesgebiet aufgefordert.
Der Kläger lebt seit dem Jahre 2001 in Stuttgart in nicht-ehelicher (häuslicher) Lebensgemeinschaft mit der bosnischen Staatsangehörigen xxx xxx. Aus dieser Beziehung sind eine am 25. März 1999 geborene Tochter und ein am 13.Oktober 2001 geborener Sohn hervorgegangen, die die bosnische Staatsangehörigkeit besitzen. Für beide Kinder hat der Kläger die Vaterschaft anerkannt. Nach den Sorgerechtserklärungen der Eltern vom 8. Juli 2005 üben sie das Sorgerecht für beide Kinder gemeinsam aus. Für Frau xxx wurde aufgrund einer rechtskräftigen Verpflichtung durch das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 25. Juli 2003 (A 16 K 10520/02) vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Rücksicht auf ihre Erkrankung an einer posttraumatischen Belastungsstörung das Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 AuslG festgestellt. Frau xxx und die Kinder sind im Besitz von Aufenthaltstiteln nach § 25 Abs. 5 AufenthG.
Der Kläger beantragte am 9. Juli 2008, wie bereits schon am 25. Juni 2002, 25. Januar 2005 und 18. April 2007, die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen, insbesondere nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Zur Begründung verwies er u. a. auf seine nichteheliche Lebensgemeinschaft mit xxx- xxx und ihren zwei gemeinsamen Kindern.
Nach seiner Wiedereinreise im Jahre 1999 wurde der Kläger, wie folgt, strafgerichtlich verurteilt:
10 
- Urteil des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 5. März 2002 wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 5,00 EUR.
11 
- Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 16. September 2002 wegen veruntreuender Unterschlagung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 5,00 EUR, wobei mit Entscheidung vom 20. Januar 2003 nachträglich unter Einbeziehung der früheren Entscheidungen vom 16. September 2002 und 5. März 2002 eine Gesamtstrafe von 40 Tagessätzen zu je 5,00 EUR gebildet wurde.
12 
- Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart - Bad Cannstatt vom 19. August 2004 wegen unerlaubter Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 20,00 EUR.
13 
- Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart - Bad Cannstatt vom 18. Januar 2008 wegen Betrugs zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 20,00 EUR.
14 
Mit Verfügung vom 30. September 2008 - zugestellt am 6. Oktober 2008 - lehnte die Beklagte sämtliche vom Kläger gestellten Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab und führte zur Begründung aus: Die bisherigen strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers stellten einen Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG dar. Damit erfülle der Kläger die Voraussetzungen der bundesgesetzlichen Altfallregelung des § 104a AufenthG nicht. Gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG könne einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig sei, jedoch abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn dessen Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich und mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen sei. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis scheitere am Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG, insbesondere weil Ausweisungsgründe nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorlägen. Der Kläger habe in regelmäßigen Abständen Rechtsvorschriften missachtet und sei zu Geld- und Freiheitsstrafen verurteilt worden. Die Ausländerbehörde dürfe beim Vorliegen von Ausweisungsgründen, wie im Falle des Klägers, keine Aufenthaltserlaubnis erteilen. Ein atypischer Geschehensablauf sei vorliegend nicht gegeben, so dass ein Abweichen von der Regel nicht in Betracht komme. Allerdings ermögliche es § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von der Anwendung des § 5 Abs. 1 AufenthG abzusehen. lm Rahmen des der Behörde eröffneten Ermessens dürfe sich diese davon leiten lassen, dass der Erteilung eines Aufenthaltstitels keine Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung entgegenstehen dürfen. Ob dies der Fall sei, berücksichtige sie nach der Art und Schwere der Verstöße, nach der vom Ausländer ausgehenden Gefahr und der Nachhaltigkeit, mit der er Rechtsverstöße begehe, unter Beachtung der Dauer seines Aufenthalts. Der Kläger habe seit seiner Einreise in regelmäßigen Abständen gegen Rechtsnormen verstoßen. Neben mehreren Verkehrsdelikten lägen Delikte der gefährlichen Körperverletzung, der veruntreuenden Unterschlagung, der unerlaubten Erwerbstätigkeit und des Betrugs vor. Dabei sei besonders markant, dass das Betrugsdelikt erst vor kurzem begangen worden sei. Dieses erst kürzlich begangene Delikt lasse befürchten, dass sich der Kläger auch künftig nicht straffrei führen werde. Die regelmäßig begangenen Verstöße überstiegen auch die Grenze, die im Rahmen einer Aufenthaltsverfestigung außer Betracht bleiben könnten. Aus den vorgenannten Gründen könne beim Kläger auch kein Absehen von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 3 AufenthG in Betracht kommen. Damit scheitere die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG bereits an § 5 Abs. 1 und 3 AufenthG, unabhängig davon, dass die Voraussetzungen eines rechtlichen Ausreisehindernisses nach Art. 6 GG aufgrund der familiären Verbundenheit mit den leiblichen Kindern und der Lebensgefährtin vorlägen. Sonstige Gründe, die diese Entscheidung als unverhältnismäßig oder als Härte erscheinen ließen, seien nicht bekannt bzw. vorgetragen worden.
15 
Der Kläger erhob am 7. Oktober 2008 Widerspruch, der vom Regierungspräsidium Stuttgart mit am 8. Dezember 2008 zugestelltem Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2008 zurückgewiesen wurde. ln seiner Begründung führte das Regierungspräsidium Stuttgart ergänzend aus: Im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG könnten Ausweisungstatbestände außer Betracht bleiben, die auch eine Aufenthaltsverfestigung nicht verhinderten (§ 9 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG). Eine positive Ermessensentscheidung komme dann nicht in Betracht, wenn Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung unter Berücksichtigung der Schwere oder Art des Verstoßes gegen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder der vom Ausländer ausgehenden Gefahr unter Berücksichtigung der Dauer des bisherigen Aufenthalts und dem Bestehen von Bindungen im Bundesgebiet entgegenstehe. Dies sei im Regelfall anzunehmen, wenn der Ausländer in den letzten drei Jahren nicht wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Jugendstrafe, einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten und einer Geldstrafe von mindestens 90 Tagessätzen verurteilt worden sei. Das würde im Falle des Klägers zutreffen, da er in der Zeit zwischen 2005 bis 2008 lediglich wegen eines Betrugsdelikts zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt worden sei. Beim Kläger bestehe jedoch die Gefahr weiterer zukünftiger Rechtsverletzungen, weshalb bei ihm nicht vom Regelfall ausgegangen werden könne. Seit dem Jahr 1991 verstoße er kontinuierlich gegen Rechtsvorschriften. Eine zukünftige erneute Straffälligkeit könne aufgrund dieses Schemas nicht ausgeschlossen werden. Dabei seien die Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsmaßstab vom Gewicht des bedrohten Rechtsguts einerseits und den schützenswerten Belangen des Ausländers andererseits abhängig. Die Nachhaltigkeit, mit der sich der Kläger in verschiedenen Bereichen über Rechtsgüter hinwegsetze, lasse aber in der Abwägung derzeit eine abschließende positive Prognose nicht zu. Die Gefahr künftiger Rechtsverletzungen sei nicht ausgeschlossen, wie auch das neue Strafverfahren aus dem Jahr 2008 zeige. Deshalb sei im Falle des Klägers unter Berücksichtigung der schutzwürdigen privaten Belange wegen der von ihm ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung eine Ausnahme nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht möglich.
16 
Der Kläger erhob am 8. Januar 2009 Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart und trug zur Begründung vor: Der strafgerichtlichen Verurteilung von 2003 habe zugrunde gelegen, dass er sich geweigert habe, eine defekte Videokassette, die die Familie ausgeliehen und die das Kind Marina in seinem Spieltrieb zerstört gehabt habe und für die mehrere hundert Mark verlangt worden seien, zu bezahlen. Die weitere Tat habe einen fahrlässigen Verstoß wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis betroffen. Mit der Verurteilung im Jahre 2004 sei das ausländerrechtliche Verbot, ohne Erlaubnis eine Geschäftsführertätigkeit auszuüben, geahndet worden. Die Verurteilung im Jahre 2008 habe sich auf eine von ihm nicht vollständig bezahlte Rechnung bezogen. Hintergrund seien dauerhafte Ehestreitigkeiten der Inhaberin der Gaststätte mit deren Ehemann, der ein Bekannter von ihm sei, gewesen. Ihm sei eine überhöhte Rechnung in Höhe von 170 EUR vorgelegt worden, während der tatsächliche Wert nur 100 EUR betragen habe; diesen Betrag habe er auch bezahlt. Er sei kein klassischer Straftäter und schon gar nicht einer der Ausweisung unterliegender „Wiederholungstäter" mit andauernder Missachtung der Rechtsordnung.
17 
Die Beklagte trat der Klage aus den Gründen der angefochtenen Verfügungen entgegen.
18 
Durch Urteil vom 10. Juni 2009 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 AufenthG.
19 
Die Ablehnung der Beklagten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen, sei rechtlich nicht zu beanstanden. Aufgrund der vom Kläger seit seiner Einreise begangenen, aus dem Bundeszentralregister noch nicht getilgten und daher verwertbaren Straftaten erfülle dieser die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht. Durch die vom Kläger begangenen zahlreichen Straftaten liege bei ihm zweifellos ein Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG vor. Die Beklagte habe im angefochtenen Bescheid die nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG notwendige Ermessensentscheidung getroffen und geprüft, ob hier die Erteilung eines Aufenthaltstitels ausnahmsweise in Betracht komme, da keine Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung entgegenstünden. Unter Berücksichtigung der Art und Schwere der vom Kläger seit seiner Einreise in regelmäßigen Abständen begangenen Rechtsverstöße (Verkehrsdelikte, gefährliche Körperverletzung, veruntreuende Unterschlagung, unerlaubte Erwerbstätigkeit, Betrug) komme die Beklagte zum Ergebnis, es sei zu befürchten, dass sich der Kläger auch künftig nicht straffrei führen werde. Der Kläger habe kontinuierlich in den letzten 15 Jahren gegen die Rechtsordnung verstoßen, weshalb die Beklagte auch unter Berücksichtigung der schutzwürdigen privaten Belange wegen der von ihm immer noch ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung eine Ausnahme nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ablehne. Diese Sicht sei jedenfalls zum Zeitpunkt der heutigen mündlichen Verhandlung noch vertretbar. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Altfallregelung des § 104 a Abs. 1 AufenthG. Nach § 104 a Abs. 1 Nr. 6 sei hierfür weitere Voraussetzung, dass der Ausländer nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt worden sei, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylverfahrensgesetz nur von Ausländern begangen werden könnten, grundsätzlich außer Betracht blieben. Mehrere Geldstrafen seien jeweils zu addieren. Die beim Kläger zu berücksichtigenden, nicht getilgten Vorstrafen überstiegen in ihrer Summe von über 100 Tagessätzen bei weitem die in § 104 a Abs. 1 Nr. 6 AufenthG festgelegte Schranke von 50 Tagessätzen.
20 
Das Urteil wurde dem Kläger am 23. Juni 2009 zugestellt.
21 
Am 22. Juli 2009 hat der Kläger die Zulassung der Berufung beantragt und am 24. August (einem Montag) die Begründung vorgelegt.
22 
Mit Beschluss vom 7. September 2009 – dem Kläger am 14. September zugestellt - hat der Senat im Hinblick auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Berufung zugelassen.
23 
Am 9. Oktober 2009 hat der Kläger unter Stellung eines Sachantrags die Berufung begründet: Er ist der Auffassung, dass im Hinblick auf seine familiären Beziehungen zu seinen leiblichen Kindern ein Ausnahmefall gegeben sei, der es rechtfertige von der Nichterfüllung der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen, auch sei das im Rahmen des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG der Beklagten eingeräumte Ermessen zu seinen Gunsten auszuüben; jedenfalls aber seien seine familiären grundrechtlich geschützten Belange nicht hinreichend gewürdigt worden, weshalb die Entscheidung ermessensfehlerhaft sei.
24 
Der Kläger beantragt,
25 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 10. Juni 2009 - 8 K 73/09 - zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 30. September 2008 und des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 5. Dezember 2008 zu verpflichten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen; hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, über seinen Antrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
26 
Die Beklagte beantragt,
27 
die Berufung zurückzuweisen.
28 
Sie führt ergänzend aus: Der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG stehe entgegen, dass die Vorschriften des 6. Abschnitts den Familiennachzug abschließend regelten. Insbesondere werde gerade durch § 29 Abs. 3 Satz 2 AufenthG in der hier vorliegenden Fallkonstellation ein Familiennachzug ausgeschlossen. Im Übrigen sei der Lebensunterhalt der Familie nicht vollständig gesichert.
29 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze vom 9. Oktober, 2., 12., 13. und 17. November 2009 verwiesen.
30 
Dem Senat lagen die von der Beklagten geführte Ausländerakte des Klägers (Bl. 1 – 285) und von Frau xxx (Bl. 1 - 221), die Gerichtsakte des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Bl. 1 – 97b) sowie die Strafakten des Amtsgerichts Stuttgart Bad-Cannstatt (Az. B 2 Cs 85 Js 422/08 3258, B 4 Cs 134 Js 63466/03 3258 und B 1 Cs 23 Js 60690/02 3256) vor.

Entscheidungsgründe

 
31 
Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.
32 
Der Kläger hat einen Regelanspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Ihm ist es aus Rechtsgründen seit mehr als 18 Monaten unverschuldet unmöglich, auszureisen (vgl. § 25 Abs. 5 S. 2 und 3 AufenthG).
33 
Art. 6 Abs. 1 und 2 GG bzw. Art. 8 EMRK begründen im Falle des Klägers mit Rücksicht auf die seit Jahren gelebte familiäre Gemeinschaft mit seinen Kindern und seiner Lebensgefährtin nicht nur ein rechtlich begründetes Abschiebungsverbot, sondern auch eine atypische Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.
34 
Das Erstere wird auch von der Beklagten nicht infrage gestellt, wie sich nicht zuletzt aus der Tatsache ablesen lässt, dass sie seit dem Jahre 2002 dem Kläger ununterbrochen Duldungen erteilt hat.
35 
Nach Aktenlage und nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung geht der Senat davon aus, dass der Kläger eine familiäre Lebensgemeinschaft mit seinen Kindern und seiner Lebensgefährtin, Frau xxx, weder in deren Herkunftsland Bosnien-Herzegowina noch in seinem Herkunftsland Serbien auf absehbare Zeit herstellen kann. Eine Herstellung in Bosnien und Herzegowina ist schon deshalb rechtlich nicht möglich, weil Frau xxx insoweit aufgrund der rechtskräftigen Feststellung des Bundesamts Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG bzw. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG genießt und aus diesem Grund zusammen mit den Kindern im Besitz eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist und im Übrigen mittlerweile auch einen Anspruch auf Erteilung eines Titels nach § 25 Abs. 3 AufenthG haben wird. Eine Herstellung der Lebensgemeinschaft in Serbien scheitert gegenwärtig daran, dass Frau xxx und die Kinder nach Überzeugung des Senats nur die Staatsangehörigkeit von Bosnien-Herzegowina besitzen. Es gibt keinen ausreichenden Anhalt, dass sie die serbische Staatsangehörigkeit haben könnten. Die Eltern von Frau xxx wurden beide in Bosnien geboren und haben beide dort noch bis nach der Geburt von Frau xxx gelebt. Ihre Mutter ist erst später im Zuge der Trennung der Eltern nach Slowenien gegangen (vgl. Niederschrift des Bundesamts vom 2. November 2000, S. 3). Es muss daher davon ausgegangen werden, dass Frau xxx durch Geburt die Staatsangehörigkeit der früheren Teilrepublik Bosnien erworben hat, die später in die Staatsangehörigkeit des neuen Staates Bosnien und Herzegowina überging (vgl. Auswärtiges Amt Lagebericht Bosnien und Herzegowina v. 4. Mai 2000). Davon geht auch das Verwaltungsgericht Stuttgart im Urteil v. 25. Juli 2003 (A 16 K 10520/02) aus. Zwar kommt auch in Betracht, dass Frau xxx durch ihre Geburt in Serbien die serbische Staatsangehörigkeit erworben haben könnte, die darauf beruht, dass ihre Mutter sich zur Geburt in das Krankenhaus der grenznahen Stadt L. begab. Allerdings konnte man von Rechts wegen nur die Staatsangehörigkeit einer Teilrepublik haben, weshalb die Eltern eine Bestimmung treffen mussten, welche Staatsangehörigkeit das Kind haben sollte (vgl. zu alledem auch Osteuropa-Institut v. 6. Februar 1995). Wenn in diesem Zusammenhang eine Staatsangehörigkeitsbescheinigung über den Besitz der Staatsangehörigkeit von Bosnien und Herzegowina vom 26. Juli 1999 vorliegt und Frau xxx zwei Mal ein Pass von Bosnien und Herzegowina ausgestellt wurde (vgl. vgl. Niederschrift des Bundesamts vom 2. November 2000, S. 2), kann nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden, dass die Option zugunsten Serbien ausgeübt worden war, wenn man den ständigen Aufenthalt der Eltern in Bosnien, aber auch den eigenen von Frau xxx in Rechnung stellt, die, wie sie in der mündlichen Verhandlung erläutert hat, in Bosnien gelebt hat, dort zur Schule gegangen ist und ihre Ausbildung zur Krankenschwester gemacht hat, bis sie den Kläger kennen gelernt hat. Die von ihr im Rahmen der Anhörung durch das Bundesamt am 2. November 2000 gemachten Angaben sind, wie sich aus deren Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung ergab, wohl in der Weise zu verstehen, dass sie sich nur deshalb bei der Passbeschaffung der Hilfe anderer bedient hatte, weil sie, die damals ohne einen Pass in Serbien lebte, keine Möglichkeiten sah, sich einen Pass in Bosnien und Herzegowina ausstellen zu lassen. Dass Frau xxx nicht die serbische Staatsangehörigkeit besitzt, hat offenbar bislang auch die Beklagte so gesehen, nachdem es in den letzten etwa zehn Jahren keinen einzigen Versuch ihrerseits gegeben hat, den Aufenthalt nach Serbien zu beenden. Es kann daher offen bleiben, ob Frau xxx eine Ausreise nach Serbien zuzumuten wäre. Denn immerhin dürfte sie dort ihre schwere Traumatisierung, die heute noch ständig zu behandeln ist, erlitten haben. Mit Rücksicht auf die Bindungswirkung des § 42 AsylVfG wäre der Senat allerdings ohnehin an einer diesbezüglichen Feststellung gehindert.
36 
Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ausnahmsweise deshalb nicht entgegen, weil ein atypischer Ausnahmefall vorliegt.
37 
Es bedarf keiner Erörterung, dass der Kläger mit Rücksicht auf die vielfältigen bislang nicht getilgten Straftaten in seiner Person den Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erfüllt, weshalb dem Grundsatz nach an sich die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht gegeben ist. Auch wenn der Kläger seit Begehung der letzten Straftat im Oktober 2007 nicht erneut verurteilt wurde, so trifft es sicherlich zu, dass angesichts seiner bisherigen strafgerichtlichen Verurteilungen keine hinreichend gesicherte Grundlage für die Annahme besteht, er werde in Zukunft nicht wieder straffällig werden. Abgesehen von der nunmehr über 14 Jahre zurück liegenden Verurteilung im Jahre 1995 wegen gefährlicher Körperverletzung, die einen - allerdings auf beiderseitige verbale Provokationen zurückzuführenden - gewalttätigen Angriff des Klägers betraf, bei dem dieser dem Opfer in den Unterleib trat, sodass diesem ein Hoden entfernt werden musste, und den Kiefer brach, handelte es sich aber durchgängig um nicht einmal mittel-schwere Delikte, die sämtlich nicht in ein Führungszeugnis einzutragen sind. Die höchste Einzelstrafe betrug, im Übrigen nur wegen eines im Jahre 1993 fahrlässig begangenen Delikts, 50 Tagessätze und nach der Wiedereinreise sogar nur noch 30 Tagessätze. Es besteht hiernach kein Anhaltspunkt, der Kläger könne wieder in einem Maße straffällig werden, wie dies im Jahre 1995 der Fall war, zumal er wegen eines einzigen Gewaltdelikts auffällig wurde, als er noch erheblich jünger und noch nicht in eine intensive familiäre Beziehung eingebunden war.
38 
Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK können im Einzelfall nach Abwägung mit allen Aspekten des den Ausweisungsgrund begründenden Sachverhalts einen atypischen Ausnahmefall begründen. Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst namentlich die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben (BVerfG, Beschluss v. 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. - BVerfGE 76, 1 <42>). Art. 6 Abs. 1 GG begründet grundsätzlich aber noch keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, Beschluss v. 12. Mai 1987 – a.a.O.; Beschluss v. 11. Mai 2007 - 2 BvR 2483/06 - InfAuslR 2007, 336 <337>). Für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ist die Frage, ob es den anderen Familienangehörigen zumutbar ist, den Kläger in sein Herkunftsland zu begleiten, von erheblicher Bedeutung. Denn wenn die familiäre Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist - etwa weil ihm dort flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung oder sonstige schwerwiegende Beeinträchtigungen von Leib, Leben oder Freiheit drohen -, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (vgl. BVerfG, Beschluss v. 18. April 1989 - 2 BvR 1169/84 - BVerfGE 80, 81 <95>). Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG liegt dagegen fern, wenn die Lebensgemeinschaft zumutbar auch im gemeinsamen Herkunftsland geführt werden kann (vgl. BVerwG, Urteil v. 26. August 2008 - 1 C 32.07 – BVerwGE 131, 370, Rn. 27). Denn Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet nicht das Recht, die familiäre Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen, wenn dies auch in einem anderen Land zumutbar möglich ist. Auch für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte der Frage erhebliche Bedeutung zu, ob das Familienleben ohne Hindernisse auch im Herkunftsland möglich ist (vgl. EGMR, Urteil v. 19. Februar 1996 - 53/1995/559/645 - InfAuslR 1996, 245, Gül; Urteil v. 28. November 1996 - 73/1995/579/665 - InfAuslR 1997, 141, Ahmut) oder ob der Nachzug das einzige adäquate Mittel darstellt, in familiärer Gemeinschaft zu leben (vgl. EGMR, Urteil v. 21. Dezember 2001 - 31465/96 - InfAuslR 2002, 334, Sen).
39 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt ein Ausnahmefall vor, wenn entweder besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder die Erteilung des Aufenthaltstitels aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK geboten ist, z.B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist (vgl. Urteil v. 30. April 2009 – 1 C 3.08 – InfAuslR 2009, 333 m.w.N.). Der letztgenannte Gesichtspunkt wurde allerdings spezifisch im Zusammenhang mit der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG entwickelt und bedarf hinsichtlich der Regelerteilungsvoraussetzung des nicht vorliegenden Ausweisungsgrundes der Modifizierung. Denn allein der Umstand, dass die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist, vermag nicht unterschiedslos alle Ausweisungsgründe ungeachtet ihres jeweiligen Gewichts zu überwinden. Maßgeblich kann nur sein, dass das Gewicht des jeweils konkret verwirklichten Ausweisungsgrundes mit den verfassungsrechtlichen aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG folgenden Erfordernissen in Beziehung gesetzt und abgewogen werden muss. Denn es kann nicht zweifelhaft sein, dass nicht jeder Ausweisungsgrund von geringem Gewicht geeignet sein kann, den verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie zu überspielen. Die Frage, ob eine Ausnahme vorliegt, unterliegt hiernach aber voller gerichtlicher Überprüfung und Einschätzung. Maßgeblicher Zeitpunkt ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der letzten Tatsacheninstanz (vgl. Urteil v. 30. April 2009 – 1 C 3.08 – InfAuslR 2009, 333 m.w.N.).
40 
Diese hier zu beachtende unmittelbare verfassungsrechtliche Wertung von hohem Rang relativiert das ohnehin nicht hohe Gewicht des Ausweisungsgrundes erheblich und nimmt ihm daher das typische, die Versagung des Titels rechtfertigende und tragende Gewicht, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass die letzte Straftat immerhin über zwei Jahre zurückliegt. Für die Annahme eines atypischen Ausnahmefalls, der ein Abweichen von der Regel gebietet, streitet nicht zuletzt, dass von Verfassungs wegen der Beziehung des Vaters zu seinen heranwachsenden Kindern und dem von ihm neben der Mutter zu leistenden eigenständigen Erziehungsbeitrag ein hohes verfassungsrechtliches Gewicht zukommt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss v. 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 - InfAuslR 2000, 67; v. 8. Dezember 2005 – 2 BvR 1001/04 – InfAuslR 2006, 122). In gewissem Umfang wird man das Gewicht des Regelversagungsgrundes des Nichtvorliegens eines Ausweisungsgrundes auch mit der Erwägung vorsichtig relativieren müssen, dass es hier um einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG geht, der gerade in Abweichung von der Sperrwirkung der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 AufenthG erteilt werden kann (vgl. Bäuerle, in: GK-AufenthG § 5 Rdn. 187 m.w.N.), mit anderen Worten, dass hier als ein typischer Anwendungsfall gerade ein Fall vorliegen kann, bei dem in der Vergangenheit eine Ausweisung ausgesprochen worden war. Die vom Kläger gelebte enge familiäre Lebensgemeinschaft mit seinen Kindern, die sich noch in einem Alter befinden, in dem die Beziehung zwischen ihnen und ihrem Vater und dessen umfassenden Einflüsse auf diese unverzichtbar sind, gebietet es, auch das geringe Risiko der Begehung kleinerer Straftaten hinzunehmen.
41 
Liegt ein solcher Ausnahmefall vor, dann ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts insoweit, d.h. unter dem Aspekt des Ausweisungsgrundes, kein weiterer Spielraum für eine noch zu treffende Ermessensentscheidung gegeben (vgl. Urteil v. 30. April 2009 – 1 C 3.08 – InfAuslR 2009, 333).
42 
Demgegenüber kann nicht eingewandt werden, eine Trennung könne (und müsse) durch die Erteilung einer Duldung vermieden werden. Denn das Rechtsinstitut der Duldung ist nicht dazu bestimmt, einen von Verfassungs wegen gebotenen dauernden Aufenthalt zu sichern und zu ermöglichen, was mit Blick auf § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG aus gesetzessystematischen Gründen keinem Zweifel unterliegen kann (vgl. GK-AufenthG § 60a Rdn. 133). Nur dann, wenn das Aufenthaltsgesetz keinerlei Möglichkeit eröffnet, einen legalen Aufenthalt zu begründen, kann und muss dann auch die Duldung diese Lücke schließen, selbst wenn sie einen auf unabsehbare Zeit angelegten Aufenthalt tatsächlich ermöglicht. Im vorliegenden Fall ist aber gerade die aufenthaltsrechtliche Rechtsordnung ausreichend offen, um jedenfalls als Ergebnis einer Abwägung zu einer Legalisierung des Aufenthalts zu kommen. Die aufenthaltsrechtlich anzustellende Abwägung hat hier auch zwischen den Alternativen Beendigung des Aufenthalts einerseits und weiterer zeitlich unabsehbarer Anwesenheit im Bundesgebiet andererseits zu erfolgen, weil andernfalls der nur temporäre Charakter der Duldung aus dem Auge verloren und als dessen Kehrseite das grundsätzlich bestehende rechtliche geschützte Interesse an einer Legalisierungsmöglichkeit vernachlässigt würde.
43 
Dem steht auch nicht entgegen, dass grundsätzlich die Vorschriften des 6. Abschnitts als eine vom Gesetzgeber im Rahmen des ihm eingeräumten Spielraums vorgenommene umfassende Ausgestaltung des Komplexes des Familiennachzugs bzw. der Wahrung der Familieneinheit zu begreifen sind und regelmäßig ein den aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK abzuleitenden Anforderungen genügendes aufenthaltsrechtliches Regelwerk darstellen. Nicht zuletzt aus systematischen Gründen folgt hieraus, dass dann, wenn eine Herstellung bzw. Wahrung der Familieneinheit nach dem 6. Abschnitt rechtmäßig versagt werden kann, ein Rückgriff auf die Vorschriften des 5. Abschnitts - und hier regelmäßig auf § 25 Abs. 5 AufenthG - nicht möglich ist. Dies kann jedoch ausnahmsweise dann nicht gelten, wenn Art. 6 Abs. 1 GG etwas anderes gebietet. Ist hiernach rechtlich zwingend eine Trennung der Familie dauerhaft nicht zulässig und kann die Familieneinheit nur im Bundesgebiet hergestellt oder aufrecht erhalten werden, so muss ein solcher Rückgriff zugelassen werden, um nicht in unauflösbaren Konflikt mit vorrangigem Verfassungsrecht zu kommen (vgl. auch VGHBW, Beschluss v. 10. März 2009 - 11 S 2990/08 - InfAuslR 2009, 236). Auch hier gilt wiederum, dass nicht in Art eines Zirkelschlusses darauf verwiesen werden darf, dass mit Rücksicht auf § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG es faktisch nicht zu einer Trennung kommen wird, da die Duldung nicht dazu bestimmt ist, einen voraussichtlich auf Dauer angelegten Aufenthalt zu regeln.
44 
Ein weiterer Versagungsgrund nach § 5 Abs. 1 AufenthG ist hier nicht ersichtlich, insbesondere ist der Lebensunterhalt des Klägers in einer Weise gesichert, dass er keine öffentlichen Mittel in Anspruch nehmen muss (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG). Entgegen der Ansicht der Beklagten ist bei der Bestimmung des Bedarfs und der Prüfung, ob der Kläger Leistungen nach dem SGB II in Anspruch nehmen muss (vgl. zum Maßstab des SGB II BVerwG, Urteil v. 26. August 2008 – 1 C 32.07 – BVerwGE 131, 370), Frau xxx nicht zu berücksichtigten. Der Kläger ist ihr gegenüber nicht unterhaltspflichtig, was von der Beklagten auch nicht in Zweifel gezogen wird. Daraus folgt weiter, dass beim Kläger bei der Bedarfsberechnung eine diesbezügliche Unterhaltspflicht nicht eingestellt werden darf. Daraus wiederum folgt, dass der Kläger, wie sich aus der folgenden Berechnung ablesen lässt, keinen Anspruch auf Sozialleistungen hat. Einen Leistungsanspruch nach SGB II hat allein Frau xxx. Um deren Aufenthaltsrecht geht es aber nicht, dieses ist auch gegenwärtig nicht infolge der mangelnden Sicherung des Lebensunterhalts in Frage gestellt (vgl. schon Münder, in: LPK-BSHG, 6. Aufl., § 122 Rdn. 15, und nunmehr Brühl, in: Münder, LPK-SGB II, 2005, § 7 Rdn. 29 ff, 33 und 37, wonach derjenige, der über ausreichendes Einkommen und/oder Vermögen verfügt, auch nicht als Empfänger von Sozialhilfeleistungen anzusehen ist, sondern ausschließlich das andere Mitglied der Bedarfsgemeinschaft; vgl. auch OVG BB, Urteil v. 27. August 2009 - 11 B 1.09 - juris; GK-AufenthG, § 2 Rdn. 50).
45 
Für den Kläger und seine beiden unterhaltsberechtigten Kinder ergibt sich folgende Bedarfberechnung:
46 
Regelsatz Kläger
        
359,00 EUR
Regelsätze Kinder
        
502,00 EUR
Miete/Nebenkosten (75 v.H. aus 465,00)
        
349,00 EUR
Pauschbetrag nach § 11 Abs. 2 Satz 2
        
100,00 EUR
Freibetrag nach § 30 SGB II
        
   191,50 EUR
Bedarf
        
1501,50 EUR
47 
Der Freibetrag nach § 30 SGB II errechnet sich in diesem Zusammenhang, wie folgt:
48 
Teilbetrag nach § 30 Satz 2 Nr. 1 SGB II: 20 v.H. aus 700,- EUR
        
140,00 EUR
Teilbetrag nach § 30 Satz 2 Nr. 2 i.V.m. S. 3: 10 v.H aus 515,- EUR
        
 51,50 EUR
49 
Dem stehen gegenüber Einnahmen:
50 
Nettoeinkommen
        
1315.00 EUR
Kindergeld
        
   328,00 EUR
Einkommen
        
1643,00 EUR
51 
Hieraus ergibt sich ein Überschuss in Höhe von 141,50 EUR.
52 
Selbst wenn man aber dem Ansatz der Beklagten folgt, die eine vollständige Gesamtbetrachtung für richtig erachtet, ergibt sich nicht, dass der Lebensunterhalt nicht gesichert wäre.
53 
Es bestünde folgender Bedarf:
54 
Regelsätze Kläger und Partnerin
        
646,00 EUR
Regelsätze Kinder
        
502,00 EUR
Miete
        
465,00 EUR
Pauschbetrag nach § 11 Abs. 2 Satz 2
        
100,00 EUR
Freibetrag nach § 30 SGB II
        
   191,50 EUR
Bedarf
        
1904,00 EUR
55 
Dem stehen gegenüber Einnahmen:
56 
Nettoeinkommen Kläger
        
1315,00 EUR
Nettoeinkommen Partnerin
        
 120,00 EUR
Kindergeld
        
   328,00 EUR
Einkommen
        
1763,00 EUR
57 
Daraus ergibt sich zwar ein gegenwärtiger Abmangel in Höhe von 152,50 EUR. Frau xxx wird jedoch, wie die in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Zusage der Kindertagesstätte „Early Bird Club“ ausweist, ab 4. Januar 2010 auf der Basis von 400,00 EUR als Putzkraft tätig zu sein, weshalb prognostisch gesehen der Lebensunterhalt gesichert sein wird. An der Ernsthaftigkeit und Verlässlichkeit dieser Zusage zu zweifeln, besteht für den Senat kein ausreichender Anlass. Gleichermaßen besteht kein Anhalt dafür, das Frau xxx diese Stelle nicht antreten wird. Zum einen sind die beiden Kinder in einem Alter, das eine stundenweise Beschäftigung ohne weiteres erlaubt. Zum anderen ist sie sich sicherlich der Tatsache bewusst, dass das Aufenthaltsrecht des Klägers andernfalls wieder infrage stehen kann, sofern die Beklagte nicht im Ermessenswege nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von der Erfüllung der Regelerteilungsvoraussetzung absieht oder man - weitergehend -nicht auch hier mit Rücksicht auf die nur geringfügige Unterdeckung von einem atypischen Ausnahmefall auszugehen hätte, was aber gegenwärtig vom Senat nicht beantwortet werden muss (vgl. zu alledem nochmals BVerwG, Urteil v. 30. April 2009 – 1 C 3.08 – InfAuslR 2009, 333).
58 
Im Übrigen haben der Kläger und sein Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass nach dem im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorgelegten Arbeitsvertrag vom 12. Mai 2009 ein höheres Gehalt vereinbart sei, was in der Tat zutrifft. Der Kläger hat hierzu noch ausgeführt, dass er dieses gegenwärtig nicht vollständig erreichen könne, weil er infolge der Duldung Baden-Württemberg nicht verlassen dürfe.
59 
Der 15 Jahre alte Sohn Alexander, der bei seiner Mutter in deren Familie in xxx lebt, und zu dem der Kläger keine persönliche Beziehung (mehr) hat, ist nicht in die Bedarfsberechnung einzubeziehen. Denn der Kläger hat noch niemals regelmäßig Unterhalt gezahlt, wie er in der mündlichen Verhandlung erläutert hat. Auch hat die Mutter bislang keinen Unterhalt gefordert, geschweige denn dass mit Rücksicht auf unterbliebene Zahlungen durch den Kläger ein Unterhaltsanspruch tituliert wäre. In Anbetracht dessen kann ein allenfalls theoretischer Anspruch, der nicht realisiert wird, nicht zulasten des Klägers in Rechnung gestellt werden. Wäre dies wider Erwarten in der Zukunft doch der Fall, so müsste möglicherweise von einer anderen Sachlage ausgegangen werden.
60 
Allerdings erfüllt der Kläger nicht die Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 AufenthG, da er nur mit einem Schengen-Visum für einen Besuchsaufenthalt eingereist war. Eine Unzumutbarkeit der Einholung des Aufenthaltstitels vom Herkunftsland aus im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG folgt zunächst noch nicht automatisch daraus, dass er mit seinen Kindern in familiärer Gemeinschaft lebt, zumindest dann, wenn, wie hier, die Kinder schon etwas älter sind. Eine Unzumutbarkeit folgt aber daraus, dass der Kläger sich mittlerweile eine berufliche Grundlage in ungekündigter Stellung geschaffen hat, mit der er gerade den Unterhalt der Familie weitgehend sichert. Eine u.U. mehrmonatige Abwesenheit wird den Bestand dieses Arbeitsverhältnis sicherlich ernsthaft gefährden, abgesehen davon kann der Kläger in dieser Zeit dann auf keinen Fall den Unterhalt der Kinder sichern, was auch nicht im öffentlichen Interesse stehen kann. Geht man aber von einer Unzumutbarkeit aus, dann ist - jedenfalls im vorliegenden Fall - nicht ersichtlich, welchen zulässigen Ermessenserwägungen die Beklagte noch anstellen könnte und dürfte, sodass von einer Ermessensreduzierung auszugehen ist (vgl. in diesem Sinne auch Bäuerle, GK-AufenthG, § 5 Rdn. 177).
61 
Im Übrigen können auch die von der Beklagten angestellten Ermessenserwägungen in Bezug auf ein Absehen vom hier vorliegenden Ausweisungsgrund keinen Bestand haben (vgl. § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Im Bescheid der Beklagten finden sich zu der gesamten familiären Situation des Klägers, insbesondere zu der Beziehung zu seinen Kindern nur der Satz: „Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG scheitert, unabhängig davon, dass die Voraussetzungen eines rechtlichen Abschiebungshindernisses nach Art. 6 GG aufgrund der familiären Verbundenheit mit den leiblichen Kindern und der Lebensgefährtin vorliegen, an § 5 Abs. 1 und 3 AufenthG“; weitere Erwägungen fehlen. Auch im Widerspruchsbescheid wird lediglich pauschal auf „schutzwürdige Belange“ hingewiesen. Beide Bescheide stellen sich der familiären Problematik nicht wirklich, sondern handeln diese lediglich an der Oberfläche mit Leerformeln ab. Insbesondere wird die Frage nicht näher erörtert, ob nicht die Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft gerade auch im Interesse der Kinder (und nicht in erster Linie des Klägers) es rechtfertigen kann, das geringe Risiko der Begehung weniger gewichtiger Straftaten hinzunehmen. Es fehlt jede vertiefte Auseinandersetzung mit den möglichen Beeinträchtigungen der familiären Gemeinschaft bzw. den konkreten grundrechtlichen Anforderungen an eine individuelle und einzelfallbezogene Abwägung. Vielmehr wird unübersehbar der Eindruck erweckt, dass jede konkrete Gefahr einer Begehung auch geringfügiger Delikte generell auch in Ansehung des Art. 6 GG keine Abweichung ermögliche. Damit und in dieser Pauschalität wird aber den oben unter 1 dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen einer konkreten einzelfallbezogenen Abwägung nicht genügt, die gleichermaßen Geltung beanspruchen, wenn die Frage zu entscheiden ist, ob wenigstens im Ermessenswege von einem Ausweisungsgrund abgesehen wird.
62 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
63 
Ein Grund nach § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, besteht nicht.
64 
Beschluss vom 18. November 2009
65 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,- EUR festgesetzt.
66 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
31 
Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.
32 
Der Kläger hat einen Regelanspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Ihm ist es aus Rechtsgründen seit mehr als 18 Monaten unverschuldet unmöglich, auszureisen (vgl. § 25 Abs. 5 S. 2 und 3 AufenthG).
33 
Art. 6 Abs. 1 und 2 GG bzw. Art. 8 EMRK begründen im Falle des Klägers mit Rücksicht auf die seit Jahren gelebte familiäre Gemeinschaft mit seinen Kindern und seiner Lebensgefährtin nicht nur ein rechtlich begründetes Abschiebungsverbot, sondern auch eine atypische Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.
34 
Das Erstere wird auch von der Beklagten nicht infrage gestellt, wie sich nicht zuletzt aus der Tatsache ablesen lässt, dass sie seit dem Jahre 2002 dem Kläger ununterbrochen Duldungen erteilt hat.
35 
Nach Aktenlage und nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung geht der Senat davon aus, dass der Kläger eine familiäre Lebensgemeinschaft mit seinen Kindern und seiner Lebensgefährtin, Frau xxx, weder in deren Herkunftsland Bosnien-Herzegowina noch in seinem Herkunftsland Serbien auf absehbare Zeit herstellen kann. Eine Herstellung in Bosnien und Herzegowina ist schon deshalb rechtlich nicht möglich, weil Frau xxx insoweit aufgrund der rechtskräftigen Feststellung des Bundesamts Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG bzw. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG genießt und aus diesem Grund zusammen mit den Kindern im Besitz eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist und im Übrigen mittlerweile auch einen Anspruch auf Erteilung eines Titels nach § 25 Abs. 3 AufenthG haben wird. Eine Herstellung der Lebensgemeinschaft in Serbien scheitert gegenwärtig daran, dass Frau xxx und die Kinder nach Überzeugung des Senats nur die Staatsangehörigkeit von Bosnien-Herzegowina besitzen. Es gibt keinen ausreichenden Anhalt, dass sie die serbische Staatsangehörigkeit haben könnten. Die Eltern von Frau xxx wurden beide in Bosnien geboren und haben beide dort noch bis nach der Geburt von Frau xxx gelebt. Ihre Mutter ist erst später im Zuge der Trennung der Eltern nach Slowenien gegangen (vgl. Niederschrift des Bundesamts vom 2. November 2000, S. 3). Es muss daher davon ausgegangen werden, dass Frau xxx durch Geburt die Staatsangehörigkeit der früheren Teilrepublik Bosnien erworben hat, die später in die Staatsangehörigkeit des neuen Staates Bosnien und Herzegowina überging (vgl. Auswärtiges Amt Lagebericht Bosnien und Herzegowina v. 4. Mai 2000). Davon geht auch das Verwaltungsgericht Stuttgart im Urteil v. 25. Juli 2003 (A 16 K 10520/02) aus. Zwar kommt auch in Betracht, dass Frau xxx durch ihre Geburt in Serbien die serbische Staatsangehörigkeit erworben haben könnte, die darauf beruht, dass ihre Mutter sich zur Geburt in das Krankenhaus der grenznahen Stadt L. begab. Allerdings konnte man von Rechts wegen nur die Staatsangehörigkeit einer Teilrepublik haben, weshalb die Eltern eine Bestimmung treffen mussten, welche Staatsangehörigkeit das Kind haben sollte (vgl. zu alledem auch Osteuropa-Institut v. 6. Februar 1995). Wenn in diesem Zusammenhang eine Staatsangehörigkeitsbescheinigung über den Besitz der Staatsangehörigkeit von Bosnien und Herzegowina vom 26. Juli 1999 vorliegt und Frau xxx zwei Mal ein Pass von Bosnien und Herzegowina ausgestellt wurde (vgl. vgl. Niederschrift des Bundesamts vom 2. November 2000, S. 2), kann nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden, dass die Option zugunsten Serbien ausgeübt worden war, wenn man den ständigen Aufenthalt der Eltern in Bosnien, aber auch den eigenen von Frau xxx in Rechnung stellt, die, wie sie in der mündlichen Verhandlung erläutert hat, in Bosnien gelebt hat, dort zur Schule gegangen ist und ihre Ausbildung zur Krankenschwester gemacht hat, bis sie den Kläger kennen gelernt hat. Die von ihr im Rahmen der Anhörung durch das Bundesamt am 2. November 2000 gemachten Angaben sind, wie sich aus deren Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung ergab, wohl in der Weise zu verstehen, dass sie sich nur deshalb bei der Passbeschaffung der Hilfe anderer bedient hatte, weil sie, die damals ohne einen Pass in Serbien lebte, keine Möglichkeiten sah, sich einen Pass in Bosnien und Herzegowina ausstellen zu lassen. Dass Frau xxx nicht die serbische Staatsangehörigkeit besitzt, hat offenbar bislang auch die Beklagte so gesehen, nachdem es in den letzten etwa zehn Jahren keinen einzigen Versuch ihrerseits gegeben hat, den Aufenthalt nach Serbien zu beenden. Es kann daher offen bleiben, ob Frau xxx eine Ausreise nach Serbien zuzumuten wäre. Denn immerhin dürfte sie dort ihre schwere Traumatisierung, die heute noch ständig zu behandeln ist, erlitten haben. Mit Rücksicht auf die Bindungswirkung des § 42 AsylVfG wäre der Senat allerdings ohnehin an einer diesbezüglichen Feststellung gehindert.
36 
Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ausnahmsweise deshalb nicht entgegen, weil ein atypischer Ausnahmefall vorliegt.
37 
Es bedarf keiner Erörterung, dass der Kläger mit Rücksicht auf die vielfältigen bislang nicht getilgten Straftaten in seiner Person den Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erfüllt, weshalb dem Grundsatz nach an sich die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht gegeben ist. Auch wenn der Kläger seit Begehung der letzten Straftat im Oktober 2007 nicht erneut verurteilt wurde, so trifft es sicherlich zu, dass angesichts seiner bisherigen strafgerichtlichen Verurteilungen keine hinreichend gesicherte Grundlage für die Annahme besteht, er werde in Zukunft nicht wieder straffällig werden. Abgesehen von der nunmehr über 14 Jahre zurück liegenden Verurteilung im Jahre 1995 wegen gefährlicher Körperverletzung, die einen - allerdings auf beiderseitige verbale Provokationen zurückzuführenden - gewalttätigen Angriff des Klägers betraf, bei dem dieser dem Opfer in den Unterleib trat, sodass diesem ein Hoden entfernt werden musste, und den Kiefer brach, handelte es sich aber durchgängig um nicht einmal mittel-schwere Delikte, die sämtlich nicht in ein Führungszeugnis einzutragen sind. Die höchste Einzelstrafe betrug, im Übrigen nur wegen eines im Jahre 1993 fahrlässig begangenen Delikts, 50 Tagessätze und nach der Wiedereinreise sogar nur noch 30 Tagessätze. Es besteht hiernach kein Anhaltspunkt, der Kläger könne wieder in einem Maße straffällig werden, wie dies im Jahre 1995 der Fall war, zumal er wegen eines einzigen Gewaltdelikts auffällig wurde, als er noch erheblich jünger und noch nicht in eine intensive familiäre Beziehung eingebunden war.
38 
Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK können im Einzelfall nach Abwägung mit allen Aspekten des den Ausweisungsgrund begründenden Sachverhalts einen atypischen Ausnahmefall begründen. Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst namentlich die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben (BVerfG, Beschluss v. 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. - BVerfGE 76, 1 <42>). Art. 6 Abs. 1 GG begründet grundsätzlich aber noch keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, Beschluss v. 12. Mai 1987 – a.a.O.; Beschluss v. 11. Mai 2007 - 2 BvR 2483/06 - InfAuslR 2007, 336 <337>). Für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ist die Frage, ob es den anderen Familienangehörigen zumutbar ist, den Kläger in sein Herkunftsland zu begleiten, von erheblicher Bedeutung. Denn wenn die familiäre Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist - etwa weil ihm dort flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung oder sonstige schwerwiegende Beeinträchtigungen von Leib, Leben oder Freiheit drohen -, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (vgl. BVerfG, Beschluss v. 18. April 1989 - 2 BvR 1169/84 - BVerfGE 80, 81 <95>). Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG liegt dagegen fern, wenn die Lebensgemeinschaft zumutbar auch im gemeinsamen Herkunftsland geführt werden kann (vgl. BVerwG, Urteil v. 26. August 2008 - 1 C 32.07 – BVerwGE 131, 370, Rn. 27). Denn Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet nicht das Recht, die familiäre Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen, wenn dies auch in einem anderen Land zumutbar möglich ist. Auch für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte der Frage erhebliche Bedeutung zu, ob das Familienleben ohne Hindernisse auch im Herkunftsland möglich ist (vgl. EGMR, Urteil v. 19. Februar 1996 - 53/1995/559/645 - InfAuslR 1996, 245, Gül; Urteil v. 28. November 1996 - 73/1995/579/665 - InfAuslR 1997, 141, Ahmut) oder ob der Nachzug das einzige adäquate Mittel darstellt, in familiärer Gemeinschaft zu leben (vgl. EGMR, Urteil v. 21. Dezember 2001 - 31465/96 - InfAuslR 2002, 334, Sen).
39 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt ein Ausnahmefall vor, wenn entweder besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder die Erteilung des Aufenthaltstitels aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK geboten ist, z.B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist (vgl. Urteil v. 30. April 2009 – 1 C 3.08 – InfAuslR 2009, 333 m.w.N.). Der letztgenannte Gesichtspunkt wurde allerdings spezifisch im Zusammenhang mit der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG entwickelt und bedarf hinsichtlich der Regelerteilungsvoraussetzung des nicht vorliegenden Ausweisungsgrundes der Modifizierung. Denn allein der Umstand, dass die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist, vermag nicht unterschiedslos alle Ausweisungsgründe ungeachtet ihres jeweiligen Gewichts zu überwinden. Maßgeblich kann nur sein, dass das Gewicht des jeweils konkret verwirklichten Ausweisungsgrundes mit den verfassungsrechtlichen aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG folgenden Erfordernissen in Beziehung gesetzt und abgewogen werden muss. Denn es kann nicht zweifelhaft sein, dass nicht jeder Ausweisungsgrund von geringem Gewicht geeignet sein kann, den verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie zu überspielen. Die Frage, ob eine Ausnahme vorliegt, unterliegt hiernach aber voller gerichtlicher Überprüfung und Einschätzung. Maßgeblicher Zeitpunkt ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der letzten Tatsacheninstanz (vgl. Urteil v. 30. April 2009 – 1 C 3.08 – InfAuslR 2009, 333 m.w.N.).
40 
Diese hier zu beachtende unmittelbare verfassungsrechtliche Wertung von hohem Rang relativiert das ohnehin nicht hohe Gewicht des Ausweisungsgrundes erheblich und nimmt ihm daher das typische, die Versagung des Titels rechtfertigende und tragende Gewicht, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass die letzte Straftat immerhin über zwei Jahre zurückliegt. Für die Annahme eines atypischen Ausnahmefalls, der ein Abweichen von der Regel gebietet, streitet nicht zuletzt, dass von Verfassungs wegen der Beziehung des Vaters zu seinen heranwachsenden Kindern und dem von ihm neben der Mutter zu leistenden eigenständigen Erziehungsbeitrag ein hohes verfassungsrechtliches Gewicht zukommt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss v. 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 - InfAuslR 2000, 67; v. 8. Dezember 2005 – 2 BvR 1001/04 – InfAuslR 2006, 122). In gewissem Umfang wird man das Gewicht des Regelversagungsgrundes des Nichtvorliegens eines Ausweisungsgrundes auch mit der Erwägung vorsichtig relativieren müssen, dass es hier um einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG geht, der gerade in Abweichung von der Sperrwirkung der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 AufenthG erteilt werden kann (vgl. Bäuerle, in: GK-AufenthG § 5 Rdn. 187 m.w.N.), mit anderen Worten, dass hier als ein typischer Anwendungsfall gerade ein Fall vorliegen kann, bei dem in der Vergangenheit eine Ausweisung ausgesprochen worden war. Die vom Kläger gelebte enge familiäre Lebensgemeinschaft mit seinen Kindern, die sich noch in einem Alter befinden, in dem die Beziehung zwischen ihnen und ihrem Vater und dessen umfassenden Einflüsse auf diese unverzichtbar sind, gebietet es, auch das geringe Risiko der Begehung kleinerer Straftaten hinzunehmen.
41 
Liegt ein solcher Ausnahmefall vor, dann ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts insoweit, d.h. unter dem Aspekt des Ausweisungsgrundes, kein weiterer Spielraum für eine noch zu treffende Ermessensentscheidung gegeben (vgl. Urteil v. 30. April 2009 – 1 C 3.08 – InfAuslR 2009, 333).
42 
Demgegenüber kann nicht eingewandt werden, eine Trennung könne (und müsse) durch die Erteilung einer Duldung vermieden werden. Denn das Rechtsinstitut der Duldung ist nicht dazu bestimmt, einen von Verfassungs wegen gebotenen dauernden Aufenthalt zu sichern und zu ermöglichen, was mit Blick auf § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG aus gesetzessystematischen Gründen keinem Zweifel unterliegen kann (vgl. GK-AufenthG § 60a Rdn. 133). Nur dann, wenn das Aufenthaltsgesetz keinerlei Möglichkeit eröffnet, einen legalen Aufenthalt zu begründen, kann und muss dann auch die Duldung diese Lücke schließen, selbst wenn sie einen auf unabsehbare Zeit angelegten Aufenthalt tatsächlich ermöglicht. Im vorliegenden Fall ist aber gerade die aufenthaltsrechtliche Rechtsordnung ausreichend offen, um jedenfalls als Ergebnis einer Abwägung zu einer Legalisierung des Aufenthalts zu kommen. Die aufenthaltsrechtlich anzustellende Abwägung hat hier auch zwischen den Alternativen Beendigung des Aufenthalts einerseits und weiterer zeitlich unabsehbarer Anwesenheit im Bundesgebiet andererseits zu erfolgen, weil andernfalls der nur temporäre Charakter der Duldung aus dem Auge verloren und als dessen Kehrseite das grundsätzlich bestehende rechtliche geschützte Interesse an einer Legalisierungsmöglichkeit vernachlässigt würde.
43 
Dem steht auch nicht entgegen, dass grundsätzlich die Vorschriften des 6. Abschnitts als eine vom Gesetzgeber im Rahmen des ihm eingeräumten Spielraums vorgenommene umfassende Ausgestaltung des Komplexes des Familiennachzugs bzw. der Wahrung der Familieneinheit zu begreifen sind und regelmäßig ein den aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK abzuleitenden Anforderungen genügendes aufenthaltsrechtliches Regelwerk darstellen. Nicht zuletzt aus systematischen Gründen folgt hieraus, dass dann, wenn eine Herstellung bzw. Wahrung der Familieneinheit nach dem 6. Abschnitt rechtmäßig versagt werden kann, ein Rückgriff auf die Vorschriften des 5. Abschnitts - und hier regelmäßig auf § 25 Abs. 5 AufenthG - nicht möglich ist. Dies kann jedoch ausnahmsweise dann nicht gelten, wenn Art. 6 Abs. 1 GG etwas anderes gebietet. Ist hiernach rechtlich zwingend eine Trennung der Familie dauerhaft nicht zulässig und kann die Familieneinheit nur im Bundesgebiet hergestellt oder aufrecht erhalten werden, so muss ein solcher Rückgriff zugelassen werden, um nicht in unauflösbaren Konflikt mit vorrangigem Verfassungsrecht zu kommen (vgl. auch VGHBW, Beschluss v. 10. März 2009 - 11 S 2990/08 - InfAuslR 2009, 236). Auch hier gilt wiederum, dass nicht in Art eines Zirkelschlusses darauf verwiesen werden darf, dass mit Rücksicht auf § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG es faktisch nicht zu einer Trennung kommen wird, da die Duldung nicht dazu bestimmt ist, einen voraussichtlich auf Dauer angelegten Aufenthalt zu regeln.
44 
Ein weiterer Versagungsgrund nach § 5 Abs. 1 AufenthG ist hier nicht ersichtlich, insbesondere ist der Lebensunterhalt des Klägers in einer Weise gesichert, dass er keine öffentlichen Mittel in Anspruch nehmen muss (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG). Entgegen der Ansicht der Beklagten ist bei der Bestimmung des Bedarfs und der Prüfung, ob der Kläger Leistungen nach dem SGB II in Anspruch nehmen muss (vgl. zum Maßstab des SGB II BVerwG, Urteil v. 26. August 2008 – 1 C 32.07 – BVerwGE 131, 370), Frau xxx nicht zu berücksichtigten. Der Kläger ist ihr gegenüber nicht unterhaltspflichtig, was von der Beklagten auch nicht in Zweifel gezogen wird. Daraus folgt weiter, dass beim Kläger bei der Bedarfsberechnung eine diesbezügliche Unterhaltspflicht nicht eingestellt werden darf. Daraus wiederum folgt, dass der Kläger, wie sich aus der folgenden Berechnung ablesen lässt, keinen Anspruch auf Sozialleistungen hat. Einen Leistungsanspruch nach SGB II hat allein Frau xxx. Um deren Aufenthaltsrecht geht es aber nicht, dieses ist auch gegenwärtig nicht infolge der mangelnden Sicherung des Lebensunterhalts in Frage gestellt (vgl. schon Münder, in: LPK-BSHG, 6. Aufl., § 122 Rdn. 15, und nunmehr Brühl, in: Münder, LPK-SGB II, 2005, § 7 Rdn. 29 ff, 33 und 37, wonach derjenige, der über ausreichendes Einkommen und/oder Vermögen verfügt, auch nicht als Empfänger von Sozialhilfeleistungen anzusehen ist, sondern ausschließlich das andere Mitglied der Bedarfsgemeinschaft; vgl. auch OVG BB, Urteil v. 27. August 2009 - 11 B 1.09 - juris; GK-AufenthG, § 2 Rdn. 50).
45 
Für den Kläger und seine beiden unterhaltsberechtigten Kinder ergibt sich folgende Bedarfberechnung:
46 
Regelsatz Kläger
        
359,00 EUR
Regelsätze Kinder
        
502,00 EUR
Miete/Nebenkosten (75 v.H. aus 465,00)
        
349,00 EUR
Pauschbetrag nach § 11 Abs. 2 Satz 2
        
100,00 EUR
Freibetrag nach § 30 SGB II
        
   191,50 EUR
Bedarf
        
1501,50 EUR
47 
Der Freibetrag nach § 30 SGB II errechnet sich in diesem Zusammenhang, wie folgt:
48 
Teilbetrag nach § 30 Satz 2 Nr. 1 SGB II: 20 v.H. aus 700,- EUR
        
140,00 EUR
Teilbetrag nach § 30 Satz 2 Nr. 2 i.V.m. S. 3: 10 v.H aus 515,- EUR
        
 51,50 EUR
49 
Dem stehen gegenüber Einnahmen:
50 
Nettoeinkommen
        
1315.00 EUR
Kindergeld
        
   328,00 EUR
Einkommen
        
1643,00 EUR
51 
Hieraus ergibt sich ein Überschuss in Höhe von 141,50 EUR.
52 
Selbst wenn man aber dem Ansatz der Beklagten folgt, die eine vollständige Gesamtbetrachtung für richtig erachtet, ergibt sich nicht, dass der Lebensunterhalt nicht gesichert wäre.
53 
Es bestünde folgender Bedarf:
54 
Regelsätze Kläger und Partnerin
        
646,00 EUR
Regelsätze Kinder
        
502,00 EUR
Miete
        
465,00 EUR
Pauschbetrag nach § 11 Abs. 2 Satz 2
        
100,00 EUR
Freibetrag nach § 30 SGB II
        
   191,50 EUR
Bedarf
        
1904,00 EUR
55 
Dem stehen gegenüber Einnahmen:
56 
Nettoeinkommen Kläger
        
1315,00 EUR
Nettoeinkommen Partnerin
        
 120,00 EUR
Kindergeld
        
   328,00 EUR
Einkommen
        
1763,00 EUR
57 
Daraus ergibt sich zwar ein gegenwärtiger Abmangel in Höhe von 152,50 EUR. Frau xxx wird jedoch, wie die in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Zusage der Kindertagesstätte „Early Bird Club“ ausweist, ab 4. Januar 2010 auf der Basis von 400,00 EUR als Putzkraft tätig zu sein, weshalb prognostisch gesehen der Lebensunterhalt gesichert sein wird. An der Ernsthaftigkeit und Verlässlichkeit dieser Zusage zu zweifeln, besteht für den Senat kein ausreichender Anlass. Gleichermaßen besteht kein Anhalt dafür, das Frau xxx diese Stelle nicht antreten wird. Zum einen sind die beiden Kinder in einem Alter, das eine stundenweise Beschäftigung ohne weiteres erlaubt. Zum anderen ist sie sich sicherlich der Tatsache bewusst, dass das Aufenthaltsrecht des Klägers andernfalls wieder infrage stehen kann, sofern die Beklagte nicht im Ermessenswege nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von der Erfüllung der Regelerteilungsvoraussetzung absieht oder man - weitergehend -nicht auch hier mit Rücksicht auf die nur geringfügige Unterdeckung von einem atypischen Ausnahmefall auszugehen hätte, was aber gegenwärtig vom Senat nicht beantwortet werden muss (vgl. zu alledem nochmals BVerwG, Urteil v. 30. April 2009 – 1 C 3.08 – InfAuslR 2009, 333).
58 
Im Übrigen haben der Kläger und sein Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass nach dem im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorgelegten Arbeitsvertrag vom 12. Mai 2009 ein höheres Gehalt vereinbart sei, was in der Tat zutrifft. Der Kläger hat hierzu noch ausgeführt, dass er dieses gegenwärtig nicht vollständig erreichen könne, weil er infolge der Duldung Baden-Württemberg nicht verlassen dürfe.
59 
Der 15 Jahre alte Sohn Alexander, der bei seiner Mutter in deren Familie in xxx lebt, und zu dem der Kläger keine persönliche Beziehung (mehr) hat, ist nicht in die Bedarfsberechnung einzubeziehen. Denn der Kläger hat noch niemals regelmäßig Unterhalt gezahlt, wie er in der mündlichen Verhandlung erläutert hat. Auch hat die Mutter bislang keinen Unterhalt gefordert, geschweige denn dass mit Rücksicht auf unterbliebene Zahlungen durch den Kläger ein Unterhaltsanspruch tituliert wäre. In Anbetracht dessen kann ein allenfalls theoretischer Anspruch, der nicht realisiert wird, nicht zulasten des Klägers in Rechnung gestellt werden. Wäre dies wider Erwarten in der Zukunft doch der Fall, so müsste möglicherweise von einer anderen Sachlage ausgegangen werden.
60 
Allerdings erfüllt der Kläger nicht die Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 AufenthG, da er nur mit einem Schengen-Visum für einen Besuchsaufenthalt eingereist war. Eine Unzumutbarkeit der Einholung des Aufenthaltstitels vom Herkunftsland aus im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG folgt zunächst noch nicht automatisch daraus, dass er mit seinen Kindern in familiärer Gemeinschaft lebt, zumindest dann, wenn, wie hier, die Kinder schon etwas älter sind. Eine Unzumutbarkeit folgt aber daraus, dass der Kläger sich mittlerweile eine berufliche Grundlage in ungekündigter Stellung geschaffen hat, mit der er gerade den Unterhalt der Familie weitgehend sichert. Eine u.U. mehrmonatige Abwesenheit wird den Bestand dieses Arbeitsverhältnis sicherlich ernsthaft gefährden, abgesehen davon kann der Kläger in dieser Zeit dann auf keinen Fall den Unterhalt der Kinder sichern, was auch nicht im öffentlichen Interesse stehen kann. Geht man aber von einer Unzumutbarkeit aus, dann ist - jedenfalls im vorliegenden Fall - nicht ersichtlich, welchen zulässigen Ermessenserwägungen die Beklagte noch anstellen könnte und dürfte, sodass von einer Ermessensreduzierung auszugehen ist (vgl. in diesem Sinne auch Bäuerle, GK-AufenthG, § 5 Rdn. 177).
61 
Im Übrigen können auch die von der Beklagten angestellten Ermessenserwägungen in Bezug auf ein Absehen vom hier vorliegenden Ausweisungsgrund keinen Bestand haben (vgl. § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Im Bescheid der Beklagten finden sich zu der gesamten familiären Situation des Klägers, insbesondere zu der Beziehung zu seinen Kindern nur der Satz: „Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG scheitert, unabhängig davon, dass die Voraussetzungen eines rechtlichen Abschiebungshindernisses nach Art. 6 GG aufgrund der familiären Verbundenheit mit den leiblichen Kindern und der Lebensgefährtin vorliegen, an § 5 Abs. 1 und 3 AufenthG“; weitere Erwägungen fehlen. Auch im Widerspruchsbescheid wird lediglich pauschal auf „schutzwürdige Belange“ hingewiesen. Beide Bescheide stellen sich der familiären Problematik nicht wirklich, sondern handeln diese lediglich an der Oberfläche mit Leerformeln ab. Insbesondere wird die Frage nicht näher erörtert, ob nicht die Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft gerade auch im Interesse der Kinder (und nicht in erster Linie des Klägers) es rechtfertigen kann, das geringe Risiko der Begehung weniger gewichtiger Straftaten hinzunehmen. Es fehlt jede vertiefte Auseinandersetzung mit den möglichen Beeinträchtigungen der familiären Gemeinschaft bzw. den konkreten grundrechtlichen Anforderungen an eine individuelle und einzelfallbezogene Abwägung. Vielmehr wird unübersehbar der Eindruck erweckt, dass jede konkrete Gefahr einer Begehung auch geringfügiger Delikte generell auch in Ansehung des Art. 6 GG keine Abweichung ermögliche. Damit und in dieser Pauschalität wird aber den oben unter 1 dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen einer konkreten einzelfallbezogenen Abwägung nicht genügt, die gleichermaßen Geltung beanspruchen, wenn die Frage zu entscheiden ist, ob wenigstens im Ermessenswege von einem Ausweisungsgrund abgesehen wird.
62 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
63 
Ein Grund nach § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, besteht nicht.
64 
Beschluss vom 18. November 2009
65 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,- EUR festgesetzt.
66 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 13. Juni 2008 - 5 K 1766/06 - geändert. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Regierungspräsidiums Freiburg vom 27. September 2006 verpflichtet, dessen Ausweisung in Nr. I der Verfügung vom 12. November 1998 zurückzunehmen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Rücknahme seiner 1998 verfügten Ausweisung.
Der am … 1977 in ... als Kind eines türkischen Arbeitnehmers geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Seine Mutter starb kurz nach seiner Geburt. Er wuchs zusammen mit seinen zwei älteren Geschwistern im Haushalt seines Vaters, der 1978 ein zweites Mal heiratete, auf. 1993 erlangte er den Hauptschulabschluss. Eine Berufsausbildung absolvierte er nicht. Er arbeitete gelegentlich jeweils für wenige Monate bei unterschiedlichen Arbeitgebern, unterbrochen von Zeiten der Arbeitslosigkeit. Bis zum 30.08.1997 war er im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis, deren Verlängerung er am 27.08.1997 beantragt hatte.
Strafrechtlich trat der Kläger wie folgt in Erscheinung:
1. Amtsgericht ..., Urteil vom 22.06.1994: Hehlerei, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Bedrohung und Hausfriedensbruch.
Schuldspruch nach § 27 JGG, zwei Jahre Bewährungszeit.
Datum der letzten Tat: 25.12.1993
        
2. Amtsgericht ..., Urteil vom 08.03.1995: Diebstahl, Hehlerei, Sachbeschädigung.
Ein Jahr Jugendstrafe unter Einbeziehung von Nr. 1.
Datum der letzten Tat: 11.10.1994
        
3. Amtsgericht ..., Urteil vom 08.07.1998: Hausfriedensbruch in zwei Fällen, versuchter Diebstahl.
Ein Jahr und neun Monate Jugendstrafe unter Einbeziehung von 2.
Zur Finanzierung seiner Drogensucht hatte der Kläger in einer Gaststätte mit einer Nagelfeile die Tür zu einer Geldkassette an einem Tischfußballgerät geöffnet, um sich das darin befindliche Bargeld anzueignen. Dies wurde durch eine Überwachungskamera beobachtet und der Kläger wurde sofort zur Rede gestellt. Das daraufhin durch den Inhaber der Gaststätte ausgesprochene Hausverbot ignorierte er.
Datum der letzten Tat: 16.01.1998
Vom 03.04.1995 bis 01.12.1995 sowie vom 23.07.1998 bis zu seiner Abschiebung am 22.02.1999 befand sich der Kläger in Strafhaft. Mit Beschluss vom 22.12.2005 wurde ihm nach Ablauf der Bewährungsfrist die zuvor bereits zur Bewährung ausgesetzte Restjugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts ... vom 08.07.1998 erlassen.
Jedenfalls seit 1997 war der Kläger von harten Drogen abhängig. Im Juni 1998 unterzog er sich einer stationären Drogenentgiftung.
Mit Bescheid vom 12.11.1998 wies das Regierungspräsidium Freiburg den Kläger aus dem Bundesgebiet aus (I.), lehnte die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab (II.) und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an (III.). Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen einer Ausweisung nach §§ 45, 46 Nr. 2 AuslG lägen vor und der Kläger genieße keinen besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 AuslG. Über die Ausweisung sei nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Das öffentliche Interesse an der Ausweisung und Entfernung aus dem Bundesgebiet überwiege, weil die weitere Anwesenheit des Klägers eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstelle. Durch sein Verhalten habe er gezeigt, dass er nicht bereit sei, das geltende Recht zu beachten. Im Alter von siebzehn Jahren sei er erstmals wegen Hehlerei, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Bedrohung und Hausfriedensbruchs strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden. In der Folgezeit sei er wegen weiterer Eigentumsdelikte in Form von Einbruchsdiebstählen straffällig geworden. Die Erlöse habe er mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Erwerb von Drogen verwendet, da er seit Jahren auch harte Drogen konsumiere. Zwar hätten zerrüttete Familienverhältnisse zu der Drogensucht geführt, in der Vergangenheit seien jedoch weder die Unterstützung durch Bewährungshelfer noch Therapieangebote wahrgenommen worden. Daher sei davon auszugehen, dass er aufgrund seiner Drogenabhängigkeit auch weiterhin Straftaten begehen werde. Die Häufigkeit der im Wege der Beschaffungskriminalität begangenen Straftaten zeige auch, dass die strafrechtlichen Sanktionen keinerlei Eindruck hinterlassen hätten. Die Ausweisung sei auch nicht unverhältnismäßig. Die Eltern des Klägers seien erst im Alter von 30 Jahren in das Bundesgebiet eingereist. Der Vater sei laut den Feststellungen des Amtsgerichts Rottweil überzeugter Moslem. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei davon auszugehen, dass der Kläger und seine Geschwister im moslemischen Glauben und in türkischer Sprache erzogen worden seien. Selbst wenn der Kläger noch nicht in der Türkei gewesen sei, sei es ihm zuzumuten, sich dort einzugliedern. Aufgrund der zerrütteten Familienverhältnisse, die mitursächlich für seine Straffälligkeit seien, bestehe keine Aussicht auf seine Wiedereingliederung in die deutsche Gesellschaft. Da der Kläger selbst noch keine eigenen gefestigten Beziehungen aufgebaut habe, könne bei ihm nicht von einer günstigen Zukunftsprognose ausgegangen werden. Neben spezialpräventiven Erwägungen sprächen auch generalpräventive Gesichtspunkte für die Ausweisung. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK stünden der Ausweisung nicht entgegen. Die Ausweisung verstoße auch nicht gegen Gemeinschaftsrecht. Ein besonderer Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 bestehe nicht.
Der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehene Bescheid wurde von dem Kläger nicht angefochten.
Am 22.02.1999 wurde der Kläger in die Türkei abgeschoben, wo er zunächst den Wehrdienst absolvierte.
10 
Mit Bescheid vom 09.07.2002 befristete das Regierungspräsidium Freiburg nach Vorlage eines türkischen Strafregisterauszugs und Begleichung der Abschiebungskosten in Höhe von 1.904,24 EUR die Wirkungen der am 12.11.1998 verfügten Ausweisung und der am 22.02.1999 erfolgten Abschiebung auf sofort.
11 
Am 20.06.2003 stellte der Kläger bei der Deutschen Botschaft in Ankara einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 AuslG (§ 37 AufenthG). Nach der Ablehnung dieses Antrags erhob er Klage vor dem Verwaltungsgericht Berlin, nahm diese jedoch nach einem Hinweis des Gerichts zu den fehlenden Erfolgsaussichten in der mündlichen Verhandlung vom 02.06.2005 zurück.
12 
Mit Schreiben vom 24.10.2005 beantragte der Kläger beim Regierungspräsidium Freiburg die Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 12.11.1998, hilfsweise das Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens. Zwar sei die Sperrwirkung befristet worden, er habe jedoch ein Interesse an der Rücknahme der materiell rechtswidrigen Entscheidung, da ihm sonst eine dauerhafte Rückkehr versagt sei.
13 
Mit Bescheid vom 27.09.2006 lehnte das Regierungspräsidium Freiburg die Anträge auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung und Wiederaufgreifen des Verfahrens ab und führte zur Begründung unter anderem aus, ein Anspruch auf Rücknahme sei nur bei einer Ermessensreduzierung auf Null gegeben, die hier nicht vorliege. Im Hinblick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit bestehe nur dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Bescheids, wenn dessen Aufrechterhaltung „schlechthin unerträglich“ sei. Dies hänge von den Umständen des Einzelfalls ab. Auch das Gemeinschaftsrecht verlange grundsätzlich nicht die Rücknahme. Die Verpflichtung, einen bestandskräftigen Verwaltungsakt erneut zu überprüfen, könne bestehen, wenn sich zwischenzeitlich seine Unvereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht herausgestellt habe, sofern der Betroffene den Verwaltungsakt unter Berufung auf das Gemeinschaftsrecht angefochten habe, das Gericht die Klage aber - ohne die Herbeiführung einer nach Art. 234 EG gebotenen Vorabentscheidung - abgewiesen habe. Dies habe der Kläger versäumt, so dass auch gemeinschaftsrechtlich kein Rücknahmeanspruch bestehe. Auch bei der Ausübung des Ermessens nach § 48 LVwVfG sei zu berücksichtigen, dass der Kläger die Ausweisungsverfügung nicht mit Rechtsbehelfen angegriffen und sie so der Überprüfung einer Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht zugeführt habe. Demnach bestehe keine Veranlassung, die Ausweisungsentscheidung zurückzunehmen.
14 
Am 11 10.2008 hat der Kläger Klage erhoben mit dem Antrag, den Beklagten unter Aufhebung seiner Verfügung vom 27.09.2006 zu verpflichten, die Ausweisungsverfügung vom 12.11.1998 zurückzunehmen, hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, das Ausweisungsverfahren wieder aufzugreifen und hierüber unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
15 
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat seine Ermessenserwägungen ergänzt. Er führt aus, es könne unterstellt werden, dass dem Kläger als Kind eines türkischen Arbeitnehmers ein besonderer Ausweisungsschutz zugestanden habe, so dass seine hilfsweise Ausweisung aus generalpräventiven Gründen unter Zugrundelegung der heutigen höchstrichterlichen Rechtsprechung als materiell rechtswidrig anzusehen sei. Eine formelle Rechtswidrigkeit liege hingegen nicht vor. Der Umstand, dass der Kläger trotz Befristung der Sperrwirkungen der Ausweisung und Abschiebung nur noch zu Besuchszwecken einreisen dürfe, könne zu keinem anderen Ergebnis führen. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass die Rechte aus Art. 6, 7 ARB 1/80 bei längerfristiger Ausreise erlöschen könnten. Es werde nicht verkannt, dass der in Deutschland geborene und aufgewachsene Kläger auch im Hinblick auf seine familiären Bindungen ein besonderes persönliches Interesse daran habe, sich dauerhaft hier aufhalten zu können. Entscheidend gegen eine Rücknahme spreche aber, dass die Ausweisungsentscheidung nicht offensichtlich rechtswidrig gewesen sei und dass selbst unter Anwendung der heutigen Maßstäbe der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine fehlerfreie Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen möglich gewesen wäre. Der Kläger habe über mehrere Jahre Straftaten von erheblicher Schwere begangen und sich frühere Verurteilungen nicht als Warnung dienen lassen. Die Straftaten könnten auch nicht als jugendliche Verfehlungen gesehen werden, zumal sie vor dem Hintergrund einer nicht unerheblichen langjährigen Drogenabhängigkeit zu sehen seien, so dass man im Ausweisungszeitpunkt von einer gesteigerten Wiederholungsgefahr habe ausgehen dürfen. Der Kläger sei damals bereits 21 Jahre alt gewesen und habe über keine besonderen Bindungen verfügt. Die Drogensucht und die Straffälligkeit des Klägers belegten seine fehlende Integration. Die entfallene Wiederholungsgefahr sei bereits im Rahmen der Befristungsentscheidung berücksichtigt worden. Das Festhalten an der Bestandskraft der Ausweisung sei auch unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers mit Art. 8 EMRK vereinbar.
16 
Das Verwaltungsgericht Freiburg hat die Klage mit Urteil vom 13.06.2008 als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe weder einen Anspruch auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 12.11.1998, noch auf Neubescheidung seines Rücknahmebegehrens. Die Ausweisungsverfügung sei zwar zum Zeitpunkt ihres Erlasses materiell rechtswidrig gewesen, weil das Regierungspräsidium Freiburg zu Unrecht davon ausgegangen sei, das der Kläger wegen seiner Inhaftierung nicht mehr über die zuvor bestehende Rechtsposition aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 verfügt habe, weshalb kein besonderer Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 angenommen und die Ausweisung auch generalpräventiv begründet worden sei. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des EuGH berühre indes auch eine längere Strafhaft die Rechte aus Art. 6 und 7 ARB 1/80 nicht, zudem lasse das Gemeinschaftsrecht nur eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen zu. Aus der Rechtswidrigkeit der Ausgangsverfügung folge jedoch kein Anspruch auf deren Rücknahme. Der Behörde sei insoweit Ermessen eingeräumt. Ein Anspruch bestehe nur bei einer Ermessensreduzierung auf Null, die hier nicht gegeben sei. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Neubescheidung seines Antrags auf Rücknahme der Ausweisungsentscheidung. Ermessensfehler seien nicht ersichtlich.
17 
Auf Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 01.09.2008 die Berufung zugelassen. Zur Begründung der Berufung trägt der Kläger im Wesentlichen vor: Nach der Rechtsprechung des EGMR seien die seiner Ausweisung zugrunde liegenden Straftaten nicht als so gewichtig anzusehen, dass sie bei einem in Deutschland geborenen und bis zur Ausweisung in Deutschland aufgewachsenen jungen Erwachsenen als Grundlage für die Ausweisung herangezogen werden dürften. Die Drogenabhängigkeit sei nach Auffassung des EGMR vorrangig durch Therapie und nicht durch Ausweisung zu bekämpfen. Neben der formellen und materiellen Rechtswidrigkeit sei auch die dauerhafte Wirkung der Ausweisungsverfügung zu berücksichtigen. Diese stelle sich für ihn als eine lebenslängliche Entfernung aus dem als Heimat empfundenen Land dar. Die Befristung verhelfe ihm allenfalls zu Besuchsvisa, eine dauerhafte Rückkehr sei ihm verwehrt. Diese Aspekte machten das Ergebnis der angefochtenen Ermessensentscheidung schlechthin unerträglich. Sein Wohnort in der Türkei sei ein kleines Dorf, welches etwa 30 km von der Kreisstadt Pazarcik entfernt liege. Als Wohnraum stehe ihm ein Zimmer zur Verfügung. Er lebe allein. Nähere Familienangehörige habe er in der Türkei nicht. Nach seiner Abschiebung habe er zunächst den Wehrdienst absolviert. Danach sei er bis 2003 als Tagelöhner in der Landwirtschaft, auf Baustellen und für eine Saison auch als Kellner in einem der Touristikzentren beschäftigt gewesen. Krankenversichert sei er seit Oktober 2004, als er als Saisonarbeiter in einer Baumwollfabrik beschäftigt wurde. Arbeit in dieser Fabrik gebe es zwar nur für ein bis drei Monate im Jahr; die damit verbundene Krankenversicherung sei jedoch das ganze Jahr über gültig. In den übrigen Zeiten verdinge er sich weiterhin als Tagelöhner in der Landwirtschaft. Sein Einkommen genüge für eine sehr bescheidene Existenz. Unterstützt werde er zusätzlich durch gelegentliche Geldüberweisungen seines in Deutschland lebenden Bruders ... .... Er habe sich trotz seines inzwischen zehnjährigen Aufenthaltes in der Türkei nicht einleben können. Er denke und fühle wie seine in Deutschland verbliebenen Geschwister deutsch. Die türkische Kultur sei ihm fremd. Seine Grundstimmung sei depressiv. Drei Versuche, ein Besuchervisum zu erhalten, seien erfolglos geblieben. Aus Sicht der deutschen Auslandsvertretung habe wegen seiner fehlenden Verwurzelung in der Türkei keine hinreichende Rückkehrbereitschaft bestanden. Geschmerzt habe ihn insbesondere, dass er seinen Vater vor dessen Tod im Mai 2008 nicht mehr habe besuchen können.
18 
Der Kläger beantragt,
19 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 13.06.2008 - 5 K 1766/06 - zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides des Regierungspräsidiums Freiburg vom 27.09.2006 zu verpflichten, dessen Ausweisungsverfügung vom 12.11.1998 zurückzunehmen;
20 
Der Beklagte beantragt,
21 
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
22 
Zur Begründung verweist er auf die angefochtene Verfügung vom 27.09.2006, sein bisheriges Vorbringen sowie das angefochtene Urteil und trägt ergänzend vor: Der Kläger sei nicht als Minderjähriger ausgewiesen und abgeschoben worden. Die letzte Verurteilung sei zwar nach Jugendstrafrecht erfolgt, der Kläger sei zum damaligen Zeitpunkt aber bereits erwachsen gewesen.
23 
Der Kläger ist in der Berufungsverhandlung angehört worden und hat ergänzend angegeben: Er lebe in der Türkei bei der Familie seines Onkels mütterlicherseits, der letztes Jahr verstorben sei. Er habe diese Leute kaum gekannt, weil er lediglich als Kleinkind dreimal im Urlaub dort gewesen sei. Sie hätten ihm in dem Dorf einen Abstellraum in einer Art Scheune als Schlafplatz zur Verfügung gestellt. Eine Freundin habe er nicht. Er sei in dem Dorf ein Außenseiter, auch gegenüber den Verwandten komme er sich wie ein Bittsteller vor. Die engsten Kontakte unterhalte er zu seinen älteren Brüdern, die in Deutschland lebten und zwischenzeitlich deutsche Staatsbürger seien. Nach dem Militärdienst sei er an Gelbsucht erkrankt und habe nicht angemessen behandelt werden können, weil er damals nicht krankenversichert gewesen sei. Bei einer Rückkehr nach Deutschland könne er bei seinem Bruder ... ... unterkommen. Er wolle sich auch Arbeit suchen, am liebsten in der Metallverarbeitung. In dem Dorf, in dem er gelebt habe, habe es keine Möglichkeit gegeben, einen Beruf zu erlernen. Anderswo in der Türkei habe er nicht Fuß fassen können. Er spreche neben deutsch einigermaßen kurdisch; sein türkisch sei nicht so gut. Für eine Saison sei er an der Südküste im Raum Antalya gewesen, um im Tourismus zu arbeiten. Er sei jedoch mit dem Geschäftsgebaren in der Tourismusbranche, welches nur darauf ausgerichtet sei, die Touristen zu übervorteilen und den größtmöglichen Profit zu erzielen, nicht zurechtgekommen. Dies habe ihn abgestoßen, so dass er es vorgezogen habe, bei der Verwandtschaft auf dem Dorf zu bleiben.
24 
Dem Senat liegen die einschlägigen Akten des Beklagten und des Verwaltungsgerichts Freiburg vor. Hierauf sowie auf die Gerichtsakten wird wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
I.
25 
Die Berufung ist nach Zulassung durch den Senat statthaft und auch sonst zulässig. Die Berufungsbegründungsschrift wurde form- und fristgemäß beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht (vgl. § 124 a Abs. 6 Satz 1 und 2 VwGO) und entspricht auch inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen (bestimmter Antrag, ausreichende Begründung; vgl. § 124 a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 Satz 4 VwGO). Gegenstand der uneingeschränkt zugelassenen Berufung ist allein der in erster Instanz mit dem Hauptantrag verfolgte Anspruch auf Rücknahme der Ausweisung, nachdem der Kläger in der Berufungsverhandlung klargestellt hat, das vor dem Verwaltungsgericht hilfsweise geltend gemachte Begehren auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht weiter zu verfolgen.
II.
26 
Die Berufung ist auch begründet. Über die zulässige Verpflichtungsklage, für die dem Kläger ein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite steht (unten 1.), ist unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw., soweit es um die Frage der Rechtswidrigkeit der Ausweisung geht, unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung zu entscheiden (unten 2.). Die Ausweisung erweist sich als rechtswidrig, so dass das Rücknahmeermessen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnet ist (unten 3.). Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme der Ausweisung, weil deren Aufrechterhaltung ihn schwer und unerträglich hart trifft und daher das Rücknahmeermessen auf Null reduziert ist (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO; unten 4.).
27 
1. Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig. Insbesondere besteht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, weil die Ausweisung trotz der bereits 2002 erfolgten Befristung ihrer gesetzlichen Wirkungen in Bezug auf das Recht des Klägers, in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten, weiterhin belastende Regelungswirkungen entfaltet. Wird sie rückwirkend aufgehoben, lebt die Rechtsstellung des Klägers aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 wieder auf und ihm ist auf entsprechenden Antrag eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG auszustellen. Der Vater des Klägers hat dem regulären Arbeitsmarkt angehört. Der in Deutschland geborene Kläger, der bis zum 30.08.1997 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war, deren Verlängerung er rechtzeitig beantragt hatte, hat mit seinem Vater mehr als fünf Jahre in häuslicher Gemeinschaft gelebt, so dass die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllt sind (vgl. zur Geltung des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 entsprechend für ein Kind, das im Mitgliedstaat geboren ist und stets dort gewohnt hat: EuGH, Urt. v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya] - Slg. 2004, I-10895 = InfAuslR 2005, 13). Seine Volljährigkeit im Zeitpunkt der Ausweisung änderte an der unmittelbar aus dem ARB 1/80 folgenden Rechtsposition ebenso wenig etwas, wie die ab 23.07.1998 erfolgte Verbüßung von Strafhaft (zu diesen Einzelheiten des Aufenthaltsrechts nach Art. 7 ARB 1/80 vgl. EuGH, Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03 [Aydinli] - Slg. 2005, I-6181 = InfAuslR 2005, 352; ferner EuGH, Urt. v. 16.01.2006 - C-502/04 [Torun] - Slg. 2006, I-1563 = InfAuslR 2006, 209). Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 vermittelt im Ergebnis ein Daueraufenthaltsrecht, da die Rechtsposition nach dieser Vorschrift nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften nur unter zwei Voraussetzungen beschränkt werden darf: Entweder stellt die Anwesenheit des Assoziationsberechtigten im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. EuGH, Urt. v. 16.03.2000 - C-329/97 [Ergat] - Slg. 2000, I-1487 Rn. 45, 46 und 48 und Urt. v. 18.12.2008 - C-337/07 [Altun] - NVwZ 2009, 235 Rn. 62). Dabei ist grundsätzlich vom abschließenden Charakter der beiden genannten Verlustgründe auszugehen (BVerwG, Urt. v. 09.08.2007 - 1 C 47.06 - BVerwGE 129, 162 Rn. 15 und Urt. v. 30.04.2009 - 1 C 6.08 - NVwZ 2009, 1162 Rn. 24). Daraus folgt, dass ein gemäß Art. 7 ARB 1/80 assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger sein Aufenthaltsrecht nicht allein deshalb verlieren kann, weil er wegen der Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe keine Beschäftigung ausgeübt hat und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stand; denn die Rechtsstellung der in Art. 7 ARB 1/80 genannten Familienangehörigen hängt nicht von der Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ab (EuGH, Urt. v. 25.09.2008 - C-453/07 [Er] - NVwZ 2008, 1337 Rn. 31 f.; BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 - 1 C 6.08 - a.a.O.). Hier ist die Rechtsstellung durch das Verlassen des Bundesgebiets und den mittlerweile zehnjährigen Aufenthalt des Klägers in der Türkei nicht erloschen, weil er nicht freiwillig aus einem berechtigten Grund ausgereist ist, sondern aufgrund einer nicht vom Vorbehalt nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gedeckten rechtswidrigen Ausweisung (siehe unten 3. c)) gegen seinen Willen abgeschoben wurde und nach Absolvierung des Militärdienstes kontinuierlich von allen rechtlich in Betracht kommenden Möglichkeiten zur Wiedererlangung seines Aufenthaltsrechts Gebrauch gemacht hat. Er hat konsequent seine Rückkehr nach Deutschland betrieben und zu keinem Zeitpunkt zu erkennen gegeben, dauerhaft in der Türkei bleiben zu wollen.
28 
2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage des mit der Verpflichtungsklage geltend gemachten Anspruchs auf Rücknahme einer bestandskräftigen Ausweisungsverfügung ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. - wenn die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergeht - der Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird (BVerwG, Urteil v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367 = InfAuslR 2008, 116 = NVwZ 2008, 326 = EZAR NF 48 Nr. 9). Abweichend hiervon kommt es für die im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG entscheidungserhebliche Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der bestandskräftig gewordenen Ausweisung auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung an (siehe unten 3. b)).
29 
3. a) Die Rücknahme einer Ausweisung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ist neben der Befristung ihrer gesetzlichen Wirkungen gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 bis 6 AufenthG bzw. § 7 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU möglich; denn die Rechtsgrundlagen von Rücknahme und Befristung unterscheiden sich sowohl in den Voraussetzungen als auch in den Rechtsfolgen (BVerwG, Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140 <143>; Senatsurteil vom 19.12.2008 - 11 S 1453/07 - VBlBW 2009, 274).
30 
b) Die Rücknahmevoraussetzung der Rechtswidrigkeit i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ist grundsätzlich dann gegeben, wenn der Verwaltungsakt, um dessen Aufhebung gestritten wird, zum Zeitpunkt seines Erlasses einer Rechtsgrundlage entbehrte (BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367 = InfAuslR 2008, 116 = NVwZ 2008, 326 = EZAR NF 48 Nr. 9; Beschl. v. 07.07.2004 - 6 C 24.03 - BVerwGE 121, 226 <229> m.w.N.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.01.2007 – 13 S 451/06 - InfAuslR 2007, 182 = EZAR NF 93 Nr. 3). Da der Kläger die Ausweisung nicht angefochten hatte, steht § 121 VwGO ihrer gerichtlichen Inzidentprüfung im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG nicht entgegen (vgl. dazu Senatsurteil vom 30.04.2008 - 11 S 759/06 - VBlBW 2009, 32).
31 
c) Die Ausweisung war zum Zeitpunkt ihres Erlasses sowohl formell als auch materiell rechtswidrig.
32 
aa) In formeller Hinsicht wurde die Verfahrensvorschrift des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nicht beachtet. Diese Vorschrift ist vorliegend anzuwenden, da die Richtlinie 64/221/EWG durch die Richtlinie 2004/38/EG erst mit Wirkung vom 30.04.2006 (vgl. Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG) aufgehoben wurde. Die formelle Rechtmäßigkeit von Verfügungen gegen den von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erfassten Personenkreis ist nach dem Grundsatz des intertemporalen Verwaltungsverfahrensrechts, dass neues Verfahrensrecht auf abgeschlossene Verwaltungsverfahren keine Anwendung findet, nach der Rechtslage zur Zeit der letzten Behördenentscheidung zu prüfen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.10.2006 – 13 S 192/06 – InfAuslR 2007, 49 = EZAR NF 19 Nr. 18).
33 
In Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige wurde - außer in dringenden Fällen - Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG verletzt, wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfand noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wurde (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2005 – 1 C 7.04 – BVerwGE 124, 217 = InfAuslR 2006, 110 = NVwZ 2006, 472 = EZAR NF 40 Nr. 1). Die zweite Stelle musste dabei, wie sich aus der Rechtssprechung des EuGH ergibt, eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist (EuGH, Urt. v. 29.04.2004 – Rs. C-482/01 und C-493/01 [Orfanopoulos und Oliveri] – Slg. 2004, I-5257 = InfAuslR 2004, 268 = NVwZ 2004, 1099 = EZAR 810 Nr. 14; Senatsurteil vom 19.12.2008 - 11 S 1453/07 - a.a.O.). Daran hat es hier gefehlt, weil die Ausweisung vom Regierungspräsidium Freiburg ohne Einschaltung einer zweiten zuständigen Stelle verfügt wurde, so dass das in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG verankerte Vier-Augen-Prinzip nicht gewahrt war.
34 
Es lag auch kein dringender Fall vor, der die Einschaltung einer zweiten unabhängigen Stelle entbehrlich gemacht hätte. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 13.09.2005 - 1 C 7.04 -, a.a.O.) ist das Merkmal der Dringlichkeit als Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit „besonders eng auszulegen“; ein dringender Fall kann erst dann angenommen werden, wenn ein Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung nicht zu verantworten ist, etwa weil die begründete Besorgnis besteht, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des „Hauptverfahrens“ realisieren. Die Verzögerung durch Einschaltung einer zweiten Behörde ist dann nicht hinnehmbar. Daher genügt für die Annahme eines dringenden Falles nicht, dass die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet hat. Vielmehr muss (vergleichbar den Anforderungen aus § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO für die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) ein besonderes öffentliches Interesse daran festgestellt werden, das „Hauptverfahren“ nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer „weiteren, unmittelbar drohenden erheblichen Gefährdung“ der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen. Daran gemessen lag kein dringender Fall vor. Der Kläger befand sich zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung in Haft, aus der heraus er später in die Türkei abgeschoben wurde. Zudem hatte die Ausländerbehörde nicht einmal - was im Übrigen nicht genügen würde - die sofortige Vollziehung angeordnet.
35 
bb) Materiell stand die Ausweisung nicht mit Art. 14 ARB 1/80 in Einklang. Da die in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehene Ausnahme der öffentlichen Ordnung ebenso auszulegen ist wie die gleiche Ausnahme im Bereich der Freizügigkeit von Unionsbürgern (EuGH, Urt. v. 20.02.2000 - C-340/97 [Nazli] - Slg. 2000, I-957 = InfAuslR 2000, 161; Urt. v. 11.11.2004 - C-467/02 [Cetinkaya] - Slg 2004, I-10895 = InfAuslR 2005, 13), durfte der Kläger als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger nur ausgewiesen werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorlag, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. zu diesem Maßstab EuGH, Urt. v. 28.10.1975 - 36/75 [Rutili] - Slg. 1975, 1219 = DÖV 1976, 129; Urt. v. 18.05.1989 - 249/86 [Kommission/Deutschland] - Slg. 1989, 1263; Urt. v. 19.01.1999 - C-348/96 [Calfa] - Slg 1999, I-11 = InfAuslR 1999, 165), wobei eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit eine Ausweisung rechtfertigen kann, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung darstellt (z.B. EuGH, Urt. v. 20.02.2000 - C-340/97 [Nazli] - a.a.O.). Die Frage, ob die Begehung einer Straftat ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilen. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung besagt nicht, dass eine "gegenwärtige Gefahr" im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine hinreichende - unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende - Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird. Für die Beantwortung der Frage, ob dies der Fall ist, sind insbesondere die einschlägigen strafrichterlichen Entscheidungen heranzuziehen, soweit sie für die Prüfung der Wiederholungsgefahr bedeutsam sind. Zu prüfen ist auch, ob eine Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Assoziationsberechtigte künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdenden Straftaten mehr begehen wird (vgl. zu alledem BVerwG, Urt. v. 03.08.2004 - 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 = InfAuslR 2005, 18 m.w.N.). Dabei können und müssen das Maß der Einsicht in das begangene Unrecht und die Aufarbeitung der Tat in die vorzunehmende Prognoseentscheidung einfließen. Bei der Entscheidung ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren (EuGH vom 29.04.2004 - C-482/01 u. C-493/01 [Orfanopoulos und Oliveri] - Slg. 2004, I-5257 = InfAuslR 2004, 268 = NVwZ 2004, 1099 = EZAR 810 Nr. 14), der eine Einzelfallwürdigung insbesondere auch der durch Art. 8 EMRK geschützten Rechtspositionen verlangt.
36 
Dieser Maßstab wird hier durch Art. 28 RL 2004/38/EG ungeachtet der offenen Frage, ob diese Vorschrift auf assoziationsberechtigte Türken anwendbar ist (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Vorlagebeschluss vom 22.07.2008 - 13 S 1917/07 - InfAuslR 2008, 439; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 25.08.2009 - 1 C 25.08 -), schon deshalb nicht modifiziert, weil die Ausweisung, um deren Rücknahme es geht, vor dem 01.05.2006 bestandskräftig wurde und daher das erhöhte Schutzniveau des Art. 28 Abs. 2 und 3 RL 2004/38/EG hier nicht zu beachten ist. Die erhöhten Anforderungen nach dieser Vorschrift sind nur bei Ausweisungen zu beachten, bei denen der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach dem 30.04.2006 liegt (vgl. EuGH, Urt. v. 04.10.2007 – C-349/06 [Polat] – Slg. 2007, I-08167 Rdn. 26 f. = InfAuslR 2007, 425 = NVwZ 2008, 59 = EZAR NF 19 Nr. 22; BVerwG, Urt. v. 03.12.2008 - 1 C 35.07 - NVwZ 2009, 326).
37 
Vorliegend war Anlass der Ausweisung die Verurteilung des Klägers zu einer Jugendstrafe wegen Hausfriedensbruchs in zwei Fällen und versuchten Diebstahls. Bei diesen Straftaten handelt es sich wie bei den vorangegangenen Verurteilungen um Fälle der mittleren Kriminalität, die sämtlich nach Jugendstrafrecht abgeurteilt worden sind. Nach der Rechtsprechung des Senats liegt bei den in Frage stehenden Delikten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vor, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wenn diese Delikte - insbesondere Diebstahl und Hehlerei - gehäuft auftreten und gewerbsmäßig begangen werden oder sonstige erschwerende Umstände vorliegen (Senatsurteile vom 10.09.2003 - 11 S 973/03 - EzAR 037 Nr. 8 und vom 23.07.2008 - 11 S 2889/07 - InfAuslR 2008, 429). Daran gemessen lag hier eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, nicht vor. Eine Häufung von der Beschaffungskriminalität zuzuordnenden Delikten vermag der Senat entgegen der Auffassung des Beklagten nicht festzustellen. Zwischen der letzten Tat und der zuvor begangenen lag ein - gemessen am damaligen Alter des Klägers - relativ langer straffreier Zeitraum von über drei Jahren. Bei den mit Urteilen vom 22.06.1994 und vom 08.03.1995 abgeurteilten Straftaten handelte es sich zudem um jugendtypische Verfehlungen, die nicht eindeutig mit dem Drogenkonsum des Klägers in Verbindung standen, da eine Drogenabhängigkeit nach den strafgerichtlichen Feststellungen zweifelsfrei erst ab 1997 vorlag. Insgesamt handelte es sich um Fälle des einfachen Diebstahls und der einfachen Hehlerei, die Schadenssummen waren nicht besonders hoch (vgl. zu diesem Aspekt BVerwG, Urt. v. 02.09.2009 - 1 C 2.09 - juris) und der Kläger war nicht derart gehäuft straffällig geworden, dass aus diesem Grund eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung hätte angenommen werden können. Zwar war mit Blick auf die damals unbewältigte Drogenproblematik eine gewisse Wiederholungsgefahr in Bezug auf die Begehung weiterer Eigentums- und/oder Vermögensdelikte nicht von der Hand zu weisen, doch war diese nicht derart hoch, dass die konkrete Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Ordnung hätte prognostiziert werden können.
38 
cc) War die Ausweisung bereits gemessen an Art. 14 ARB 1/80 materiell rechtswidrig, so gilt dies erst recht, wenn man Art. 8 EMRK mit in den Blick nimmt.
39 
(1) Die Ausweisung griff nicht nur in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens, sondern auch in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK ein. Bei Beziehungen zwischen nahen Verwandten außerhalb der klassischen Kleinfamilie kommt es darauf an, ob die tatsächlich bestehenden Bindungen hinreichend für die Annahme einer familiären Beziehung sind. Beziehungen zwischen Erwachsenen unterliegen nicht notwendig dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Ausprägung als Recht auf Achtung des Familienlebens. Es müssen besondere zusätzliche Aspekte der Abhängigkeit hinzutreten, die weiter reichen als normale affektive Beziehungen (EGMR, Urt. v. 17.04.2003 - Nr. 52853/99 [Yilmaz] - NJW 2004, 2147 Rn. 44 m.w.N.; Urt. v. 15.07.2003 - Nr. 52206/99 [Mokrani] - InfAuslR 2004, 183; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl., § 22 Rn. 18 m.w.N.). Art. 8 EMRK vermittelt insoweit grundsätzlich keinen weitergehenden Schutz als Art. 6 GG bei familiären Beziehungen unter Volljährigen. Bei jungen Erwachsenen, die nach Erreichen der Volljährigkeit weiterhin mit ihren Eltern in häuslicher Gemeinschaft leben, geht der EGMR allerdings davon aus, dass auch ihre Beziehung zu den Eltern und anderen nahen Familienmitgliedern Familienleben darstellt und aufenthaltsbeendende Maßnahmen daher auch in das Recht auf Achtung des Familienlebens eingreifen (Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - InfAuslR 2008, 333). Hier hat der Kläger bis zu seiner Inhaftierung mit seinem Vater und den älteren Geschwistern in häuslicher Gemeinschaft gelebt.
40 
(2) Das ebenfalls betroffene Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind (vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2003 - 48321/99 [Slivenko] - EuGRZ 2006, 560 <561> Rn. 96) und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07 – BVerfGK 11, 153 = InfAuslR 2007, 275 m.w.N.; Hoppe, ZAR 2006, 125 <130>). Die Gesamtheit der sozialen Beziehungen und der Gemeinschaft bildet einen Teil des Privatlebens i.S.v. Art. 8 EMRK.
41 
(3) Der Eingriff in die Rechte des Klägers aus Art. 8 Abs. 1 EMRK war unverhältnismäßig.
42 
Ein Eingriff in die Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK muss gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme darstellen, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (vgl. EGMR, Urt. v. 18.02.1991 - 31/1989/191/291 [Moustaquim] - EuGRZ 1993, 552 <554>; BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07 - BVerfGK 11, 153 = InfAuslR 2007, 275; BVerwG, Urt. v. 09.12.1997 - 1 C 19.96 - BVerwGE 106, 13 <21> m.w.N.). Dabei ist die Befristung der Ausweisungswirkungen nur eines von mehreren Kriterien im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07 - a.a.O.; EGMR, Urteil vom 22.03.2007 - 1638/03 [Maslov I] - InfAuslR 2007, 221). Vorrangig ist im Hinblick auf die konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob die Ausweisung überhaupt - unabhängig von einer Befristung - dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entspricht (BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07 - a.a.O.). Dies gilt umso mehr, wenn die Ausweisung ein Daueraufenthaltsrecht vernichtet und - wie hier - dem Kläger auch bei einer Befristung der Wirkungen der Ausweisung eine dauerhafte Rückkehr versagt bleibt. Erforderlich ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Beachtung der vom EGMR entwickelten Kriterien, die im Wesentlichen in den Entscheidungen Boultif und Üner zusammengefasst worden sind (EGMR, Urt. v. 02.08.2001 - Nr. 54273/00 [Boultif] - InfAuslR 2001, 476; Urt. v. 05.07.2005 - Nr. 46410/99 [Üner] - InfAuslR 2005, 450 = DVBl 2006, 688). Dabei kommt es zunächst auf den jeweiligen Grad der „Verwurzelung“ an; je stärker der Betroffene im Aufenthaltsstaat integriert ist, desto schwerer müssen die öffentlichen Interessen wiegen. Weiter ist auf den Grad der „Entwurzelung“ abzustellen, d. h. auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Reintegration im Herkunftsstaat, insbesondere aufgrund der Vertrautheit mit den dortigen Verhältnissen und den dort lebenden und aufnahmebereiten Verwandten. Schließlich können im Rahmen der Schrankenprüfung sonstige Faktoren Berücksichtigung finden, etwa ob der Aufenthalt des Betroffenen zumindest vorübergehend legal war und damit - i.S. einer „Handreichung des Staates“ - schutzwürdiges Vertrauen auf ein Hierbleibendürfen entwickelt werden konnte.
43 
Daran gemessen war die Ausweisung hier unverhältnismäßig. Bis zu seiner Abschiebung im Jahre 1999 verbrachte der Kläger sein gesamtes Leben in der Deutschland, er besuchte hier die Schule, erreichte den Hauptschulabschluss und verfügte über ein Daueraufenthaltsrecht. Sein gesamtes soziales Umfeld befand sich ebenfalls in Deutschland. Nähere Beziehungen zur Türkei, die über die eines Urlaubslandes hinausgingen, hatte er nicht. Die türkische Sprache beherrschte er kaum, da in seiner Familie deutsch und kurdisch gesprochen wurde. Auch wenn die Familienverhältnisse zerrüttet waren, so lebten die nächsten Familienangehörigen - neben seinem Vater auch seine Geschwister und Halbgeschwister - ebenfalls im Bundesgebiet und hatten - wie er - ein assoziationsrechtliches, verfestigtes Aufenthaltsrecht. Demnach war bei dem Kläger von einer weitreichenden „Verwurzelung“ einerseits und von einer vollständigen „Entwurzelung“ andererseits auszugehen.
44 
Bei Art und Schwere der der Ausweisung zugrunde liegenden Straftaten war zu berücksichtigen, dass der Kläger ausschließlich nach Jugendstrafrecht, zuletzt als Heranwachsender, verurteilt worden war (vgl. EGMR, Urt. v. 17.04.2003 - Nr. 52853/99 [Yilmaz] - NJW 2004, 2147 und Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - InfAuslR 2008, 333). Von Bedeutung ist auch, dass er nicht wegen Verbrechen, nicht wegen Betäubungsmitteldelikten und nicht wegen Gewaltdelikten verurteilt wurde (vgl. EGMR, Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - a.a.O.). Mit Blick darauf, dass der im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Kläger die für sein Familien- und Privatleben nach Art. 8 EMRK konstitutiven Bindungen und sein Daueraufenthaltsrecht unwiederbringlich verlor, war seine Ausweisung nicht gerechtfertigt. Den für eine Ausweisung sprechenden Gründe kam, selbst wenn man mit dem Beklagten von einer gewissen Wiederholungsgefahr ausgehen wollte, kein überragendes Gewicht zu (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - a.a.O.; EGMR, Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - a.a.O.).
45 
4. Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme der Ausweisung, weil deren Aufrechterhaltung ihn schwer und unerträglich hart trifft und daher das Rücknahmeermessen auf Null reduziert ist.
46 
Im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG besteht im Hinblick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit einerseits und das der Rechtssicherheit andererseits nur ausnahmsweise ein Rücknahmeanspruch; die Aufrechterhaltung des Bescheides muss dann „schlechthin unerträglich“ sein. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen. Darüber hinaus vermag die offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts, die sich zum Zeitpunkt des Erlasses beurteilt, die Annahme zu rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - a.a.O. m.w.N.; Discher in GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 1773.7 m.w.N.). Auch außerhalb dieser Fallgruppen kommt eine Ermessensreduzierung auf Null in Betracht, wenn ein Aufrechterhalten des Verwaltungsakts schlechthin unerträglich ist (BVerwG, Urt. v. 30.01.1974 - VIII C 20.72 - BVerwGE 44, 333 <336>; BVerwG, Beschl. v. 22.10.1984 - 8 B 56.84 - NVwZ 1985, 265; BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - a.a.O.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 31.01.1989 - 9 S 1141/88 - NVwZ 1989, 882; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl., § 48 Rn. 79; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., § 48 Rn. 85).
47 
a) Anhaltspunkte für eine gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßende unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis sind nicht ersichtlich. Der Vertreter des Beklagten hat in der Berufungsverhandlung dargelegt, dass in den übrigen vom Regierungspräsidium Freiburg in den vergangenen Jahren entschiedenen Fällen jeweils § 121 VwGO dem geltend gemachten Rücknahmeanspruch entgegenstand und dass es sich bei dem vorliegenden Fall um den einzigen handelt, bei dem es um eine ohne gerichtliche Überprüfung bestandskräftig gewordene Ausweisungsverfügung geht. Eine Verwaltungspraxis, an die der Beklagte über Art. 3 Abs. 1 GG gebunden wäre, existiert somit nicht.
48 
b) Es sind auch keine Umstände erkennbar, die die Berufung des Beklagten auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen.
49 
c) Die Ausweisung war des weiteren nicht offensichtlich rechtswidrig. Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit ist dann gegeben, wenn an dem Verstoß der streitigen Maßnahme gegen formelles oder materielles Recht vernünftigerweise kein Zweifel besteht und sich deshalb die Rechtswidrigkeit aufdrängt. Hierbei ist maßgeblich auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisung abzustellen. Eine spätere Klärung der Rechtsfrage und die damit eintretende Evidenz desselben bleiben außer Betracht (BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - a.a.O.; Urt. v. 17.01.2007 - 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709; Beschl. v. 07.07.2004 - 6 C 24/03 - BVerwGE 121, 226 <229 ff.> m.w.N.). Hier war zum damaligen Zeitpunkt in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt, dass die Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar sind. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht erst mit Urteil vom 13.09.2005 (- 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217) entschieden. Ebensowenig war geklärt, dass Ansprüche nach Art. 7 ARB 1/80 durch Strafhaft nicht verloren gehen. Dass auch eine längere Strafhaft die Rechte aus Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 nicht berührt, hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften erst 2004 entschieden (vgl. Urt. v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya] - Slg. 2004, I-10895 = InfAuslR 2005, 13 und Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03 [Aydinli] - Slg. 2005, I-6181 = InfAuslR 2005, 352). Es war daher nicht offensichtlich rechtswidrig, dass bei Erlass der Ausweisung eine Privilegierung des Klägers nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 verneint wurde. Die Maßstäbe für die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Art. 8 EMRK bei im Inland geborenen jungen Erwachsenen sind ebenfalls erst später hinreichend präzisiert worden (BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - a.a.O.; EGMR, Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - a.a.O.), so dass auch insoweit eine offensichtliche Rechtswidrigkeit zu verneinen ist.
50 
d) Der Verstoß gegen die materiellen Schutzbestimmungen der EMRK begründet nur dann einen Rücknahmeanspruch, wenn der EGMR im konkreten Fall einen Verstoß gegen die EMRK festgestellt hat (Discher in GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. Rn. 763.1; VG Freiburg, Urt. v. 01.10.2007 - 1 K 893/06 - InfAuslR 2008, 252). Liegt eine auf die konkrete Ausweisung bezogene Entscheidung des EGMR nicht vor, führt ein Verstoß gegen die EMRK nicht bereits als solcher zu einer Reduzierung des Rücknahmeermessens auf Null (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 28.06.2007 - 13 S 1045/07 - VBlBW 2008, 68; Discher, a.a.O., Rn. 763.3).
51 
e) Das Aufrechterhalten der Ausweisung ist jedoch bei Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls schlechthin unerträglich.
52 
Auf dem Gebiet des Ausländerrechts ist eine Ermessensreduzierung auf Null in Betracht zu ziehen, wenn es um eine nicht lediglich formell rechtswidrige Ausweisung eines Ausländers der zweiten Generation geht, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, sich rechtmäßig hier aufgehalten und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht erworben hat und bei dem die Befristung der Wirkungen der Ausweisung mangels Rückkehrrecht ohne praktische Wirkung bleibt (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - a.a.O.). Dieser Personenkreis wird von einer Ausweisung besonders hart getroffen, was für sich genommen indes noch nicht zu einer Reduzierung des Rücknahmeermessens auf Null führen kann. Vielmehr müssen besondere Umstände des Einzelfalls hinzutreten, die die Aufrechterhaltung der Ausweisung als schlechthin unerträglich erscheinen lassen. Hierbei sind auch die aktuellen Lebensumstände des Ausländers mit in den Blick zu nehmen, soweit noch ein Ursachenzusammenhang mit der Ausweisung besteht. Ein solcher Kausalzusammenhang besteht nicht mehr, wenn einem ausgewiesenen Ausländer in seinem Herkunftsstaat zunächst die wirtschaftliche und soziale Wiedereingliederung gelingt und er später aus anderen Gründen - etwa einer schweren Wirtschaftskrise - in prekäre Lebensumstände gerät, die ihn veranlassen, seine Rückkehr nach Deutschland zu betreiben.
53 
Hier ist nach den Umständen des Einzelfalls die Aufrechterhaltung der Ausweisung schlechthin unerträglich, so dass das Rücknahmeermessen auf Null reduziert ist. Der Kläger ist ein in Deutschland geborener und aufgewachsener Ausländer der zweiten Generation, der sich durchgehend rechtmäßig in Deutschland aufgehalten, einen Schulabschluss erworben und ein Daueraufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 erlangt hat. Seine Ausweisung war nicht nur formell, sondern auch materiell rechtswidrig. Er wurde, wie oben ausgeführt wurde, unter Verstoß gegen Art. 14 ARB 1/80 und Art. 8 EMRK ausgewiesen. Entgegen der Auffassung des Beklagten wäre eine rechtsfehlerfreie Ausweisung nach den zwischenzeitlich in der Rechtsprechung entwickelten Maßstäben nicht möglich gewesen. Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung ist für den Kläger ohne jede praktische Wirkung geblieben. Sie hat er ihm nicht einmal ermöglicht, seine engsten Familienangehörigen, die inzwischen deutsche Staatsangehörige sind, hier besuchen können. Alle Anträge auf Besuchsvisa wurden abgelehnt, weil aufgrund seiner fehlenden Verwurzelung in der Türkei Zweifel an seiner Rückkehrwilligkeit bestanden. Trotz entsprechender Bemühungen ist dem Kläger in der Türkei eine Integration weder in wirtschaftlicher noch in gesellschaftlicher Hinsicht gelungen. Er hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat glaubhaft und in jeder Hinsicht überzeugend geschildert, dass er bei seinen Verwandten mütterlicherseits in sehr bescheidenen Verhältnissen ein Dasein am Rande des Existenzminimums fristet, ohne dort wirklich als gleichberechtigtes Familienmitglied aufgenommen worden zu sein, und dass es ihm auch außerhalb der Familie nicht gelungen ist, mehr als nur oberflächliche soziale Kontakte zu knüpfen. Seine engsten Bezugspersonen sind die in Deutschland lebenden Geschwister. Der Senat verkennt nicht, dass eine Vermutung dafür spricht, dass ein Ausländer nach einem zehnjährigen Aufenthalt in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit dort gewisse, ein Privatleben begründende Bindungen aufgebaut hat, die die Aufrechterhaltung dieses Zustandes im Regelfall nicht als unerträglich erscheinen lassen. Der Kläger hat diese Vermutung mit seinen Angaben in der Berufungsverhandlung (siehe oben) indes eindrucksvoll widerlegt. Er hat glaubhaft gemacht, dass das im Vordergrund stehende Rückkehrmotiv seine durch die Trennung von seinen engsten Familienangehörigen ausgelöste emotionale Vereinsamung ist.
54 
Schließlich kann dem Kläger nicht vorgehalten werden, seine Rückkehr nach Deutschland nicht konsequent genug betrieben und andere rechtliche Möglichkeiten zur Behebung seiner unerträglichen Lage nicht ausgeschöpft zu haben. Insbesondere wäre ein Weiterbetreiben des auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 37 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 AufenthG gerichteten Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht Berlin nicht erfolgversprechend gewesen, weil es nach der insoweit sehr restriktiven Rechtsprechung des zuständigen Oberverwaltungsgerichts an einer besonderen Härte im Sinne von § 37 Abs. 2 Satz 1 AufenthG fehlt, wenn der Ausländer nicht alles ihm Mögliche und Zumutbare unternommen hat, um die aus seiner Sicht ungerechtfertigte aufenthaltsbeendende Maßnahme zu beseitigen. Als möglich und zumutbar wird dabei die Durchführung eines auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und/oder Rücknahme gerichteten behördlichen und gerichtlichen Verfahrens angesehen (OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.04.2009 - 12 B 19.07 - juris). Es würde daher einen Zirkelschluss darstellen, wenn man umgekehrt im auf Rücknahme der Ausweisung gerichteten Verfahren das auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 37 AufenthG gerichtete Verfahren als vorgreiflich ansehen würde.
III.
55 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
56 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO erfüllt ist.
57 
Beschluss vom 4. November 2009
58 
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird nach §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
59 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
I.
25 
Die Berufung ist nach Zulassung durch den Senat statthaft und auch sonst zulässig. Die Berufungsbegründungsschrift wurde form- und fristgemäß beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht (vgl. § 124 a Abs. 6 Satz 1 und 2 VwGO) und entspricht auch inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen (bestimmter Antrag, ausreichende Begründung; vgl. § 124 a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 Satz 4 VwGO). Gegenstand der uneingeschränkt zugelassenen Berufung ist allein der in erster Instanz mit dem Hauptantrag verfolgte Anspruch auf Rücknahme der Ausweisung, nachdem der Kläger in der Berufungsverhandlung klargestellt hat, das vor dem Verwaltungsgericht hilfsweise geltend gemachte Begehren auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht weiter zu verfolgen.
II.
26 
Die Berufung ist auch begründet. Über die zulässige Verpflichtungsklage, für die dem Kläger ein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite steht (unten 1.), ist unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw., soweit es um die Frage der Rechtswidrigkeit der Ausweisung geht, unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung zu entscheiden (unten 2.). Die Ausweisung erweist sich als rechtswidrig, so dass das Rücknahmeermessen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnet ist (unten 3.). Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme der Ausweisung, weil deren Aufrechterhaltung ihn schwer und unerträglich hart trifft und daher das Rücknahmeermessen auf Null reduziert ist (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO; unten 4.).
27 
1. Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig. Insbesondere besteht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, weil die Ausweisung trotz der bereits 2002 erfolgten Befristung ihrer gesetzlichen Wirkungen in Bezug auf das Recht des Klägers, in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten, weiterhin belastende Regelungswirkungen entfaltet. Wird sie rückwirkend aufgehoben, lebt die Rechtsstellung des Klägers aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 wieder auf und ihm ist auf entsprechenden Antrag eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG auszustellen. Der Vater des Klägers hat dem regulären Arbeitsmarkt angehört. Der in Deutschland geborene Kläger, der bis zum 30.08.1997 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war, deren Verlängerung er rechtzeitig beantragt hatte, hat mit seinem Vater mehr als fünf Jahre in häuslicher Gemeinschaft gelebt, so dass die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllt sind (vgl. zur Geltung des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 entsprechend für ein Kind, das im Mitgliedstaat geboren ist und stets dort gewohnt hat: EuGH, Urt. v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya] - Slg. 2004, I-10895 = InfAuslR 2005, 13). Seine Volljährigkeit im Zeitpunkt der Ausweisung änderte an der unmittelbar aus dem ARB 1/80 folgenden Rechtsposition ebenso wenig etwas, wie die ab 23.07.1998 erfolgte Verbüßung von Strafhaft (zu diesen Einzelheiten des Aufenthaltsrechts nach Art. 7 ARB 1/80 vgl. EuGH, Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03 [Aydinli] - Slg. 2005, I-6181 = InfAuslR 2005, 352; ferner EuGH, Urt. v. 16.01.2006 - C-502/04 [Torun] - Slg. 2006, I-1563 = InfAuslR 2006, 209). Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 vermittelt im Ergebnis ein Daueraufenthaltsrecht, da die Rechtsposition nach dieser Vorschrift nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften nur unter zwei Voraussetzungen beschränkt werden darf: Entweder stellt die Anwesenheit des Assoziationsberechtigten im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. EuGH, Urt. v. 16.03.2000 - C-329/97 [Ergat] - Slg. 2000, I-1487 Rn. 45, 46 und 48 und Urt. v. 18.12.2008 - C-337/07 [Altun] - NVwZ 2009, 235 Rn. 62). Dabei ist grundsätzlich vom abschließenden Charakter der beiden genannten Verlustgründe auszugehen (BVerwG, Urt. v. 09.08.2007 - 1 C 47.06 - BVerwGE 129, 162 Rn. 15 und Urt. v. 30.04.2009 - 1 C 6.08 - NVwZ 2009, 1162 Rn. 24). Daraus folgt, dass ein gemäß Art. 7 ARB 1/80 assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger sein Aufenthaltsrecht nicht allein deshalb verlieren kann, weil er wegen der Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe keine Beschäftigung ausgeübt hat und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stand; denn die Rechtsstellung der in Art. 7 ARB 1/80 genannten Familienangehörigen hängt nicht von der Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ab (EuGH, Urt. v. 25.09.2008 - C-453/07 [Er] - NVwZ 2008, 1337 Rn. 31 f.; BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 - 1 C 6.08 - a.a.O.). Hier ist die Rechtsstellung durch das Verlassen des Bundesgebiets und den mittlerweile zehnjährigen Aufenthalt des Klägers in der Türkei nicht erloschen, weil er nicht freiwillig aus einem berechtigten Grund ausgereist ist, sondern aufgrund einer nicht vom Vorbehalt nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gedeckten rechtswidrigen Ausweisung (siehe unten 3. c)) gegen seinen Willen abgeschoben wurde und nach Absolvierung des Militärdienstes kontinuierlich von allen rechtlich in Betracht kommenden Möglichkeiten zur Wiedererlangung seines Aufenthaltsrechts Gebrauch gemacht hat. Er hat konsequent seine Rückkehr nach Deutschland betrieben und zu keinem Zeitpunkt zu erkennen gegeben, dauerhaft in der Türkei bleiben zu wollen.
28 
2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage des mit der Verpflichtungsklage geltend gemachten Anspruchs auf Rücknahme einer bestandskräftigen Ausweisungsverfügung ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. - wenn die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergeht - der Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird (BVerwG, Urteil v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367 = InfAuslR 2008, 116 = NVwZ 2008, 326 = EZAR NF 48 Nr. 9). Abweichend hiervon kommt es für die im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG entscheidungserhebliche Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der bestandskräftig gewordenen Ausweisung auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung an (siehe unten 3. b)).
29 
3. a) Die Rücknahme einer Ausweisung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ist neben der Befristung ihrer gesetzlichen Wirkungen gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 bis 6 AufenthG bzw. § 7 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU möglich; denn die Rechtsgrundlagen von Rücknahme und Befristung unterscheiden sich sowohl in den Voraussetzungen als auch in den Rechtsfolgen (BVerwG, Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140 <143>; Senatsurteil vom 19.12.2008 - 11 S 1453/07 - VBlBW 2009, 274).
30 
b) Die Rücknahmevoraussetzung der Rechtswidrigkeit i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ist grundsätzlich dann gegeben, wenn der Verwaltungsakt, um dessen Aufhebung gestritten wird, zum Zeitpunkt seines Erlasses einer Rechtsgrundlage entbehrte (BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367 = InfAuslR 2008, 116 = NVwZ 2008, 326 = EZAR NF 48 Nr. 9; Beschl. v. 07.07.2004 - 6 C 24.03 - BVerwGE 121, 226 <229> m.w.N.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.01.2007 – 13 S 451/06 - InfAuslR 2007, 182 = EZAR NF 93 Nr. 3). Da der Kläger die Ausweisung nicht angefochten hatte, steht § 121 VwGO ihrer gerichtlichen Inzidentprüfung im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG nicht entgegen (vgl. dazu Senatsurteil vom 30.04.2008 - 11 S 759/06 - VBlBW 2009, 32).
31 
c) Die Ausweisung war zum Zeitpunkt ihres Erlasses sowohl formell als auch materiell rechtswidrig.
32 
aa) In formeller Hinsicht wurde die Verfahrensvorschrift des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nicht beachtet. Diese Vorschrift ist vorliegend anzuwenden, da die Richtlinie 64/221/EWG durch die Richtlinie 2004/38/EG erst mit Wirkung vom 30.04.2006 (vgl. Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG) aufgehoben wurde. Die formelle Rechtmäßigkeit von Verfügungen gegen den von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erfassten Personenkreis ist nach dem Grundsatz des intertemporalen Verwaltungsverfahrensrechts, dass neues Verfahrensrecht auf abgeschlossene Verwaltungsverfahren keine Anwendung findet, nach der Rechtslage zur Zeit der letzten Behördenentscheidung zu prüfen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.10.2006 – 13 S 192/06 – InfAuslR 2007, 49 = EZAR NF 19 Nr. 18).
33 
In Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige wurde - außer in dringenden Fällen - Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG verletzt, wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfand noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wurde (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2005 – 1 C 7.04 – BVerwGE 124, 217 = InfAuslR 2006, 110 = NVwZ 2006, 472 = EZAR NF 40 Nr. 1). Die zweite Stelle musste dabei, wie sich aus der Rechtssprechung des EuGH ergibt, eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist (EuGH, Urt. v. 29.04.2004 – Rs. C-482/01 und C-493/01 [Orfanopoulos und Oliveri] – Slg. 2004, I-5257 = InfAuslR 2004, 268 = NVwZ 2004, 1099 = EZAR 810 Nr. 14; Senatsurteil vom 19.12.2008 - 11 S 1453/07 - a.a.O.). Daran hat es hier gefehlt, weil die Ausweisung vom Regierungspräsidium Freiburg ohne Einschaltung einer zweiten zuständigen Stelle verfügt wurde, so dass das in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG verankerte Vier-Augen-Prinzip nicht gewahrt war.
34 
Es lag auch kein dringender Fall vor, der die Einschaltung einer zweiten unabhängigen Stelle entbehrlich gemacht hätte. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 13.09.2005 - 1 C 7.04 -, a.a.O.) ist das Merkmal der Dringlichkeit als Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit „besonders eng auszulegen“; ein dringender Fall kann erst dann angenommen werden, wenn ein Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung nicht zu verantworten ist, etwa weil die begründete Besorgnis besteht, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des „Hauptverfahrens“ realisieren. Die Verzögerung durch Einschaltung einer zweiten Behörde ist dann nicht hinnehmbar. Daher genügt für die Annahme eines dringenden Falles nicht, dass die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet hat. Vielmehr muss (vergleichbar den Anforderungen aus § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO für die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) ein besonderes öffentliches Interesse daran festgestellt werden, das „Hauptverfahren“ nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer „weiteren, unmittelbar drohenden erheblichen Gefährdung“ der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen. Daran gemessen lag kein dringender Fall vor. Der Kläger befand sich zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung in Haft, aus der heraus er später in die Türkei abgeschoben wurde. Zudem hatte die Ausländerbehörde nicht einmal - was im Übrigen nicht genügen würde - die sofortige Vollziehung angeordnet.
35 
bb) Materiell stand die Ausweisung nicht mit Art. 14 ARB 1/80 in Einklang. Da die in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehene Ausnahme der öffentlichen Ordnung ebenso auszulegen ist wie die gleiche Ausnahme im Bereich der Freizügigkeit von Unionsbürgern (EuGH, Urt. v. 20.02.2000 - C-340/97 [Nazli] - Slg. 2000, I-957 = InfAuslR 2000, 161; Urt. v. 11.11.2004 - C-467/02 [Cetinkaya] - Slg 2004, I-10895 = InfAuslR 2005, 13), durfte der Kläger als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger nur ausgewiesen werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorlag, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. zu diesem Maßstab EuGH, Urt. v. 28.10.1975 - 36/75 [Rutili] - Slg. 1975, 1219 = DÖV 1976, 129; Urt. v. 18.05.1989 - 249/86 [Kommission/Deutschland] - Slg. 1989, 1263; Urt. v. 19.01.1999 - C-348/96 [Calfa] - Slg 1999, I-11 = InfAuslR 1999, 165), wobei eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit eine Ausweisung rechtfertigen kann, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung darstellt (z.B. EuGH, Urt. v. 20.02.2000 - C-340/97 [Nazli] - a.a.O.). Die Frage, ob die Begehung einer Straftat ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilen. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung besagt nicht, dass eine "gegenwärtige Gefahr" im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine hinreichende - unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende - Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird. Für die Beantwortung der Frage, ob dies der Fall ist, sind insbesondere die einschlägigen strafrichterlichen Entscheidungen heranzuziehen, soweit sie für die Prüfung der Wiederholungsgefahr bedeutsam sind. Zu prüfen ist auch, ob eine Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Assoziationsberechtigte künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdenden Straftaten mehr begehen wird (vgl. zu alledem BVerwG, Urt. v. 03.08.2004 - 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 = InfAuslR 2005, 18 m.w.N.). Dabei können und müssen das Maß der Einsicht in das begangene Unrecht und die Aufarbeitung der Tat in die vorzunehmende Prognoseentscheidung einfließen. Bei der Entscheidung ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren (EuGH vom 29.04.2004 - C-482/01 u. C-493/01 [Orfanopoulos und Oliveri] - Slg. 2004, I-5257 = InfAuslR 2004, 268 = NVwZ 2004, 1099 = EZAR 810 Nr. 14), der eine Einzelfallwürdigung insbesondere auch der durch Art. 8 EMRK geschützten Rechtspositionen verlangt.
36 
Dieser Maßstab wird hier durch Art. 28 RL 2004/38/EG ungeachtet der offenen Frage, ob diese Vorschrift auf assoziationsberechtigte Türken anwendbar ist (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Vorlagebeschluss vom 22.07.2008 - 13 S 1917/07 - InfAuslR 2008, 439; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 25.08.2009 - 1 C 25.08 -), schon deshalb nicht modifiziert, weil die Ausweisung, um deren Rücknahme es geht, vor dem 01.05.2006 bestandskräftig wurde und daher das erhöhte Schutzniveau des Art. 28 Abs. 2 und 3 RL 2004/38/EG hier nicht zu beachten ist. Die erhöhten Anforderungen nach dieser Vorschrift sind nur bei Ausweisungen zu beachten, bei denen der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach dem 30.04.2006 liegt (vgl. EuGH, Urt. v. 04.10.2007 – C-349/06 [Polat] – Slg. 2007, I-08167 Rdn. 26 f. = InfAuslR 2007, 425 = NVwZ 2008, 59 = EZAR NF 19 Nr. 22; BVerwG, Urt. v. 03.12.2008 - 1 C 35.07 - NVwZ 2009, 326).
37 
Vorliegend war Anlass der Ausweisung die Verurteilung des Klägers zu einer Jugendstrafe wegen Hausfriedensbruchs in zwei Fällen und versuchten Diebstahls. Bei diesen Straftaten handelt es sich wie bei den vorangegangenen Verurteilungen um Fälle der mittleren Kriminalität, die sämtlich nach Jugendstrafrecht abgeurteilt worden sind. Nach der Rechtsprechung des Senats liegt bei den in Frage stehenden Delikten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vor, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wenn diese Delikte - insbesondere Diebstahl und Hehlerei - gehäuft auftreten und gewerbsmäßig begangen werden oder sonstige erschwerende Umstände vorliegen (Senatsurteile vom 10.09.2003 - 11 S 973/03 - EzAR 037 Nr. 8 und vom 23.07.2008 - 11 S 2889/07 - InfAuslR 2008, 429). Daran gemessen lag hier eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, nicht vor. Eine Häufung von der Beschaffungskriminalität zuzuordnenden Delikten vermag der Senat entgegen der Auffassung des Beklagten nicht festzustellen. Zwischen der letzten Tat und der zuvor begangenen lag ein - gemessen am damaligen Alter des Klägers - relativ langer straffreier Zeitraum von über drei Jahren. Bei den mit Urteilen vom 22.06.1994 und vom 08.03.1995 abgeurteilten Straftaten handelte es sich zudem um jugendtypische Verfehlungen, die nicht eindeutig mit dem Drogenkonsum des Klägers in Verbindung standen, da eine Drogenabhängigkeit nach den strafgerichtlichen Feststellungen zweifelsfrei erst ab 1997 vorlag. Insgesamt handelte es sich um Fälle des einfachen Diebstahls und der einfachen Hehlerei, die Schadenssummen waren nicht besonders hoch (vgl. zu diesem Aspekt BVerwG, Urt. v. 02.09.2009 - 1 C 2.09 - juris) und der Kläger war nicht derart gehäuft straffällig geworden, dass aus diesem Grund eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung hätte angenommen werden können. Zwar war mit Blick auf die damals unbewältigte Drogenproblematik eine gewisse Wiederholungsgefahr in Bezug auf die Begehung weiterer Eigentums- und/oder Vermögensdelikte nicht von der Hand zu weisen, doch war diese nicht derart hoch, dass die konkrete Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Ordnung hätte prognostiziert werden können.
38 
cc) War die Ausweisung bereits gemessen an Art. 14 ARB 1/80 materiell rechtswidrig, so gilt dies erst recht, wenn man Art. 8 EMRK mit in den Blick nimmt.
39 
(1) Die Ausweisung griff nicht nur in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens, sondern auch in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK ein. Bei Beziehungen zwischen nahen Verwandten außerhalb der klassischen Kleinfamilie kommt es darauf an, ob die tatsächlich bestehenden Bindungen hinreichend für die Annahme einer familiären Beziehung sind. Beziehungen zwischen Erwachsenen unterliegen nicht notwendig dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Ausprägung als Recht auf Achtung des Familienlebens. Es müssen besondere zusätzliche Aspekte der Abhängigkeit hinzutreten, die weiter reichen als normale affektive Beziehungen (EGMR, Urt. v. 17.04.2003 - Nr. 52853/99 [Yilmaz] - NJW 2004, 2147 Rn. 44 m.w.N.; Urt. v. 15.07.2003 - Nr. 52206/99 [Mokrani] - InfAuslR 2004, 183; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl., § 22 Rn. 18 m.w.N.). Art. 8 EMRK vermittelt insoweit grundsätzlich keinen weitergehenden Schutz als Art. 6 GG bei familiären Beziehungen unter Volljährigen. Bei jungen Erwachsenen, die nach Erreichen der Volljährigkeit weiterhin mit ihren Eltern in häuslicher Gemeinschaft leben, geht der EGMR allerdings davon aus, dass auch ihre Beziehung zu den Eltern und anderen nahen Familienmitgliedern Familienleben darstellt und aufenthaltsbeendende Maßnahmen daher auch in das Recht auf Achtung des Familienlebens eingreifen (Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - InfAuslR 2008, 333). Hier hat der Kläger bis zu seiner Inhaftierung mit seinem Vater und den älteren Geschwistern in häuslicher Gemeinschaft gelebt.
40 
(2) Das ebenfalls betroffene Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind (vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2003 - 48321/99 [Slivenko] - EuGRZ 2006, 560 <561> Rn. 96) und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07 – BVerfGK 11, 153 = InfAuslR 2007, 275 m.w.N.; Hoppe, ZAR 2006, 125 <130>). Die Gesamtheit der sozialen Beziehungen und der Gemeinschaft bildet einen Teil des Privatlebens i.S.v. Art. 8 EMRK.
41 
(3) Der Eingriff in die Rechte des Klägers aus Art. 8 Abs. 1 EMRK war unverhältnismäßig.
42 
Ein Eingriff in die Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK muss gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme darstellen, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (vgl. EGMR, Urt. v. 18.02.1991 - 31/1989/191/291 [Moustaquim] - EuGRZ 1993, 552 <554>; BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07 - BVerfGK 11, 153 = InfAuslR 2007, 275; BVerwG, Urt. v. 09.12.1997 - 1 C 19.96 - BVerwGE 106, 13 <21> m.w.N.). Dabei ist die Befristung der Ausweisungswirkungen nur eines von mehreren Kriterien im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07 - a.a.O.; EGMR, Urteil vom 22.03.2007 - 1638/03 [Maslov I] - InfAuslR 2007, 221). Vorrangig ist im Hinblick auf die konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob die Ausweisung überhaupt - unabhängig von einer Befristung - dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entspricht (BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07 - a.a.O.). Dies gilt umso mehr, wenn die Ausweisung ein Daueraufenthaltsrecht vernichtet und - wie hier - dem Kläger auch bei einer Befristung der Wirkungen der Ausweisung eine dauerhafte Rückkehr versagt bleibt. Erforderlich ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Beachtung der vom EGMR entwickelten Kriterien, die im Wesentlichen in den Entscheidungen Boultif und Üner zusammengefasst worden sind (EGMR, Urt. v. 02.08.2001 - Nr. 54273/00 [Boultif] - InfAuslR 2001, 476; Urt. v. 05.07.2005 - Nr. 46410/99 [Üner] - InfAuslR 2005, 450 = DVBl 2006, 688). Dabei kommt es zunächst auf den jeweiligen Grad der „Verwurzelung“ an; je stärker der Betroffene im Aufenthaltsstaat integriert ist, desto schwerer müssen die öffentlichen Interessen wiegen. Weiter ist auf den Grad der „Entwurzelung“ abzustellen, d. h. auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Reintegration im Herkunftsstaat, insbesondere aufgrund der Vertrautheit mit den dortigen Verhältnissen und den dort lebenden und aufnahmebereiten Verwandten. Schließlich können im Rahmen der Schrankenprüfung sonstige Faktoren Berücksichtigung finden, etwa ob der Aufenthalt des Betroffenen zumindest vorübergehend legal war und damit - i.S. einer „Handreichung des Staates“ - schutzwürdiges Vertrauen auf ein Hierbleibendürfen entwickelt werden konnte.
43 
Daran gemessen war die Ausweisung hier unverhältnismäßig. Bis zu seiner Abschiebung im Jahre 1999 verbrachte der Kläger sein gesamtes Leben in der Deutschland, er besuchte hier die Schule, erreichte den Hauptschulabschluss und verfügte über ein Daueraufenthaltsrecht. Sein gesamtes soziales Umfeld befand sich ebenfalls in Deutschland. Nähere Beziehungen zur Türkei, die über die eines Urlaubslandes hinausgingen, hatte er nicht. Die türkische Sprache beherrschte er kaum, da in seiner Familie deutsch und kurdisch gesprochen wurde. Auch wenn die Familienverhältnisse zerrüttet waren, so lebten die nächsten Familienangehörigen - neben seinem Vater auch seine Geschwister und Halbgeschwister - ebenfalls im Bundesgebiet und hatten - wie er - ein assoziationsrechtliches, verfestigtes Aufenthaltsrecht. Demnach war bei dem Kläger von einer weitreichenden „Verwurzelung“ einerseits und von einer vollständigen „Entwurzelung“ andererseits auszugehen.
44 
Bei Art und Schwere der der Ausweisung zugrunde liegenden Straftaten war zu berücksichtigen, dass der Kläger ausschließlich nach Jugendstrafrecht, zuletzt als Heranwachsender, verurteilt worden war (vgl. EGMR, Urt. v. 17.04.2003 - Nr. 52853/99 [Yilmaz] - NJW 2004, 2147 und Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - InfAuslR 2008, 333). Von Bedeutung ist auch, dass er nicht wegen Verbrechen, nicht wegen Betäubungsmitteldelikten und nicht wegen Gewaltdelikten verurteilt wurde (vgl. EGMR, Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - a.a.O.). Mit Blick darauf, dass der im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Kläger die für sein Familien- und Privatleben nach Art. 8 EMRK konstitutiven Bindungen und sein Daueraufenthaltsrecht unwiederbringlich verlor, war seine Ausweisung nicht gerechtfertigt. Den für eine Ausweisung sprechenden Gründe kam, selbst wenn man mit dem Beklagten von einer gewissen Wiederholungsgefahr ausgehen wollte, kein überragendes Gewicht zu (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - a.a.O.; EGMR, Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - a.a.O.).
45 
4. Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme der Ausweisung, weil deren Aufrechterhaltung ihn schwer und unerträglich hart trifft und daher das Rücknahmeermessen auf Null reduziert ist.
46 
Im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG besteht im Hinblick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit einerseits und das der Rechtssicherheit andererseits nur ausnahmsweise ein Rücknahmeanspruch; die Aufrechterhaltung des Bescheides muss dann „schlechthin unerträglich“ sein. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen. Darüber hinaus vermag die offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts, die sich zum Zeitpunkt des Erlasses beurteilt, die Annahme zu rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - a.a.O. m.w.N.; Discher in GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 1773.7 m.w.N.). Auch außerhalb dieser Fallgruppen kommt eine Ermessensreduzierung auf Null in Betracht, wenn ein Aufrechterhalten des Verwaltungsakts schlechthin unerträglich ist (BVerwG, Urt. v. 30.01.1974 - VIII C 20.72 - BVerwGE 44, 333 <336>; BVerwG, Beschl. v. 22.10.1984 - 8 B 56.84 - NVwZ 1985, 265; BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - a.a.O.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 31.01.1989 - 9 S 1141/88 - NVwZ 1989, 882; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl., § 48 Rn. 79; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., § 48 Rn. 85).
47 
a) Anhaltspunkte für eine gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßende unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis sind nicht ersichtlich. Der Vertreter des Beklagten hat in der Berufungsverhandlung dargelegt, dass in den übrigen vom Regierungspräsidium Freiburg in den vergangenen Jahren entschiedenen Fällen jeweils § 121 VwGO dem geltend gemachten Rücknahmeanspruch entgegenstand und dass es sich bei dem vorliegenden Fall um den einzigen handelt, bei dem es um eine ohne gerichtliche Überprüfung bestandskräftig gewordene Ausweisungsverfügung geht. Eine Verwaltungspraxis, an die der Beklagte über Art. 3 Abs. 1 GG gebunden wäre, existiert somit nicht.
48 
b) Es sind auch keine Umstände erkennbar, die die Berufung des Beklagten auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen.
49 
c) Die Ausweisung war des weiteren nicht offensichtlich rechtswidrig. Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit ist dann gegeben, wenn an dem Verstoß der streitigen Maßnahme gegen formelles oder materielles Recht vernünftigerweise kein Zweifel besteht und sich deshalb die Rechtswidrigkeit aufdrängt. Hierbei ist maßgeblich auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisung abzustellen. Eine spätere Klärung der Rechtsfrage und die damit eintretende Evidenz desselben bleiben außer Betracht (BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - a.a.O.; Urt. v. 17.01.2007 - 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709; Beschl. v. 07.07.2004 - 6 C 24/03 - BVerwGE 121, 226 <229 ff.> m.w.N.). Hier war zum damaligen Zeitpunkt in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt, dass die Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar sind. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht erst mit Urteil vom 13.09.2005 (- 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217) entschieden. Ebensowenig war geklärt, dass Ansprüche nach Art. 7 ARB 1/80 durch Strafhaft nicht verloren gehen. Dass auch eine längere Strafhaft die Rechte aus Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 nicht berührt, hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften erst 2004 entschieden (vgl. Urt. v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya] - Slg. 2004, I-10895 = InfAuslR 2005, 13 und Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03 [Aydinli] - Slg. 2005, I-6181 = InfAuslR 2005, 352). Es war daher nicht offensichtlich rechtswidrig, dass bei Erlass der Ausweisung eine Privilegierung des Klägers nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 verneint wurde. Die Maßstäbe für die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Art. 8 EMRK bei im Inland geborenen jungen Erwachsenen sind ebenfalls erst später hinreichend präzisiert worden (BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - a.a.O.; EGMR, Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - a.a.O.), so dass auch insoweit eine offensichtliche Rechtswidrigkeit zu verneinen ist.
50 
d) Der Verstoß gegen die materiellen Schutzbestimmungen der EMRK begründet nur dann einen Rücknahmeanspruch, wenn der EGMR im konkreten Fall einen Verstoß gegen die EMRK festgestellt hat (Discher in GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. Rn. 763.1; VG Freiburg, Urt. v. 01.10.2007 - 1 K 893/06 - InfAuslR 2008, 252). Liegt eine auf die konkrete Ausweisung bezogene Entscheidung des EGMR nicht vor, führt ein Verstoß gegen die EMRK nicht bereits als solcher zu einer Reduzierung des Rücknahmeermessens auf Null (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 28.06.2007 - 13 S 1045/07 - VBlBW 2008, 68; Discher, a.a.O., Rn. 763.3).
51 
e) Das Aufrechterhalten der Ausweisung ist jedoch bei Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls schlechthin unerträglich.
52 
Auf dem Gebiet des Ausländerrechts ist eine Ermessensreduzierung auf Null in Betracht zu ziehen, wenn es um eine nicht lediglich formell rechtswidrige Ausweisung eines Ausländers der zweiten Generation geht, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, sich rechtmäßig hier aufgehalten und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht erworben hat und bei dem die Befristung der Wirkungen der Ausweisung mangels Rückkehrrecht ohne praktische Wirkung bleibt (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - a.a.O.). Dieser Personenkreis wird von einer Ausweisung besonders hart getroffen, was für sich genommen indes noch nicht zu einer Reduzierung des Rücknahmeermessens auf Null führen kann. Vielmehr müssen besondere Umstände des Einzelfalls hinzutreten, die die Aufrechterhaltung der Ausweisung als schlechthin unerträglich erscheinen lassen. Hierbei sind auch die aktuellen Lebensumstände des Ausländers mit in den Blick zu nehmen, soweit noch ein Ursachenzusammenhang mit der Ausweisung besteht. Ein solcher Kausalzusammenhang besteht nicht mehr, wenn einem ausgewiesenen Ausländer in seinem Herkunftsstaat zunächst die wirtschaftliche und soziale Wiedereingliederung gelingt und er später aus anderen Gründen - etwa einer schweren Wirtschaftskrise - in prekäre Lebensumstände gerät, die ihn veranlassen, seine Rückkehr nach Deutschland zu betreiben.
53 
Hier ist nach den Umständen des Einzelfalls die Aufrechterhaltung der Ausweisung schlechthin unerträglich, so dass das Rücknahmeermessen auf Null reduziert ist. Der Kläger ist ein in Deutschland geborener und aufgewachsener Ausländer der zweiten Generation, der sich durchgehend rechtmäßig in Deutschland aufgehalten, einen Schulabschluss erworben und ein Daueraufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 erlangt hat. Seine Ausweisung war nicht nur formell, sondern auch materiell rechtswidrig. Er wurde, wie oben ausgeführt wurde, unter Verstoß gegen Art. 14 ARB 1/80 und Art. 8 EMRK ausgewiesen. Entgegen der Auffassung des Beklagten wäre eine rechtsfehlerfreie Ausweisung nach den zwischenzeitlich in der Rechtsprechung entwickelten Maßstäben nicht möglich gewesen. Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung ist für den Kläger ohne jede praktische Wirkung geblieben. Sie hat er ihm nicht einmal ermöglicht, seine engsten Familienangehörigen, die inzwischen deutsche Staatsangehörige sind, hier besuchen können. Alle Anträge auf Besuchsvisa wurden abgelehnt, weil aufgrund seiner fehlenden Verwurzelung in der Türkei Zweifel an seiner Rückkehrwilligkeit bestanden. Trotz entsprechender Bemühungen ist dem Kläger in der Türkei eine Integration weder in wirtschaftlicher noch in gesellschaftlicher Hinsicht gelungen. Er hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat glaubhaft und in jeder Hinsicht überzeugend geschildert, dass er bei seinen Verwandten mütterlicherseits in sehr bescheidenen Verhältnissen ein Dasein am Rande des Existenzminimums fristet, ohne dort wirklich als gleichberechtigtes Familienmitglied aufgenommen worden zu sein, und dass es ihm auch außerhalb der Familie nicht gelungen ist, mehr als nur oberflächliche soziale Kontakte zu knüpfen. Seine engsten Bezugspersonen sind die in Deutschland lebenden Geschwister. Der Senat verkennt nicht, dass eine Vermutung dafür spricht, dass ein Ausländer nach einem zehnjährigen Aufenthalt in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit dort gewisse, ein Privatleben begründende Bindungen aufgebaut hat, die die Aufrechterhaltung dieses Zustandes im Regelfall nicht als unerträglich erscheinen lassen. Der Kläger hat diese Vermutung mit seinen Angaben in der Berufungsverhandlung (siehe oben) indes eindrucksvoll widerlegt. Er hat glaubhaft gemacht, dass das im Vordergrund stehende Rückkehrmotiv seine durch die Trennung von seinen engsten Familienangehörigen ausgelöste emotionale Vereinsamung ist.
54 
Schließlich kann dem Kläger nicht vorgehalten werden, seine Rückkehr nach Deutschland nicht konsequent genug betrieben und andere rechtliche Möglichkeiten zur Behebung seiner unerträglichen Lage nicht ausgeschöpft zu haben. Insbesondere wäre ein Weiterbetreiben des auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 37 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 AufenthG gerichteten Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht Berlin nicht erfolgversprechend gewesen, weil es nach der insoweit sehr restriktiven Rechtsprechung des zuständigen Oberverwaltungsgerichts an einer besonderen Härte im Sinne von § 37 Abs. 2 Satz 1 AufenthG fehlt, wenn der Ausländer nicht alles ihm Mögliche und Zumutbare unternommen hat, um die aus seiner Sicht ungerechtfertigte aufenthaltsbeendende Maßnahme zu beseitigen. Als möglich und zumutbar wird dabei die Durchführung eines auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und/oder Rücknahme gerichteten behördlichen und gerichtlichen Verfahrens angesehen (OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.04.2009 - 12 B 19.07 - juris). Es würde daher einen Zirkelschluss darstellen, wenn man umgekehrt im auf Rücknahme der Ausweisung gerichteten Verfahren das auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 37 AufenthG gerichtete Verfahren als vorgreiflich ansehen würde.
III.
55 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
56 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO erfüllt ist.
57 
Beschluss vom 4. November 2009
58 
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird nach §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
59 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Tenor

Auf die Berufung des Klägers hin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 - 4 K 3079/10 - geändert.

Der Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 wird aufgehoben.

Das beklagte Land trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der am ...1971 in Charleroi, Belgien, geborene Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung und die Androhung der Abschiebung.
Er ist türkischer Staatsangehöriger und lebte von seiner Geburt bis 1979/80 gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern in Belgien, danach kehrte die Familie in die Türkei zurück. Dort besuchte der Kläger das Gymnasium, das er mit einem dem Abitur vergleichbaren Abschluss beendete. Am 06.05.1996 heiratete er in Cavusbasi Köyü/Türkei die am ... in B..., Deutschland, geborene Hatice Y., welche damals noch türkischer Staatsangehörigkeit war; am 17.08.1996 reiste er mit einem Visum zum Familiennachzug nach Deutschland ein. In der Folge erhielt er zunächst befristete Aufenthaltserlaubnisse, ab dem 16.07.2001 war er im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, welche ab Januar 2005 als Niederlassungserlaubnis fortgalt.
Die Ehefrau des Klägers wurde am 06.07.1998 eingebürgert. Die Eheleute haben vier gemeinsame Kinder, zwei Töchter (geboren am 16.08.1997 und am 01.05.2001) und zwei Söhne (geboren am 17.07.1998 und am 14.04.2008), welche ebenfalls deutsche Staatsangehörige sind.
Ab dem 10.03.1997 war der Kläger zunächst bei verschiedenen Firmen beschäftigt, vom 02.11.1998 bis zum 31.10.2001 bei der Firma F., wobei er vom 27.02.2001 bis zum 09.07.2001 Krankengeld von der AOK bezog. Nach längerer Arbeitslosigkeit war er ab 2003 immer wieder selbstständig tätig - unterbrochen durch mehrmonatige Aushilfstätigkeiten und Zeiten der Arbeitslosigkeit -, zunächst mit einem Einzelhandel mit Lebensmitteln und Obst, welchen er von seiner Ehefrau übernommen hatte (von Juli 2003 bis Juni 2004), später (vom September 2006 bis zum Februar 2007) mit dem Gewerbe „Kleintransporte (Paketdienst)“, sodann mit einer Gebäudereinigung (ab dem 21.11.2007).
Zum 05.06.2008 meldete er das Wettbüro T. in Karlsruhe an. Am 18.12.2008 wurde er wegen des Verdachts der Geiselnahme u.a. in Untersuchungshaft genommen. Mit Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 - 3 KLs 110 Js 41778/08 - wurden der Kläger und die Mitangeklagten B.A., Y.K. und E.G. der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie der Mitangeklagte T.K. der Beihilfe zur Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen. Der Kläger wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten, seine Mitangeklagten B.A. zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten, Y.K. von vier Jahren und zehn Monaten, E.G. von drei Jahren und sechs Monaten und T.K. zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde hinsichtlich T.K. zur Bewährung ausgesetzt. Die Angeklagten wurden außerdem verurteilt, an die Nebenklägerin N.G. Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,-- EUR nebst Zinsen zu zahlen, wobei die seitens B.A. und Y.K. bereits erbrachten Beträge in Höhe von 2.500,-- EUR (B.A.) bzw. 3.000,-- EUR (Y.K.) auf den Schmerzensgeldbetrag anzurechnen seien. Das Urteil wurde nach Verwerfung der unter anderem vom Kläger eingelegten Revision diesem gegenüber am 10.12.2009 rechtskräftig.
Nach den Feststellungen im Strafurteil vom 30.06.2009 war Y.K. als Geschäftsführer in dem vom Kläger betriebenen Wettbüro beschäftigt und hätte Anfang des Jahres 2009 als Teilhaber einsteigen sollen. B.A. war bei einer Automatenaufstellerfirma tätig und für die Wartung der im Wettbüro aufgestellten Spielautomaten zuständig. Die Mitangeklagten E.G. und T.K., ein Schwager des Y.K., hielten sich häufig als Gäste im Wettbüro auf. Das Opfer der Straftaten, N.G., war auf Empfehlung des B.A. seit September 2008 als Aushilfe angestellt. Nachdem am 29.11.2008 zwischen 2.00 Uhr und 2.30 Uhr in das Wettbüro eingebrochen und aus Spielautomaten und einem offenen Tresor insgesamt Bargeld in Höhe von etwa 2.500,-- EUR entwendet worden war, verdächtigten die Angeklagten die im Wettbüro angestellte N.G. und deren Freund der Beteiligung an dem Einbruch. Anlass war unter anderem, dass ein Augenzeuge etwa zum Zeitpunkt des Einbruchs ein Auto bemerkt hatte, das dem des Freundes von N.G. ähnelte. Außerdem hatte N.G. wenige Stunden nach dem Einbruch per SMS mitgeteilt, sie könne am Morgen nicht zur Arbeit erscheinen, weil ihr Schwiegervater gestorben sei, was aber - wie sich nach und nach herausstellte - tatsächlich nicht stimmte. Um N.G. zu einem Geständnis zu zwingen, brachten die fünf Angeklagten diese am 30.11.2008 gegen 12.30 Uhr dazu, mit ihnen in den Keller des Wettbüros zu gehen. Dort versetzte B.A. der Angestellten N.G. zunächst zwei derart heftige Ohrfeigen, dass sie ein Loch im linken Trommelfell erlitt. Danach hielt B.A. dieser eine von ihm - ohne Wissen der anderen - mitgeführte, nicht ausschließbar ungeladene Schreckschusswaffe, die er zuvor mehrfach durchgeladen hatte, an die Stirn, so dass N.G. befürchtete, erschossen zu werden, und Todesangst verspürte. Unter Ausnutzung der Todesangst von N.G. versuchten die Angeklagten in den nächsten Stunden - allerdings vergeblich -, von dieser ein Geständnis zu erpressen. A.B. drückte ihr ein Kissen auf das Gesicht und tat so, als ob er dieses als Schalldämpfer verwenden würde. Auf Vorschlag des Klägers behauptete er sodann, man habe ein paar Leute zu ihrem Freund geschickt, welche ihn mit einem Baseballschläger "zusammengeschlagen" hätten, woraufhin dieser alles zugegeben hätte. B.A. oder E.G. drohten später damit, N.G. mit einer Handsäge einen Finger abzusägen. Als N.G. darum bat, auf Toilette gehen zu dürfen, wurde ihr dies mit dem Hinweis verweigert, sie solle „in die Hose pissen“. Bei diesen Übergriffen und Bedrohungen leistete T.K. lediglich psychische Beihilfe, während die anderen aktiv beteiligt waren. Nachdem B.A. und E.G. zwischen 14.30 Uhr und 15.00 Uhr den Keller verlassen hatten, wurde N.G. gegen 16.00 Uhr vom Kläger, Y.K. und T.K. freigelassen und von T.K. nach Hause gefahren. N.G. leidet noch heute erheblich unter den psychischen Folgen der Tat. Bezüglich der Strafzumessung wird in dem Urteil des Landgerichts Karlsruhe hinsichtlich des Klägers unter anderem dargelegt: Die Kammer sei der Auffassung, dass die Voraussetzungen der tätigen Reue (§§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2 StGB) vorgelegen hätten, weil die Täter von einer weiteren Befragung der Geschädigten abgesehen hätten. Für die Annahme eines minder schwereren Falls der Geiselnahme (§§ 239a Abs. 2, 239b Abs. 2 StGB) spreche, dass der Kläger bereits im Ermittlungsverfahren ein Geständnis abgelegt und dieses in der Hauptverhandlung aufrechterhalten habe, wobei der Kammer das Geständnis allerdings nur bedingt getragen von Einsicht und Reue erscheine, weil der Kläger immer wieder darauf hingewiesen habe, er hätte nicht gegen die weitere Tatausführung einschreiten können. Für ihn spreche außerdem, dass er bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei, sich schriftlich bei der Geschädigten entschuldigt und einen eher geringen Tatbeitrag geleistet habe. Es sei aber auch zu berücksichtigen, dass er als Inhaber des Wettbüros ein Hauptinteresse daran gehabt habe festzustellen, ob seine Angestellte tatsächlich an dem Einbruch beteiligt gewesen sei, dass tateinheitlich zum Verbrechen der Geiselnahme auch ein Vergehen der gefährlichen Körperverletzung begangen worden, dass er über dreieinhalb Stunden an der Tatbegehung beteiligt gewesen sei und dass die Geschädigte nicht nur eine körperliche Verletzung in Form einer Trommelfellperforation mit erheblichen Höreinschränkungen erlitten habe, sondern noch heute schwer unter den psychischen Folgen der Tat leide. Die nicht vertypten Milderungsgründe reichten daher nicht aus, um das Vorliegen eines minder schweren Falles zu bejahen. Unter weiterer Berücksichtigung der Tatsache, dass der Kläger tätige Reue im Sinne von §§ 239b Abs. 2, 239a Abs. 4 StGB geleistet habe, sei allerdings unter Heranziehung dieses Strafmilderungsgrundes das Vorliegen eines minder schweren Falles bejaht worden.
Im Anschluss an die Untersuchungshaft verbüßte der Kläger vom 10.12.2009 bis zu seiner Entlassung am 22.12.2011 Strafhaft, ab dem 08.04.2010 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bruchsal. Zwei Drittel der Strafe waren am 17.04.2011 vollstreckt, Endstrafentermin wäre der 17.06.2012 gewesen. In dieser Zeit erhielt der Kläger regelmäßig Besuch von seiner Ehefrau und seinen Kindern sowie von anderen Verwandten und Bekannten. Von September 2010 bis Juli 2011 nahm er zweimal wöchentlich an Deutschkursen teil. Er arbeitete in einem Unternehmerbetrieb der JVA. In Vollzugsplänen und Berichten der JVA Bruchsal vom 05.05.2010, 12.05.2010, 08.02.2011, 12.09.2011 und 12.10.2011 wurde unter anderem dargelegt: Disziplinarrechtlich habe gegen den Kläger nicht eingeschritten werden müssen, es sei auch zu keinen Unregelmäßigkeiten bezüglich Drogen oder Alkohol gekommen. Er könne sehr nervenaufreibend sein, weil er täglich mehrere Anliegen habe, die er durchzusetzen versuche. Er werde dabei jedoch nie aggressiv, sondern zeige fehlendes Verständnis, reagiere weinerlich oder unbeirrbar. Im Unternehmerbetrieb gelte er wegen seiner ständigen Anliegen als Sorgenkind, erledige aber seine Arbeit zuverlässig, es sei nicht zu unentschuldigten Ausfallzeiten gekommen. Er habe noch Schulden in Höhe von etwa 45.000,-- EUR. Während in früheren Stellungnahmen der JVA, unter anderem vom 08.02.2011, Zweifel an einer Tataufarbeitung und einer echten Reue des Klägers geäußert wurden, wurde in einem Bericht vom 12.10.2011 ausgeführt, der Kläger habe über seine Straftat intensiv nachgedacht, könne sich zumindest über den Vergleich mit eigenen Bedrängungserfahrungen in das Opfer einfühlen, sei nicht die treibende Kraft gewesen und scheine seine Straftat tatsächlich zu bereuen. Die Landesstiftung Opferschutz habe am 16.07.2011 bestätigt, dass er 1.000,-- EUR Schmerzensgeld in Raten bezahlt habe. Als stabilisierender Faktor werde seine Familie gesehen. Der psychologische Dienst gehe davon aus, dass ein kriminalprognostisches Gutachten zu dem Schluss kommen werde, dass eine weiterhin bestehende Gefahr nicht festgestellt werden könne.
Bereits mit Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziff. 1). Außerdem wurde ihm die Abschiebung in die Türkei oder in einen anderen Staat angedroht (Ziff. 2). Für den Fall, dass er vor der beabsichtigten Abschiebung aus der Haft entlassen werde, wurde er aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von einem Monat nach seiner Entlassung zu verlassen; für den Fall, dass er nicht fristgerecht ausreise, wurde ihm die Abschiebung angedroht (Ziff. 3). Zur Begründung wurde dargelegt: Dem Kläger stehe kein erhöhter Ausweisungsschutz aufgrund eines Rechts zum Aufenthalt nach dem Assoziationsratsbeschluss 1/80 zu. Eine nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 privilegierte aufenthaltsrechtliche Position habe nicht mehr erworben werden können, weil seine Ehefrau zwei Jahre nach Beginn der ehelichen Lebensgemeinschaft die deutsche Staatsangehörigkeit erworben habe. Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 seien ebenfalls nicht entstanden. Bei der Firma F. habe der Kläger zwar vom 02.11.1998 bis zum 26.02.2001 und vom 09.07.2001 bis zum 31.10.2001 gearbeitet. In der Zwischenzeit, vom 27.02.2001 bis zum 08.07.2001, habe er jedoch Krankengeld von der AOK bezogen. Selbst wenn man davon ausginge, dass er drei Jahre ordnungsgemäß bei einem Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei, wäre seine Rechtsstellung nach Art. 6, 2. Spielgelstrich ARB 1/80 wieder erloschen. Denn im Anschluss an die Beschäftigung bei der Firma F. habe er ab November 2001 bis zum 27.07.2003 Leistungen der Agentur für Arbeit bezogen. Seine Ehefrau habe in dieser Zeit ein Gewerbe (Obst- und Gemüsehandel) betrieben. Ab Oktober 2003 habe er dieses übernommen, bis er es im Januar 2004 wieder aufgegeben habe. Nach kurzen Arbeitsverhältnissen, Zeiten der Arbeitslosigkeit sowie Zeiten der Ausübung zweier anderer Gewerbe, sei schließlich zum 05.06.2008 die Anmeldung des Wettbüros erfolgt. Die Aufnahme einer auf Dauer angelegten selbstständigen Tätigkeit führe jedoch zum Erlöschen bereits entstandener Rechte aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid sei daher das Aufenthaltsgesetz. Der Kläger erfülle den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG. Er genieße jedoch wegen der bestehenden Niederlassungserlaubnis und der familiären Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Ehefrau und seinen Kindern besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 4 AufenthG. Es sei daher zu prüfen, ob ein schwerwiegender Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG vorliege. Das sei der Fall. Die vom Kläger und seinen Mittätern aufgrund von Selbstjustiz begangene Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung wiege ausgesprochen schwer. Der Tathergang verdeutliche, dass der Kläger ein erhebliches Maß an krimineller Energie besitze, welches bei verständiger Würdigung aller für und gegen ihn sprechenden Umstände der Tatbegehung die Grenzen der Bagatellkriminalität bei weitem überschreite. Er sei offenkundig nicht in der Lage oder auch nicht gewillt, sich an die im Bundesgebiet bestehende Rechtsordnung zu halten. Deshalb könne ihm keineswegs eine günstige Sozialprognose gestellt werden. Nach den vorliegenden Berichten der JVA habe eine Tataufarbeitung wegen der fehlenden differenzierten Deutschkenntnisse noch nicht erfolgen können. Bislang sei danach auch nicht erkennbar, dass der Kläger ein Schuldbewusstsein oder eine Empathie für das Opfer entwickelt habe. Die Ausweisung sei daher aus spezialpräventiven Gründen geeignet und erforderlich. Sie werde auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt. Es bestehe ein dringendes soziales Bedürfnis, über die strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Gewalttaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Wegen des besonderen Ausweisungsschutzes und mit Blick auf die Familie des Klägers und Art. 8 EMRK liege eine Ausnahme von der Regel des § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG vor, so dass über die Ausweisung nach Ermessen zu entscheiden sei. Sie sei hier gerechtfertigt, insbesondere verhältnismäßig. Der Kläger sei mit einer türkischstämmigen Frau verheiratet, die mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen habe, und Vater von vier deutschen Kindern. Beruflich sei es ihm nicht gelungen, sich im Bundesgebiet zu integrieren. Der Aufbau eines eigenen Betriebes sei immer wieder gescheitert. In dem zuletzt betriebenen Wettbüro habe er mehrere Personen beschäftigt, ohne diese anzumelden. Dies sowie die Tatsache, dass er bereit gewesen sei, eine von ihm verdächtige Person als Geisel zu nehmen, um aus ihr mit brutalsten physischen und psychischen Methoden ein Geständnis zu erpressen, sei ein Beleg für eine Denkweise, welche nicht den Wertvorstellungen der Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland entspreche. Es sei nicht erkennbar, dass der Kläger von seinem Heimatland, das er vor vierzehn Jahren im Alter von 25 verlassen habe, entfremdet sei. In Anbetracht des gravierenden Verstoßes gegen die geltende Rechtsordnung könnten die rechtlichen und tatsächlichen Auswirkungen der Ausweisung, die mit einer Übersiedlung in die Türkei verbunden seien, nicht als unverhältnismäßig angesehen werden. Dies gelte auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Schließlich könne er gegebenenfalls einen Antrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung stellen. Hilfsweise sei festzustellen, dass die Ausweisung des Klägers auch dann - im Ermessenswege nach Art. 14 ARB 1/80 i.V.m. § 55 AufenthG -gerechtfertigt sei, wenn man davon ausgehe, dass ihm eine Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 zustehe. Für diesen Fall sei die Ausweisung jedoch lediglich auf spezialpräventive Gründe zu stützen. Die Abschiebungsandrohung beruhe auf § 59 Abs. 1 AufenthG.
Am 04.11.2010 erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage, zu deren Begründung er im Wesentlichen vortrug: Eine Trennung von seiner Familie wäre unverhältnismäßig. Weder verfügten er und seine Familie über die erforderlichen finanziellen Mittel für regelmäßige Besuche noch hätte er die Möglichkeit, die Kontakte angemessen aufrechtzuerhalten. Zudem sei die Ausweisung weder aus generalpräventiven noch aus spezialpräventiven Gründen angemessen. Er sei das erste Mal straffällig geworden. Aus dieser - einmaligen -Entgleisung, die nicht verharmlost werden solle, könne nicht auf ein grundsätzliches Verhaltensmuster für die Zukunft geschlossen werden. Im Übrigen sei er vom 01.11.1998 bis zum 31.10.2001 durchgehend bei der Firma F. beschäftigt gewesen, weshalb er als Assoziationsberechtigter anzusehen sei.
10 
Das beklagte Land trat der Klage entgegen.
11 
Mit Urteil vom 02.03.2011 - 4 K 3079/10 - wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte aus: Es bedürfe keiner abschließenden Beurteilung, ob der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 6 ARB 1/80 erworben habe, denn eine solche wäre jedenfalls durch die Aufnahme einer Tätigkeit als Selbstständiger erloschen. Weil er besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 4 AufenthG genieße, könne er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche seien hinsichtlich des spezialpräventiven und bezüglich des generalpräventiven Ausweisungszwecks aufgrund der vom Kläger verübten Straftat gegeben. In Fällen mittlerer und schwerer Kriminalität seien die Voraussetzungen für eine spezialpräventive Ausweisung grundsätzlich zu bejahen. Beim Kläger bestehe ein gegenüber dem Durchschnittsbürger sogar beträchtlich erhöhtes Risiko, auch künftig wieder strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Dafür sprächen die nicht unerhebliche kriminelle Energie, die er an den Tag gelegt habe, und die konkrete Tatausführung. Diese lasse ein erhebliches Maß an Gewaltanwendung gegenüber Personen erkennen; sie habe zu gravierenden Folgen für das Opfer geführt. Ausweislich eines Berichts der JVA vom 08.02.2011 habe die Freiheitsstrafe nur insoweit die erwünschte Wirkung gezeigt, als der Kläger die negativen Folgen für seine Familie eingesehen habe, mit den Folgen der Tat für das Opfer habe er sich noch nicht erkennbar auseinandergesetzt. Da die Tat zudem eine hohe Bereitschaft für eine im Heimatland des Klägers in bestimmten Bereichen auch heute noch übliche und gesellschaftlich akzeptierte Selbstjustiz belege, könne ihm keine günstige Sozialprognose erteilt werden. Ein Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - sei hier wegen der tatsächlich gelebten familiären Gemeinschaft des Klägers mit den vier ehelichen Kindern des Klägers zu sehen. Die entsprechenden Ermessenserwägungen seien im Ergebnis rechtsfehlerfrei. Die dem Kläger als Mittäter der begangenen Straftaten zurechenbare Gewaltanwendung wiege derart schwer, dass seine Ausweisung auch mit Blick auf die Schutzwirkungen des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig sei.
12 
Auf den am 14.03.2011 vom Kläger gestellten Antrag hat der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 17.05.2011 - 11 S 875/11 - die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 zugelassen. Diese hat der Kläger am 26.05.2011 unter Stellung eines Antrags begründet.
13 
Zur Vorbereitung der Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe holte die Vollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe mit Schreiben vom 03.06.2011 ein kriminalprognostisches Gutachten der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie - Zentrum für Psychiatrie - Wiesloch ein. Das daraufhin erstattete Gutachten von Herrn Dr. Sp..., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und Herrn S..., Facharzt für Psychiatrie, vom 24.09.2011 kommt zu dem Ergebnis, dass nicht mehr davon ausgegangen werden könne, dass die durch die Tat beim Kläger zutage getretene Gefährlichkeit fortbestünde. Dabei wurde die fehlende Auseinandersetzung mit der Straftat als prognostisch ungünstiger Faktor gewertet. Der Kläger sei bei der Tat aber eher passiv im Hintergrund geblieben. Beim Tatgeschehen komme somit situativen Faktoren (Eingebundenheit in eine Tätergruppe bei Vorhandensein von freundschaftlichen Beziehungen und Loyalitäten, Unterordnung unter dominant auftretende Persönlichkeiten) ein wesentliches Gewicht am Zustandekommen der Tat zu. Der Kläger habe sich im Rahmen der Haft im Wesentlichen angepasst und korrekt verhalten. Dass er dabei seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse jeweils mit einem gewissen Nachdruck vorgetragen habe, lasse sich nicht als prognoserelevanter Faktor verwerten. Es existierten stabile familiäre Anbindungen. Auch die beruflichen Planungen des Klägers erschienen nicht unrealistisch. Die prognostisch günstigen Faktoren überwögen im Vergleich zu dem einzigen ungünstigen Faktor - der fehlenden inneren Auseinandersetzung des Klägers mit der Tat - deutlich. Nach einer Anhörung des Klägers am 16.12.2011 wurde mit Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom 21.12.2011 die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt; der Kläger wurde der Leitung und Aufsicht eines Bewährungshelfers unterstellt. Daraufhin wurde er am 22.12.2011 aus dem Strafvollzug entlassen.
14 
Zur Begründung der Berufung trägt der Kläger im Wesentlichen vor: Das Verwaltungsgericht sei unzutreffend davon ausgegangen, dass die Rechtstellung aus Art. 6 ARB 1/80 mit Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit erlösche. Die Ausweisung genüge nicht den Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Im Übrigen hätte ein Widerspruchsverfahren durchgeführt bzw. über die Ausweisung noch durch eine „unabhängige Stelle“ entschieden werden müssen. Schon aus diesem Grund sei sie aufzuheben. Unabhängig davon sei die Ausweisung hier mit Blick auf die Tatsache, dass die Ehefrau des Klägers und seine Kinder deutsche Staatsangehörige seien, rechtswidrig. Soweit im Urteil dargelegt werde, der Rechtsstellung der Kinder des Klägers könne durch Besuche der Ehefrau mit den Kindern in der Türkei Rechnung getragen werden, werde nicht die dem Kläger gemäß Art. 20 AEUV zukommende europarechtliche Rechtsposition berücksichtigt. Anzugreifen sei auch, dass die erste Instanz eine Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung mangels Befristung verneine. Dies verstoße gegen Art. 8 EMRK. Nach dem kriminalprognostischen Gutachten vom 24.09.2011 bestehe die bei der Tat zutage getretene Gefährlichkeit inzwischen nicht mehr. Die Arbeitssuche des Klägers nach seiner Haftentlassung sei durch seine erheblichen gesundheitlichen Probleme belastet gewesen. Er habe am 20./21.04.2012 in eine Klinik aufgenommen und später erneut - vom 06.06. bis zum 14.06.2012 - stationär behandelt werden müssen. Zum 24.07.2012 habe er dann einen Arbeitsplatz als Fahrer bei einer Firma in Karlsruhe gefunden, wonach er bei einer durchschnittlichen regelmäßigen Arbeitszeit von 25 bis 30 Wochenstunden 1.000,-- EUR brutto monatlich verdiene.
15 
Nachdem das Regierungspräsidiums Karlsruhe in der mündlichen Verhandlung die Sperrwirkungen der Ausweisung vom 22.10.2010 auf zwei Jahre befristet hat, beantragt der Kläger,
16 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 - 4 K 3079/10 - zu ändern und den Bescheid vom 22.10.2010 aufzuheben,
17 
hilfsweise: das beklagte Land zu verpflichten, die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG bezeichneten Wirkungen der Ausweisung auf sofort zu befristen.
18 
Das beklagte Land beantragt,
19 
die Berufung zurückzuweisen.
20 
Es trägt vor: Das Verwaltungsgericht Karlsruhe habe zutreffend die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 22.10.2010 bestätigt und berücksichtigt, dass eine Rechtsstellung aus Art. 6 ARB 1/80 - selbst wenn der Kläger sie erworben hätte - dadurch erloschen wäre, dass er eine Tätigkeit als Selbstständiger aufgenommen habe. Durch die Ausweisung werde kein unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht des Klägers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens begründet. Der Kontakt zur Ehefrau und den Kindern des Klägers könne durch Besuche in der Türkei, Briefe, Telefonate und E-Mails aufrechterhalten werden. Da der Kläger die deutsche Sprache nicht richtig beherrsche und sich bei Besuchen in türkischer Sprache unterhalten habe, sei davon auszugehen, dass die Familie ebenfalls mit der Türkei vertraut sei. Ein Leben in der Türkei wäre für den Kläger auch nicht unzumutbar, weil er zuvor ebenfalls dort gelebt habe, dort noch seine Mutter und Geschwister wohnten und er auch die türkische Sprache beherrsche. Zu dem kriminalprognostischen Gutachten vom 24.09.2011 sei auszuführen: In dem Gutachten werde einmal mehr die „weitgehend fehlende innere Auseinandersetzung“ des Klägers mit seiner Tat und den Folgen für das Opfer bestätigt. Die von ihm signalisierte Betroffenheit über das Leid des Opfers wirke auf die Gutachter sogar „affektiv eher flach und vordergründig“. Für die Gutachter sei der Eindruck entstanden, dass der Kläger „insgesamt emotional stärker durch die Folgen der Tat für ihn und seine Familie als durch die Folgen für das Opfer betroffen erschien“. Ein tiefergehendes Mitgefühl für das Opfer sei trotz verbaler Bekundung wenig spürbar gewesen. Diese Einschätzung decke sich mit einem Bericht der JVA Bruchsal vom 08.02.2011, demzufolge „eine wirkliche Tataufarbeitung ... nicht sichtbar“ werde, und dem Eindruck, den der Kläger beim erstinstanzlichen Gericht hinterlassen habe. Das Verwaltungsgericht habe sich immerhin zu der deutlichen Formulierung veranlasst gesehen, „dass er sich mit seiner Gewaltproblematik noch nicht, jedenfalls in nicht ausreichendem Maße, auseinandergesetzt hat und die Tat eine hohe Bereitschaft für eine im Heimatland des Klägers in bestimmten Bereichen auch heute noch übliche und gesellschaftlich akzeptierte Selbstjustiz belegt“. Mit anderen Worten: Wenn sich der Kläger in einer vergleichbaren Situation wiederfinde, in der jemand der Wahrheit auf die Sprünge helfen wolle, sei nach wie vor keine ethische Schranke bei ihm installiert, die ihn davor bewahre mitzumachen. Das Gutachten vom 24.09.2011 werte zwar zugunsten des Klägers, dass den situativen Faktoren ein wesentliches Gewicht am Zustandekommen der Tat zugekommen sei. Es liefere aber nicht den geringsten neuen Anhaltspunkt dafür, dass sich der Kläger das nächste Mal der Gruppendynamik entziehen oder gar widersetzen würde, wenn Gewalt ins Spiel komme. Aus diesen Gründen bestehe keine Veranlassung, von der aufgrund der mündlichen Verhandlung in erster Instanz gewonnenen und vom Verwaltungsgericht zutreffend begründeten Einschätzung Abstand zu nehmen.
21 
Auf einen Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 11.08.2011 - 11 S 2027/11 - die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 angeordnet.
22 
In einem Bericht der Bewährungshelferin vom 24.07.2012 sowie einem ergänzenden Schreiben vom 25.09.2012 wird dargelegt: Insgesamt sei in dem bisherigen Bewährungsverlauf nichts zu beanstanden. Der Kläger habe sich - zunächst vergeblich - intensiv um einen Arbeitsplatz bemüht. Mit Hilfe eines Rechtsanwalts sei es ihm gelungen, seinen Führerschein der Klasse 3 wieder zu erlangen. Insgesamt sei es dem Kläger nach der Haftentlassung nicht gut gegangen, er habe noch sehr unter den Nachwirkungen gelitten und sei durch seinen behandelnden Arzt wegen Depressionen medikamentös behandelt worden. Am 25.05.2012 habe er sich wegen starker Schmerzen ins Krankenhaus begeben müssen. Nach mehreren Untersuchungen seien ihm am 21.06.2012 stationär mehrere Nierensteine entfernt worden. Er habe sich wirklich bemüht, wieder zu der „arbeitenden Bevölkerung“ zu gehören. Seit dem 24.07.2012 sei er als Fahrer beschäftigt; er verdiene monatlich etwa 1.000,-- EUR. Er hätte die Möglichkeit, einen Kiosk in Karlsruhe-Durlach zu übernehmen; seine Ehefrau würde dann mit ihm zusammenarbeiten.
23 
Dem Senat liegen die Akten des Regierungspräsidiums Karlsruhe über das Ausweisungsverfahren (2 Hefte), die ausländerrechtlichen Akten des Landratsamts Karlsruhe bezüglich des Klägers (2 Hefte), seiner Ehefrau (1 Heft) und der ältesten Tochter (1 Heft), die Gefangenenpersonalakten der JVA Bruchsal (1 Heft), die Strafakten betreffend das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 - 3 KLs 110 Js 41778/08 - (8 Hefte) sowie das Bewährungsheft des Landgerichts Karlsruhe - 15 BWL 213/11 - vor. Diese sind ebenso wie die Akten über das Klageverfahren beim Verwaltungsgerichts Karlsruhe - 4 K 3079/10 -, über das vorliegende Berufungsverfahren - 11 S 1470/11 - und über das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes - 11 S 2027/11 -Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen; hierauf wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
24 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht und ordnungsgemäß begründete (§ 124a Abs. 6 und Abs. 3 Satz 4 VwGO) Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 hat Erfolg. Die Anfechtungsklage des Klägers gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - InfAuslR 2008, 156, und vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris) begründet. Die darin unter Ziffer 1 verfügte Ausweisung und die Abschiebungsandrohung unter Ziffern 2 und 3 sind rechtswidrig und verletzen dadurch den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Einer Entscheidung über den vom Kläger im Berufungsverfahren lediglich hilfsweise gestellten Antrag auf Verpflichtung des beklagten Landes zur Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 bezeichneten Wirkungen der Ausweisung "auf sofort" (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O.) bedarf es daher nicht.
I.
25 
Die auf §§ 53 Nr. 1, 56 Abs. 1, 55 AufenthG beruhende (dazu unter 1. und 2.) Ausweisung des Klägers, die hier im Ermessen des beklagten Landes steht (3.), ist mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rechtswidrig (4.).
26 
1. Maßgebliche Rechtsgrundlage sind die §§ 53 Nr. 1, 56 Abs. 1, 55 AufenthG.
27 
Insbesondere sind nicht etwa allein wegen des Umstands, dass die Ehefrau und die Kinder des Klägers deutsche Staatsangehörige sind, besondere unionsrechtliche Anforderungen zu beachten (vgl. hierzu EuGH, Urteile vom 05.05.2011 - Rs. C-434/09, McCarthy - InfAuslR 2011, 268, und vom 15.11.2011 - Rs. C-256/11, Dereci - InfAuslR 2012, 47; Senatsurteil vom 07.12.2011 - 11 S 897/11 - NVwZ-RR 2012, 412).
28 
Eine nur beschränkte Anwendbarkeit der Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG folgt hier auch nicht aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB 1/80; vgl. insbesondere Art. 14 ARB 1/80). Eine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 hat der Kläger nicht erworben, weil seine Ehefrau vor Ablauf von drei Jahren nach Zuzug des Klägers eingebürgert wurde und die türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben hat (vgl. dazu Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 4 Rn. 156 m.w.N.). Ob er jemals die Voraussetzungen des - hier allein in Betracht kommenden - 2. Spiegelstrichs des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfüllt hat, kann offen bleiben. Denn er hat eine eventuelle Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 durch die spätere Aufnahme selbstständiger Tätigkeiten, zuletzt den Betrieb des Wettbüros - aufgrund dessen der Kläger jedenfalls dem Arbeitsmarkt auf unabsehbare Zeit nicht mehr zur Verfügung stand - verloren (streitig, ebenso: Hess. VGH, Urteil vom 09.02.2004 - 12 TG 3548/03 - InfAuslR 2004, 230; Bayer. VGH, Urteil vom 26.03.2007 - 24 BV 03.2091 - juris; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.10.2006 - 13 S 192/06 - InfAuslR 2007, 49; a.A. VG Stuttgart, Urteil vom 23.05.2011 - 11 K 2967/10 - juris; vgl. zum Streitstand GK-AufenthG, Stand: September 2012, IX - 1 Art. 6 Rn. 238 f.; Hailbronner, AuslR, Stand: August 2012, D 5.1, Art. 6 ARB 1/80 Rn. 46). Letztlich kommt es aber auf diese Frage hier nicht an. Folge einer assoziationsrechtlichen Rechtsstellung des Klägers wäre ein erhöhter Ausweisungsschutz (vgl. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80; Senatsurteil vom 16.04.2012 - 11 S 4/12 - juris m.w.N.). Wie sich aus dem Folgenden ergibt, erweist sich die Ausweisung auch dann als rechtswidrig und ist daher aufzuheben, wenn ihm dieser nicht zukäme.
29 
2. Allerdings sind die Tatbestandsvoraussetzungen einer "Ist-Ausweisung" nach § 53 Nr. 1 AufenthG gegeben. Danach wird ein Ausländer unter anderem dann ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das ist hier wegen der Verurteilung des Klägers durch das Landgericht Karlsruhe vom 30.06.2009 wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten der Fall.
30 
3. Trotz Erfüllung des an sich zwingenden Ausweisungsgrundes des § 53 Nr. 1 AufenthG steht die Ausweisung des Klägers jedoch im Ermessen und ist deshalb nach § 55 AufenthG zu beurteilen. Der Kläger genießt unstreitig gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz (a). Er darf daher gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche liegen gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG, also auch hier, vor. Diesbezüglich ist auch nicht vom Vorliegen eines Ausnahmefalls auszugehen (b). Hier ist aber eine Ausnahme von der "Regelrechtsfolge" des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG geboten, wonach der betreffende Ausländer bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 AufenthG "in der Regel" ausgewiesen wird. Über seine Ausweisung ist daher nach Ermessen zu entscheiden (c).
31 
a) § 56 Abs. 1 AufenthG ist aus zwei Gründen anzuwenden: Zum einen besitzt der Kläger eine Niederlassungserlaubnis und hält sich seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG), zum anderen lebt er mit deutschen Familienangehörigen - seiner Ehefrau und seinen Kindern - in familiärer Lebensgemeinschaft (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG).
32 
b) Der danach für eine Ausweisung des Klägers erforderliche schwerwiegende Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG ist gegeben.
33 
Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5 bis 5b und 7 AufenthG vor. Diese gesetzliche Vermutung beruht darauf, dass bei Verwirklichung der genannten Ausweisungstatbestände regelmäßig das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Ausweisung des Ausländers erfordert und der vom Gesetz bezweckte Schutz des Ausländers dahinter zurückzutreten hat. Die Regelung enthält allerdings keine Automatik, sondern erfordert eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall, ob nicht Besonderheiten vorliegen, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass - hier des § 53 AufenthG - als weniger gewichtig erscheinen lassen. Davon ist auszugehen, wenn im konkreten Fall weder die spezial- noch die generalpräventiven Ausweisungszwecke des betreffenden Ausweisungstatbestands in dem erforderlichen Ausmaß vorliegen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, m.w.N.; vgl. auch Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 02.07.2001 - 13 S 2326/99 - InfAuslR 2002, 72).
34 
Im Falle des Klägers ist zwar nicht mit Blick auf den spezialpräventiven Ausweisungszweck (aa), aber vor dem Hintergrund der zulässigen generalpräventiven Erwägungen ein schwerwiegender Ausweisungsgrund (bb) zu bejahen.
35 
aa) Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kann nicht (mehr) davon ausgegangen werden, dass vom Kläger die Gefahr der Wiederholung erheblicher Straftaten ausgeht. Die Ausweisung kann daher nicht mehr auf spezialpräventive Gründe gestützt werden.
36 
Allerdings ist der Ausweisungsanlass - die vom Kläger begangene Straftat der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - besonders gravierend. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 - juris, vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris, vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3, und vom 03.08.2004 - 1 C 30.02 -InfAuslR 2005, 18), der sich der Senat anschließt (einschränkend noch Senatsurteile vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - NVwZ-RR 2012, 492, und vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291), gelten bei Straftaten mit einer hervorgehobenen Bedeutung für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen. In den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG besteht auch eine gesetzliche Vermutung des Vorliegens eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes in § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Selbst wenn man danach einem differenzierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab folgt, bedeutet dies aber nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet (BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O. m.w.N.). Dies gilt nicht nur bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr bei Assoziationsberechtigten oder Unionsbürgern, sondern jedenfalls auch bei Ausländern, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zusteht. Auch in diesen Fällen müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von dem Betreffenden eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Lässt sich die Begehung weiterer Straftaten lediglich nicht ausschließen, ist eine dem besonderen Ausweisungsschutz Rechnung tragende erhöhte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung noch nicht gegeben, so dass auch der Ausweisungsgrund nicht schwer wiegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O., sowie - zu den entsprechenden Vorgängerregelungen des § 47 Abs. 1 AuslG 1990 bzw. § 11 Abs. 1 AuslG 1965 - Urteile vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -InfAuslR 1997, 8, und vom 17.01.1989 - 1 C 46.86 - InfAuslR 1989, 152; Beschluss vom 10.02.1995 - 1 B 221.04 - InfAuslR 1995, 273, m.w.N.).
37 
Der Senat ist aufgrund der vorliegenden Akten und Unterlagen, insbesondere des von der Strafvollstreckungskammer im Verfahren auf Aussetzung der Reststrafe eingeholten, nachvollziehbaren und überzeugenden kriminalprognostischen Gutachtens vom 24.09.2011, sowie aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass von diesem keine nennenswerte Gefahr der Wiederholung von entsprechenden Straftaten (mehr) ausgeht.
38 
Zu Lasten des Klägers sind in diesem Zusammenhang allerdings zunächst neben der Schwere des begangenen Delikts die konkreten Tatumstände zu berücksichtigen. Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat in dem angefochtenen Bescheid zu Recht darauf hingewiesen, dass der Kläger zwar nicht der Haupttäter war, er jedoch als Inhaber des Wettbüros eine besondere Verantwortung für das Geschehen trug, und dass er über einen Zeitraum von über dreieinhalb Stunden an der Geiselnahme mitgewirkt hat, bei welcher durch eine menschenunwürdige Befragung unter Anwendung und Androhung von Gewalt der Versuch unternommen wurde, von der Angestellten N.G. ein Geständnis für den vermeintlich von dieser bzw. deren Freund begangenen Einbruch zu erhalten. Der Kläger war dabei auch nicht etwa nur passiv beteiligt, sondern unterstützte seine Mittäter aktiv. Bereits am Vorabend der Tat war verabredet worden, N.G. Ohrfeigen zu versetzen. Zwar nahm der Haupttäter B.A. die Schreckschusspistole ohne Wissen der anderen mit. Zum einen schritten sie aber nicht gegen B.A. ein, welcher den Eindruck erweckte, N.G. erschießen zu wollen. Zum anderen nutzten sie die dadurch bei N.G. entstandene Todesangst in der Folge weiter aus bei ihren Bemühungen, ein Geständnis zu erzwingen, und hielten diese aufrecht. Der Kläger hatte außerdem die Kellertür selbst verschlossen und versperrte mit seinen Füßen den Ausgang, so dass das Opfer keine Chance hatte, den Keller zu verlassen. Er beteiligte sich aktiv an Vorhaltungen und an den Forderungen, die Tat einzuräumen, wenngleich weniger intensiv als die Mitangeklagten B.A., Y.K. und E.G. Nachdem N.G. bereits mit der Schreckschusswaffe bedroht worden war und Todesangst litt, schaltete er auf Aufforderung des Haupttäters B.A. das Licht aus, so dass eine noch bedrohlichere Atmosphäre entstand. Später schlug er dem Haupttäter auf Türkisch vor, N.G. mit der Behauptung zusätzlich unter Druck zu setzen, man habe zwischenzeitlich ihren Freund mit einem Baseballschlager "zusammengeschlagen", woraufhin dieser gestanden hätte. Nachdem B.A. den Keller verlassen hatte, befragten der Kläger, Y.K. und T.K. das Opfer N.G. zunächst weiter, bevor sie diese freiließen. Der Kläger nahm damit massive körperliche und psychische Schädigungen der N.G. billigend in Kauf. Wenn auch er und die verbliebenen Mittäter in der Folge von einer weiteren Tatausführung absahen, weshalb das Strafgericht von einer tätigen Reue ausgegangen ist, teilt der Senat die Einschätzung des Regierungspräsidiums, dass die Tat und die Tatumstände für ein erhebliches Maß an krimineller Energie des Klägers sprechen. Es handelt sich um eine besonders gravierende und mit einer erschreckenden Härte und Mitleidlosigkeit begangene Straftat.
39 
Der Kläger hat sich zudem, abgesehen von mehreren Gesprächen mit einem Psychologen in der Justizvollzugsanstalt, nicht mit professioneller Hilfe mit der Tat und den Auswirkungen für das Opfer auseinandergesetzt. An der Tiefe der von ihm in der Vergangenheit in Gesprächen geäußerten Betroffenheit über das Geschehen sind nicht nur in den ersten Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt, sondern auch in dem kriminalprognostischen Gutachten vom 24.09.2011 Zweifel geäußert worden. In dem Gutachten heißt es, es bestehe der Eindruck, dass der Kläger insgesamt emotional stärker durch die Folgen der Tat für ihn und seine Familie als durch die Folgen für das Opfer betroffen sei. Auch habe er seinen eigenen Tatbeitrag im Rahmen der Begutachtung tendenziell eher heruntergespielt. Es hätten sich somit keine Hinweise für eine tiefergehende innere Auseinandersetzung mit der Tat, respektive mit dem eigenen Beitrag zum Tatgeschehen, gefunden. So habe dieser nicht plausibel und nachvollziehbar darlegen können, weshalb er sich in keiner erkennbaren Weise für das Opfer eingesetzt habe, obgleich er das Handeln seiner Mittäter missbilligt haben wolle. Die von ihm angeführte Begründung, dass er Angst davor gehabt hätte, der Mittäter B.A. könnte die Waffe gegen ihn selbst einsetzen, erscheine insgesamt wenig plausibel. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Straftat und den in der eigenen Person liegenden diesbezüglich relevanten Einstellungen und Motiven wird von den Gutachtern daher in prognostischer Hinsicht als ungünstiger Faktor gewertet. Tatsächlich hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung nicht nachvollziehbar erklären können, wie es so weit hat kommen können, vor allem, warum er nicht irgendwann eingeschritten ist. Offensichtlich kann er sich das bis heute selbst nicht erklären. Den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung ließ sich aber eine - glaubhafte - starke Betroffenheit und Reue entnehmen. Dies wurde unter anderem deutlich, als er erläuterte, dass er sich vorgestellt habe, das Opfer wären seine Ehefrau oder seine Tochter gewesen, und dass ihm klar geworden sei, welche Folgen die Tat für N.G. habe. Abgesehen von dem bereits entrichteten Schmerzensgeld für N.G. würde er gerne alles unternehmen, damit es ihr besser gehe.
40 
Selbst wenn sich danach bis heute letztlich nicht erklären lässt, wie es zu einer solchen Straftat hat kommen können, und eine erschöpfende Auseinandersetzung mit der Tat fehlt, besteht beim Kläger nicht die Gefahr einer Wiederholung erheblicher Straftaten. Dabei ist zunächst zu bedenken, dass die Straftat inzwischen fast vier Jahre zurückliegt. Der Kläger war über drei Jahre lang in Untersuchungs- und Strafhaft, welche ihn erkennbar tief beeindruckt hat. Zuvor hat er sich - abgesehen von einem nicht einschlägigen und nicht mehr zu berücksichtigenden Straßenverkehrsdelikt im Jahr 1998 - über 10 Jahre lang straffrei und bis zur Übernahme des Wettbüros - dessen Beschäftige allerdings nicht alle ordnungsgemäß angemeldet gewesen seien - ohne Beanstandungen in Deutschland aufgehalten. Nach dem Gutachten vom 24.09.2011 finden sich keine Hinweise für Berührungspunkte mit "spezifisch delinquenznahem Milieu" und auch keine Hinweise für eine tiefer in der Persönlichkeit des Klägers verankerte delinquente Neigung, etwa eine dissoziale Akzentuierung in seiner Persönlichkeit. Anhaltspunkte für eine Sucht oder eine Bindung an ein entsprechendes Milieu liegen nicht vor. Vor allem lebte und lebt er in einer stabilen partnerschaftlichen Beziehung. Die Gutachter bescheinigen ihm, dass die von ihm bekundeten Sorgen um die Entwicklung der Familie und der Kinder nachvollziehbar und glaubhaft sind. In der mündlichen Verhandlung wurde deutlich, dass der Kläger tatsächlich einen starken Rückhalt durch seine Familie und weitere Verwandte hat. In Deutschland leben noch zwei seiner Brüder. Mit seiner Frau und seinen Kindern besucht er oft die Familie seiner Ehefrau, das heißt deren Eltern und Geschwister, oder einen seiner beiden Brüder, der ebenfalls in der Nähe wohnt. Seine Ehefrau, er und die Kinder unternehmen am Wochenende gemeinsame Ausflüge. Sie begleiten den Sohn, der Handball in der Verbandsliga spielt, zu dessen Spielen, gehen auf den Jahrmarkt, ins Kino, auf Messen oder zu Verwandtenbesuchen. Der Kläger ist dafür zuständig, seinen Kindern bei Hausaufgaben im Fach Mathematik zu helfen. Er hat glaubhaft erklärt, dass er sich jetzt nur noch um seine Familie kümmern wolle. Zu den früheren Mittätern oder deren Umfeld hat der Kläger keinerlei Kontakt mehr. Die danach bestehenden starken Bindungen des Klägers an seine Familie und sein soziales Umfeld wertet der Senat, ebenso wie die Gutachter, als prognostisch günstige Kriterien. Vor diesem Hintergrund erscheint die Befürchtung des Regierungspräsidiums, der Kläger könnte erneut in eine Situation geraten, in welcher besondere "situative Faktoren" wie die im kriminalprognostischen Gutachten beschriebenen - etwa das Eingebundensein in eine Tätergruppe mit freundschaftlichen Beziehungen und Loyalitäten und die Unterordnung unter eine dominant auftretende Persönlichkeit - zu einer ähnlichen Straftat mit Gewaltanwendung führen könnten, fernliegend.
41 
Soweit in den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt mehrmals darauf hingewiesen wird, dass der Kläger versuche, eigene Anliegen hartnäckig durchzusetzen, lässt dies keinen negativen Schluss bezüglich der Gefahr der Wiederholung weiterer Straftaten zu. Jedenfalls wurden während seiner Haftzeit gegen ihn keine Disziplinarmaßnehmen verhängt und er arbeitete ohne Beanstandungen in Betrieben der Justizvollzugsanstalt. Zudem nahm er an einem Deutschkurs teil. Auch die Gutachter betonen, dass der Umstand, dass der Kläger seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse jeweils mit einem gewissen Nachdruck vorgetragen haben solle, nicht als prognoserelevanter Faktor verwertet werden könne. Sie kommen daher in ihrer zusammenfassenden Beurteilung zu dem Ergebnis, dass die weitgehend fehlende innere Auseinandersetzung des Klägers mit der Tat der einzige prognostisch ungünstige Faktor sei, welcher zusätzlich dadurch relativiert werde, dass die Tat nicht in hohem Maße in der Persönlichkeitsstruktur des Klägers verankert erscheine, sondern eng mit spezifischen situativen Konstellationen verknüpft gewesen sei. Die prognostisch günstigen Faktoren überwögen im Vergleich deutlich. In der Gesamtwürdigung sei somit trotz der mangelnden inneren Auseinandersetzung mit der Tat nicht mehr davon auszugehen, dass beim Kläger dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe.
42 
Dieser Beurteilung schließt sich der Senat an. Die Einschätzung der Gutachter wurde auch von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe im Beschluss über die Aussetzung der Reststrafe vom 21.12.2011 geteilt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass entsprechenden strafgerichtlichen Entscheidungen wegen der unterschiedlichen Maßstäbe und Prognosezeitpunkte nur eingeschränkte Bedeutung bei der im Ausweisungsverfahren zu treffenden Prognoseentscheidung zukommt (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3; weitergehend allerdings bei Assoziationsberechtigten: Senatsurteil vom 07.03.2012 - 11 S 3269/11 - InfAuslR 2012, 203), so ist die Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe hier jedenfalls als wesentliches Indiz zu berücksichtigen. Die Strafvollstreckungskammer ist nach Einholung des kriminalprognostischen Gutachtens vom 24.09.2011 zum Ergebnis gekommen, dass eine vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug verantwortet werden könne. Sie hat zur Begründung ebenfalls darauf verwiesen, dass der Kläger bis zu der Geiselnahme strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei und ein sozial voll integriertes Leben geführt habe. Der Anteil des Klägers an der verurteilten Straftat stelle sich, gerade bei den Gewalttätigkeiten, eher als gering dar. Der psychiatrische Sachverständige habe ausgeführt, die Tatsache, dass sich der Kläger mit der Tat allenfalls ansatzweise auseinandergesetzt habe, sei zwar als ungünstig zu beurteilen, im Hinblick auf die spezifische situative Konstellation bei der Tat und die im Übrigen festgestellte Eingebundenheit des Klägers seien aber mit hoher Wahrscheinlichkeit keine entsprechenden Taten zu erwarten. Der Kläger selbst habe in der mündlichen Anhörung auf die Strafvollstreckungskammer einen überaus positiven Eindruck gemacht. Sie sei daher davon überzeugt, dass es ihm mit der Hilfe und der Aufsicht eines Bewährungshelfers gelingen werden, künftig ein straffreies Leben zu führen, zumal er dabei sei, sich in einer anderen Berufssparte zu etablieren.
43 
Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind zudem weitere Umstände gegeben, die eine günstige Prognose rechtfertigen. Der Kläger hat sich seit der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer und der Haftentlassung vor fast einem Jahr weiter bewährt. Er hat keine Schulden mehr. Weil er zunächst Probleme hatte, eine bereits bestehende Fahrerlaubnis für LKW mit einem Gesamtgewicht von über 7,5 t ausgestellt zu bekommen, gelang es ihm zwar nicht sofort nach der Haftentlassung, eine Arbeitsstelle zu finden. Seit Juli 2012 ist er aber als Fahrer bei einer Firma in Karlsruhe angestellt. In einem Schreiben der Firma vom 28.09.2012 wird bestätigt, dass dieser gewissenhaft, zuverlässig und pünktlich sei; an einer Weiterbeschäftigung bestehe Interesse. Die Bewährungshelferin des Klägers äußert sich in einem Bericht vom 24.07.2012 insgesamt ebenfalls positiv. Sie bestätigt, dass sich der Kläger intensiv um einen Arbeitsplatz bemüht, diesen wegen der Probleme mit dem Führerschein aber zunächst nicht erhalten habe. Nach der Haftentlassung sei es ihm zunächst gesundheitlich nicht gut gegangen, er sei wegen einer Depression ärztlich behandelt worden und habe im Mai und Juni wegen Nierenschmerzen und Nierensteinen stationär behandelt werden müssen. An dem bisherigen Bewährungsverlauf sei insgesamt nichts zu beanstanden, der Kläger halte vereinbarte Termine regelmäßig ein, spreche bei auftauchenden Problemen auch ohne Termin vor. Zur Zeit genügt der Verdienst des Klägers - seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung nach inzwischen in Höhe von 800,- bis 1.200,-- EUR netto monatlich - zwar noch nicht zum Lebensunterhalt der Familie. Er und seine Ehefrau haben jedoch konkrete Pläne, mit Hilfe einer selbstständigen Tätigkeit wieder ohne staatliche Unterstützungen leben zu können. Der Kläger ist weiter nicht nur in seine eigene "Kernfamilie" eingebunden, sondern hat zudem regelmäßigen Kontakt zu seinen Schwiegereltern, seinem Bruder und anderen Verwandten.
44 
bb) Wenn danach auch davon auszugehen ist, dass mit Blick auf die spezialpräventiven Gesichtspunkte ein atypischer Sachverhalt vorliegt, mithin kein Regelfall des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG gegeben ist, ist aber das Vorliegen eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes bezüglich der vom beklagten Land angeführten generalpräventiven Gesichtspunkte zu bejahen.
45 
Generalpräventiv motivierte Ausweisungen können - ausnahmsweise - auch bei Ausländern zulässig sein, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zukommt, wenn eine besonders schwerwiegende Straftat vorliegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch eine Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, Urteile 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, und vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - InfAuslR 1997, 8). Bei der Entscheidung sind alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls in die Beurteilung einzubeziehen. Das Gewicht der Straftat ist nicht abstrakt, sondern konkret nach den Umständen der Tatbegehung zu bestimmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - a.a.O.).
46 
Nach diesen Grundsätzen kann die Ausweisung hier wegen der Art und Schwere der Straftat - der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - und der geschilderten konkreten, sich über mehrere Stunden hinziehenden Tatausführung auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden. Eine abschreckende Wirkung erscheint auch mit Blick darauf wichtig, dass es sich um einen Fall von besonders skrupelloser "Selbstjustiz" gehandelt hat. Schließlich war der Einbruch in das Wettbüro des Klägers vom 29.11.2008 bereits bei der Polizei angezeigt worden. Nach Bekanntwerden der Umstände, die aus Sicht des Klägers und der Mitangeklagten für eine Täterschaft der Angestellten N.G. bzw. ihres Freundes sprachen, hatte Y.K. noch am selben Abend die Polizei auch darüber informiert. Ausweislich der Feststellungen im Strafurteil vom 30.06.2009 hatte der Polizeibeamte, welcher aufgrund der vagen Verdächtigungen keinen Grund gesehen hatte, umgehend einzuschreiten, Y.K ausdrücklich davor gewarnt, eigene Aktionen zu unternehmen. Dies hatte Y.K dem Kläger berichtet. Trotzdem verabredeten Y.K., der Kläger und die weiteren Mittäter, N.G. zur Rede zu stellen, um - gegebenenfalls mit Hilfe von Ohrfeigen - ein Geständnis zu erzwingen, und begingen am nächsten Morgen die Straftat.
47 
c) Ist der die Ausweisung tragende Grund somit hinsichtlich der generalpräventiven Gesichtspunkte schwerwiegend, so ist der Kläger an sich gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der Regel auszuweisen, weil er den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht hat. Das Regierungspräsidium hat insoweit wegen der bestehenden familiären Lebensgemeinschaft des Klägers mit seiner deutschen Ehefrau und den vier deutschen Kindern allerdings zu Recht einen Ausnahmefall angenommen, der eine Abweichung von dieser Regel gebietet, und nach Ermessen entschieden.
48 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - InfAuslR 2008, 116, m.w.N.) ist von einem die Regel durchbrechenden Ausnahmefall bereits dann auszugehen, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falls erfordern. Es kann offen bleiben, ob dies bereits dann anzunehmen ist, wenn der Schutzbereich der betroffenen Grundrechte bzw. Menschenrechte, hier Art. 6 und Art. 2 GG bzw. Art. 8 EMRK, lediglich berührt ist oder ob bereits in diesem Zusammenhang die Feststellung eines qualifizierten Eingriffs erforderlich ist. Denn jedenfalls würde im Fall des Klägers wegen der bestehenden familiären Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Ehefrau und deutschen Kindern allein durch die Herabstufung von der "Ist-Ausweisung" zu einer "Regelausweisung" durch § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG dem besonderen Schutz der Familie durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK noch nicht hinreichend einzelfallbezogen Rechnung getragen. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind dann wesentlich konkreter und einzelfallbezogener neben allen ehelichen und familiären Umständen auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen und eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. zu alledem auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - InfAuslR 2007, 443).
49 
4. Das danach dem Regierungspräsidium bei der Entscheidung über die Ausweisung zustehende und nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbare Ermessen ist hier von vornherein "auf Null reduziert", weil die mit einer Ausweisung verbundenen Folgen mit Blick auf die Schutzwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK als unverhältnismäßig anzusehen sind.
50 
Bei der Entscheidung, ob eine im Ermessen der Ausländerbehörde stehende Ausweisung tatsächlich verfügt wird, sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die in § 55 Abs. 3 AufenthG aufgeführten, nämlich die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts, die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige oder Lebenspartner des Ausländer, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, und die in § 60a Abs. 2 und 2b AufenthG genannten Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung. Dabei sind der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Grundrechte des Betroffenen zu beachten, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK, Art. 6 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG). Liegt ein Eingriff in diese Rechte vor, ist ohnehin eine einzelfallbezogene Würdigung und Abwägung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers unter Beachtung der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien vorzunehmen (BVerwG, Beschluss vom 10.02.2011 - 1 B 22.10 - Buchholz 402.242 § 56 AufenthG Nr. 5, m.w.N.; Urteil vom 22.10.2009 - 1 C 26.08 - InfAuslR 2010, 91). Dabei sind neben allen ehelichen und familiären Umständen auch andere gewichtige persönliche Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde in die Ausübung des Rechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Die Frage, ob der durch eine Ausweisung bewirkte Eingriff im konkreten Einzelfall in diesem Sinne „notwendig“, insbesondere verhältnismäßig ist, ist anhand einer Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers mit seinem Interesse an der Aufrechterhaltung seiner faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten und familiären Bindungen im Bundesgebiet zu beurteilen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist dabei von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog auszugehen, den so genannten Boultif/Üner-Kriterien (vgl. zu den Kriterien im Einzelnen: EGMR, Urteile vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00, Boultif - InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99, Üner - NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/03, Maslov II - InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05, Mutlag - InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - Nr. 41548/06, Trabelsi - juris). Erweisen sich danach die rechtlichen oder tatsächlichen Auswirkungen einer Ausweisung in Ansehung von Art. 6 Abs. 1 GG als unverhältnismäßig bzw. im Sinne des Art. 8 EMRK als "nicht notwendig", ist das Ermessen der Behörde mit der Folge "auf Null reduziert", dass eine Ausweisung des Betreffenden ausscheidet.
51 
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist eine Ausweisung des Klägers hier unzulässig. Der Kläger ist bereits seit 1996 mit seiner Ehefrau verheiratet, welche in Deutschland geboren ist und seit 1998 die deutsche Staatangehörigkeit besitzt. Mir ihr und den vier gemeinsamen, zwischen 4 und 15 Jahre alten Kindern, die ebenfalls Deutsche sind, lebt er in enger familiärer Lebensgemeinschaft. Diesem Umstand kommt eine erhebliche und weitreichende, durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zu, welche durch die deutsche Staatsangehörigkeit der Ehefrau und Kinder noch verstärkt wird (vgl. schon BVerwG, Urteile vom 03.05.1973 - I C 33.72 - BVerwGE 42, 133, vom 27.09.1978 - I C 79.76 - BVerwGE 56, 246, vom 17.01.1989 - 1 C 46.86 -InfAuslR 1989, 159; vgl. auch auch BVerfG, Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386; Kammerbeschlüsse vom 15.06.1993 - 2 BvR 900/93 - InfAuslR 1994, 311, und vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320). Dies wird auch nicht etwa durch den Umstand relativiert, dass die Ehefrau früher noch die türkische Staatsangehörigkeit hatte bzw. deren Eltern aus dem Heimatland des Klägers stammen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 30.09.2009 - 13 S 440/09 -; HessVGH, Beschluss vom 15.07.2003 - 12 TG 1484/03 - InfAuslR 2003, 388). Insbesondere kann von der Ehefrau und den Kindern nicht verlangt werden, dass sie mit dem Kläger in die Türkei ausreisen.
52 
Die bestehenden tiefen Bindungen des Klägers zu seiner Familie werden belegt durch die vielen Besuche während seiner Haftzeit. Wie ausgeführt, hat der Kläger offensichtlich ein enges und intaktes Verhältnis zu seiner Ehefrau und seinen Kindern. Er übernimmt die Erziehung der Kinder gemeinsam mit seiner Ehefrau. In Anbetracht des jungen Alters der Kinder hätte eine - wenn auch nur vorübergehende - Trennung für diese ein besonderes Gewicht (vgl. zu Kindern in den ersten Lebensjahren BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320, und vom 01.12.2008 - 2 BvR 1830/08 -juris). Deren Belangen könnte daher auch durch eine Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung auf einen bestimmten - nicht zu langen - Zeitraum nicht hinreichend Rechnung getragen werden.
53 
Auf der anderen Seite ist das öffentliche Interesse einer Ausweisung hier gemindert, weil ungeachtet der Schwere der vom Kläger begangenen Straftat nicht mehr von einer relevanten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden kann. Allein die generalpräventiven Erwägungen vermögen den mit einer Ausweisung verbundenen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zu rechtfertigen. Wie ausgeführt, ist zwar davon auszugehen, dass eine besonders schwerwiegende Straftat vorliegt und deshalb - grundsätzlich - ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, Urteile 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, und vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -InfAuslR 1997, 8). Dieses vermag aber in Anbetracht der konkreten Umstände des vorliegenden Falles den Eingriff in das Schutzgebot von Art. 6 Abs. 1 GG bzw. das Achtungsgebots des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zu rechtfertigen. Dabei ist von besonderer Relevanz, dass die Tat annähernd vier Jahre zurückliegt und der Kläger seine Strafe verbüßt hat. Auch sind die bereits im Rahmen der Prüfung der Wiederholungsgefahr angeführten, für den Kläger sprechenden weiteren Umstände zu berücksichtigen, etwa dass er sich bereits seit 1996 rechtmäßig hier aufhält, zuvor - bis auf das Verkehrsdelikt - nie straffällig geworden war, außerdem dass er sich immer bemüht hat, ausreichend für seine Familie und sich zu sorgen und sich auch seit seiner Haftentlassung bewährt hat.
54 
Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass die Ausweisung des Klägers hier im Ergebnis selbst dann als unverhältnismäßig anzusehen ist, wenn man noch vom Bestehen einer geringen, aber die Erheblichkeitsschwelle übersteigenden Wiederholungsgefahr und damit dem Vorliegen spezialpräventiver Ausweisungsgründe ausginge. Denn aus den - zur Unverhältnismäßigkeit einer generalpräventiv motivierten Ausweisung - angeführten Gründen führt die danach erforderliche Abwägung ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die privaten Interessen des Klägers und seiner Familienangehörigen das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung überwiegen.
II.
55 
Unter diesen Umständen ist auch die im Bescheid vom 22.10.2010 verfügten Abschiebungsandrohung rechtswidrig und aufzuheben.
56 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
57 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
58 
Beschluss vom 23. Oktober 2012
59 
Der Streitwert für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG).
60 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
24 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht und ordnungsgemäß begründete (§ 124a Abs. 6 und Abs. 3 Satz 4 VwGO) Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 hat Erfolg. Die Anfechtungsklage des Klägers gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - InfAuslR 2008, 156, und vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris) begründet. Die darin unter Ziffer 1 verfügte Ausweisung und die Abschiebungsandrohung unter Ziffern 2 und 3 sind rechtswidrig und verletzen dadurch den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Einer Entscheidung über den vom Kläger im Berufungsverfahren lediglich hilfsweise gestellten Antrag auf Verpflichtung des beklagten Landes zur Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 bezeichneten Wirkungen der Ausweisung "auf sofort" (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O.) bedarf es daher nicht.
I.
25 
Die auf §§ 53 Nr. 1, 56 Abs. 1, 55 AufenthG beruhende (dazu unter 1. und 2.) Ausweisung des Klägers, die hier im Ermessen des beklagten Landes steht (3.), ist mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rechtswidrig (4.).
26 
1. Maßgebliche Rechtsgrundlage sind die §§ 53 Nr. 1, 56 Abs. 1, 55 AufenthG.
27 
Insbesondere sind nicht etwa allein wegen des Umstands, dass die Ehefrau und die Kinder des Klägers deutsche Staatsangehörige sind, besondere unionsrechtliche Anforderungen zu beachten (vgl. hierzu EuGH, Urteile vom 05.05.2011 - Rs. C-434/09, McCarthy - InfAuslR 2011, 268, und vom 15.11.2011 - Rs. C-256/11, Dereci - InfAuslR 2012, 47; Senatsurteil vom 07.12.2011 - 11 S 897/11 - NVwZ-RR 2012, 412).
28 
Eine nur beschränkte Anwendbarkeit der Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG folgt hier auch nicht aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB 1/80; vgl. insbesondere Art. 14 ARB 1/80). Eine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 hat der Kläger nicht erworben, weil seine Ehefrau vor Ablauf von drei Jahren nach Zuzug des Klägers eingebürgert wurde und die türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben hat (vgl. dazu Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 4 Rn. 156 m.w.N.). Ob er jemals die Voraussetzungen des - hier allein in Betracht kommenden - 2. Spiegelstrichs des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfüllt hat, kann offen bleiben. Denn er hat eine eventuelle Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 durch die spätere Aufnahme selbstständiger Tätigkeiten, zuletzt den Betrieb des Wettbüros - aufgrund dessen der Kläger jedenfalls dem Arbeitsmarkt auf unabsehbare Zeit nicht mehr zur Verfügung stand - verloren (streitig, ebenso: Hess. VGH, Urteil vom 09.02.2004 - 12 TG 3548/03 - InfAuslR 2004, 230; Bayer. VGH, Urteil vom 26.03.2007 - 24 BV 03.2091 - juris; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.10.2006 - 13 S 192/06 - InfAuslR 2007, 49; a.A. VG Stuttgart, Urteil vom 23.05.2011 - 11 K 2967/10 - juris; vgl. zum Streitstand GK-AufenthG, Stand: September 2012, IX - 1 Art. 6 Rn. 238 f.; Hailbronner, AuslR, Stand: August 2012, D 5.1, Art. 6 ARB 1/80 Rn. 46). Letztlich kommt es aber auf diese Frage hier nicht an. Folge einer assoziationsrechtlichen Rechtsstellung des Klägers wäre ein erhöhter Ausweisungsschutz (vgl. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80; Senatsurteil vom 16.04.2012 - 11 S 4/12 - juris m.w.N.). Wie sich aus dem Folgenden ergibt, erweist sich die Ausweisung auch dann als rechtswidrig und ist daher aufzuheben, wenn ihm dieser nicht zukäme.
29 
2. Allerdings sind die Tatbestandsvoraussetzungen einer "Ist-Ausweisung" nach § 53 Nr. 1 AufenthG gegeben. Danach wird ein Ausländer unter anderem dann ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das ist hier wegen der Verurteilung des Klägers durch das Landgericht Karlsruhe vom 30.06.2009 wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten der Fall.
30 
3. Trotz Erfüllung des an sich zwingenden Ausweisungsgrundes des § 53 Nr. 1 AufenthG steht die Ausweisung des Klägers jedoch im Ermessen und ist deshalb nach § 55 AufenthG zu beurteilen. Der Kläger genießt unstreitig gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz (a). Er darf daher gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche liegen gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG, also auch hier, vor. Diesbezüglich ist auch nicht vom Vorliegen eines Ausnahmefalls auszugehen (b). Hier ist aber eine Ausnahme von der "Regelrechtsfolge" des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG geboten, wonach der betreffende Ausländer bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 AufenthG "in der Regel" ausgewiesen wird. Über seine Ausweisung ist daher nach Ermessen zu entscheiden (c).
31 
a) § 56 Abs. 1 AufenthG ist aus zwei Gründen anzuwenden: Zum einen besitzt der Kläger eine Niederlassungserlaubnis und hält sich seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG), zum anderen lebt er mit deutschen Familienangehörigen - seiner Ehefrau und seinen Kindern - in familiärer Lebensgemeinschaft (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG).
32 
b) Der danach für eine Ausweisung des Klägers erforderliche schwerwiegende Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG ist gegeben.
33 
Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5 bis 5b und 7 AufenthG vor. Diese gesetzliche Vermutung beruht darauf, dass bei Verwirklichung der genannten Ausweisungstatbestände regelmäßig das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Ausweisung des Ausländers erfordert und der vom Gesetz bezweckte Schutz des Ausländers dahinter zurückzutreten hat. Die Regelung enthält allerdings keine Automatik, sondern erfordert eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall, ob nicht Besonderheiten vorliegen, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass - hier des § 53 AufenthG - als weniger gewichtig erscheinen lassen. Davon ist auszugehen, wenn im konkreten Fall weder die spezial- noch die generalpräventiven Ausweisungszwecke des betreffenden Ausweisungstatbestands in dem erforderlichen Ausmaß vorliegen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, m.w.N.; vgl. auch Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 02.07.2001 - 13 S 2326/99 - InfAuslR 2002, 72).
34 
Im Falle des Klägers ist zwar nicht mit Blick auf den spezialpräventiven Ausweisungszweck (aa), aber vor dem Hintergrund der zulässigen generalpräventiven Erwägungen ein schwerwiegender Ausweisungsgrund (bb) zu bejahen.
35 
aa) Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kann nicht (mehr) davon ausgegangen werden, dass vom Kläger die Gefahr der Wiederholung erheblicher Straftaten ausgeht. Die Ausweisung kann daher nicht mehr auf spezialpräventive Gründe gestützt werden.
36 
Allerdings ist der Ausweisungsanlass - die vom Kläger begangene Straftat der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - besonders gravierend. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 - juris, vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris, vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3, und vom 03.08.2004 - 1 C 30.02 -InfAuslR 2005, 18), der sich der Senat anschließt (einschränkend noch Senatsurteile vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - NVwZ-RR 2012, 492, und vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291), gelten bei Straftaten mit einer hervorgehobenen Bedeutung für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen. In den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG besteht auch eine gesetzliche Vermutung des Vorliegens eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes in § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Selbst wenn man danach einem differenzierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab folgt, bedeutet dies aber nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet (BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O. m.w.N.). Dies gilt nicht nur bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr bei Assoziationsberechtigten oder Unionsbürgern, sondern jedenfalls auch bei Ausländern, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zusteht. Auch in diesen Fällen müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von dem Betreffenden eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Lässt sich die Begehung weiterer Straftaten lediglich nicht ausschließen, ist eine dem besonderen Ausweisungsschutz Rechnung tragende erhöhte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung noch nicht gegeben, so dass auch der Ausweisungsgrund nicht schwer wiegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O., sowie - zu den entsprechenden Vorgängerregelungen des § 47 Abs. 1 AuslG 1990 bzw. § 11 Abs. 1 AuslG 1965 - Urteile vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -InfAuslR 1997, 8, und vom 17.01.1989 - 1 C 46.86 - InfAuslR 1989, 152; Beschluss vom 10.02.1995 - 1 B 221.04 - InfAuslR 1995, 273, m.w.N.).
37 
Der Senat ist aufgrund der vorliegenden Akten und Unterlagen, insbesondere des von der Strafvollstreckungskammer im Verfahren auf Aussetzung der Reststrafe eingeholten, nachvollziehbaren und überzeugenden kriminalprognostischen Gutachtens vom 24.09.2011, sowie aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass von diesem keine nennenswerte Gefahr der Wiederholung von entsprechenden Straftaten (mehr) ausgeht.
38 
Zu Lasten des Klägers sind in diesem Zusammenhang allerdings zunächst neben der Schwere des begangenen Delikts die konkreten Tatumstände zu berücksichtigen. Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat in dem angefochtenen Bescheid zu Recht darauf hingewiesen, dass der Kläger zwar nicht der Haupttäter war, er jedoch als Inhaber des Wettbüros eine besondere Verantwortung für das Geschehen trug, und dass er über einen Zeitraum von über dreieinhalb Stunden an der Geiselnahme mitgewirkt hat, bei welcher durch eine menschenunwürdige Befragung unter Anwendung und Androhung von Gewalt der Versuch unternommen wurde, von der Angestellten N.G. ein Geständnis für den vermeintlich von dieser bzw. deren Freund begangenen Einbruch zu erhalten. Der Kläger war dabei auch nicht etwa nur passiv beteiligt, sondern unterstützte seine Mittäter aktiv. Bereits am Vorabend der Tat war verabredet worden, N.G. Ohrfeigen zu versetzen. Zwar nahm der Haupttäter B.A. die Schreckschusspistole ohne Wissen der anderen mit. Zum einen schritten sie aber nicht gegen B.A. ein, welcher den Eindruck erweckte, N.G. erschießen zu wollen. Zum anderen nutzten sie die dadurch bei N.G. entstandene Todesangst in der Folge weiter aus bei ihren Bemühungen, ein Geständnis zu erzwingen, und hielten diese aufrecht. Der Kläger hatte außerdem die Kellertür selbst verschlossen und versperrte mit seinen Füßen den Ausgang, so dass das Opfer keine Chance hatte, den Keller zu verlassen. Er beteiligte sich aktiv an Vorhaltungen und an den Forderungen, die Tat einzuräumen, wenngleich weniger intensiv als die Mitangeklagten B.A., Y.K. und E.G. Nachdem N.G. bereits mit der Schreckschusswaffe bedroht worden war und Todesangst litt, schaltete er auf Aufforderung des Haupttäters B.A. das Licht aus, so dass eine noch bedrohlichere Atmosphäre entstand. Später schlug er dem Haupttäter auf Türkisch vor, N.G. mit der Behauptung zusätzlich unter Druck zu setzen, man habe zwischenzeitlich ihren Freund mit einem Baseballschlager "zusammengeschlagen", woraufhin dieser gestanden hätte. Nachdem B.A. den Keller verlassen hatte, befragten der Kläger, Y.K. und T.K. das Opfer N.G. zunächst weiter, bevor sie diese freiließen. Der Kläger nahm damit massive körperliche und psychische Schädigungen der N.G. billigend in Kauf. Wenn auch er und die verbliebenen Mittäter in der Folge von einer weiteren Tatausführung absahen, weshalb das Strafgericht von einer tätigen Reue ausgegangen ist, teilt der Senat die Einschätzung des Regierungspräsidiums, dass die Tat und die Tatumstände für ein erhebliches Maß an krimineller Energie des Klägers sprechen. Es handelt sich um eine besonders gravierende und mit einer erschreckenden Härte und Mitleidlosigkeit begangene Straftat.
39 
Der Kläger hat sich zudem, abgesehen von mehreren Gesprächen mit einem Psychologen in der Justizvollzugsanstalt, nicht mit professioneller Hilfe mit der Tat und den Auswirkungen für das Opfer auseinandergesetzt. An der Tiefe der von ihm in der Vergangenheit in Gesprächen geäußerten Betroffenheit über das Geschehen sind nicht nur in den ersten Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt, sondern auch in dem kriminalprognostischen Gutachten vom 24.09.2011 Zweifel geäußert worden. In dem Gutachten heißt es, es bestehe der Eindruck, dass der Kläger insgesamt emotional stärker durch die Folgen der Tat für ihn und seine Familie als durch die Folgen für das Opfer betroffen sei. Auch habe er seinen eigenen Tatbeitrag im Rahmen der Begutachtung tendenziell eher heruntergespielt. Es hätten sich somit keine Hinweise für eine tiefergehende innere Auseinandersetzung mit der Tat, respektive mit dem eigenen Beitrag zum Tatgeschehen, gefunden. So habe dieser nicht plausibel und nachvollziehbar darlegen können, weshalb er sich in keiner erkennbaren Weise für das Opfer eingesetzt habe, obgleich er das Handeln seiner Mittäter missbilligt haben wolle. Die von ihm angeführte Begründung, dass er Angst davor gehabt hätte, der Mittäter B.A. könnte die Waffe gegen ihn selbst einsetzen, erscheine insgesamt wenig plausibel. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Straftat und den in der eigenen Person liegenden diesbezüglich relevanten Einstellungen und Motiven wird von den Gutachtern daher in prognostischer Hinsicht als ungünstiger Faktor gewertet. Tatsächlich hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung nicht nachvollziehbar erklären können, wie es so weit hat kommen können, vor allem, warum er nicht irgendwann eingeschritten ist. Offensichtlich kann er sich das bis heute selbst nicht erklären. Den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung ließ sich aber eine - glaubhafte - starke Betroffenheit und Reue entnehmen. Dies wurde unter anderem deutlich, als er erläuterte, dass er sich vorgestellt habe, das Opfer wären seine Ehefrau oder seine Tochter gewesen, und dass ihm klar geworden sei, welche Folgen die Tat für N.G. habe. Abgesehen von dem bereits entrichteten Schmerzensgeld für N.G. würde er gerne alles unternehmen, damit es ihr besser gehe.
40 
Selbst wenn sich danach bis heute letztlich nicht erklären lässt, wie es zu einer solchen Straftat hat kommen können, und eine erschöpfende Auseinandersetzung mit der Tat fehlt, besteht beim Kläger nicht die Gefahr einer Wiederholung erheblicher Straftaten. Dabei ist zunächst zu bedenken, dass die Straftat inzwischen fast vier Jahre zurückliegt. Der Kläger war über drei Jahre lang in Untersuchungs- und Strafhaft, welche ihn erkennbar tief beeindruckt hat. Zuvor hat er sich - abgesehen von einem nicht einschlägigen und nicht mehr zu berücksichtigenden Straßenverkehrsdelikt im Jahr 1998 - über 10 Jahre lang straffrei und bis zur Übernahme des Wettbüros - dessen Beschäftige allerdings nicht alle ordnungsgemäß angemeldet gewesen seien - ohne Beanstandungen in Deutschland aufgehalten. Nach dem Gutachten vom 24.09.2011 finden sich keine Hinweise für Berührungspunkte mit "spezifisch delinquenznahem Milieu" und auch keine Hinweise für eine tiefer in der Persönlichkeit des Klägers verankerte delinquente Neigung, etwa eine dissoziale Akzentuierung in seiner Persönlichkeit. Anhaltspunkte für eine Sucht oder eine Bindung an ein entsprechendes Milieu liegen nicht vor. Vor allem lebte und lebt er in einer stabilen partnerschaftlichen Beziehung. Die Gutachter bescheinigen ihm, dass die von ihm bekundeten Sorgen um die Entwicklung der Familie und der Kinder nachvollziehbar und glaubhaft sind. In der mündlichen Verhandlung wurde deutlich, dass der Kläger tatsächlich einen starken Rückhalt durch seine Familie und weitere Verwandte hat. In Deutschland leben noch zwei seiner Brüder. Mit seiner Frau und seinen Kindern besucht er oft die Familie seiner Ehefrau, das heißt deren Eltern und Geschwister, oder einen seiner beiden Brüder, der ebenfalls in der Nähe wohnt. Seine Ehefrau, er und die Kinder unternehmen am Wochenende gemeinsame Ausflüge. Sie begleiten den Sohn, der Handball in der Verbandsliga spielt, zu dessen Spielen, gehen auf den Jahrmarkt, ins Kino, auf Messen oder zu Verwandtenbesuchen. Der Kläger ist dafür zuständig, seinen Kindern bei Hausaufgaben im Fach Mathematik zu helfen. Er hat glaubhaft erklärt, dass er sich jetzt nur noch um seine Familie kümmern wolle. Zu den früheren Mittätern oder deren Umfeld hat der Kläger keinerlei Kontakt mehr. Die danach bestehenden starken Bindungen des Klägers an seine Familie und sein soziales Umfeld wertet der Senat, ebenso wie die Gutachter, als prognostisch günstige Kriterien. Vor diesem Hintergrund erscheint die Befürchtung des Regierungspräsidiums, der Kläger könnte erneut in eine Situation geraten, in welcher besondere "situative Faktoren" wie die im kriminalprognostischen Gutachten beschriebenen - etwa das Eingebundensein in eine Tätergruppe mit freundschaftlichen Beziehungen und Loyalitäten und die Unterordnung unter eine dominant auftretende Persönlichkeit - zu einer ähnlichen Straftat mit Gewaltanwendung führen könnten, fernliegend.
41 
Soweit in den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt mehrmals darauf hingewiesen wird, dass der Kläger versuche, eigene Anliegen hartnäckig durchzusetzen, lässt dies keinen negativen Schluss bezüglich der Gefahr der Wiederholung weiterer Straftaten zu. Jedenfalls wurden während seiner Haftzeit gegen ihn keine Disziplinarmaßnehmen verhängt und er arbeitete ohne Beanstandungen in Betrieben der Justizvollzugsanstalt. Zudem nahm er an einem Deutschkurs teil. Auch die Gutachter betonen, dass der Umstand, dass der Kläger seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse jeweils mit einem gewissen Nachdruck vorgetragen haben solle, nicht als prognoserelevanter Faktor verwertet werden könne. Sie kommen daher in ihrer zusammenfassenden Beurteilung zu dem Ergebnis, dass die weitgehend fehlende innere Auseinandersetzung des Klägers mit der Tat der einzige prognostisch ungünstige Faktor sei, welcher zusätzlich dadurch relativiert werde, dass die Tat nicht in hohem Maße in der Persönlichkeitsstruktur des Klägers verankert erscheine, sondern eng mit spezifischen situativen Konstellationen verknüpft gewesen sei. Die prognostisch günstigen Faktoren überwögen im Vergleich deutlich. In der Gesamtwürdigung sei somit trotz der mangelnden inneren Auseinandersetzung mit der Tat nicht mehr davon auszugehen, dass beim Kläger dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe.
42 
Dieser Beurteilung schließt sich der Senat an. Die Einschätzung der Gutachter wurde auch von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe im Beschluss über die Aussetzung der Reststrafe vom 21.12.2011 geteilt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass entsprechenden strafgerichtlichen Entscheidungen wegen der unterschiedlichen Maßstäbe und Prognosezeitpunkte nur eingeschränkte Bedeutung bei der im Ausweisungsverfahren zu treffenden Prognoseentscheidung zukommt (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3; weitergehend allerdings bei Assoziationsberechtigten: Senatsurteil vom 07.03.2012 - 11 S 3269/11 - InfAuslR 2012, 203), so ist die Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe hier jedenfalls als wesentliches Indiz zu berücksichtigen. Die Strafvollstreckungskammer ist nach Einholung des kriminalprognostischen Gutachtens vom 24.09.2011 zum Ergebnis gekommen, dass eine vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug verantwortet werden könne. Sie hat zur Begründung ebenfalls darauf verwiesen, dass der Kläger bis zu der Geiselnahme strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei und ein sozial voll integriertes Leben geführt habe. Der Anteil des Klägers an der verurteilten Straftat stelle sich, gerade bei den Gewalttätigkeiten, eher als gering dar. Der psychiatrische Sachverständige habe ausgeführt, die Tatsache, dass sich der Kläger mit der Tat allenfalls ansatzweise auseinandergesetzt habe, sei zwar als ungünstig zu beurteilen, im Hinblick auf die spezifische situative Konstellation bei der Tat und die im Übrigen festgestellte Eingebundenheit des Klägers seien aber mit hoher Wahrscheinlichkeit keine entsprechenden Taten zu erwarten. Der Kläger selbst habe in der mündlichen Anhörung auf die Strafvollstreckungskammer einen überaus positiven Eindruck gemacht. Sie sei daher davon überzeugt, dass es ihm mit der Hilfe und der Aufsicht eines Bewährungshelfers gelingen werden, künftig ein straffreies Leben zu führen, zumal er dabei sei, sich in einer anderen Berufssparte zu etablieren.
43 
Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind zudem weitere Umstände gegeben, die eine günstige Prognose rechtfertigen. Der Kläger hat sich seit der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer und der Haftentlassung vor fast einem Jahr weiter bewährt. Er hat keine Schulden mehr. Weil er zunächst Probleme hatte, eine bereits bestehende Fahrerlaubnis für LKW mit einem Gesamtgewicht von über 7,5 t ausgestellt zu bekommen, gelang es ihm zwar nicht sofort nach der Haftentlassung, eine Arbeitsstelle zu finden. Seit Juli 2012 ist er aber als Fahrer bei einer Firma in Karlsruhe angestellt. In einem Schreiben der Firma vom 28.09.2012 wird bestätigt, dass dieser gewissenhaft, zuverlässig und pünktlich sei; an einer Weiterbeschäftigung bestehe Interesse. Die Bewährungshelferin des Klägers äußert sich in einem Bericht vom 24.07.2012 insgesamt ebenfalls positiv. Sie bestätigt, dass sich der Kläger intensiv um einen Arbeitsplatz bemüht, diesen wegen der Probleme mit dem Führerschein aber zunächst nicht erhalten habe. Nach der Haftentlassung sei es ihm zunächst gesundheitlich nicht gut gegangen, er sei wegen einer Depression ärztlich behandelt worden und habe im Mai und Juni wegen Nierenschmerzen und Nierensteinen stationär behandelt werden müssen. An dem bisherigen Bewährungsverlauf sei insgesamt nichts zu beanstanden, der Kläger halte vereinbarte Termine regelmäßig ein, spreche bei auftauchenden Problemen auch ohne Termin vor. Zur Zeit genügt der Verdienst des Klägers - seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung nach inzwischen in Höhe von 800,- bis 1.200,-- EUR netto monatlich - zwar noch nicht zum Lebensunterhalt der Familie. Er und seine Ehefrau haben jedoch konkrete Pläne, mit Hilfe einer selbstständigen Tätigkeit wieder ohne staatliche Unterstützungen leben zu können. Der Kläger ist weiter nicht nur in seine eigene "Kernfamilie" eingebunden, sondern hat zudem regelmäßigen Kontakt zu seinen Schwiegereltern, seinem Bruder und anderen Verwandten.
44 
bb) Wenn danach auch davon auszugehen ist, dass mit Blick auf die spezialpräventiven Gesichtspunkte ein atypischer Sachverhalt vorliegt, mithin kein Regelfall des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG gegeben ist, ist aber das Vorliegen eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes bezüglich der vom beklagten Land angeführten generalpräventiven Gesichtspunkte zu bejahen.
45 
Generalpräventiv motivierte Ausweisungen können - ausnahmsweise - auch bei Ausländern zulässig sein, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zukommt, wenn eine besonders schwerwiegende Straftat vorliegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch eine Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, Urteile 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, und vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - InfAuslR 1997, 8). Bei der Entscheidung sind alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls in die Beurteilung einzubeziehen. Das Gewicht der Straftat ist nicht abstrakt, sondern konkret nach den Umständen der Tatbegehung zu bestimmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - a.a.O.).
46 
Nach diesen Grundsätzen kann die Ausweisung hier wegen der Art und Schwere der Straftat - der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - und der geschilderten konkreten, sich über mehrere Stunden hinziehenden Tatausführung auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden. Eine abschreckende Wirkung erscheint auch mit Blick darauf wichtig, dass es sich um einen Fall von besonders skrupelloser "Selbstjustiz" gehandelt hat. Schließlich war der Einbruch in das Wettbüro des Klägers vom 29.11.2008 bereits bei der Polizei angezeigt worden. Nach Bekanntwerden der Umstände, die aus Sicht des Klägers und der Mitangeklagten für eine Täterschaft der Angestellten N.G. bzw. ihres Freundes sprachen, hatte Y.K. noch am selben Abend die Polizei auch darüber informiert. Ausweislich der Feststellungen im Strafurteil vom 30.06.2009 hatte der Polizeibeamte, welcher aufgrund der vagen Verdächtigungen keinen Grund gesehen hatte, umgehend einzuschreiten, Y.K ausdrücklich davor gewarnt, eigene Aktionen zu unternehmen. Dies hatte Y.K dem Kläger berichtet. Trotzdem verabredeten Y.K., der Kläger und die weiteren Mittäter, N.G. zur Rede zu stellen, um - gegebenenfalls mit Hilfe von Ohrfeigen - ein Geständnis zu erzwingen, und begingen am nächsten Morgen die Straftat.
47 
c) Ist der die Ausweisung tragende Grund somit hinsichtlich der generalpräventiven Gesichtspunkte schwerwiegend, so ist der Kläger an sich gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der Regel auszuweisen, weil er den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht hat. Das Regierungspräsidium hat insoweit wegen der bestehenden familiären Lebensgemeinschaft des Klägers mit seiner deutschen Ehefrau und den vier deutschen Kindern allerdings zu Recht einen Ausnahmefall angenommen, der eine Abweichung von dieser Regel gebietet, und nach Ermessen entschieden.
48 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - InfAuslR 2008, 116, m.w.N.) ist von einem die Regel durchbrechenden Ausnahmefall bereits dann auszugehen, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falls erfordern. Es kann offen bleiben, ob dies bereits dann anzunehmen ist, wenn der Schutzbereich der betroffenen Grundrechte bzw. Menschenrechte, hier Art. 6 und Art. 2 GG bzw. Art. 8 EMRK, lediglich berührt ist oder ob bereits in diesem Zusammenhang die Feststellung eines qualifizierten Eingriffs erforderlich ist. Denn jedenfalls würde im Fall des Klägers wegen der bestehenden familiären Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Ehefrau und deutschen Kindern allein durch die Herabstufung von der "Ist-Ausweisung" zu einer "Regelausweisung" durch § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG dem besonderen Schutz der Familie durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK noch nicht hinreichend einzelfallbezogen Rechnung getragen. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind dann wesentlich konkreter und einzelfallbezogener neben allen ehelichen und familiären Umständen auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen und eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. zu alledem auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - InfAuslR 2007, 443).
49 
4. Das danach dem Regierungspräsidium bei der Entscheidung über die Ausweisung zustehende und nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbare Ermessen ist hier von vornherein "auf Null reduziert", weil die mit einer Ausweisung verbundenen Folgen mit Blick auf die Schutzwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK als unverhältnismäßig anzusehen sind.
50 
Bei der Entscheidung, ob eine im Ermessen der Ausländerbehörde stehende Ausweisung tatsächlich verfügt wird, sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die in § 55 Abs. 3 AufenthG aufgeführten, nämlich die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts, die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige oder Lebenspartner des Ausländer, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, und die in § 60a Abs. 2 und 2b AufenthG genannten Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung. Dabei sind der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Grundrechte des Betroffenen zu beachten, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK, Art. 6 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG). Liegt ein Eingriff in diese Rechte vor, ist ohnehin eine einzelfallbezogene Würdigung und Abwägung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers unter Beachtung der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien vorzunehmen (BVerwG, Beschluss vom 10.02.2011 - 1 B 22.10 - Buchholz 402.242 § 56 AufenthG Nr. 5, m.w.N.; Urteil vom 22.10.2009 - 1 C 26.08 - InfAuslR 2010, 91). Dabei sind neben allen ehelichen und familiären Umständen auch andere gewichtige persönliche Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde in die Ausübung des Rechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Die Frage, ob der durch eine Ausweisung bewirkte Eingriff im konkreten Einzelfall in diesem Sinne „notwendig“, insbesondere verhältnismäßig ist, ist anhand einer Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers mit seinem Interesse an der Aufrechterhaltung seiner faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten und familiären Bindungen im Bundesgebiet zu beurteilen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist dabei von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog auszugehen, den so genannten Boultif/Üner-Kriterien (vgl. zu den Kriterien im Einzelnen: EGMR, Urteile vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00, Boultif - InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99, Üner - NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/03, Maslov II - InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05, Mutlag - InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - Nr. 41548/06, Trabelsi - juris). Erweisen sich danach die rechtlichen oder tatsächlichen Auswirkungen einer Ausweisung in Ansehung von Art. 6 Abs. 1 GG als unverhältnismäßig bzw. im Sinne des Art. 8 EMRK als "nicht notwendig", ist das Ermessen der Behörde mit der Folge "auf Null reduziert", dass eine Ausweisung des Betreffenden ausscheidet.
51 
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist eine Ausweisung des Klägers hier unzulässig. Der Kläger ist bereits seit 1996 mit seiner Ehefrau verheiratet, welche in Deutschland geboren ist und seit 1998 die deutsche Staatangehörigkeit besitzt. Mir ihr und den vier gemeinsamen, zwischen 4 und 15 Jahre alten Kindern, die ebenfalls Deutsche sind, lebt er in enger familiärer Lebensgemeinschaft. Diesem Umstand kommt eine erhebliche und weitreichende, durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zu, welche durch die deutsche Staatsangehörigkeit der Ehefrau und Kinder noch verstärkt wird (vgl. schon BVerwG, Urteile vom 03.05.1973 - I C 33.72 - BVerwGE 42, 133, vom 27.09.1978 - I C 79.76 - BVerwGE 56, 246, vom 17.01.1989 - 1 C 46.86 -InfAuslR 1989, 159; vgl. auch auch BVerfG, Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386; Kammerbeschlüsse vom 15.06.1993 - 2 BvR 900/93 - InfAuslR 1994, 311, und vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320). Dies wird auch nicht etwa durch den Umstand relativiert, dass die Ehefrau früher noch die türkische Staatsangehörigkeit hatte bzw. deren Eltern aus dem Heimatland des Klägers stammen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 30.09.2009 - 13 S 440/09 -; HessVGH, Beschluss vom 15.07.2003 - 12 TG 1484/03 - InfAuslR 2003, 388). Insbesondere kann von der Ehefrau und den Kindern nicht verlangt werden, dass sie mit dem Kläger in die Türkei ausreisen.
52 
Die bestehenden tiefen Bindungen des Klägers zu seiner Familie werden belegt durch die vielen Besuche während seiner Haftzeit. Wie ausgeführt, hat der Kläger offensichtlich ein enges und intaktes Verhältnis zu seiner Ehefrau und seinen Kindern. Er übernimmt die Erziehung der Kinder gemeinsam mit seiner Ehefrau. In Anbetracht des jungen Alters der Kinder hätte eine - wenn auch nur vorübergehende - Trennung für diese ein besonderes Gewicht (vgl. zu Kindern in den ersten Lebensjahren BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320, und vom 01.12.2008 - 2 BvR 1830/08 -juris). Deren Belangen könnte daher auch durch eine Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung auf einen bestimmten - nicht zu langen - Zeitraum nicht hinreichend Rechnung getragen werden.
53 
Auf der anderen Seite ist das öffentliche Interesse einer Ausweisung hier gemindert, weil ungeachtet der Schwere der vom Kläger begangenen Straftat nicht mehr von einer relevanten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden kann. Allein die generalpräventiven Erwägungen vermögen den mit einer Ausweisung verbundenen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zu rechtfertigen. Wie ausgeführt, ist zwar davon auszugehen, dass eine besonders schwerwiegende Straftat vorliegt und deshalb - grundsätzlich - ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, Urteile 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, und vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -InfAuslR 1997, 8). Dieses vermag aber in Anbetracht der konkreten Umstände des vorliegenden Falles den Eingriff in das Schutzgebot von Art. 6 Abs. 1 GG bzw. das Achtungsgebots des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zu rechtfertigen. Dabei ist von besonderer Relevanz, dass die Tat annähernd vier Jahre zurückliegt und der Kläger seine Strafe verbüßt hat. Auch sind die bereits im Rahmen der Prüfung der Wiederholungsgefahr angeführten, für den Kläger sprechenden weiteren Umstände zu berücksichtigen, etwa dass er sich bereits seit 1996 rechtmäßig hier aufhält, zuvor - bis auf das Verkehrsdelikt - nie straffällig geworden war, außerdem dass er sich immer bemüht hat, ausreichend für seine Familie und sich zu sorgen und sich auch seit seiner Haftentlassung bewährt hat.
54 
Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass die Ausweisung des Klägers hier im Ergebnis selbst dann als unverhältnismäßig anzusehen ist, wenn man noch vom Bestehen einer geringen, aber die Erheblichkeitsschwelle übersteigenden Wiederholungsgefahr und damit dem Vorliegen spezialpräventiver Ausweisungsgründe ausginge. Denn aus den - zur Unverhältnismäßigkeit einer generalpräventiv motivierten Ausweisung - angeführten Gründen führt die danach erforderliche Abwägung ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die privaten Interessen des Klägers und seiner Familienangehörigen das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung überwiegen.
II.
55 
Unter diesen Umständen ist auch die im Bescheid vom 22.10.2010 verfügten Abschiebungsandrohung rechtswidrig und aufzuheben.
56 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
57 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
58 
Beschluss vom 23. Oktober 2012
59 
Der Streitwert für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG).
60 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21. Juli 2010 - 5 K 1778/09 - insoweit geändert, als es die Klage als unbegründet abgewiesen hat.

Der Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 23. Juni 2009 wird (mit Ausnahme der in Ziffer 2 verfügten Abschiebungsandrohung aus der Haft heraus) aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten der Verfahren in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der am ...1978 in Gornje (Kosovo) geborene Kläger ist kosovarischer Staatsangehöriger albanischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 07.08.1996 in die Bundesrepublik ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter. Der Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 13.08.1996 abgelehnt. Hiergegen erhob der Kläger vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage (Az.: A 14 K 30993/96). 1998 lernte er seine erste Ehefrau, die deutsche Staatsangehörige D. S. kennen, und heiratete sie am 22.06.1999. Am 24.09.1999 nahm er Asylantrag und Klage zurück. Er reiste am 18.05.2000 in sein Heimatland aus und am 11.06.2000 mit einem Visum zum Familiennachzug wieder in die Bundesrepublik ein.
Am 26.06.2000 wurde dem Kläger eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die anschließend mehrfach - zuletzt bis 24.06.2005 - verlängert wurde. Am 21.05.2004 beantragte der Kläger die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Mit Bescheid vom 14.07.2004 lehnte das Ausländeramt der Stadt W... diesen Antrag ab, weil beim Kläger Ausweisungsgründe vorlägen. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, den er damit begründete, dass frühere Eintragungen im Zentralregister getilgt seien. Mit Bescheid vom 28.10.2004 half die Stadt Wiesloch dem Widerspruch ab und erteilte dem Kläger die begehrte unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Am 27.04.2006 wurde die erste Ehe des Klägers geschieden. Die im Jahr 2007 geschlossene zweite Ehe des Klägers mit einer Kosovarin, die im Kosovo lebte, hielt nur vier Monate. Im Januar 2008 heiratete der Kläger Frau G. D., die gleichfalls kosovarische Staatsangehörige ist. Aufgrund seiner Inhaftierung am 24.06.2008 kam es nicht zum Ehegattennachzug.
Der Kläger übte in der Bundesrepublik zunächst verschiedene kurzfristige Gelegenheitsjobs aus. Ab 2002 arbeitete er als Staplerfahrer bei der Firma R. in W... Bis zu seiner Inhaftierung hatte er dort eine feste Arbeitsstelle, bei der er ein Nettoeinkommen zwischen 1.800 EUR und 1.900 EUR erzielte.
Am 18.02.2009 verurteilte das Landgericht ... den Kläger wegen Beihilfe zum schweren Bandendiebstahl in zwölf Fällen, darunter in zwei tateinheitlichen Fällen, und wegen Beihilfe zum versuchten schweren Bandendiebstahl in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten (Az.: 1 KLs 45 Js 6611/08; rechtskräftig). Im Strafurteil wird ausgeführt, der Kläger habe sich im Mai 2008 mit drei anderen Mittätern zusammengeschlossen, um zwischen dem 24.05.2008 und dem 23.06.2008 nach gleich bleibender Methode Einbrüche in Gewerbebetriebe zu begehen. Die Bande habe in aller Regel Geld gesucht, wenngleich vereinzelt auch Kraftfahrzeuge und sonstige Wertgegenstände im Gesamtwert von fast 80.000 EUR erbeutet worden seien. Der Kläger habe an den insgesamt 21 Taten gelegentlich mitgewirkt. Er sei zwar von Anfang an in die Tatvorbereitung eingebunden gewesen. Planung und Auswahl des Einbruchsobjekts hätten ihm aber nicht oblegen. Bei der Tatausführung habe er lediglich als Fahrer agiert. An den eigentlichen Taten sei er nicht unmittelbar beteiligt gewesen und habe nicht gewusst, in welches Objekt seine Komplizen eingebrochen seien, weshalb er den Tatablauf in keiner Weise habe beeinflussen können. Er habe auch keinen gleichen Beuteanteil erhalten, sondern eine Belohnung, die regelmäßig deutlich hinter einem rechnerischen Anteil von einem Viertel bzw. später einem Fünftel zurückgeblieben sei. Zur Strafzumessung führte das Landgericht aus: Zwar sei ein minderschwerer Fall bei keiner Tat in Frage gekommen. Denn die rechtliche als Beihilfe zu qualifizierende Tat habe sich an der Grenze zur Mittäterschaft bewegt. Andererseits habe der Kläger als einziger Tatbeteiligter frühzeitig im Ermittlungsverfahren ein Geständnis abgelegt, durch das auch die übrigen Beteiligten hätten namhaft gemacht werden können. Dies habe einerseits die Ermittlungen erheblich erleichtert, andererseits zu erheblichen Anfeindungen durch die anderen Beteiligten geführt. Zu Gunsten des Klägers sei zu berücksichtigen gewesen, dass er nicht vorbestraft und erstmals in Haft und seine Frau im Kosovo schwer erkrankt gewesen sei. Demgegenüber sei zu seinen Lasten zu berücksichtigen gewesen, dass er in einer gut bezahlten Arbeit gestanden und nicht aus einer finanziellen Notlage heraus gehandelt habe.
Nach Anhörung wies das Regierungspräsidium Karlsruhe den Kläger mit Bescheid vom 23.06.2009 aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer 1) und drohte ihm die Abschiebung in das Kosovo oder einen anderen Staat an, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist. Für den Fall der Haftentlassung vor einer Abschiebung wurde er aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb eines Monat zu verlassen (Ziffer 2). Zur Begründung stützte sich das Regierungspräsidium primär auf spezialpräventive Gründe. Bei den von dem Kläger verwirklichten Delikten handele es sich um schwere Eigentumsdelikte, die in einer außerordentlichen Häufigkeit begangen worden seien. Die erforderliche Wiederholungsgefahr sei gegeben. Die Ausweisung des Klägers sei aber auch aus generalpräventiven Gründen geboten. Es sei unstreitig, dass Eigentumsdelikte, die in einer solch hohen Zahl und über einen relativ langen Zeitraum hinweg begangen würden, geeignet seien, eine generalpräventiv motivierte Ausweisung zu begründen. Innerhalb des Strafrahmens habe sein Strafmaß letztlich deutlich über der unteren Grenze von drei Monaten gelegen und in keinem Fall sei ein minderschwerer Fall angenommen worden. Deshalb sei es hier unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich, den Kläger zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auszuweisen. Seine privaten Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet müssten hinter dem öffentlichen Interesse zurückstehen. Der Bescheid wurde dem Kläger am 29.06.2009 zugestellt.
Am 29.07.2009 hat der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Karlsruhe erhoben. Zur Begründung hat er u.a. ausgeführt, die Straftaten gehörten zwar auf den ersten Blick zur mittleren bzw. schweren Kriminalität. Bei individueller Prüfung des Falles seien jedoch Besonderheiten gegeben, die den Ausweisungsanlass als weniger gewichtig erscheinen ließen. Zu seiner Beteiligung an den Straftaten sei es gekommen, als ihn im Mai 2008 der Mitangeklagte G. - der Cousin seiner Ehefrau - gebeten habe, zwei Landsleute für eine gewisse Zeit in der Wohnung aufzunehmen. Er habe eingewilligt, weil es die Bitte eines Familienangehörigen gewesen sei. Kurze Zeit später sei er von G. gebeten worden, ihn und seine Freunde nachts irgendwo hinzufahren und sie gegebenenfalls auch wieder abzuholen. Da man ihm hierfür eine Belohnung versprochen habe, habe er seine anfänglichen Bedenken beiseite gewischt und eingewilligt. Grund hierfür sei gewesen, dass er seine im Kosovo lebende, an Krebs erkrankte Ehefrau mit Medikamenten versorgt und er deshalb, trotz regelmäßigen Einkommens, einen finanziellen Engpass gehabt habe. Wegen seiner späten aktiven Kooperation mit den Strafverfolgungsorganen sei er während der mehrtägigen Hauptverhandlung von den Mitangeklagten als „Verräter“ angefeindet worden. Berücksichtige man weiter den Umstand, dass er Ersttäter gewesen sei, sei bei individueller Prüfung nicht von einem schwerwiegenden Ausweisungsanlass auszugehen. Jedenfalls sei seine Ausweisung rechtswidrig, weil keine Wiederholungsgefahr angenommen werden könne. Er sei nicht vorbestraft und lebe seit über 13 Jahren in Deutschland. Er habe immer gearbeitet. Sein letztes Arbeitszeugnis belege, dass er „ein zuverlässiger, gewissenhafter und ehrlicher Mitarbeiter“ sei, der „seine Aufgaben immer selbstständig und termingerecht erledigt“ habe. Er sei in Deutschland nicht nur beruflich, sondern auch sozial integriert. Deutsch beherrsche er gut in Wort und Schrift. Sein Vollzug sei beanstandungsfrei. Bereits vier Monate nach seiner Inhaftierung habe er in der Gefängnisküche arbeiten dürfen. Auch der erstmalige Freiheitsentzug, der ihn nachhaltig beeindrucke, werde ihn davon abhalten, erneut straffällig zu werden. Eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen sei in seinem Fall nicht geboten, weil bereits der Ausweisungsgrund nicht hinreichend schwer wiege. Hinzu komme, dass sich sein besonders gelagerter Einzelfall nicht dazu eigne, andere Ausländer von der Begehung von Straftaten abzuhalten. Der Beklagte trat dem entgegen und führte aus, dass generalpräventiv motivierte Ausweisungen durchaus geeignet seien, entsprechende Wirkung zu erzeugen. In der Bundesrepublik würde eine Vielzahl von Landsleuten leben, die gerade auch im abgeurteilten Deliktsbereich delinquent würden. Im vorliegenden Falle sei es nach Abwägung aller Umstände ermessensgerecht, den Kläger jedenfalls generalpräventiv motiviert auszuweisen.
Mit Beschluss vom 07.05.2010 hat die Strafvollstreckungskammer am Landgericht ... die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe nach Verbüßung von zwei Dritteln zur Bewährung ausgesetzt. Der Kläger ist am 12.05.2010 aus der Haft entlassen worden. Er ist seit 01.06.2010 erneut in Vollzeit beschäftigt.
Mit Urteil vom 21.07.2010 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klage sei unzulässig, soweit sie sich gegen die inzwischen erledigte Abschiebungsandrohung aus der Haft heraus richte. Im Übrigen sei die Klage zulässig, jedoch nicht begründet. Zwar bestehe nach Überzeugung der Kammer im maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die für eine spezialpräventiv begründete Ausweisung erforderliche Wiederholungsgefahr nicht mehr. In generalpräventiver Hinsicht jedoch seien bei dem Kläger schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gegeben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts könne eine Ausweisung grundsätzlich auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden, also zu dem Zweck erfolgen, andere Ausländer zu einem ordnungsgemäßen Verhalten in der Bundesrepublik zu veranlassen und von der Begehung von Straftaten abzuschrecken. Dies gelte gerade auch für den Bereich des Bandendiebstahls als einer Art des organisierten Verbrechens. Dessen Bekämpfung habe wegen der großen Gefahren, die von ihm ausgingen, einen hohen Rang und erfordere in den Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein möglichst kontinuierliches Vorgehen auch der Ordnungsbehörden. Mit Rücksicht auf die hohe Gefährlichkeit der hier zu beurteilenden Kriminalität sei ein dringendes Bedürfnis gegeben, über die strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung des Klägers andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Der Kläger halte sich zwar seit 1996 in der Bundesrepublik Deutschland auf und besitze seit 2000 einen Aufenthaltstitel, er sei aber erst als Erwachsener in das Bundesgebiet eingereist. Auch lebten seine Schwester und sein Bruder im Bundesgebiet; er habe aber noch starke Kontakte zum Kosovo. Schließlich erweise sich die Ausweisung nicht deswegen als unverhältnismäßig, weil der Kläger aufgrund seines Aussageverhaltens zur Aufklärung der Straftaten beigetragen und deshalb im Kosovo mit „erheblichen Repressalien" zu rechnen habe. Auch Art. 8 EMRK führe im konkreten Einzelfall nicht dazu, die Ausweisung des Klägers als unverhältnismäßig zu bewerten. Die Wirkungen der Ausweisung müssten auch nicht schon jetzt befristet werden.
10 
Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Berufung führt der Kläger insbesondere aus, die Ausweisung verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Seine persönlichen Umstände würden nicht hinreichend gewichtet. Bereits 14 von 32 Lebensjahren habe er mit rechtmäßigem Aufenthalt im Bundesgebiet verbracht. Neben seiner persönlichen Prägung sei die gesamte berufliche Integration hier erfolgt. Sein Lebensmittelpunkt sei trotz bestehender Kontakte auch zu Kosovaren eindeutig in Deutschland. Sein Verhalten sei situationsbedingt und nicht in seiner Persönlichkeit begründet gewesen. Ein Vergleich seiner Biografie etwa mit den Biographien der Mittäter zeige, dass diese eine längere kriminelle Vergangenheit gehabt und für bandenmäßige Strukturen typische Verhaltenstendenzen aufgewiesen hätten. Er hingegen weise eine stabile Persönlichkeit auf und habe sich hier eine Existenz aufgebaut. Aus den besonderen Umständen des Einzelfalls folge, dass seine Ausweisung nicht geeignet sei, andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten abzuschrecken.
11 
Der Kläger beantragt,
12 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21. Juli 2010 – 5 K 1778/09 – insoweit zu ändern, als es die Klage als unbegründet abgewiesen hat und den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 23. Juni 2009 (mit Ausnahme der in Ziffer 2 verfügten Abschiebungsandrohung aus der Haft heraus) aufzuheben.
13 
Das beklagte Land beantragt,
14 
die Berufung zurückzuweisen.
15 
Es tritt dem Vortrag des Klägers entgegen und hält eine Ausweisung allein aus generalpräventiven Gründen im konkreten Einzelfall für möglich und gerechtfertigt.
16 
In der mündlichen Verhandlung erläuterte der Kläger, dass er einen guten Arbeitsplatz innehabe, bei dem er monatlich ca. 1.250 EUR (netto) verdiene. Sein Chef sei sehr zufrieden mit ihm und wolle ihn demnächst auf eine Schulung für Trocknungstechnik nach Stuttgart schicken. Er gehe fest davon aus, dass er „unbefristet“ weiterarbeiten könne. Bis auf Weiteres wohne er kostenfrei und könne deshalb auch etwas sparen. Er habe jedoch noch ca. 12.000 EUR Altschulden und ca. 23.000 EUR Schulden im Zusammenhang mit dem Strafverfahren; mit Hilfe der Schuldnerberatung der Diakonie W. suche er nach einer Lösung, wie er diese Schulden bewältigen könne. Die Ehe mit Frau G. D. sei seit 22.11.2010 geschieden. Er habe inzwischen eine deutsche Freundin, wolle sich mit dem Heiraten diesmal aber Zeit lassen.
17 
Im Rahmen der Erörterung der Rechtsfrage der fortdauernden Zulässigkeit einer tragend auf generalpräventive Gründe gestützten Ausweisung vertrat auch die Beklagten-Vertreterin den Standpunkt, vom Kläger ginge keine Wiederholungsgefahr aus, sodass eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen ausscheide.
18 
Dem Senat liegen die einschlägigen Akten des Regierungspräsidiums Karlsruhe, die Strafakten des Landgerichts ... und die Gefangenenpersonalakten vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird hierauf sowie auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
19 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch sonst zulässige Berufung des Klägers ist ebenso begründet wie seine Anfechtungsklage (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
I.
20 
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben der angefochtenen Androhung der Abschiebung in das Kosovo vor allem die Ausweisung des Klägers. Mit dem Verwaltungsgericht und den Beteiligten ist auch der Senat (nach dem Eindruck der mündlichen Verhandlung sowie insbesondere dem schlüssigen Strafaussetzungsbeschluss des Landgerichts Mannheim vom 07.05.2010 und den positiven Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt in den Gefangenen-Personalakten) der Überzeugung, dass von dem Kläger heute keine gesteigerte Wiederholungsgefahr mehr ausgeht. Insoweit kann auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts verwiesen werden. Die Ausweisung wird von dem Beklagten deshalb allein tragend zur - generalpräventiven - Abschreckung anderer Ausländer aufrechterhalten. Damit verstößt sie hier im Lichte des gemäß Art. 8 EMRK qualifiziert geschützten Privatlebens gegen § 54 Nr. 1 i.V.m. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.
21 
1. Der Kläger erfüllt aufgrund seiner Verurteilung durch das Landgericht Heidelberg am 18.02.2009 zu zwei Jahren und zehn Monaten Gesamtfreiheitsstrafe den Regel-Ausweisungstatbestand des § 54 Nr. 1 AufenthG. Er genießt jedoch nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG aufgrund seines rechtmäßigen Aufenthalts, jedenfalls seit 2000, und der am 28.10.2004 erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bzw. Niederlassungserlaubnis besonderen Ausweisungsschutz, weswegen er nach Satz 2 der Norm nur „aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ ausgewiesen werden darf. Maßgebend für die Frage, ob ein schwerwiegender Grund vorliegt, sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts, also des Senats. Ob ein schwerwiegender Grund vorliegt, ist voll gerichtlich überprüfbar; es besteht für die Ausländerbehörde kein Beurteilungsspielraum.
22 
Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5a und 7 AufenthG vor. Diese gesetzliche Vermutung beruht darauf, dass bei Verwirklichung der genannten Ausweisungstatbestände regelmäßig das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Ausweisung des Ausländers erfordert und der vom Gesetz bezweckte Schutz des Ausländers dahinter zurückzutreten hat. Die Regelung enthält allerdings keine Automatik, sondern erfordert eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall, ob nicht Besonderheiten vorliegen, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass als weniger gewichtig erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - BVerwGE 121, 356).
23 
Erfüllt ein Ausländer, der besonderen Ausweisungsschutz genießt, - wie der Kläger - keinen der in § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG aufgeführten Ist- oder Regelausweisungsgründe, steht dies einer Ausweisung im Ermessenswege nicht entgegen (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). In diesem Fall fehlt es aber an einer gesetzlichen Vermutung für die Annahme schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Dennoch können solche schwerwiegenden Gründe auch bei Vorliegen eines sonstigen (Regel- oder Ermessens-)Ausweisungsanlasses gegeben sein. Erforderlich ist dann jedoch, dass dem Ausweisungsgrund ein besonderes Gewicht zukommt. Dieses kann sich bei Straftaten insbesondere aus deren Art, Schwere und Häufigkeit ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.01.2009 - 1 C 2.08 - ZAR 2009, 145).
24 
2. Bei einer durch eine Straftat veranlassten Ausweisung, die tragend zur generalpräventiven Abschreckung anderer Ausländer verfügt oder aufrechterhalten wird, fehlt es im Lichte von Art. 8 EMRK in der Regel an schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, wenn hierdurch ein in Deutschland nachhaltig „verwurzelter“ Ausländer betroffen wird. Die regelmäßige Unzulässigkeit von tragend generalpräventiv motivierten Ausweisungen bei dieser Personengruppe folgert der Senat in einer Gesamtschau aus den neueren Rechtsprechungslinien sowohl des Bundesverfassungsgerichts (a) als auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - (b) und im Übrigen auch aus der Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofs - EuGH - bezüglich Unionsbürgern (c) sowie des Bundesverwaltungsgerichts hinsichtlich assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen (d). Dies gilt jedenfalls seit Inkrafttreten des EU-Reformvertrags von Lissabon am 01.12.2009 (e).
25 
a) Im Beschluss der Zweiten Kammer des Zweiten Senats vom 10.08.2007 (- 2 BvR 535/06, Rn. 24 f. - NVwZ 2007, 1300) hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt:
26 
„Eine am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgerichtete Entscheidung über die Zulässigkeit einer generalpräventiv motivierten Ausweisung setzt … voraus, dass die Ausländerbehörde die Umstände der Straftat und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen von Amts wegen sorgfältig ermittelt und eingehend würdigt. Ohne die Kenntnis von Einzelheiten der Tatbegehung und der persönlichen Situation des Betroffenen können in der Regel die Auswirkungen der Ausweisung auf die Individualinteressen nicht hinreichend sicher festgestellt und in einer einzelfallbezogenen Abwägung den die Ausweisung verlangenden Interessen der Allgemeinheit gegenübergestellt werden. … Im Grundsatz nicht anders als bei der Würdigung der von dem Ausländer künftig ausgehenden Gefahren im Rahmen spezialpräventiv motivierter Ausweisungen genügt es insbesondere nicht, das Gewicht des für eine Ausweisung sprechenden öffentlichen Interesses allein anhand der Typisierung der den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten in den Ausweisungsvorschriften des Aufenthaltsgesetzes zu bestimmen.“
27 
In der Literatur wird die Auffassung vertreten, mit dieser inhaltlich teilweisen Neukonturierung des Anforderungsprofils habe das Bundesverfassungsgericht der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen „nicht nur die Zähne gezogen, sondern ihr - jedenfalls was eine praktische Anwendung betrifft - gleichsam auf kaltem Wege den (endgültigen) Todesstoß versetzt“ (Mayer, Systemwechsel im Ausweisungsrecht, VerwArch 2010, 507). Denn eine generalpräventive Ausweisung, die im Grundsatz nicht anders als bei einer spezialpräventiven Ausweisung auch eine Feststellung der persönlichen Lebensverhältnisse des Betroffenen einschließlich der Umstände der begangenen Straftat verlangt und daran anschließend eine einzelfallbezogene Abwägung der Individualinteressen des Ausländers mit den für die Ausweisung ins Feld geführten öffentlichen Belangen der Allgemeinheit erfordert, sei in Wahrheit nichts anderes als eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen. Da das Wesen der generalpräventiven Ausweisung vor allem darin bestehe, eine Ausweisung ohne das Abstellen auf die individuelle Gefährlichkeit des Ausländers zu ermöglichen (so schon Pagenkopf, DVBl. 1975, S. 766), könne es allenfalls noch eine „generalpräventiv motivierte“ Ausweisung geben, die jedoch zugleich auch spezialpräventiv gerechtfertigt sein müsse. Ohnehin wäre eine selbständig rechtfertigende Wirkung generalpräventiver Erwägungen mit dem Garantiegehalt der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar. Denn diese schließe es aus, den Ausgewiesenen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu denaturieren und ihn als Vehikel zu benutzen, um auf andere abschreckend und damit verhaltenssteuernd einzuwirken (Mayer, a.a.O., m.w.N.). Ob dies in dieser Allgemeinheit zutrifft, kann hier offen bleiben. Jedenfalls bei nachhaltig „verwurzelten“ Ausländern, die sich auf den qualifizierten Schutz von Art. 8 EMRK berufen können - was nicht notwendig zugleich eine tiefgreifende „Entwurzelung“ voraussetzt -, steht der vom Bundesverfassungsgericht besonders betonte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. schon BVerfG, Beschluss vom 17.01.1979 - 1 BvR 241/77 - BVerfGE 50, 166) einer Ausweisung aus generalpräventiven Gründen aber in der Regel entgegen. Eine tragend generalpräventiv motivierte Ausweisung stellt sich bei nachhaltig „Verwurzelten“ auch im Lichte der Ausführungen des BVerfG mithin regelmäßig als unverhältnismäßig dar, sodass es an hierfür rechtfertigenden schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung fehlt.
28 
b) Auch der Straßburger EGMR steht der Rechtsfigur der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen grundsätzlich skeptisch gegenüber. Dies ergibt sich aus seiner Rechtsprechung zu Ausweisungen, die er an Art. 8 EMRK misst. Seine sogenannten Boultif/Üner-Kriterien hat er etwa im Urteil Chair vom 06.12.2007 - 69735/01 - InfAuslR 2008, 111 (Rn. 58 ff.) wie folgt zusammengefasst:
29 
„Der Gerichtshof hat bekräftigt, dass in allen Rechtssachen, die niedergelassene Zuwanderer betreffen, bei der Prüfung der Frage, ob eine Ausweisungsmaßnahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stand, die folgenden Kriterien heranzuziehen sind:
30 
- Die Art und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftat;
- die Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll;
- die seit der Tat verstrichene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers in dieser Zeit;
- die Staatsangehörigkeit der verschiedenen Betroffenen;
- die familiäre Situation des Beschwerdeführers, wie z.B. die Dauer der Ehe, und andere Faktoren, die erkennen lassen, wie intakt das Familienleben eines Ehepaars ist;
- ob der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin von der Straftat wusste, als er bzw. sie eine familiäre Beziehung einging;
- ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind und gegebenenfalls deren Alter und
- das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin in dem Land, in das der Beschwerdeführer bzw. die Beschwerdeführerin ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen wird.
31 
Im Urteil Üner hat der Gerichtshof außerdem ausdrücklich die beiden folgenden Kriterien genannt:
32 
- Die Belange und das Wohl der Kinder, insbesondere das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen Kinder des Beschwerdeführers in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen werden, und
- die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland.“
33 
Ebenso wie das Bundesverfassungsgericht verlangt mithin auch der Menschenrechtsgerichtshof (angesiedelt auf der Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung), dass für eine konventionsgemäße Ausweisung zwingend eine genaue und auf den Einzelfall bezogene Feststellung der persönlichen Lebensverhältnisse des Betroffenen einschließlich der konkreten Umstände der begangenen Straftat getroffen und daran anschließend eine Abwägung der Individualinteressen des Ausländers mit den für die Ausweisung ins Feld geführten öffentlichen Belangen der Allgemeinheit durchgeführt wird (vgl. auch EGMR, Urteil vom 23.06.2008 - 1638/03 - Maslov). Auch dies läuft jedenfalls in rechtstatsächlicher Hinsicht sehr stark auf eine Ausweisung (nur oder nur auch) aus spezialpräventiven Gründen zu.
34 
c) Der Luxemburger EuGH hält hinsichtlich Unionsbürgern eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen schon seit 1975 für rechtswidrig, wie er erstmals im Urteil Bonsignore (Urteil vom 26.02.1975, Rs. 67/74, Rn. 7) klarstellte:
35 
„Auf die gestellten Fragen ist daher zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie Nr. 64/221 der Ausweisung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates entgegensteht, wenn diese zum Zweck der Abschreckung anderer Ausländer verfügt wird, das heißt, wenn sie - in der Formulierung des innerstaatlichen Gerichts - auf ‚generalpräventive‘ Gesichtspunkte gestützt wird.“
36 
Im Urteil Orfanopoulos und Oliveri (Urteil vom 29.04.2004, Rs. C-482/01 u. 493/01, Rn. 66-68) hat er dies 2004 nochmals ausführlicher dargelegt:
37 
„Maßnahmen der öffentlichen Ordnung sind nach Art. 3 der Richtlinie 64/221 nur dann gerechtfertigt, wenn sie ausschließlich auf das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen gestützt sind. In dieser Bestimmung heißt es, dass strafrechtliche Verurteilungen allein ohne weiteres diese Maßnahmen nicht rechtfertigen können. Wie der Gerichtshof u. a. im Urteil vom 27.10.1977 in der Rechtssache 30/77 (Bouchereau, Slg. 1977, 1999, Rn. 35) festgestellt hat, setzt die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung voraus, dass außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
38 
Zwar kann ein Mitgliedstaat die Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefahr für die Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung gegen Ausländer rechtfertigt, die gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstoßen, doch ist die Ausnahme der öffentlichen Ordnung eng auszulegen, so dass eine strafrechtliche Verurteilung eine Ausweisung nur insoweit rechtfertigen kann, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (vgl. u. a. Urteil vom 19.01.1999, Rs. C-348/96, Calfa, Rn. 22-24).
39 
Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, dass das Gemeinschaftsrecht der Ausweisung eines Angehörigen eines Mitgliedstaats entgegensteht, die auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützt, d. h. zum Zweck der Abschreckung anderer Ausländer verfügt wird (vgl. u.a. Urteil Bonsignore, Rn. 7), insbesondere, wenn die Ausweisung aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung automatisch verfügt wird, ohne dass das persönliche Verhalten des Täters oder die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung berücksichtigt wird (vgl. Urteile Calfa, Rn. 27, und Nazli, Rn. 59).“
40 
d) Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Impulse aus Luxemburg aufgegriffen und seine diesbezügliche Rechtsprechung mit Urteil vom 03.08.2004 -1 C 30.02 - auch hinsichtlich der generalpräventiv begründeten Ausweisung von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern geändert (BVerwGE 121, 297, Rn. 24):
41 
„Die Gefährdung kann sich im Einzelfall auch allein aufgrund des abgeurteilten Verhaltens ergeben. Es besteht aber keine dahin gehende Regel, dass bei schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten die hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen begründet. Eine vom Einzelfall losgelöste oder auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützte Begründung der Ausweisung ist in jedem Fall unzulässig.“
42 
Im Urteil vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - (BVerwGE 124, 243) wurde dies nochmals bekräftigt:
43 
„Das Gemeinschaftsrecht lässt eine Ausweisung ausnahmslos nur aus spezialpräventiven Gründen zu, d.h. zum Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die von dem einzelnen Ausländer persönlich ausgehen, nicht aber - tragend oder auch nur mittragend - zur (generalpräventiven) Abschreckung anderer Ausländer.“
44 
Mit Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - (BVerwGE 121, 315, Rn. 17) hat das Bundesverwaltungsgericht diese Grundsätze des unionsrechtlichen Ausweisungsschutzes auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige erstreckt, d.h. deren Ausweisungsschutz in gleicher Weise materiellrechtlich begründet und ausgestaltet wie für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger:
45 
„Es sind keine Gründe ersichtlich, die einer Übertragung der nach dem Urteil des Senats im Verfahren BVerwG 1 C 30.02 anzuwendenden Maßstäbe entgegenstehen.“
46 
Der EuGH hat die Richtigkeit dieser Entscheidung mit Urteil vom 11.11.2004 (Rs. C-467/02 - Cetinkaya) bestätigt.
47 
Seither können freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nur noch ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen darf eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt und auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet; aufenthaltsbeendende Maßnahmen dürfen daher nicht mehr aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zwecke der Generalprävention angeordnet werden (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - ZAR 2010, 284). Hier kann mithin kein „dringendes Bedürfnis“ mehr angenommen werden, über eine etwaige strafrechtliche Sanktion hinaus „durch eine kontinuierliche Ausweisungspraxis andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten“ (so noch: BVerwG, Beschluss vom 08.05.1996 - 1 B 136.95 - InfAuslR 1996, 299).
48 
Seit der 2. EU-Osterweiterung am 01.01.2007 kommen zunächst alle Staatsangehörigen der anderen 26 Mitgliedstaaten in den Genuss dieses europarechtlichen Ausweisungsschutzes. Das sind rund 35 % aller in Deutschland lebenden Ausländer (Stand: 31.12.2009; zit. nach BAMF, Ausländerzahlen 2009, S. 12). Hinzu kommen des Weiteren wohl rund 23 % türkische Staatsangehörige (vgl. BAMF, a.a.O., S. 11), weil nur ca. 5 % der in Deutschland lebenden Türken (ca. 25 % der ausländischen Bevölkerung von insgesamt 6,7 Mio. Menschen) kürzer als sechs Jahre hier leben; über 86 % der türkischen Staatsangehörigen leben sogar länger als 10 Jahre in Deutschland (vgl. BAMF, a.a.O. S. 14). Dies bedeutet ausländerrechtlich, dass sich möglicherweise rund 95 % der hier lebenden türkischen Staatsangehörigen auf Art. 6 oder 7 ARB 1/80 berufen können (vgl. Günes, Europäischer Ausweisungsschutz, 2009, S. 49 ff.). Geht man davon aus, dass zudem ein Teil sowohl der Unionsbürger als auch der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen mit ebenfalls aufenthaltsrechtlich besonders geschützten Drittstaatern (vgl. Art. 27 Abs. 2 Unionsbürger-RL 2004/38/EG, Art. 12 Abs. 1 Daueraufenthalts-RL 2003/109/EG und Renner/Dienelt, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 3 FreizügG/EU, Rn. 20 ff.) familiär verbunden ist, dürfte aufgrund insbesondere der Rechtsprechung des EuGH zwischenzeitlich möglicherweise für rund zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Ausländer ein absolutes Verbot der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen bestehen. Dies würde deren - nach Auskunft des Beklagten und Erfahrung des Senats - heute nur noch sehr geringe Praxisrelevanz schlüssig erklären. Die Frage, ob vor diesem empirisch-europarechtlichen Hintergrund auch mangels „kontinuierlicher Verwaltungspraxis“ eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen überhaupt noch abschreckende Wirkung im Sinne einer „Verhaltenssteuerung“ entfalten kann - wofür im Übrigen die Ausländerbehörde darlegungs- und beweispflichtig wäre -, sei nur am Rande gestellt. Neuere empirische Studien hierzu hat der Senat jedenfalls nicht auffinden können.
49 
e) Die Rechtsfigur der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen beruht bis heute auf richterlicher Schöpfung, nicht aber auf einer ausdrücklichen Anordnung des Gesetzgebers (vgl. GK-AufenthG, 6/2009, Vor §§ 53 ff., Rn. 1300.1, m.w.N.). Nach Überzeugung des Senats hat sie nunmehr auch bezüglich der in Deutschland nachhaltig „verwurzelten“ Ausländer ihre Berechtigung grundsätzlich verloren. Eine Anpassung ist erforderlich, um im Wege einer Gesamtschau insbesondere dem Schutz von Art. 8 EMRK und der Rechtsprechung des EGMR noch besser gerecht zu werden und insoweit eine Angleichung mit der Rechtsprechung des EuGH zu erzielen. Die Personengruppe der nachhaltig „Verwurzelten“ steht Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen in mancherlei Hinsicht gleich. Da jedoch nach wie vor keine vollständige Identität der Rechtsstellung besteht, kann der Schutz vor einer tragend auf generalpräventive Gründe gestützten Ausweisung nur eine Grundregel darstellen.
50 
Anders als bei Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen kann bei „Verwurzelten“ demnach eine generalpräventiv begründete Ausweisung weiterhin ausnahmsweise zulässig sein, wenn ganz besonders schwerwiegende Delikte verwirklicht wurden, die in erheblichem Maße die Interessen des Staates oder der Gesellschaft gefährden. Als Maßstab aus anderen Regelungszusammenhängen kann sich - zur Fallgruppenbildung im Europäischen Rechtsraum - insoweit zum einen Art. 12 Abs. 2 der Qualifikations-RL 2004/83/EG anbieten (insbesondere „Terrorismusdelikte“; vgl. Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 3 AsylVfG Rn. 8 f.). Nach der Rechtsprechung des EuGH kommt es auch im europäischen Flüchtlingsrecht hier nicht auf eine gegenwärtige Wiederholungsgefahr an (EuGH, Urteil vom 09.11.2010, Rs. C-101/09 - Deutschland vs. D). Zum anderen kann der Rechtsgedanke von Art. 28 Abs. 3 Unionsbürger-RL 2004/38/EG herangezogen werden („staats- oder gesellschaftsgefährdende Delikte“), weil auch Unionsbürger insoweit selbst nach 10-jährigem Aufenthalt im Aufnahmestaat nur einen eingeschränkten Schutz gegen (weiterhin ausschließlich spezialpräventiv begründete) Ausweisungen genießen (EuGH, Urteil vom 23.11.2010, Rs. C-145/09 - Tsakouridis). Liegen jedoch keine vergleichbar schwerwiegenden Delikte vor, verdient derjenige, der sich in qualifizierter Weise auf Art. 8 EMRK berufen kann, insbesondere weil er in Deutschland ein nach der Rechtsprechung des EGMR nachhaltig zu schützendes Privatleben entfaltet hat, menschenrechtlich einen mit Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen vergleichbaren Ausweisungsschutz. Die weitgehende Vereinheitlichung des bisweilen nur noch schlecht überschaubaren Ausländerrechts liegt insoweit nahe.
51 
Als Stichtag bietet sich das Inkrafttreten des EU-Reformvertrags von Lissabon an, d.h. der 01.12.2009. Denn der Lissabon-Vertrag hebt den Prozess der europäischen Integration „auf eine neue Stufe“ (Abs. 1 EUV-Präambel) und strebt mit der Vergemeinschaftung, heute genauer „Verunionung“ (vgl. Art. 1 Abs. 3 Satz 3 EUV) der vormaligen 3. EU-Säule die Schaffung eines europaweiten „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ an, in dem - gerade auch für die Bereiche Asyl, Einwanderung und Freizügigkeit - im Wesentlichen einheitliche Standards gelten sollen (vgl. Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 ff. AEUV und das Stockholmer Programm vom 11.12.2010 - ABlEU Nr. C 115/1). Auch wird mit dem gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV angestrebten Beitritt der neu verfassten EU zur EMRK diese Konvention normhierarchisch gewissermaßen auf die höchste Stufe gestellt. Selbst das bezüglich allen nationalen Rechts anwendungsvorrangige Unionsrecht wird künftig vom EGMR am Maßstab der EMRK gemessen und, trotz EU-Grundrechtecharta, gegebenenfalls als menschenrechtswidrig eingestuft. Damit wird durch den Lissabon-Vertrag klargestellt - und mit dessen Ratifikation auch von der Bundesrepublik angestrebt -, dass in Sachen Menschenrechtsschutz der Straßburger EGMR europaweit „das letzte Wort“ haben soll (ausführlich: Bergmann, Diener dreier Herren? - Der Instanzrichter zwischen BVerfG, EuGH und EGMR, EuR 2006, S. 101). Der Straßburger Rechtsprechung ist deshalb seit 01.12.2009 noch größeres Gewicht beizumessen. Seit 01.12.2009 muss bei der dogmatischen Durchdringung und Fortbildung des mitgliedstaatlichen Rechts vom „Europäischen Rechtsraum“ her gedacht werden (v. Bogdandy, Perspektiven einer europäischen Rechtswissenschaft, in: Handlexikon der EU, 4. Aufl., Baden-Baden, sowie JZ 2011, S. 4).
52 
Als diesbezügliches Vorbild für die Erstreckung des grundsätzlichen Verbots der generalpräventiven Ausweisung auf nachhaltig „verwurzelte“ Ausländer ab 01.12.2009 sieht der Senat die rechtspolitisch in gleiche Richtung weisende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur allgemeinen Verschiebung des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung. Mit Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - (BVerwGE 130, 20) hatte das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 28.08.2007 – nach der Geltung für Unionsbürger und sodann für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige – nunmehr bei allen Ausländern einheitlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich ist, was insoweit zu einer Rechtsvereinheitlichung in dem durch EGMR- und EuGH-Rechtsprechung geprägten Europäischen Rechtsraum geführt hat.
53 
3. Der Kläger ist ein in Deutschland „verwurzelter“ Ausländer und kann sich auf den Schutz von Art. 8 EMRK berufen. Der EGMR geht von einem weiten Begriff des Privatlebens aus, dessen Schutzbereich auch das „Recht auf Entwicklung einer Person“ sowie das „Recht, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt zu knüpfen und zu entwickeln“ und damit letztlich die Gesamtheit der im Land des Aufenthalts - hier Deutschland - „gewachsenen Bindungen“ umfasst. Maßgebend ist, ob der Ausländer aufgrund seines (längeren) Aufenthalts über „starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte“ zum Aufnahmestaat verfügt (vgl. die im Senatsurteil vom 13.12.2010 - 11 S 2359/10 - referierte EGMR-Rechtsprechung). Im konkreten Einzelfall des Klägers ist dies nach Auffassung des Senats gegeben. Der Kläger lebt nunmehr bereits seit 14 Jahren im Bundesgebiet. Seine gesamte berufliche Entwicklung ist hier erfolgt. Hier leben enge Familienangehörige und sein Freundeskreis. Hier hat er einen Arbeitsplatz, der ihn ohne ergänzenden Sozialleistungsbezug unterhält. Hier verlebt der Kläger sein Privatleben mit seiner deutschen Partnerin.
54 
Auf die Frage der zugleich tiefgreifenden „Entwurzelung“ kann es in diesem Zusammenhang nicht ankommen. Denn auch der diesbezügliche Ausweisungsschutz von Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen besteht unabhängig davon, ob die Sprache der früheren Heimat beherrscht wird oder ob dort etwa noch Verwandte bzw. Bekannte leben. Solche Umstände können allerdings (insbesondere auf der Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung) einen noch weitergehenden Schutz gegenüber einer ausnahmsweise generalpräventiv oder aber spezialpräventiv motivierten Ausweisung begründen.
55 
Damit greift bezüglich des Klägers die oben dargelegte Regel des Verbots der tragend auf generalpräventive Gründe gestützten Ausweisung. Da keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Ausnahme von dieser Regel vorliegen (Terrorismus, staats- oder gesellschaftsgefährdende Delikte), ist seine Ausweisung gesperrt. Anders formuliert fehlt es damit im konkreten Einzelfall an den für die Ausweisung erforderlichen „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ im Sinne von § 54 Nr. 1 i.V.m. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Die allein auf generalpräventive Motive gestützte Ausweisung des Klägers ist also im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat rechtswidrig.
II.
56 
Ist die angefochtene Ausweisung aufzuheben, entfällt die nach §§ 51 Abs. 1 Nr. 5, 50 Abs. 1 AufenthG entstandene Ausreisepflicht und die dem Kläger am 28.10.2004 erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgilt, lebt wieder auf. Demgemäß ist auch die im Bescheid vom 23.06.2009 verfügte unselbständige Abschiebungsandrohung aufzuheben, soweit sie sich nach der Haftentlassung nicht erledigt hat. Denn Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung ist eine bestehende Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1 AufenthG (ebenso: Nds. OVG, Urteil vom 10.03.2011 - 8 LB 153/09 - juris; OVG NRW, Beschluss vom 20.02.2009 - 18 A 2620/08 - juris).
57 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
58 
Die Revision ist zuzulassen, weil die Rechtssache im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO grundsätzliche Bedeutung hat und die Frage der Möglichkeit einer Ausweisung bei „verwurzelten“ Ausländern aus generalpräventiven Gründen zur Herstellung einer bundeseinheitlichen Rechtslage vom Bundesverwaltungsgericht entschieden werden sollte. Das Bundesverwaltungsgericht ging bisher in seiner Rechtsprechung davon aus, dass eine Straftat als Ausweisungsgrund im Sinne von § 56 Abs. 1 Sätze 2 und 3 AufenthG regelmäßig auch bei „verwurzelten“ Ausländern aus generalpräventiven Erwägungen als besonders schwerwiegend bewertet werden und ein öffentliches Interesse an der Ausweisung des Ausländers begründen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.08.2004 - 1 C 25/03 - BVerwGE 121, 356; hierauf sich berufend etwa Bay. VGH, Beschluss vom 31.01.2011 - 10 ZB 10.2868 - juris).
59 
Beschluss vom 18. März 2011
60 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
61 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
19 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch sonst zulässige Berufung des Klägers ist ebenso begründet wie seine Anfechtungsklage (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
I.
20 
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben der angefochtenen Androhung der Abschiebung in das Kosovo vor allem die Ausweisung des Klägers. Mit dem Verwaltungsgericht und den Beteiligten ist auch der Senat (nach dem Eindruck der mündlichen Verhandlung sowie insbesondere dem schlüssigen Strafaussetzungsbeschluss des Landgerichts Mannheim vom 07.05.2010 und den positiven Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt in den Gefangenen-Personalakten) der Überzeugung, dass von dem Kläger heute keine gesteigerte Wiederholungsgefahr mehr ausgeht. Insoweit kann auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts verwiesen werden. Die Ausweisung wird von dem Beklagten deshalb allein tragend zur - generalpräventiven - Abschreckung anderer Ausländer aufrechterhalten. Damit verstößt sie hier im Lichte des gemäß Art. 8 EMRK qualifiziert geschützten Privatlebens gegen § 54 Nr. 1 i.V.m. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.
21 
1. Der Kläger erfüllt aufgrund seiner Verurteilung durch das Landgericht Heidelberg am 18.02.2009 zu zwei Jahren und zehn Monaten Gesamtfreiheitsstrafe den Regel-Ausweisungstatbestand des § 54 Nr. 1 AufenthG. Er genießt jedoch nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG aufgrund seines rechtmäßigen Aufenthalts, jedenfalls seit 2000, und der am 28.10.2004 erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bzw. Niederlassungserlaubnis besonderen Ausweisungsschutz, weswegen er nach Satz 2 der Norm nur „aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ ausgewiesen werden darf. Maßgebend für die Frage, ob ein schwerwiegender Grund vorliegt, sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts, also des Senats. Ob ein schwerwiegender Grund vorliegt, ist voll gerichtlich überprüfbar; es besteht für die Ausländerbehörde kein Beurteilungsspielraum.
22 
Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5a und 7 AufenthG vor. Diese gesetzliche Vermutung beruht darauf, dass bei Verwirklichung der genannten Ausweisungstatbestände regelmäßig das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Ausweisung des Ausländers erfordert und der vom Gesetz bezweckte Schutz des Ausländers dahinter zurückzutreten hat. Die Regelung enthält allerdings keine Automatik, sondern erfordert eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall, ob nicht Besonderheiten vorliegen, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass als weniger gewichtig erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - BVerwGE 121, 356).
23 
Erfüllt ein Ausländer, der besonderen Ausweisungsschutz genießt, - wie der Kläger - keinen der in § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG aufgeführten Ist- oder Regelausweisungsgründe, steht dies einer Ausweisung im Ermessenswege nicht entgegen (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). In diesem Fall fehlt es aber an einer gesetzlichen Vermutung für die Annahme schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Dennoch können solche schwerwiegenden Gründe auch bei Vorliegen eines sonstigen (Regel- oder Ermessens-)Ausweisungsanlasses gegeben sein. Erforderlich ist dann jedoch, dass dem Ausweisungsgrund ein besonderes Gewicht zukommt. Dieses kann sich bei Straftaten insbesondere aus deren Art, Schwere und Häufigkeit ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.01.2009 - 1 C 2.08 - ZAR 2009, 145).
24 
2. Bei einer durch eine Straftat veranlassten Ausweisung, die tragend zur generalpräventiven Abschreckung anderer Ausländer verfügt oder aufrechterhalten wird, fehlt es im Lichte von Art. 8 EMRK in der Regel an schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, wenn hierdurch ein in Deutschland nachhaltig „verwurzelter“ Ausländer betroffen wird. Die regelmäßige Unzulässigkeit von tragend generalpräventiv motivierten Ausweisungen bei dieser Personengruppe folgert der Senat in einer Gesamtschau aus den neueren Rechtsprechungslinien sowohl des Bundesverfassungsgerichts (a) als auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - (b) und im Übrigen auch aus der Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofs - EuGH - bezüglich Unionsbürgern (c) sowie des Bundesverwaltungsgerichts hinsichtlich assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen (d). Dies gilt jedenfalls seit Inkrafttreten des EU-Reformvertrags von Lissabon am 01.12.2009 (e).
25 
a) Im Beschluss der Zweiten Kammer des Zweiten Senats vom 10.08.2007 (- 2 BvR 535/06, Rn. 24 f. - NVwZ 2007, 1300) hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt:
26 
„Eine am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgerichtete Entscheidung über die Zulässigkeit einer generalpräventiv motivierten Ausweisung setzt … voraus, dass die Ausländerbehörde die Umstände der Straftat und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen von Amts wegen sorgfältig ermittelt und eingehend würdigt. Ohne die Kenntnis von Einzelheiten der Tatbegehung und der persönlichen Situation des Betroffenen können in der Regel die Auswirkungen der Ausweisung auf die Individualinteressen nicht hinreichend sicher festgestellt und in einer einzelfallbezogenen Abwägung den die Ausweisung verlangenden Interessen der Allgemeinheit gegenübergestellt werden. … Im Grundsatz nicht anders als bei der Würdigung der von dem Ausländer künftig ausgehenden Gefahren im Rahmen spezialpräventiv motivierter Ausweisungen genügt es insbesondere nicht, das Gewicht des für eine Ausweisung sprechenden öffentlichen Interesses allein anhand der Typisierung der den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten in den Ausweisungsvorschriften des Aufenthaltsgesetzes zu bestimmen.“
27 
In der Literatur wird die Auffassung vertreten, mit dieser inhaltlich teilweisen Neukonturierung des Anforderungsprofils habe das Bundesverfassungsgericht der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen „nicht nur die Zähne gezogen, sondern ihr - jedenfalls was eine praktische Anwendung betrifft - gleichsam auf kaltem Wege den (endgültigen) Todesstoß versetzt“ (Mayer, Systemwechsel im Ausweisungsrecht, VerwArch 2010, 507). Denn eine generalpräventive Ausweisung, die im Grundsatz nicht anders als bei einer spezialpräventiven Ausweisung auch eine Feststellung der persönlichen Lebensverhältnisse des Betroffenen einschließlich der Umstände der begangenen Straftat verlangt und daran anschließend eine einzelfallbezogene Abwägung der Individualinteressen des Ausländers mit den für die Ausweisung ins Feld geführten öffentlichen Belangen der Allgemeinheit erfordert, sei in Wahrheit nichts anderes als eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen. Da das Wesen der generalpräventiven Ausweisung vor allem darin bestehe, eine Ausweisung ohne das Abstellen auf die individuelle Gefährlichkeit des Ausländers zu ermöglichen (so schon Pagenkopf, DVBl. 1975, S. 766), könne es allenfalls noch eine „generalpräventiv motivierte“ Ausweisung geben, die jedoch zugleich auch spezialpräventiv gerechtfertigt sein müsse. Ohnehin wäre eine selbständig rechtfertigende Wirkung generalpräventiver Erwägungen mit dem Garantiegehalt der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar. Denn diese schließe es aus, den Ausgewiesenen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu denaturieren und ihn als Vehikel zu benutzen, um auf andere abschreckend und damit verhaltenssteuernd einzuwirken (Mayer, a.a.O., m.w.N.). Ob dies in dieser Allgemeinheit zutrifft, kann hier offen bleiben. Jedenfalls bei nachhaltig „verwurzelten“ Ausländern, die sich auf den qualifizierten Schutz von Art. 8 EMRK berufen können - was nicht notwendig zugleich eine tiefgreifende „Entwurzelung“ voraussetzt -, steht der vom Bundesverfassungsgericht besonders betonte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. schon BVerfG, Beschluss vom 17.01.1979 - 1 BvR 241/77 - BVerfGE 50, 166) einer Ausweisung aus generalpräventiven Gründen aber in der Regel entgegen. Eine tragend generalpräventiv motivierte Ausweisung stellt sich bei nachhaltig „Verwurzelten“ auch im Lichte der Ausführungen des BVerfG mithin regelmäßig als unverhältnismäßig dar, sodass es an hierfür rechtfertigenden schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung fehlt.
28 
b) Auch der Straßburger EGMR steht der Rechtsfigur der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen grundsätzlich skeptisch gegenüber. Dies ergibt sich aus seiner Rechtsprechung zu Ausweisungen, die er an Art. 8 EMRK misst. Seine sogenannten Boultif/Üner-Kriterien hat er etwa im Urteil Chair vom 06.12.2007 - 69735/01 - InfAuslR 2008, 111 (Rn. 58 ff.) wie folgt zusammengefasst:
29 
„Der Gerichtshof hat bekräftigt, dass in allen Rechtssachen, die niedergelassene Zuwanderer betreffen, bei der Prüfung der Frage, ob eine Ausweisungsmaßnahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stand, die folgenden Kriterien heranzuziehen sind:
30 
- Die Art und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftat;
- die Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll;
- die seit der Tat verstrichene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers in dieser Zeit;
- die Staatsangehörigkeit der verschiedenen Betroffenen;
- die familiäre Situation des Beschwerdeführers, wie z.B. die Dauer der Ehe, und andere Faktoren, die erkennen lassen, wie intakt das Familienleben eines Ehepaars ist;
- ob der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin von der Straftat wusste, als er bzw. sie eine familiäre Beziehung einging;
- ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind und gegebenenfalls deren Alter und
- das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin in dem Land, in das der Beschwerdeführer bzw. die Beschwerdeführerin ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen wird.
31 
Im Urteil Üner hat der Gerichtshof außerdem ausdrücklich die beiden folgenden Kriterien genannt:
32 
- Die Belange und das Wohl der Kinder, insbesondere das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen Kinder des Beschwerdeführers in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen werden, und
- die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland.“
33 
Ebenso wie das Bundesverfassungsgericht verlangt mithin auch der Menschenrechtsgerichtshof (angesiedelt auf der Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung), dass für eine konventionsgemäße Ausweisung zwingend eine genaue und auf den Einzelfall bezogene Feststellung der persönlichen Lebensverhältnisse des Betroffenen einschließlich der konkreten Umstände der begangenen Straftat getroffen und daran anschließend eine Abwägung der Individualinteressen des Ausländers mit den für die Ausweisung ins Feld geführten öffentlichen Belangen der Allgemeinheit durchgeführt wird (vgl. auch EGMR, Urteil vom 23.06.2008 - 1638/03 - Maslov). Auch dies läuft jedenfalls in rechtstatsächlicher Hinsicht sehr stark auf eine Ausweisung (nur oder nur auch) aus spezialpräventiven Gründen zu.
34 
c) Der Luxemburger EuGH hält hinsichtlich Unionsbürgern eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen schon seit 1975 für rechtswidrig, wie er erstmals im Urteil Bonsignore (Urteil vom 26.02.1975, Rs. 67/74, Rn. 7) klarstellte:
35 
„Auf die gestellten Fragen ist daher zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie Nr. 64/221 der Ausweisung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates entgegensteht, wenn diese zum Zweck der Abschreckung anderer Ausländer verfügt wird, das heißt, wenn sie - in der Formulierung des innerstaatlichen Gerichts - auf ‚generalpräventive‘ Gesichtspunkte gestützt wird.“
36 
Im Urteil Orfanopoulos und Oliveri (Urteil vom 29.04.2004, Rs. C-482/01 u. 493/01, Rn. 66-68) hat er dies 2004 nochmals ausführlicher dargelegt:
37 
„Maßnahmen der öffentlichen Ordnung sind nach Art. 3 der Richtlinie 64/221 nur dann gerechtfertigt, wenn sie ausschließlich auf das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen gestützt sind. In dieser Bestimmung heißt es, dass strafrechtliche Verurteilungen allein ohne weiteres diese Maßnahmen nicht rechtfertigen können. Wie der Gerichtshof u. a. im Urteil vom 27.10.1977 in der Rechtssache 30/77 (Bouchereau, Slg. 1977, 1999, Rn. 35) festgestellt hat, setzt die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung voraus, dass außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
38 
Zwar kann ein Mitgliedstaat die Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefahr für die Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung gegen Ausländer rechtfertigt, die gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstoßen, doch ist die Ausnahme der öffentlichen Ordnung eng auszulegen, so dass eine strafrechtliche Verurteilung eine Ausweisung nur insoweit rechtfertigen kann, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (vgl. u. a. Urteil vom 19.01.1999, Rs. C-348/96, Calfa, Rn. 22-24).
39 
Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, dass das Gemeinschaftsrecht der Ausweisung eines Angehörigen eines Mitgliedstaats entgegensteht, die auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützt, d. h. zum Zweck der Abschreckung anderer Ausländer verfügt wird (vgl. u.a. Urteil Bonsignore, Rn. 7), insbesondere, wenn die Ausweisung aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung automatisch verfügt wird, ohne dass das persönliche Verhalten des Täters oder die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung berücksichtigt wird (vgl. Urteile Calfa, Rn. 27, und Nazli, Rn. 59).“
40 
d) Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Impulse aus Luxemburg aufgegriffen und seine diesbezügliche Rechtsprechung mit Urteil vom 03.08.2004 -1 C 30.02 - auch hinsichtlich der generalpräventiv begründeten Ausweisung von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern geändert (BVerwGE 121, 297, Rn. 24):
41 
„Die Gefährdung kann sich im Einzelfall auch allein aufgrund des abgeurteilten Verhaltens ergeben. Es besteht aber keine dahin gehende Regel, dass bei schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten die hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen begründet. Eine vom Einzelfall losgelöste oder auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützte Begründung der Ausweisung ist in jedem Fall unzulässig.“
42 
Im Urteil vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - (BVerwGE 124, 243) wurde dies nochmals bekräftigt:
43 
„Das Gemeinschaftsrecht lässt eine Ausweisung ausnahmslos nur aus spezialpräventiven Gründen zu, d.h. zum Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die von dem einzelnen Ausländer persönlich ausgehen, nicht aber - tragend oder auch nur mittragend - zur (generalpräventiven) Abschreckung anderer Ausländer.“
44 
Mit Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - (BVerwGE 121, 315, Rn. 17) hat das Bundesverwaltungsgericht diese Grundsätze des unionsrechtlichen Ausweisungsschutzes auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige erstreckt, d.h. deren Ausweisungsschutz in gleicher Weise materiellrechtlich begründet und ausgestaltet wie für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger:
45 
„Es sind keine Gründe ersichtlich, die einer Übertragung der nach dem Urteil des Senats im Verfahren BVerwG 1 C 30.02 anzuwendenden Maßstäbe entgegenstehen.“
46 
Der EuGH hat die Richtigkeit dieser Entscheidung mit Urteil vom 11.11.2004 (Rs. C-467/02 - Cetinkaya) bestätigt.
47 
Seither können freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nur noch ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen darf eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt und auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet; aufenthaltsbeendende Maßnahmen dürfen daher nicht mehr aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zwecke der Generalprävention angeordnet werden (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - ZAR 2010, 284). Hier kann mithin kein „dringendes Bedürfnis“ mehr angenommen werden, über eine etwaige strafrechtliche Sanktion hinaus „durch eine kontinuierliche Ausweisungspraxis andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten“ (so noch: BVerwG, Beschluss vom 08.05.1996 - 1 B 136.95 - InfAuslR 1996, 299).
48 
Seit der 2. EU-Osterweiterung am 01.01.2007 kommen zunächst alle Staatsangehörigen der anderen 26 Mitgliedstaaten in den Genuss dieses europarechtlichen Ausweisungsschutzes. Das sind rund 35 % aller in Deutschland lebenden Ausländer (Stand: 31.12.2009; zit. nach BAMF, Ausländerzahlen 2009, S. 12). Hinzu kommen des Weiteren wohl rund 23 % türkische Staatsangehörige (vgl. BAMF, a.a.O., S. 11), weil nur ca. 5 % der in Deutschland lebenden Türken (ca. 25 % der ausländischen Bevölkerung von insgesamt 6,7 Mio. Menschen) kürzer als sechs Jahre hier leben; über 86 % der türkischen Staatsangehörigen leben sogar länger als 10 Jahre in Deutschland (vgl. BAMF, a.a.O. S. 14). Dies bedeutet ausländerrechtlich, dass sich möglicherweise rund 95 % der hier lebenden türkischen Staatsangehörigen auf Art. 6 oder 7 ARB 1/80 berufen können (vgl. Günes, Europäischer Ausweisungsschutz, 2009, S. 49 ff.). Geht man davon aus, dass zudem ein Teil sowohl der Unionsbürger als auch der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen mit ebenfalls aufenthaltsrechtlich besonders geschützten Drittstaatern (vgl. Art. 27 Abs. 2 Unionsbürger-RL 2004/38/EG, Art. 12 Abs. 1 Daueraufenthalts-RL 2003/109/EG und Renner/Dienelt, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 3 FreizügG/EU, Rn. 20 ff.) familiär verbunden ist, dürfte aufgrund insbesondere der Rechtsprechung des EuGH zwischenzeitlich möglicherweise für rund zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Ausländer ein absolutes Verbot der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen bestehen. Dies würde deren - nach Auskunft des Beklagten und Erfahrung des Senats - heute nur noch sehr geringe Praxisrelevanz schlüssig erklären. Die Frage, ob vor diesem empirisch-europarechtlichen Hintergrund auch mangels „kontinuierlicher Verwaltungspraxis“ eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen überhaupt noch abschreckende Wirkung im Sinne einer „Verhaltenssteuerung“ entfalten kann - wofür im Übrigen die Ausländerbehörde darlegungs- und beweispflichtig wäre -, sei nur am Rande gestellt. Neuere empirische Studien hierzu hat der Senat jedenfalls nicht auffinden können.
49 
e) Die Rechtsfigur der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen beruht bis heute auf richterlicher Schöpfung, nicht aber auf einer ausdrücklichen Anordnung des Gesetzgebers (vgl. GK-AufenthG, 6/2009, Vor §§ 53 ff., Rn. 1300.1, m.w.N.). Nach Überzeugung des Senats hat sie nunmehr auch bezüglich der in Deutschland nachhaltig „verwurzelten“ Ausländer ihre Berechtigung grundsätzlich verloren. Eine Anpassung ist erforderlich, um im Wege einer Gesamtschau insbesondere dem Schutz von Art. 8 EMRK und der Rechtsprechung des EGMR noch besser gerecht zu werden und insoweit eine Angleichung mit der Rechtsprechung des EuGH zu erzielen. Die Personengruppe der nachhaltig „Verwurzelten“ steht Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen in mancherlei Hinsicht gleich. Da jedoch nach wie vor keine vollständige Identität der Rechtsstellung besteht, kann der Schutz vor einer tragend auf generalpräventive Gründe gestützten Ausweisung nur eine Grundregel darstellen.
50 
Anders als bei Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen kann bei „Verwurzelten“ demnach eine generalpräventiv begründete Ausweisung weiterhin ausnahmsweise zulässig sein, wenn ganz besonders schwerwiegende Delikte verwirklicht wurden, die in erheblichem Maße die Interessen des Staates oder der Gesellschaft gefährden. Als Maßstab aus anderen Regelungszusammenhängen kann sich - zur Fallgruppenbildung im Europäischen Rechtsraum - insoweit zum einen Art. 12 Abs. 2 der Qualifikations-RL 2004/83/EG anbieten (insbesondere „Terrorismusdelikte“; vgl. Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 3 AsylVfG Rn. 8 f.). Nach der Rechtsprechung des EuGH kommt es auch im europäischen Flüchtlingsrecht hier nicht auf eine gegenwärtige Wiederholungsgefahr an (EuGH, Urteil vom 09.11.2010, Rs. C-101/09 - Deutschland vs. D). Zum anderen kann der Rechtsgedanke von Art. 28 Abs. 3 Unionsbürger-RL 2004/38/EG herangezogen werden („staats- oder gesellschaftsgefährdende Delikte“), weil auch Unionsbürger insoweit selbst nach 10-jährigem Aufenthalt im Aufnahmestaat nur einen eingeschränkten Schutz gegen (weiterhin ausschließlich spezialpräventiv begründete) Ausweisungen genießen (EuGH, Urteil vom 23.11.2010, Rs. C-145/09 - Tsakouridis). Liegen jedoch keine vergleichbar schwerwiegenden Delikte vor, verdient derjenige, der sich in qualifizierter Weise auf Art. 8 EMRK berufen kann, insbesondere weil er in Deutschland ein nach der Rechtsprechung des EGMR nachhaltig zu schützendes Privatleben entfaltet hat, menschenrechtlich einen mit Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen vergleichbaren Ausweisungsschutz. Die weitgehende Vereinheitlichung des bisweilen nur noch schlecht überschaubaren Ausländerrechts liegt insoweit nahe.
51 
Als Stichtag bietet sich das Inkrafttreten des EU-Reformvertrags von Lissabon an, d.h. der 01.12.2009. Denn der Lissabon-Vertrag hebt den Prozess der europäischen Integration „auf eine neue Stufe“ (Abs. 1 EUV-Präambel) und strebt mit der Vergemeinschaftung, heute genauer „Verunionung“ (vgl. Art. 1 Abs. 3 Satz 3 EUV) der vormaligen 3. EU-Säule die Schaffung eines europaweiten „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ an, in dem - gerade auch für die Bereiche Asyl, Einwanderung und Freizügigkeit - im Wesentlichen einheitliche Standards gelten sollen (vgl. Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 ff. AEUV und das Stockholmer Programm vom 11.12.2010 - ABlEU Nr. C 115/1). Auch wird mit dem gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV angestrebten Beitritt der neu verfassten EU zur EMRK diese Konvention normhierarchisch gewissermaßen auf die höchste Stufe gestellt. Selbst das bezüglich allen nationalen Rechts anwendungsvorrangige Unionsrecht wird künftig vom EGMR am Maßstab der EMRK gemessen und, trotz EU-Grundrechtecharta, gegebenenfalls als menschenrechtswidrig eingestuft. Damit wird durch den Lissabon-Vertrag klargestellt - und mit dessen Ratifikation auch von der Bundesrepublik angestrebt -, dass in Sachen Menschenrechtsschutz der Straßburger EGMR europaweit „das letzte Wort“ haben soll (ausführlich: Bergmann, Diener dreier Herren? - Der Instanzrichter zwischen BVerfG, EuGH und EGMR, EuR 2006, S. 101). Der Straßburger Rechtsprechung ist deshalb seit 01.12.2009 noch größeres Gewicht beizumessen. Seit 01.12.2009 muss bei der dogmatischen Durchdringung und Fortbildung des mitgliedstaatlichen Rechts vom „Europäischen Rechtsraum“ her gedacht werden (v. Bogdandy, Perspektiven einer europäischen Rechtswissenschaft, in: Handlexikon der EU, 4. Aufl., Baden-Baden, sowie JZ 2011, S. 4).
52 
Als diesbezügliches Vorbild für die Erstreckung des grundsätzlichen Verbots der generalpräventiven Ausweisung auf nachhaltig „verwurzelte“ Ausländer ab 01.12.2009 sieht der Senat die rechtspolitisch in gleiche Richtung weisende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur allgemeinen Verschiebung des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung. Mit Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - (BVerwGE 130, 20) hatte das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 28.08.2007 – nach der Geltung für Unionsbürger und sodann für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige – nunmehr bei allen Ausländern einheitlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich ist, was insoweit zu einer Rechtsvereinheitlichung in dem durch EGMR- und EuGH-Rechtsprechung geprägten Europäischen Rechtsraum geführt hat.
53 
3. Der Kläger ist ein in Deutschland „verwurzelter“ Ausländer und kann sich auf den Schutz von Art. 8 EMRK berufen. Der EGMR geht von einem weiten Begriff des Privatlebens aus, dessen Schutzbereich auch das „Recht auf Entwicklung einer Person“ sowie das „Recht, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt zu knüpfen und zu entwickeln“ und damit letztlich die Gesamtheit der im Land des Aufenthalts - hier Deutschland - „gewachsenen Bindungen“ umfasst. Maßgebend ist, ob der Ausländer aufgrund seines (längeren) Aufenthalts über „starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte“ zum Aufnahmestaat verfügt (vgl. die im Senatsurteil vom 13.12.2010 - 11 S 2359/10 - referierte EGMR-Rechtsprechung). Im konkreten Einzelfall des Klägers ist dies nach Auffassung des Senats gegeben. Der Kläger lebt nunmehr bereits seit 14 Jahren im Bundesgebiet. Seine gesamte berufliche Entwicklung ist hier erfolgt. Hier leben enge Familienangehörige und sein Freundeskreis. Hier hat er einen Arbeitsplatz, der ihn ohne ergänzenden Sozialleistungsbezug unterhält. Hier verlebt der Kläger sein Privatleben mit seiner deutschen Partnerin.
54 
Auf die Frage der zugleich tiefgreifenden „Entwurzelung“ kann es in diesem Zusammenhang nicht ankommen. Denn auch der diesbezügliche Ausweisungsschutz von Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen besteht unabhängig davon, ob die Sprache der früheren Heimat beherrscht wird oder ob dort etwa noch Verwandte bzw. Bekannte leben. Solche Umstände können allerdings (insbesondere auf der Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung) einen noch weitergehenden Schutz gegenüber einer ausnahmsweise generalpräventiv oder aber spezialpräventiv motivierten Ausweisung begründen.
55 
Damit greift bezüglich des Klägers die oben dargelegte Regel des Verbots der tragend auf generalpräventive Gründe gestützten Ausweisung. Da keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Ausnahme von dieser Regel vorliegen (Terrorismus, staats- oder gesellschaftsgefährdende Delikte), ist seine Ausweisung gesperrt. Anders formuliert fehlt es damit im konkreten Einzelfall an den für die Ausweisung erforderlichen „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ im Sinne von § 54 Nr. 1 i.V.m. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Die allein auf generalpräventive Motive gestützte Ausweisung des Klägers ist also im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat rechtswidrig.
II.
56 
Ist die angefochtene Ausweisung aufzuheben, entfällt die nach §§ 51 Abs. 1 Nr. 5, 50 Abs. 1 AufenthG entstandene Ausreisepflicht und die dem Kläger am 28.10.2004 erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgilt, lebt wieder auf. Demgemäß ist auch die im Bescheid vom 23.06.2009 verfügte unselbständige Abschiebungsandrohung aufzuheben, soweit sie sich nach der Haftentlassung nicht erledigt hat. Denn Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung ist eine bestehende Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1 AufenthG (ebenso: Nds. OVG, Urteil vom 10.03.2011 - 8 LB 153/09 - juris; OVG NRW, Beschluss vom 20.02.2009 - 18 A 2620/08 - juris).
57 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
58 
Die Revision ist zuzulassen, weil die Rechtssache im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO grundsätzliche Bedeutung hat und die Frage der Möglichkeit einer Ausweisung bei „verwurzelten“ Ausländern aus generalpräventiven Gründen zur Herstellung einer bundeseinheitlichen Rechtslage vom Bundesverwaltungsgericht entschieden werden sollte. Das Bundesverwaltungsgericht ging bisher in seiner Rechtsprechung davon aus, dass eine Straftat als Ausweisungsgrund im Sinne von § 56 Abs. 1 Sätze 2 und 3 AufenthG regelmäßig auch bei „verwurzelten“ Ausländern aus generalpräventiven Erwägungen als besonders schwerwiegend bewertet werden und ein öffentliches Interesse an der Ausweisung des Ausländers begründen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.08.2004 - 1 C 25/03 - BVerwGE 121, 356; hierauf sich berufend etwa Bay. VGH, Beschluss vom 31.01.2011 - 10 ZB 10.2868 - juris).
59 
Beschluss vom 18. März 2011
60 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
61 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Tenor

Soweit der Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt worden ist, wird das Verfahren eingestellt. In Übrigen wird die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12.03.2008 - 8 K 3985/06 - zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und wendet sich gegen seine Ausweisung.
Er ist am 01.10.1981 in ... geboren und dort aufgewachsen. Sein 1947 geborener Vater war im Bundesgebiet seit 1973 erwerbstätig und verstarb 2009 an den Folgen einer 1999 diagnostizierten Krebserkrankung. Seine 1950 geborene Mutter lebt seit 1978 in Deutschland und ist nach einem Hirninfarkt mit Halbseitenlähmung und weiteren Erkrankungen hilfebedürftig. Sie wird durch Familienmitglieder unterstützt und gepflegt. Im Bundesgebiet leben die vier älteren, in den Jahren 1971, 1972, 1973 und 1979 geborenen Brüder des Klägers, die teilweise hier eigene Familien haben. Die drei ältesten Brüder wuchsen zunächst bei ihren Großeltern in der Türkei auf und kamen im Kindesalter nach Deutschland.
Am 02.10.1997 wurde dem Kläger eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Er erwarb 1998 den Hauptschulabschluss und schloss am 18.07.2001 eine Lehre als Verpackungsmittelmechaniker erfolgreich ab. Sein bisheriger Ausbildungsbetrieb setzte ihn in unmittelbarem Anschluss an das Ende seiner Ausbildung als Drucker ein. Nach eigenen Angaben arbeitete der Kläger wegen einer durch die andauernde Belastung mit Lösungsmitteln hervorgerufenen Erkrankung nur etwa zwei Jahre in seinem erlernten Beruf. Danach bezog er Arbeitslosengeld. Im Jahre 2003 war er kurzzeitig als Konzessionsinhaber des Pizza-Services „...“ in ... registriert, wobei die Pizzeria aufgrund einer „Verrechnung“ in einem Drogengeschäft erworben worden war.
Der Kläger wurde am 06.10.1999 in einem Zug einer verdachtsunabhängigen Kontrolle unterzogen, bei der ein Gramm Marihuana und eine Haschischpfeife gefunden wurden. Von der Verfolgung wurde nach § 45 Abs. 1 JGG abgesehen. Nach einem „Tipp aus der Szene“ wurde gegen ihn ab dem Sommer 2003 wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz ermittelt. Am 08.04.2004 erließ das Amtsgericht ... deswegen einen Haftbefehl, seit 09.05.2005 bestand ein europäischer Haftbefehl. Die Verhaftung des Klägers erfolgte am 02.06.2005 in den Niederlanden. Am 12.08.2005 wurde er an die deutschen Behörden überstellt; zuvor hatte er sich in den Niederlanden erfolglos um gerichtlichen Rechtsschutz gegen seine Auslieferung bemüht.
Das Landgericht Stuttgart verurteilte den Kläger mit Urteil vom 24.11.2005 - 5 KLs 221 Js 100500/04 -, das noch am gleichen Tag rechtskräftig wurde, wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwölf tatmehrheitlichen Fällen sowie unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechzehn tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtstrafe von neun Jahren Freiheitsstrafe. Der Verfall eines Wertersatzes in Höhe von 857.300 EUR, davon in Höhe von 848.700 EUR gesamtschuldnerisch mit dem gesondert verfolgten Mittäter ... Y., wurde angeordnet.
Das Landgericht traf ausweislich der nach § 267 Abs. 4 StPO abgekürzten Gründe im Wesentlichen folgende Feststellungen: Der Kläger beschloss spätestens Mitte des Jahres 2002, sich aus dem fortlaufenden gewinnbringenden Verkauf von Marihuana eine Einnahmequelle von einem gewissen Umfang und einer gewissen Dauer zu verschaffen. Er verkaufte im Sommer 2002 zweimal jeweils mindestens ein Kilo Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 10% gewinnbringend zum Grammpreis von 4,30 EUR an die gesondert verfolgten M.K. und A.Y. (Taten 1 und 2 gemäß des Strafurteils). Spätestens im Oktober 2002 beschlossen der Kläger und der gesondert verfolgte ... Y., sich in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken durch den fortlaufenden gewinnbringenden Verkauf von Marihuana in Stuttgart eine Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer zu verschaffen. Die Beschaffung und den Vertrieb organisierten sie arbeitsteilig, wobei ... Y. sich die Letztentscheidungskompetenz vorbehielt. Das Marihuana, dessen THC-Gehalt mindestens 15% betrug, verkauften sie an A.M. der es seinerseits an seine Abnehmer G.L. und F.M. weiterveräußerte. Gegenstand der im Strafurteil im Einzelnen aufgeführten und zwischen Oktober 2002 und April 2003 begangenen Taten 3 - 12 (UA S. 4 f.) waren insgesamt mindestens 24,5 kg Marihuana, wobei von den bei den Taten 9, 11 und 12 gehandelten Rauschgiftmengen etwa 12,8 kg sichergestellt werden konnten. Die Polizei verhaftete F.M. am 09.04.2003 und A.M. am 16.04.2003. Spätestens Anfang Dezember 2003 schlossen sich der Kläger, ... Y., M.Y. sowie die beiden Brüder des Klägers N. und M. zu einer Gruppierung zusammen mit dem Ziel, künftig in ... und Umgebung für eine gewisse Dauer erhebliche Mengen Marihuana sowie Kokain jeweils guter Qualität (Wirkstoffgehalt THC mindestens 10 % bzw. Kokainhydrochlorid mindestens 35 %) gewinnbringend weiterzuverkaufen, um sich daraus eine fortlaufende Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Umfang zu verschaffen. Entsprechend der gemeinsamen Abrede vereinbarten sie ein arbeitsteiliges Vorgehen, wobei es Aufgabe des Klägers und von ... Y. war, die Betäubungsmittelbeschaffung und deren Weiterverkauf zu organisieren. Insbesondere legten sie gemeinsam die jeweiligen Lieferzeitpunkte fest und kontrollierten den Zahlungsverkehr. Mittels sog. Palms glichen sie von Zeit zu Zeit die von ihnen arbeitsteilig erzielten Ergebnisse ab. Im Verhältnis untereinander konnte ... Y. dem Kläger Weisungen erteilen. Bei Bedarf teilten beide den anderen Bandenmitgliedern einzelne Aufgaben zur Erledigung zu. Als Umschlagplatz für die Betäubungsmittel diente die von beiden gemeinsam bewohnte Wohnung im Anwesen ..., nachdem die Kurierfahrzeuge zuvor von anderen Bandenmitgliedern in verschiedenen Tiefgaragen in ... entladen worden waren. Spätestens Ende Januar 2004 schloss sich ... F. der Gruppierung an. ... Y. bot diesem in Absprache mit dem Kläger zunächst an, als Security-Mann für ihn zu arbeiten. Nachdem F. dieses Angebot angenommen hatte, wurde ihm innerhalb kürzester Zeit klar, dass der Kläger und ... Y. ihren aufwändigen Lebensstil aus Rauschgiftgeschäften finanzierten. In der Folge erklärte er sich auf Nachfrage der beiden bereit, bei dem Rauschgifthandel mitzumachen. Da der Kläger und ... Y. aus ihrer seitherigen Lieferquelle den wachsenden Marihuana-Absatz nicht mehr vollständig bedienen konnten, beauftragte ... Y. in Absprache mit dem Kläger F., neue Lieferquellen zu erschließen. F. nahm Kontakt mit einem nicht näher identifizierten Russen namens „...“ auf und vereinbarte und organisierte mit diesem Lieferungen von Marihuana aus den Niederlanden, wobei man sich zur „Geschäftsabwicklung“ teilweise in Heinsberg traf. Im März 2004 stieß schließlich J.L. zu der Bande. Dieser hatte sich Anfang Januar 2004 vom Kläger Geld geliehen, was er jedoch nicht zurückzahlen konnte. Zur Abgeltung dieser Schulden erklärte sich L. bereit, an dem Rauschgifthandel mitzuwirken. Gegenstand der abgeurteilten 16 Taten, die im Zeitraum zwischen Dezember 2003 und 06.04.2004 begangen worden waren, waren insgesamt etwa 205 kg Marihuana sowie 500 g Kokain, wobei 15 kg Marihuana sichergestellt werden konnten. Hinsichtlich der Einzelheiten dieser Taten wird auf die Feststellungen des Landgerichts verwiesen (dort Taten Nrn. 13 bis 28, UA S. 7 - 15). Die Feststellungen zur Sache beruhten dem Strafurteil zufolge auf dem umfassenden, im Vorfeld der Hauptverhandlung abgelegten Geständnis des Klägers, das sich einerseits mit den vom Zeugen KHK K. glaubhaft berichteten Ermittlungsergebnissen aus dem umfassenden Gesamtermittlungskomplex und andererseits den Feststellungen in dem gegen die übrigen Bandenmitglieder ergangenen Strafurteil vom 15.03.2005 deckte.
Zur Strafzumessung führte das Landgericht unter anderem aus: Für eine Strafrahmenverschiebung nach § 31 BtMG sei kein Raum gewesen. Zwar habe der Kläger im Rahmen seiner polizeilichen Angaben - wie KHK K. berichtet habe -umfängliche, über seinen eigenen Tatbeitrag hinausgehende Aufklärungshilfe geleistet. Diese erschöpfe sich jedoch, von einem in seiner Erfolgsaussicht derzeit noch nicht abschließend zu beurteilenden Ermittlungsansatz abgesehen, maßgeblich in der Bestätigung des bereits durch die Angaben des ... Y. bekannten Ermittlungsstandes. Innerhalb des für die Taten 1 bis 12 geltenden Strafrahmens nach § 29a Abs. 1 BtMG und des für die Taten 13 bis 28 zur Anwendung kommenden Strafrahmens nach § 30a Abs. 1 BtMG sei zu Gunsten des nicht vorbestraften Klägers sein umfassendes Geständnis gewertet worden, welches zu einer nennenswerten Verfahrensabkürzung geführt habe. In diesem Zusammenhang habe die Strafkammer auch die geleistete Aufklärungshilfe strafmildernd gewertet. In gleicher Weise sei die Länge der erlittenen Auslieferungs- und Untersuchungshaft sowie der Umstand gewichtet worden, dass der Kläger als Erstverbüßer äußerst strafempfindlich sei. Auch die im Raume stehenden ausländerrechtlichen Folgen der vorliegenden Verurteilung seien strafmildernd gewertet worden. Zu Gunsten des Klägers sei bezüglich der Taten 9, 11, 12 und 28 strafmildernd berücksichtigt worden, dass Rauschgift habe sichergestellt werden können und nicht in den Verkehr gelangt sei. Zudem habe die Strafkammer strafmildernd gewertet, dass die Hemmschwelle des Klägers nicht ausschließbar durch seinen Eigenkonsum herabgesetzt gewesen sei. Zu seinen Lasten fielen strafschärfend die jeweils erheblichen Mengen an Rauschgift sowie das Handeltreiben mit Kokain als einem der gefährlichsten Rauschgifte ins Gewicht. Bei den Taten 13 bis 28 sei zu seinen Lasten berücksichtigt worden, dass die Tatinitiative jeweils von ihm - zusammen mit ... Y. - ausgegangen sei, zu seinen Gunsten sei jedoch seine Weisungsgebundenheit gegenüber diesem einzustellen. Schließlich sei seine extrem große kriminelle Energie strafschärfend gewichtet worden, welche insbesondere in der hohen Tatfrequenz zum Ausdruck gekommen sei.
Ausweislich des Protokolls des Landgerichts über die Hauptverhandlung gab es zwischen der Strafkammer, der Staatsanwaltschaft und dem Verteidiger Gespräche über eine einvernehmliche Verfahrensabkürzung. Die Strafkammer sagte dem Kläger für den Fall eines umfassenden Geständnisses und der Bereitschaft, in anderen Ermittlungsverfahren Angaben zu machen, zu, ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als neun Jahren zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft sagte für diesen Fall zu, das weitere anhängige Ermittlungsverfahren im bisher bekannten Umfang einzustellen und erklärte, dass die Zusage nur für den Fall einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens neun Jahren gilt.
Die übrigen Bandenmitglieder waren bereits durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 15.03.2005 - 5 KLs 221 Js 95338/03 - zu Freiheitsstrafen verurteilt worden - unter anderem ... Y. zu 10 Jahren, M.Y. zu 6 Jahren, N.B. zu 6 Jahren und 2 Monaten sowie M.B. zu 6 Jahren und 6 Monaten. Nach den hinsichtlich aller Angeklagten gem. § 267 Abs. 4 StPO abgekürzten Gründen des Urteils beruhten die Feststellungen zur Sache auf den umfassenden sich wechselseitig bestätigenden und daher glaubhaften Geständnissen sämtlicher Angeklagter, die auch durch die vom Zeugen KHK K. nachvollziehbar berichteten Ermittlungsergebnisse aus den stattgefundenen Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen sowie Observationen gestützt wurden.
10 
Der Kläger selbst hatte ab dem 16.11.2005 in polizeilichen Vernehmungen Angaben gemacht. Nach seiner Verurteilung wurde der Kläger erneut in der Zeit zwischen Januar 2006 und Juni 2006 polizeilich vernommen. ... Y., der in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde, hatte bereits vor den Angaben des Klägers zur Sache umfangreich über Hintermänner, Lieferanten und Abnehmer des Rauschgifthandels ausgesagt. Nach einem Schreiben von KHK K. an das Regierungspräsidium Stuttgart vom 17.03.2008 seien aufgrund der Aussagen des „Bandenkopfes“, dessen rechter Hand und weiterer Bandenmitglieder, welche zwischenzeitlich bei der Polizei Angaben gemacht hätten, etwa 90 Strafverfahren eingeleitet worden, die teilweise zu langjährigen Freiheitsstrafen geführt hätten. Das aufgrund der ab Januar 2006 erfolgten Angaben gegen den Kläger eröffnete Ermittlungsverfahren stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart mit Verfügung vom 16.03.2007 - 221 Js 26457/06 - nach § 154 StPO ein.
11 
Das Regierungspräsidium Stuttgart nahm die Verurteilung des Klägers zum Anlass, ihn mit Verfügung vom 04.10.2006 aus dem Bundesgebiet auszuweisen. Zugleich wurde ihm die Abschiebung in die Türkei ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise angedroht und die Abschiebung auf den Zeitpunkt der Haftentlassung angekündigt. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt: Der Kläger besitze eine Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 und 2 ARB 1/80. Folglich könne er nur unter dem Vorbehalt der Beschränkungen aus Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 und nach Ermessen ausgewiesen werden. Die von ihm vorsätzlich und tatmehrheitlich begangenen Betäubungsmittelstraftaten wögen ausgesprochen schwer, da er sich unter anderem mit anderen Personen zu einer Bande zusammen geschlossen habe, die allein aus Gewinnstreben höchst umfangreich einen schwunghaften Handel mit Marihuana in höheren Kilogrammbereich betrieben habe. Dass es sich dabei „nur“ um Marihuana gehandelt habe, ändere an der Schwere der Tat nichts, denn über diese Einstiegsdroge führe oft der Weg in eine schwere Drogenabhängigkeit. Zudem habe er in einem Fall auch die harte Droge Kokain in einer Menge von ca. 500 Gramm verkauft. Eine konkrete Wiederholungsgefahr sei gegeben. Diese entfalle auch nicht im Hinblick auf das Geständnis im Strafverfahren. Eine echte Einsicht und Reue lasse sich daraus nicht ableiten, zumal die Beweislage wegen der Telekommunikationsüberwachung und der polizeilichen Observation erdrückend gewesen sei. Der Ausweisung stehe Art. 28 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG und der darin enthaltene besondere Ausweisungsschutz nicht entgegen. Diese gemeinschaftsrechtliche Vorschrift sei auf türkische Staatsangehörige, die sich auf Art. 7 ARB 1/80 berufen könnten, nicht anzuwenden. Der Kläger sei zwar im Bundesgebiet geboren und hier aufgewachsen, doch überwiege sein durchaus erhebliches Interesse, von der Ausweisung verschont zu bleiben, nicht das herausragende öffentliche Interesse an der wirksamen Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität. Die Wahrscheinlichkeit, dass er im Bundesgebiet erneut straffällig werde, sei ausgesprochen hoch. Es werde nicht übersehen, dass er Schwierigkeiten haben werde, sich in der Türkei einzugewöhnen. Er könne aufgrund seines Alters jedoch ohne weiteres allein klar kommen, zumal er zumindest Grundkenntnisse der türkischen Sprache besitze. Vor dem Hintergrund des höchst kriminellen Fehlverhaltens sei es ihm zumutbar, die mit einer Abschiebung in die Türkei verbundenen Schwierigkeiten in Kauf zu nehmen und dort zu überwinden - zumal die Straftaten auf eine nicht abgeschlossene Integration in die deutschen Lebensverhältnisse schließen ließen. Im Übrigen sei davon auszugehen, dass er noch Bindungen in der Türkei habe. Hierauf deute auch der Kauf einer Eigentumswohnung dort durch seinen Bruder M. hin. Die familiäre Verbundenheit mit den im Bundesgebiet lebenden Angehörigen den Eltern und Brüdern stehe der Ausweisung nicht entgegen. Diese stehe mit Art. 8 EMRK in Einklang.
12 
Zur Begründung seiner fristgerecht erhobenen Klage trug der Kläger vor: Die Ausweisungsverfügung verstoße gegen nationale und internationale Vorschriften. Er könne nach Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit ausgewiesen werden. Diese Voraussetzungen lägen aber nicht vor. Abgesehen davon sei seine Ausweisung auch aus anderen Gründen fehlerhaft. Schon vor seiner Verurteilung habe er damit begonnen, mit seiner kriminogenen Vergangenheit abzuschließen. Seine Zeugenaussagen, die bewirkt hätten, dass er in ständiger Bedrohung lebe, hätten zu einer strafrechtlichen Verfolgung einer Vielzahl von Personen geführt. Seine Entwicklung nach der Tat und sein in jeder Hinsicht beanstandungsfreies Verhalten im Vollzug zeigten, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgehe. Seine Integration in deutsche Lebensverhältnisse sei abgeschlossen; daran ändere seine Straffälligkeit nichts. Seine Bezugspersonen lebten alle in Deutschland. Hier habe er einen festen Freundeskreis. Verbindungen in die Türkei habe er keine mehr. Auch sei sein früherer Mittäter ... Y. in den Zeugenschutz aufgenommen worden, was wiederum für diesen zumindest ein Abschiebungshindernis bedeute. Er dürfe ausländerrechtlich nicht schlechter behandelt werden als dieser und als seine eigenen Brüder, die im Bundesgebiet bleiben könnten. Auch bilde er sich weiter. Er plane und betreibe seine Schuldenregulierung, die bei einer Abschiebung in die Türkei nicht mehr erfolgen könnte. Seine Ausweisung verstoße gegen Art. 8 EMRK.
13 
Das Verwaltungsgericht Stuttgart bestätigte mit Urteil vom 12.03.2008 - 8 K 3985/06 - die Ausweisungsverfügung des beklagten Landes, das der Klage entgegen getreten war.
14 
Da sowohl die angefochtene Verfügung als auch das Urteil des Verwaltungsgerichts davon ausgingen, die Ausweisung des Klägers richte sich aufgrund seiner Rechtstellung nach Art. 7 Satz 1 und 2 ARB 1/80 nach Art. 14 ARB 1/80 und offen sei, ob auch assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige sich auf den Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 lit. a RL 2004/38/EG berufen können, ließ der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Beschluss vom 22.07.2008 - 13 S 1244/08 - die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zu. Die vom Kläger unter Stellung eines Antrags fristgerecht begründete Berufung wurde mit Blick auf das durch Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.07.2008 - 13 S 1917/07 - bei Europäischen Gerichtshof zu dieser Frage bereits anhängig gemachte Vorabentscheidungsersuchen (C-371/08) ausgesetzt.
15 
Der Kläger war zunächst in der JVA ... und sodann in der JVA ... in Haft. Dort teilte er sich mit seinen zwei Brüdern - aus Sicherheitsgründen - die Zelle. In der JVA ... arbeitete er seit dem 14.03.2006 in der Druckerei und eignete sich hier die Reprofilmmontage, die Druckplattenkopie und die Filmarchivierung an. Nach der Bescheinigung der JVA - Landesbetrieb Vollzugliches Arbeitswesen - vom 09.07.2009 habe er sich im Laufe seiner Tätigkeit in der Druckerei in seinem Verhalten gegenüber Vorgesetzten und auch Mitgefangenen sehr positiv entwickelt; er zeichne sich hauptsächlich durch Zuverlässigkeit, Qualitätsbewusstsein und Loyalität aus. Betäubungsmittelkontrollen während der Haft waren negativ. Mit Wirkung zum 26.08.2009 wurde der Kläger als Freigänger zugelassen, um ab dem 30.08.2009 einen zwei Jahre dauernden Umschulungslehrgang am ... Berufskolleg beginnen zu können. Die in Vollzeit stattfindende Ausbildung „Mediengestalter Digital und Print, Schwerpunkt: Gestaltung und Technik“ endet mit einer Abschlussprüfung vor der IHK. Nach den Bescheiden der Bundesagentur für Arbeit vom 07.09.2009 werden die Kosten des Lehrgangs von insgesamt 17.518,60 EUR als Leistungen für die Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme von dieser getragen, darüber hinaus erhält der Kläger ein monatliches Arbeitslosengeld gemäß § 117 SGB III in Höhe von 797,40 EUR.
16 
Mit Schreiben vom 09.03.2010 beantragte der Kläger die Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 24.11.2005 und führte hierin unter anderem aus: Er habe durch seine umfangreiche, wahrheitsgemäße Aufklärungshilfe glaubwürdig Abstand von seinen kriminellen Taten genommen. Im Strafvollzug habe er sich mit der Bedeutung und den Folgen der Rauschgiftkriminalität in Diskussionsrunden und mit dem Bewährungspersonal aktiv und kritisch auseinandergesetzt. Dabei habe er nicht nur die ihn selbst betreffenden negativen Folgen seiner Taten durch den Strafvollzug in aller Deutlichkeit an „Haut und Haaren“ durchleben müssen. Auch die Gefahren und negativen Folgen, die von Rauschgift gegenüber der Allgemeinheit ausgingen, habe er in zahlreichen Diskussionsrunden mit Mithäftlingen und Resozialisierungspersonal erstmals in seinem jungen Leben in aller Deutlichkeit aufgezeigt bekommen und bleibend aufgenommen. Aufgrund der während des Strafvollzugs gewonnenen Erkenntnisse über die vom Rauschgift ausgehende Gefährlichkeit für die Gesundheit des Einzelnen und der Allgemeinheit habe er, ohne dass dies naturgemäß in seinem eigenen Strafverfahren im Urteil des Landgerichts Stuttgart berücksichtigt worden sei, nach seiner Verurteilung weiterhin mit den Ermittlungsbehörden zusammengearbeitet und durch seine Aussage die Sprengung von zahlreichen, bandenmäßig organisierten Rauschgifthändlern herbeigeführt. Er habe Angaben zu Lieferanten und Abnehmern gemacht, von denen die Ermittlungsbehörden vor seiner Aussage keinerlei Kenntnis gehabt hätten.
17 
Die JVA ... erstellte am 10.05.2010 dem Kläger unter Hinweis auf den beanstandungsfreien Verlauf von Vollzug und Vollzugslockerungen eine positive Sozialprognose und befürwortete seine bewährungsweise Entlassung.
18 
Das Landgericht ... - Auswärtige Strafvollstreckungskammer ... - setzte nach Einholung eines kriminalprognostischen Gutachtens bei Dr. X. - Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Forensische Psychiatrie - mit Beschluss vom 26.10.2010 die Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung aus. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt und der Kläger für die Dauer der ersten beiden Jahre der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung eines hauptamtlichen Bewährungshelfers unterstellt. Der Kläger wurde am 28.10.2010 - und damit etwa ein halbes Jahr vor der Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe - aus dem Strafvollzug entlassen. Am 12.02.2011 heiratete er nach islamischem Ritus ... D., die über eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG verfügt. Mit ihr und den beiden vier und acht Jahre alten Kindern von Frau D. aus einer früheren Beziehung lebt er in familiärer Lebensgemeinschaft.
19 
Nachdem der Europäische Gerichtshof die Rechtssache Tsakouridis (C-145/09) mit Urteil vom 23.11.2010 entschieden und das beklagte Land mit Schriftsatz vom 12.01.2011 auf den Umstand hingewiesen hatte, der Kläger habe anlässlich seiner kriminalprognostischen Begutachtung angegeben, er habe sich vor seiner Verhaftung 14 Monate in den Niederlanden aufgehalten, hat der Senat mit Beschluss vom 21.01.2011 den Aussetzungsbeschluss aufgehoben.
20 
Zur Begründung seiner Berufung trägt der Kläger nunmehr vor: Seine Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 seien nicht erloschen. Dies folge schon aus Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38/EG. Die Vorschrift konkretisiere den Zeitraum, der für den Erhalt unionsrechtlich begründeter Aufenthaltsrechte bei Auslandsaufenthalten anzuwenden sei. Im Übrigen habe er sich nach seiner Flucht nicht durchgehend in den Niederlanden aufgehalten. Er habe die Aufenthalte zwischen Deutschland und den Niederladen gewechselt. In dieser Zeit habe er auch regelmäßig seine Familie getroffen. Treffpunkt sei jeweils Köln gewesen. Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Urteil vom 23.11.2010 sei die Berufung begründet. Die Erstreckung der Kriterien für eine Aufenthaltsbeendigung nach dem Maßstab des Art. 45 Abs. 3 AEUV, der mit demjenigen des Art. 28 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG übereinstimme, auf Art. 14 ARB 1/80 sei ungeklärt. Der EuGH leite im Urteil Tsakouridis jedoch die Zulässigkeit der Ausweisung von Drogenhändlern aus der Gefahr her, die der Drogenhandel für die Gesellschaft darstelle. Um die Gesellschaft zu schützen und den Drogenhandel wirksam bekämpfen zu können, griffen heute die Mitgliedstaaten zu Mitteln wie der Kronzeugenregelung. Mittätern würden für den Fall der Aussage Vergünstigungen zugesagt, die von geringeren Strafen bis zur Verleihung einer anderen Identität reichen könnten. Er habe sich stets aussagebereit gezeigt und Aufklärungshilfe geleistet. Wegen seines Aussageverhaltens seien ihm Drohungen zugekommen. Von ihm gehe keine gegenwärtige Gefahr mehr aus. Seine Verfehlungen seien einmalig gewesen. Er sei Ersttäter und die Strafhaft habe ihn beeindruckt. Er habe in der JVA ... Gespräche zur Tataufbereitung mit dem Psychologen M. geführt. Eine Rückfallneigung sei zu verneinen. Das bestätige das Gutachten von Dr. X. vom 07.09.2010, das ihm einen nachhaltigen Gesinnungswandel attestiere. Er habe sich aus der Drogenszene gelöst und wolle das auch in Zukunft einhalten. Im Übrigen stünde eine Ausweisung im Widerspruch zur gezeigten Aussagebereitschaft und zur Kronzeugenregelung. Die Aussagebereitschaft würde nicht gefördert, wenn sie mit Ausweisung „belohnt“ würde. Eine Ausweisung würde ihn auch vollständig entwurzeln. Er sei im Bundesgebiet geboren, aufgewachsen und vollständig integriert. Deutsch sei seine Muttersprache. Würde er durch Ausweisung von seiner Familie und seiner Verlobten getrennt und in eine sprachfremde Umgebung verbracht, würde er in eine verzweifelte Lage gebracht werden. Allein und ohne Sprachkenntnisse käme er in der Türkei nicht zurecht. Im Übrigen seien sein Nachtatverhalten und seine Resozialisierung so außergewöhnlich, dass eine Wiederholungsgefahr unter jeder Betrachtung entfallen sei. Seine Haftverbüßung habe abschreckend gewirkt und eine starken Verhaltensänderung herbeigeführt. Er sei nicht drogenabhängig und habe jegliche Beziehungen und Strukturen zu ehemaligen kriminellen Personen für immer abgebrochen. Er habe Aussicht auf den Erlass des größten Teils der Schulden, sofern er sich weiterhin gut führe, sowie auf eine Festanstellung nach Ende seiner Ausbildung bei der Firma, bei der er derzeit sein Praktikum mache.
21 
Der Kläger beantragt zuletzt,
22 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12.03.2008 - 8 K 3985/06 - zu ändern und Ziffer 1 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 04.10.2006 aufzuheben.
23 
Das beklagte Land beantragt,
24 
die Berufung zurückzuweisen.
25 
Es entgegnet: Die Rechtspositionen des Klägers aus Art. 7 ARB 1/80 seien erloschen. Mit seiner Flucht im April 2004 habe er seinen Lebensmittelpunkt in einen anderen Staat verlagert, weil er sich auf diese Weise dem Zugriff der deutschen Strafverfolgungsbehörden dauerhaft habe entziehen wollen. Insoweit seien Unionsrecht und damit die Frage der Anwendung des Art. 28 Abs. 3 lit. a Richtlinie 2004/38/EG nicht relevant und die Ausweisung richte sich nur nach nationalem Recht. Es bestehe ungeachtet des Nachtatverhaltens des Klägers und seiner bedingten Entlassung aus der Strafhaft weiterhin unter dem Gesichtspunkt der ordnungsrechtlichen Gefahrenabwehr ein Bedürfnis, den Kläger aus spezialpräventiven und daneben auch aus generalpräventiven Gründen auszuweisen. Art. 8 EMRK und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stünden dem nicht entgegen. Der Kläger könne aufgrund seiner beruflichen Qualifikation in der Türkei ohne weiteres eine Arbeitsmöglichkeit finden. Wenn er nunmehr aus der Haft entlassen worden sei und an seiner beruflichen Bildung arbeite, so mindere dies das ausgesprochen schwere Gewicht des spezial- und generalpräventiven Grundes nicht. Nichts anderes gelte hinsichtlich der neuen Partnerin, mit der der Kläger allerdings nicht verheiratet sei.
26 
Der Vertreter des beklagten Landes hat in der Berufungsverhandlung die Abschiebungsandrohung (Ziffer 2 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 04.10.2006) aufgehoben.
27 
Der Senat hat Dr. X. zur Erläuterung ihres kriminalprognostischen Gutachtens vom 07.09.2010 angehört und KHK K. als Zeugen vernommen. Hinsichtlich ihrer Angaben wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
28 
Wegen des weiteren Vortrags und Sachverhalts wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze und der Akten verwiesen. Der Senat hat die Strafakten des Landgerichts Stuttgart (3 Bände) und die Ermittlungsakten (25 Leitzordner) im Verfahren 5 KLs 221 Js 100500/04, die Strafvollstreckungsakten der Staatsanwaltschaft Stuttgart (1 Band), das Bewährungsheft (1 Band) und die Gefangenenpersonalakten (5 Bände) sowie die Ermittlungsakten in den Verfahren 221 Js 26457/06 und 221 Js 45897/08 beigezogen. Diese sind ebenso wie die Akten des Verwaltungsgerichts Stuttgart, die Ausländerakten der Stadt Stuttgart (2 Bände) und die Akten des Regierungspräsidiums Stuttgart (1 Band), Grundlage der Entscheidung.

Entscheidungsgründe

 
29 
Es bestand für den Senat keine Veranlassung, dem unter Hinweis auf eine seit drei Tagen bekannte Schwangerschaft der Lebensgefährtin des Klägers mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 28.04.2011 gestellten Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu entsprechen. Dem steht schon entgegen, dass der unterschriebene Urteilstenor zum Zwecke der Bekanntgabe an die Beteiligten auf Nachfrage seit dem 15.04.2011 auf der Geschäftsstelle niedergelegt ist und zum Zeitpunkt des Eingangs des Schriftsatzes am 29.04.2011 damit die Entscheidung vom Senat nicht mehr geändert werden konnte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.04.2005 - 5 B 107.04 - juris Rn. 7 und vom 24.06.1971 - I CB 4.69 - juris Rn. 52; Bader/Funke-Kaiser/ Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 5. Aufl. 2011, § 116 Rn. 10). Abgesehen davon wäre eine Wiedereröffnung auch in der Sache nicht erforderlich gewesen, denn dass der Kläger mit seiner jetzigen Lebensgefährtin in familiärer Lebensgemeinschaft lebt und beide ein gemeinsames Kind haben wollen, war bereits Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 15.04.2011, insbesondere auch der Angaben des Klägers während seiner Anhörung vor dem Senat.
30 
Soweit die Beteiligten hinsichtlich der Abschiebungsandrohung den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12.03.2008 - 8 K 3985/06 - ist damit insoweit unwirksam, als die Klage gegen Ziffer 2 der Ausweisungsverfügung abgewiesen worden ist (§ 173 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO entsprechend).
31 
Im Übrigen bleibt die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch sonst zulässige, insbesondere fristgerecht und formell ordnungsgemäß begründete (§ 124a Abs. 3 VwGO) Berufung des Klägers ohne Erfolg. Die Ausweisung ist nach der maßgebenden Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.12.2008 - 1 C 35.07 - NVwZ 2009, 326 und vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - AuAS 2008, 40) rechtmäßig und verletzt schon deshalb den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Kläger besitzt nicht mehr die Rechtsstellungen nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich und Art. 7 Satz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG - Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80); auch aus Art. 6 ARB 1/80 stehen ihm keine Rechte zu (I.). Nach nationalem Recht beruht die verfügte Ausweisung auf § 53 AufenthG; der Kläger genießt im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt keinen besonderen Ausweisungsschutz (II.). Seine Ausweisung als eines hier geborenen und aufgewachsenen Ausländers der 2. Generation ist wegen der von ihm nach wie vor ausgehenden Wiederholungsgefahr auch im Hinblick auf sein im Bundesgebiet geführtes Privat- und Familienleben nach Art. 8 EMRK und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verhältnismäßig (III.). Im Übrigen stehen einer Ausweisung aus generalpräventiven Gründen aufgrund der von ihm begangenen schwerwiegenden bandenmäßigen Betäubungsmittelkriminalität, die in erheblichem Maße die Interessen des Staates und der Gesellschaft gefährdet, Art. 8 EMRK sowie Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG nicht entgegen (IV.).
I.)
32 
Das assoziationsrechtlich begründete Aufenthaltsrecht des Klägers ist erloschen, weil er seinen Aufnahmemitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat, indem er Anfang April 2004 aus Deutschland geflohen ist, um sich auf Dauer seiner Strafverfolgung im Bundesgebiet zu entziehen.
1.)
33 
Der aufenthaltsrechtliche Status des Klägers beruhte bis April 2004 auf Art. 7 ARB 1/80. Sein Vater hatte ausweislich einer Arbeitsbescheinigung vom 29.09.1997 seit 1974 als Verzinkereihelfer bei S. ... Feuerverzinken GmbH gearbeitet. Der Kläger wurde als Sohn eines in der Vergangenheit dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers im Bundesgebiet geboren und lebte in der Folgezeit mehr als fünf Jahre ununterbrochen ordnungsgemäß mit seinen Eltern in familiärer Lebensgemeinschaft (vgl. zur Notwendigkeit des tatsächlichen Zusammenlebens während dieser Zeit EuGH, Urteil vom 17.04.1997 - C-351/97 - Rn. 35 ff. und vom 22.06.2000 - C-65/98 - Rn. 28 ff.), was zum Erwerb einer Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 führte. Dass ihm selbst nach Aktenlage erst am 02.10.1997 ein Aufenthaltstitel in Gestalt einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis erteilt worden war, spielt insoweit keine Rolle. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 07.07.2005 - C-373/03 - Rn. 22) gelangen die Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, auch ohne dass zuvor eine Genehmigung zum Zwecke der Familienzusammenführung erteilt worden ist, dann zur Entstehung, wenn der türkische Familienangehörige im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und stets dort gelebt hat. Aufgrund der nach dem Hauptschulabschluss erfolgreich am 18.07.2001 abgeschlossenen Lehre als Verpackungsmitteltechniker besaß der Kläger auch eine Rechtstellung nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80. Der Erwerb dieser Rechte ist allerdings nicht mit Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft (heute: Europäische Union) verbunden; ein türkischer Staatsangehörige besitzt nur im Aufnahmemitgliedstaat bestimmte Rechte (EuGH, Urteil 21.01.2010 - C-462/08 - Rn. 37 und vom 18.07.2007 - C-325/05 - Rn. 66).
2.)
34 
Der Kläger hat die Rechte aus Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich und Art. 7 Satz 2 ARB 1/80, die ein Aufenthaltsrecht implizieren (EuGH, Urteil vom 07.07.2005 -C-373/03 - Rn. 25, vom 11.11.2004 - C-467/02 - Rn. 31 und vom 16.03.2000 - C-329/97 - Rn. 40; BVerwG, Urteil vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - juris Rn. 11), durch seine Flucht aus dem Bundesgebiet vor der ihm hier drohenden Strafverfolgung verloren.
35 
Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 dient dem Zweck, günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu schaffen. Die Vorschrift will die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, dadurch fördern, dass ihm in diesem Staat die Aufrechterhaltung familiärer Bande ermöglicht wird. Zur Förderung der dauerhaften Eingliederung der Familie des türkischen Arbeitnehmers gewährt die Vorschrift seinen Familienangehörigen nicht nur ein Aufenthaltsrecht, sondern nach einer bestimmten Zeit das Recht, im Aufnahmemitgliedstaat eine Beschäftigung auszuüben. Die fortschreitende persönliche Integration des türkischen Arbeitnehmers und seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstat sollen erleichtert und gefördert werden (EuGH, Urteil vom 07.07.2005 - C-373/03 - Rn. 22 ff. und vom 17.04.1997 - C-351/95 - Rn. 34; Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 4 AufenthG Rn. 162; GK-AufenthG, Art. 7 ARB 1/80 Rn. 33).
36 
Die Regelung in Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 stellt gegenüber Satz 1 eine Privilegierung dar, die unter den Familienangehörigen der türkischen Arbeitnehmer die Kinder besonders behandeln will, indem sie ihnen den Eintritt in den Arbeitsmarkt nach Abschluss einer Berufsausbildung zu erleichtern sucht, damit die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß dem Zweck dieses Beschlusses schrittweise verwirklicht wird (EuGH, Urteil vom 21.01.2010 - C-462/08 - Rn. 25 ff. und vom 16.02.2006 - C-502/04 - Rn. 23). Die unterschiedliche Ausgestaltung der Rechte aus Art. 7 Satz 1 und Satz 2 ARB 1/80 ist Ausdruck der fortgeschrittenen Integration der Kinder türkischer Arbeitnehmer. Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 hängt lediglich von der Voraussetzung ab, dass das Kind des betreffenden türkischen Arbeitnehmers während seines rechtmäßigen Aufenthalts eine Berufsausbildung abgeschlossen hat und ein Elternteil in diesem Staat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war (vgl. Renner, a.a.O. § 4 AufenthG Rn. 171 ff. und GK-AufenthG, Art. 7 ARB 1/80 Rn. 111 jew. m.w.N.).
37 
Nach der Rechtsprechung des EuGH gelten allerdings unabhängig davon, ob der konkrete Ausgangssachverhalt unter den ersten oder den zweiten Satz des Art. 7 ARB 1/80 fällt, für den Verlust der erworbenen Rechte dieselben Voraussetzungen (Urteil vom 18.07.2007 - C-325/05 - Rn. 45 und vom 16.02.2006 - C-502/04 - Rn. 24 f.). Sowohl die Rechtsposition nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 als auch diejenige nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich - und damit das Aufenthaltsrecht - erlöschen, wenn der türkische Staatsangehörige den Aufnahmemitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat (st. Rspr. des EuGH; vgl. etwa Urteil vom 22.12.2010 - C-303/08 - Rn. 42, vom 04.02.2010 - C-14/09 - Rn. 42, vom 18.12.2008 - C-337/07 - Rn. 62, vom 25.09.2008 - C-453/07 - Rn. 30 f., vom 18.07.2007 - C-325/05 - Rn. 45, vom 16.02.2006 - C-502/04 - Rn. 25, vom 07.07.2005 -C-373/03 - Rn. 27, vom 11.11.2004 - C-467/02 - Rn.36 und vom 17.04.1997 - C-351/95 - Rn. 48). Unter welchen Voraussetzungen von einem Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe auszugehen ist, obliegt in erster Linie der Feststellung der nationalen Gerichte (vgl. auch EuGH, Urteil vom 18.07.2007 - C-325/05 - Rn. 43) und bestimmt sich anhand von Sinn und Zweck des Art. 7 ARB 1/80 (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 - 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 ff. Rn. 27; BayVGH, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 - juris Rn. 4; NdsOVG, Beschluss vom 11.01.2008 - 11 ME 418/07 - juris Rn. 5 f.; VG Ansbach, Urteil vom 25.02.2010 - AN 5 K 09.01143 -juris Rn. 25 f.; Renner, a.a.O., § 4 Rn. 162; Kurzidem, Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht türkischer Staatsangehöriger im Spiegel der neueren Rechtsprechung, ZAR 2010, 121, 124 f.). Der Umstand, dass der Verlustgrund auf beide Sätze des Art. 7 ARB 1/80 Anwendung findet, schließt es indessen nicht aus, dass es, je nachdem wie verfestigt die Lebensverhältnisse des Ausländers im Bundesgebiet sind, im Einzelfall geboten sein kann, bei dessen Prüfung die innerhalb des Art. 7 ARB 1/80 erreichte „Stufe“ mit in den Blick zu nehmen. Wer als - insbesondere hier geborenes und aufgewachsenes - Kind eines Migranten den „Integrationsgrad“ des Satzes 2 erreicht hat, läuft bei gleich langem Auslandsaufenthalt weniger Gefahr, den Integrationszusammenhang mit dem Aufnahmemitgliedstaat zu verlieren als derjenige, der sich - z.B. als nachgezogener Ehepartner - nach dreijährigem ordnungsgemäßen Aufenthalt gerade erst auf Art. 7 Satz 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 berufen kann. Allerdings ist das Merkmal des „nicht unerheblichen Zeitraums“ nicht allein nach der tatsächlich außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats verbrachten Zeit zu würdigen, sondern im Zusammenhang mit den Gründen und Absichten für die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, denn der Verlustgrund knüpft daran an, dass der rechtliche Besitzstand, den der türkische Staatsangehörige nach Art. 7 Satz 1 oder 2 ARB 1/80 erworben hat, deshalb verloren geht, weil er diesen freiwillig verlassen (vgl. auch EuGH, Urteil vom 16.03.2000 - C-329/97 - Rn. 51) und „die Bande, die ihn mit diesem Mitgliedstaat verbunden haben, selbst gelöst hat“ (so die Formulierung in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 11.01.2007 - C-325/05 - Rn. 33).
38 
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Kläger sein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 und Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 mit seiner Flucht in die Niederlande Anfang April 2004 verloren. Nach der Verhaftung von Mitgliedern der Bande am 07.04.2004, von der der Kläger noch am gleichen Tag erfuhr, und einem anschließenden dreitägigen Aufenthalt in Hotels in ... flüchtete er in die Niederlande, um sich auf unabsehbare Zeit außerhalb Deutschlands aufzuhalten und sich so seiner Festnahme zu entziehen. Dies ergibt sich sowohl aus seiner Aussage während seinen polizeilichen Vernehmungen als Beschuldigter (unter anderem am 17.11.2005) als auch aus seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat. Es sei ihm darum gegangen wegzukommen. Er habe damals Angst vor dem Gefängnis gehabt und sich auf keinen Fall stellen wollen. Für die ihm seinerzeit vorgeworfenen Straftaten beträgt die Verfolgungsverjährung nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB zwanzig Jahre, da die Taten nach §§ 29a Abs. 1 und 30a Abs. 1 BtMG i.V.m. § 38 Abs. 2 StGB im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren bedroht sind. Auch wenn ihm dies möglicherweise nicht so dezidiert bekannt gewesen sein dürfte, war ihm aber aufgrund einer Parallelwertung in der Laiensphäre durchaus bewusst, für einen langen Zeitraum damit rechnen zu müssen, für die von ihm verübten gravierenden Straftaten belangt zu werden und bei einer Verurteilung eine langjährigen Gefängnisstrafe zu erhalten. Der späteren Anklage ist ein (auch bandenmäßiges) Handeltreiben mit Marihuana in einer Gesamtgrößenordnung von etwa 230 kg und von Kokain mit 0,5 kg zugrunde gelegt worden. Tatsächlich waren jedoch - was der Staatsanwaltschaft bei der Anklageerhebung so nicht bekannt gewesen ist - unter Beteiligung des Klägers bis zu seiner Flucht mehr als 1,5 t Marihuana und mehrere Kilogramm Kokain und Ecstasy-Tabletten umgesetzt worden. Unter diesem Eindruck traf er von sich aus die Entscheidung, seinen Wohnsitz im Bundesgebiet aufzugeben und sich für unabsehbare Zeit im Ausland aufzuhalten, um hier nicht strafrechtlich belangt zu werden. Dass der ihm persönlich bekannte Lieferant von Betäubungsmitteln ... E. sich in den Entscheidungsprozess des Klägers „eingeschalten“ und ihm gesagt habe, „er solle zusehen, dass er nach Amsterdam komme“ - so die Angaben des Klägers in seiner polizeilichen Vernehmung vom 17.11.2005 - stellt die Verantwortung des Klägers für seine Entscheidung, in das Ausland zu fliehen, nicht in Frage. Insbesondere sind auch keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass auf ihn - etwa durch seine Lieferanten - in einer Weise Zwang ausgeübt worden wäre, die seine freie Willensbetätigung beeinträchtigt hätte.
39 
Der Kläger hat auch durch sein Verhalten in den Niederlanden während der 14 Monate bis zu seiner dortigen Verhaftung unter Beweis gestellt, dass er Deutschland mit seiner Flucht Anfang April 2004 nicht nur vorübergehend verlassen, sondern für sich unter dem Eindruck der hier drohenden Strafverfolgung langfristig und zeitlich völlig unbestimmt ein Leben außerhalb des Bundesgebiets vorgesehen hat. Die Beschaffung eines fremden türkischen Reisepasses unter Nutzung von Verbindungen zur Stuttgarter Rauschgiftszene, vor allem aber die Fortsetzung seiner Betäubungsmittelkriminalität dort verdeutlichen, dass er sich nicht nur vorübergehend auf ein Leben in einem anderen Land eingestellt hatte.
40 
Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausgeführt hat, es sei ihm darum gegangen, mit dem Pass von einem der E.-Zwillinge in den Niederlanden durch Kontrollen zu kommen, weil er als gesuchte Person ja schlecht seinen eigenen Pass, den er in die Niederlande mitgenommen gehabt habe, habe vorlegen können, mag dies auch ein Motiv gewesen sein. Wie im polizeilichen Ermittlungsbericht vom 04.08.2005 im Einzelnen dargelegt ist, diente die Beschaffung des fremden Passes, der dem Kläger direkt nach Holland gebracht wurde und für den E. einen Abzug von 5.000 EUR auf seine Schulden aus Rauschgiftgeschäften erhielt (so die Angaben des Klägers in seiner Vernehmung vom 09.03.2006), aber vor allem dazu, sich mit diesem in die Türkei absetzen. Dies hat der Kläger in seiner polizeilichen Vernehmung vom 17.11.2005 ausdrücklich eingeräumt. Dass er von den Niederlanden aus in die Türkei gehen wollte, wird vor allem durch Protokolle aus der Überwachung der Telekommunikation belegt. In einem am 28.05.2005 zwischen dem Kläger und seinem Vater in türkischer Sprache geführten Telefonat äußerte sich der Kläger auf die Frage seines Vaters, ob er in die Türkei gehen werde: „Ja Vater, sprich nicht am Telefon, ich habe doch gesagt, wir werden uns sehen“. Ob die Absicht des Klägers, in die Türkei zu gehen, auf dem Vorschlag von ... T. beruhte, der die Bande Y. ebenfalls mit Rauschgift beliefert hatte und bei dem sich der Kläger zuletzt in den Niederlanden aufhielt (so seine Angaben in der polizeilichen Vernehmung vom 17.11.2005), oder ob die Initiative hierfür von seinem Vater ausging (so seine Einlassung in der Berufungsverhandlung), ist insoweit ohne Bedeutung. Vor allem aber organisierte der Kläger in den Niederlanden in zehn Fällen Marihuanalieferungen an die Zwillingsbrüder E., wobei in sechs Fällen 10 kg und in vier Fällen 10 - 15 kg nach Deutschland gebracht und von diesen an die ehemaligen Abnehmer der Bande Y. verteilt wurden. Dies ergibt sich aus dem Vermerk des die damaligen Ermittlungen des Gesamtkomplexes leitenden Polizeibeamten KHK K. vom 12.07.2006 im Ermittlungsverfahren 221 Js 26457/06, der auf den entsprechenden Angaben des Klägers beruht. Wie der Kläger später selbst einräumte, hätte das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln kein Ende genommen, wäre er nicht in Haft gekommen (so seine von Dr. X. in ihrem Gutachten vom 07.09.2010 festgehaltene Äußerung).
41 
Für die Frage des Verlustes des Aufenthaltsrechts spielt es keine Rolle, dass der Kläger nach seinen Angaben im Berufungsverfahren während der Zeit in den Niederlanden seine Familie in Köln getroffen haben will sowie ab und zu nach Heinsberg gefahren sei. Es spricht schon einiges dafür, dass dieser Vortrag nicht den Tatsachen entspricht. Der Kläger hat in seinen polizeilichen Vernehmungen, in denen er sehr ausführlich Angaben über seine Zeit in den Niederlanden gemacht hat, solche Treffen nicht erwähnt. Ausweislich des polizeilichen Vermerks vom 12.11.2004 und des Ermittlungsberichts vom 04.08.2005 äußerten sich die Eltern und die Brüder ... und ... in mehreren Befragungen dahingehend, es bestünde keinerlei Kontakt zu dem Kläger und ihnen sei unbekannt, wo er sich aufhalte, der letzte Kontakt sei Ostern 2004 gewesen. Auch ist wenig plausibel, weshalb der Kläger - bei fortgesetzten Drogengeschäften in den Niederlanden - das Risiko einer Entdeckung in Deutschland hätte eingehen sollen. Für die Einschätzung, dass es sich um ein taktisches Vorbringen im Rahmen des Ausweisungsverfahrens handelt, spricht auch der Umstand, dass angebliche Treffen in Köln erstmals mit Schriftsatz vom 26.01.2011 vorgetragen worden sind, nachdem zuvor auf die Möglichkeit des Erlöschens des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts hingewiesen worden war. Die Einlassung, er sei auch mit ... T. nach Heinsberg gefahren, ist sogar erstmals in der Berufungsverhandlung erfolgt. Ob der Vortrag des Klägers zutrifft, kann jedoch dahingestellt bleiben. Mit seiner Flucht in die Niederlande im April 2004 in dem Willen, auf unbestimmte Zeit Deutschland „den Rücken zuzukehren“, hat er die mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpfte Integrationsverbindung freiwillig durchtrennt und damit sein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht verloren; dieses lebt auch dann nicht wieder auf, wenn er -aus welchen Motiven auch immer -danach (immer wieder) zu Kurzaufenthalten in das Bundesgebiet eingereist ist.
42 
Die Beurteilung, dass das Verhalten des Klägers zum Verlust seiner Rechte aus Art. 7 ARB/80 geführt hat, steht auch mit dem allgemeinen Zweck der Assoziation und vor allem des ARB 1/80 in Einklang. Der Beschluss vom 19.09.1980 über die Entwicklung der Assoziation verfolgt auch das Ziel, die Rechtstellung türkischer Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen im sozialen Bereich zu verbessern (vgl. die dritte Begründungserwägung), indem ihr arbeits- und aufenthaltsrechtlicher Status gegenüber früheren Regelungen verbessert wird. Dies spricht dafür, für das Verlassen des Mitgliedstaats dann „berechtigte Gründe“ anzunehmen, wenn diese Ausdruck allgemein üblicher, sozialtypischer Verhaltensweisen sind, wie etwa Urlaub und Verwandtenbesuch (so zu diesen beiden Beispielen EuGH, Urteil vom 17.04.1997 - C-351/95 - Rn. 48), oder durch staatsangehörigkeitsbezogene Rechte oder Pflichten bedingt sind, etwa die Ableistung von Wehrdienst (Senatsbeschluss vom 31.07.2007 - 11 S 723/07 - juris Rn. 3 f.; BayVGH, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 - juris Rn. 5 ff.). Vor dem Hintergrund dieser Intention des ARB 1/80 besteht aber keine Veranlassung, einmal erworbene Rechte auch dann unangetastet zu lassen, wenn das Verlassen des Aufnahmemitgliedstaates in der Absicht erfolgt, dessen Strafverfolgungsanspruch zu durchkreuzen; denn ein solches Verhalten ist weder schutzbedürftig noch schutzwürdig.
43 
Diesem Ergebnis steht schließlich Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38/EG (ABl. L 158 vom 30.04.2004) nicht entgegen. Nach dieser Regelung der Unionsbürgerrichtlinie führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander folgende Jahre überschreitet, zum Verlust des erworbenen Daueraufenthaltsrechts, ohne dass es nach dem Wortlaut auf die Art der Gründe ankommt. Es kann dahin gestellt bleiben, ob diese Bestimmung direkt - oder jedenfalls als Orientierungsrahmen (so BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 - 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 - Rn. 27; OVG Berlin, Urteil vom 11.05.2010 - OVG 12 B 26.09 - juris Rn. 37 f.; BayVGH, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 - juris Rn. 9 ff.) - auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige überhaupt Anwendung findet (die Übertragung der Unionsbürgerrichtlinie auf assoziationsrechtliche türkische Staatsangehörige generell ablehnend Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.04.2011 - C-371/08 - Rn. 42 ff.) und welche inhaltliche Bedeutung ihr beizumessen wäre (vgl. zu dem letzten Aspekt auch EuGH, Urteil vom 23.11.2010 - C-145/09 - Rn. 30 ff.). Die Unionsbürgerrichtlinie vom 29.04.2004 ist am Tag ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft getreten (Art. 41) und bis zum 30.04.2006 umzusetzen gewesen (Art. 40). Der Kläger hat jedoch seine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 bereits vor dem Inkrafttreten dieser Richtlinie dadurch verloren, indem er Anfang April 2004 in die Niederlande geflohen ist. Die Anwendung von Art. 16 Abs. 4 der Unionsbürgerrichtlinie würde damit im vorliegenden Fall ins Leere gehen, weil ein Aufenthaltsrecht, an das die Regelung anknüpfen könnte, schon erloschen gewesen ist.
3.)
44 
Die Rechtsstellung aus Art. 6 Satz 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80, die der Kläger aufgrund seiner dreijährigen Ausbildung und der unmittelbar daran anschließenden etwa zweijährigen Beschäftigung innehatte, und die neben der Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 bestand (zum Nebeneinander von Art. 6 und 7 ARB 1/80 EuGH, Urteil vom 05.10.1994 - C-355/93 - Rn. 16 ff.; GK-AufenthG, Art. 7 ARB 1/80 Rn. 129 f.), ist ebenfalls erloschen. Der Kläger bezog nach der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses Arbeitslosengeld. Spätestens Mitte 2003 traf er die Entscheidung, sein Einkommen durch Drogengeschäfte im „großen Stil“ zu bestreiten und setzte diese entsprechend um. Dass der Kläger den Rauschgifthandel „berufsmäßig“ betrieb, hat auch der Zeuge KHK K. in der mündlichen Verhandlung anschaulich bekundet. Bemühungen um Aufnahme einer regulären Erwerbstätigkeit sind offensichtlich nicht mehr entfaltet worden. Von einer nur vorübergehendenden Abwesenheit vom Arbeitsmarkt in dieser Zeit ist nicht mehr auszugehen (vgl. zu den Kriterien für die Beibehaltung der Arbeitnehmereigenschaft bei Arbeitslosigkeit Renner, a.a.O., § 4 Rn. 132 ff.). Damit hatte er seine Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt schon vor seiner Flucht in die Niederlande endgültig verloren gehabt. Selbst wenn man zugunsten des Klägers eine andere Sichtweise annehmen würde, ist jedenfalls - entsprechend den Ausführungen oben unter I. 2.) - mit der Aufgabe seines Lebensmittelpunktes im Bundesgebiet Anfang April 2004 seine Rechtsstellung erloschen.
4.)
45 
Die Rechte aus Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 sind auch nicht erneut zur Entstehung gelangt.
46 
Der Kläger erhält seit dem 30.08.2009 eine von der Bundesagentur für Arbeit auf der Grundlage der §§ 77 ff. SGB III finanzierte berufliche Weiterbildungsmaßnahme zum Mediengestalter, die zum 31.08.2011 abgeschlossen sein soll, sowie nach § 117 Abs. 1 Nr. 2 SGB III Arbeitslosengeld. Teil dieser Weiterbildung ist auch eine praktische Tätigkeit in Firmen. Er absolviert sein Praktikum seit 02.11.2010 bis voraussichtlich Ende Juli 2011 bei einer Firma in ..., wo ihm nach Ende des Praktikums eine Festanstellung angeboten werden soll. Dies könnte dafür sprechen, dass der Kläger erneut dem Arbeitsmarkt der Bundesrepublik angehört. Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 sind aber jedenfalls deshalb nicht begründet worden, weil es an einer ordnungsgemäßen Beschäftigung fehlt. Die ordnungsgemäße Beschäftigung setzt eine gesicherte und nicht nur vorläufige Rechtsposition des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt und damit das Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechts voraus; außerdem muss die Beschäftigung im Einklang mit den aufenthaltsrechtlichen und arbeitserlaubnisrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats stehen (EuGH, Urteil vom 06.06.1995 - C-434/93 - Rn. 26 ff. und vom 24.01.2008 - C-294/06 - Rn. 30 ff.; Renner, a.a.O., § 4 AufenthG Rn. 115). Der Kläger hält sich jedoch seit seiner ausschließlich in Vollstreckung des staatlichen Strafverfolgungsanspruchs zwangsweise durchgesetzten Rückkehr in das Bundesgebiet am 12.08.2005 ohne Aufenthaltserlaubnis hier auf. Die unbefristete Aufenthaltserlaubnis vom 02.10.1997 ist infolge seiner Flucht aus dem Bundesgebiet seit April 2004 erloschen (siehe dazu unten II.). In der Folgezeit wurde weder ein Aufenthaltstitel beantragt noch erteilt. Die dem Kläger seit seiner Haftentlassung fortlaufend verlängerten Duldungen sind aufgrund ihrer Rechtsnatur nicht geeignet, Ansprüche aus Art. 6 ARB 1/80 entstehen zu lassen, da sie nicht die Gewährung eines Aufenthaltsrechts beinhalten (GK-AufenthG, Art. 6 ARB 1/80 Rn. 132).
47 
Auch eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 ist nicht neu erworben worden. Hat ein Familienangehöriger die Rechtsstellung aus Art. 7 ARB 1/80 verloren und reist er später wieder in den früheren Aufnahmemitgliedstaat ein, so muss er erneut eine Aufenthaltserlaubnis beantragen, deren Erteilung sich allein nach den aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen des Mitgliedstaats richtet (EuGH, Urteil vom 18.07.2007 - C-325/05 - Rn. 67 und vom 16.03.2000 - C-329/97 - Rn. 49). Erst in Anknüpfung an einen dann rechtmäßigen Aufenthalt kann eine Berufung auf Art. 7 ARB 1/80 in Betracht kommen (vgl. näher EuGH, Urteil vom 21.01.2010 - C-462/08 - Rn. 39, 45). Eine erneute Legalisierung des Aufenthalts des Klägers ist aber bis heute nicht erfolgt.
II.)
48 
Rechtsgrundlage der verfügten Ausweisung ist § 53 AufenthG. Durch die rechtskräftige Verurteilung zu einer Gesamtstrafe von neun Jahren Freiheitsstrafe wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwölf tatmehrheitlichen Fällen sowie unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechzehn tatmehrheitlichen Fällen ist sowohl der Tatbestand der Ist-Ausweisung nach § 53 Nr. 1 AufenthG als auch derjenige nach § 53 Nr. 2 AufenthG verwirklicht.
1.)
49 
Der Kläger genießt keinen besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, weil die unbefristete Aufenthaltserlaubnis vom 02.10.1997 im April 2004 nach § 44 Abs. 1 AuslG 1990 erloschen war und daher nicht gem. § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgelten konnte.
50 
Nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1990 erlischt die Aufenthaltsgenehmigung, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund ausreist. Eine entsprechende Regelung sah schon § 9 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1965 vor. Wie oben unter I 2.) bereits dargelegt, wollte sich der Kläger mit seiner Flucht in die Niederlande Anfang April 2004 einer Strafverfolgung im Bundesgebiet auf unabsehbarer Zeit entziehen. In einem solchen Fall erfolgt die Ausreise aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund (Senatsbeschluss vom 22.01.2004 - 11 S 192/04 - juris Rn. 8 ff.; ebenso GK-AufenthG, § 51 Rn. 47 und Renner, a.a.O., § 51 Rn. 9 jew. zur wortgleichen Bestimmung in § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG). Dies führte kraft Gesetzes mit dem Verlassen des Bundesgebiets zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1990, ohne dass es hierzu einer besonderen Feststellung bedurfte. Die Aufenthaltserlaubnis lebt auch nicht wieder auf, wenn der Betreffende später - und sei es nur kurze Zeit nach der Ausreise - "anderen Sinnes" wird und in die Bundesrepublik zurückkehrt (vgl. Senatsurteil vom 10.04.2002 - 11 S 2269/01).
51 
Ob die Aufenthaltserlaubnis ungeachtet des Umstands, dass das Ausländergesetz 1965 - anders als das Ausländergesetz 1990 - keinen Verlusttatbestand für eine Aufenthaltserlaubnis enthielt, der allein an den Ablauf einer zeitlich bestimmten Frist für die Wiedereinreise anknüpfte, auch nach § 44 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990 erloschen ist, weil der Kläger nicht innerhalb von 6 Monaten nach seiner Ausreise (freiwillig) in das Bundesgebiet wieder eingereist ist, bedarf keiner Entscheidung mehr. Die Frage nach der Vereinbarkeit der Regelung in § 44 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990 mit den Stillhalteklauseln (Art. 41 Abs. 1 ZP und Art. 13 ARB 1 /80) kann daher offen bleiben (dies bejahend BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 - 1 C.6.08 - BVerwGE 134, 27 Rn 16 ff.).
52 
Soweit § 44 Abs. 1a und 1b AuslG in der bis 31.12.2004 geltenden Fassung Ausnahmen vom Erlöschen der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 44 Abs.1 Nr. 2 und 3 AuslG vorsahen, griff diese Privilegierung beim Kläger nicht ein, da er die Voraussetzungen dieser Bestimmungen nicht erfüllte. Die gegenüber der Vorgängernorm personell und inhaltlich günstigere Regelung des § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in der Fassung des Zuwanderungsgesetzes ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da der Erlöschensgrund bereits vor dem 01.01.2005 eingetreten war. Im Übrigen hätte diese auch nicht zu einem für den Kläger besseren Ergebnis geführt. Nach § 52 Abs. 2 Satz 1 AufenthG 2005 erlischt die Niederlassungserlaubnis eines Ausländers, der sich mindestens 15 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7, wenn sein Lebensunterhalt gesichert ist. Unabhängig davon, ob für die Prognose zur Sicherung des Lebensunterhalts auf den Zeitpunkt der Ausreise (VG München, Urteil vom 27.11.2007 - M 4 K 07.3681 - juris Rn. 42 ff.), des - mit der Ausreise nicht zwangsläufig identischen - mutmaßlichen Erlöschens (OVG NRW, Beschluss vom 30.03.2010 - 18 B 111/10 - juris Rn. 8) oder der Wiedereinreise (BayVGH, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 - juris Rn. 14) abzustellen wäre, hätte eine positive Prognose nicht getroffen werden können. Der Kläger finanzierte jedenfalls ab 2003 sein Leben ausschließlich aus den Gewinnen der Drogenkriminalität und hatte im Zeitpunkt der „Wiedereinreise“ im Wege der Auslieferung einen langen Gefängnisaufenthalt zu erwarten, was der prognostischen Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegensteht.
2.)
53 
Auch sonstigen Umstände, die zu Gunsten des Klägers zu einer Veränderung des nationalrechtlichen Entscheidungsmaßstabs führen würden, liegen nicht vor.
a.)
54 
Die Voraussetzungen für einen besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bis 5 AufenthG sind ebenfalls nicht einschlägig, so dass die Ist-Ausweisung nicht zu einer Regelausweisung herabgestuft ist. Daher kann auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht zur Anwendung gelangen, wonach ein Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - bereits dann vorliegt, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten (Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwG 129, 367). § 53 AufenthG lässt gerade keinen Spielraum für eine individuelle Gefahrenprognose oder eine eigene Güter- und Interessenabwägung der Ausländerbehörde zu; mithin fehlt es an einer ausländerrechtlichen Grundlage für die Veränderung des Entscheidungsspielraums. Allerdings steht die § 53 AufenthG innewohnende Typisierung, dass die Ausweisung geboten und verhältnismäßig ist, um Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung entgegen zu wirken, unter dem verfassungsrechtlichen Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall (vgl. schon BVerwG, Beschluss vom 10.12.1993 - 1 B 160/93 - juris Rn. 3 und vom 30.12.1993 - 1 B 185/93 - juris Rn 7; Renner, a.a.O., § 53 Rn. 3 ff.; GK-AufenthG § 53 Rn. 17 f., 59, 62 ff.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Kammerbeschluss vom 10.05.2007- 2 BvR 304/07 - InfAuslR 2007, 275 und vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - InfAuslR 2007, 443) entbindet die normative Vertypung und Gewichtung der Ist-Ausweisung daher nicht davon, die konkreten Umstände des Einzelfalls individuell zu prüfen und zu würdigen, da nur so sichergestellt ist, dass die Verhältnismäßigkeit bezogen auf die Lebenssituation des Ausländers gewahrt bleibt (vgl. dazu auch Mayer, Systemwechsel im Ausweisungsrecht - der Schutz „faktischer Inländer“ mit und ohne familiäre Bindungen nach dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), VerwArch 2010, 482 ff.). Die Ausweisung erweist sich jedoch als verhältnismäßig (siehe nachfolgend III. und IV.).
b.)
55 
Eine Verschiebung des rechtlichen Prüfungsrahmens findet auch nicht im Hinblick auf die Standstill-Klauseln statt. Gemäß Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - ZP - werden die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. Nach Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Vertragsparteien für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Die Stillhalteklausel unterstellt die nationale Regelungszuständigkeit dem Vorbehalt, dass neue Vorschriften die Niederlassungsfreiheit, den freien Dienstleistungsverkehr und den Zugang zur Beschäftigung sowie den damit verbundenen Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen nicht strengeren Bedingungen als denjenigen unterwerfen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der jeweiligen Stillhalteklausel in dem betreffenden Mitgliedstaat galten und steht auch einer Rücknahme zwischenzeitlich eingeführter Vergünstigungen für diesen Personenkreis entgegen (vgl. näher EuGH Urteil vom 09.12.2010 - C-300/09 - und vom 21.10.2003 - C-317/01 - ). Art. 41 ZP ist im vorliegenden Fall jedoch schon deshalb nicht einschlägig sein, weil der Kläger weder Selbstständiger noch Dienstleistungsempfänger oder -erbringer im Sinne dieses Artikels ist (vgl. näher Renner, a.a.O., § 4 Rn. 203 ff. und 206 ff.). Auch Art. 13 ARB 1/80 gebietet nicht, die Ausweisung des Klägers am Maßstab der Ermessensausweisung nach § 10 AuslG 1965 zu prüfen. Art. 13 ARB 1/80 ist - speziell was die Aufenthaltsbeendigung eines türkischen Staatsangehörigen durch Ausweisung anbelangt - für den Personenkreis von Bedeutung, der kein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 innehat. Begünstigt nach Art. 13 ARB 1/80 sind damit unter anderem die ordnungsgemäß beschäftigten Arbeitnehmer, die noch nicht in die Aufenthaltsverfestigung nach einer der Alternativen des Art. 6 ARB 1/80 hineingewachsen sind (vgl. zu den Einzelheiten des Anwendungsbereichs GK-AufenthG, Art. 13 ARB 1/80 Rn. 63 ff.). Zwar dürfte der Kläger durch die ihm erlaubte Weiterbildung wieder dem Arbeitsmarkt angehören. Allerdings können sich nur solche türkischen Staatsangehörige auf die Stillhalteklausel des Art 13 ARB 1/80 berufen, die sich ordnungsgemäß im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten. Der Begriff „ordnungsgemäß“ in Art. 13 ARB 1/80 bedeutet, Aufenthalt und etwaige Beschäftigung müssen rechtmäßig sein (vgl. näher EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - C-242/06 - Rn. 53 und vom 21.10.2003 - C-317/01 - Rn. 84; GK-AufenthG, Art. 13 ARB 1/80 Rn. 8; Farahat, Von der Stillhaltepflicht zur „zeitlichen Meistbegünstigung“ im Assoziationsrecht, NVwZ 2011, 343, 344). Dies entspricht dem Grundsatz, dass das Assoziationsrecht die Befugnis des Aufnahmestaats, über Einreise und Aufenthalt zu entscheiden, nicht tangiert. Auch dem - bezüglich der Folgen aus Art. 13 ARB 1/80 inhaltlich sehr weitgehenden - Urteil des EuGH in der Rechtssache Kommission gegen Niederlande (vom 29.04.2010 - C-92/07 - 44 ff., insb. Rn. 49) lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen. Der Kläger hält sich jedoch nicht legal im Bundesgebiet auf. Seinen rechtmäßigen Aufenthalt hat er schon vor seiner zwangsweisen Rückführung am 12.08.2005 verloren und in der Folgezeit nicht erneut begründet (vgl. dazu oben II 1. und I 2. bis 4.).
III.)
56 
Die spezialpräventive Ausweisung des Klägers als eines hier geborenen und aufgewachsenen Ausländers der 2. Generation ist aufgrund der von ihm nach wie vor ausgehenden Wiederholungsgefahr auch im Hinblick auf sein im Bundesgebiet geführtes Privat- und Familienleben nach Art. 8 EMRK und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verhältnismäßig.
57 
Ob die Ausweisung des Klägers - und damit der Eingriff in das Familien- und/oder Privatleben im Sinne des Art. 8 EMRK - im konkreten Einzelfall im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, insbesondere verhältnismäßig ist, bestimmt sich anhand einer Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers mit seinem Interesse an der Aufrechterhaltung seiner faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten und familiären Bindungen im Bundesgebiet. Nach der mittlerweile hinreichend gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog auszugehen (vgl. etwa Urteil vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00 -, InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99 -, <Üner> NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/04 -, InfAuslR 2008, 333 und vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05 -, InfAuslR 2010, 325). Dieser kann ohne weiteres auch Geltung für die Beantwortung der Frage beanspruchen, ob ein derartiger Eingriff verhältnismäßig im Sinne von Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG ist. Es handelt sich dabei um folgende Kriterien: Die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftat; das Alter des Ausländers bei Begehung der Straftaten; der Charakter und die Dauer des Aufenthalts im Land, das der Ausländer verlassen soll; die seit Begehen der Straftaten vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat, insbesondere im Strafvollzug; die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten; die familiäre Situation des Ausländers und gegebenenfalls die Dauer der Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen; der Grund für die Schwierigkeiten, die der Partner in dem Land haben kann, in das ggfs. abgeschoben werden soll; ob der Partner bei Begründung der familiären Beziehung Kenntnis von der Straftat hatte; ob der Verbindung Kinder entstammen, und in diesem Fall deren Alter; das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere der Umfang der Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggfs. abgeschoben werden soll; die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits.
1.)
58 
Was die in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzustellenden „straftatbezogenen“ Kriterien anbelangt, so ist festzustellen, dass die vom Kläger als junger Erwachsener bis zu seiner Festnahme im Alter von 23 Jahren verübten Straftaten ihn als einen Intensivtäter auf dem Gebiet der Rauschgiftkriminalität ausweisen. Er ist über einen Zeitraum von etwa drei Jahren in einer sich quantitativ und qualitativ steigernden Weise an führender Stelle in einer international verbundenen Bande von Rauschgifthändlern massiv durch Handeltreiben mit Betäubungsmitteln straffällig geworden. Die Menge der gehandelten Betäubungsmittel, die Art und Weise der Tatbegehung und die ihr zugrunde liegende Motivation belegen, dass er ohne durchgreifende Skrupel die Sucht anderer als Mittel für seine persönliche Bereicherung eingesetzt hat. Er ist der „Prototyp“ des international und national vernetzten, im großen Stile tätigen und seine kriminellen Ziele im Interesse der Gewinnmaximierung effizient verfolgenden Rauschgifttäters, dessen Handlungen in höchstem Maße gesellschaftsschädigend sind und unermessliches menschliches Leid verursachen. Unter Zugrundelegung der Feststellungen des strafgerichtlichen Urteils und der Erkenntnisse aus beigezogenen Straf- und Ermittlungsakten, wobei hier vor allem der vorläufige Ermittlungsbericht der Polizei vom 31.08.2004 und der endgültige vom 04.08.2005 und die Vermerke des die Ermittlung leitenden Polizeibeamten KHK KI. zu nennen sind, sowie aus den Angaben des Klägers vor und nach seiner Verurteilung ergibt sich folgendes Bild:
59 
Der Kläger veräußerte zunächst als Einzeltäter im Sommer 2002 Marihuana, sodann spätestens im Oktober 2002 als Mittäter von ... Y. und versorgte jedenfalls ab Dezember 2003 bandenmäßig den Großraum ... mit Marihuana von guter Qualität. In der kriminellen Hierarchie stieg er im Laufe der verübten Rauschgiftdelikte vom „Handlanger und Läufer“ des ... Y. zu dessen „rechter Hand“ auf und konnte bei Bedarf anderen Bandenmitgliedern einzelne Aufgaben zur Erledigung zuweisen. Das „letzte Wort“ in der Bande hatte allerdings ... Y., was auch die Strafkammer in ihrem Urteil vom 24.11.2005 zu Gunsten des Klägers berücksichtigt hat. Der Kläger war in die zeitliche Organisation der Rauschgiftlieferung jedoch ebenso eingebunden wie in deren Abwicklung einschließlich des Eintreibens ausstehender Verkaufserlöse. Auch das Treffen mit „Hintermännern“ und die Erschließung neuer Lieferanten, um den wachsenden Absatz von Rauschmittel bedienen zu können, ging unter Beteiligung des Klägers von sich. Die Bande bezog das Rauschgift von drei untereinander unabhängigen „Quellen“ aus Holland. Lieferungen erfolgten über ... E., die Bande des ... T. und aus einem über das Bandenmitglied ... F. eingefädelten Kontakt („...“). Das Rauschgift kam auf unterschiedlichen Transportwegen und unter Beteiligung verschiedener Personen nach ... und wurde von dort veräußert, wobei es die Organisationen verkraftet haben, dass auch einzelne Lieferungen „hoch gegangen“ sind. Für die Umladung, Aufbereitung und Verteilung des nach ... gebrachten Rauschgifts wurden neben der von ... Y. und dem Kläger bewohnten Wohnung konspirativ unauffällige Örtlichkeiten genutzt, wie etwa Tiefgaragen. Die Rauschgiftgeschäfte wurden - wie der Zeuge KHK. K in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat im Einzelnen nochmals erläutert hat - profimäßig abgewickelt. Mit der sehr effizienten Organisation wurden unter führender Beteiligung des Klägers in einem Zeitraum von Januar 2002 bis Juni 2005 insgesamt zwei Tonnen Marihuana sowie mehrere Kilogramm Kokain und Ecstasy-Tabletten im Großraum ... verteilt. Diese in der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 16.03.2007 enthaltenen Daten und Mengen entsprechen auch den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sowie denjenigen des Zeugen KHK K. Letzterer hat überzeugend dargelegt, wie sich die genannten Mengen unter Berücksichtigung auch der Aussagen von anderen Mitgliedern der Bande und von Abnehmern errechnen und dass hinsichtlich Kokain von einer gehandelten Mindestmenge von fünf Kilogramm auszugehen ist. Zwar liegt dem - ausgehandelten - Strafurteil nur eine angeklagte Menge von etwa 230 kg Marihuana und 500 g Kokain zugrunde, auch hat die Staatsanwaltschaft in der oben genannten Einstellungsverfügung hinsichtlich der Straftaten, die nicht schon Gegenstand des „Deals“ vor der Strafkammer waren (vgl. dazu den Vermerk der Staatsanwaltschaft vom 25.11.2005 und die dem beigefügte Auflistung), von der Erhebung der Anklage gem. §154 StPO i.V.m. § 31 BtMG abgesehen. Dies spricht jedoch nicht dagegen, bei der Frage, ob im konkreten Einzelfall eine Ausweisung wegen Rauschgiftkriminalität verhältnismäßig ist, den tatsächlichen Umfang der Rauschgiftgeschäfte einzustellen und zu würdigen.
60 
In den überwiegend auf Kommissionsbasis abgewickelten Rauschgifthandel waren nach den Zeugenangaben von KHK K. etwa 20 bis 25 direkte Abnehmer der Bande Y. eingebunden, die die Betäubungsmittel ihrerseits weiter veräußerten. Nach den Darstellungen von KHK K. in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat setzte die Bande Y. selbst bei konservativer Berechnung Drogen in einem Wert von weit über sechs Millionen EUR brutto um. Der Senat hat keinen Anlass, diesen wirtschaftlichen Wert in Zweifel zu ziehen. Im Übrigen veranschaulicht auch der im Urteil des Landgerichts Stuttgart bezüglich der abgeurteilten Straftaten gegenüber dem Kläger angeordnete Verfall eines Wertersatzes in Höhe von 857.300 EUR, davon in Höhe von 848.700 EUR gesamtschuldnerisch mit ... Y., in welcher wirtschaftlichen Größenordnung sich die Drogengeschäfte unter seiner Beteiligung abspielten. Die unter führendem Engagement des Klägers durch das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln angerichteten gravierenden gesellschaftlichen und menschlich-individuellen Schäden liegen bei den umgesetzten Mengen auf der Hand. Dass es sich bei dem hauptsächlich gehandelten Marihuana um eine eher „weiche“ Droge handelt, nimmt der Tat nicht ihre Gefährlichkeit - zumal dieses Rauschgift häufig der Einstieg für eine „Drogenkarriere“ ist.
61 
Bemerkenswert ist, dass den Kläger die Verhaftung von Abnehmern im April 2003 und die Sicherstellung von durch ihn gelieferten Rauschgifts nicht zu einem Umdenken veranlasste, vielmehr hielt ihn das nicht davon ab, sich danach bandenmäßig zu organisieren und die Rauschgiftgeschäfte zu intensivieren. Auch legte der Kläger seine anfängliche Ablehnung was Kokain anbelangt nach und nach ab. Zwar nahm er nicht selbst den Handel mit den insgesamt mindestens fünf Kilogramm Kokain „in die Hand“, jedoch unternahm er auch nichts mehr dagegen und gab sogar seiner damaligen Freundin ... V. Kokain in einer Menge von insgesamt 250 g auf Kommissionsbasis. Nach Einschätzung der Ermittlungsbehörden dürfte die Gruppierung um ... Y. ab Februar 2004 die Befürchtung gehabt haben, unter polizeilicher Beobachtung zu stehen; die Wohnung in der ... wurde gekündigt und eine neue geeignete Immobilie gesucht. Selbst dies war für die Bande kein Grund gewesen aufzuhören; vielmehr verließ man sich offensichtlich darauf, aufgrund der Organisationsstruktur ungefährdet weitermachen zu können. Auch die Verhaftung der Bandenmitglieder im April 2004 war für den Kläger kein Anlass, vom Rauschgifthandel Abstand zu nehmen. Er floh ganz bewusst nach Holland und kam dort bei seinen Lieferanten unter, zunächst bei ... E., später bei ... T. In der Zeit von Juni bis Dezember 2004 organisierte der Kläger in zehn Fällen Marihuanalieferungen an ... und ... E., wobei in sechs Fällen 10 kg und in vier Fällen 10 - 15 kg von den Niederlanden nach Deutschland gebracht und von diesen an die ehemaligen Abnehmer der Bande Y. verteilt wurden. Das Rauschgift stammte von ... T., bei dessen Bande die Bande des ... Y. Schulden aus Rauschgiftgeschäften hatte; die neuen Taten dienten insoweit zur Tilgung von Altschulden. Gerade auch in den Taten in den Niederlanden zeigt sich die besondere Gefährlichkeit des internationalen Rauschgifthandels. Dem Kläger war es auch nach der Verhaftung der Bandenmitglieder problemlos möglich, aufgrund des verzweigten Organisationssystems einfach weiterzumachen. Seine Einlassung in der mündlichen Verhandlung ließ nicht erkennen, dass er von dem „Gläubiger“ hierzu gezwungen worden wäre. Er konnte sich in den Niederlanden frei bewegen. Es war seine eigene Entscheidung, seine kriminellen Taten fortzusetzen.
62 
Die Rauschgiftgeschäfte wurden auch nicht aus einer wirtschaftlichen Notsituation, einer sozial problematischen Lage oder aus einer bestehenden Abhängigkeit heraus begonnen oder weitergeführt. Zwar ist der Kläger nach seinen Angaben in einem sozialen Brennpunktviertel und unter dem Eindruck sehr knapper finanzieller Mittel der Familie sowie familiärer Streitereien zwischen seinem Vater und seinen Brüdern aufgewachsen. Als er im Alter von etwa 21 Jahren in den Drogenhandel in großem Stil einstieg, lag diese Phase jedoch hinter ihm; damals hatte er erfolgreich seine Lehre abgeschlossen und war als Drucker berufstätig. Soweit das Landgericht in seinen Strafzumessungserwägungen strafmildernd gewertet hat, dass die Hemmschwelle des Klägers nicht ausschließbar durch seinen Eigenkonsum herabgesetzt war, ist damit keine Abhängigkeit umschrieben. Vielmehr war es in den Kreisen, in denen er verkehrte, nicht ungewöhnlich, gelegentlich Rauschgift, darunter auch Kokain, selbst zu konsumieren. Dies hat der Kläger in seinen polizeilichen Vernehmungen anschaulich geschildert. Die vom ihm selbst stets verneinte Abhängigkeit ist auch durch die regelmäßigen negativ verlaufenden Drogenkontrollen während der Haft bestätigt. Motiv für die Betäubungsmitteldelikte waren allein das Gewinnstreben, der Genuss des luxuriösen Lebens und das „Glücklichsein im Hier und Jetzt“. Diese Motivation ist in den polizeilichen Vernehmungen des Klägers und ... Y. übereinstimmend berichtet worden und vor allem auch aus ihrem tatsächlichen verschwenderischen Lebensstil ersichtlich, der im Urteil des Strafgericht angesprochen worden und der insbesondere in dem vorläufigen Ermittlungsbericht der Polizei vom 31.08.2004 dokumentiert ist. Dieser umfasste unter anderem die Anmietung einer luxuriösen Wohnung, die mit teuren Einrichtungsgegenständen ausgestattet war (z.B. Flachbildschirmfernseher mit einem Wert zw. 7.000 und 8.000 EUR), Flugreisen, Aufenthalte in teuren Hotels, die Nutzung von Autos der gehobenen Klassen (unter anderem Jaguar), Partys, aber auch Kontakte zu Prostituierten und extrem häufige Taxibestellungen (etwa um ein Baguette abholen zu lassen) sowie ein Auftreten als „Geschäftsmänner“ mit den entsprechenden Begleitutensilien wie Designer-Handy, Kugelschreiber im Wert von 1.000 EUR, Schmuck, Uhren.
2.)
63 
Was das ebenfalls in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzufließende Verhalten des Klägers nach der Tat und seine Entwicklung bis heute anbelangt, ist der Senat aufgrund der oben dargelegten konkreten Umstände der Tat und nach dem Eindruck, den er aus dem Inhalt der Akten und der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, der Überzeugung, dass vom Kläger nach wie vor die in den Taten angelegte Wiederholungsgefahr ausgeht. Daher kann dahingestellt bleiben, ob bei der Verwirklichung eines Ausweisungstatbestands nach § 53 AuslG nach nationalrechtlichem Maßstab eine Unverhältnismäßigkeit einer spezialpräventiven Ausweisung nur dann eintreten könnte, wenn die Wiederholungsgefahr gänzlich entfallen oder jedenfalls extrem gemindert wäre (vgl. GK-AufenthG, § 53 Rn. 62 i.V.m. Vor §§ 53 ff. Rn. 418 ff.) und ob - solange dies nicht festgestellt werden kann - auch der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 EMRK das der nationalen Norm immanente schwerwiegende spezialpräventive Ausweisungsinteresse mit diesem Gewicht zugrunde zu legen wäre.
a.)
64 
Der Senat misst hinsichtlich der Feststellung der Wiederholungsgefahr dem kriminalprognostischen Gutachten von Dr. X. vom 07.09.2010, das aus forensisch psychiatrischer Sicht feststellt, dass die durch die Taten zutage tretende Gefährlichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr fortbesteht, keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu. Das Gutachten beruht in wesentlichen Punkten auf unzutreffenden tatsächlichen Annahmen, die ihrerseits jedenfalls zum Teil auf falsche oder unvollständige Angaben des Klägers bei seiner Exploration zurückgehen (aa.). Darüber hinaus ist das schriftliche Gutachten in zentralen Punkten nicht schlüssig (bb.). Die dem Gutachten innewohnenden Mängel sind auch nicht durch die Erklärungen der Gutachterin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausgeräumt worden (cc.).
aa.)
65 
Die Gutachterin ging davon aus, der Kläger habe - entsprechend seiner Angaben während der Untersuchung - allenfalls als Jugendlicher zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr Marihuana geraucht (S. 12 i.V.m. S. 16). Tatsächlich hat der Kläger jedoch nach früheren Angaben auch während der Phase seiner Betäubungsmittelkriminalität Drogen genommen; so hat er während seines Aufenthalts in den Niederlanden, damals war er 23 Jahre alt, Kokain konsumiert. Diesen Konsum hat der Kläger in der Berufungsverhandlung - allerdings erst auf intensive Nachfrage und unter Vorhalt seiner Angaben in seiner Vernehmung als Beschuldigter am 17.11.2005 - auch eingeräumt. Der Betäubungsmittelkonsum auch noch als junger Erwachsener findet im Gutachten ebenso wenig Beachtung wie der - vom Kläger anlässlich seiner Exploration ebenfalls nicht erwähnte - Umstand, dass er Ende Januar 2005 versucht hat, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Von beidem hat die Gutachterin nach ihren eigenen Angaben in der in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erstmals durch die hier erfolgte Anhörung des Klägers erfahren. Dies verdeutlicht im Übrigen, dass die Gutachterin, die ihr Gutachten ausdrücklich auch auf die drei Bände Strafakten stützt (S. 2 des Gutachtens), diese möglicherweise nicht genügend beachtet hat. Das entsprechende Vernehmungsprotokoll vom 17.11.2005, in dem der Kläger den Drogenkonsum und auch das Queraufschneiden der Pulsadern, weil er „nonstop drauf gewesen“ sei, ausdrücklich eingeräumt hat, befindet sich in Band III der Strafakten, die der Gutachterin vorlagen.
66 
Unrichtig oder jedenfalls „geschönt“ waren auch die Angaben des Klägers zu seiner angeblich intakten Beziehung. Das Gutachten hält unter anderem folgende Angaben des Klägers fest (S. 7): „Er verfolge jetzt andere Ziele im Leben. Er habe jetzt eine Freundin, werde sich verloben. Das wichtigste sei, dass er ihrer Mutter vor 2, 3 Monaten gesagt habe, was mit ihm los sei, nämlich dass er im Gefängnis sei. Das sei seine erste türkische Freundin überhaupt. Früher habe er keine türkischen Freundinnen gehabt. Es sei jetzt aber eine ganz tolle Erfahrung für ihn, diese Beziehung zu einer türkisch-stämmigen Freundin.“ Auf S. 11 des Gutachtens sind - auszugsweise - folgende weitere Angaben des Klägers festgehalten: „Letztes Jahr habe er über einen Freund in ... seine Freundin kennengelernt, die aus K. in Bayern stamme….Im Februar diesen Jahres habe er ihr erzählt, was mit ihm sei….Ende des Jahres werde man das Verlobungsfest feiern und „so Gott will“ im nächsten Jahr heiraten….. Man habe vor kurzem mit der Familie eine „kleine Verlobung“ bei ihren Eltern gefeiert….Das Fest sei sehr schön und sehr traditionell gewesen. Er hab sich nie vorstellen können, dass ihm so was passieren werde. Traditionell sei zum Beispiel gewesen, dass seine Verlobte ihm Salz statt Zucker in den Kaffee getan habe und er diesen dann entsprechend der Tradition trotzdem getrunken habe.“ Hinsichtlich früherer Beziehungen führte er aus (S. 12): „Er habe seitdem er 17 Jahre alt gewesen sei immer wieder Freundinnen gehabt. Die erste Beziehung habe vier Jahre gedauert. Dann habe er noch mal eine Beziehung zwischen 2000 und 2004 gehabt.“ Wie die Gutachterin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat mehrfach erklärt hat, sei ihr die Schilderung der Verlobungsfeier, die von ihm als wertvoll erlebte Tradition, sehr zu Herzen gegangen; es sei für sie sehr anrührig gewesen. Grundlage ihrer positiven Prognose ist ausweislich des Gutachtens auch die Annahme der Einbindung des Klägers in einer stabilen Beziehung zu seiner türkischen Staatsangehörigen. Tatsächlich kriselte es jedoch schon zu diesem Zeitpunkt in der Beziehung zwischen dem Kläger und seiner früheren Verlobten. Bereits im August 2010 - zu diesem Zeitpunkt war der Kläger nach seinen Angaben in der Berufungsverhandlung eigentlich noch verlobt - frischte er die Kontakte mit seiner jetzigen Partnerin auf. Im September habe er ihre Wohnung komplett renoviert, da seien sie sich näher gekommen, seit November 2010 seien sie ein Paar. Darüber hinaus verschwieg der Kläger bei der Exploration seine frühere Beziehung zu ... V. Mit ihr war er seit Januar 2004 „zusammen“. Diese erwartete wohl von ihm ein Kind; der Abbruch der Schwangerschaft wurde von ihm bezahlt. Bis einschließlich August 2007 wurde er regelmäßig von ... V., die zeitweise in der Wohnung seiner Eltern lebte und von ihm selbst als seine Verlobte bezeichnet wurde, besucht. Unter dem 21.08.2006 erkundigte er sich sogar nach der Möglichkeit des Heiratens im Gefängnis. Gerade mit Rücksicht auf diesen Umstand nimmt der Senat dem Kläger seine Versuche in der mündlichen Verhandlung, diese Beziehung als unbedeutend darzustellen und mit der Begründung schlecht zu machen, ... V. sei nur eine Prostituierte, nicht ab. Am 27.02.2008 teilte der Rechtsanwalt von ... V. gegenüber der JVA ... mit, nach Darstellung seiner Mandantin besitze ihr Ex-Freund in der JVA ein Handy sowie ihr Tagebuch und eine goldene Halskette. Eine deswegen angeordnete Durchsuchung des Klägers sowie seines Haftraums und seines Arbeitsplatzes verlief negativ. In Reaktion darauf gab der Kläger am 27.02.2008 telefonisch und am 04.03.2008 förmlich gegenüber den Ermittlungsbehörden an, im Zeitraum Februar/März 2004 in drei Taten insgesamt 250 g Kokain an seine damalige Freundin ... V. gewinnbringend auf Kommission verkauft zu haben. Diese Erkenntnisse ergeben sich aus den - von der Gutachterin nicht beigezogenen - Gefangenenpersonalakten und aus der Akte im Ermittlungsverfahren 221 Js 45897/08.
67 
Des Weiteren hat der Kläger bei der Gutachterin angegeben, zu seinen früheren Freunden habe er keinen Kontakt mehr, wolle auch keine Kontakte mehr haben. Tatsächlich ist jedoch der langjährige Freund des Klägers M.Y., der ebenfalls Mitglied der Bande Y. war und deswegen zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, ausweislich des Heiratsvertrags vom 12.02.2011 Zeuge der nach islamischem Recht eingegangenen Verbindung zwischen dem Kläger und ... D. gewesen. In der mündlichen Verhandlung begründete der Kläger die Wahl seines Zeugen damit, dass dieser aus dem Glauben heraus lebe und kein schlechter Mensch sei.
68 
Darüber hinaus hat der Kläger mit der Gutachterin über seine Umschulung als Mediengestalter gesprochen. Im Rahmen ihrer Beurteilung der Wiederholungsgefahr hat sie den vom Kläger stringent verfolgten Weg, sich beruflich weiter zu qualifizieren, positiv gewürdigt. Die Gutachterin hat jedoch in ihre Beurteilung nicht eingestellt, dass der Kläger nach wie mehr als 800.000 EUR Schulden aus dem im Strafurteil angeordneten Verfall des Wertersatzes hat.
69 
Schließlich ist der Gutachterin bei der Abfassung des Gutachtens das Ausmaß des kriminellen Verhaltens des Klägers nicht geläufig gewesen. Das Gutachten referiert zwar Teile aus dem Strafurteil (S. 2 ff.) und verweist zu Beginn der „Zusammenfassung und Beurteilung“ unter anderem darauf, dass sich der Kläger ab Dezember 2003 zusammen mit Mittätern zu einer Gruppierung zusammengeschlossen hat, „welche im Kilogrammbereich in ... und Umgebung“ mit Marihuana Handel betrieben hätten“. Die tatsächlich umgesetzten Mengen der verschiedenen gehandelten Betäubungsmittel, die Organisationsstrukturen sowie die Stellung des Klägers innerhalb des Systems sind ihr jedoch - wie sie selbst eingeräumt hat - erstmals im Laufe der Verhandlung vor dem Senat in aller Deutlichkeit bewusst geworden.
bb.)
70 
Darüber hinaus sind wesentliche Aussagen im Beurteilungsteil nicht schlüssig bzw. nachvollziehbar. So heißt es dort: „Herr X. soll nach seiner Inhaftnahme seine Kenntnisse über den organisierten Drogenhandel den Behörden gegenüber offenbart haben, so dass allein aus diesem Grund eine Rückkehr in solcherart kriminelle Aktivitäten ihm wohl künftig nicht mehr möglich sein dürfte“. Wieso die Gutachterin zu dieser Einschätzung gelangt, wird nicht transparent gemacht, möglicherweise knüpft sie allein an die entsprechenden Ausführungen im Antrag des Klägers vom 09.03.2010 auf Aussetzung des Rests der Freiheitsstrafe zur Bewährung an. Dieser Schluss ist jedoch nicht zwingend -schon gar nicht im vorliegenden Fall, bei dem etliche Leute der Organisation „ausgepackt“ haben. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart führt in ihrem Schreiben vom 28.03.2011 an den Senat auch aus, dass erfahrungsgemäß Aufklärungshilfe nicht unbedingt zwingend zur Folge habe, das eine Rückkehr ins Rauschgiftmilieu „verbaut“ werde - zumal dann nicht, wenn sie mit einem Ortswechsel des „Verräters“ verbunden sei.
71 
Die Gutachterin nimmt weiter an, die soziale Situation des Klägers sei (wieder) gesichert. Sie setzt sich aber nicht mit dem Umstand auseinander, dass die Drogendelikte aus einer intakten Existenz heraus begangen wurden. Der Kläger lebte zu Beginn der Taten in geordneten familiären Verhältnissen und verfügte nach abgeschlossener Lehre in seinem Ausbildungsberuf über regelmäßige Einkünfte. Trotzdem hat ihn das von den Straftaten nicht abgehalten. In diesem Zusammenhang fehlen auch Aussagen dazu, ob und wie sich die derzeit noch vorhandenen Schulden in Höhe von etwa 800.000 EUR auf die (soziale) Situation des Klägers auswirken könnten.
72 
Das positive Ergebnis des Gutachtens beruht auch auf der Auffassung der Gutachterin, die Tathandlungen seien situativ, d.h. lebensgeschichtlich begrenzt gewesen (Adoleszenz), die verurteilten Taten hätten in einer abgrenzbaren Lebenssituation, d.h. im frühen Erwachsenenalter stattgefunden. Abgesehen davon, dass Aussagen zur Einordnung von Tathandlungen schon nicht belastbar getroffen werden können, wenn ein Gutachter - wie hier - das Ausmaß des kriminellen Fehlverhaltens nicht zutreffend erkennt und würdigt, ist dem Senat aus zahlreichen weiteren Ausweisungsverfahren bekannt, dass Rauschgiftkriminalität jedenfalls in der oben unter III 1. dargestellten Art und Weise keine für die Adoleszenz typische Tat und auch nicht zwingend auf eine abgrenzbare Lebenssituation beschränkt ist.
73 
Schließlich bleibt auch unklar, weshalb die Gutachterin davon ausgeht, dass die Erfahrung der Inhaftierung beim Kläger offenkundig einen nachvollziehbaren Gesinnungswandel bedingt hat. Allein in einem ambulanten Termin mit dem Kläger, der lediglich 1 ½ Stunden gedauert hat, lässt sich dies in Anbetracht des Ausmaßes der kriminellen Vorgeschichte nach Überzeugung des Senats kaum verlässlich eruieren - zumal wenn der zu Beurteilende in einzelnen Punkten die Unwahrheit sagt oder die Lage beschönigt. Die Gefangenenpersonalakten, die hierüber näheren Aufschluss geben könnten, sind von der Gutachterin nicht beigezogen worden.
cc.)
74 
Die aufgezeigten Defizite im Gutachten, die ihre Ursache auch darin haben können, dass - wie die Gutachterin gegenüber dem Senat ausgeführt hat - die Beauftragung durch die Strafvollstreckungskammer „in sehr zeitknappem Zustand“ erfolgte und der Kläger sich schon im Freigang bewährte, sind durch ihre Angaben in der mündlichen Verhandlung nicht ausgeräumt worden. Ihre Erklärungen sind insgesamt vage, ausweichend und für den Senat nicht überzeugend gewesen.
75 
Aus der Antwort auf die Frage des Senats, welche Bedeutung die Schulden des Klägers aus dem Verfall des Wertersatzes für die Wiederholungsgefahr haben, wird deutlich, dass die Gutachterin an diesem Problem gänzlich vorbei geht. Sie führt nämlich hierzu aus, dass der Kläger im jungen Erwachsenenalter zu den Taten gekommen sei. Er sei gierig nach Geld gewesen. „Veränderungen seien möglich und insbesondere Hafterfahrung und Nachdenken klinge authentisch, so dass man sich vorstellen könne, dass hinsichtlich der Schulden, die aus den Taten stammen, weil eben das Geld nicht gespart worden sei, um es abzugeben, sondern es ausgegeben worden sei, Veränderungen in der Wertehaltung möglich seien.“
76 
Auch was die Frage der Einordnung der Tat als durch die Adoleszenz bzw. lebensgeschichtlich begrenzt anbelangt, sind nach Auffassung des Senats die Ausführungen der Gutachterin nicht überzeugend. Sie hat nach wie vor nur auf das damalige Alter des Klägers und die zwischenzeitliche Hafterfahrung abgestellt ohne sich jedoch mit der hohen Professionalität der Betäubungsmittelstraftaten und der Tatsache, dass ältere Bandenmitglieder eine vergleichbare Stellung innerhalb der Organisation nicht erreicht haben, auseinander zu setzen. Gleichzeitig bleibt sie eine Antwort auf die Frage schuldig, warum diesen Faktoren bei der Beurteilung insoweit keine entscheidende Bedeutung zukommen soll.
77 
Hinsichtlich der von der Gutachterin angenommenen verbauten Rückkehr in die früheren kriminellen Aktivitäten, hat sie zwar eingeräumt, dass es entsprechende andere Kreise geben könnte. Sie hat auch zur Kenntnis genommen, dass der Kläger entgegen seinen Bekundungen ihr gegenüber nach wie vor freundschaftlich mit einem früheren Mittäter verbunden ist. Welche Konsequenzen sie hieraus zieht, hat sie jedoch insoweit offen gelassen.
78 
Zwar ist etwa die Frage, ob der Kläger letztmalig als Jugendlicher oder schon im Erwachsenenalter Drogen und ggfs. welche genommen hat, für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr als solche nicht relevant, weil Grund für die Straftaten keine eigene Abhängigkeit gewesen ist. Allerdings sind die unrichtigen Angaben durch den Kläger in diesem Punkt ebenso wie andere „Glättungen“ in der Darstellung, etwa was seine Beziehungen zu Frauen anbelangt, von Bedeutung für die Qualifizierung seiner Persönlichkeit - und vor allem für die Frage, ob dem Kläger vor diesem Hintergrund eine „innere Umkehr“ geglaubt werden kann. Hierzu direkt befragt hat die Gutachter gegenüber dem Senat lediglich angegeben, das sei schwierig.
79 
Im Verlaufe ihrer Anhörung hat die Gutachterin ungeachtet der von ihr selbst als kritisch angesehenen manipulativen Tendenzen des Klägers zunächst ausgeführt, dass sie dennoch an dem Ergebnis ihres Gutachtens festhalten will, am Ende ihrer Befragung hat sie dies dahingehend relativiert, „sie glaube, sie würde auch noch zu dem Schluss kommen ‚ mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr fortbesteht‘“. Abgesehen davon, dass eine solche lavierende Aussage nicht belastbar ist, sind auch die von der Gutachterin angeführten Gründe für ihre (möglicherweise) im Ergebnis gleichbleibende Einschätzung nicht zwingend, wenn nicht gar spekulativ. Sie hat hierzu ausgeführt, dass es sich nicht um eine Symptomtat gehandelt habe, der Kläger kein polytrop kriminell dissozialer Mensch sei und auch die harten negativen Fakten, wie sie z. B. bei Exhibitionismus vorhanden seien, fehlten. Das sei günstig. Positiv seien auch das Fehlen von Augenblicksverhaftetheit, das Lernen aus Erfahrungen, sein Ehrgeiz um berufliche Fortbildung. Allerdings hat die Gutachterin auf Nachfrage des Senats auch eingeräumt, dass die beim Kläger vorhandenen Eigenschaften ihn zu dieser sehr professionellen Betäubungsmittelkriminalität überhaupt erst befähigt haben. Letztlich sei es die Frage, ob man ihm die Änderung, künftig nicht mehr kriminell werden zu wollen, glaube.
80 
Im Hinblick auf die auch durch die mündliche Verhandlung nicht ausgeräumten Defizite des Gutachtens, misst der Senat diesem keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu. Für das Gericht besteht auch keine Notwendigkeit, zur Beurteilung der Wiederholungsgefahr als Entscheidungshilfe ein erneutes Sachverständigengutachten einzuholen. In Ausweisungsverfahren ist es die ureigene richterliche Aufgabe dies selbst festzustellen. Tat- oder täterpersönlichkeitsbezogenen Besonderheiten, die ausnahmsweise abweichend hiervon eine Begutachtung durch einen Sachverständigen nahe legen würden (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 22.10.2008 - 1 B 5.08 - juris Rn. 5), weist der vorliegende Fall nicht auf.
b.)
81 
Die Frage der Wiederholungsgefahr ist nicht deshalb in einem für den Kläger günstigen Licht zu sehen, weil aufgrund des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer vom 26.10.2010 die Verbüßung des Restes der Freiheitsstrafe noch vor Ablauf von zwei Dritteln der Strafhaft zur Bewährung ausgesetzt worden ist.
82 
In Vorbereitung dieser Entscheidung ist das kriminalprognostische Gutachten vom 07.09.2010 eingeholt worden. Hierauf bezieht sich auch der Beschluss der Strafvollstreckungskammer. Schon aufgrund der oben dargelegten Mängel des Gutachtens misst der Senat diesem für das Ausweisungsverfahren ebenfalls keine relevante Bedeutung zu. Selbst wenn man im Übrigen der Auffassung wäre, für die Aussetzungsentscheidung sei das Gutachten letztlich nicht entscheidend gewesen, weil die Strafvollstreckungskammer aufgrund selbstständiger Prüfung zu dem Ergebnis gelangt sei, der Strafrest werde noch vor Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe nach § 57 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt, ist die strafvollstreckungsrechtliche Einschätzung für die Beurteilung der ordnungsrechtlichen Wiederholungsgefahr nicht maßgebend. Dies gilt schon deshalb, weil die im Ausweisungsverfahren nunmehr verfügbaren Erkenntnisse die dort getroffenen Annahmen und Einschätzungen nicht mehr ohne weiteres plausibel und nachvollziehbar erscheinen lassen. So hat der Kläger in seiner Anhörung bei der Strafvollstreckungskammer am 21.10.2010 ungeachtet dessen, dass die Beziehung mit seiner damaligen Verlobten jedenfalls schon erheblich in die Krise geraten war und er sich - wie aus der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Bestätigung des Vermieters von Frau D. vom 08.04.2011 ersichtlich - schon seit Oktober 2010 des Öfteren bei dieser aufgehalten hat, erneut den Eindruck erweckt, in einer stabil erscheinenden Beziehung mit einer türkischen Verlobten zu leben. Dies ist auch Grundlage des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer geworden. Darüber hinaus ist der Senat aufgrund der ihm in dem für die Beurteilung der Ausweisung maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse, insbesondere des aufgrund der mehrstündigen mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks vom Kläger, nicht davon überzeugt, dass sich der Kläger glaubhaft mit seiner kriminellen Vergangenheit auseinandergesetzt, sich von dieser distanziert und einen nachhaltigen Gesinnungswandel durchlaufen hat, an dessen Ende ein zukünftig straffreies Leben steht.
c.)
83 
Der Senat ist der Überzeugung, dass der Kläger ungeachtet dessen, dass seit der letzten Tat etwa 6 Jahre vergangen sind und er einen mehrjährigen auf Resozialisierung ausgerichteten Gefängnisaufenthalt hinter sich hat, keine solche Persönlichkeitswandlung und Verhaltensänderung durchlaufen hat, die in Anbetracht von Art und Ausmaß der von ihm begangenen Betäubungsmitteldelikte verlässlich den Schluss zulassen würde, er werde voraussichtlich in Zukunft nicht mehr (in vergleichbarer Weise) straffällig.
84 
Entgegen der Auffassung des Klägers ist aus seiner Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden nicht auf einen „Bruch“ mit vergangenen kriminellen Strukturen und entsprechender Reue zu schließen, die ein zukünftig rechtstreues Leben nahelegen. Zwar konnten aufgrund der Angaben des Klägers und des „Bandenchefs“ ... Y. etwa 90 Ermittlungsverfahren eingeleitet werden, die zu teilweise langen Freiheitsstrafen führten. Dies hat die Staatsanwaltschaft Stuttgart mit Schreiben vom 28.03.2011 gegenüber dem Senat ausdrücklich bestätigt. Hervorzuheben ist auch, dass der Kläger über eigene Straftaten in den Niederlanden berichtete, über die die Ermittler im Vorfeld seiner Angaben keinerlei Erkenntnisse hatten. Nach dem Vermerk des Zeugen KHK K. vom 13.03.2006 teilte der Kläger ihm erstmals am 08.03.2006 mit, dass er aus der Zeit in den Niederlanden noch etwas zu „beichten“ habe. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart führte in ihrer Einstellungsverfügung vom 16.03.2007 nach § 154 StPO unter anderem aus, dass die Feststellungen zum Gesamtumfang der Tat allein auf den Angaben des Klägers beruhten und ihm ohne sein Geständnis nicht hätten nachgewiesen werden können. Darüber hinaus habe er seine Lieferanten und Abnehmer namentlich benannt und durch seine Angabe - auch in den jeweiligen Hauptverhandlungen - dazu beigetragen, dass ein Großteil dieser Personen habe abgeurteilt werden können, so dass ihm in ganz erheblichem Maße die Strafmilderung des § 31 BtMG zu Gute komme.
85 
Allerdings führt eine Aufklärungshilfe, die zur Überführung anderer Rauschgifthändler beigetragen hat, nicht zwingend zu einer prognostisch günstigen Beurteilung der Wiederholungsgefahr bei einem wegen illegalen Rauschgifthandels Verurteilten (BVerwG, Urteil vom 06.04.1989 - 1 C 70.86 - BVerwGE 81, 356 und Beschluss vom 04.09.1992 - 1 B 155.92 - InfAuslR 1993, 11); maßgebend sind vielmehr die konkreten Umstände des Einzelfalls (vgl. auch GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. Rn. 1188 ff.). Aus der Existenz und der Anwendung von § 31 BtMG durch die Staatsanwaltschaft in ihren Einstellungsverfügungen ergibt sich nichts anderes. Das kriminalpolitische Ziel des § 31 BtMG besteht unter anderem darin, das Aufbrechen von Banden und kriminellen Vereinigungen zu ermöglichen, die strafrechtliche Verfolgung begangener Betäubungsmittelstraftaten zu verbessern und es dem einzelnen Täter zu erleichtern, sich von dem illegalen Rauschgifthandel abzusetzen. Auf die Motivation der Aufklärungshilfe kommt es nicht an (BGH, Urteil vom 19.05.2010 - 2 StR 102/10 - juris und Beschluss vom 20.06.1990 - 3 StR 74/90 - juris). Mit Moral hat § 31 BtMG nichts zu tun. Die Privilegierung knüpft allein daran an, dass aufgrund der Offenbarung des Täters tatsächlich ein Aufklärungserfolg über seinen Tatbeitrag hinaus eingetreten ist (vgl. näher Weber, BtMG, 3. Aufl. 2009, § 31 Rn. 7 f., 16 f). § 31 BtMG kommt daher auch dann in Betracht, wenn der Täter seine Tat nicht bereut und auch zu einer Lebensumkehr nicht bereit ist (Weber, a.a.O., Rn. 65). Ausgehend von ihren Zielen ist diese Vorschrift in ihrem Anwendungsbereich auf das Strafrecht beschränkt; sie enthält keinen darüber hinaus gehenden allgemeinen Rechtsgedanken, der auch im Ausweisungsrecht Beachtung finden müsste.
86 
Der Senat ist der Überzeugung, dass die ab 15.11.2005 gezeigte Aussagebereitschaft des Klägers, die zunächst zu seinem Geständnis kurz vor der Hauptverhandlung am 24.11.2005 führte sowie ab Januar 2006 zu umfangreichen Angaben über Lieferanten, Abnehmer und Hintermänner, nicht auf einem grundlegenden Gesinnungswandel beruhte, insbesondere aus der Erkenntnis heraus, welchen immensen gesellschaftlichen und menschlichen Schäden er durch seine Delikte angerichtet hatte, sondern deshalb erfolgte, um sich persönliche Vorteile zu verschaffen - vor allem mit Blick auf eine Strafmilderung und vorzeitige Beendigung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe. Der Kläger äußerte dem Aktenvermerk des Zeugen KHK K. vom 18.11.2005 zufolge vor seiner Vernehmung am 16.11.2005 unter anderem, dass er seine Strafe so niedrig wie möglich halten und schnellstmöglich aus der JVA herauskommen wolle. Aus den polizeilichen Protokollen sowie Vorgängen in den Gefangenenpersonalakten ergibt sich, dass der Kläger in den Jahren 2006 und 2007 immer wieder darauf hingewiesen habe, er wolle so schnell wie möglich aus dem Gefängnis kommen bzw. so schnell wie möglich abgeschoben werden. So heißt es in einem Protokoll der JVA ... vom 09.10.2006 anlässlich der Fortschreibung des Vollzugsplans, der Kläger strebe eine zügige Abschiebung an. Auch zwischen dem Verteidiger des Klägers und der Staatsanwaltschaft Stuttgart gab es im Juli 2007 Kontakte, ob im Hinblick auf die „Verdienste“ des Klägers bereits vor dem Halbstrafenzeitpunkt nach § 456a StPO verfahren werden könnte (vgl. näher die mit Schreiben vom 28.03.2011 vorgelegten Aktenvermerke der Staatsanwaltschaft vom 17., 30. und 31.07.2005). Vor dem Hintergrund dieser Abläufe stellt sich die Aussagebereitschaft des Klägers als eine „Leistung“ in der unterschwelligen Erwartung einer „Gegenleistung“ dar. Auch ... Y. äußerte sich im Übrigen in seiner Zeugenvernehmung vom 07.03.2008 dahingehend, der Kläger habe sich persönlich erhofft, nach seinen Aussagen entlassen zu werden.
87 
Hinzukommt, dass uneigennützige Motive hinsichtlich der weiteren Angaben des Klägers zu seinen „Hinterleuten“ bei KHK K. auch deshalb nicht auf der Hand liegen, weil die weitere Bereitschaft des Klägers, in anderen Ermittlungsverfahren Angaben zu machen, Teil der dem Urteil zugrunde liegenden Absprache zwischen den Beteiligten war. Dies ergibt sich aus dem Protokoll über die Hauptverhandlung des Landgerichts vom 24.11.2005 sowie aus dem Aktenvermerk der Staatsanwaltschaft Stuttgart ebenfalls vom 24.11.2005.
88 
Wären die umfangreichen Angaben des Klägers zu Beginn oder jedenfalls ab einem späteren Zeitpunkt von Reue und Einsicht in das immense Unrecht seiner Tat getragen gewesen, so hätte es nahe gelegen, dies im Zusammenhang mit den Vernehmungen zu offenbaren. Weder in den Straf- noch in den Ermittlungsakten in den Verfahren 221 Js 26457/06 und 221 Js 45897/08 finden sich entsprechende Hinweise auf solche die Angaben auslösende oder sie jedenfalls begleitende „Regungen“ beim Kläger. Auch der den Kläger immer wieder vernehmende Beamte KHK. K. hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat keine Anhaltspunkte für ein uneigennütziges Aussageverhalten nennen können. Bezeichnenderweise wertete die Strafkammer das Geständnis des Klägers ausschließlich unter dem Aspekt der „nennenswerten Verfahrensabkürzung“ zu seinen Gunsten, von „Reue“ oder „Umkehr“ ist in den Strafzumessungserwägungen des Strafgerichts nicht die Rede.
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Dass seinem Aussageverhalten eigennützige Motive - und nicht eine im Strafvollzug gewonnene Erkenntnis über die Gefährlichkeit des Rauschgifts für die Gesundheit des Einzelnen - zugrunde liegen, zeigt sich vor allem auch an der Belastung seiner früheren Freundin ... V. Diese schonte er in den guten Tagen der Beziehung. Erst als das Verhältnis zerbrochen war und sie ihn mit falschen Verdächtigungen konfrontierte, zeigte er sie unmittelbar darauf am 27.02.2008 telefonisch und am 04.03.2008 förmlich wegen eines Kokain-Geschäftes an. Als Grund, warum er „jetzt nach fast vier Jahren mit dieser Geschichte herauskomme“, nannte er in seiner Vernehmung vom 04.03.2008, dass „sie ihm jetzt das Leben mit ihren Lügen schwer mache, er nichts mehr von ihr wissen wolle und er zu seinem eigenen Schutz jetzt die Geschichte erzähle“. Mit Einsicht in das Unrecht seiner früheren Tat hat diese Aussage nichts zu tun. Mit Verfügung vom 13.02.2009 - 221 Js 45897/08 - sah die Staatsanwaltschaft Stuttgart ihm gegenüber nach § 154 StPO von der Erhebung der öffentlichen Klage ab. Das Amtsgericht Stuttgart verurteilte Frau V. am 24.06.2009 rechtkräftig zu einer Jugendstrafe von 18 Monate auf Bewährung.
90 
Auch im Übrigen sind keine greifbaren Anhaltspunkte dafür gegeben, dass sich der Kläger qualifiziert mit seiner schwerwiegenden Kriminalität und den dadurch angerichteten Schäden auseinandersetzt und hieraus Schlüsse für seine weitere Lebensführung abgeleitet hat. Eine solche einem Gesinnungs- und Persönlichkeitswandel regelmäßig vorausgehende „Bilanzierung“ ist im Regelfall ein längerer Prozess, der im Gefängnis auch üblicherweise durch den Psychologischen Dienst begleitet wird. Aus den beigezogenen und vollständigen Gefangenenpersonalakten ergeben sich aber keine Erkenntnisse dafür, dass eine Aufarbeitung des Fehlverhaltens betreffende qualifizierte psychologische Gespräche mit dem Kläger geführt worden wären. Wie dem Senat aus anderen Ausweisungsverfahren bekannt ist, wird die Tatsache, dass solche Gespräche erfolgen, in der Gefangenenpersonalakte festgehalten. Zwar hat der Kläger angegeben, mit dem Psychologen M. in der Justizvollzugsanstalt Gespräche geführt zu haben. Auf Nachfrage des Senats hat dieser in seinem Schreiben vom 30.03.2011 mitgeteilt, mit dem Kläger mehrere Gespräche (Einzelgespräche) geführt zu haben, könne aber mangels Aufzeichnungen nichts mehr über den Inhalt oder die Frequenz sagen. Dies sowie das Fehlen jeglicher Dokumentation über eine Tataufarbeitung in den Gefangenenpersonalakten lässt den Schluss zu, dass es sich hierbei nur um „Alltagsgespräche“ zur Unterstützung des Klägers im Strafvollzug gehandelt haben kann.
91 
Nach der Überzeugung des Senats ist die in der begangenen Rauschgiftkriminalität angelegte erhebliche Wiederholungsgefahr, die vor allem aus dem Ausmaß der Taten und der diesen zugrunde liegenden Motivation herrührt, nicht dadurch relativiert, dass sich der Kläger im Strafvollzug beanstandungsfrei geführt und diesen effizient zur Weiterbildung genutzt hat. Ein solches Verhalten lässt noch nicht auf einen dauerhaften Wandel schließen. Für den Umstand, dass der Kläger in seiner bisherigen kurzen Bewährungszeit nicht negativ aufgefallen ist, gilt entsprechendes. Auch die Lebensumstände des Klägers nach seiner Haftentlassung sind keine grundlegend anderen als diejenigen, die vor seinem Einstieg in die Drogenstraftaten vorlegen haben, wobei die immense Schuldenbelastung sogar ein zusätzlicher negativer Faktor ist. Der Kläger selbst gibt im Zusammenhang mit der Prüfung der Strafrestaussetzung und im Ausweisungsverfahren an, er habe erkannt, dass er sehr viel falsch gemacht habe. Er habe aus Geldgier andere Menschen vergiftet. Er habe sich vor allem durch die Hafterfahrung geändert und verfolge jetzt andere Ziele. Seine Familie sei ihm wichtig, er habe jetzt eine andere Weltanschauung. Diesen verbalen Bekundungen misst der Senat aber kein besonderes Gewicht zu, denn die Angaben des Klägers zeichnen sich in weiten Teilen dadurch aus, dass er für eine positive Veränderung der Lebensumstände und einen nachhaltigen Gesinnungswandel durchaus relevante Tatsachen schönt oder sogar bewusst unwahr angibt und Negatives bagatellisiert. Diese Tendenz hat sich insbesondere bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat gezeigt. So ist es auffällig, dass der Kläger im August 2010 gegenüber der Gutachterin angegeben hat, zu früheren Freunden keinen Kontakt mehr zu haben und diesen auch nicht mehr haben zu wollen. Im Widerspruch dazu hat er ein früheres Bandenmitglied als „Trauzeugen“ anlässlich des Heiratsvertrags vom 12.02.2011 gewählt und dies in seiner Anhörung damit begründet, es handele sich bei diesem eben um einen vertrauten Freund seit seiner Kindheit, der kein schlechter Mensch sei. Auch bei der im Rahmen des „sozialen Empfangsraums“ relevanten Stabilität einer Beziehung hat der Kläger unzutreffende Angaben gemacht und eine frühere Beziehung, die ein ungünstiges Licht auf ihn werfen könnte, sogar ganz verschwiegen. Bemerkenswert ist ferner, dass er auf Frage nach Art und Umfang des gehandelten Rauschgifts dies von sich aus zunächst nicht zutreffend angegeben hat und auch auf Nachfrage hin in erster Linie auf die Aufzeichnungen des Zeugen KHK K. verwiesen hat. Den Ausgangspunkt seiner Straftaten sieht der Kläger darin, dass „er auf den gehört hat, auf den er nicht hören sollte“, und er „als der ... Y. ihn gefragt habe, ob er ihm helfen könne, da halt so reingerutscht sei“. Was das gegen ihn verhängte Strafmaß aufgrund des ausgehandelten Urteils anbelangt, so hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung von sich aus geäußert, „er könne wirklich nicht sagen, dass er durch seine Angaben eine Strafermäßigung bekommen habe; der Kopf der Bande habe zehn Jahre bekommen, er - angesehen als seine rechte Hand - neun Jahre; da sehe er keine Strafmaßminderung“. Diese beispielhaft aufgeführten Äußerungen deuten nicht nur darauf hin, dass er sich bis heute mit seinem kriminellen Verhalten nicht adäquat auseinandergesetzt hat, sondern zeigen auch, dass seine verbalen Bekundungen keine verlässliche Grundlage für die Annahme eines dauerhaften Wandels sind. Die Gefahr, dass der Kläger zukünftig in Verfolgung eigennütziger Ziele erneut der Versuchung des „schnellen Geldes“ unterliegen kann, besteht daher nach wie vor.
3.)
92 
Hinsichtlich der „Boultif/Üner-Kriterien“, die sich auf das Privat- und Familienleben beziehen, ist zunächst festzustellen, dass sich der Kläger - mit Ausnahme der Zeit von Anfang April 2004 bis 12.08.2005 - seit seiner Geburt im Oktober 1981 bis heute in Deutschland aufhält und damit - den Aufenthalt in den Niederlanden abgezogen - tatsächlich etwa 28 Jahre hier verbracht hat. Nahezu 23 Jahre, nämlich bis April 2004, ist der Aufenthalt rechtmäßig gewesen. Er beherrscht die deutsche Sprache in Wort und Schrift und hat seine gesamte Erziehung und Sozialisation im Bundesgebiet erfahren. Hier leben seine mittlerweile verwitwete Mutter und seine Geschwister sowie deren Familien. Er hat nach dem altersentsprechenden Erwerb des Hauptschulabschlusses eine Berufungsausbildung erfolgreich absolviert und in unmittelbarem Anschluss hieran ein Arbeitsverhältnis in dem erlernten Beruf aufgenommen. Die Verbindung zum Arbeitsmarkt hat er jedoch von sich aus gelöst, indem er im großen Stil in den Drogenhandel eingestiegen ist. Derzeit durchläuft er eine staatlich geförderte berufliche Weiterbildung zum Mediengestalter Digital und Print - Fachrichtung Gestaltung und Technik, die mit einem allgemein anerkannten Abschluss endet wird. Die dem Senat vorliegenden Zeugnisse deuten darauf hin, dass er seine Prüfungen im Sommer diesen Jahres voraussichtlich bestehen wird. Auf die Schulden in Höhe von nach wie vor weit über 800.000 EUR aufgrund des im Strafurteil angeordneten Verfalls des Wertersatzes, leistet der Kläger seit Anfang 2007 kontinuierlich monatliche Zahlungen, die regelmäßig an seine wirtschaftlichen Verhältnisse angepasst werden. Ob die sich aus dem Schreiben der Staatsanwaltschaft Stuttgart - Vermögensabschöpfung - vom 03.02.2011 ergebende Perspektive, möglicherweise nach Ablauf seiner Bewährungszeit die Vollstreckung aus der Verfallsanordnung erlassen zu bekommen, realisiert wird, ist offen.
93 
Die Kontakte zwischen dem Kläger und seinen Brüdern entsprechen dem unter Erwachsenen Üblichen. Der Kläger hat entsprechend der Auflage im Bewährungsbeschluss zunächst nach seiner Haftentlassung bei seiner Mutter gelebt, mittlerweile hält er sich jedoch tatsächlich bei seiner neuen Partnerin auf, die über eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG verfügt. Allerdings hilft er noch bei der Pflege seiner Mutter, indem er sie zum Arzt fährt oder die Einkäufe organisiert. Hilfe bei der eigentlichen Körperpflege leistet er keine, da er – wie er in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat – dies als Mann nicht gegenüber seiner Mutter erbringen könne. Mit seiner jetzigen Partnerin, die 1981 im Bundesgebiet geboren ist und einen serbischen Reisepass hat, sowie deren vier und acht Jahre alten Kindern aus einer früheren Beziehung lebt er seit November 2010 in familiärer Lebensgemeinschaft. Eine standesamtliche Heirat streben beide an, sobald die hierfür erforderlichen Unterlagen vollständig vorliegen, wobei nach den Angaben des Klägers nur noch Dokumente von Frau D. aus dem Kosovo fehlen. Der Senat geht davon aus, dass der Kläger insbesondere auch zu dem im Juni 2006 geborenen Sohn von Frau D. eine enge Beziehung aufgebaut hat und er - wie sich aus dem vorgelegten Schreiben des Kindergartens vom 12.04.2011 ergibt - einen positiven Einfluss auf diesen hat. Auch der Bewährungshelfer führt in seiner Stellungnahme vom 01.04.2011 aus, nach seiner eigenen Beobachtung fühlten sich die Kinder mit dem Kläger sehr wohl und pflegten einen vertrauten Umgang mit ihm. Aus den Erklärungen des Klägers und seiner Partnerin im Berufungsverfahren ergibt sich, dass ihre familiäre Lebensgemeinschaft fortgeführt und intensiviert werden soll; beide wollen nach einer Fehlgeburt weiterhin ein gemeinsames Kind.
4.)
94 
In dem Land seiner Staatsangehörigkeit hat der Kläger bislang noch keinen Lebensmittelpunkt gehabt. Er kennt die Türkei allerdings aus Besuchs- und Urlaubsreisen. Nach seinen Angaben sei seine früher in Kayseri lebende Großmutter mittlerweile verstorben, zuletzt sei er mit einer damaligen Freundin 2002 in Alanya gewesen. Der Kläger beherrscht alltagstauglich Türkisch in Wort und Schrift. Wie die Protokolle aus der Überwachung der Telekommunikation zeigen, ist innerhalb der Familie Türkisch benutzt worden. Teilweise gilt dies auch für die Abwicklung der Rauschgiftgeschäfte; sowohl unter den Bandenmitgliedern als auch unter den Lieferanten und Abnehmern haben sich türkischstämmige Personen befunden. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat letztlich auch eingeräumt, Türkisch in einer Weise zu sprechen und schreiben, die es ihm ermöglicht, sich dort zurecht zu finden. Aus der Beschreibung seiner Verlobungsfeier anlässlich des Untersuchungstermins bei der Gutachterin ergibt sich ferner, dass er türkische Bräuche und die dadurch vermittelte Tradition als wertvoll erlebt. Dass der Kläger in der Vergangenheit einem Leben in der Türkei nicht ablehnend gegenüber gestanden ist, verdeutlichen auch die Bemühungen seines damaligen Strafverteidigers um eine „Freigabe“ zur Abschiebung noch vor dem Halbstrafenzeitpunkt und auch die entsprechenden eigenen Äußerungen des Klägers, wonach er eine zügige Abschiebung in die Türkei anstrebe. Dies liegt „in einer Linie“ mit der jedenfalls im Mai 2005 auch nach außen verkündeten Absicht, in die Türkei zu gehen.
5.)
95 
Unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls erweist sich die unbefristet verfügte Ausweisung des Klägers auch in Ansehung der Tatsache, dass er die für sein Privat- und Familienleben konstitutiven Bindungen dauerhaft verlieren wird, aufgrund der besonderen Schwere des Ausweisungsanlasses und der nach wie vor von ihm ausgehenden Gefahr sowie der Zumutbarkeit der Verweisung auf ein Leben in der Türkei als verhältnismäßig. Zwar wird der Kläger nicht mehr in den Alltagsablauf seiner pflegebedürftigen Mutter eingebunden sein; eine Übernahme der bisher durch ihn erbrachten Hilfestellungen, bei denen es sich im Übrigen nicht um direkte pflegerische Leistungen handelt, durch andere Personen, insbesondere hier lebende Brüder, ist jedoch möglich. Dass eine Beendigung des Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet nicht nur für ihn, sondern für alle Familienangehörigen und auch für seine jetzige Partnerin und deren Kinder, die gerade erst eine Beziehung zu ihm aufgebaut haben, mit einer Härte verbunden ist, liegt auf der Hand. Allerdings kommt den neuen, ohnehin erst seit wenigen Monaten praktizierten, Bindungen zu Frau D. und deren Kindern ohnehin kein qualifizierter Schutz zu, weil sie in Kenntnis des laufenden Ausweisungsverfahrens eingegangen worden sind. Auch ist der Kläger weder der Vater der Kinder noch hat er mit seiner Partnerin eine nach deutschen Recht anerkannte Ehe geschlossen. Der Kläger wird auch seine beruflichen und sozialen Positionen und Kontakte und all das, was sein Privatleben letztlich ausmacht, durch eine Aufenthaltsbeendigung unwiederbringlich verlieren. Dies ist ihm jedoch aufgrund des öffentlichen Interesses an seiner Ausweisung und der Tatsache, dass ihm ein Einleben in die ihm nicht gänzlich unbekannten Verhältnisse in der Türkei möglich ist, zuzumuten - zumal er schon seit seiner Überstellung aus den Niederlanden im August 2005 nicht mehr über einen legalen Aufenthalt im Bundesgebiet verfügt und er im Übrigen damals von sich aus durch seine Flucht seine Bindungen an das Bundesgebiet gelöst hat.
96 
Der Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit gebietet es ebenfalls nicht, schon zum Zeitpunkt der Ausweisung deren Wirkungen zu befristen. Aufgrund des Ausmaßes der vom Kläger ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und ihrer derzeit nicht sicher zu prognostizierenden zukünftigen Entwicklung muss eine Befristung einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben. Das insoweit eher gering anzusiedelnde Gewicht der Interessen des Ausländers und seiner Angehörigen erfordert keine andere Entscheidung.
97 
Ob aufgrund der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. EU L 348/2008, S. 98 ff.), die nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 24. Dezember 2010 inzwischen unmittelbar anwendbar ist, jedenfalls mit Blick auf die Tatsache, dass sich der Kläger schon seit August 2005 nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und die Legalität des Aufenthalts daher nicht unmittelbar durch die Ausweisung beendet wird, die Wirkungen des Einreiseverbots schon jetzt und von Amts wegen zu befristen wären, kann dahin gestellt bleiben. Denn eine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne des Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie, die im Falle des gesetzlichen Erlöschens des Aufenthaltsrechts funktionell in der Abschiebungsandrohung liegt, ist nicht Gegenstand der Entscheidung im Berufungsverfahren.
IV.)
98 
Unabhängig hiervon erweist sich eine Ausweisung des Klägers nach § 53 AufenthG aus dem dieser Bestimmung selbstständig neben der Spezialprävention zugrunde liegenden Zweck der Generalprävention selbst mit Blick darauf, dass es sich beim ihm um einen hier geborenen und aufgewachsenen Ausländer der zweiten Generation handelt, als verhältnismäßig (Art. 8 EMRK sowie Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG).
99 
Der Gesetzgeber hat in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ist-Ausweisung nach § 47 Abs. 1 AuslG 1990, wonach diese auch zu einem generalpräventiven Einschreiten ermächtigt (BVerwG, Beschluss vom 30.12.1993 - 1 B 185.93 - juris Rn. 4 f. unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung zu §§ 45 ff. AuslG 1990 ), die Vorschrift inhaltlich in das Aufenthaltsgesetz übernommen und damit im Rahmen der ihm zustehenden Einschätzungs- und Wertungsprärogative zur Notwendigkeit und Wirksamkeit der Generalprävention § 53 AufenthG auch diesen Ausweisungszweck stillschweigend zugrunde gelegt (vgl. GK-AufenthG § 53 Rn. 22 f., Vor §§ 53 ff. Rn. 1300.2). Zwar hat der Senat mit Urteil vom 18.03.2011 (11 S 2/11 - juris) entschieden, dass seit Inkrafttreten des EU-Reformvertrags von Lissabon am 01.12.2009 eine Ausweisung bei in Deutschland nachhaltig „verwurzelten“ Ausländern in der Regel nicht mehr tragend generalpräventiv begründet werden kann. Er hat jedoch in den Urteilsgründen auch ausgeführt, dies könne allerdings ausnahmsweise dann zulässig sein, wenn eine ganz besonders schwerwiegende Straftat verwirklicht worden ist, die in erheblichem Maße die Interessen des Staates oder der Gesellschaft gefährdet. Gemessen hieran steht Art. 8 EMRK in Ansehung der Bindungen des Klägers im Bundesgebiet einer generalpräventiv motivierten Ausweisung nicht entgegen, weil die von ihm verwirklichte schwerwiegende bandenmäßige Betäubungsmittelkriminalität in einem erheblichen Maße die Interessen des Staates bzw. der Gesellschaft gefährdet und im konkreten Fall das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels sein Privatinteresse an einem weiteren Verbleib überwiegt.
1.)
100 
Der der zwingenden Ausweisung nach § 53 AufenthG innewohnende Zweck, andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten abzuhalten, ist im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung des Klägers nicht in einer die Verhältnismäßigkeit berührenden Weise schon dadurch entwertet oder gemindert, dass die Ausweisung bis heute nicht vollzogen ist, andere Bandenmitglieder nicht ausgewiesen worden sind bzw. eine generalpräventive Ausweisung im Kampf gegen die Betäubungsmittelkriminalität ein Fremdkörper in dem durch die strafrechtliche Anerkennung von Aufklärungshilfen geprägten System wäre.
101 
Unter dem zeitlichen Gesichtspunkt kommt es nur darauf an, dass die Ausländerbehörde im Rahmen der Erfordernisse des Verwaltungsverfahrens die Ausweisung zeitnah verfügt. (vgl. hierzu auch VGH Bad.-Württ. Urteil vom 26.07.2001 - 13 S 2401/99 - juris Rn. 29). Das Regierungspräsidium leitete bereits am 25.08.2005 das Ausweisungsverfahren ein, gab dem Prozessbevollmächtigten des Klägers nach Erhalt des Strafurteils am 02.03.2006 Gelegenheit zur Stellungnahme und erließ am 04.10.2006 und damit ohne zeitliche Verzögerung die Ausweisungsverfügung. Dass diese bis heute nicht vollzogen ist und die Generalprävention erst aufgrund der Erkenntnis, dass der Kläger seine Rechte aus dem ARB 1/80 verloren hat, „ins Spiel kommt“, ist Konsequenz des Rechtsschutzsystems und steht als solches der Eignung der generalpräventiven Wirkung nicht entgegen. Die Verhältnismäßigkeit wird im konkreten Fall auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der „Bandenchef“ Hadi Y., der es im Gegensatz zum Kläger nicht abgelehnt hat, in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden, und auch die Brüder des Klägers N. und M., die Rechtsstellungen nach dem ARB 1/80 besitzen, nach wie vor in Deutschland leben. Die gegen die Brüder ergangenen Ausweisungsverfügungen des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 28.04.2005 bzw. 03.05.2005 sind vom Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteilen vom 22.02.2006 - 16 K 1744/05 - und vom 05.07.2006 - 16 K 1821/05 - wegen eines formellen Fehlers rechtskräftig aufgehoben worden. Die Fälle sind schon aufgrund der unterschiedlichen Sachverhalte und der jeweils einschlägigen Rechtsgrundlagen nicht mit der hier vorliegenden Konstellation vergleichbar. Was schließlich den Einwand der fehlenden „Systemkonformität“ von Ausweisung und Aufklärungshilfe nach § 31 BtMG anbelangt, so kommt dem schon deshalb keine Bedeutung zu, weil sich der Gesetzgeber in Kenntnis des im Prinzip seit 1982 geltenden § 31 BtMG (Weber, BtMG, a.a.O., § 31 Rn. 4) zu einer Verschärfung des Ausweisungsrechts gerade im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität entschlossen hat. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994 schuf in § 47 Abs. 1 Nr. 3 AuslG eine zwingende Ausweisung wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz, um dem aus dem Interesse an konsequenter Bekämpfung der Drogenkriminalität hergeleiteten Grundsatz Rechnung zu tragen, dass ausländische Drogentäter ihr Aufenthaltsrecht verwirken und aus dem Bundesgebiet ausgewiesen werden (so die Begründung des Gesetzentwurfs BT-Drs. 12/6853, S. 30). Der Gesetzgeber hat die Konsequenzen und die Anerkennung geleisteter Aufklärungshilfe nach Maßgabe des § 31 BtMG - wie in der Systematik angelegt - grundsätzlich auf das Strafrecht beschränkt.
2.)
102 
Auch Art. 8 EMRK hindert im vorliegenden Fall nicht daran, den Kläger aus generalpräventiven Gründen auszuweisen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte steht der Generalprävention als Ausweisungszweck zwar grundsätzlich kritisch gegenüber (Senatsurteil vom 18.03.2011 - 11 S 2/11 - juris Rn. 28), hat deren Zulässigkeit aber bisher nicht ausdrücklich verneint, sondern dies vielmehr als einen Aspekt der Einzelfallprüfung behandelt (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 06.12.2007 - Nr. 69735/01 - InfAuslR 2008, 111 und vom 28.06.2007 - Nr. 31753/02 - InfAuslR 2007, 325; näher Hoppe, Neuere Tendenzen in der Rechtsprechung zur Aufenthaltsbeendigung - gibt es eine gemeinsame Linie in den Entscheidungen von EGMR, EuGH und BVerfG?, ZAR 2008, 251, 253 m.w.N.). Der Gerichtshof betont in seiner Rechtsprechung die verheerenden Folgen von Drogen auf das Leben der Menschen und „hat Verständnis dafür, dass die Behörden mit großer Bestimmtheit gegen jene vorgehen, die aktiv zur Verbreitung dieser Plage beitragen“ (EGMR, Urteil vom 12.01.2010 - Nr. 47486/06 - ). Speziell was den bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmittel anbelangt, hat der EuGH in dem zur Unionsbürgerrichtlinie ergangenen Urteil vom 23.11.2010 (C-145/09 - Rn. 46 ff.) darauf verwiesen, dass dieser eine diffuse Kriminalität darstelle, die mit beeindruckenden wirtschaftlichen und operativen Mitteln ausgestattet sei und sehr häufig über internationale Verbindungen verfüge. Angesichts seiner verheerenden Folgen sei mit dem illegalen Drogenhandel eine Bedrohung der Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Unionsbürger sowie der legalen Wirtschaftstätigkeit, der Stabilität und der Sicherheit der Mitgliedstaaten verbunden.
103 
Aufgrund der oben im Einzelnen dargelegten Intensität und des Umfangs des bandenmäßigen Drogenhandels, der im konkreten Fall auch mit den typischen Gefahren der Rauschgiftkriminalität tatsächlich verbunden gewesen ist, erweist sich die generalpräventive Ausweisung des Klägers, der in diesem illegalen „Geflecht“ eine führende Stellung eingenommen hat, unter Berücksichtigung seiner persönlichen Belange und dem Interesse an einer weiteren Lebensführung im Bundesgebiet (vgl. insoweit oben unter III.) als verhältnismäßig.
V.)
104 
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 2 Satz 1, 155 Abs. 1 Satz 3 154 Abs. 2 VwGO.
105 
Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
106 
Soweit der Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt worden ist, ist das Urteil unanfechtbar.
107 
Beschluss vom 15. April 2011
108 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gem. § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
109 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Gründe

 
29 
Es bestand für den Senat keine Veranlassung, dem unter Hinweis auf eine seit drei Tagen bekannte Schwangerschaft der Lebensgefährtin des Klägers mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 28.04.2011 gestellten Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu entsprechen. Dem steht schon entgegen, dass der unterschriebene Urteilstenor zum Zwecke der Bekanntgabe an die Beteiligten auf Nachfrage seit dem 15.04.2011 auf der Geschäftsstelle niedergelegt ist und zum Zeitpunkt des Eingangs des Schriftsatzes am 29.04.2011 damit die Entscheidung vom Senat nicht mehr geändert werden konnte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.04.2005 - 5 B 107.04 - juris Rn. 7 und vom 24.06.1971 - I CB 4.69 - juris Rn. 52; Bader/Funke-Kaiser/ Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 5. Aufl. 2011, § 116 Rn. 10). Abgesehen davon wäre eine Wiedereröffnung auch in der Sache nicht erforderlich gewesen, denn dass der Kläger mit seiner jetzigen Lebensgefährtin in familiärer Lebensgemeinschaft lebt und beide ein gemeinsames Kind haben wollen, war bereits Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 15.04.2011, insbesondere auch der Angaben des Klägers während seiner Anhörung vor dem Senat.
30 
Soweit die Beteiligten hinsichtlich der Abschiebungsandrohung den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12.03.2008 - 8 K 3985/06 - ist damit insoweit unwirksam, als die Klage gegen Ziffer 2 der Ausweisungsverfügung abgewiesen worden ist (§ 173 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO entsprechend).
31 
Im Übrigen bleibt die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch sonst zulässige, insbesondere fristgerecht und formell ordnungsgemäß begründete (§ 124a Abs. 3 VwGO) Berufung des Klägers ohne Erfolg. Die Ausweisung ist nach der maßgebenden Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.12.2008 - 1 C 35.07 - NVwZ 2009, 326 und vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - AuAS 2008, 40) rechtmäßig und verletzt schon deshalb den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Kläger besitzt nicht mehr die Rechtsstellungen nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich und Art. 7 Satz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG - Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80); auch aus Art. 6 ARB 1/80 stehen ihm keine Rechte zu (I.). Nach nationalem Recht beruht die verfügte Ausweisung auf § 53 AufenthG; der Kläger genießt im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt keinen besonderen Ausweisungsschutz (II.). Seine Ausweisung als eines hier geborenen und aufgewachsenen Ausländers der 2. Generation ist wegen der von ihm nach wie vor ausgehenden Wiederholungsgefahr auch im Hinblick auf sein im Bundesgebiet geführtes Privat- und Familienleben nach Art. 8 EMRK und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verhältnismäßig (III.). Im Übrigen stehen einer Ausweisung aus generalpräventiven Gründen aufgrund der von ihm begangenen schwerwiegenden bandenmäßigen Betäubungsmittelkriminalität, die in erheblichem Maße die Interessen des Staates und der Gesellschaft gefährdet, Art. 8 EMRK sowie Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG nicht entgegen (IV.).
I.)
32 
Das assoziationsrechtlich begründete Aufenthaltsrecht des Klägers ist erloschen, weil er seinen Aufnahmemitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat, indem er Anfang April 2004 aus Deutschland geflohen ist, um sich auf Dauer seiner Strafverfolgung im Bundesgebiet zu entziehen.
1.)
33 
Der aufenthaltsrechtliche Status des Klägers beruhte bis April 2004 auf Art. 7 ARB 1/80. Sein Vater hatte ausweislich einer Arbeitsbescheinigung vom 29.09.1997 seit 1974 als Verzinkereihelfer bei S. ... Feuerverzinken GmbH gearbeitet. Der Kläger wurde als Sohn eines in der Vergangenheit dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers im Bundesgebiet geboren und lebte in der Folgezeit mehr als fünf Jahre ununterbrochen ordnungsgemäß mit seinen Eltern in familiärer Lebensgemeinschaft (vgl. zur Notwendigkeit des tatsächlichen Zusammenlebens während dieser Zeit EuGH, Urteil vom 17.04.1997 - C-351/97 - Rn. 35 ff. und vom 22.06.2000 - C-65/98 - Rn. 28 ff.), was zum Erwerb einer Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 führte. Dass ihm selbst nach Aktenlage erst am 02.10.1997 ein Aufenthaltstitel in Gestalt einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis erteilt worden war, spielt insoweit keine Rolle. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 07.07.2005 - C-373/03 - Rn. 22) gelangen die Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, auch ohne dass zuvor eine Genehmigung zum Zwecke der Familienzusammenführung erteilt worden ist, dann zur Entstehung, wenn der türkische Familienangehörige im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und stets dort gelebt hat. Aufgrund der nach dem Hauptschulabschluss erfolgreich am 18.07.2001 abgeschlossenen Lehre als Verpackungsmitteltechniker besaß der Kläger auch eine Rechtstellung nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80. Der Erwerb dieser Rechte ist allerdings nicht mit Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft (heute: Europäische Union) verbunden; ein türkischer Staatsangehörige besitzt nur im Aufnahmemitgliedstaat bestimmte Rechte (EuGH, Urteil 21.01.2010 - C-462/08 - Rn. 37 und vom 18.07.2007 - C-325/05 - Rn. 66).
2.)
34 
Der Kläger hat die Rechte aus Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich und Art. 7 Satz 2 ARB 1/80, die ein Aufenthaltsrecht implizieren (EuGH, Urteil vom 07.07.2005 -C-373/03 - Rn. 25, vom 11.11.2004 - C-467/02 - Rn. 31 und vom 16.03.2000 - C-329/97 - Rn. 40; BVerwG, Urteil vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - juris Rn. 11), durch seine Flucht aus dem Bundesgebiet vor der ihm hier drohenden Strafverfolgung verloren.
35 
Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 dient dem Zweck, günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu schaffen. Die Vorschrift will die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, dadurch fördern, dass ihm in diesem Staat die Aufrechterhaltung familiärer Bande ermöglicht wird. Zur Förderung der dauerhaften Eingliederung der Familie des türkischen Arbeitnehmers gewährt die Vorschrift seinen Familienangehörigen nicht nur ein Aufenthaltsrecht, sondern nach einer bestimmten Zeit das Recht, im Aufnahmemitgliedstaat eine Beschäftigung auszuüben. Die fortschreitende persönliche Integration des türkischen Arbeitnehmers und seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstat sollen erleichtert und gefördert werden (EuGH, Urteil vom 07.07.2005 - C-373/03 - Rn. 22 ff. und vom 17.04.1997 - C-351/95 - Rn. 34; Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 4 AufenthG Rn. 162; GK-AufenthG, Art. 7 ARB 1/80 Rn. 33).
36 
Die Regelung in Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 stellt gegenüber Satz 1 eine Privilegierung dar, die unter den Familienangehörigen der türkischen Arbeitnehmer die Kinder besonders behandeln will, indem sie ihnen den Eintritt in den Arbeitsmarkt nach Abschluss einer Berufsausbildung zu erleichtern sucht, damit die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß dem Zweck dieses Beschlusses schrittweise verwirklicht wird (EuGH, Urteil vom 21.01.2010 - C-462/08 - Rn. 25 ff. und vom 16.02.2006 - C-502/04 - Rn. 23). Die unterschiedliche Ausgestaltung der Rechte aus Art. 7 Satz 1 und Satz 2 ARB 1/80 ist Ausdruck der fortgeschrittenen Integration der Kinder türkischer Arbeitnehmer. Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 hängt lediglich von der Voraussetzung ab, dass das Kind des betreffenden türkischen Arbeitnehmers während seines rechtmäßigen Aufenthalts eine Berufsausbildung abgeschlossen hat und ein Elternteil in diesem Staat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war (vgl. Renner, a.a.O. § 4 AufenthG Rn. 171 ff. und GK-AufenthG, Art. 7 ARB 1/80 Rn. 111 jew. m.w.N.).
37 
Nach der Rechtsprechung des EuGH gelten allerdings unabhängig davon, ob der konkrete Ausgangssachverhalt unter den ersten oder den zweiten Satz des Art. 7 ARB 1/80 fällt, für den Verlust der erworbenen Rechte dieselben Voraussetzungen (Urteil vom 18.07.2007 - C-325/05 - Rn. 45 und vom 16.02.2006 - C-502/04 - Rn. 24 f.). Sowohl die Rechtsposition nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 als auch diejenige nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich - und damit das Aufenthaltsrecht - erlöschen, wenn der türkische Staatsangehörige den Aufnahmemitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat (st. Rspr. des EuGH; vgl. etwa Urteil vom 22.12.2010 - C-303/08 - Rn. 42, vom 04.02.2010 - C-14/09 - Rn. 42, vom 18.12.2008 - C-337/07 - Rn. 62, vom 25.09.2008 - C-453/07 - Rn. 30 f., vom 18.07.2007 - C-325/05 - Rn. 45, vom 16.02.2006 - C-502/04 - Rn. 25, vom 07.07.2005 -C-373/03 - Rn. 27, vom 11.11.2004 - C-467/02 - Rn.36 und vom 17.04.1997 - C-351/95 - Rn. 48). Unter welchen Voraussetzungen von einem Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe auszugehen ist, obliegt in erster Linie der Feststellung der nationalen Gerichte (vgl. auch EuGH, Urteil vom 18.07.2007 - C-325/05 - Rn. 43) und bestimmt sich anhand von Sinn und Zweck des Art. 7 ARB 1/80 (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 - 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 ff. Rn. 27; BayVGH, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 - juris Rn. 4; NdsOVG, Beschluss vom 11.01.2008 - 11 ME 418/07 - juris Rn. 5 f.; VG Ansbach, Urteil vom 25.02.2010 - AN 5 K 09.01143 -juris Rn. 25 f.; Renner, a.a.O., § 4 Rn. 162; Kurzidem, Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht türkischer Staatsangehöriger im Spiegel der neueren Rechtsprechung, ZAR 2010, 121, 124 f.). Der Umstand, dass der Verlustgrund auf beide Sätze des Art. 7 ARB 1/80 Anwendung findet, schließt es indessen nicht aus, dass es, je nachdem wie verfestigt die Lebensverhältnisse des Ausländers im Bundesgebiet sind, im Einzelfall geboten sein kann, bei dessen Prüfung die innerhalb des Art. 7 ARB 1/80 erreichte „Stufe“ mit in den Blick zu nehmen. Wer als - insbesondere hier geborenes und aufgewachsenes - Kind eines Migranten den „Integrationsgrad“ des Satzes 2 erreicht hat, läuft bei gleich langem Auslandsaufenthalt weniger Gefahr, den Integrationszusammenhang mit dem Aufnahmemitgliedstaat zu verlieren als derjenige, der sich - z.B. als nachgezogener Ehepartner - nach dreijährigem ordnungsgemäßen Aufenthalt gerade erst auf Art. 7 Satz 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 berufen kann. Allerdings ist das Merkmal des „nicht unerheblichen Zeitraums“ nicht allein nach der tatsächlich außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats verbrachten Zeit zu würdigen, sondern im Zusammenhang mit den Gründen und Absichten für die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, denn der Verlustgrund knüpft daran an, dass der rechtliche Besitzstand, den der türkische Staatsangehörige nach Art. 7 Satz 1 oder 2 ARB 1/80 erworben hat, deshalb verloren geht, weil er diesen freiwillig verlassen (vgl. auch EuGH, Urteil vom 16.03.2000 - C-329/97 - Rn. 51) und „die Bande, die ihn mit diesem Mitgliedstaat verbunden haben, selbst gelöst hat“ (so die Formulierung in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 11.01.2007 - C-325/05 - Rn. 33).
38 
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Kläger sein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 und Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 mit seiner Flucht in die Niederlande Anfang April 2004 verloren. Nach der Verhaftung von Mitgliedern der Bande am 07.04.2004, von der der Kläger noch am gleichen Tag erfuhr, und einem anschließenden dreitägigen Aufenthalt in Hotels in ... flüchtete er in die Niederlande, um sich auf unabsehbare Zeit außerhalb Deutschlands aufzuhalten und sich so seiner Festnahme zu entziehen. Dies ergibt sich sowohl aus seiner Aussage während seinen polizeilichen Vernehmungen als Beschuldigter (unter anderem am 17.11.2005) als auch aus seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat. Es sei ihm darum gegangen wegzukommen. Er habe damals Angst vor dem Gefängnis gehabt und sich auf keinen Fall stellen wollen. Für die ihm seinerzeit vorgeworfenen Straftaten beträgt die Verfolgungsverjährung nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB zwanzig Jahre, da die Taten nach §§ 29a Abs. 1 und 30a Abs. 1 BtMG i.V.m. § 38 Abs. 2 StGB im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren bedroht sind. Auch wenn ihm dies möglicherweise nicht so dezidiert bekannt gewesen sein dürfte, war ihm aber aufgrund einer Parallelwertung in der Laiensphäre durchaus bewusst, für einen langen Zeitraum damit rechnen zu müssen, für die von ihm verübten gravierenden Straftaten belangt zu werden und bei einer Verurteilung eine langjährigen Gefängnisstrafe zu erhalten. Der späteren Anklage ist ein (auch bandenmäßiges) Handeltreiben mit Marihuana in einer Gesamtgrößenordnung von etwa 230 kg und von Kokain mit 0,5 kg zugrunde gelegt worden. Tatsächlich waren jedoch - was der Staatsanwaltschaft bei der Anklageerhebung so nicht bekannt gewesen ist - unter Beteiligung des Klägers bis zu seiner Flucht mehr als 1,5 t Marihuana und mehrere Kilogramm Kokain und Ecstasy-Tabletten umgesetzt worden. Unter diesem Eindruck traf er von sich aus die Entscheidung, seinen Wohnsitz im Bundesgebiet aufzugeben und sich für unabsehbare Zeit im Ausland aufzuhalten, um hier nicht strafrechtlich belangt zu werden. Dass der ihm persönlich bekannte Lieferant von Betäubungsmitteln ... E. sich in den Entscheidungsprozess des Klägers „eingeschalten“ und ihm gesagt habe, „er solle zusehen, dass er nach Amsterdam komme“ - so die Angaben des Klägers in seiner polizeilichen Vernehmung vom 17.11.2005 - stellt die Verantwortung des Klägers für seine Entscheidung, in das Ausland zu fliehen, nicht in Frage. Insbesondere sind auch keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass auf ihn - etwa durch seine Lieferanten - in einer Weise Zwang ausgeübt worden wäre, die seine freie Willensbetätigung beeinträchtigt hätte.
39 
Der Kläger hat auch durch sein Verhalten in den Niederlanden während der 14 Monate bis zu seiner dortigen Verhaftung unter Beweis gestellt, dass er Deutschland mit seiner Flucht Anfang April 2004 nicht nur vorübergehend verlassen, sondern für sich unter dem Eindruck der hier drohenden Strafverfolgung langfristig und zeitlich völlig unbestimmt ein Leben außerhalb des Bundesgebiets vorgesehen hat. Die Beschaffung eines fremden türkischen Reisepasses unter Nutzung von Verbindungen zur Stuttgarter Rauschgiftszene, vor allem aber die Fortsetzung seiner Betäubungsmittelkriminalität dort verdeutlichen, dass er sich nicht nur vorübergehend auf ein Leben in einem anderen Land eingestellt hatte.
40 
Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausgeführt hat, es sei ihm darum gegangen, mit dem Pass von einem der E.-Zwillinge in den Niederlanden durch Kontrollen zu kommen, weil er als gesuchte Person ja schlecht seinen eigenen Pass, den er in die Niederlande mitgenommen gehabt habe, habe vorlegen können, mag dies auch ein Motiv gewesen sein. Wie im polizeilichen Ermittlungsbericht vom 04.08.2005 im Einzelnen dargelegt ist, diente die Beschaffung des fremden Passes, der dem Kläger direkt nach Holland gebracht wurde und für den E. einen Abzug von 5.000 EUR auf seine Schulden aus Rauschgiftgeschäften erhielt (so die Angaben des Klägers in seiner Vernehmung vom 09.03.2006), aber vor allem dazu, sich mit diesem in die Türkei absetzen. Dies hat der Kläger in seiner polizeilichen Vernehmung vom 17.11.2005 ausdrücklich eingeräumt. Dass er von den Niederlanden aus in die Türkei gehen wollte, wird vor allem durch Protokolle aus der Überwachung der Telekommunikation belegt. In einem am 28.05.2005 zwischen dem Kläger und seinem Vater in türkischer Sprache geführten Telefonat äußerte sich der Kläger auf die Frage seines Vaters, ob er in die Türkei gehen werde: „Ja Vater, sprich nicht am Telefon, ich habe doch gesagt, wir werden uns sehen“. Ob die Absicht des Klägers, in die Türkei zu gehen, auf dem Vorschlag von ... T. beruhte, der die Bande Y. ebenfalls mit Rauschgift beliefert hatte und bei dem sich der Kläger zuletzt in den Niederlanden aufhielt (so seine Angaben in der polizeilichen Vernehmung vom 17.11.2005), oder ob die Initiative hierfür von seinem Vater ausging (so seine Einlassung in der Berufungsverhandlung), ist insoweit ohne Bedeutung. Vor allem aber organisierte der Kläger in den Niederlanden in zehn Fällen Marihuanalieferungen an die Zwillingsbrüder E., wobei in sechs Fällen 10 kg und in vier Fällen 10 - 15 kg nach Deutschland gebracht und von diesen an die ehemaligen Abnehmer der Bande Y. verteilt wurden. Dies ergibt sich aus dem Vermerk des die damaligen Ermittlungen des Gesamtkomplexes leitenden Polizeibeamten KHK K. vom 12.07.2006 im Ermittlungsverfahren 221 Js 26457/06, der auf den entsprechenden Angaben des Klägers beruht. Wie der Kläger später selbst einräumte, hätte das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln kein Ende genommen, wäre er nicht in Haft gekommen (so seine von Dr. X. in ihrem Gutachten vom 07.09.2010 festgehaltene Äußerung).
41 
Für die Frage des Verlustes des Aufenthaltsrechts spielt es keine Rolle, dass der Kläger nach seinen Angaben im Berufungsverfahren während der Zeit in den Niederlanden seine Familie in Köln getroffen haben will sowie ab und zu nach Heinsberg gefahren sei. Es spricht schon einiges dafür, dass dieser Vortrag nicht den Tatsachen entspricht. Der Kläger hat in seinen polizeilichen Vernehmungen, in denen er sehr ausführlich Angaben über seine Zeit in den Niederlanden gemacht hat, solche Treffen nicht erwähnt. Ausweislich des polizeilichen Vermerks vom 12.11.2004 und des Ermittlungsberichts vom 04.08.2005 äußerten sich die Eltern und die Brüder ... und ... in mehreren Befragungen dahingehend, es bestünde keinerlei Kontakt zu dem Kläger und ihnen sei unbekannt, wo er sich aufhalte, der letzte Kontakt sei Ostern 2004 gewesen. Auch ist wenig plausibel, weshalb der Kläger - bei fortgesetzten Drogengeschäften in den Niederlanden - das Risiko einer Entdeckung in Deutschland hätte eingehen sollen. Für die Einschätzung, dass es sich um ein taktisches Vorbringen im Rahmen des Ausweisungsverfahrens handelt, spricht auch der Umstand, dass angebliche Treffen in Köln erstmals mit Schriftsatz vom 26.01.2011 vorgetragen worden sind, nachdem zuvor auf die Möglichkeit des Erlöschens des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts hingewiesen worden war. Die Einlassung, er sei auch mit ... T. nach Heinsberg gefahren, ist sogar erstmals in der Berufungsverhandlung erfolgt. Ob der Vortrag des Klägers zutrifft, kann jedoch dahingestellt bleiben. Mit seiner Flucht in die Niederlande im April 2004 in dem Willen, auf unbestimmte Zeit Deutschland „den Rücken zuzukehren“, hat er die mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpfte Integrationsverbindung freiwillig durchtrennt und damit sein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht verloren; dieses lebt auch dann nicht wieder auf, wenn er -aus welchen Motiven auch immer -danach (immer wieder) zu Kurzaufenthalten in das Bundesgebiet eingereist ist.
42 
Die Beurteilung, dass das Verhalten des Klägers zum Verlust seiner Rechte aus Art. 7 ARB/80 geführt hat, steht auch mit dem allgemeinen Zweck der Assoziation und vor allem des ARB 1/80 in Einklang. Der Beschluss vom 19.09.1980 über die Entwicklung der Assoziation verfolgt auch das Ziel, die Rechtstellung türkischer Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen im sozialen Bereich zu verbessern (vgl. die dritte Begründungserwägung), indem ihr arbeits- und aufenthaltsrechtlicher Status gegenüber früheren Regelungen verbessert wird. Dies spricht dafür, für das Verlassen des Mitgliedstaats dann „berechtigte Gründe“ anzunehmen, wenn diese Ausdruck allgemein üblicher, sozialtypischer Verhaltensweisen sind, wie etwa Urlaub und Verwandtenbesuch (so zu diesen beiden Beispielen EuGH, Urteil vom 17.04.1997 - C-351/95 - Rn. 48), oder durch staatsangehörigkeitsbezogene Rechte oder Pflichten bedingt sind, etwa die Ableistung von Wehrdienst (Senatsbeschluss vom 31.07.2007 - 11 S 723/07 - juris Rn. 3 f.; BayVGH, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 - juris Rn. 5 ff.). Vor dem Hintergrund dieser Intention des ARB 1/80 besteht aber keine Veranlassung, einmal erworbene Rechte auch dann unangetastet zu lassen, wenn das Verlassen des Aufnahmemitgliedstaates in der Absicht erfolgt, dessen Strafverfolgungsanspruch zu durchkreuzen; denn ein solches Verhalten ist weder schutzbedürftig noch schutzwürdig.
43 
Diesem Ergebnis steht schließlich Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38/EG (ABl. L 158 vom 30.04.2004) nicht entgegen. Nach dieser Regelung der Unionsbürgerrichtlinie führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander folgende Jahre überschreitet, zum Verlust des erworbenen Daueraufenthaltsrechts, ohne dass es nach dem Wortlaut auf die Art der Gründe ankommt. Es kann dahin gestellt bleiben, ob diese Bestimmung direkt - oder jedenfalls als Orientierungsrahmen (so BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 - 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 - Rn. 27; OVG Berlin, Urteil vom 11.05.2010 - OVG 12 B 26.09 - juris Rn. 37 f.; BayVGH, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 - juris Rn. 9 ff.) - auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige überhaupt Anwendung findet (die Übertragung der Unionsbürgerrichtlinie auf assoziationsrechtliche türkische Staatsangehörige generell ablehnend Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.04.2011 - C-371/08 - Rn. 42 ff.) und welche inhaltliche Bedeutung ihr beizumessen wäre (vgl. zu dem letzten Aspekt auch EuGH, Urteil vom 23.11.2010 - C-145/09 - Rn. 30 ff.). Die Unionsbürgerrichtlinie vom 29.04.2004 ist am Tag ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft getreten (Art. 41) und bis zum 30.04.2006 umzusetzen gewesen (Art. 40). Der Kläger hat jedoch seine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 bereits vor dem Inkrafttreten dieser Richtlinie dadurch verloren, indem er Anfang April 2004 in die Niederlande geflohen ist. Die Anwendung von Art. 16 Abs. 4 der Unionsbürgerrichtlinie würde damit im vorliegenden Fall ins Leere gehen, weil ein Aufenthaltsrecht, an das die Regelung anknüpfen könnte, schon erloschen gewesen ist.
3.)
44 
Die Rechtsstellung aus Art. 6 Satz 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80, die der Kläger aufgrund seiner dreijährigen Ausbildung und der unmittelbar daran anschließenden etwa zweijährigen Beschäftigung innehatte, und die neben der Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 bestand (zum Nebeneinander von Art. 6 und 7 ARB 1/80 EuGH, Urteil vom 05.10.1994 - C-355/93 - Rn. 16 ff.; GK-AufenthG, Art. 7 ARB 1/80 Rn. 129 f.), ist ebenfalls erloschen. Der Kläger bezog nach der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses Arbeitslosengeld. Spätestens Mitte 2003 traf er die Entscheidung, sein Einkommen durch Drogengeschäfte im „großen Stil“ zu bestreiten und setzte diese entsprechend um. Dass der Kläger den Rauschgifthandel „berufsmäßig“ betrieb, hat auch der Zeuge KHK K. in der mündlichen Verhandlung anschaulich bekundet. Bemühungen um Aufnahme einer regulären Erwerbstätigkeit sind offensichtlich nicht mehr entfaltet worden. Von einer nur vorübergehendenden Abwesenheit vom Arbeitsmarkt in dieser Zeit ist nicht mehr auszugehen (vgl. zu den Kriterien für die Beibehaltung der Arbeitnehmereigenschaft bei Arbeitslosigkeit Renner, a.a.O., § 4 Rn. 132 ff.). Damit hatte er seine Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt schon vor seiner Flucht in die Niederlande endgültig verloren gehabt. Selbst wenn man zugunsten des Klägers eine andere Sichtweise annehmen würde, ist jedenfalls - entsprechend den Ausführungen oben unter I. 2.) - mit der Aufgabe seines Lebensmittelpunktes im Bundesgebiet Anfang April 2004 seine Rechtsstellung erloschen.
4.)
45 
Die Rechte aus Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 sind auch nicht erneut zur Entstehung gelangt.
46 
Der Kläger erhält seit dem 30.08.2009 eine von der Bundesagentur für Arbeit auf der Grundlage der §§ 77 ff. SGB III finanzierte berufliche Weiterbildungsmaßnahme zum Mediengestalter, die zum 31.08.2011 abgeschlossen sein soll, sowie nach § 117 Abs. 1 Nr. 2 SGB III Arbeitslosengeld. Teil dieser Weiterbildung ist auch eine praktische Tätigkeit in Firmen. Er absolviert sein Praktikum seit 02.11.2010 bis voraussichtlich Ende Juli 2011 bei einer Firma in ..., wo ihm nach Ende des Praktikums eine Festanstellung angeboten werden soll. Dies könnte dafür sprechen, dass der Kläger erneut dem Arbeitsmarkt der Bundesrepublik angehört. Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 sind aber jedenfalls deshalb nicht begründet worden, weil es an einer ordnungsgemäßen Beschäftigung fehlt. Die ordnungsgemäße Beschäftigung setzt eine gesicherte und nicht nur vorläufige Rechtsposition des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt und damit das Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechts voraus; außerdem muss die Beschäftigung im Einklang mit den aufenthaltsrechtlichen und arbeitserlaubnisrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats stehen (EuGH, Urteil vom 06.06.1995 - C-434/93 - Rn. 26 ff. und vom 24.01.2008 - C-294/06 - Rn. 30 ff.; Renner, a.a.O., § 4 AufenthG Rn. 115). Der Kläger hält sich jedoch seit seiner ausschließlich in Vollstreckung des staatlichen Strafverfolgungsanspruchs zwangsweise durchgesetzten Rückkehr in das Bundesgebiet am 12.08.2005 ohne Aufenthaltserlaubnis hier auf. Die unbefristete Aufenthaltserlaubnis vom 02.10.1997 ist infolge seiner Flucht aus dem Bundesgebiet seit April 2004 erloschen (siehe dazu unten II.). In der Folgezeit wurde weder ein Aufenthaltstitel beantragt noch erteilt. Die dem Kläger seit seiner Haftentlassung fortlaufend verlängerten Duldungen sind aufgrund ihrer Rechtsnatur nicht geeignet, Ansprüche aus Art. 6 ARB 1/80 entstehen zu lassen, da sie nicht die Gewährung eines Aufenthaltsrechts beinhalten (GK-AufenthG, Art. 6 ARB 1/80 Rn. 132).
47 
Auch eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 ist nicht neu erworben worden. Hat ein Familienangehöriger die Rechtsstellung aus Art. 7 ARB 1/80 verloren und reist er später wieder in den früheren Aufnahmemitgliedstaat ein, so muss er erneut eine Aufenthaltserlaubnis beantragen, deren Erteilung sich allein nach den aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen des Mitgliedstaats richtet (EuGH, Urteil vom 18.07.2007 - C-325/05 - Rn. 67 und vom 16.03.2000 - C-329/97 - Rn. 49). Erst in Anknüpfung an einen dann rechtmäßigen Aufenthalt kann eine Berufung auf Art. 7 ARB 1/80 in Betracht kommen (vgl. näher EuGH, Urteil vom 21.01.2010 - C-462/08 - Rn. 39, 45). Eine erneute Legalisierung des Aufenthalts des Klägers ist aber bis heute nicht erfolgt.
II.)
48 
Rechtsgrundlage der verfügten Ausweisung ist § 53 AufenthG. Durch die rechtskräftige Verurteilung zu einer Gesamtstrafe von neun Jahren Freiheitsstrafe wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwölf tatmehrheitlichen Fällen sowie unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechzehn tatmehrheitlichen Fällen ist sowohl der Tatbestand der Ist-Ausweisung nach § 53 Nr. 1 AufenthG als auch derjenige nach § 53 Nr. 2 AufenthG verwirklicht.
1.)
49 
Der Kläger genießt keinen besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, weil die unbefristete Aufenthaltserlaubnis vom 02.10.1997 im April 2004 nach § 44 Abs. 1 AuslG 1990 erloschen war und daher nicht gem. § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgelten konnte.
50 
Nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1990 erlischt die Aufenthaltsgenehmigung, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund ausreist. Eine entsprechende Regelung sah schon § 9 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1965 vor. Wie oben unter I 2.) bereits dargelegt, wollte sich der Kläger mit seiner Flucht in die Niederlande Anfang April 2004 einer Strafverfolgung im Bundesgebiet auf unabsehbarer Zeit entziehen. In einem solchen Fall erfolgt die Ausreise aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund (Senatsbeschluss vom 22.01.2004 - 11 S 192/04 - juris Rn. 8 ff.; ebenso GK-AufenthG, § 51 Rn. 47 und Renner, a.a.O., § 51 Rn. 9 jew. zur wortgleichen Bestimmung in § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG). Dies führte kraft Gesetzes mit dem Verlassen des Bundesgebiets zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1990, ohne dass es hierzu einer besonderen Feststellung bedurfte. Die Aufenthaltserlaubnis lebt auch nicht wieder auf, wenn der Betreffende später - und sei es nur kurze Zeit nach der Ausreise - "anderen Sinnes" wird und in die Bundesrepublik zurückkehrt (vgl. Senatsurteil vom 10.04.2002 - 11 S 2269/01).
51 
Ob die Aufenthaltserlaubnis ungeachtet des Umstands, dass das Ausländergesetz 1965 - anders als das Ausländergesetz 1990 - keinen Verlusttatbestand für eine Aufenthaltserlaubnis enthielt, der allein an den Ablauf einer zeitlich bestimmten Frist für die Wiedereinreise anknüpfte, auch nach § 44 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990 erloschen ist, weil der Kläger nicht innerhalb von 6 Monaten nach seiner Ausreise (freiwillig) in das Bundesgebiet wieder eingereist ist, bedarf keiner Entscheidung mehr. Die Frage nach der Vereinbarkeit der Regelung in § 44 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990 mit den Stillhalteklauseln (Art. 41 Abs. 1 ZP und Art. 13 ARB 1 /80) kann daher offen bleiben (dies bejahend BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 - 1 C.6.08 - BVerwGE 134, 27 Rn 16 ff.).
52 
Soweit § 44 Abs. 1a und 1b AuslG in der bis 31.12.2004 geltenden Fassung Ausnahmen vom Erlöschen der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 44 Abs.1 Nr. 2 und 3 AuslG vorsahen, griff diese Privilegierung beim Kläger nicht ein, da er die Voraussetzungen dieser Bestimmungen nicht erfüllte. Die gegenüber der Vorgängernorm personell und inhaltlich günstigere Regelung des § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in der Fassung des Zuwanderungsgesetzes ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da der Erlöschensgrund bereits vor dem 01.01.2005 eingetreten war. Im Übrigen hätte diese auch nicht zu einem für den Kläger besseren Ergebnis geführt. Nach § 52 Abs. 2 Satz 1 AufenthG 2005 erlischt die Niederlassungserlaubnis eines Ausländers, der sich mindestens 15 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7, wenn sein Lebensunterhalt gesichert ist. Unabhängig davon, ob für die Prognose zur Sicherung des Lebensunterhalts auf den Zeitpunkt der Ausreise (VG München, Urteil vom 27.11.2007 - M 4 K 07.3681 - juris Rn. 42 ff.), des - mit der Ausreise nicht zwangsläufig identischen - mutmaßlichen Erlöschens (OVG NRW, Beschluss vom 30.03.2010 - 18 B 111/10 - juris Rn. 8) oder der Wiedereinreise (BayVGH, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 - juris Rn. 14) abzustellen wäre, hätte eine positive Prognose nicht getroffen werden können. Der Kläger finanzierte jedenfalls ab 2003 sein Leben ausschließlich aus den Gewinnen der Drogenkriminalität und hatte im Zeitpunkt der „Wiedereinreise“ im Wege der Auslieferung einen langen Gefängnisaufenthalt zu erwarten, was der prognostischen Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegensteht.
2.)
53 
Auch sonstigen Umstände, die zu Gunsten des Klägers zu einer Veränderung des nationalrechtlichen Entscheidungsmaßstabs führen würden, liegen nicht vor.
a.)
54 
Die Voraussetzungen für einen besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bis 5 AufenthG sind ebenfalls nicht einschlägig, so dass die Ist-Ausweisung nicht zu einer Regelausweisung herabgestuft ist. Daher kann auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht zur Anwendung gelangen, wonach ein Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - bereits dann vorliegt, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten (Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwG 129, 367). § 53 AufenthG lässt gerade keinen Spielraum für eine individuelle Gefahrenprognose oder eine eigene Güter- und Interessenabwägung der Ausländerbehörde zu; mithin fehlt es an einer ausländerrechtlichen Grundlage für die Veränderung des Entscheidungsspielraums. Allerdings steht die § 53 AufenthG innewohnende Typisierung, dass die Ausweisung geboten und verhältnismäßig ist, um Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung entgegen zu wirken, unter dem verfassungsrechtlichen Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall (vgl. schon BVerwG, Beschluss vom 10.12.1993 - 1 B 160/93 - juris Rn. 3 und vom 30.12.1993 - 1 B 185/93 - juris Rn 7; Renner, a.a.O., § 53 Rn. 3 ff.; GK-AufenthG § 53 Rn. 17 f., 59, 62 ff.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Kammerbeschluss vom 10.05.2007- 2 BvR 304/07 - InfAuslR 2007, 275 und vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - InfAuslR 2007, 443) entbindet die normative Vertypung und Gewichtung der Ist-Ausweisung daher nicht davon, die konkreten Umstände des Einzelfalls individuell zu prüfen und zu würdigen, da nur so sichergestellt ist, dass die Verhältnismäßigkeit bezogen auf die Lebenssituation des Ausländers gewahrt bleibt (vgl. dazu auch Mayer, Systemwechsel im Ausweisungsrecht - der Schutz „faktischer Inländer“ mit und ohne familiäre Bindungen nach dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), VerwArch 2010, 482 ff.). Die Ausweisung erweist sich jedoch als verhältnismäßig (siehe nachfolgend III. und IV.).
b.)
55 
Eine Verschiebung des rechtlichen Prüfungsrahmens findet auch nicht im Hinblick auf die Standstill-Klauseln statt. Gemäß Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - ZP - werden die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. Nach Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Vertragsparteien für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Die Stillhalteklausel unterstellt die nationale Regelungszuständigkeit dem Vorbehalt, dass neue Vorschriften die Niederlassungsfreiheit, den freien Dienstleistungsverkehr und den Zugang zur Beschäftigung sowie den damit verbundenen Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen nicht strengeren Bedingungen als denjenigen unterwerfen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der jeweiligen Stillhalteklausel in dem betreffenden Mitgliedstaat galten und steht auch einer Rücknahme zwischenzeitlich eingeführter Vergünstigungen für diesen Personenkreis entgegen (vgl. näher EuGH Urteil vom 09.12.2010 - C-300/09 - und vom 21.10.2003 - C-317/01 - ). Art. 41 ZP ist im vorliegenden Fall jedoch schon deshalb nicht einschlägig sein, weil der Kläger weder Selbstständiger noch Dienstleistungsempfänger oder -erbringer im Sinne dieses Artikels ist (vgl. näher Renner, a.a.O., § 4 Rn. 203 ff. und 206 ff.). Auch Art. 13 ARB 1/80 gebietet nicht, die Ausweisung des Klägers am Maßstab der Ermessensausweisung nach § 10 AuslG 1965 zu prüfen. Art. 13 ARB 1/80 ist - speziell was die Aufenthaltsbeendigung eines türkischen Staatsangehörigen durch Ausweisung anbelangt - für den Personenkreis von Bedeutung, der kein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 innehat. Begünstigt nach Art. 13 ARB 1/80 sind damit unter anderem die ordnungsgemäß beschäftigten Arbeitnehmer, die noch nicht in die Aufenthaltsverfestigung nach einer der Alternativen des Art. 6 ARB 1/80 hineingewachsen sind (vgl. zu den Einzelheiten des Anwendungsbereichs GK-AufenthG, Art. 13 ARB 1/80 Rn. 63 ff.). Zwar dürfte der Kläger durch die ihm erlaubte Weiterbildung wieder dem Arbeitsmarkt angehören. Allerdings können sich nur solche türkischen Staatsangehörige auf die Stillhalteklausel des Art 13 ARB 1/80 berufen, die sich ordnungsgemäß im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten. Der Begriff „ordnungsgemäß“ in Art. 13 ARB 1/80 bedeutet, Aufenthalt und etwaige Beschäftigung müssen rechtmäßig sein (vgl. näher EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - C-242/06 - Rn. 53 und vom 21.10.2003 - C-317/01 - Rn. 84; GK-AufenthG, Art. 13 ARB 1/80 Rn. 8; Farahat, Von der Stillhaltepflicht zur „zeitlichen Meistbegünstigung“ im Assoziationsrecht, NVwZ 2011, 343, 344). Dies entspricht dem Grundsatz, dass das Assoziationsrecht die Befugnis des Aufnahmestaats, über Einreise und Aufenthalt zu entscheiden, nicht tangiert. Auch dem - bezüglich der Folgen aus Art. 13 ARB 1/80 inhaltlich sehr weitgehenden - Urteil des EuGH in der Rechtssache Kommission gegen Niederlande (vom 29.04.2010 - C-92/07 - 44 ff., insb. Rn. 49) lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen. Der Kläger hält sich jedoch nicht legal im Bundesgebiet auf. Seinen rechtmäßigen Aufenthalt hat er schon vor seiner zwangsweisen Rückführung am 12.08.2005 verloren und in der Folgezeit nicht erneut begründet (vgl. dazu oben II 1. und I 2. bis 4.).
III.)
56 
Die spezialpräventive Ausweisung des Klägers als eines hier geborenen und aufgewachsenen Ausländers der 2. Generation ist aufgrund der von ihm nach wie vor ausgehenden Wiederholungsgefahr auch im Hinblick auf sein im Bundesgebiet geführtes Privat- und Familienleben nach Art. 8 EMRK und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verhältnismäßig.
57 
Ob die Ausweisung des Klägers - und damit der Eingriff in das Familien- und/oder Privatleben im Sinne des Art. 8 EMRK - im konkreten Einzelfall im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, insbesondere verhältnismäßig ist, bestimmt sich anhand einer Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers mit seinem Interesse an der Aufrechterhaltung seiner faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten und familiären Bindungen im Bundesgebiet. Nach der mittlerweile hinreichend gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog auszugehen (vgl. etwa Urteil vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00 -, InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99 -, <Üner> NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/04 -, InfAuslR 2008, 333 und vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05 -, InfAuslR 2010, 325). Dieser kann ohne weiteres auch Geltung für die Beantwortung der Frage beanspruchen, ob ein derartiger Eingriff verhältnismäßig im Sinne von Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG ist. Es handelt sich dabei um folgende Kriterien: Die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftat; das Alter des Ausländers bei Begehung der Straftaten; der Charakter und die Dauer des Aufenthalts im Land, das der Ausländer verlassen soll; die seit Begehen der Straftaten vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat, insbesondere im Strafvollzug; die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten; die familiäre Situation des Ausländers und gegebenenfalls die Dauer der Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen; der Grund für die Schwierigkeiten, die der Partner in dem Land haben kann, in das ggfs. abgeschoben werden soll; ob der Partner bei Begründung der familiären Beziehung Kenntnis von der Straftat hatte; ob der Verbindung Kinder entstammen, und in diesem Fall deren Alter; das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere der Umfang der Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggfs. abgeschoben werden soll; die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits.
1.)
58 
Was die in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzustellenden „straftatbezogenen“ Kriterien anbelangt, so ist festzustellen, dass die vom Kläger als junger Erwachsener bis zu seiner Festnahme im Alter von 23 Jahren verübten Straftaten ihn als einen Intensivtäter auf dem Gebiet der Rauschgiftkriminalität ausweisen. Er ist über einen Zeitraum von etwa drei Jahren in einer sich quantitativ und qualitativ steigernden Weise an führender Stelle in einer international verbundenen Bande von Rauschgifthändlern massiv durch Handeltreiben mit Betäubungsmitteln straffällig geworden. Die Menge der gehandelten Betäubungsmittel, die Art und Weise der Tatbegehung und die ihr zugrunde liegende Motivation belegen, dass er ohne durchgreifende Skrupel die Sucht anderer als Mittel für seine persönliche Bereicherung eingesetzt hat. Er ist der „Prototyp“ des international und national vernetzten, im großen Stile tätigen und seine kriminellen Ziele im Interesse der Gewinnmaximierung effizient verfolgenden Rauschgifttäters, dessen Handlungen in höchstem Maße gesellschaftsschädigend sind und unermessliches menschliches Leid verursachen. Unter Zugrundelegung der Feststellungen des strafgerichtlichen Urteils und der Erkenntnisse aus beigezogenen Straf- und Ermittlungsakten, wobei hier vor allem der vorläufige Ermittlungsbericht der Polizei vom 31.08.2004 und der endgültige vom 04.08.2005 und die Vermerke des die Ermittlung leitenden Polizeibeamten KHK KI. zu nennen sind, sowie aus den Angaben des Klägers vor und nach seiner Verurteilung ergibt sich folgendes Bild:
59 
Der Kläger veräußerte zunächst als Einzeltäter im Sommer 2002 Marihuana, sodann spätestens im Oktober 2002 als Mittäter von ... Y. und versorgte jedenfalls ab Dezember 2003 bandenmäßig den Großraum ... mit Marihuana von guter Qualität. In der kriminellen Hierarchie stieg er im Laufe der verübten Rauschgiftdelikte vom „Handlanger und Läufer“ des ... Y. zu dessen „rechter Hand“ auf und konnte bei Bedarf anderen Bandenmitgliedern einzelne Aufgaben zur Erledigung zuweisen. Das „letzte Wort“ in der Bande hatte allerdings ... Y., was auch die Strafkammer in ihrem Urteil vom 24.11.2005 zu Gunsten des Klägers berücksichtigt hat. Der Kläger war in die zeitliche Organisation der Rauschgiftlieferung jedoch ebenso eingebunden wie in deren Abwicklung einschließlich des Eintreibens ausstehender Verkaufserlöse. Auch das Treffen mit „Hintermännern“ und die Erschließung neuer Lieferanten, um den wachsenden Absatz von Rauschmittel bedienen zu können, ging unter Beteiligung des Klägers von sich. Die Bande bezog das Rauschgift von drei untereinander unabhängigen „Quellen“ aus Holland. Lieferungen erfolgten über ... E., die Bande des ... T. und aus einem über das Bandenmitglied ... F. eingefädelten Kontakt („...“). Das Rauschgift kam auf unterschiedlichen Transportwegen und unter Beteiligung verschiedener Personen nach ... und wurde von dort veräußert, wobei es die Organisationen verkraftet haben, dass auch einzelne Lieferungen „hoch gegangen“ sind. Für die Umladung, Aufbereitung und Verteilung des nach ... gebrachten Rauschgifts wurden neben der von ... Y. und dem Kläger bewohnten Wohnung konspirativ unauffällige Örtlichkeiten genutzt, wie etwa Tiefgaragen. Die Rauschgiftgeschäfte wurden - wie der Zeuge KHK. K in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat im Einzelnen nochmals erläutert hat - profimäßig abgewickelt. Mit der sehr effizienten Organisation wurden unter führender Beteiligung des Klägers in einem Zeitraum von Januar 2002 bis Juni 2005 insgesamt zwei Tonnen Marihuana sowie mehrere Kilogramm Kokain und Ecstasy-Tabletten im Großraum ... verteilt. Diese in der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 16.03.2007 enthaltenen Daten und Mengen entsprechen auch den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sowie denjenigen des Zeugen KHK K. Letzterer hat überzeugend dargelegt, wie sich die genannten Mengen unter Berücksichtigung auch der Aussagen von anderen Mitgliedern der Bande und von Abnehmern errechnen und dass hinsichtlich Kokain von einer gehandelten Mindestmenge von fünf Kilogramm auszugehen ist. Zwar liegt dem - ausgehandelten - Strafurteil nur eine angeklagte Menge von etwa 230 kg Marihuana und 500 g Kokain zugrunde, auch hat die Staatsanwaltschaft in der oben genannten Einstellungsverfügung hinsichtlich der Straftaten, die nicht schon Gegenstand des „Deals“ vor der Strafkammer waren (vgl. dazu den Vermerk der Staatsanwaltschaft vom 25.11.2005 und die dem beigefügte Auflistung), von der Erhebung der Anklage gem. §154 StPO i.V.m. § 31 BtMG abgesehen. Dies spricht jedoch nicht dagegen, bei der Frage, ob im konkreten Einzelfall eine Ausweisung wegen Rauschgiftkriminalität verhältnismäßig ist, den tatsächlichen Umfang der Rauschgiftgeschäfte einzustellen und zu würdigen.
60 
In den überwiegend auf Kommissionsbasis abgewickelten Rauschgifthandel waren nach den Zeugenangaben von KHK K. etwa 20 bis 25 direkte Abnehmer der Bande Y. eingebunden, die die Betäubungsmittel ihrerseits weiter veräußerten. Nach den Darstellungen von KHK K. in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat setzte die Bande Y. selbst bei konservativer Berechnung Drogen in einem Wert von weit über sechs Millionen EUR brutto um. Der Senat hat keinen Anlass, diesen wirtschaftlichen Wert in Zweifel zu ziehen. Im Übrigen veranschaulicht auch der im Urteil des Landgerichts Stuttgart bezüglich der abgeurteilten Straftaten gegenüber dem Kläger angeordnete Verfall eines Wertersatzes in Höhe von 857.300 EUR, davon in Höhe von 848.700 EUR gesamtschuldnerisch mit ... Y., in welcher wirtschaftlichen Größenordnung sich die Drogengeschäfte unter seiner Beteiligung abspielten. Die unter führendem Engagement des Klägers durch das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln angerichteten gravierenden gesellschaftlichen und menschlich-individuellen Schäden liegen bei den umgesetzten Mengen auf der Hand. Dass es sich bei dem hauptsächlich gehandelten Marihuana um eine eher „weiche“ Droge handelt, nimmt der Tat nicht ihre Gefährlichkeit - zumal dieses Rauschgift häufig der Einstieg für eine „Drogenkarriere“ ist.
61 
Bemerkenswert ist, dass den Kläger die Verhaftung von Abnehmern im April 2003 und die Sicherstellung von durch ihn gelieferten Rauschgifts nicht zu einem Umdenken veranlasste, vielmehr hielt ihn das nicht davon ab, sich danach bandenmäßig zu organisieren und die Rauschgiftgeschäfte zu intensivieren. Auch legte der Kläger seine anfängliche Ablehnung was Kokain anbelangt nach und nach ab. Zwar nahm er nicht selbst den Handel mit den insgesamt mindestens fünf Kilogramm Kokain „in die Hand“, jedoch unternahm er auch nichts mehr dagegen und gab sogar seiner damaligen Freundin ... V. Kokain in einer Menge von insgesamt 250 g auf Kommissionsbasis. Nach Einschätzung der Ermittlungsbehörden dürfte die Gruppierung um ... Y. ab Februar 2004 die Befürchtung gehabt haben, unter polizeilicher Beobachtung zu stehen; die Wohnung in der ... wurde gekündigt und eine neue geeignete Immobilie gesucht. Selbst dies war für die Bande kein Grund gewesen aufzuhören; vielmehr verließ man sich offensichtlich darauf, aufgrund der Organisationsstruktur ungefährdet weitermachen zu können. Auch die Verhaftung der Bandenmitglieder im April 2004 war für den Kläger kein Anlass, vom Rauschgifthandel Abstand zu nehmen. Er floh ganz bewusst nach Holland und kam dort bei seinen Lieferanten unter, zunächst bei ... E., später bei ... T. In der Zeit von Juni bis Dezember 2004 organisierte der Kläger in zehn Fällen Marihuanalieferungen an ... und ... E., wobei in sechs Fällen 10 kg und in vier Fällen 10 - 15 kg von den Niederlanden nach Deutschland gebracht und von diesen an die ehemaligen Abnehmer der Bande Y. verteilt wurden. Das Rauschgift stammte von ... T., bei dessen Bande die Bande des ... Y. Schulden aus Rauschgiftgeschäften hatte; die neuen Taten dienten insoweit zur Tilgung von Altschulden. Gerade auch in den Taten in den Niederlanden zeigt sich die besondere Gefährlichkeit des internationalen Rauschgifthandels. Dem Kläger war es auch nach der Verhaftung der Bandenmitglieder problemlos möglich, aufgrund des verzweigten Organisationssystems einfach weiterzumachen. Seine Einlassung in der mündlichen Verhandlung ließ nicht erkennen, dass er von dem „Gläubiger“ hierzu gezwungen worden wäre. Er konnte sich in den Niederlanden frei bewegen. Es war seine eigene Entscheidung, seine kriminellen Taten fortzusetzen.
62 
Die Rauschgiftgeschäfte wurden auch nicht aus einer wirtschaftlichen Notsituation, einer sozial problematischen Lage oder aus einer bestehenden Abhängigkeit heraus begonnen oder weitergeführt. Zwar ist der Kläger nach seinen Angaben in einem sozialen Brennpunktviertel und unter dem Eindruck sehr knapper finanzieller Mittel der Familie sowie familiärer Streitereien zwischen seinem Vater und seinen Brüdern aufgewachsen. Als er im Alter von etwa 21 Jahren in den Drogenhandel in großem Stil einstieg, lag diese Phase jedoch hinter ihm; damals hatte er erfolgreich seine Lehre abgeschlossen und war als Drucker berufstätig. Soweit das Landgericht in seinen Strafzumessungserwägungen strafmildernd gewertet hat, dass die Hemmschwelle des Klägers nicht ausschließbar durch seinen Eigenkonsum herabgesetzt war, ist damit keine Abhängigkeit umschrieben. Vielmehr war es in den Kreisen, in denen er verkehrte, nicht ungewöhnlich, gelegentlich Rauschgift, darunter auch Kokain, selbst zu konsumieren. Dies hat der Kläger in seinen polizeilichen Vernehmungen anschaulich geschildert. Die vom ihm selbst stets verneinte Abhängigkeit ist auch durch die regelmäßigen negativ verlaufenden Drogenkontrollen während der Haft bestätigt. Motiv für die Betäubungsmitteldelikte waren allein das Gewinnstreben, der Genuss des luxuriösen Lebens und das „Glücklichsein im Hier und Jetzt“. Diese Motivation ist in den polizeilichen Vernehmungen des Klägers und ... Y. übereinstimmend berichtet worden und vor allem auch aus ihrem tatsächlichen verschwenderischen Lebensstil ersichtlich, der im Urteil des Strafgericht angesprochen worden und der insbesondere in dem vorläufigen Ermittlungsbericht der Polizei vom 31.08.2004 dokumentiert ist. Dieser umfasste unter anderem die Anmietung einer luxuriösen Wohnung, die mit teuren Einrichtungsgegenständen ausgestattet war (z.B. Flachbildschirmfernseher mit einem Wert zw. 7.000 und 8.000 EUR), Flugreisen, Aufenthalte in teuren Hotels, die Nutzung von Autos der gehobenen Klassen (unter anderem Jaguar), Partys, aber auch Kontakte zu Prostituierten und extrem häufige Taxibestellungen (etwa um ein Baguette abholen zu lassen) sowie ein Auftreten als „Geschäftsmänner“ mit den entsprechenden Begleitutensilien wie Designer-Handy, Kugelschreiber im Wert von 1.000 EUR, Schmuck, Uhren.
2.)
63 
Was das ebenfalls in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzufließende Verhalten des Klägers nach der Tat und seine Entwicklung bis heute anbelangt, ist der Senat aufgrund der oben dargelegten konkreten Umstände der Tat und nach dem Eindruck, den er aus dem Inhalt der Akten und der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, der Überzeugung, dass vom Kläger nach wie vor die in den Taten angelegte Wiederholungsgefahr ausgeht. Daher kann dahingestellt bleiben, ob bei der Verwirklichung eines Ausweisungstatbestands nach § 53 AuslG nach nationalrechtlichem Maßstab eine Unverhältnismäßigkeit einer spezialpräventiven Ausweisung nur dann eintreten könnte, wenn die Wiederholungsgefahr gänzlich entfallen oder jedenfalls extrem gemindert wäre (vgl. GK-AufenthG, § 53 Rn. 62 i.V.m. Vor §§ 53 ff. Rn. 418 ff.) und ob - solange dies nicht festgestellt werden kann - auch der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 EMRK das der nationalen Norm immanente schwerwiegende spezialpräventive Ausweisungsinteresse mit diesem Gewicht zugrunde zu legen wäre.
a.)
64 
Der Senat misst hinsichtlich der Feststellung der Wiederholungsgefahr dem kriminalprognostischen Gutachten von Dr. X. vom 07.09.2010, das aus forensisch psychiatrischer Sicht feststellt, dass die durch die Taten zutage tretende Gefährlichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr fortbesteht, keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu. Das Gutachten beruht in wesentlichen Punkten auf unzutreffenden tatsächlichen Annahmen, die ihrerseits jedenfalls zum Teil auf falsche oder unvollständige Angaben des Klägers bei seiner Exploration zurückgehen (aa.). Darüber hinaus ist das schriftliche Gutachten in zentralen Punkten nicht schlüssig (bb.). Die dem Gutachten innewohnenden Mängel sind auch nicht durch die Erklärungen der Gutachterin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausgeräumt worden (cc.).
aa.)
65 
Die Gutachterin ging davon aus, der Kläger habe - entsprechend seiner Angaben während der Untersuchung - allenfalls als Jugendlicher zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr Marihuana geraucht (S. 12 i.V.m. S. 16). Tatsächlich hat der Kläger jedoch nach früheren Angaben auch während der Phase seiner Betäubungsmittelkriminalität Drogen genommen; so hat er während seines Aufenthalts in den Niederlanden, damals war er 23 Jahre alt, Kokain konsumiert. Diesen Konsum hat der Kläger in der Berufungsverhandlung - allerdings erst auf intensive Nachfrage und unter Vorhalt seiner Angaben in seiner Vernehmung als Beschuldigter am 17.11.2005 - auch eingeräumt. Der Betäubungsmittelkonsum auch noch als junger Erwachsener findet im Gutachten ebenso wenig Beachtung wie der - vom Kläger anlässlich seiner Exploration ebenfalls nicht erwähnte - Umstand, dass er Ende Januar 2005 versucht hat, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Von beidem hat die Gutachterin nach ihren eigenen Angaben in der in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erstmals durch die hier erfolgte Anhörung des Klägers erfahren. Dies verdeutlicht im Übrigen, dass die Gutachterin, die ihr Gutachten ausdrücklich auch auf die drei Bände Strafakten stützt (S. 2 des Gutachtens), diese möglicherweise nicht genügend beachtet hat. Das entsprechende Vernehmungsprotokoll vom 17.11.2005, in dem der Kläger den Drogenkonsum und auch das Queraufschneiden der Pulsadern, weil er „nonstop drauf gewesen“ sei, ausdrücklich eingeräumt hat, befindet sich in Band III der Strafakten, die der Gutachterin vorlagen.
66 
Unrichtig oder jedenfalls „geschönt“ waren auch die Angaben des Klägers zu seiner angeblich intakten Beziehung. Das Gutachten hält unter anderem folgende Angaben des Klägers fest (S. 7): „Er verfolge jetzt andere Ziele im Leben. Er habe jetzt eine Freundin, werde sich verloben. Das wichtigste sei, dass er ihrer Mutter vor 2, 3 Monaten gesagt habe, was mit ihm los sei, nämlich dass er im Gefängnis sei. Das sei seine erste türkische Freundin überhaupt. Früher habe er keine türkischen Freundinnen gehabt. Es sei jetzt aber eine ganz tolle Erfahrung für ihn, diese Beziehung zu einer türkisch-stämmigen Freundin.“ Auf S. 11 des Gutachtens sind - auszugsweise - folgende weitere Angaben des Klägers festgehalten: „Letztes Jahr habe er über einen Freund in ... seine Freundin kennengelernt, die aus K. in Bayern stamme….Im Februar diesen Jahres habe er ihr erzählt, was mit ihm sei….Ende des Jahres werde man das Verlobungsfest feiern und „so Gott will“ im nächsten Jahr heiraten….. Man habe vor kurzem mit der Familie eine „kleine Verlobung“ bei ihren Eltern gefeiert….Das Fest sei sehr schön und sehr traditionell gewesen. Er hab sich nie vorstellen können, dass ihm so was passieren werde. Traditionell sei zum Beispiel gewesen, dass seine Verlobte ihm Salz statt Zucker in den Kaffee getan habe und er diesen dann entsprechend der Tradition trotzdem getrunken habe.“ Hinsichtlich früherer Beziehungen führte er aus (S. 12): „Er habe seitdem er 17 Jahre alt gewesen sei immer wieder Freundinnen gehabt. Die erste Beziehung habe vier Jahre gedauert. Dann habe er noch mal eine Beziehung zwischen 2000 und 2004 gehabt.“ Wie die Gutachterin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat mehrfach erklärt hat, sei ihr die Schilderung der Verlobungsfeier, die von ihm als wertvoll erlebte Tradition, sehr zu Herzen gegangen; es sei für sie sehr anrührig gewesen. Grundlage ihrer positiven Prognose ist ausweislich des Gutachtens auch die Annahme der Einbindung des Klägers in einer stabilen Beziehung zu seiner türkischen Staatsangehörigen. Tatsächlich kriselte es jedoch schon zu diesem Zeitpunkt in der Beziehung zwischen dem Kläger und seiner früheren Verlobten. Bereits im August 2010 - zu diesem Zeitpunkt war der Kläger nach seinen Angaben in der Berufungsverhandlung eigentlich noch verlobt - frischte er die Kontakte mit seiner jetzigen Partnerin auf. Im September habe er ihre Wohnung komplett renoviert, da seien sie sich näher gekommen, seit November 2010 seien sie ein Paar. Darüber hinaus verschwieg der Kläger bei der Exploration seine frühere Beziehung zu ... V. Mit ihr war er seit Januar 2004 „zusammen“. Diese erwartete wohl von ihm ein Kind; der Abbruch der Schwangerschaft wurde von ihm bezahlt. Bis einschließlich August 2007 wurde er regelmäßig von ... V., die zeitweise in der Wohnung seiner Eltern lebte und von ihm selbst als seine Verlobte bezeichnet wurde, besucht. Unter dem 21.08.2006 erkundigte er sich sogar nach der Möglichkeit des Heiratens im Gefängnis. Gerade mit Rücksicht auf diesen Umstand nimmt der Senat dem Kläger seine Versuche in der mündlichen Verhandlung, diese Beziehung als unbedeutend darzustellen und mit der Begründung schlecht zu machen, ... V. sei nur eine Prostituierte, nicht ab. Am 27.02.2008 teilte der Rechtsanwalt von ... V. gegenüber der JVA ... mit, nach Darstellung seiner Mandantin besitze ihr Ex-Freund in der JVA ein Handy sowie ihr Tagebuch und eine goldene Halskette. Eine deswegen angeordnete Durchsuchung des Klägers sowie seines Haftraums und seines Arbeitsplatzes verlief negativ. In Reaktion darauf gab der Kläger am 27.02.2008 telefonisch und am 04.03.2008 förmlich gegenüber den Ermittlungsbehörden an, im Zeitraum Februar/März 2004 in drei Taten insgesamt 250 g Kokain an seine damalige Freundin ... V. gewinnbringend auf Kommission verkauft zu haben. Diese Erkenntnisse ergeben sich aus den - von der Gutachterin nicht beigezogenen - Gefangenenpersonalakten und aus der Akte im Ermittlungsverfahren 221 Js 45897/08.
67 
Des Weiteren hat der Kläger bei der Gutachterin angegeben, zu seinen früheren Freunden habe er keinen Kontakt mehr, wolle auch keine Kontakte mehr haben. Tatsächlich ist jedoch der langjährige Freund des Klägers M.Y., der ebenfalls Mitglied der Bande Y. war und deswegen zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, ausweislich des Heiratsvertrags vom 12.02.2011 Zeuge der nach islamischem Recht eingegangenen Verbindung zwischen dem Kläger und ... D. gewesen. In der mündlichen Verhandlung begründete der Kläger die Wahl seines Zeugen damit, dass dieser aus dem Glauben heraus lebe und kein schlechter Mensch sei.
68 
Darüber hinaus hat der Kläger mit der Gutachterin über seine Umschulung als Mediengestalter gesprochen. Im Rahmen ihrer Beurteilung der Wiederholungsgefahr hat sie den vom Kläger stringent verfolgten Weg, sich beruflich weiter zu qualifizieren, positiv gewürdigt. Die Gutachterin hat jedoch in ihre Beurteilung nicht eingestellt, dass der Kläger nach wie mehr als 800.000 EUR Schulden aus dem im Strafurteil angeordneten Verfall des Wertersatzes hat.
69 
Schließlich ist der Gutachterin bei der Abfassung des Gutachtens das Ausmaß des kriminellen Verhaltens des Klägers nicht geläufig gewesen. Das Gutachten referiert zwar Teile aus dem Strafurteil (S. 2 ff.) und verweist zu Beginn der „Zusammenfassung und Beurteilung“ unter anderem darauf, dass sich der Kläger ab Dezember 2003 zusammen mit Mittätern zu einer Gruppierung zusammengeschlossen hat, „welche im Kilogrammbereich in ... und Umgebung“ mit Marihuana Handel betrieben hätten“. Die tatsächlich umgesetzten Mengen der verschiedenen gehandelten Betäubungsmittel, die Organisationsstrukturen sowie die Stellung des Klägers innerhalb des Systems sind ihr jedoch - wie sie selbst eingeräumt hat - erstmals im Laufe der Verhandlung vor dem Senat in aller Deutlichkeit bewusst geworden.
bb.)
70 
Darüber hinaus sind wesentliche Aussagen im Beurteilungsteil nicht schlüssig bzw. nachvollziehbar. So heißt es dort: „Herr X. soll nach seiner Inhaftnahme seine Kenntnisse über den organisierten Drogenhandel den Behörden gegenüber offenbart haben, so dass allein aus diesem Grund eine Rückkehr in solcherart kriminelle Aktivitäten ihm wohl künftig nicht mehr möglich sein dürfte“. Wieso die Gutachterin zu dieser Einschätzung gelangt, wird nicht transparent gemacht, möglicherweise knüpft sie allein an die entsprechenden Ausführungen im Antrag des Klägers vom 09.03.2010 auf Aussetzung des Rests der Freiheitsstrafe zur Bewährung an. Dieser Schluss ist jedoch nicht zwingend -schon gar nicht im vorliegenden Fall, bei dem etliche Leute der Organisation „ausgepackt“ haben. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart führt in ihrem Schreiben vom 28.03.2011 an den Senat auch aus, dass erfahrungsgemäß Aufklärungshilfe nicht unbedingt zwingend zur Folge habe, das eine Rückkehr ins Rauschgiftmilieu „verbaut“ werde - zumal dann nicht, wenn sie mit einem Ortswechsel des „Verräters“ verbunden sei.
71 
Die Gutachterin nimmt weiter an, die soziale Situation des Klägers sei (wieder) gesichert. Sie setzt sich aber nicht mit dem Umstand auseinander, dass die Drogendelikte aus einer intakten Existenz heraus begangen wurden. Der Kläger lebte zu Beginn der Taten in geordneten familiären Verhältnissen und verfügte nach abgeschlossener Lehre in seinem Ausbildungsberuf über regelmäßige Einkünfte. Trotzdem hat ihn das von den Straftaten nicht abgehalten. In diesem Zusammenhang fehlen auch Aussagen dazu, ob und wie sich die derzeit noch vorhandenen Schulden in Höhe von etwa 800.000 EUR auf die (soziale) Situation des Klägers auswirken könnten.
72 
Das positive Ergebnis des Gutachtens beruht auch auf der Auffassung der Gutachterin, die Tathandlungen seien situativ, d.h. lebensgeschichtlich begrenzt gewesen (Adoleszenz), die verurteilten Taten hätten in einer abgrenzbaren Lebenssituation, d.h. im frühen Erwachsenenalter stattgefunden. Abgesehen davon, dass Aussagen zur Einordnung von Tathandlungen schon nicht belastbar getroffen werden können, wenn ein Gutachter - wie hier - das Ausmaß des kriminellen Fehlverhaltens nicht zutreffend erkennt und würdigt, ist dem Senat aus zahlreichen weiteren Ausweisungsverfahren bekannt, dass Rauschgiftkriminalität jedenfalls in der oben unter III 1. dargestellten Art und Weise keine für die Adoleszenz typische Tat und auch nicht zwingend auf eine abgrenzbare Lebenssituation beschränkt ist.
73 
Schließlich bleibt auch unklar, weshalb die Gutachterin davon ausgeht, dass die Erfahrung der Inhaftierung beim Kläger offenkundig einen nachvollziehbaren Gesinnungswandel bedingt hat. Allein in einem ambulanten Termin mit dem Kläger, der lediglich 1 ½ Stunden gedauert hat, lässt sich dies in Anbetracht des Ausmaßes der kriminellen Vorgeschichte nach Überzeugung des Senats kaum verlässlich eruieren - zumal wenn der zu Beurteilende in einzelnen Punkten die Unwahrheit sagt oder die Lage beschönigt. Die Gefangenenpersonalakten, die hierüber näheren Aufschluss geben könnten, sind von der Gutachterin nicht beigezogen worden.
cc.)
74 
Die aufgezeigten Defizite im Gutachten, die ihre Ursache auch darin haben können, dass - wie die Gutachterin gegenüber dem Senat ausgeführt hat - die Beauftragung durch die Strafvollstreckungskammer „in sehr zeitknappem Zustand“ erfolgte und der Kläger sich schon im Freigang bewährte, sind durch ihre Angaben in der mündlichen Verhandlung nicht ausgeräumt worden. Ihre Erklärungen sind insgesamt vage, ausweichend und für den Senat nicht überzeugend gewesen.
75 
Aus der Antwort auf die Frage des Senats, welche Bedeutung die Schulden des Klägers aus dem Verfall des Wertersatzes für die Wiederholungsgefahr haben, wird deutlich, dass die Gutachterin an diesem Problem gänzlich vorbei geht. Sie führt nämlich hierzu aus, dass der Kläger im jungen Erwachsenenalter zu den Taten gekommen sei. Er sei gierig nach Geld gewesen. „Veränderungen seien möglich und insbesondere Hafterfahrung und Nachdenken klinge authentisch, so dass man sich vorstellen könne, dass hinsichtlich der Schulden, die aus den Taten stammen, weil eben das Geld nicht gespart worden sei, um es abzugeben, sondern es ausgegeben worden sei, Veränderungen in der Wertehaltung möglich seien.“
76 
Auch was die Frage der Einordnung der Tat als durch die Adoleszenz bzw. lebensgeschichtlich begrenzt anbelangt, sind nach Auffassung des Senats die Ausführungen der Gutachterin nicht überzeugend. Sie hat nach wie vor nur auf das damalige Alter des Klägers und die zwischenzeitliche Hafterfahrung abgestellt ohne sich jedoch mit der hohen Professionalität der Betäubungsmittelstraftaten und der Tatsache, dass ältere Bandenmitglieder eine vergleichbare Stellung innerhalb der Organisation nicht erreicht haben, auseinander zu setzen. Gleichzeitig bleibt sie eine Antwort auf die Frage schuldig, warum diesen Faktoren bei der Beurteilung insoweit keine entscheidende Bedeutung zukommen soll.
77 
Hinsichtlich der von der Gutachterin angenommenen verbauten Rückkehr in die früheren kriminellen Aktivitäten, hat sie zwar eingeräumt, dass es entsprechende andere Kreise geben könnte. Sie hat auch zur Kenntnis genommen, dass der Kläger entgegen seinen Bekundungen ihr gegenüber nach wie vor freundschaftlich mit einem früheren Mittäter verbunden ist. Welche Konsequenzen sie hieraus zieht, hat sie jedoch insoweit offen gelassen.
78 
Zwar ist etwa die Frage, ob der Kläger letztmalig als Jugendlicher oder schon im Erwachsenenalter Drogen und ggfs. welche genommen hat, für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr als solche nicht relevant, weil Grund für die Straftaten keine eigene Abhängigkeit gewesen ist. Allerdings sind die unrichtigen Angaben durch den Kläger in diesem Punkt ebenso wie andere „Glättungen“ in der Darstellung, etwa was seine Beziehungen zu Frauen anbelangt, von Bedeutung für die Qualifizierung seiner Persönlichkeit - und vor allem für die Frage, ob dem Kläger vor diesem Hintergrund eine „innere Umkehr“ geglaubt werden kann. Hierzu direkt befragt hat die Gutachter gegenüber dem Senat lediglich angegeben, das sei schwierig.
79 
Im Verlaufe ihrer Anhörung hat die Gutachterin ungeachtet der von ihr selbst als kritisch angesehenen manipulativen Tendenzen des Klägers zunächst ausgeführt, dass sie dennoch an dem Ergebnis ihres Gutachtens festhalten will, am Ende ihrer Befragung hat sie dies dahingehend relativiert, „sie glaube, sie würde auch noch zu dem Schluss kommen ‚ mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr fortbesteht‘“. Abgesehen davon, dass eine solche lavierende Aussage nicht belastbar ist, sind auch die von der Gutachterin angeführten Gründe für ihre (möglicherweise) im Ergebnis gleichbleibende Einschätzung nicht zwingend, wenn nicht gar spekulativ. Sie hat hierzu ausgeführt, dass es sich nicht um eine Symptomtat gehandelt habe, der Kläger kein polytrop kriminell dissozialer Mensch sei und auch die harten negativen Fakten, wie sie z. B. bei Exhibitionismus vorhanden seien, fehlten. Das sei günstig. Positiv seien auch das Fehlen von Augenblicksverhaftetheit, das Lernen aus Erfahrungen, sein Ehrgeiz um berufliche Fortbildung. Allerdings hat die Gutachterin auf Nachfrage des Senats auch eingeräumt, dass die beim Kläger vorhandenen Eigenschaften ihn zu dieser sehr professionellen Betäubungsmittelkriminalität überhaupt erst befähigt haben. Letztlich sei es die Frage, ob man ihm die Änderung, künftig nicht mehr kriminell werden zu wollen, glaube.
80 
Im Hinblick auf die auch durch die mündliche Verhandlung nicht ausgeräumten Defizite des Gutachtens, misst der Senat diesem keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu. Für das Gericht besteht auch keine Notwendigkeit, zur Beurteilung der Wiederholungsgefahr als Entscheidungshilfe ein erneutes Sachverständigengutachten einzuholen. In Ausweisungsverfahren ist es die ureigene richterliche Aufgabe dies selbst festzustellen. Tat- oder täterpersönlichkeitsbezogenen Besonderheiten, die ausnahmsweise abweichend hiervon eine Begutachtung durch einen Sachverständigen nahe legen würden (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 22.10.2008 - 1 B 5.08 - juris Rn. 5), weist der vorliegende Fall nicht auf.
b.)
81 
Die Frage der Wiederholungsgefahr ist nicht deshalb in einem für den Kläger günstigen Licht zu sehen, weil aufgrund des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer vom 26.10.2010 die Verbüßung des Restes der Freiheitsstrafe noch vor Ablauf von zwei Dritteln der Strafhaft zur Bewährung ausgesetzt worden ist.
82 
In Vorbereitung dieser Entscheidung ist das kriminalprognostische Gutachten vom 07.09.2010 eingeholt worden. Hierauf bezieht sich auch der Beschluss der Strafvollstreckungskammer. Schon aufgrund der oben dargelegten Mängel des Gutachtens misst der Senat diesem für das Ausweisungsverfahren ebenfalls keine relevante Bedeutung zu. Selbst wenn man im Übrigen der Auffassung wäre, für die Aussetzungsentscheidung sei das Gutachten letztlich nicht entscheidend gewesen, weil die Strafvollstreckungskammer aufgrund selbstständiger Prüfung zu dem Ergebnis gelangt sei, der Strafrest werde noch vor Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe nach § 57 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt, ist die strafvollstreckungsrechtliche Einschätzung für die Beurteilung der ordnungsrechtlichen Wiederholungsgefahr nicht maßgebend. Dies gilt schon deshalb, weil die im Ausweisungsverfahren nunmehr verfügbaren Erkenntnisse die dort getroffenen Annahmen und Einschätzungen nicht mehr ohne weiteres plausibel und nachvollziehbar erscheinen lassen. So hat der Kläger in seiner Anhörung bei der Strafvollstreckungskammer am 21.10.2010 ungeachtet dessen, dass die Beziehung mit seiner damaligen Verlobten jedenfalls schon erheblich in die Krise geraten war und er sich - wie aus der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Bestätigung des Vermieters von Frau D. vom 08.04.2011 ersichtlich - schon seit Oktober 2010 des Öfteren bei dieser aufgehalten hat, erneut den Eindruck erweckt, in einer stabil erscheinenden Beziehung mit einer türkischen Verlobten zu leben. Dies ist auch Grundlage des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer geworden. Darüber hinaus ist der Senat aufgrund der ihm in dem für die Beurteilung der Ausweisung maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse, insbesondere des aufgrund der mehrstündigen mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks vom Kläger, nicht davon überzeugt, dass sich der Kläger glaubhaft mit seiner kriminellen Vergangenheit auseinandergesetzt, sich von dieser distanziert und einen nachhaltigen Gesinnungswandel durchlaufen hat, an dessen Ende ein zukünftig straffreies Leben steht.
c.)
83 
Der Senat ist der Überzeugung, dass der Kläger ungeachtet dessen, dass seit der letzten Tat etwa 6 Jahre vergangen sind und er einen mehrjährigen auf Resozialisierung ausgerichteten Gefängnisaufenthalt hinter sich hat, keine solche Persönlichkeitswandlung und Verhaltensänderung durchlaufen hat, die in Anbetracht von Art und Ausmaß der von ihm begangenen Betäubungsmitteldelikte verlässlich den Schluss zulassen würde, er werde voraussichtlich in Zukunft nicht mehr (in vergleichbarer Weise) straffällig.
84 
Entgegen der Auffassung des Klägers ist aus seiner Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden nicht auf einen „Bruch“ mit vergangenen kriminellen Strukturen und entsprechender Reue zu schließen, die ein zukünftig rechtstreues Leben nahelegen. Zwar konnten aufgrund der Angaben des Klägers und des „Bandenchefs“ ... Y. etwa 90 Ermittlungsverfahren eingeleitet werden, die zu teilweise langen Freiheitsstrafen führten. Dies hat die Staatsanwaltschaft Stuttgart mit Schreiben vom 28.03.2011 gegenüber dem Senat ausdrücklich bestätigt. Hervorzuheben ist auch, dass der Kläger über eigene Straftaten in den Niederlanden berichtete, über die die Ermittler im Vorfeld seiner Angaben keinerlei Erkenntnisse hatten. Nach dem Vermerk des Zeugen KHK K. vom 13.03.2006 teilte der Kläger ihm erstmals am 08.03.2006 mit, dass er aus der Zeit in den Niederlanden noch etwas zu „beichten“ habe. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart führte in ihrer Einstellungsverfügung vom 16.03.2007 nach § 154 StPO unter anderem aus, dass die Feststellungen zum Gesamtumfang der Tat allein auf den Angaben des Klägers beruhten und ihm ohne sein Geständnis nicht hätten nachgewiesen werden können. Darüber hinaus habe er seine Lieferanten und Abnehmer namentlich benannt und durch seine Angabe - auch in den jeweiligen Hauptverhandlungen - dazu beigetragen, dass ein Großteil dieser Personen habe abgeurteilt werden können, so dass ihm in ganz erheblichem Maße die Strafmilderung des § 31 BtMG zu Gute komme.
85 
Allerdings führt eine Aufklärungshilfe, die zur Überführung anderer Rauschgifthändler beigetragen hat, nicht zwingend zu einer prognostisch günstigen Beurteilung der Wiederholungsgefahr bei einem wegen illegalen Rauschgifthandels Verurteilten (BVerwG, Urteil vom 06.04.1989 - 1 C 70.86 - BVerwGE 81, 356 und Beschluss vom 04.09.1992 - 1 B 155.92 - InfAuslR 1993, 11); maßgebend sind vielmehr die konkreten Umstände des Einzelfalls (vgl. auch GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. Rn. 1188 ff.). Aus der Existenz und der Anwendung von § 31 BtMG durch die Staatsanwaltschaft in ihren Einstellungsverfügungen ergibt sich nichts anderes. Das kriminalpolitische Ziel des § 31 BtMG besteht unter anderem darin, das Aufbrechen von Banden und kriminellen Vereinigungen zu ermöglichen, die strafrechtliche Verfolgung begangener Betäubungsmittelstraftaten zu verbessern und es dem einzelnen Täter zu erleichtern, sich von dem illegalen Rauschgifthandel abzusetzen. Auf die Motivation der Aufklärungshilfe kommt es nicht an (BGH, Urteil vom 19.05.2010 - 2 StR 102/10 - juris und Beschluss vom 20.06.1990 - 3 StR 74/90 - juris). Mit Moral hat § 31 BtMG nichts zu tun. Die Privilegierung knüpft allein daran an, dass aufgrund der Offenbarung des Täters tatsächlich ein Aufklärungserfolg über seinen Tatbeitrag hinaus eingetreten ist (vgl. näher Weber, BtMG, 3. Aufl. 2009, § 31 Rn. 7 f., 16 f). § 31 BtMG kommt daher auch dann in Betracht, wenn der Täter seine Tat nicht bereut und auch zu einer Lebensumkehr nicht bereit ist (Weber, a.a.O., Rn. 65). Ausgehend von ihren Zielen ist diese Vorschrift in ihrem Anwendungsbereich auf das Strafrecht beschränkt; sie enthält keinen darüber hinaus gehenden allgemeinen Rechtsgedanken, der auch im Ausweisungsrecht Beachtung finden müsste.
86 
Der Senat ist der Überzeugung, dass die ab 15.11.2005 gezeigte Aussagebereitschaft des Klägers, die zunächst zu seinem Geständnis kurz vor der Hauptverhandlung am 24.11.2005 führte sowie ab Januar 2006 zu umfangreichen Angaben über Lieferanten, Abnehmer und Hintermänner, nicht auf einem grundlegenden Gesinnungswandel beruhte, insbesondere aus der Erkenntnis heraus, welchen immensen gesellschaftlichen und menschlichen Schäden er durch seine Delikte angerichtet hatte, sondern deshalb erfolgte, um sich persönliche Vorteile zu verschaffen - vor allem mit Blick auf eine Strafmilderung und vorzeitige Beendigung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe. Der Kläger äußerte dem Aktenvermerk des Zeugen KHK K. vom 18.11.2005 zufolge vor seiner Vernehmung am 16.11.2005 unter anderem, dass er seine Strafe so niedrig wie möglich halten und schnellstmöglich aus der JVA herauskommen wolle. Aus den polizeilichen Protokollen sowie Vorgängen in den Gefangenenpersonalakten ergibt sich, dass der Kläger in den Jahren 2006 und 2007 immer wieder darauf hingewiesen habe, er wolle so schnell wie möglich aus dem Gefängnis kommen bzw. so schnell wie möglich abgeschoben werden. So heißt es in einem Protokoll der JVA ... vom 09.10.2006 anlässlich der Fortschreibung des Vollzugsplans, der Kläger strebe eine zügige Abschiebung an. Auch zwischen dem Verteidiger des Klägers und der Staatsanwaltschaft Stuttgart gab es im Juli 2007 Kontakte, ob im Hinblick auf die „Verdienste“ des Klägers bereits vor dem Halbstrafenzeitpunkt nach § 456a StPO verfahren werden könnte (vgl. näher die mit Schreiben vom 28.03.2011 vorgelegten Aktenvermerke der Staatsanwaltschaft vom 17., 30. und 31.07.2005). Vor dem Hintergrund dieser Abläufe stellt sich die Aussagebereitschaft des Klägers als eine „Leistung“ in der unterschwelligen Erwartung einer „Gegenleistung“ dar. Auch ... Y. äußerte sich im Übrigen in seiner Zeugenvernehmung vom 07.03.2008 dahingehend, der Kläger habe sich persönlich erhofft, nach seinen Aussagen entlassen zu werden.
87 
Hinzukommt, dass uneigennützige Motive hinsichtlich der weiteren Angaben des Klägers zu seinen „Hinterleuten“ bei KHK K. auch deshalb nicht auf der Hand liegen, weil die weitere Bereitschaft des Klägers, in anderen Ermittlungsverfahren Angaben zu machen, Teil der dem Urteil zugrunde liegenden Absprache zwischen den Beteiligten war. Dies ergibt sich aus dem Protokoll über die Hauptverhandlung des Landgerichts vom 24.11.2005 sowie aus dem Aktenvermerk der Staatsanwaltschaft Stuttgart ebenfalls vom 24.11.2005.
88 
Wären die umfangreichen Angaben des Klägers zu Beginn oder jedenfalls ab einem späteren Zeitpunkt von Reue und Einsicht in das immense Unrecht seiner Tat getragen gewesen, so hätte es nahe gelegen, dies im Zusammenhang mit den Vernehmungen zu offenbaren. Weder in den Straf- noch in den Ermittlungsakten in den Verfahren 221 Js 26457/06 und 221 Js 45897/08 finden sich entsprechende Hinweise auf solche die Angaben auslösende oder sie jedenfalls begleitende „Regungen“ beim Kläger. Auch der den Kläger immer wieder vernehmende Beamte KHK. K. hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat keine Anhaltspunkte für ein uneigennütziges Aussageverhalten nennen können. Bezeichnenderweise wertete die Strafkammer das Geständnis des Klägers ausschließlich unter dem Aspekt der „nennenswerten Verfahrensabkürzung“ zu seinen Gunsten, von „Reue“ oder „Umkehr“ ist in den Strafzumessungserwägungen des Strafgerichts nicht die Rede.
89 
Dass seinem Aussageverhalten eigennützige Motive - und nicht eine im Strafvollzug gewonnene Erkenntnis über die Gefährlichkeit des Rauschgifts für die Gesundheit des Einzelnen - zugrunde liegen, zeigt sich vor allem auch an der Belastung seiner früheren Freundin ... V. Diese schonte er in den guten Tagen der Beziehung. Erst als das Verhältnis zerbrochen war und sie ihn mit falschen Verdächtigungen konfrontierte, zeigte er sie unmittelbar darauf am 27.02.2008 telefonisch und am 04.03.2008 förmlich wegen eines Kokain-Geschäftes an. Als Grund, warum er „jetzt nach fast vier Jahren mit dieser Geschichte herauskomme“, nannte er in seiner Vernehmung vom 04.03.2008, dass „sie ihm jetzt das Leben mit ihren Lügen schwer mache, er nichts mehr von ihr wissen wolle und er zu seinem eigenen Schutz jetzt die Geschichte erzähle“. Mit Einsicht in das Unrecht seiner früheren Tat hat diese Aussage nichts zu tun. Mit Verfügung vom 13.02.2009 - 221 Js 45897/08 - sah die Staatsanwaltschaft Stuttgart ihm gegenüber nach § 154 StPO von der Erhebung der öffentlichen Klage ab. Das Amtsgericht Stuttgart verurteilte Frau V. am 24.06.2009 rechtkräftig zu einer Jugendstrafe von 18 Monate auf Bewährung.
90 
Auch im Übrigen sind keine greifbaren Anhaltspunkte dafür gegeben, dass sich der Kläger qualifiziert mit seiner schwerwiegenden Kriminalität und den dadurch angerichteten Schäden auseinandersetzt und hieraus Schlüsse für seine weitere Lebensführung abgeleitet hat. Eine solche einem Gesinnungs- und Persönlichkeitswandel regelmäßig vorausgehende „Bilanzierung“ ist im Regelfall ein längerer Prozess, der im Gefängnis auch üblicherweise durch den Psychologischen Dienst begleitet wird. Aus den beigezogenen und vollständigen Gefangenenpersonalakten ergeben sich aber keine Erkenntnisse dafür, dass eine Aufarbeitung des Fehlverhaltens betreffende qualifizierte psychologische Gespräche mit dem Kläger geführt worden wären. Wie dem Senat aus anderen Ausweisungsverfahren bekannt ist, wird die Tatsache, dass solche Gespräche erfolgen, in der Gefangenenpersonalakte festgehalten. Zwar hat der Kläger angegeben, mit dem Psychologen M. in der Justizvollzugsanstalt Gespräche geführt zu haben. Auf Nachfrage des Senats hat dieser in seinem Schreiben vom 30.03.2011 mitgeteilt, mit dem Kläger mehrere Gespräche (Einzelgespräche) geführt zu haben, könne aber mangels Aufzeichnungen nichts mehr über den Inhalt oder die Frequenz sagen. Dies sowie das Fehlen jeglicher Dokumentation über eine Tataufarbeitung in den Gefangenenpersonalakten lässt den Schluss zu, dass es sich hierbei nur um „Alltagsgespräche“ zur Unterstützung des Klägers im Strafvollzug gehandelt haben kann.
91 
Nach der Überzeugung des Senats ist die in der begangenen Rauschgiftkriminalität angelegte erhebliche Wiederholungsgefahr, die vor allem aus dem Ausmaß der Taten und der diesen zugrunde liegenden Motivation herrührt, nicht dadurch relativiert, dass sich der Kläger im Strafvollzug beanstandungsfrei geführt und diesen effizient zur Weiterbildung genutzt hat. Ein solches Verhalten lässt noch nicht auf einen dauerhaften Wandel schließen. Für den Umstand, dass der Kläger in seiner bisherigen kurzen Bewährungszeit nicht negativ aufgefallen ist, gilt entsprechendes. Auch die Lebensumstände des Klägers nach seiner Haftentlassung sind keine grundlegend anderen als diejenigen, die vor seinem Einstieg in die Drogenstraftaten vorlegen haben, wobei die immense Schuldenbelastung sogar ein zusätzlicher negativer Faktor ist. Der Kläger selbst gibt im Zusammenhang mit der Prüfung der Strafrestaussetzung und im Ausweisungsverfahren an, er habe erkannt, dass er sehr viel falsch gemacht habe. Er habe aus Geldgier andere Menschen vergiftet. Er habe sich vor allem durch die Hafterfahrung geändert und verfolge jetzt andere Ziele. Seine Familie sei ihm wichtig, er habe jetzt eine andere Weltanschauung. Diesen verbalen Bekundungen misst der Senat aber kein besonderes Gewicht zu, denn die Angaben des Klägers zeichnen sich in weiten Teilen dadurch aus, dass er für eine positive Veränderung der Lebensumstände und einen nachhaltigen Gesinnungswandel durchaus relevante Tatsachen schönt oder sogar bewusst unwahr angibt und Negatives bagatellisiert. Diese Tendenz hat sich insbesondere bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat gezeigt. So ist es auffällig, dass der Kläger im August 2010 gegenüber der Gutachterin angegeben hat, zu früheren Freunden keinen Kontakt mehr zu haben und diesen auch nicht mehr haben zu wollen. Im Widerspruch dazu hat er ein früheres Bandenmitglied als „Trauzeugen“ anlässlich des Heiratsvertrags vom 12.02.2011 gewählt und dies in seiner Anhörung damit begründet, es handele sich bei diesem eben um einen vertrauten Freund seit seiner Kindheit, der kein schlechter Mensch sei. Auch bei der im Rahmen des „sozialen Empfangsraums“ relevanten Stabilität einer Beziehung hat der Kläger unzutreffende Angaben gemacht und eine frühere Beziehung, die ein ungünstiges Licht auf ihn werfen könnte, sogar ganz verschwiegen. Bemerkenswert ist ferner, dass er auf Frage nach Art und Umfang des gehandelten Rauschgifts dies von sich aus zunächst nicht zutreffend angegeben hat und auch auf Nachfrage hin in erster Linie auf die Aufzeichnungen des Zeugen KHK K. verwiesen hat. Den Ausgangspunkt seiner Straftaten sieht der Kläger darin, dass „er auf den gehört hat, auf den er nicht hören sollte“, und er „als der ... Y. ihn gefragt habe, ob er ihm helfen könne, da halt so reingerutscht sei“. Was das gegen ihn verhängte Strafmaß aufgrund des ausgehandelten Urteils anbelangt, so hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung von sich aus geäußert, „er könne wirklich nicht sagen, dass er durch seine Angaben eine Strafermäßigung bekommen habe; der Kopf der Bande habe zehn Jahre bekommen, er - angesehen als seine rechte Hand - neun Jahre; da sehe er keine Strafmaßminderung“. Diese beispielhaft aufgeführten Äußerungen deuten nicht nur darauf hin, dass er sich bis heute mit seinem kriminellen Verhalten nicht adäquat auseinandergesetzt hat, sondern zeigen auch, dass seine verbalen Bekundungen keine verlässliche Grundlage für die Annahme eines dauerhaften Wandels sind. Die Gefahr, dass der Kläger zukünftig in Verfolgung eigennütziger Ziele erneut der Versuchung des „schnellen Geldes“ unterliegen kann, besteht daher nach wie vor.
3.)
92 
Hinsichtlich der „Boultif/Üner-Kriterien“, die sich auf das Privat- und Familienleben beziehen, ist zunächst festzustellen, dass sich der Kläger - mit Ausnahme der Zeit von Anfang April 2004 bis 12.08.2005 - seit seiner Geburt im Oktober 1981 bis heute in Deutschland aufhält und damit - den Aufenthalt in den Niederlanden abgezogen - tatsächlich etwa 28 Jahre hier verbracht hat. Nahezu 23 Jahre, nämlich bis April 2004, ist der Aufenthalt rechtmäßig gewesen. Er beherrscht die deutsche Sprache in Wort und Schrift und hat seine gesamte Erziehung und Sozialisation im Bundesgebiet erfahren. Hier leben seine mittlerweile verwitwete Mutter und seine Geschwister sowie deren Familien. Er hat nach dem altersentsprechenden Erwerb des Hauptschulabschlusses eine Berufungsausbildung erfolgreich absolviert und in unmittelbarem Anschluss hieran ein Arbeitsverhältnis in dem erlernten Beruf aufgenommen. Die Verbindung zum Arbeitsmarkt hat er jedoch von sich aus gelöst, indem er im großen Stil in den Drogenhandel eingestiegen ist. Derzeit durchläuft er eine staatlich geförderte berufliche Weiterbildung zum Mediengestalter Digital und Print - Fachrichtung Gestaltung und Technik, die mit einem allgemein anerkannten Abschluss endet wird. Die dem Senat vorliegenden Zeugnisse deuten darauf hin, dass er seine Prüfungen im Sommer diesen Jahres voraussichtlich bestehen wird. Auf die Schulden in Höhe von nach wie vor weit über 800.000 EUR aufgrund des im Strafurteil angeordneten Verfalls des Wertersatzes, leistet der Kläger seit Anfang 2007 kontinuierlich monatliche Zahlungen, die regelmäßig an seine wirtschaftlichen Verhältnisse angepasst werden. Ob die sich aus dem Schreiben der Staatsanwaltschaft Stuttgart - Vermögensabschöpfung - vom 03.02.2011 ergebende Perspektive, möglicherweise nach Ablauf seiner Bewährungszeit die Vollstreckung aus der Verfallsanordnung erlassen zu bekommen, realisiert wird, ist offen.
93 
Die Kontakte zwischen dem Kläger und seinen Brüdern entsprechen dem unter Erwachsenen Üblichen. Der Kläger hat entsprechend der Auflage im Bewährungsbeschluss zunächst nach seiner Haftentlassung bei seiner Mutter gelebt, mittlerweile hält er sich jedoch tatsächlich bei seiner neuen Partnerin auf, die über eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG verfügt. Allerdings hilft er noch bei der Pflege seiner Mutter, indem er sie zum Arzt fährt oder die Einkäufe organisiert. Hilfe bei der eigentlichen Körperpflege leistet er keine, da er – wie er in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat – dies als Mann nicht gegenüber seiner Mutter erbringen könne. Mit seiner jetzigen Partnerin, die 1981 im Bundesgebiet geboren ist und einen serbischen Reisepass hat, sowie deren vier und acht Jahre alten Kindern aus einer früheren Beziehung lebt er seit November 2010 in familiärer Lebensgemeinschaft. Eine standesamtliche Heirat streben beide an, sobald die hierfür erforderlichen Unterlagen vollständig vorliegen, wobei nach den Angaben des Klägers nur noch Dokumente von Frau D. aus dem Kosovo fehlen. Der Senat geht davon aus, dass der Kläger insbesondere auch zu dem im Juni 2006 geborenen Sohn von Frau D. eine enge Beziehung aufgebaut hat und er - wie sich aus dem vorgelegten Schreiben des Kindergartens vom 12.04.2011 ergibt - einen positiven Einfluss auf diesen hat. Auch der Bewährungshelfer führt in seiner Stellungnahme vom 01.04.2011 aus, nach seiner eigenen Beobachtung fühlten sich die Kinder mit dem Kläger sehr wohl und pflegten einen vertrauten Umgang mit ihm. Aus den Erklärungen des Klägers und seiner Partnerin im Berufungsverfahren ergibt sich, dass ihre familiäre Lebensgemeinschaft fortgeführt und intensiviert werden soll; beide wollen nach einer Fehlgeburt weiterhin ein gemeinsames Kind.
4.)
94 
In dem Land seiner Staatsangehörigkeit hat der Kläger bislang noch keinen Lebensmittelpunkt gehabt. Er kennt die Türkei allerdings aus Besuchs- und Urlaubsreisen. Nach seinen Angaben sei seine früher in Kayseri lebende Großmutter mittlerweile verstorben, zuletzt sei er mit einer damaligen Freundin 2002 in Alanya gewesen. Der Kläger beherrscht alltagstauglich Türkisch in Wort und Schrift. Wie die Protokolle aus der Überwachung der Telekommunikation zeigen, ist innerhalb der Familie Türkisch benutzt worden. Teilweise gilt dies auch für die Abwicklung der Rauschgiftgeschäfte; sowohl unter den Bandenmitgliedern als auch unter den Lieferanten und Abnehmern haben sich türkischstämmige Personen befunden. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat letztlich auch eingeräumt, Türkisch in einer Weise zu sprechen und schreiben, die es ihm ermöglicht, sich dort zurecht zu finden. Aus der Beschreibung seiner Verlobungsfeier anlässlich des Untersuchungstermins bei der Gutachterin ergibt sich ferner, dass er türkische Bräuche und die dadurch vermittelte Tradition als wertvoll erlebt. Dass der Kläger in der Vergangenheit einem Leben in der Türkei nicht ablehnend gegenüber gestanden ist, verdeutlichen auch die Bemühungen seines damaligen Strafverteidigers um eine „Freigabe“ zur Abschiebung noch vor dem Halbstrafenzeitpunkt und auch die entsprechenden eigenen Äußerungen des Klägers, wonach er eine zügige Abschiebung in die Türkei anstrebe. Dies liegt „in einer Linie“ mit der jedenfalls im Mai 2005 auch nach außen verkündeten Absicht, in die Türkei zu gehen.
5.)
95 
Unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls erweist sich die unbefristet verfügte Ausweisung des Klägers auch in Ansehung der Tatsache, dass er die für sein Privat- und Familienleben konstitutiven Bindungen dauerhaft verlieren wird, aufgrund der besonderen Schwere des Ausweisungsanlasses und der nach wie vor von ihm ausgehenden Gefahr sowie der Zumutbarkeit der Verweisung auf ein Leben in der Türkei als verhältnismäßig. Zwar wird der Kläger nicht mehr in den Alltagsablauf seiner pflegebedürftigen Mutter eingebunden sein; eine Übernahme der bisher durch ihn erbrachten Hilfestellungen, bei denen es sich im Übrigen nicht um direkte pflegerische Leistungen handelt, durch andere Personen, insbesondere hier lebende Brüder, ist jedoch möglich. Dass eine Beendigung des Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet nicht nur für ihn, sondern für alle Familienangehörigen und auch für seine jetzige Partnerin und deren Kinder, die gerade erst eine Beziehung zu ihm aufgebaut haben, mit einer Härte verbunden ist, liegt auf der Hand. Allerdings kommt den neuen, ohnehin erst seit wenigen Monaten praktizierten, Bindungen zu Frau D. und deren Kindern ohnehin kein qualifizierter Schutz zu, weil sie in Kenntnis des laufenden Ausweisungsverfahrens eingegangen worden sind. Auch ist der Kläger weder der Vater der Kinder noch hat er mit seiner Partnerin eine nach deutschen Recht anerkannte Ehe geschlossen. Der Kläger wird auch seine beruflichen und sozialen Positionen und Kontakte und all das, was sein Privatleben letztlich ausmacht, durch eine Aufenthaltsbeendigung unwiederbringlich verlieren. Dies ist ihm jedoch aufgrund des öffentlichen Interesses an seiner Ausweisung und der Tatsache, dass ihm ein Einleben in die ihm nicht gänzlich unbekannten Verhältnisse in der Türkei möglich ist, zuzumuten - zumal er schon seit seiner Überstellung aus den Niederlanden im August 2005 nicht mehr über einen legalen Aufenthalt im Bundesgebiet verfügt und er im Übrigen damals von sich aus durch seine Flucht seine Bindungen an das Bundesgebiet gelöst hat.
96 
Der Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit gebietet es ebenfalls nicht, schon zum Zeitpunkt der Ausweisung deren Wirkungen zu befristen. Aufgrund des Ausmaßes der vom Kläger ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und ihrer derzeit nicht sicher zu prognostizierenden zukünftigen Entwicklung muss eine Befristung einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben. Das insoweit eher gering anzusiedelnde Gewicht der Interessen des Ausländers und seiner Angehörigen erfordert keine andere Entscheidung.
97 
Ob aufgrund der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. EU L 348/2008, S. 98 ff.), die nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 24. Dezember 2010 inzwischen unmittelbar anwendbar ist, jedenfalls mit Blick auf die Tatsache, dass sich der Kläger schon seit August 2005 nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und die Legalität des Aufenthalts daher nicht unmittelbar durch die Ausweisung beendet wird, die Wirkungen des Einreiseverbots schon jetzt und von Amts wegen zu befristen wären, kann dahin gestellt bleiben. Denn eine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne des Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie, die im Falle des gesetzlichen Erlöschens des Aufenthaltsrechts funktionell in der Abschiebungsandrohung liegt, ist nicht Gegenstand der Entscheidung im Berufungsverfahren.
IV.)
98 
Unabhängig hiervon erweist sich eine Ausweisung des Klägers nach § 53 AufenthG aus dem dieser Bestimmung selbstständig neben der Spezialprävention zugrunde liegenden Zweck der Generalprävention selbst mit Blick darauf, dass es sich beim ihm um einen hier geborenen und aufgewachsenen Ausländer der zweiten Generation handelt, als verhältnismäßig (Art. 8 EMRK sowie Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG).
99 
Der Gesetzgeber hat in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ist-Ausweisung nach § 47 Abs. 1 AuslG 1990, wonach diese auch zu einem generalpräventiven Einschreiten ermächtigt (BVerwG, Beschluss vom 30.12.1993 - 1 B 185.93 - juris Rn. 4 f. unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung zu §§ 45 ff. AuslG 1990 ), die Vorschrift inhaltlich in das Aufenthaltsgesetz übernommen und damit im Rahmen der ihm zustehenden Einschätzungs- und Wertungsprärogative zur Notwendigkeit und Wirksamkeit der Generalprävention § 53 AufenthG auch diesen Ausweisungszweck stillschweigend zugrunde gelegt (vgl. GK-AufenthG § 53 Rn. 22 f., Vor §§ 53 ff. Rn. 1300.2). Zwar hat der Senat mit Urteil vom 18.03.2011 (11 S 2/11 - juris) entschieden, dass seit Inkrafttreten des EU-Reformvertrags von Lissabon am 01.12.2009 eine Ausweisung bei in Deutschland nachhaltig „verwurzelten“ Ausländern in der Regel nicht mehr tragend generalpräventiv begründet werden kann. Er hat jedoch in den Urteilsgründen auch ausgeführt, dies könne allerdings ausnahmsweise dann zulässig sein, wenn eine ganz besonders schwerwiegende Straftat verwirklicht worden ist, die in erheblichem Maße die Interessen des Staates oder der Gesellschaft gefährdet. Gemessen hieran steht Art. 8 EMRK in Ansehung der Bindungen des Klägers im Bundesgebiet einer generalpräventiv motivierten Ausweisung nicht entgegen, weil die von ihm verwirklichte schwerwiegende bandenmäßige Betäubungsmittelkriminalität in einem erheblichen Maße die Interessen des Staates bzw. der Gesellschaft gefährdet und im konkreten Fall das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels sein Privatinteresse an einem weiteren Verbleib überwiegt.
1.)
100 
Der der zwingenden Ausweisung nach § 53 AufenthG innewohnende Zweck, andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten abzuhalten, ist im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung des Klägers nicht in einer die Verhältnismäßigkeit berührenden Weise schon dadurch entwertet oder gemindert, dass die Ausweisung bis heute nicht vollzogen ist, andere Bandenmitglieder nicht ausgewiesen worden sind bzw. eine generalpräventive Ausweisung im Kampf gegen die Betäubungsmittelkriminalität ein Fremdkörper in dem durch die strafrechtliche Anerkennung von Aufklärungshilfen geprägten System wäre.
101 
Unter dem zeitlichen Gesichtspunkt kommt es nur darauf an, dass die Ausländerbehörde im Rahmen der Erfordernisse des Verwaltungsverfahrens die Ausweisung zeitnah verfügt. (vgl. hierzu auch VGH Bad.-Württ. Urteil vom 26.07.2001 - 13 S 2401/99 - juris Rn. 29). Das Regierungspräsidium leitete bereits am 25.08.2005 das Ausweisungsverfahren ein, gab dem Prozessbevollmächtigten des Klägers nach Erhalt des Strafurteils am 02.03.2006 Gelegenheit zur Stellungnahme und erließ am 04.10.2006 und damit ohne zeitliche Verzögerung die Ausweisungsverfügung. Dass diese bis heute nicht vollzogen ist und die Generalprävention erst aufgrund der Erkenntnis, dass der Kläger seine Rechte aus dem ARB 1/80 verloren hat, „ins Spiel kommt“, ist Konsequenz des Rechtsschutzsystems und steht als solches der Eignung der generalpräventiven Wirkung nicht entgegen. Die Verhältnismäßigkeit wird im konkreten Fall auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der „Bandenchef“ Hadi Y., der es im Gegensatz zum Kläger nicht abgelehnt hat, in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden, und auch die Brüder des Klägers N. und M., die Rechtsstellungen nach dem ARB 1/80 besitzen, nach wie vor in Deutschland leben. Die gegen die Brüder ergangenen Ausweisungsverfügungen des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 28.04.2005 bzw. 03.05.2005 sind vom Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteilen vom 22.02.2006 - 16 K 1744/05 - und vom 05.07.2006 - 16 K 1821/05 - wegen eines formellen Fehlers rechtskräftig aufgehoben worden. Die Fälle sind schon aufgrund der unterschiedlichen Sachverhalte und der jeweils einschlägigen Rechtsgrundlagen nicht mit der hier vorliegenden Konstellation vergleichbar. Was schließlich den Einwand der fehlenden „Systemkonformität“ von Ausweisung und Aufklärungshilfe nach § 31 BtMG anbelangt, so kommt dem schon deshalb keine Bedeutung zu, weil sich der Gesetzgeber in Kenntnis des im Prinzip seit 1982 geltenden § 31 BtMG (Weber, BtMG, a.a.O., § 31 Rn. 4) zu einer Verschärfung des Ausweisungsrechts gerade im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität entschlossen hat. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994 schuf in § 47 Abs. 1 Nr. 3 AuslG eine zwingende Ausweisung wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz, um dem aus dem Interesse an konsequenter Bekämpfung der Drogenkriminalität hergeleiteten Grundsatz Rechnung zu tragen, dass ausländische Drogentäter ihr Aufenthaltsrecht verwirken und aus dem Bundesgebiet ausgewiesen werden (so die Begründung des Gesetzentwurfs BT-Drs. 12/6853, S. 30). Der Gesetzgeber hat die Konsequenzen und die Anerkennung geleisteter Aufklärungshilfe nach Maßgabe des § 31 BtMG - wie in der Systematik angelegt - grundsätzlich auf das Strafrecht beschränkt.
2.)
102 
Auch Art. 8 EMRK hindert im vorliegenden Fall nicht daran, den Kläger aus generalpräventiven Gründen auszuweisen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte steht der Generalprävention als Ausweisungszweck zwar grundsätzlich kritisch gegenüber (Senatsurteil vom 18.03.2011 - 11 S 2/11 - juris Rn. 28), hat deren Zulässigkeit aber bisher nicht ausdrücklich verneint, sondern dies vielmehr als einen Aspekt der Einzelfallprüfung behandelt (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 06.12.2007 - Nr. 69735/01 - InfAuslR 2008, 111 und vom 28.06.2007 - Nr. 31753/02 - InfAuslR 2007, 325; näher Hoppe, Neuere Tendenzen in der Rechtsprechung zur Aufenthaltsbeendigung - gibt es eine gemeinsame Linie in den Entscheidungen von EGMR, EuGH und BVerfG?, ZAR 2008, 251, 253 m.w.N.). Der Gerichtshof betont in seiner Rechtsprechung die verheerenden Folgen von Drogen auf das Leben der Menschen und „hat Verständnis dafür, dass die Behörden mit großer Bestimmtheit gegen jene vorgehen, die aktiv zur Verbreitung dieser Plage beitragen“ (EGMR, Urteil vom 12.01.2010 - Nr. 47486/06 - ). Speziell was den bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmittel anbelangt, hat der EuGH in dem zur Unionsbürgerrichtlinie ergangenen Urteil vom 23.11.2010 (C-145/09 - Rn. 46 ff.) darauf verwiesen, dass dieser eine diffuse Kriminalität darstelle, die mit beeindruckenden wirtschaftlichen und operativen Mitteln ausgestattet sei und sehr häufig über internationale Verbindungen verfüge. Angesichts seiner verheerenden Folgen sei mit dem illegalen Drogenhandel eine Bedrohung der Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Unionsbürger sowie der legalen Wirtschaftstätigkeit, der Stabilität und der Sicherheit der Mitgliedstaaten verbunden.
103 
Aufgrund der oben im Einzelnen dargelegten Intensität und des Umfangs des bandenmäßigen Drogenhandels, der im konkreten Fall auch mit den typischen Gefahren der Rauschgiftkriminalität tatsächlich verbunden gewesen ist, erweist sich die generalpräventive Ausweisung des Klägers, der in diesem illegalen „Geflecht“ eine führende Stellung eingenommen hat, unter Berücksichtigung seiner persönlichen Belange und dem Interesse an einer weiteren Lebensführung im Bundesgebiet (vgl. insoweit oben unter III.) als verhältnismäßig.
V.)
104 
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 2 Satz 1, 155 Abs. 1 Satz 3 154 Abs. 2 VwGO.
105 
Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
106 
Soweit der Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt worden ist, ist das Urteil unanfechtbar.
107 
Beschluss vom 15. April 2011
108 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gem. § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
109 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Tatbestand

1

Der im Jahr 1981 in Deutschland geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine unbefristete Ausweisung.

2

Der Vater des Klägers war 1973 in das Bundesgebiet eingereist und hier als Arbeitnehmer tätig. Er ist mittlerweile verstorben. Der Kläger hat vier ältere Brüder, die alle in Deutschland leben. Auch seine pflegebedürftige Mutter lebt hier. Der Kläger wuchs bei seinen Eltern auf und war seit Oktober 1997 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. 1998 schloss er die Hauptschule und 2001 eine Lehre als Verpackungsmittelmechaniker ab.

3

Am 8. April 2004 ordnete das Amtsgericht S. gegen den Kläger Untersuchungshaft an, weil er dringend verdächtig war, als Mitglied einer Bande mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben. Der Aufenthalt des Klägers war zum damaligen Zeitpunkt unbekannt. Tatsächlich war er in die Niederlande geflohen. Dort hielt er sich 14 Monate auf, bis er am 2. Juni 2005 verhaftet und am 12. August 2005 an die Bundesrepublik Deutschland überstellt wurde.

4

Mit Urteil des Landgerichts S. vom 24. November 2005 wurde der Kläger wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 12 tatmehrheitlichen Fällen sowie unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 16 tatmehrheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren verurteilt. Der Verfall eines Wertersatzes in Höhe von 857 300 € wurde angeordnet. Der Verurteilung lag ein Handeltreiben mit etwas mehr als 200 kg Marihuana sowie 500 g Kokain zugrunde. Tatsächlich war jedoch unter führender Beteiligung des Klägers nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs von Januar 2002 bis zu seiner Verhaftung im Juni 2005 mit insgesamt 2 Tonnen Marihuana, mindestens 5 kg Kokain und mit Ecstasy-Tabletten gehandelt worden (UA S. 33), davon 1,5 Tonnen Marihuana vor seiner Flucht in die Niederlande (UA S. 20) und 500 kg nach der Flucht. Das war der Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung nicht bekannt.

5

Der Beklagte wies den Kläger mit Bescheid vom 4. Oktober 2006 aus, ohne die Wirkungen der Ausweisung zu befristen, und drohte ihm für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung der Ausweisung stützte sich der Beklagte darauf, dass der Kläger trotz der von ihm erworbenen assoziationsrechtlichen Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 und Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 im Ermessenswege ausgewiesen werden könne, weil die Voraussetzungen des Art. 14 ARB 1/80 erfüllt seien. Mit den Drogenstraftaten habe der Kläger ein persönliches Verhalten an den Tag gelegt, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle. Zudem liege eine konkrete Wiederholungsgefahr vor. Der Kläger sei wegen zahlreicher Einzeltaten verurteilt worden, die sich über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckt hätten. Auch wenn er seit seiner Geburt in Deutschland lebe, sei er doch nicht ohne Bindungen in die Türkei. Das Interesse der Gesellschaft an der Verhinderung weiterer Straftaten sei aber höher zu bewerten als das Interesse des Klägers am Zusammenleben mit seinen Eltern und seinen Brüdern. Die Ausweisung wurde ohne Beteiligung einer weiteren Verwaltungsbehörde erlassen.

6

Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 12. März 2008 ab. Während des Berufungsverfahrens ordnete die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 26. Oktober 2010 die Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe an und setzte eine Bewährungszeit von drei Jahren fest. Die bedingte Entlassung erfolgte etwa ein halbes Jahr vor der Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe. Zur Begründung der Entscheidung stützte sich die Strafvollstreckungskammer im Wesentlichen auf ein kriminalprognostisches Gutachten und eine eigene Anhörung des Klägers.

7

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof ist der Kläger eingehend zu den Tathintergründen und seinem Verhalten nach der Tat befragt worden. Weiter wurde Kriminalhauptkommissar K., der die Ermittlungen gegen den Kläger und die Drogenbande geleitet hatte, als Zeuge vernommen. Schließlich wurde die Gutachterin aus dem Strafvollstreckungsverfahren zur Erläuterung ihres Gutachtens angehört.

8

Der Beklagte hat im Termin zur mündlichen Verhandlung die Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 4. Oktober 2006 aufgehoben. Der Rechtsstreit wurde insoweit übereinstimmend für erledigt erklärt.

9

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 15. April 2011 die Berufung hinsichtlich der Ausweisung zurückgewiesen: Der Kläger habe nur bis zum April 2004 ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 ARB 1/80 besessen. Er sei als Sohn eines in der Vergangenheit dem deutschen Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers geboren, was nach fünf Jahren zum Erwerb einer Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 geführt habe. Mit dem Abschluss seiner Lehre habe er auch eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 erworben. Diese Rechte habe er aber durch seine Flucht aus dem Bundesgebiet vor der ihm drohenden Strafverfolgung verloren, weil er sich auf unabsehbare Zeit außerhalb Deutschlands habe aufhalten wollen. Insbesondere die Beschaffung eines fremden türkischen Reisepasses und die Fortsetzung der Betäubungsmittelkriminalität von den Niederlanden aus verdeutlichten, dass er sich nicht nur vorübergehend auf ein Leben in einem anderen Land eingestellt gehabt habe.

10

Damit sei § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG Rechtsgrundlage für die Ausweisung. Besonderen Ausweisungsschutz genieße der Kläger nicht, weil seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach § 44 Abs. 1 AuslG 1990 erloschen sei, als er mit seiner Flucht in die Niederlande aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund ausgereist sei. Die spezialpräventive Ausweisung des Klägers erweise sich aufgrund der von ihm nach wie vor ausgehenden Wiederholungsgefahr auch nach Art. 8 EMRK als verhältnismäßig. Der Kläger habe als junger Erwachsener bis zu seiner Festnahme Straftaten verübt, die ihn als Intensivtäter auf dem Gebiet der Rauschgiftkriminalität auswiesen. Er habe ohne durchgreifende Skrupel die Sucht anderer als Mittel für seine persönliche Bereicherung eingesetzt. Auch aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger sei der Senat davon überzeugt, dass vom Kläger nach wie vor die in den Taten angelegte Wiederholungsgefahr ausgehe. Dem kriminalprognostischen Gutachten werde keine entscheidungserhebliche Bedeutung zugemessen, weil es auf unzutreffenden tatsächlichen Annahmen beruhe und in zentralen Punkten nicht schlüssig sei. Diese Mängel hätten nicht ausgeräumt werden können. Die Gutachterin habe u.a. nicht in den Blick genommen, dass der Kläger mehr als 800 000 € Schulden habe.

11

Die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung noch vor Ablauf des Zweidritteltermins führe nicht dazu, dass die Frage der Wiederholungsgefahr günstiger zu sehen sei. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer sei auf das mangelhafte Gutachten gestützt. Auch sei der Senat aufgrund des gewonnenen Eindrucks vom Kläger überzeugt, dass dieser keine nachhaltige Persönlichkeitswandlung und Verhaltensänderung durchlaufen habe. Die beanstandungsfreie Führung und Weiterbildung des Klägers im Vollzug lasse nicht auf einen dauerhaften Wandel schließen. Gleiches gelte dafür, dass er in seiner bisherigen kurzen Bewährungszeit nicht negativ aufgefallen sei. Die Lebensumstände unterschieden sich nach der Haftentlassung nicht grundlegend von denen, die vor dem Einstieg in die Kriminalität vorgelegen hätten; die immense Schuldenbelastung sei sogar ein zusätzlicher negativer Faktor. Die Ausweisung sei auch unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verhältnismäßig.

12

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Kläger weiterhin die Aufhebung der Ausweisung. Hilfsweise erstrebt er ihre sofortige Befristung. Er rügt, er habe seine Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 mit der Flucht in die Niederlande entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs nicht verloren. Insoweit komme es nicht auf den subjektiven Willen an, sondern auf das objektive Geschehen. Ein Auslandsaufenthalt von etwas mehr als einem Jahr genüge nicht, um die Rechtsposition zum Erlöschen zu bringen. Einer zwingenden Ausweisung stehe weiter entgegen, dass der Kläger im Februar 2011 eine kosovarische Staatsangehörige nach islamischem Ritus geheiratet habe und mit ihr und ihren Kindern nunmehr in familiärer Gemeinschaft zusammenlebe. Die Ausweisung sei darüber hinaus verfahrensfehlerhaft ergangen, weil das Gebot zur Einschaltung einer unabhängigen Stelle im einstufigen Verwaltungsverfahren aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG verletzt worden sei. Im Übrigen müsse berücksichtigt werden, dass der Kläger nach Abschluss des Berufungsverfahrens seine Lebensgefährtin standesamtlich geheiratet habe. Diese sei im November 2012 eingebürgert worden. Die Eheleute seien seit dem 5. Januar 2012 auch Eltern einer deutschen Tochter. Diese neuen Tatsachen seien im Revisionsverfahren jedenfalls insoweit zu berücksichtigen, als sie sich aus Urkunden ergäben.

13

Der Beklagte tritt der Revision entgegen. Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren beteiligt und hält die Revision für unbegründet.

Entscheidungsgründe

14

Die zulässige Revision des Klägers hat nur in geringem Umfang Erfolg. Das Berufungsgericht hat jedenfalls im Ergebnis zu Recht die Ausweisung als rechtmäßig angesehen (1.). Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG i.d.F. des während des Revisionsverfahrens in Kraft getretenen Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 ist der Beklagte jedoch zu verpflichten, die in Satz 1 und 2 der Vorschrift genannten Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von neun Jahren zu befristen (2.).

15

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung und des Befristungsbegehrens ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts, hier also des Berufungsgerichts am 15. April 2011 (Urteil vom 15. November 2007 - BVerwG 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 Rn. 12). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (Urteil vom 11. Januar 2011 - BVerwG 1 C 1.10 - BVerwGE 138, 371 Rn. 10 = Buchholz 451.902 Europ. Ausl. u. Asylrecht Nr. 47 m.w.N.). Maßgeblich sind deshalb die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union vom 1. Juni 2012 (BGBl I S. 1224). Damit sind insbesondere auch die Änderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) - im Folgenden: Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 - zu beachten.

16

1. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig. Dabei kann offenbleiben, ob der Kläger in dem für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt eine Rechtsstellung nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 (ANBA 1981, 4 = InfAuslR 1982, 33) - ARB 1/80 - besaß oder ob - wovon das Berufungsgericht ausgeht - diese Rechtsstellung erloschen ist und sich die Ausweisung daher allein nach nationalem Aufenthaltsrecht beurteilt. Für den Fall des Erlöschens des assoziationsrechtlich begründeten Aufenthaltsrechts ist das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass die verfügte Ausweisung den Voraussetzungen des § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Aber selbst wenn die Ausweisung an den Maßstäben des ARB 1/80 zu messen ist, erweist sie sich als rechtmäßig.

17

1.1 Der Kläger hat eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 erworben. Er ist in Deutschland als Sohn eines nach Deutschland gezogenen türkischen Arbeitnehmers geboren und aufgewachsen. Damit erfüllt er - ungeachtet des Umstands, dass er nicht zu seinem Vater nachgezogen ist - die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 (vgl. Urteil vom 6. Oktober 2005 - BVerwG 1 C 5.04 - BVerwGE 124, 243 <246> = Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 45). Er hat im Bundesgebiet zudem eine Berufsausbildung abgeschlossen, so dass er auch nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 privilegiert ist.

18

Geht man davon aus, dass der Kläger seine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 nicht verloren hat, bestimmt sich die Rechtmäßigkeit der gegen ihn verfügten Ausweisung nach § 55 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besitzt der Kläger nicht, da sein nationaler Aufenthaltstitel infolge der Ausreise in die Niederlande im April 2004 erloschen ist (vgl. § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1990). Gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 kann der Kläger nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt und die Maßnahme für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - Rs. C-371/08, Ziebell - NVwZ 2012, 422 Rn. 86). Das ist hier der Fall.

19

1.2 Die Gefahren, die vom gewerbsmäßigen illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, sind schwerwiegend und berühren ein Grundinteresse der Gesellschaft. Die betroffenen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit der Bürger nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen hohen Rang ein. Der Gerichtshof der Europäischen Union sieht in der Rauschgiftsucht ein "großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit" (vgl. EuGH, Urteil vom 23. November 2010 - Rs. C-145/09, Tsakouridis - NVwZ 2011, 221 Rn. 47). Er verweist auf die "verheerenden Folgen" gerade des bandenmäßigen Handels mit Betäubungsmitteln für die Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Unionsbürger sowie der legalen Wirtschaftstätigkeit, der Stabilität und der Sicherheit der Mitgliedstaaten (a.a.O. Rn. 46). Die Mitgliedstaaten dürfen daher die Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefahr für die Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen gegen Ausländer rechtfertigt, die gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstoßen (a.a.O. Rn. 54). Im Übrigen zählt der illegale Drogenhandel zu den Straftaten, die in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV als Bereiche besonders schwerer Kriminalität genannt werden. Diese können als schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses angesehen werden und die Ausweisung von Personen rechtfertigen, die entsprechende Straftaten begangen haben (vgl. EuGH, Urteil vom 22. Mai 2012 - Rs. C-348/09, P.I. - NVwZ 2012, 1095 Rn. 28). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht den Handel mit Betäubungsmitteln, selbst wenn er nicht bandenmäßig begangen wird, als schwerwiegende Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Interessen an (vgl. Urteile vom 3. November 2011 - Nr. 28770/05, Arvelo Aponte/Niederlande - Rn. 58 und vom 12. Januar 2010 - Nr. 47486/06, Khan/Vereinigtes Königreich - InfAuslR 2010, 369 Rn. 40 m.w.N.).

20

Nach diesen Maßstäben stellt das persönliche Verhalten des Klägers eine schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft im Sinne des Art. 14 ARB 1/80 dar. Er hat aus reinem Gewinnstreben bandenmäßig mit Betäubungsmitteln gehandelt, und zwar in führender Position innerhalb der Bande. Der illegale Handel erfolgte über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren und bezog sich auf eine sehr große Menge Marihuana (2 Tonnen) sowie eine erhebliche Menge Kokain (mindestens 5 kg). Der Kläger hat den Drogenhandel auch nach Aufdeckung seines strafbaren Verhaltens vom Ausland aus fortgesetzt.

21

1.3 Das Berufungsgericht hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise für den Kläger die Gefahr der Wiederholung seines strafbaren Verhaltens im Bereich der Drogenkriminalität bejaht. Es hat die Tatumstände, die Persönlichkeitsstruktur des Klägers, bei dem die gebotene Einsicht, Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Geschehenen fehlen, seine hohe Schuldenbelastung, aber auch seine beanstandungsfreie Führung im Strafvollzug sowie in der anschließenden Bewährungszeit und die vom Kläger im Vollzug genutzte Möglichkeit zur Weiterbildung umfassend gewürdigt. Nach der Überzeugung des Gerichts lässt sich eine erhebliche Wiederholungsgefahr vor allem aus dem Ausmaß der vom Kläger begangenen Taten und der diesen zugrunde liegenden Motivation ableiten. Das Berufungsgericht kam nach ausführlicher Anhörung des Klägers in der mehrstündigen mündlichen Verhandlung zu dem Ergebnis, dass der Kläger in den Jahren nach Beendigung seiner Taten keinen grundlegenden Persönlichkeitswandel vollzogen hat, der verlässlich den Schluss auf ein zukünftig straffreies Leben zulässt.

22

Dabei hat sich das Gericht eingehend mit dem kriminalprognostischen Gutachten vom September 2010 auseinandergesetzt, das zur Aussetzung der Restfreiheitsstrafe durch die Strafvollstreckungskammer führte. Darin ist die Gutachterin zu dem Ergebnis gekommen, dass die durch die Taten zutage tretende Gefährlichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr fortbesteht. Das Berufungsgericht ist dem Gutachten nicht gefolgt, weil es nach seiner Auffassung in wesentlichen Punkten auf unzutreffenden tatsächlichen Annahmen beruht, in zentralen Punkten nicht schlüssig ist und die Mängel auch nicht durch die Erklärungen der Gutachterin in der mündlichen Verhandlung ausgeräumt werden konnten. So hat sich die Gutachterin als Beleg dafür, dass der Kläger nunmehr andere Ziele im Leben verfolge, auf seine enge Beziehung zu einer türkischstämmigen Frau bezogen, mit der er sich verloben wolle. Tatsächlich hatte er zum Zeitpunkt der Begutachtung schon Kontakt zu seiner heutigen Ehefrau aufgenommen, was er der Gutachterin verschwiegen hatte. Ferner hatte der Kläger gegenüber der Gutachterin angegeben, zu seinen früheren Freunden keinen Kontakt mehr zu haben. Tatsächlich war aber sein langjähriger Freund M., der ebenfalls der Drogenbande angehörte, Trauzeuge bei der Heirat nach islamischem Ritus mit seiner heutigen Ehefrau, und zwar wenige Monate nach der Begutachtung. Ferner ist die Gutachterin davon ausgegangen, dass der Kläger mit Marihuana im Kilogrammbereich gehandelt habe, während sich das Volumen des Handels mit diesem Betäubungsmittel auf 2 Tonnen bezog und dazu noch der Handel mit mindestens 5 kg Kokain und mit Ecstasy-Tabletten kam. Schließlich hatte die Gutachterin die hohe verbliebene Schuldenbelastung des Klägers von mehr als 800 000 € nicht berücksichtigt. Die Einschätzung, dass die Inhaftierung beim Kläger offenkundig zu einem Gesinnungswandel geführt habe, hatte die Gutachterin nach einer lediglich eineinhalbstündigen Exploration gewonnen, während das Berufungsgericht aufgrund seiner mehrstündigen Verhandlung, in der auch der Kläger eingehend angehört und befragt wurde, zu dem gegenteiligen Ergebnis kam.

23

Das Berufungsgericht war bei seiner Gefahrenprognose nicht an die Einschätzung der Strafvollstreckungskammer bei deren Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gebunden. Zwar sind die Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der Prognose ein wesentliches Indiz dar. Eine Bindungswirkung geht von den strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidungen jedoch nicht aus. Die sich nach Unionsrecht bestimmende Prognose, ob der Ausländer eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt, bestimmt sich nämlich nicht nach strafrechtlichen Gesichtspunkten, auch nicht nach dem Gedanken der Resozialisierung. Vielmehr haben die zuständigen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose über die Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. Urteile vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C 17.94 - Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 10 = NVwZ 1997, 1119<1120> und vom 16. November 2000 - BVerwG 9 C 6.00 - BVerwGE 112, 185 <193> = Buchholz 402.240 § 51 AuslG Nr. 40; Discher, in: GK-AufenthG, Stand: Juni 2009, vor §§ 53 ff. Rn. 1241 ff.). Dabei haben sie auch sonstige, den Strafgerichten möglicherweise nicht bekannte oder von ihnen nicht beachtete Umstände des Einzelfalles heranzuziehen. Sie können deshalb sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung gelangen. Im vorliegenden Fall erscheint ein Abweichen des Berufungsgerichts von der positiven Sozialprognose der Strafvollstreckungskammer schon deshalb nachvollziehbar, weil die strafrichterliche Entscheidung auf einem als mangelhaft bewerteten kriminalprognostischen Gutachten beruhte und sich das Berufungsgericht zudem auf neuere Erkenntnisse aus der Zeit nach Haftentlassung (z.B. erneuter Kontakt zu einem Mitglied der früheren Drogenbande) und insbesondere auf eine aktuelle ausführliche Befragung des Klägers, der Gutachterin und des ermittelnden Polizeibeamten stützen konnte. Damit ergibt sich aus den Feststellungen des Berufungsgerichts, dass das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von Art. 14 ARB 1/80 darstellt. Dem steht nicht entgegen, dass das Berufungsgericht seine Gefahrenprognose im Rahmen der Prüfung von § 53 AufenthG getroffen hat. Denn die getroffenen Feststellungen und deren tatrichterliche Würdigung ermöglichen dem Revisionsgericht die rechtliche Beurteilung, dass die Gefahrenschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 überschritten ist.

24

1.4 Die Ausweisung des Klägers erweist sich auch unter Würdigung seiner schützenswerten Belange als unerlässlich, um das oben näher beschriebene Grundinteresse der Gesellschaft zu wahren (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 86). Das Berufungsgericht hat die schützenswerten Belange des Klägers, die sich auf sein Privat- und Familienleben beziehen, unter Zugrundelegung der in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten Kriterien umfassend gewürdigt (vgl. Urteile vom 2. August 2001 - Nr. 54273/00, Boultif/Schweiz - InfAuslR 2001, 476 und vom 18. Oktober 2006 - Nr. 46410/99, Üner/Niederlande - NVwZ 2007, 1279). Es hat in den Blick genommen, dass der Kläger in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, die deutsche Sprache beherrscht und seine gesamte Erziehung und Sozialisation in Deutschland erfahren hat. Das Gericht hat auch die familiären Bindungen des Klägers an seine in Deutschland lebende Mutter und seine Geschwister sowie deren Familien berücksichtigt. Die zunächst erfolgreiche Integration in den deutschen Arbeitsmarkt hat der Kläger allerdings von sich aus gelöst, indem er sich nur noch im illegalen Drogenhandel betätigte. Zugleich hat das Berufungsgericht die in der Haftzeit begonnene und zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bereits weit fortgeschrittene berufliche Weiterbildung des Klägers zum Mediengestalter positiv gewürdigt. In die Verhältnismäßigkeitsprüfung hat das Gericht auch die Tatsache einbezogen, dass der Kläger nunmehr in einer Lebensgemeinschaft mit Frau D. und deren minderjährigen Kindern lebt, die Eheschließung mit Frau D. anstrebt und mit ihr einen Kinderwunsch verwirklichen möchte. Die Ausweisung des Klägers ist aber auch unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls aufgrund der besonderen Schwere des Ausweisungsanlasses und der nach wie vor von ihm ausgehenden Gefahr sowie der Zumutbarkeit der Verweisung auf ein Leben in der Türkei verhältnismäßig; sie ist im Hinblick auf die Vorgaben des Unionsrechts und der EMRK nicht zu beanstanden.

25

Entgegen der Auffassung des Klägers kann die Tatsache, dass der Kläger im Verlauf des Revisionsverfahrens standesamtlich geheiratet hat, seine Ehefrau und deren Kinder deutsche Staatsangehörige geworden sind und der Kläger Vater eines eigenen Kindes mit deutscher Staatsangehörigkeit geworden ist, der Entscheidung des Senats nicht zugrunde gelegt werden. Das Bundesverwaltungsgericht ist - abgesehen von Fällen begründeter Verfahrensrügen - entsprechend seiner vornehmlich auf die Rechtsprüfung beschränkten Aufgabenstellung nach § 137 Abs. 2 VwGO an die vom Berufungsgericht in der angefochtenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden. Diese das Rechtsmittel der Revision kennzeichnende Beschränkung führt dazu, dass das Revisionsgericht - im Gegensatz zum Berufungsgericht (§ 128 VwGO) - neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel nicht berücksichtigt. Die in § 137 Abs. 2 VwGO enthaltene revisionsrechtliche Sperre für die Berücksichtigung neuer tatsächlicher Umstände wird nicht dadurch überwunden, dass Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen das Vorliegen einer gegenwärtigen, d.h. aktuellen Gefahr verlangt (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 80, 82 und insbesondere Rn. 84). Damit wird der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sachlage angesprochen, der infolge der der Verwaltungsgerichtsordnung zu entnehmenden Trennung zwischen Tatsacheninstanzen und Revisionsinstanz nur für Entscheidungen der Tatsachengerichte maßgeblich ist. Denn nur ihnen obliegt gemäß § 86 Abs. 1 §§ 108 und 128 VwGO die Erforschung des Sachverhalts und die Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen im Wege freier richterlicher Beweiswürdigung. Diese Trennung der Funktionen von Tatsachen- und Revisionsinstanz wird durch das Unionsrecht nicht modifiziert, da es nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten ist, das gerichtliche Verfahrensrecht auch insoweit zu regeln, als es den Schutz von aus dem Unionsrecht erwachsenden individuellen Rechten gewährleisten soll (vgl. hierzu im Einzelnen: Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - zur Aufnahme in die Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen - Rn. 19). Die Eröffnung der auf eine reine Rechtskontrolle beschränkten dritten Instanz widerspricht auch nicht dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf aus Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) und Art. 13 EMRK. Denn der dort niedergelegte Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtschutzes eröffnet dem Einzelnen den Zugang zu einem Gericht und nicht zu mehreren Gerichtsinstanzen (EuGH, Urteil vom 28. Juli 2011 - Rs. C-69/10, Samba Diouf - NVwZ 2011, 1380 Rn. 69; EGMR, Urteil vom 17. Januar 1970 - Nr. 2689/65, Delcourt - EGMR-E 1, 100 Rn. 25). Er verlangt nicht, dass ein nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats eröffnetes Rechtsmittel wie die Revision eine Überprüfung der Tatsachen auf aktuellem Sachstand ermöglicht. Vielmehr hängt die Anwendung der Garantie eines effektiven Rechtsschutzes von den ersichtlichen Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens - hier des Revisionsverfahrens - ab (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Januar 1970 a.a.O. Rn. 26). Soweit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei der Überprüfung von Ausweisungsentscheidungen Tatsachen berücksichtigt, die nach der abschließenden nationalen Entscheidung eingetreten sind, ergibt sich daraus keine entsprechende Verpflichtung für die nationalen Gerichte in einem Revisionsverfahren (vgl. Urteil vom 13. Oktober 2011 - Nr. 41548/06, Trabelsi/Deutschland - EUGRZ 2012, 11 Rn. 60 f.). Nach nationalem Recht verbleibt die Möglichkeit, nach der Berufungsentscheidung eingetretene Umstände zugunsten des Ausländers zu berücksichtigen, indem dieser eine Verkürzung der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 Satz 3 - 5 AufenthG beantragt (dazu unter 2.).

26

1.5 Besitzt der Kläger ein assoziationsrechtlich begründetes Aufenthaltsrecht, darf er nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Bei deren gerichtlicher Überprüfung ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen (EuGH, Urteil vom Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 84; so bereits BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 - BVerwGE 121, 315 <320 f.>). Die Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde über den Erlass einer Ausweisung erfordert eine sachgerechte Abwägung der öffentlichen Interessen an der Ausreise mit den privaten Interessen an einem weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet. Zugunsten des Ausländers sind die Dauer seines rechtmäßigen Aufenthalts und seine schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet zu berücksichtigen. Außerdem sind die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, in die Abwägung einzustellen (§ 55 Abs. 3 AufenthG). Die von Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange auf Achtung des Privat- und Familienlebens sind dabei entsprechend ihrem Gewicht und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der Gesamtabwägung zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere bei im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Ausländern, zumal wenn sie über keine Bindungen an das Land ihrer Staatsangehörigkeit verfügen (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 20).

27

Mit Blick auf diese Vorgaben ist die Ermessensausübung des Beklagten im Ausweisungsbescheid vom 4. Oktober 2006 nicht zu beanstanden. Der Beklagte geht von einem aus dem Assoziationsrecht abgeleiteten Aufenthaltsrecht des Klägers nach Art. 7 ARB 1/80 aus und misst die Rechtmäßigkeit der Ausweisung am Maßstab des Art. 14 ARB 1/80. Er erkennt die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung und beachtet deren gesetzliche Grenzen. In die Ermessensentscheidung sind alle relevanten Gesichtspunkte eingestellt worden. Die erfolgte Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Abwehr der vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahr für die hochrangigen Rechtsgüter Leben und Gesundheit im Fall der Fortsetzung des illegalen Drogenhandels gegen das Interesse des Klägers an einem Verbleib in Deutschland ist rechtlich nicht zu beanstanden. Bei der Begründung des öffentlichen Interesses stützt sich der Beklagte ausschließlich auf Gefahren, die vom Kläger selbst ausgehen und nicht auf generalpräventive Gründe. Ausführungen, die der Beklagte schriftsätzlich im Berufungsverfahren zu Fragen der Generalprävention gemacht hat, sind nicht Bestandteil der behördlichen Ermessensentscheidung geworden. Denn für eine Ergänzung von Ermessensentscheidungen gelten nach der Rechtsprechung des Senats strenge Maßstäbe an Form und Handhabung, damit der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird (vgl. Urteil vom 13. Dezember 2011 - BVerwG 1 C 14.10 - BVerwGE 141, 253 Rn. 18). Diese sind hier nicht erfüllt. Denn der Beklagte hat in seinen Schriftsätzen vom 12. Januar 2011, 16. März 2011 und 7. April 2011 jedenfalls nicht hinreichend deutlich getrennt zwischen neuen Begründungselementen, die den Inhalt seiner Entscheidung betreffen, und Ausführungen, mit denen er lediglich als Prozesspartei seine Entscheidung verteidigt. Etwaige Zweifel und Unklarheiten über Inhalt und Umfang nachträglicher Ergänzungen gehen aber zulasten der Behörde (vgl. Urteil vom 13. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 18). Die behördliche Entscheidung verstößt auch nicht gegen das Gebot der Aktualität der Ermessenserwägungen. Denn der Beklagte hat ausweislich seines Schriftsatzes vom 7. April 2011 die neue Entwicklung in den persönlichen Verhältnissen des Klägers erkannt und gewürdigt, insbesondere seine Haftentlassung, seine Heirat von Frau D. nach islamischem Ritus und die Betreuungsbedürftigkeit seiner Mutter. Er hat dies aber nicht zum Anlass für eine Ergänzung seiner Ermessensentscheidung genommen. Das ist rechtlich nicht zu beanstanden, da die Änderungen in dem vorliegenden Fall (noch) kein solches Gewicht hatten, dass sie angesichts der Größe der vom Kläger weiterhin ausgehenden Gefahr einen Anlass für eine Ermessensergänzung gaben. Anders hätte sich die Lage dargestellt, wenn der Kläger im April 2011 bereits mit einer Deutschen verheiratet gewesen und mit ihr ein deutsches Kind gehabt hätte, wie das heute der Fall ist. Dann hätte die Änderung der persönlichen Verhältnisse des Klägers eine Qualität erreicht, die eine Ergänzung der Ermessensentscheidung erfordert hätte, ohne dass deshalb von einer Ausweisung hätte abgesehen werden müssen.

28

1.6 Die weiteren Rügen der Revision sind unbegründet; insbesondere ist das Ausweisungsverfahren fehlerfrei durchgeführt worden. Zwar war das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene "Vier-Augen-Prinzip" auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige zu übertragen (Urteil vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217 <221 f.> im Anschluss an EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 - Rs. C-136/03, Dörr und Ünal - Slg. 2005, I-4759 = NVwZ 2006, 72). In dem hier vorliegenden Fall hat der Beklagte den angefochtenen Bescheid aber am 4. Oktober 2006 und damit erst nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG zum 30. April 2006 (Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG) erlassen. Zu diesem Zeitpunkt galt Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr.

29

Es kann offenbleiben, ob sich für assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige die unionsrechtlichen Anforderungen an den Rechtsschutz gegen Ausweisungsentscheidungen nunmehr nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG (betreffend langfristig Aufenthaltsberechtigte) oder nach Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG (betreffend Unionsbürger) bestimmen. Denn in keiner dieser Vorschriften ist die Beteiligung einer unabhängigen Stelle im Ausweisungsverfahren zur Prüfung der Zweckmäßigkeit der Maßnahme vorgeschrieben. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil vom 8. Dezember 2011 für die Auslegung von Art. 14 ARB 1/80 als neuen unionsrechtlichen Bezugsrahmen Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG herangezogen (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 74 und 78 f.). Nach Absatz 4 dieser Vorschrift steht langfristig Aufenthaltsberechtigten zur Überprüfung einer Ausweisung der Rechtsweg offen. Noch nicht ausdrücklich entschieden wurde, ob die maßgebliche Vorschrift der Richtlinie 2004/38/EG für den Rechtsschutz gegen Ausweisungsentscheidungen (Art. 31) auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige entsprechend angewendet werden kann. Selbst wenn das geboten wäre, ergäbe sich daraus nicht die Verpflichtung zur Beteiligung einer unabhängigen Stelle, denn Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG sieht eine solche Beteiligung nicht vor. Vielmehr bestimmt Art. 31 Abs. 1, dass gegen Ausweisungsentscheidungen ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann. Im Rechtsbehelfsverfahren sind gemäß Art. 31 Abs. 3 die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Das Rechtsbehelfsverfahren gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf den in Art. 28 geregelten Schutz vor Ausweisung nicht unverhältnismäßig ist (Art. 31 Abs. 3 Satz 2). Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG kompensiert den Wegfall der Beteiligung einer unabhängigen Stelle im Verwaltungsverfahren, wie sie noch in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vorgeschrieben war, durch einen erhöhten Rechtsschutz im gerichtlichen Verfahren. Die angefochtene Entscheidung unterliegt nunmehr nicht nur einer Rechtskontrolle, sondern das Gericht hat auch die der Entscheidung zugrunde liegenden Tatsachen zu überprüfen.

30

Nicht gefolgt werden kann der Auffassung, Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG sehe weiter die Beteiligung einer unabhängigen Stelle vor, was sich zum einen daraus ergebe, dass der Rechtsbehelf nach Art. 31 Abs. 1 "gegebenenfalls" auch bei einer Behörde eingelegt werden könne und sich die Überprüfung im Rechtsbehelfsverfahren gemäß Art. 31 Abs. 3 nicht nur auf Tatsachen, sondern auch auf "Umstände" zu beziehen habe. Denn der Verweis in Art. 31 Abs. 1 auf die Möglichkeit, einen Rechtsbehelf gegebenenfalls bei einer Behörde einzulegen (englische Fassung: "where appropriate"), bezieht sich erkennbar auf die Fälle, in denen das nationale Recht das so vorsieht, etwa wenn der gerichtlichen Überprüfung noch ein behördliches Widerspruchsverfahren vorgeschaltet ist. Eine unionsrechtliche Verpflichtung zur Beteiligung einer zweiten Stelle im Verwaltungsverfahren ergibt sich daraus jedoch nicht. Entsprechendes gilt für die in Art. 31 Abs. 3 vorgeschriebene Überprüfung der Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung beruht. Aus dem Begriff der "Umstände" (englische Fassung: "circumstances") lässt sich eine Zweckmäßigkeitsprüfung - wie sie in Deutschland einer Behörde vorbehalten wäre - nicht ableiten. Die Formulierung ist vielmehr im Zusammenhang mit Art. 31 Abs. 3 Satz 2 zu sehen, der die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Entscheidung im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 vorschreibt. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind alle "Umstände" zu berücksichtigen, die Art. 28 bezeichnet.

31

Bereits in seinem Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - hat der Senat ausgeführt (juris Rn. 23), dass assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige nach der Rechtsprechung des EuGH keine bessere verfahrensrechtliche Rechtsstellung beanspruchen können als Unionsbürger. Für Unionsbürger wurde die behördliche Kontrolle von Ausweisungsentscheidungen nach dem "Vier-Augen-Prinzip", wie sie Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vorsah, abgeschafft. Dann steht aber auch den Inhabern eines aus dem ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechts kein solcher erweiterter behördlicher Rechtsschutz mehr zu.

32

Demgegenüber beruft sich der Kläger auf die Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl 1972 II S. 385) - ZP. Gemäß Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Gemäß Art. 41 Abs. 1 ZP werden die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. Aus diesen Stand-Still-Klauseln ergibt sich nach Auffassung des Klägers, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG bei der Ausweisung assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger weiterhin anzuwenden sei. Dem folgt der Senat nicht.

33

Wie bereits im Urteil vom 10. Juli 2012 ausgeführt (a.a.O. Rn. 25), spricht gegen die Auffassung des Klägers bereits die Tatsache, dass Art. 13 ARB 1/80 seinem Wortlaut nach nur die Mitgliedstaaten, nicht aber die Europäische Union verpflichtet. Art. 41 Abs. 1 ZP betrifft sachlich nur Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs, nicht aber die der Arbeitnehmerfreizügigkeit zuzurechnende aufenthaltsrechtliche Stellung aus Art. 7 ARB 1/80. Des Weiteren erscheint fraglich, ob die auf den Zugang zum Arbeits- bzw. Binnenmarkt zugeschnittenen Stand-Still-Klauseln überhaupt Verfahrensregelungen bei der Aufenthaltsbeendigung erfassen (vgl. Urteil vom 30. April 2009 - BVerwG 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 Rn. 20 zu den gesetzlichen Erlöschenstatbeständen für Aufenthaltstitel) und ob die Aufhebung des "Vier-Augen-Prinzips" mit Blick auf die gerichtliche Überprüfbarkeit nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG oder Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG eine Verschlechterung der Rechtsposition darstellt. Das kann aber dahinstehen, da die weitere Anwendung des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige selbst bei Annahme einer rechtserheblichen Verschlechterung gegen Art. 59 ZP verstoßen würde. Nach dieser Vorschrift darf der Türkei in den von diesem Protokoll erfassten Bereichen keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft einräumen. Das wäre aber bei weiterer Anwendung des "Vier-Augen-Prinzips" im Vergleich zu den Verfahrensrechten von Unionsbürgern aus Art. 31 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38/EG - wie oben dargelegt - der Fall.

34

Ohne Erfolg rügt der Kläger einen nationalen Verstoß gegen die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 durch das Entfallen des Widerspruchsverfahrens für Ausweisungsentscheidungen in Baden-Württemberg seit 1. Juli 1999. Zum einen stellte die Durchführung des Widerspruchsverfahrens nach §§ 68 ff. VwGO keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Ausweisung dar, sondern - anders als Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG - lediglich eine Prozessvoraussetzung für die Erhebung einer Anfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht. Zum anderen betrifft der Wegfall des Widerspruchsverfahrens türkische Assoziationsberechtigte und Unionsbürger in gleicher Weise. Nach der Rechtsprechung des EuGH steht der Erlass oder Wegfall von Regelungen, die - wie hier - in gleicher Weise auf türkische Staatsangehörige und auf Gemeinschaftsangehörige Anwendung finden, nicht im Widerspruch zu den Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 ZP (vgl. Urteile vom 19. Februar 2009 - Rs. C-228/06, Soysal u.a. - InfAuslR 2009, 135 Rn. 61 zu Art. 41 ZP und vom 17. September 2009 - Rs. C-242/06, Sahin - Rn. 67 zu Art. 13 ARB 1/80). Demzufolge kann die generelle Abschaffung des Widerspruchsverfahrens in Baden-Württemberg nicht gegen Art. 13 ARB 1/80 verstoßen, da sie auch in Fällen der Verlustfeststellung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt von Unionsbürgern (§ 6 FreizügG/EU) gilt. Im Übrigen wäre die Aufrechterhaltung des Widerspruchsverfahrens nur für türkische Staatsangehörige nicht mit dem Besserstellungsverbot des Art. 59 ZP vereinbar.

35

2. Auf den Hilfsantrag des Klägers, mit dem dieser die Befristung der Wirkungen der Ausweisung mit sofortiger Wirkung begehrt, ist die Beklagte zu verpflichten, die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von neun Jahren zu befristen. Im Übrigen ist der Antrag unbegründet.

36

2.1 Der erst in der Revisionsinstanz gestellte Hilfsantrag ist zulässig. Das Verbot der Klageänderung im Revisionsverfahren in § 142 VwGO steht dem nicht entgegen. Während des Revisionsverfahrens ist § 11 AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 in der Weise geändert worden, dass der Kläger nunmehr einen Anspruch auf gleichzeitige Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung hat (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 28). Dieser Änderung des materiellen Rechts trägt der gestellte Hilfsantrag Rechnung.

37

2.2 Der Hilfsantrag ist nur in geringem Umfang begründet. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG n.F. darf ein Ausländer, der ausgewiesen worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird nach Satz 2 der Vorschrift auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Satz 3 der Vorschrift ordnet an, dass diese kraft Gesetzes eintretenden Wirkungen auf Antrag befristet werden. Die Frist ist gemäß Satz 4 unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Bei Bemessung der Länge der Frist wird berücksichtigt, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist (Satz 5). Die Frist beginnt nach Satz 6 mit der Ausreise. Nach Satz 7 erfolgt keine Befristung, wenn ein Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder aufgrund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG aus dem Bundesgebiet abgeschoben wurde.

38

2.2.1 Seit Inkrafttreten des § 11 AufenthG in der Neufassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 haben Ausländer grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass die Ausländerbehörde mit einer Ausweisung zugleich das daran geknüpfte gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Titelerteilungssperre befristet. Das hat der Senat mit Urteil vom 10. Juli 2012 entschieden (a.a.O. Rn. 30 ff.). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest; zur Begründung wird auf das vorgenannte Urteil verwiesen. Fehlt die notwendige Befristung der Wirkungen der Ausweisung, hat das aber auch nach Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 nicht zur Folge, dass die - als solche rechtmäßige - Ausweisung aufzuheben ist. Vielmehr kann der Ausländer zugleich mit Anfechtung der Ausweisung seinen Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gerichtlich durchsetzen (Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 39 f.). Damit wird dem sich aus dem materiellen Recht ergebenden Anspruch des Betroffenen auf gleichzeitige Entscheidung über die Ausweisung und die Befristung ihrer Wirkungen Rechnung getragen und die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung im Ergebnis gewährleistet. Prozessual wird dieses Ergebnis dadurch sichergestellt, dass in der Anfechtung der Ausweisung zugleich - als minus - für den Fall der Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ein (Hilfs-)Antrag auf Verpflichtung der Ausländerbehörde zu einer angemessenen Befristung ihrer Wirkungen gesehen wird, sofern eine solche nicht bereits von der Ausländerbehörde verfügt worden ist. Daher ist im Fall der gerichtlichen Bestätigung der Ausweisung auf den Hilfsantrag zugleich eine Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung zu treffen.

39

2.2.2 Der Senat hält im vorliegenden Fall - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts und auf der Grundlage von dessen tatsächlichen Feststellungen - eine Frist von neun Jahren für angemessen.

40

Die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (zu der zuletzt genannten Voraussetzung vgl. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG). Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Zunächst bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Selbst wenn die Voraussetzungen für ein Überschreiten der zeitlichen Grenze von fünf Jahren gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG vorliegen, geht der Senat davon aus, dass in der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für den eine Prognose realistischerweise noch gestellt werden kann. Weiter in die Zukunft lässt sich die Persönlichkeitsentwicklung - insbesondere jüngerer Menschen - kaum abschätzen, ohne spekulativ zu werden. Leitet sich diese regelmäßige Höchstdauer für die Befristung von zehn Jahren aus dem Umstand ab, dass mit zunehmender Zeit die Fähigkeit zur Vorhersage zukünftiger persönlicher Entwicklungen abnimmt, bedeutet ihr Ablauf nicht, dass bei einem Fortbestehen des Ausweisungsgrundes oder der Verwirklichung neuer Ausweisungsgründe eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden müsste (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG).

41

Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK, messen lassen und ist daher gegebenenfalls in einem zweiten Schritt zu relativieren. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie gegebenenfalls seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 42 m.w.N.). Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Die Abwägung ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles im Zeitpunkt der Behördenentscheidung vorzunehmen bzw. von den Verwaltungsgerichten zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Gerichts vollumfänglich zu überprüfen oder bei fehlender behördlicher Befristungsentscheidung - wie hier - durch eine eigene Abwägung als Grundlage des Verpflichtungsausspruchs zu ersetzen.

42

Die in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG genannte Höchstfrist von fünf Jahren ist im vorliegenden Fall ohne Bedeutung, da von dem Kläger - im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts - eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht; das ergibt sich aus den Ausführungen zu den Ausweisungsvoraussetzungen. Bei der Bemessung der Frist hatte der Senat in einem ersten Schritt zu berücksichtigen, dass beim Kläger die Gefahr der Wiederholung schwerwiegender Drogenstraftaten besteht. Trotz seiner erfolgreichen Fortbildungsanstrengungen im Strafvollzug und in den Folgemonaten sowie erster Ansätze für eine erfolgreiche Integrationsprognose wäre wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der vom Berufungsgericht festgestellten hohen Wiederholungsgefahr unter Berücksichtigung der fortbestehenden Verbindungen des Klägers zu einzelnen Mitgliedern seiner früheren Drogenbande sowie seines Alters eine Befristung für einen Zeitraum von zehn Jahren erforderlich, um dem hohen Gefahrenpotential in seiner Person Rechnung zu tragen. Diese Frist hat der Senat um ein Jahr reduziert und damit den persönlichen Bindungen des Klägers an Deutschland als Land, in dem er geboren und aufgewachsen ist und in dem seine Familie lebt, Rechnung zu tragen. Zu den vom Senat berücksichtigten Bindungen zählen auch die an Frau D. und deren minderjährige Kinder, wobei die Lebensgemeinschaft allerdings zum maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung erst wenige Monate bestand und in Kenntnis der ergangenen Ausweisungsverfügung eingegangen worden war.

43

Der Senat hat bereits in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Verkürzung der Frist stellen kann. Bei der Bescheidung dieses Antrags sind von der Beklagten dann die Änderungen in den persönlichen Verhältnissen des Klägers zu berücksichtigen, die seit dem Berufungsurteil vom April 2011 eingetreten sind, insbesondere seine standesamtliche Eheschließung mit Frau D., die mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit hat, sowie die Geburt einer gemeinsamen Tochter, die ebenfalls deutsche Staatsbürgerin ist. Weiter wird die Beklagte im Fall eines Verkürzungsantrags des Klägers zu prüfen haben, ob auch solche neuen Tatsachen vorliegen, aus denen sich eine Verminderung der Wiederholungsgefahr ableiten lässt.

44

3. Die Frage, ob die Ausweisung und die Befristung ihrer Wirkungen an den Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie zu messen sind, kann im vorliegenden Fall offenbleiben (vgl. dazu Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 45). Denn selbst wenn man die intertemporale Geltung und die sachliche Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie auf die (Wirkungen der) Ausweisung unterstellt, verhilft das der Revision im vorliegenden Fall nicht in weitergehendem Umfang zum Erfolg. Da der Kläger mit seinem Hilfsantrag die gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. gebotene Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung zusammen mit deren gerichtlicher Prüfung durchsetzen kann, wird den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie im Ergebnis Genüge getan. In dem hier vorliegenden Fall konnte die Dauer des Einreiseverbots auch die Regelfrist von fünf Jahren überschreiten, da der Kläger eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG darstellt.

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Die Verwaltungsbehörde kann ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.