Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht Urteil, 23. Sept. 2014 - L 2 VG 25/12

ECLI:ECLI:DE:LSGSH:2014:0923.L2VG25.12.0A
bei uns veröffentlicht am23.09.2014

Tenor

Die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 25. April 2012 wird zurückgewiesen.

Das beklagte Land trägt auch die Kosten der Klägerin für das Berufungsverfahren.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) aufgrund sexuellen Missbrauchs in Kindheit und Jugend hat.

2

Die am ........1974 in G... geborene Klägerin wuchs mit ihrer fünf Jahre jüngeren Schwester A... P... bei ihren Eltern E... S... Aa... und  X. P... auf. Sie besuchte zunächst ein Gymnasium in G.... Nach mehrfachem erfolglosem Wiederholen der zwölften Klasse, brach die Klägerin die Schulausbildung am 11.09.1995 ab. Eine Ausbildung hat die Klägerin nicht. Sie bezieht Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch, Zwölftes Buch (SGB XII). Seit dem 12. September 2008 ist für die Klägerin eine Betreuung für die Aufgabenbereiche „Sorge für die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung und Vertretung gegenüber Behörden und sonstigen Institutionen“ eingerichtet.

3

Am 15. Juni 1993 erstattete das Kreisjugendamt G... durch den Dipl. Sozialpädagogen H... O... bei der Kriminalpolizei G... Anzeige gegen den Vater der Klägerin wegen sexuellen Missbrauchs. Er gab dabei u.a. an, die Klägerin werde seit ihrem zwölften Lebensjahr von ihren leiblichen Vater, Dr. X. P..., missbraucht. Er – Herr O... – habe von mehreren glaubhaften Informationsquellen von dem Missbrauchshandlungen erfahren. Nun sei es zu einer Schwangerschaft gekommen und ein Abbruch sei am 16. Juni 1993 in F... beabsichtigt. Die Fahrt zum Abbruch solle in Begleitung des Vaters durchgeführt werden.

4

Eine am 16. Juni 1993 durchgeführte Untersuchung bestätigte eine Schwangerschaft der Klägerin nicht. Die Klägerin kehrte nicht in ihr Elternhaus zurück, sondern wurde ab dem 15.06.1993 in einer Einrichtung der Jugendhilfe (M...-L...-Stiftung) untergebracht.

5

Die Kriminalpolizei G... hörte die Klägerin am 18. Juni 1993 an. Diese gab an, dass sie sich nicht in der Lage sehe, Angaben zum sexuellen Missbrauch durch ihren Vater zu machen. Auf die Frage, ob alles so richtig sei, was die anderen über ihren Vater erzählt hätten, nickte die Klägerin zustimmend. Des Weiteren vernahm die Kriminalpolizei G... Oa... Ha..., D... B..., E... S... Aa..., N... R... und C... Ba... als Zeugen. J... Sa... wurde von der Kriminalpolizei K... vernommen.

6

Am 15.03.1994 stellte die Staatsanwaltschaft Hb... das Ermittlungsverfahren gegen X. P... mit der Begründung ein, zwar bestünden entgegen dem Vortrag der Verteidigung deutliche Anhaltspunkte dafür, dass es zu erheblichen sexuellen Übergriffen gekommen sei. Weil die Klägerin aber bisher keine Angaben gemacht habe, lasse sich ein hinreichender Tatverdacht nicht begründen. Zuvor hatte die Bevollmächtigte der Klägerin der Staatsanwaltschaft telefonisch mitgeteilt, dass die zeugenschaftliche Vernehmung der Klägerin auch auf absehbare Zeit nicht möglich sei.

7

Ein im Jahr 1997 erneut eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen den Vater der Klägerin wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs der Klägerin im Kindes- und Jugendalter, stellte Staatsanwaltschaft Hb... am 11.11.1997 ein. Am 22.07.2001 verstarb der Vater der Klägerin.

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Auf den Antrag der Klägerin vom 11. August 2003 erkannte das Versorgungsamt Bb... mit Bescheid vom 16.02.2004 in der Fassung des Bescheides vom 23.08.2004 einen Grad der Behinderung (GdB) von 90 an und stellte die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen „G“ und „B“ fest. Der Entscheidung wurde das Vorliegen der Funktionsbeeinträchtigungen „ Seelische Störung mit funktionellen Organbeschwerden, psychogene Aphonie“ zugrunde gelegt.

9

Am 27.08.2003 beantragte die Klägerin bei dem beklagten Land die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG wegen der Schädigungsfolgen: Multiple Persönlichkeitsstörung, komplexe posttraumatische Belastungsstörung, Dysthymia mit generalisierten Ängsten und fast vollständigem sozialem Rückzug, dissoziative Fugue, dissoziative Amnesie und psychogene Aphonie seit sechs Jahren. Angaben zu den Taten könne sie wegen der Gefahr einer Retraumatisierung nicht machen.

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Das beklagte Land zog u.a. diverse medizinische Unterlagen bei, insbesondere die Berichte über die Krankenhausaufenthalte der Klägerin in psychiatrischen Kliniken und Sanatorien sowie die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten. In dem Bericht der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Ka... vom 26.06.1995 ist ausgeführt, die Klägerin sei dort vom 23.09.1993 bis zum 03.08.1994 nach zwei Suizidversuchen stationär behandelt worden. Während der Gespräche habe sie mehrfach verbal als auch nonverbal das Vorliegen eines langjährigen Missbrauchs bestätigt. Sie sei jedoch nicht in der Lage gewesen, sich darüber spontan zu äußern oder auf konkrete Fragen Details zu nennen. Sie habe aber angegeben, dass ein Missbrauch seit der Vorschulzeit vorgelegen und die Häufigkeit seit der Pubertät deutlich zugenommen habe. Im Januar 1994 habe die Klägerin ein von ihrer Betreuerin Frau Kb... im September 1993 verfasstes Protokoll gezeigt. Darin sei vermerkt gewesen, dass sie als Vorschulkind von ihrem Vater bei den alltäglichen Pflegehandlungen im Intimbereich auffällig berührt worden sei. Später sei es zu weiteren sexuellen Handlungen mit Gewaltanwendungen genommen, auch seien Fotos und Videos angefertigt worden. Zeitweise seien andere Bekannte des Vaters mit anwesend gewesen. Sie habe den Vater oral und auch anal befriedigen müssen, auch habe der Vater über ihr uriniert. In dem Bericht vom 1. Juni 2002 führte die die Klägerin behandelnde Psychotherapeutin Ra... aus, die Klägerin habe angegeben, sie sei seit ihrem dritten Lebensjahr immer wieder sexuell missbraucht, vergewaltigt und geschlagen worden. Sie habe darüber noch nie gesprochen. Lediglich ein einziges Mal habe sie mit ca. sechs Jahren versucht, ihrer Mutter davon zu erzählen. Diese habe ihr nicht zugehört. Diese Aussagen und die folgenden habe die Klägerin durch nonverbale Bestätigungen bzw. Verneinungen einer Betreuerin kurz nach Aufnahme in die Wohngruppe mitgeteilt. Der Vater habe sie ständig am ganzen Körper angefasst und Doktorspiele mit ihr gespielt, als sie klein gewesen sei. Er habe sie gezwungen, ihn oral und mit der Hand zu befriedigen. Er habe sie vaginal als auch rektal vergewaltigt. Er habe auf sie uriniert, sie gefesselt, festgebunden und geschlagen. Bis ca. zu ihrem achten Lebensjahr habe er auch andere Männer mitgebracht, die sie habe befriedigen müssen. Dabei seien Film- und Fotoaufnahmen gemacht worden. Diese seien der Klägerin jedoch nicht zugänglich. Versuche sich zu wehren, seien mit Schlägen bestraft worden. Diese Übergriffe hätten zu jeder Tag- und Nachtzeit stattgefunden, sobald die Mutter nicht in der Nähe bzw. nicht ansprechbar gewesen sei. Das Milieu sei von Alkoholkonsum und Gewalt geprägt gewesen. Schon früh habe sie die Verantwortung für die jüngere Schwester übernommen und versucht, diese zu beschützen. Ihre Mutter sei manchmal tagelang verschwunden gewesen. Während der Übergriffe seien auch häufiger sedierende Substanzen eingesetzt worden. Die Klägerin habe ihr gegenüber angegeben, dass die letzte Vergewaltigung im Alter von siebzehn Jahren stattgefunden habe. Frau Ra... berichtete weiter, dass die Klägerin Ende 1996 bzw. Anfang 1997 aufgrund des Druckes, wegen drohender Verjährung im Rahmen der erneuten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen eine Aussage machen zu müssen, dekompensiert sei und aufgehört habe zu sprechen.

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Das beklagte Land lehnte mit Bescheid vom 08.02.2006 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Zur Begründung führte es aus, nach dem Ergebnis der Ermittlungen sei festzustellen, dass sexuelle und körperliche Übergriffe zum Nachteil der Klägerin, die als tätliche Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG anzusehen seien, weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht seien. Ausweislich einer Vielzahl vorliegender Zeugenaussagen, Befund- und Behandlungs- sowie Klinikberichte habe die Klägerin über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg vielen Personen gegenüber angedeutet, von ihrem Vater sexuell missbraucht worden zu sein. Jedoch sei es selbst bei engen Freunden fast ausschließlich bei diesen Andeutungen geblieben. Lediglich zweimal habe sie einige Details mitzuteilen vermocht. Einer vom Zeugen D... B... eingereichten, von der Klägerin verfassten handschriftlichen Notiz sei zu entnehmen, dass „er mich angefasst hat und von mir angefasst werden wollte“. Allerdings werde auch behauptet, die Mutter der Klägerin habe dies gesehen („sie war dabei“), was im Widerspruch zu den gegenüber anderen Personen gemachten Angaben stehe, wonach sexuelle Übergriffe nur bei Abwesenheit der Mutter erfolgt seien. Aus den Berichten der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Ka... vom 26.06.1995 und der Therapeutin Sabine Ra... vom 01.06.2002 gehe hervor, dass die Klägerin der Betreuerin Frau Kb... kurz nach ihrer Aufnahme in die Wohngruppe auf ihre Befragungen durch nonverbale Bestätigungen bzw. Verneinungen mitgeteilt habe, dass ihr Vater sie als Vorschulkind bei der Körperpflege im Intimbereich berührt und mit ihr Doktorspiele gespielt habe. Später sei es zu weiteren sexuellen Handlungen mit Gewaltanwendungen gekommen, indem er sie gezwungen habe, ihn oral und mit der Hand zu befriedigen und vaginal vergewaltigt habe. Des Weiteren habe ihr Vater sie geschlagen, gefesselt und auf sie uriniert. Bis zu ihrem achten Lebensjahr sei sie auch von anderen Männern sexuell misshandelt worden. Hiervon seien auch Foto- und Filmaufnahmen gemacht worden. Das von der Betreuerin im September 1993 verfasste entsprechende Protokoll zu dieser Befragung sei jedoch laut Auskunft des Instituts für persönliche Hilfen e.V. Bb... nicht mehr auffindbar. Es könne somit nicht festgestellt werden, ob Frau Kb... mit der Formulierung ihrer Fragen die Antworten möglicherweise schon vorgegeben habe und welche inhaltliche Qualität die Aussagen der Klägerin gehabt hätten. Das Ergebnis dieser Befragung könne daher nicht unkritisch übernommen werden. Zwar nähmen die die Klägerin behandelnden Ärzte und Therapeuten einen sexuellen Missbrauch in frühester Kindheit an. Nach den Erfahrungen des beklagten Landes sei nicht auszuschließen, dass Therapeuten, die sich mit der Diagnostik und Behandlung von dissoziativen Identitätsstörungen befassten, unkritisch mit den in der Therapie entstandenen Äußerungen zu sexuellen Missbräuchen umgingen und stets von schweren Traumatisierungen im frühkindlichen Alter ausgingen. Es lägen auch widersprüchliche Angaben zum Beginn der Missbrauchserfahrungen vor, da die Klägerin gegenüber dem Jugendamt im Jahre 1993 behauptet habe, seit dem elften Lebensjahr vom Vater sexuell missbraucht worden zu sein, während sie im Rahmen späterer Explorationen angeführt habe, bereits ab dem dritten Lebensjahr das Opfer sexuellen Missbrauchs geworden zu sein. Des Weiteren habe sich eine am 14.06.1993 behauptete Schwangerschaft in Folge einer Vergewaltigung durch den Vater der Klägerin nicht bestätigt. Nach geltendem Recht liege eine objektive Beweislosigkeit vor. Die Klägerin habe die Folgen dieser Beweislosigkeit mit dem Ergebnis zu tragen, dass ihr Versorgungsleistungen nicht zustünden.

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Dagegen hat die Klägerin am 20.02.2006 Widerspruch eingelegt und geltend gemacht, die Beweiswürdigung des beklagten Landes sei in Anbetracht der Zeugenaussagen, die sich in den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Hb... wiederfänden, insbesondere jedoch in Anbetracht der zahlreichen ärztlichen Befundberichte zum Krankheitsbild nicht nachvollziehbar. Mit seiner Beweiswürdigung überspanne das beklagte Land die Anforderungen an den Nachweis von Gewalttaten im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG. Sämtliche behandelnde Ärzte und Therapeuten seien übereinstimmend der Auffassung, dass die chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung auf langjährigen Traumatisierungen durch vorsätzliche rechtswidrige Gewalttaten, deren Opfer sie im Kindes- und Jugendalter geworden sei, basiere. Mehrere Zeugen hätten bestätigt, dass sie sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg vielen Personen gegenüber geöffnet und zumindest andeutungsweise geschildert habe, von ihrem Vater sexuell missbraucht worden zu sein.

13

Den Widerspruch wies das beklagte Land mit Widerspruchsbescheid vom 26.02.2009 zurück und bezog sich zur Begründung im Wesentlichen auf den Inhalt des Bescheides vom 08.02.2006.

14

Die Klägerin hat am 30.03.2009 Klage vor dem Sozialgericht Lübeck erhoben, zu deren Begründung sie ihren Vortrag im Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft hat. Zur Bekräftigung Ihres Vortrages hat die Klägerin diverse Unterlagen zur Akte gereicht u.a. ihre handschriftlichen Schilderungen mit der Überschrift „Nicos Biografie“ sowie Berichte des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Ka..., Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie vom 08.11.2005 und 09.11.2005.

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Die Klägerin hat beantragt,

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den Bescheid vom 08.02.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2009 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr eine dissoziative Identitätsstörung und eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolgen nach dem Opferentschädigungsgesetz anzuerkennen und ihr Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit bzw. einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 90 v.H. ab dem 01.08.2003 zu gewähren.

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Das beklagte Land hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung des schriftlichen Gutachtens der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. Pa... vom 08.04.2012 und die Sachverständige in der mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme zur Erläuterung ihres Gutachtens vernommen.

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Mit Urteil vom 25. April 2012 hat das Sozialgericht das beklagte Land unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, bei der Klägerin eine dissoziative Identitätsstörung und eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolgen nach dem OEG anzuerkennen und ihr Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit bzw. einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 90 v.H. ab dem 01.08.2003 zu gewähren. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG seien erfüllt. Die Klägerin sei seit frühester Kindheit – ca. drittes Lebensjahr – bis Mitte Juni 1993, also zuletzt im Alter von 18 Jahren, Opfer von schweren körperlichen und sexuellen Missbrauchshandlungen mindestens seitens ihres leiblichen Vaters geworden. Dabei könne dahinstehen, ob als Beweismaßstab der Vollbeweis zu fordern sei oder die Beweiserleichterung des § 15 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) zur Anwendung komme, denn es stehe für die Kammer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass die Klägerin im oben genannten Zeitraum Opfer sexuellen Missbrauchs bzw. sexueller Gewalttaten geworden sei. Grundlage für die Überzeugungsbildung der Kammer seien die in der Akte der Staatsanwaltschaft Hb... und der Akte des Jugendamtes G... enthaltenen Zeugenaussagen und die Angaben der Klägerin selbst gegenüber diesen Zeugen und gegenüber Ärzten und Therapeuten. In Verbindung mit weiteren Indizien und dem Krankheitsbild der Klägerin verdichteten sich sämtliche Informationen zum Beweis der Tatsache, dass die Klägerin über einen langen Zeitraum schweren Traumatisierungen in Form von sexueller Gewalt ausgesetzt gewesen sei. Wesentlich zur Überzeugung der Kammer habe die Tatsache beigetragen, dass die Klägerin sich bereits frühzeitig und insbesondere außerhalb eines therapeutischen Prozesses gegenüber mehreren Personen über einen sexuellen Missbrauch geäußert habe.

21

Die sexuellen und gewaltsamen Übergriffe in der Kindheit der Klägerin seien als Ursache der (mindestens) seit Antragstellung festzustellenden gesundheitlichen Störungen anzusehen. In der medizinischen Wissenschaft werde weit überwiegend davon ausgegangen, dass sexuelle Missbräuche in der Kindheit zu dissoziativen Störungen bzw. posttraumatischen Syndromen führen könnten bzw. dass ein Ursachenzusammenhang anzunehmen sei, weil nach dem Erfahrungswissen der Ärzte die Gefahr des Ausbruchs dieser Erkrankung nach den betreffenden Belastungen deutlich erhöht sei. Dies habe die Sachverständige Frau Pa... bestätigt.

22

Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bzw. Grad der Schädigungsfolgen (GdS) gemäß § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) i.V.m. den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP), Ausgaben 1996 bis 2008 bzw. den ab 01.01.2009 geltenden Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) als Anlage zur Versorgungsmedizinverordnung vom 10.12.2008 auf der Grundlage des § 30 Abs. 17 BVG sei bei der Klägerin mit 90 v.H. zu bewerten. Nach § 1 Abs. 1 OEG i.V.m. § 60 Abs. 1 BVG beginne die Beschädigtenversorgung mit dem Monat der Antragstellung, hier also ab dem 01.08.2003.

23

Gegen dieses am 6. Juni 2012 zugestellte Urteil wendet sich das beklagte Land mit seiner am 21. Juni 2012 bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangenen Berufung. Zur Begründung macht es im Wesentlichen geltend: Das Sozialgericht habe zu Unrecht vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe gegen die Klägerin im Sinne des OEG als bewiesen angenommen. Die Klägerin habe sich nie konkret zu einem einzigen Kernvorfall geäußert. Eine Beweiserleichterung gemäß § 15 KOVVfG komme nicht in Betracht, da die Klägerin keine eigenen Angaben zum Sachverhalt gemacht habe. Die Andeutungen gegenüber Zeugen, Ärzten und Therapeuten könnten lediglich über die Vernehmung dieser Personen als Zeugen vom Hörensagen in die Würdigung der Gesamtumstände einfließen. Im Übrigen seien die Angaben gegenüber Dritten insgesamt so vage geblieben, dass auch aus diesem Grunde eine Überprüfung der Glaubhaftigkeit nicht möglich sei. Ob die Überzeugung, die sich das Sozialgericht von den angeblich stattgehabten häufigen sexuellen und gewaltsamen Übergriffen seitens des Vaters gebildet habe, ohne jegliche konkrete Schilderung auch nur eines einzigen Kernvorfalls gerechtfertigt sei, erscheine aus ihrer Sicht jedenfalls zweifelhaft. Aus diesem Grunde und auch aus grundsätzlichen Erwägungen über den künftigen Umgang mit ähnlich gelagerten Fällen sei Berufung eingelegt worden. Darüber hinaus ergäben sich bei der Gesamtbetrachtung Widersprüche. Es sei auffällig, dass zu Beginn des Falles über Jahre hinweg nur der Missbrauch durch den Vater im Raume gestanden habe. Dann plötzlich (zeitlich erstmals ausdrücklich in dem Arztbrief der Psychotherapeutin Ra... vom 1. Juni 2002, im Arztbrief des Sanatoriums Dr. Bc... vom 31. Juli 2002 und einem Zwischenbericht des Sanatoriums Dr. Bc... vom 21. Oktober 2002) sei von mehreren Tätern die Rede gewesen, die die Klägerin auch fortgesetzt bedroht und sie kontaktiert hätten. Die Ausführungen zum rituellen Missbrauch könnten einem bestimmten Schema entspringen.

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Das beklagte Land beantragt,

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das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 25. April 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

26

Die Klägerin beantragt,

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die Berufung des beklagten Landes zurückzuweisen.

28

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Eine fehlerhafte Beweiswürdigung des Sozialgerichts liege nicht vor. Das Sozialgericht habe überzeugend, schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass Grundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts die in der Akte der Staatsanwaltschaft Hb... und der Akte des Jugendamtes G... enthaltenen Zeugenaussagen und die Angaben der Klägerin selbst gegenüber diesen Zeugen und gegenüber den Ärzten und Therapeuten gewesen seien. Die Schwere ihrer Erkrankung weise darauf hin, dass sie von mehreren Tätern sexuell missbraucht worden sei. Es sei ein Bestandteil des ritual-satanischen Kultes, dass dies fast nie „bewiesen“ werden könne. Die Opfer würden entsprechend konditioniert. Sie habe gegenüber der Betreuerin beschrieben, dass sie mittels der vorhandenen Konditionierung – Lichtzeichen, Hupzeichen, Klingelzeichen mittels Telefons – sich zu vorher festgelegten Orten begeben habe. Weitere Erinnerungen hierzu habe sie nicht. Sie sei mehrfach in Wäldern der Umgebung wieder aufgefunden worden. Sie habe keinerlei Erinnerung an die stattgefundenen Taten und sei nur verwirrt gewesen, da sie nicht gewusst habe, wie sie wo hingekommen sei. In diesen Situationen seien keine Anzeigen erstattet worden, da sie nicht gewusst habe, gegen wen sich diese hätten richten sollen. Zu Strafanzeigen sei es gerade wegen der Programmierungen nicht gekommen. Sie sei danach nicht gynäkologisch untersucht worden. Für sie sei eine solche Untersuchung mit einer derartigen Angst verbunden gewesen, dass allein die Nachfrage der Betreuerin dazu geführt habe, dass sie bitterlich geweint habe. Im Jahre 1993 sei im Hinblick auf die befürchtete Schwangerschaft eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt worden. Weitere Untersuchungen seien wegen der psychischen Ausnahmesituation und der damit einhergehenden Belastung nicht möglich gewesen. Sie könne keine Angaben darüber machen, wo ihre Tagebücher nach ihrem Auszug aus der elterlichen Wohnung geblieben seien.

29

Der Senat hat Beweis erhoben und in der Berufungsverhandlung vom 23. September 2014 E... S... Aa... als Zeugin vernommen. Wegen der Aussage wird auf das Sitzungsprotokoll vom selben Tage verwiesen. Die Schwester der Klägerin, A... P..., hat von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.

30

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakten des beklagten Landes sowie auf die Akten des Landesamtes für Soziale Dienste, Außenstelle Lübeck. Der wesentliche Inhalt dieser Unterlagen ist Gegenstand der Berufungsverhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung des beklagten Landes hat in der Sache keinen Erfolg. Das Urteil des Sozialgerichts ist zutreffend. Der Bescheid vom 08.02.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2009 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf Anerkennung einer dissoziativen Identitätsstörung und einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung als Schädigungsfolgen nach dem OEG und Gewährung von Versorgung nach einem GdS von 90 ab dem 1. August 2003.

32

Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG auf Antrag Versorgung, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Der Begriff des tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG setzt grundsätzlich eine in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende Gewalteinwirkung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R – BSGE 108, 97, m. w. N.). Bezogen auf den sexuellen Missbrauch von Kindern hat sich in der Rechtsprechung ein erweitertes Verständnis des Begriffs des tätlichen Angriffs durchgesetzt. Danach ist für die unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Kindes entscheidend, dass die sexuellen Handlungen strafbar sind. Ob bei der Tatbegehung körperliche Gewalt angewendet worden ist, ist nicht maßgebend (BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 – 9 RVG 4/93 –, BSGE 77, 7; - 9 RVG 7/93 -, BSGE 77, 11). Auch der „gewaltlose“ sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sein.

33

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

34

Der Senat folgt dem Sozialgericht darin, dass die Klägerin seit frühester Kindheit – ca. drittes Lebensjahr – bis Mitte Juni 1993 Opfer von schweren körperlichen und sexuellen Missbrauchshandlungen seitens ihres leiblichen Vaters geworden ist. Dabei liegen der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern unter 14 Jahren (§ 176 StrafgesetzbuchStGB), der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen unter 18 Jahren (§ 182 StGB), der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen unter 16 Jahren (§ 174 StGB) sowie der Tatbestand der Vergewaltigung (§ 177 StGB) vor.

35

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG Anwendung findet, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) in Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Eine Sache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, das alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. „Glaubhafterscheinen“ im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG bzw. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, das heißt der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen (BSG, Beschluss vom 17. April 2013 - B 9 V 1/12 R -, Juris; BSG, Beschluss vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R –, Juris).

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Ausgehend von diesen rechtlichen Vorgaben hat das Sozialgericht im Ergebnis zutreffend festgestellt, dass die Klägerin durch den sexuellen Missbrauch ihres Vaters Opfer rechtswidriger tätlicher Angriffe geworden ist. In Abweichung zum Sozialgericht ist der Senat jedoch zu der Auffassung gelangt, dass dies nicht im Sinne des Vollbeweises bewiesen ist.

37

Eigene, auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfbare Angaben zum sexuellen Missbrauch, hat die Klägerin weder im Verwaltungsverfahren noch im nachfolgenden Rechtsstreit gemacht. Im Ermittlungsverfahren hat sie auf die Frage, ob alles so richtig sei, was die anderen Personen über ihren Vater erzählt hätten, lediglich zustimmend genickt. Zeugen, die sich zum Tatvorwurf äußern könnten, sind nicht vorhanden. Auch die vom Senat gehörte Zeugin E... S... Aa... hat bekundet, sexuelle Handlungen ihres damaligen Ehemannes an der Klägerin nicht beobachtet zu haben. Der vermeintliche Täter, der Vater der Klägerin, hat die Aussage verweigert und über seine Rechtsanwälte mitteilen lassen, dass er die Vorwürfe der Klägerin bestreite. Vor diesem Hintergrund vermochte sich der Senat nach den Gesamtumständen des Verfahrens auch unter Berücksichtigung der Angaben, die die Klägerin gegenüber ihren behandelnden Ärzten und den vom Kriminalkommissariat G... gehörten Zeugen gemacht hat, nicht die volle Überzeugung von einem sexuellen Missbrauch zu Lasten der Klägerin zu verschaffen.

38

Vorliegend findet jedoch der abgesenkte Beweismaßstab des § 6 Abs. 3 OEG in Verbindung mit § 15 KOVVfG Anwendung. Nach § 15 Satz 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf mit der Schädigung im Zusammenhang stehende Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind und die Angaben glaubhaft erscheinen.

39

Diese besondere Beweiserleichterung ist auch im Falle der Klägerin zu beachten. Zwar wollte § 15 KOVVfG ursprünglich nur der Beweisnot Rechnung tragen, in der sich Antragsteller häufig befanden, weil sie durch die besonderen Kriegsverhältnisse die über sie geführten Krankengeschichten, Befundberichte usw. nicht mehr erlangen konnten. Die Beweiserleichterung ist jedoch auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (BSG, Urteil vom 31. Mai 1989, - 9 RVG 3/89 - Juris -). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S. 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S. 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind (BSG, Beschluss vom 17.04.13 - B 9 V1/12 R -, Juris).

40

Diese Konstellation ist hier gegeben, denn es fehlt vorliegend an Tatzeugen oder anderen Beweismitteln, die das Vorbringen der Klägerin belegen könnten.

41

Die Anwendbarkeit des § 15 S. 1 KOVVfG scheitert auch nicht daran, dass die Klägerin im Verwaltungsverfahren und im anhängigen Rechtsstreit keine eigenen Angaben zum behaupteten Tatgeschehen gemacht hat. § 15 S. 1 KOVVfG lässt erkennen, dass die Verwaltungsbehörde bzw. die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit Tatsachen, die lediglich glaubhaft oder überwiegend wahrscheinlich sind, der Entscheidung grundsätzlich nur dann zugrunde legen darf, wenn zugleich der Antragsteller die strafrechtliche Verantwortung dafür übernimmt, dass seine Angaben - zumindest subjektiv - den Tatsachen entsprechen. Diese zusätzliche, über die Glaubhaftigkeit aus sonstigen Gründen hinausgehende Gewähr für die Richtigkeit des von der Verwaltungsbehörde oder vom Gericht zugrunde gelegten Sachverhalts würde nach der Rechtsprechung des BSG allerdings fehlen, wenn die Behörde oder das Gericht auch schon solche glaubhaften Sachverhalte der Entscheidung zugrunde legen würde, zu denen der Antragsteller keine Angaben aus eigenem Wissen oder überhaupt keine Angaben machen kann (BSG, Urteil vom 03. Februar 1999 – B 9 V 33/97 R –, Juris; BSG, Urteil vom 28. Juni 2000 – B 9 VG 3/99 R –, Juris; ). Das ist vorliegend jedoch nicht der Fall, da die Klägerin Angaben gemacht hat, deren Wahrheitsgehalt überprüfbar ist.

42

Dabei legt der Senat zugrunde, dass die Klägerin, die die kirchliche Jugendgruppe in M... besuchte, im Frühjahr 1990 dem zuständigen Pastor Na... berichtet hat, von ihrem Vater sexuell missbraucht zu werden, wenn die Mutter außer Haus sei. Der Vater drohe ihr massiv, er werde sie umbringen, wenn sie rede. Er schlage sie auch und sperre sie in den Keller. Ihre Eltern würden vermehrt Alkohol trinken. Sie habe sich inzwischen auch einem Lehrer anvertraut. Sie wolle zurzeit aber nicht, dass das Jugendamt eingeschaltet werde. Dass die Klägerin diese Angaben tatsächlich gemacht hat, ist belegt durch einen Vermerk des Jugendamtes des Landkreises G... vom 17.05.1990 (Herr O...), wonach Pastor Na... dort von dem Geschehen berichtete, ohne den Namen der Klägerin zu nennen. Dass es sich dabei um die Klägerin gehandelt hat, ergibt sich insbesondere daraus, dass die Mutter der Klägerin, E... S... Aa..., am 20.10.1993 bei ihrer Vernehmung vor der Kriminalpolizei G... bestätigte, von Pastor Na... im Frühjahr 1991 auf einen etwaigen sexuellen Missbrauch ihrer Tochter durch ihren Ehemann angesprochen worden zu sein. Die Klägerin wandte sich Anfang 1991 außerdem an den damaligen Vertrauenslehrer des …-Gymnasiums in G... Herrn Ea..., ohne konkrete Angaben zum Missbrauch zu machen. Des Weiteren vertraute sich die Klägerin während eines Schüleraustauschprogramms (Juni 1991 bis Juni 1992) in den USA der Mutter ihrer Gastfamilie und einer dortigen Lehrerin an und berichtete, dass sie seit ca. 6 ½ Jahren von ihrem Vater sexuell missbraucht werde. Angefangen habe alles, als sie elf Jahre alt gewesen sei. Ihr Vater habe ihr über die Jahre hin angedroht, sie zu töten, falls sie jemandem davon erzähle. Das letzte Mal habe er sie drei Wochen vor der Abreise nach Amerika missbraucht. Der Senat hat keinen Zweifel daran, dass sich die Klägerin ihrer Gastmutter und einer Lehrerin gegenüber wie oben ausgeführt geäußert hat. Dies folgt aus dem Vermerk des Mitarbeiters des Jugendamtes des Landkreises G... Herrn O... vom 15.03.1992 über ein am 04.03.1992 mit der Koordinatorin der deutsch-amerikanischen Schüleraustauschorganisation, die den Aufenthalt der Klägerin in den USA organisiert hat. Frau J... Sa... teilte darin mit, von der amerikanischen Koordinatorin über den sexuellen Missbrauch zu Lasten der Klägerin entsprechend in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Bei ihrer Vernehmung durch die Kriminalpolizei in K... am 11.11.1993 bestätigte Frau Sa... die von Herrn O... in dessen Telefonvermerk wiedergegebene Schilderung. Außerdem findet sich in der Ermittlungsakte ein Fax der amerikanischen Koordinatorin („Ca...“) vom 30.10.1991, mit dem Frau Sa... über die Angaben der Klägerin zum sexuellen Missbrauch durch ihren Vater informiert wurde. Ihrem Bekannten D... B... gegenüber antwortete die Klägerin im August 1991 während einer Kirchenfreizeit kurz vor ihrer Abreise in die USA auf die Frage, ob sie von ihrem Vater geschlagen werde: „Ja, das auch“. Auf weitere Nachfrage bestätigte sie mit einem Nicken, von ihrem Vater sexuell missbraucht zu werden. Auch nachfolgend berichtete die Klägerin D... B... mehrfach, von ihrem Vater regelmäßig sexuell missbraucht worden zu sein, ohne Einzelheiten zu nennen. Auch bei dem ersten Treffen nach der Rückkehr der Klägerin aus Amerika teilte sie D... B... mit, ihr Vater habe sie erneut missbraucht. Ihrem Bekannten Oa... Ha... betätigte die Klägerin die Frage, ob sie von ihrem Vater sexuell missbraucht worden sei, mit „Ja“. Ihrer ehemalige Mitschülerin N... R... berichtete die Klägerin, dass ihr Vater sich an ihr vergriffen habe. Am 12. Juli 1992 offenbarte sich die Klägerin dem Dipl. Sozialpädagogen H... O... und gab an, dass ein mehrjähriger Missbrauch durch ihren Vater stattfinde und dass dieser nach ihrer Rückkehr aus den Vereinigten Staaten bereits wieder dreimal mit ihr Geschlechtsverkehr gehabt habe. Im Frühjahr 1993 wandte sich die Klägerin an das Institut für Eltern- und Jugendberatung in Bb... und berichtete dort von einem langjährigen Missbrauch durch ihren Vater. Im polizeilichen Ermittlungsverfahren hat die Klägerin auf die Frage, ob alles so richtig sei, wie die anderen über ihren Vater erzählt hätten, zustimmend genickt. Detaillierte Angaben zu den Missbrauchsvorwürfen machte die Klägerin gegenüber ihren Betreuerinnen der Mansfeld-Löbbecke-Stiftung im Jahr 1993. Das ist belegt durch ein Protokoll, das die Bezugsbetreuerin der Klägerin Frau Kb... im September 1993 gefertigt hat. Das Protokoll findet sich zwar nicht in den Akten und ist trotz Ermittlungen des Beklagten nicht auffindbar. Der Inhalt des Protokolls ergibt sich jedoch aus dem Abschlussbericht des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Ka..., Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, vom 26.06.1995. Darin ist aufgeführt, dass die Klägerin das Protokoll gezeigt habe, nachdem sie mehrfach verbal als auch nonverbal das Vorliegen eines langjährigen Missbrauchs bestätigt habe. In dem Protokoll sei zu lesen, dass die Klägerin als Vorschulkind von ihrem Vater bei den alltäglichen Pflegehandlungen im Intimbereich auffällig berührt worden sei. Später sei es zu weiteren sexuellen Handlungen mit Gewaltanwendungen gekommen, auch seien Fotos und Videos angefertigt worden. Zeitweise seien andere Bekannte des Vaters mit anwesend gewesen. Sie habe den Vater oral und auch anal befriedigen müssen, auch habe der Vater über ihr uriniert. Auf das Protokoll der Frau Kb... aus September 1993 nahm auch die die Klägerin seit Dezember 1995 behandelnde Psychotherapeutin Ra... Bezug. In ihrem Bericht vom 01.06.2002 führte Frau Ra... aus, die Klägerin sei seit ihrem dritten Lebensjahr immer wieder sexuell missbraucht, vergewaltigt und geschlagen worden. Sie habe darüber noch nie gesprochen. Lediglich ein einziges Mal habe sie mit ca. sechs Jahren versucht, ihrer Mutter davon zu erzählen. Diese habe ihr nicht zugehört. Der Vater habe sie ständig am ganzen Körper angefasst und Doktorspiele mit ihr gespielt, als sie klein gewesen sei. Er habe sie gezwungen, ihn oral und mit der Hand zu befriedigen. Er habe sie vaginal als auch rektal vergewaltigt. Er habe auf sie uriniert, sie gefesselt, festgebunden und geschlagen. Bis ca. zu ihrem achten Lebensjahr habe er auch andere Männer mitgebracht, die sie habe befriedigen müssen. Dabei seien Film- und Fotoaufnahmen gemacht worden. Diese seien der P. [Patientin] jedoch nicht zugänglich. Habe die P. versucht sich zu wehren, sei sie geschlagen worden. Diese Übergriffe hätten zu jeder Tag- und Nachtzeit stattgefunden, sobald die Mutter nicht in der Nähe bzw. ansprechbar gewesen sei. Das Milieu sei von Alkoholkonsum und Gewalt geprägt gewesen. Schon früh habe die Klägerin die Verantwortung für die jüngere Schwester übernommen und versucht, diese zu beschützen. Ihre Mutter sei manchmal tagelang verschwunden gewesen. Während der Übergriffe seien auch häufiger sedierende Substanzen eingesetzt worden.

43

Der Senat ist davon überzeugt, dass die Klägerin sich wie oben aufgeführt geäußert hat. Das ergibt sich insbesondere aus den Aussagen der von der Kriminalpolizei vernommen D... B..., Oa... Ha..., N... R... und J... Sa.... Anhaltspunkte dafür, dass diese die Unwahrheit gesagt haben könnten, finden sich nicht. Die einzelnen Aussagen sind widerspruchsfrei und in sich schlüssig. Auch sind keine Gründe dafür erkennbar, dass die Zeugen ein Interesse daran gehabt haben könnten, durch ihre Aussage die Klägerin zu begünstigen bzw. deren Vater zu schädigen. Auch steht für den Senat fest, dass der Dipl. Sozialpädagoge O... und der Kriminalhauptkommissar Z... die von der Klägerin und den Zeugen gemachten Angaben richtig und vollständig schriftlich niedergelegt haben.

44

Der Senat durfte auch die Feststellungen aus dem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren übernehmen. Zu eigener, weitergehender Ermittlungstätigkeit wäre er nur verpflichtet gewesen, wenn neue, erfolgversprechende Ansatzpunkte zur Feststellung einer Vorsatztat aufgetaucht wären oder der Sachverhalt unter anderen rechtlichen Kriterien als im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu würdigen wäre. Das ist vorliegend nicht der Fall, denn der Beweislast des Staates im Strafverfahren entspricht der Beweislast der Klägerin im Sozialgerichtsverfahren (vgl. BSG, Urteil vom 10. November 1993 – 9 RVG 2/93 –, Juris). Der Senat konnte sich damit im Wege des Urkundenbeweises auf die polizeilichen Ermittlungs- oder strafrechtlichen Verfahrensakten, die im Wesentlichen Inhalt der Verwaltungsakte des beklagten Landes waren, stützen.

45

Der Senat musste sich auch nicht gedrängt fühlen, die Klägerin persönlich anzuhören. Nach § 128 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das SGG kennt im Gegensatz zur Zivilprozessordnung (ZPO) nicht die Parteivernehmung als Beweismittel, was sich daraus ergibt, dass in § 118 SGG nicht auf die entsprechenden Vorschriften der §§ 445 bis 455 ZPO verwiesen ist (vgl. BSG in SozR Nr. 1 zu § 445 ZPO; Nr. 21 zu § 103 SGG und Nr. 56 zu § 128 SGG; Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. SGG, 3. Aufl. bei § 118 zu § 444 ZPO S. II 88 – 97/98 –). Die Anhörung eines Beteiligten hat somit nicht die Funktion und den Rang eines Beweismittels. Sie ist jedoch nicht nur erlaubt, sondern in den Fällen der §§ 106 Abs. 1; 111 Abs. 1 SGG grundsätzlich auch geboten (BSG in SozR Nr. 56 zu § 128 SGG). Von der Anordnung des persönlichen Erscheinens ist jedoch abzusehen, wenn dem Beteiligten dies aus wichtigem Grund nicht zuzumuten ist. So verhält es sich hier, denn die Klägerin war aufgrund ihrer schweren seelischen Erkrankung mit psychogener Aphonie nicht in der Lage, sich gegenüber dem Senat zum Sachverhalt zu äußern.

46

Unter Anlegen des abgesenkten Beweismaßstabes hält der Senat es für glaubhaft im Sinne des § 15 KOVVfG, dass die Klägerin von ihren Vater sexuell missbraucht worden ist. Zum Nachweis kommen nicht nur Urkunden und Augenzeugen, sondern auch mittelbare Zeugen (sog. Zeugen vom "Hörensagen") in Betracht (BSG, Urteil vom 27. November 1991 – 9a RV 23/91 – Juris). Die zitierten Zeugenaussagen liefern einzeln und in ihrer Gesamtheit ein erdrückendes Bild von dem an der Klägerin verübten Missbrauch, so dass insbesondere auch unter Berücksichtigung der Aussage der Zeugin E... S... Aa... die gute Möglichkeit dafür spricht, dass der sexuelle Missbrauch wie von der Klägerin geschildert, stattgefunden hat.

47

Von besonderer Bedeutung für die Überzeugungsbildung des Senats ist, dass sich die Klägerin spätestens ab dem Frühjahr 1990, also zu einem Zeitpunkt als der sexuelle Misshandlung noch stattgefunden hat, in einem schlüssigen Kontext hilfesuchend an verschiedene Personen ihres sozialen Umfeldes gewandt und auf einen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater hingewiesen hat. Für die Annahme der Glaubhaftigkeit ist dabei wesentlich, dass sich die Klägerin vor dem Beginn einer therapeutischen Behandlung geäußert und detaillierte Angaben zum Missbrauch gemacht hat. Das Sozialgericht hat zutreffend darauf festgestellt, dass die Angaben der Klägerin deshalb nicht unter dem Aspekt der sogenannten „false memory“ in Zweifel zu ziehen seien. Wie die erstinstanzlich gehörte Sachverständige Dr. Pa... schlüssig dargelegt hat, können bei einer dissoziativen Identitätsstörung Gedächtnisbesonderheiten im Sinne von traumatisch bedingten Gedächtnisfehlfunktionen auftreten. Im Rahmen einer Psychotherapie ist es deshalb nicht nur möglich, dass bis dahin abgespaltene Erinnerungen an traumatische Vorfälle in der Therapie aufgedeckt werden (echte wiederentdeckte Erinnerungen), sondern die aufgetretenen Sinneseindrücke können auch Folge von Gedächtnistäuschung oder Suggestionen („false memory“) sein. Da die Klägerin sich jedoch bereits vor dem Auftreten ihrer schweren psychischen Erkrankung am 23. September 1993 (Bericht der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie vom 26 Juni 1995) und insbesondere vor dem Beginn eines sich anschließenden therapeutischen Prozesses mehreren Personen ihres sozialen Umfeldes gegenüber offenbart hat, können ihre Angaben nicht mit einer False-Memory-Symptomatik in Zusammenhang gebracht werden. Nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. Pa... spricht gegen das Vorliegen eines false-memory-Syndroms auch, dass die Klägerin in dem Zeitraum zwischen dem 15.06.1993 und September 1993 ihrer Bezugsbetreuerin Frau Kb... gegenüber recht konkrete Angaben gemacht hat. Dafür, dass bis zu diesem Zeitpunkt bei der Klägerin ein therapeutischer Prozess eingeleitet worden war, findet sich in den Akten und insbesondere in ärztlichen Berichten kein Anhalt. In der „Psychosozialen Diagnose“ des Jugendamtes des Landkreises G... vom 1. September 1993 ist vielmehr vermerkt, dass eine psychologische Betreuung für zwingend erforderlich gehalten werde, da die weitere Entwicklung der Klägerin auch von der Möglichkeit abhängig sei, die sexuellen Erlebnisse aufzuarbeiten. Vor diesem Hintergrund konnten keine Scheinerinnerungen durch Suggestion erzeugt werden.

48

Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Klägerin ergeben sich auch nicht daraus, dass die Klägerin im Verlauf der psychotherapeutischen Behandlung den Missbrauch in der Weise spezifiziert hat, ihre Eltern seien Mitglieder einer satanistischen Sekte gewesen, die bestimmte Rituale ausgelebt hätten. Sie werde auch nach dem Auszug aus der elterlichen Wohnung von Sektenmitgliedern entführt und missbraucht. Ob dies tatsächlich der Fall ist, hat nach Auffassung des Senats keinen Einfluss auf die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin, die diese vor dem Beginn des therapeutischen Prozesses gemacht.

49

Gestützt werden die Angaben der Klägerin durch die Aussage der Mutter der Klägerin, E... S... Aa.... Die Zeugin konnte zwar keine Angaben zum eigentlichen Tatgeschehen machen, die von ihr geschilderten Begebenheiten beinhalten jedoch Indizien für einen sexuellen Missbrauch. Die Zeugin hat eingeräumt, in der Mülltonne einen Brief bzw. einen Tagebucheintrag der Klägerin gefunden zu haben, in dem es Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch gegeben habe. Außerdem habe sie Literatur zum Thema sexueller Missbrauch gefunden. Erst im Nachhinein hätten sich weitere Anhaltspunkte für einen Missbrauch daraus ergeben, dass die Klägerin ausgezogen und für ein Jahr in die USA gegangen sei und nach der Rückkehr nicht mehr mit ihrem Vater habe allein sein wollen. Sie habe es vermieden zuhause zu sein. Für den Senat ergeben sich nach dem Akteninhalt und dem persönlichen Eindruck, den die Zeugin in der mündlichen Verhandlung hinterlassen hat, keine Hinweise darauf, dass die Zeugin die Unwahrheit gesagt haben könnte. Die Zeugin hat auf die Fragen des Gerichts offen und erkennbar um Genauigkeit bemüht geantwortet. Sie hat auch Umstände dargelegt, die einen negativen Eindruck hinterlassen könnten und die familiären Verhältnisse ungeschönt dargestellt. Nachvollziehbar ist, dass die Zeugin zunächst Zweifel an dem Missbrauch durch ihren Ehemann, der in leitender Stellung tätig war, gehabt hat. Sie hat in sich schlüssig und widerspruchsfrei geschildert, dass diese Zweifel insbesondere nach dem Auffinden des Briefes bzw. Tagebucheintrages und der Literatur über sexuellen Missbrauch sowie letztendlich durch das Gespräch mit der behandelnden Psychologin in Ka... gewichen seien. Sie gehe davon aus, dass der behauptete Missbrauch stattgefunden habe. Weiteres Indiz für den stattgehabten Missbrauch ist ein Brief, den die Klägerin ihrem Bekannten D... B... nach ihrer Rückkehr aus den USA mit folgendem Wortlaut geschrieben hat: „D..., ich habe Angst! Mein Vater … Er hat … ES ist wieder passiert! Ich möchte reden – mit dir. Geht das? Bitte! Nb...“, geschrieben hat.

50

Auch die medizinischen Befunde und Diagnosen passen zu einer Traumatisierung durch einen sexuellen Missbrauch. Die Klägerin leidet ausweislich der vorliegenden medizinischen Unterlagen und der Einschätzung der Sachverständigen Dr. Pa... an einer dissoziativen Identitätsstörung, einer posttraumatische Belastungsstörung, einer anhaltenden depressive Reaktion und einer schweren Schlafstörung. Der Senat verkennt nicht, dass nicht allein aus einer psychiatrischen Diagnose auf ein bestimmtes Geschehen geschlossen werden kann (vgl. Urteile des erkennenden Senats vom 08.11.2005 – L 2 VG 7/02 - und 24.02.2010 – L 2 VG 16/08 - Juris; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 05.06.2008 – L 13 VG 1/05 -, Juris). Die Entwicklung des Krankheitsgeschehens und die vorliegenden psychischen Störungsbilder lassen aber jedenfalls den Schluss auf eine mögliche kindliche Traumatisierung zu. Denn es ist davon auszugehen, dass kindliche Traumatisierungen häufig für die spätere Entwicklung einer dissoziativen Störung ursächlich sind, dass aber nicht jede Traumatisierung zur Ausprägung einer dissoziativen oder anderen psychischen Störung führt und dass dissoziative Störungen auch auftreten können, ohne dass sich in der Vorgeschichte ein sexueller Missbrauch oder eine andersartige Traumatisierung sichern lässt. Bei Unterstellung einer dissoziativen Störung spricht zwar eine statistische Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine kindliche Traumatisierung vorliegt. Eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit lässt sich aber nicht feststellen (Urteil des Senats vom 24.02.2010, a.a.O.).

51

Nach alledem ist ein sexueller Missbrauch der Klägerin glaubhaft gemacht.

52

Der sexuelle Missbrauch ist auch ursächlich für die dissoziative Identitätsstörung und die komplexe posttraumatische Belastungsstörung, zu deren Anerkennung das Sozialgericht das beklagte Land verurteilt und den auf die Gewalttat zurückzuführenden GdS es zutreffend mit 90 bewertet hat. Dies hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Urteil ausführlich und zutreffend dargelegt. Der Senat nimmt hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug.

53

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

54

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG liegen nicht vor.


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(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. (2) Das Urteil darf nur auf Tatsache

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Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung - KOVVfG | § 15


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(1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds gehandelt hat.

(2) Einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich

1.
die vorsätzliche Beibringung von Gift,
2.
die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen.

(3) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind; Buchstabe e gilt auch für einen Unfall, den der Geschädigte bei der unverzüglichen Erstattung der Strafanzeige erleidet.

(4) Ausländerinnen und Ausländer haben dieselben Ansprüche wie Deutsche.

(5) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt.

(6) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die ein Berechtigter oder Leistungsempfänger nach Absatz 1 oder 5 in Verbindung mit § 10 Abs. 4 oder 5 des Bundesversorgungsgesetzes, eine Pflegeperson oder eine Begleitperson bei einer notwendigen Begleitung des Geschädigten durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes erleidet.

(7) Einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne des Absatzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz gleich.

(8) Wird ein tätlicher Angriff im Sinne des Absatzes 1 durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers verübt, werden Leistungen nach diesem Gesetz erbracht.

(9) § 1 Abs. 3, die §§ 64 bis 64d, 64f sowie 89 des Bundesversorgungsgesetzes sind mit der Maßgabe anzuwenden, daß an die Stelle der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde tritt, sofern ein Land Kostenträger ist (§ 4). Dabei sind die für deutsche Staatsangehörige geltenden Vorschriften auch für von diesem Gesetz erfaßte Ausländer anzuwenden.

(10) § 20 des Bundesversorgungsgesetzes ist mit den Maßgaben anzuwenden, daß an die Stelle der in Absatz 1 Satz 3 genannten Zahl die Zahl der rentenberechtigten Beschädigten und Hinterbliebenen nach diesem Gesetz im Vergleich zur Zahl des Vorjahres tritt, daß in Absatz 1 Satz 4 an die Stelle der dort genannten Ausgaben der Krankenkassen je Mitglied und Rentner einschließlich Familienangehörige die bundesweiten Ausgaben je Mitglied treten, daß Absatz 2 Satz 1 für die oberste Landesbehörde, die für die Kriegsopferversorgung zuständig ist, oder die von ihr bestimmte Stelle gilt und daß in Absatz 3 an die Stelle der in Satz 1 genannten Zahl die Zahl 1,3 tritt und die Sätze 2 bis 4 nicht gelten.

(11) Im Rahmen der Heilbehandlung sind auch heilpädagogische Behandlung, heilgymnastische und bewegungstherapeutische Übungen zu gewähren, wenn diese bei der Heilbehandlung notwendig sind.

(1) Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer Grad der Schädigungsfolgen wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. Bei beschädigten Kindern und Jugendlichen ist der Grad der Schädigungsfolgen nach dem Grad zu bemessen, der sich bei Erwachsenen mit gleicher Gesundheitsstörung ergibt, soweit damit keine Schlechterstellung der Kinder und Jugendlichen verbunden ist. Für erhebliche äußere Gesundheitsschäden können Mindestgrade festgesetzt werden.

(2) Der Grad der Schädigungsfolgen ist höher zu bewerten, wenn Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen im vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, im nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen sind, der nach Eintritt der Schädigung ausgeübt wurde oder noch ausgeübt wird. Das ist insbesondere der Fall, wenn

1.
auf Grund der Schädigung weder der bisher ausgeübte, begonnene oder nachweisbar angestrebte noch ein sozial gleichwertiger Beruf ausgeübt werden kann,
2.
zwar der vor der Schädigung ausgeübte oder begonnene Beruf weiter ausgeübt wird oder der nachweisbar angestrebte Beruf erreicht wurde, Beschädigte jedoch in diesem Beruf durch die Art der Schädigungsfolgen in einem wesentlich höheren Ausmaß als im allgemeinen Erwerbsleben erwerbsgemindert sind, oder
3.
die Schädigung nachweisbar den weiteren Aufstieg im Beruf gehindert hat.

(3) Rentenberechtigte Beschädigte, deren Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist, erhalten nach Anwendung des Absatzes 2 einen Berufsschadensausgleich in Höhe von 42,5 vom Hundert des auf volle Euro aufgerundeten Einkommensverlustes (Absatz 4) oder, falls dies günstiger ist, einen Berufsschadensausgleich nach Absatz 6.

(4) Einkommensverlust ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente (derzeitiges Einkommen) und dem höheren Vergleichseinkommen. Haben Beschädigte Anspruch auf eine in der Höhe vom Einkommen beeinflußte Rente wegen Todes nach den Vorschriften anderer Sozialleistungsbereiche, ist abweichend von Satz 1 der Berechnung des Einkommensverlustes die Ausgleichsrente zugrunde zu legen, die sich ohne Berücksichtigung dieser Rente wegen Todes ergäbe. Ist die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gemindert, weil das Erwerbseinkommen in einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, der nicht mehr als die Hälfte des Erwerbslebens umfaßt, schädigungsbedingt gemindert war, so ist die Rentenminderung abweichend von Satz 1 der Einkommensverlust. Das Ausmaß der Minderung wird ermittelt, indem der Rentenberechnung für Beschädigte Entgeltpunkte zugrunde gelegt werden, die sich ohne Berücksichtigung der Zeiten ergäben, in denen das Erwerbseinkommen der Beschädigten schädigungsbedingt gemindert ist.

(5) Das Vergleichseinkommen errechnet sich nach den Sätzen 2 bis 5. Zur Ermittlung des Durchschnittseinkommens sind die Grundgehälter der Besoldungsgruppen der Bundesbesoldungsordnung A aus den vorletzten drei der Anpassung vorangegangenen Kalenderjahren heranzuziehen. Beträge des Durchschnittseinkommens bis 0,49 Euro sind auf volle Euro abzurunden und von 0,50 Euro an auf volle Euro aufzurunden. Der Mittelwert aus den drei Jahren ist um den Prozentsatz anzupassen, der sich aus der Summe der für die Rentenanpassung des laufenden Jahres sowie des Vorjahres maßgebenden Veränderungsraten der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Absatz 2 in Verbindung mit § 228b des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) ergibt; die Veränderungsraten werden jeweils bestimmt, indem der Faktor für die Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer um eins vermindert und durch Vervielfältigung mit 100 in einen Prozentsatz umgerechnet wird. Das Vergleichseinkommen wird zum 1. Juli eines jeden Jahres neu festgesetzt; wenn das nach den Sätzen 1 bis 6 errechnete Vergleichseinkommen geringer ist, als das bisherige Vergleichseinkommen, bleibt es unverändert. Es ist durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu ermitteln und im Bundesanzeiger bekanntzugeben; die Beträge sind auf volle Euro aufzurunden. Abweichend von den Sätzen 1 bis 5 sind die Vergleichseinkommen der Tabellen 1 bis 4 der Bekanntmachung vom 14. Mai 1996 (BAnz. S. 6419) für die Zeit vom 1. Juli 1997 bis 30. Juni 1998 durch Anpassung der dort veröffentlichten Werte mit dem Vomhundertsatz zu ermitteln, der in § 56 Absatz 1 Satz 1 bestimmt ist; Satz 6 zweiter Halbsatz gilt entsprechend.

(6) Berufsschadensausgleich nach Absatz 3 letzter Satzteil ist der Nettobetrag des Vergleicheinkommens (Absatz 7) abzüglich des Nettoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit (Absatz 8), der Ausgleichsrente (§§ 32, 33) und des Ehegattenzuschlages (§ 33a). Absatz 4 Satz 2 gilt entsprechend.

(7) Der Nettobetrag des Vergleichseinkommens wird bei Beschädigten, die nach dem 30. Juni 1927 geboren sind, für die Zeit bis zum Ablauf des Monats, in dem sie auch ohne die Schädigung aus dem Erwerbsleben ausgeschieden wären, längstens jedoch bis zum Ablauf des Monats, in dem der Beschädigte die Regelaltersgrenze nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch erreicht, pauschal ermittelt, indem das Vergleichseinkommen

1.
bei verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 716 Euro übersteigende Teil um 36 vom Hundert und der 1 790 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert,
2.
bei nicht verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 460 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert und der 1 380 Euro übersteigende Teil um 49 vom Hundert
gemindert wird. Im übrigen gelten 50 vom Hundert des Vergleichseinkommens als dessen Nettobetrag.

(8) Das Nettoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit wird pauschal aus dem derzeitigen Bruttoeinkommen ermittelt, indem

1.
das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Erwerbstätigkeit um die in Absatz 7 Satz 1 Nr. 1 und 2 genannten Vomhundertsätze gemindert wird,
2.
Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Renten wegen Alters, Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Landabgaberenten nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte um den Vomhundertsatz gemindert werden, der für die Bemessung des Beitrags der sozialen Pflegeversicherung (§ 55 des Elften Buches Sozialgesetzbuch) gilt, und um die Hälfte des Vomhundertsatzes des allgemeinen Beitragssatzes der Krankenkassen (§ 241 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch); die zum 1. Januar festgestellten Beitragssätze gelten insoweit jeweils vom 1. Juli des laufenden Kalenderjahres bis zum 30. Juni des folgenden Kalenderjahres,
3.
sonstige Geldleistungen von Leistungsträgern (§ 12 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch) mit dem Nettobetrag berücksichtigt werden und
4.
das übrige Bruttoeinkommen um die in Nummer 2 genannten Vomhundertsätze und zusätzlich um 19 vom Hundert des 562 Euro übersteigenden Betrages gemindert wird; Nummer 2 letzter Halbsatz gilt entsprechend.
In den Fällen des Absatzes 11 tritt an die Stelle des Nettoeinkommens im Sinne des Satzes 1 der nach Absatz 7 ermittelte Nettobetrag des Durchschnittseinkommens.

(9) Berufsschadensausgleich nach Absatz 6 wird in den Fällen einer Rentenminderung im Sinne des Absatzes 4 Satz 3 nur gezahlt, wenn die Zeiten des Erwerbslebens, in denen das Erwerbseinkommen nicht schädigungsbedingt gemindert war, von einem gesetzlichen oder einem gleichwertigen Alterssicherungssystem erfaßt sind.

(10) Der Berufsschadensausgleich wird ausschließlich nach Absatz 6 berechnet, wenn der Antrag erstmalig nach dem 21. Dezember 2007 gestellt wird. Im Übrigen trifft die zuständige Behörde letztmalig zum Stichtag nach Satz 1 die Günstigkeitsfeststellung nach Absatz 3 und legt damit die für die Zukunft anzuwendende Berechnungsart fest.

(11) Wird durch nachträgliche schädigungsunabhängige Einwirkungen oder Ereignisse, insbesondere durch das Hinzutreten einer schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörung das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Tätigkeit voraussichtlich auf Dauer gemindert (Nachschaden), gilt statt dessen als Einkommen das Grundgehalt der Besoldungsgruppe der Bundesbesoldungsordnung A, der der oder die Beschädigte ohne den Nachschaden zugeordnet würde; Arbeitslosigkeit oder altersbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gilt grundsätzlich nicht als Nachschaden. Tritt nach dem Nachschaden ein weiterer schädigungsbedingter Einkommensverlust ein, ist dieses Durchschnittseinkommen entsprechend zu mindern. Scheidet dagegen der oder die Beschädigte schädigungsbedingt aus dem Erwerbsleben aus, wird der Berufsschadensausgleich nach den Absätzen 3 bis 8 errechnet.

(12) Rentenberechtigte Beschädigte, die einen gemeinsamen Haushalt mit ihrem Ehegatten oder Lebenspartners, einem Verwandten oder einem Stief- oder Pflegekind führen oder ohne die Schädigung zu führen hätten, erhalten als Berufsschadensausgleich einen Betrag in Höhe der Hälfte der wegen der Folgen der Schädigung notwendigen Mehraufwendungen bei der Führung des gemeinsamen Haushalts.

(13) Ist die Grundrente wegen besonderen beruflichen Betroffenseins erhöht worden, so ruht der Anspruch auf Berufsschadensausgleich in Höhe des durch die Erhöhung der Grundrente nach § 31 Abs. 1 Satz 1 erzielten Mehrbetrags. Entsprechendes gilt, wenn die Grundrente nach § 31 Abs. 4 Satz 2 erhöht worden ist.

(14) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates zu bestimmen:

a)
welche Vergleichsgrundlage und in welcher Weise sie zur Ermittlung des Einkommensverlustes heranzuziehen ist,
b)
wie der Einkommensverlust bei einer vor Abschluß der Schulausbildung oder vor Beginn der Berufsausbildung erlittenen Schädigung zu ermitteln ist,
c)
wie der Berufsschadensausgleich festzustellen ist, wenn der Beschädigte ohne die Schädigung neben einer beruflichen Tätigkeit weitere berufliche Tätigkeiten ausgeübt oder einen gemeinsamen Haushalt im Sinne des Absatzes 12 geführt hätte,
d)
was als derzeitiges Bruttoeinkommen oder als Durchschnittseinkommen im Sinne des Absatzes 11 und des § 64c Abs. 2 Satz 2 und 3 gilt und welche Einkünfte bei der Ermittlung des Einkommensverlustes nicht berücksichtigt werden,
e)
wie in besonderen Fällen das Nettoeinkommen abweichend von Absatz 8 Satz 1 Nr. 3 und 4 zu ermitteln ist.

(15) Ist vor dem 1. Juli 1989 bereits über den Anspruch auf Berufsschadensausgleich für die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entschieden worden, so verbleibt es hinsichtlich der Frage, ob Absatz 4 Satz 1 oder 3 anzuwenden ist, bei der getroffenen Entscheidung.

(16) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des Absatzes 1 maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 aufzustellen und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln.

(1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds gehandelt hat.

(2) Einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich

1.
die vorsätzliche Beibringung von Gift,
2.
die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen.

(3) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind; Buchstabe e gilt auch für einen Unfall, den der Geschädigte bei der unverzüglichen Erstattung der Strafanzeige erleidet.

(4) Ausländerinnen und Ausländer haben dieselben Ansprüche wie Deutsche.

(5) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt.

(6) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die ein Berechtigter oder Leistungsempfänger nach Absatz 1 oder 5 in Verbindung mit § 10 Abs. 4 oder 5 des Bundesversorgungsgesetzes, eine Pflegeperson oder eine Begleitperson bei einer notwendigen Begleitung des Geschädigten durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes erleidet.

(7) Einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne des Absatzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz gleich.

(8) Wird ein tätlicher Angriff im Sinne des Absatzes 1 durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers verübt, werden Leistungen nach diesem Gesetz erbracht.

(9) § 1 Abs. 3, die §§ 64 bis 64d, 64f sowie 89 des Bundesversorgungsgesetzes sind mit der Maßgabe anzuwenden, daß an die Stelle der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde tritt, sofern ein Land Kostenträger ist (§ 4). Dabei sind die für deutsche Staatsangehörige geltenden Vorschriften auch für von diesem Gesetz erfaßte Ausländer anzuwenden.

(10) § 20 des Bundesversorgungsgesetzes ist mit den Maßgaben anzuwenden, daß an die Stelle der in Absatz 1 Satz 3 genannten Zahl die Zahl der rentenberechtigten Beschädigten und Hinterbliebenen nach diesem Gesetz im Vergleich zur Zahl des Vorjahres tritt, daß in Absatz 1 Satz 4 an die Stelle der dort genannten Ausgaben der Krankenkassen je Mitglied und Rentner einschließlich Familienangehörige die bundesweiten Ausgaben je Mitglied treten, daß Absatz 2 Satz 1 für die oberste Landesbehörde, die für die Kriegsopferversorgung zuständig ist, oder die von ihr bestimmte Stelle gilt und daß in Absatz 3 an die Stelle der in Satz 1 genannten Zahl die Zahl 1,3 tritt und die Sätze 2 bis 4 nicht gelten.

(11) Im Rahmen der Heilbehandlung sind auch heilpädagogische Behandlung, heilgymnastische und bewegungstherapeutische Übungen zu gewähren, wenn diese bei der Heilbehandlung notwendig sind.

(1) Die Beschädigtenversorgung beginnt mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Die Versorgung ist auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. War der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, so verlängert sich diese Frist um den Zeitraum der Verhinderung. Für Zeiträume vor dem Monat der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft oder aus ausländischem Gewahrsam steht keine Versorgung zu.

(2) Absatz 1 Satz 1 gilt entsprechend, wenn eine höhere Leistung beantragt wird; war der Beschädigte jedoch ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, so beginnt die höhere Leistung mit dem Monat, von dem an die Verhinderung nachgewiesen ist, wenn der Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrunds gestellt wird. Die höhere Leistung beginnt jedoch wegen einer Minderung des Einkommens oder wegen einer Erhöhung der schädigungsbedingten Aufwendungen unabhängig vom Antragsmonat mit dem Monat, in dem die Voraussetzungen erfüllt sind, wenn der Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Eintritt der Änderung oder nach Zugang der Mitteilung über die Änderung gestellt wird. Der Zeitpunkt des Zugangs ist vom Antragsteller nachzuweisen. Entsteht ein Anspruch auf Berufsschadensausgleich (§ 30 Abs. 3 oder 6) infolge Erhöhung des Vergleichseinkommens im Sinne des § 30 Abs. 5, so gilt Satz 2 entsprechend, wenn der Antrag innerhalb von sechs Monaten gestellt wird.

(3) Wird die höhere Leistung von Amts wegen festgestellt, beginnt sie mit dem Monat, in dem die anspruchsbegründenden Tatsachen einer Dienststelle der Kriegsopferversorgung bekanntgeworden sind. Ist die höhere Leistung durch eine Änderung des Familienstands, der Zahl zu berücksichtigender Kinder oder das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze bedingt, so beginnt sie mit dem Monat, in dem das Ereignis eingetreten ist; das gilt auch, wenn ein höherer Berufsschadensausgleich (§ 30 Abs. 3 oder 6) auf einer Änderung des Vergleichseinkommens im Sinne des § 30 Abs. 5 beruht.

(4) Eine Minderung oder Entziehung der Leistungen tritt mit Ablauf des Monats ein, in dem die Voraussetzungen für ihre Gewährung weggefallen sind. Eine durch Besserung des Gesundheitszustands bedingte Minderung oder Entziehung der Leistungen tritt mit Ablauf des Monats ein, der auf die Bekanntgabe des die Änderung aussprechenden Bescheides folgt. Beruht die Minderung oder Entziehung von Leistungen, deren Höhe vom Einkommen beeinflußt wird, auf einer Erhöhung dieses Einkommens, so tritt die Minderung oder Entziehung mit dem Monat ein, in dem das Einkommen sich erhöht hat.

Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.

(1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds gehandelt hat.

(2) Einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich

1.
die vorsätzliche Beibringung von Gift,
2.
die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen.

(3) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind; Buchstabe e gilt auch für einen Unfall, den der Geschädigte bei der unverzüglichen Erstattung der Strafanzeige erleidet.

(4) Ausländerinnen und Ausländer haben dieselben Ansprüche wie Deutsche.

(5) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt.

(6) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die ein Berechtigter oder Leistungsempfänger nach Absatz 1 oder 5 in Verbindung mit § 10 Abs. 4 oder 5 des Bundesversorgungsgesetzes, eine Pflegeperson oder eine Begleitperson bei einer notwendigen Begleitung des Geschädigten durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes erleidet.

(7) Einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne des Absatzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz gleich.

(8) Wird ein tätlicher Angriff im Sinne des Absatzes 1 durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers verübt, werden Leistungen nach diesem Gesetz erbracht.

(9) § 1 Abs. 3, die §§ 64 bis 64d, 64f sowie 89 des Bundesversorgungsgesetzes sind mit der Maßgabe anzuwenden, daß an die Stelle der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde tritt, sofern ein Land Kostenträger ist (§ 4). Dabei sind die für deutsche Staatsangehörige geltenden Vorschriften auch für von diesem Gesetz erfaßte Ausländer anzuwenden.

(10) § 20 des Bundesversorgungsgesetzes ist mit den Maßgaben anzuwenden, daß an die Stelle der in Absatz 1 Satz 3 genannten Zahl die Zahl der rentenberechtigten Beschädigten und Hinterbliebenen nach diesem Gesetz im Vergleich zur Zahl des Vorjahres tritt, daß in Absatz 1 Satz 4 an die Stelle der dort genannten Ausgaben der Krankenkassen je Mitglied und Rentner einschließlich Familienangehörige die bundesweiten Ausgaben je Mitglied treten, daß Absatz 2 Satz 1 für die oberste Landesbehörde, die für die Kriegsopferversorgung zuständig ist, oder die von ihr bestimmte Stelle gilt und daß in Absatz 3 an die Stelle der in Satz 1 genannten Zahl die Zahl 1,3 tritt und die Sätze 2 bis 4 nicht gelten.

(11) Im Rahmen der Heilbehandlung sind auch heilpädagogische Behandlung, heilgymnastische und bewegungstherapeutische Übungen zu gewähren, wenn diese bei der Heilbehandlung notwendig sind.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 18. März 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Feststellungen von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen der gesundheitlichen Folgen von Nachstellungen (sog "Stalking").

2

Die 1950 geborene Klägerin hat zwei erwachsene Kinder, ist von Beruf Sozialpädagogin und war als Nachtwache in einer Wohnstätte für behinderte Menschen in B. beschäftigt. Seit Mai 2001 lebte sie in einer Beziehung mit dem 1960 geborenen H. (im Folgenden: H.). Die Beziehung mit H. entwickelte sich konfliktreich, so dass die Klägerin sie bereits ab Oktober 2001 wieder zu beenden versuchte.

3

H. akzeptierte das nicht. Er belegte die Klägerin in der Folgezeit mit zahlreichen Telefonanrufen und elektronischen Kurznachrichten (SMS). Zudem alarmierte er wiederholt die Polizei, die Feuerwehr und den Notarzt zu vorgeblichen Streitigkeiten, Schlägereien bzw Bränden in der Wohnung der Klägerin, ohne dass bei Eintreffen der Einsatzkräfte entsprechende Gefährdungs- oder Schadenslagen festgestellt werden konnten. H. bestellte ua auch - ohne entsprechenden Bedarf - mehrfach Taxen zur Wohnanschrift der Klägerin. Ferner ließ er am Arbeitsplatz der Klägerin ausrichten, demnächst werde ein Gerichtsvollzieher "vor ihrer Tür stehen".

4

Die Klägerin erwirkte daraufhin erstmals am 7.1.2002 eine einstweilige Verfügung des Amtsgerichts (AG) B., nach der H. unter Androhung von Ordnungsgeld, ersatzweise Ordnungshaft, untersagt wurde, die Klägerin zu bedrohen oder zu belästigen sowie in ihrem Namen "die Polizei und Feuerwehr, andere Rettungsdienste, Bestattungsunternehmen, Taxiunternehmen und so weiter zu alarmieren". Dies veranlasste H. indes nicht, sein Verhalten gegenüber der Klägerin zu ändern. Unter anderem ereigneten sich im Weiteren die folgenden Vorfälle:

5

So drohte (vermutlich) H. telefonisch beim Arbeitsplatz der Klägerin mit Bombenexplosionen, insbesondere für den Fall, dass die Klägerin "noch mal in das Haus kommt". Weiter kündigte H. der - seinerzeit 81-jährigen - Mutter der Klägerin telefonisch den bevorstehenden Tod der Klägerin an und teilte ihr einige Minuten später telefonisch mit, dass die Klägerin nunmehr tot sei. Einem daraufhin alarmierten Polizeibeamten, der den Anruf in der Wohnung der Klägerin entgegennahm, teilte (vermutlich) H. wörtlich mit: "Jetzt muss sie fürchterliche Angst haben!" und legte auf. Am Abend desselben Tages meldeten sich mehrere "Pizza-Services" bei der Klägerin, die ihr eine vermeintlich von ihr bestellte Pizza bringen wollten.

6

Derartige Telefonanrufe wiederholten sich auch in der Folgezeit mehrfach sowohl gegenüber der Klägerin als auch gegenüber ihrer Mutter und ihren Arbeitskollegen. Einen daraufhin von der Klägerin gestellten Antrag, entsprechend der einstweiligen Verfügung vom 7.1.2002 ein Ordnungsgeld gegen H. festzusetzen, nahm die Klägerin am 22.5.2002 zurück, nachdem sich H. am 18.4.2002 ihr gegenüber verpflichtet hatte, entsprechende Anrufe zu unterlassen, in seinem Besitz befindliche persönliche Daten der Klägerin zu löschen, an ihrer Wohnung nicht mehr aufzutauchen oder zu klingeln, sie nicht mehr anzusprechen, "jegliche Kontaktaufnahme bei zufälligem Zusammentreffen" zu unterlassen und nichts mehr zu tun oder zu veranlassen, "was (der Klägerin) persönlich oder ihrer Familie schadet oder schaden könnte". Die Klägerin erklärte sich im Gegenzug bereit "zu dulden", dass H. ihr "ab und zu einen Brief" schreibt, "der per Post zugestellt wird".

7

Ende März 2003 bedrohte der H. die Klägerin erneut in deren Haus. Er schrie sie an, sie werde ihn nun "von einer anderen Seite" kennen lernen; sie wisse nicht, wozu er fähig sei. Er fange zuerst mit der Tochter (der Klägerin) an; er habe "Beziehungen" in ganz O. (dem damaligen Wohnort der Tochter). Dann komme der Sohn (der Klägerin) "dran"; er solle auf sein Auto aufpassen. Der H. fügte hinzu: "Wenn du überfallen, vergewaltigt oder belästigt wirst, habe ich nichts damit zu tun. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Du hast Zeit bis morgen, um mit mir zu reden. Dann geht der Tanz los. Du hast selber schuld, du hast mich fallen lassen!". Abschließend sagte er: "In vier Wochen sind F. und J. (die Kinder der Klägerin) tot."

8

H. richtete an die Klägerin zudem eine Vielzahl von Briefen und Postkarten, teils beleidigenden, teils versöhnlichen Inhalts, lauerte ihr am Arbeitsplatz und vor ihrer Haustür auf, verfolgte sie, sprach sie an, belästigte und bedrohte sie und ihre Kinder, bestellte auf den Namen der Klägerin ungefragt Versandhausartikel und beauftragte ua ein Bestattungsunternehmen sowie einen Schlüsseldienst zur Wohnanschrift der Klägerin. Er rief auch wiederholt die Notrufnummer der Polizei an unter Vorgabe vermeintlicher Gewalttaten zu Lasten der Klägerin bzw seines eigenen (angeblich) bevorstehenden Freitodes, um entsprechende Einsätze zu bewirken.

9

Am 18.7.2003 erwartete er die Klägerin vor dem Hauseingang ihrer Wohnung in B. und folgte ihr von dort bis zur Bushaltestelle, während er ununterbrochen auf sie einredete. Er bestieg sodann denselben Bus wie die Klägerin und folgte ihr nach dem Aussteigen unter weiterem Einreden weiter. Vor dem Eingang eines Copy-Geschäfts hielt er die Klägerin am Arm fest und riss sie zu sich herum, ließ sie dann jedoch wieder los, worauf die Klägerin in dem Copy-Geschäft um Verständigung der Polizei bat.

10

Am 26.7.2003 fand die Klägerin in ihrem Briefkasten einen von H. handschriftlich verfassten Brief vor, in dem es ua hieß: "Melde Dich doch wegen dem Geld. Du bekommst ab dem 2.8. Deine Ruhe, aber anders als Du denkst. Ich habe sehr viel angeleiert. H. "

11

Mit Verfügung vom 28.7.2003 erließ die Ortspolizeibehörde B. daraufhin eine Wohnungsverweisungsverfügung mit Rückkehrverbot gegen H., ihm wurde verboten, sich ab dem 28.7.2003, 12.00 Uhr, bis zum 7.8.2003, 24.00 Uhr, in der Wohnung der Klägerin sowie einem Radius von 100 Metern darum aufzuhalten (Maßnahme nach § 14a Abs 1 Bremisches Polizeigesetz).

12

Mit Beschluss des AG B. vom 19.8.2003 wurde H. im Wege einer weiteren einstweiligen Verfügung unter Androhung von Ordnungsgeld bzw Ordnungshaft aufgegeben, es zu unterlassen, die Klägerin zu bedrohen, zu verletzen oder sonst körperlich zu misshandeln, ihr nachzustellen, in irgendeiner Form Kontakt zu ihr aufzunehmen, die Wohnung der Klägerin zu betreten oder sich auf der Straße vor ihrem Haus bzw gegenüber dem Grundstück aufzuhalten, sich der Klägerin außerhalb der Wohnung auf eine Entfernung von weniger als 100 Metern zu nähern, sie anzusprechen, ihr zu folgen oder hinterherzulaufen und den Arbeitsplatz der Klägerin zu betreten oder sich ihm auf eine Entfernung von weniger als 100 Metern zu nähern.

13

Diesen Anforderungen kam H. erneut nicht nach: Er warf ua immer wieder lose Zettel, Postkarten und Briefe in den Briefkasten der Klägerin und klingelte nahezu täglich an ihrer Haustür oder meldete sich telefonisch. Am 20.9.2003 belästigte und bedrohte er sie in einem öffentlichen Bus. Am 2. und 3.10.2003 wartete er vor dem Haus der Klägerin und ging auf sie zu, als sie das Haus auf dem Weg zur Arbeit verließ. Die Klägerin sah sich dadurch veranlasst, zunächst in das Haus zurückzukehren und sich zur Arbeit abholen zu lassen, was auch geschah. Darüber hinaus begegnete H. der Klägerin mehrfach offenbar absichtsvoll in verschiedenen Straßen B. und verfolgte sie, auch nachdem sie zur Vermeidung einer unmittelbaren Begegnung die Straßenseite gewechselt hatte.

14

Das AG B. setzte daraufhin mit Ergänzungsbeschluss vom 13.11.2003 ein Ordnungsgeld in Höhe von 1000 Euro, ersatzweise für je 100 Euro einen Tag Ordnungshaft, gegen H. fest. Die dagegen erhobene Beschwerde nahm H. nach Reduzierung des Ordnungsgeldes auf 150 Euro zurück; zu einer Änderung seines Verhaltens kam es nicht.

15

Schließlich wurde H. auf Strafanzeigen der Klägerin nach Verbindung mehrerer Verfahren vom AG B. mit Urteil vom 23.11.2004 (- 21 Gs 962 Js 31324/04 -) wegen Bedrohung (§ 241 Strafgesetzbuch - StGB) und Verstoßes gegen eine vollstreckbare Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz (GewSchG) in 14 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nach weiteren wiederholten Nachstellungen wurde die Strafaussetzung zur Bewährung mit Beschluss des AG B. vom 7.3.2005 widerrufen. H. verbüßte daraufhin vom 13.9.2005 bis 23.5.2006 die ihm auferlegte Freiheitsstrafe, bevor der Strafrest nach zwei Dritteln erneut zur Bewährung (Bewährungszeit: 2 Jahre) und mit der Auflage, sich umgehend einer ambulanten Alkoholentziehungstherapie zu unterziehen, ausgesetzt wurde (§ 57 Abs 1 StGB). Eine mit weiterem Urteil des AG B. vom 4.10.2005 (- 21 Ds 990 Js 16758/05 -) ergänzend ausgesprochene Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten wurde auf Berufung des H. mit Urteil des Landgerichts B. vom 31.5.2006 (- 26 Ns 990 Js 16758/05 -) ebenfalls (mit weiteren Auflagen) zur Bewährung (Bewährungszeit: 3 Jahre) ausgesetzt.

16

Die Klägerin wechselte im Verlaufe der Nachstellungen zweimal die Wohnanschrift, kam zeitweilig bei Bekannten unter und veranlasste eine Auskunftssperre bei der Meldebehörde. Zudem ließ sie sich vorübergehend eine Telefonnummer mit Auskunftssperre einrichten. Gleichwohl ermittelte H. jeweils nach kurzer Zeit erneut ihre Anschrift bzw Telefonnummer und setzte seine Annäherungshandlungen fort.

17

Infolge der Nachstellungen leidet die Klägerin unter psychischen Beschwerden im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Erschöpfungs- und Angstzuständen, Nervosität, Konzentrations- und Schlafstörungen, die ua eine psychopharmakologische Medikation und einen stationären Aufenthalt in der Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Dr. He., B., vom 2.3. bis 11.5.2004 erforderlich machten. Bei der Klägerin wurde wegen eines "psychischen Leidens" ein Grad der Behinderung von 50 ab dem 7.3.2005 festgestellt.

18

Den Antrag der Klägerin vom 7.2.2005 auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG lehnte die beklagte Freie Hansestadt durch Bescheid vom 23.5.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.10.2005 mit der Begründung ab, dass die von der Klägerin geltend gemachten "Stalking"-Aktivitäten, wie etwa Morddrohung, Verfolgung, nicht erwünschte Brief- und Telefonkontakte, Warenbestellungen auf ihren Namen etc, als "gewaltlose" Handlungen nicht unter den Begriff des tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG fallen würden. Dieses Tatbestandsmerkmal setze eine unmittelbar auf den Körper des anderen abzielende Einwirkung, zB einen Schlag, voraus, die im Fall der Klägerin nicht vorliege. Nach dem OEG würden nicht ausnahmslos alle Opfer von Straftaten entschädigt, sondern nur Betroffene einer Straftat mit Gewaltanwendung.

19

Nach erfolgloser Klage (Urteil des Sozialgerichts B. am 20.10.2006) hat die Klägerin beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen Berufung eingelegt. Mit Urteil vom 18.3.2010 hat das LSG die ablehnenden Entscheidungen des SG und der Beklagten aufgehoben sowie Letztere verurteilt, bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge nach dem OEG festzustellen und eine Beschädigtenrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 ab dem 1.2.2005 zu gewähren. Es hat sein Urteil auf folgende Erwägungen gestützt:

20

Für die Annahme eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG reiche es aus, dass H. durch seine Übergriffe den seit 31.3.2007 geltenden Straftatbestand der Nachstellung (§ 238 StGB) verwirkliche, die Schädigung der Gesundheit der Klägerin zumindest billigend in Kauf genommen und seine Handlungen gerade auch mittels physischer Präsenz "unterstrichen" habe. Auch mit Rücksicht auf das strafrechtliche absolute Rückwirkungsverbot nach Art 103 Abs 2 GG könnten insoweit zwischenzeitliche Rechtsentwicklungen (§ 238 StGB) opferentschädigungsrechtlich nicht unberücksichtigt bleiben. Die einzelnen Handlungen des H. seien bei der opferentschädigungsrechtlichen Bewertung des Gesamtgeschehens nicht jeweils für sich als isolierte Beschimpfungen, Beleidigungen, Bedrohungen etc, sondern deliktstypisch in ihrer Gesamtheit als beharrliche, systematische Belästigungen und Nachstellungen und (insgesamt) als tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG anzusehen. Das Handeln des H. weise keinen qualitativen Unterschied gegenüber einem Angriff auf, bei dem der Angreifer seinen Drohungen durch begleitende oder vorbereitende Sachbeschädigungen "körperlichen" Nachdruck verleihe oder das Opfer durch Versperren des Weges zu einem Flucht- oder Ausweichverhalten veranlasse, das zu einer Gesundheitsschädigung führe. Die Einordnung der Nachstellungen als tätlicher Angriff entspreche auch dem Schutzzweck des OEG, da der staatliche Schutz der Klägerin vor Gesundheitsschäden mit den (seinerzeit verfügbaren) Mitteln des GewSchG, des StGB, aber auch des allgemeinen Polizeirechts, unzureichend geblieben sei.

21

Gegen diese Entscheidung richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten. Mit Beschluss vom 8.3.2011 hat der Senat die Bundesrepublik Deutschland auf ihren Antrag zum Revisionsverfahren beigeladen. Zur Begründung ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§ 1 Abs 1 Satz 1 OEG):

22

Das LSG habe in rechtlich fehlerhafter Weise das Verhalten des H. als vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG bewertet. Dieser Begriff erfordere grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines Anderen zielende gewaltsame und in der Regel auch handgreifliche Einwirkung. Ausnahmen von der Körperlichkeit des Angriffs seien vom Bundessozialgericht (BSG) nur vereinzelt und unter exakt definierten Kriterien entwickelt worden; weder die Rechtsprechung zum sexuellen Missbrauch von Kindern noch die Grundsätze zur opferentschädigungsrechtlichen Bewertung von sog Schockschadensopfern seien auf die vorliegende Fallgestaltung zu übertragen. Bei einer Bedrohung oder der Drohung mit Gewalt sei maßgeblich auf eine objektiv hohe Gefährdungslage des Opfers abzustellen.

23

Im vorliegenden Fall liege - von dem einmaligen Festhalten der Klägerin am Arm abgesehen - weder eine gewaltsame bzw handgreifliche Einwirkung auf den Körper der Klägerin noch eine objektive Gefahr für Leib oder Leben vor. Entgegen der Auffassung des LSG reiche die reine "physische Präsenz" des H. nicht aus, um bei "gewaltlosen" Nachstellungen einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG zu bejahen. Auch könne zur Beurteilung der Strafbarkeit der Handlungen des H. nicht auf den erst seit 31.3.2007 geltenden Straftatbestand der Nachstellung (§ 238 StGB)zurückgegriffen werden; zum einen wegen des absoluten Rückwirkungsverbots des Art 103 Abs 2 GG und zum anderen wegen der möglichen Regressforderung des Staates gemäß § 5 OEG iVm § 81a BVG.

24

Schließlich habe das LSG rechtsfehlerhaft die Handlungen des H. in ihrer Gesamtheit als einheitlichen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG bewertet. Die Systematik des Entschädigungstatbestands gebiete, zur Beurteilung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs an die Einzelhandlungen anzuknüpfen; die Rechtsfrage wiederum, wie eine Kette tätlicher Angriffe, die nicht jeder für sich genommen, wohl aber in ihrer Gesamtwirkung allgemein geeignet sind, eine psychische Krankheit hervorzurufen, sei opferentschädigungsrechtlich zu bewerten und noch nicht höchstrichterlich entschieden.

25

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 18. März 2010 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 20. Oktober 2006 zurückzuweisen.

26

Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

27

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend. Ergänzend macht sie geltend: Es entspreche dem Sinn und Zweck des OEG sowie dem Europäischen Übereinkommen vom 24.11.1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (BGBl II 1996, 1120), ihr eine Entschädigung für Gesundheitsschäden - auch im Hinblick auf das Versagen des staatlichen Gewaltmonopols beim Schutz vor Gewaltkriminalität - zuzubilligen. Nach der Rechtsprechung des BSG müsse ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG nicht "körperlich" oder gar "handgreiflich" bzw "kämpferisch" sein, sondern könne sich insbesondere bei einem sexuellen Missbrauch von Kindern auch auf "seelische" Einwirkungen beziehen; die Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit von Stalking-Opfern und das Versagen staatlichen Schutzes rechtfertige es, diese Grundsätze auch auf Stalking-Handlungen zu übertragen, auch wenn diese nicht unbedingt handgreiflich seien. Ohnehin hätten die Handlungen des H. unmittelbar auf ihren Körper eingewirkt, jedenfalls optisch und akustisch. Entscheidend sei im vorliegenden Fall, dass sich die objektive Gefahr für ihre körperliche Unversehrtheit durch die psychische Erkrankung realisiert habe und die Handlungen des H. hierfür ursächlich gewesen seien. Insoweit komme es auch nicht darauf an, ob ein Schaden unmittelbar durch eine Handlung oder durch die Summe der Einzelakte verursacht worden sei.

28

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie teilt die Rechtsauffassung der Beklagten und trägt ua vor: Es sei der gesetzgeberische Wille zu beachten, den tätlichen Angriff über eine "Körperlichkeit" zu definieren. Ein Verweis auf den Gesetzeszweck könne nicht dazu führen, diese Anspruchsvoraussetzung auszuhebeln. Ebenso wenig könne von einer Schädigungsfolge auf das Vorliegen eines tätlichen Angriffs geschlossen werden. Auch das vom Strafgesetzgeber anerkannte Schutzbedürfnis von Stalking-Opfern reiche nicht aus, um über das Tatbestandsmerkmal des tätlichen Angriffs hinwegzusehen. Etwaige Änderungen des OEG blieben dem Gesetzgeber vorbehalten.

Entscheidungsgründe

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Die Revision der Beklagten ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

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Nach den im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen, an die das BSG gemäß § 163 SGG gebunden ist, kann der Senat nicht abschließend darüber entscheiden, ob das LSG die Beklagte zu Recht oder zu Unrecht verurteilt hat, bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge nach dem OEG festzustellen und eine Beschädigtenrente nach einem GdS von 50 ab dem 1.2.2005 zu gewähren. Es fehlen hinreichende Tatsachenfeststellungen des LSG zur Beurteilung, ob die Klägerin durch die von ihr geltend gemachten Übergriffe des H. - vor allem in dem Zeitraum von Oktober 2001 bis Ende 2003 - Opfer von vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffen iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG gewesen ist und ob die von dem LSG angenommene Schädigungsfolge auf diese Angriffe zurückzuführen ist.

31

Rechtsgrundlage für den von der Klägerin in zulässiger Weise mit einer kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG)geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs 1 Satz 1 OEG iVm § 31 Abs 1 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, ua auch Beschädigtenrente nach § 31 Abs 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat.

32

Die Rechtsprechung des erkennenden Senats zur Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG hat im Laufe der Jahre anhand einzelner Fallgestaltungen eine Entwicklung erfahren, die der Senat jüngst zur opferentschädigungsrechtlichen Beurteilung von strafbaren ärztlichen Eingriffen dargelegt hat(vgl Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 26 ff). Diese Rechtsprechung berücksichtigt seit jeher, dass die Verletzungshandlung im OEG nach dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das StGB geregelt ist (BT-Drucks 7/2506 S 10; vgl etwa BSG Urteil vom 24.4.1991 - 9a/9 RVg 1/89 - SozR 3-3800 § 1 Nr 1 S 2; BSG Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 29; vgl auch Geschwinder, SGb 1985, 95, 96); gleichwohl orientiert sich die Auslegung an der im Strafrecht gewonnenen Bedeutung des auch dort verwendeten rechtstechnischen Begriffs des "tätlichen Angriffs" (vgl insbesondere BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 235 f = SozR 3800 § 1 Nr 4 S 8 f; vgl auch die Anmerkung zu dieser Entscheidung von Schlamelcher, SGb 1984, 593 ff). Mit Rücksicht auf den das OEG prägenden Gedanken des lückenlosen Opferschutzes hat sie sich aber weitestgehend von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) gelöst (stRspr seit 1995; vgl BSG Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7; BSG Urteil vom 4.2.1998 - B 9 VG 5/96 R - BSGE 81, 288, 292 = SozR 3-3800 § 1 Nr 12 S 46; jüngst BSG Urteil vom 8.11.2007 - B 9/9a VG 3/06 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 11 RdNr 14, 17). Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat vornehmlich aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden (vgl Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25).

33

Mit Blick auf die hier zu entscheidende Frage der Entschädigungspflicht des Staates nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG bei dem Phänomen des sog "Stalking", das seit dem 31.3.2007 als Straftatbestand in das StGB aufgenommen ist (Nachstellen iS des § 238 StGB), hat der Senat erneut Veranlassung, seine Rechtsprechung zu präzisieren und dem unbestimmten Rechtsbegriff des vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG weitere Konturen zu verleihen.

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1. Der Senat geht bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG (a) und der Eingrenzung des schädigenden Vorgangs als erstem Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette (b) von folgenden Erwägungen aus:

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a) Grundsätzlich ist der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung(§§ 113, 121 StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN).

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aa) Soweit eine "gewaltsame" Einwirkung vorausgesetzt wird, hat der Senat bereits entschieden, dass der Gesetzgeber durch den Begriff des "tätlichen Angriffs" den schädigenden Vorgang iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG in rechtlich nicht zu beanstandender Weise begrenzt und den im Strafrecht uneinheitlich verwendeten Gewaltbegriff eingeschränkt hat(vgl BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 236 = SozR 3800 § 1 Nr 4 S 9; BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 279 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 73). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB(vgl hierzu Fischer, StGB, 57. Aufl 2010, § 240 RdNr 8 ff mwN) zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus(vgl insbesondere BT-Drucks 7/2506 S 10), wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein; dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt iS des § 113 Abs 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, dh als tätiger Einsatz materieller Zwangsmittel, insbesondere körperlicher Kraft(vgl Rosenau in Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl 2009, § 113 RdNr 23 mwN; Eser in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl 2010, § 113 RdNr 42).

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Ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor(vgl BSG Urteil vom 7.11.1979 - 9 RVg 1/78 - BSGE 49, 98, 100 = SozR 3800 § 1 Nr 1; BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 236 = SozR 3800 § 1 Nr 4; BSG Urteil vom 23.10.1985 - 9a RVg 5/84 - BSGE 59, 46, 47 = SozR 3800 § 1 Nr 6; sowie Begründung des Regierungsentwurfs zum OEG, BT-Drucks 7/2506 S 10, 13 f), setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus; der Senat ist einem an Aggression orientiertem Begriffsverständnis des tätlichen Angriffs trotz dessen inhaltlicher Nähe zur Gewalttätigkeit iS des § 125 StGB(vgl Eser in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl 2010, § 113 RdNr 46; zu § 125 StGB vgl BGH Urteil vom 8.8.1969 - 2 StR 171/69 - BGHSt 23, 46, 52 f) letztlich nicht gefolgt (stRspr seit 1995; vgl BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 7 = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 bzw BSGE 77, 11 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7; Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 5/95 - BSGE 77, 18 = SozR 3-3800 § 2 Nr 3; so schon Bayerisches LSG Urteil vom 16.3.1990 - L 10 Vg 1/89 - Breith 1991, 414, 415 f; offen gelassen noch von BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 236 = SozR 3800 § 1 Nr 4; vgl auch BSG Urteil vom 23.10.1985 - 9a RVg 5/84 - BSGE 59, 46 = SozR 3800 § 1 Nr 6; vgl zum extensiven Versorgungsschutz auch Geschwinder, SGb 1985, 95, 96; Schlamelcher, SGb 1984, 593, 595; aA Schoreit/Düsseldorf, OEG, 1. Aufl 1977, § 1 RdNr 41; Wachholz, br 1991, 84, 87). Dahinter steht der Gedanke, dass auch nicht zum (körperlichen) Widerstand fähige Opfer von Straftaten den Schutz des OEG genießen sollen.

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Für die Annahme eines tätlichen Angriffs ist nicht maßgeblich, ob der vom Täter ggf beabsichtigte Verletzungserfolg eingetreten ist (vgl BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 236 = SozR 3800 § 1 Nr 4 S 9 mwN; zur strafrechtlichen Auslegung des tätlichen Angriffs bereits Reichsgericht Urteil vom 18.6.1925 - III 213/25 - RGSt 59, 264, 265). Auch über das Versuchsstadium einer Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Opfers hinaus, kann eine Handlung des Täters als tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG angesehen werden(vgl zu § 113 Abs 1 StGB etwa Bundesgerichtshof Urteil vom 6.5.1982 - 4 StR 127/82 - NJW 1982, 2081). Eine gewaltsame Einwirkung auf den Körper eines anderen kann auch schon bei einem physisch vermittelten Zwang vorliegen, ohne dass es zu einer körperlichen Berührung zwischen Täter und Opfer kommen muss (vgl etwa BSG Urteil vom 24.9.1992 - 9a RVg 5/91 - USK 9237 ; BSG Urteil vom 12.12.1995 - 9 RVg 1/94 - SozR 3-3800 § 10a Nr 1 S 2). Ungeachtet eines verwirklichten Verletzungserfolgs besteht in diesen Fällen wegen der Angriffshandlung bereits eine objektive Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit der anderen Person; damit geht regelmäßig die reale Gefahr eines Körperschadens einher (vgl etwa BSG Urteil vom 28.5.1997 - 9 RVg 1/95 - USK 9714; BSG Urteil vom 3.2.1999 - B 9 VG 7/97 R - SozR 3-3800 § 1 Nr 14 S 59; vgl auch zum Angriff iS des § 31 Abs 4 Satz 1 Beamtenversorgungsgesetz, Bundesverwaltungsgericht Urteil vom 29.10.2009 - 2 C 134/07 - BVerwGE 135, 176 RdNr 17 f). Ob in diesen Fällen die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG überschritten ist, beurteilt der Senat aus der objektiven Sicht eines vernünftigen Dritten und orientiert sich dabei an folgenden Grundsätzen:

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aaa) Je gewalttätiger die Angriffshandlung gegen eine Person nach ihrem äußeren Erscheinungsbild bzw je größer der Einsatz körperlicher Gewalt oder physischer Mittel ist, desto geringere Anforderungen sind zur Bejahung eines tätlichen Angriffs in objektiver Hinsicht zu stellen. Je geringer sich die Kraftanwendung durch den Täter bei der Begehung des Angriffs darstellt, desto genauer muss geprüft werden, inwiefern durch die Handlung - unter Berücksichtigung eines möglichen Geschehensablaufs - eine Gefahr für Leib oder Leben des Opfers bestand. Die Grenze zwischen einem sozialadäquaten Verhalten und einem tätlichen Angriff ist grundsätzlich so zu bestimmen, dass auch das bereits objektiv hochgefährdete Opfer bei Abwehr-, Ausweich- oder Fluchtreaktionen den Schutz des OEG genießt; sie ist jedenfalls dann überschritten, wenn die Abwehr eines solchen Angriffs unter dem Gesichtspunkt der Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt wäre(BSG Urteil vom 24.7.2002 - B 9 VG 4/01 R - BSGE 90, 6 = SozR 3-3800 § 1 Nr 22 S 103 f zur Drohung mit Gewalt). Die Angriffshandlung (bzw der Einsatz körperlicher Mittel) muss für sich genommen nicht gravierend sein, um - unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls - eine hinreichende Gefährdung von Leib oder Leben des Opfers und damit einen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG anzunehmen.

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Der Senat hat insoweit in einem Fall der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) allein das Wegversperren und das Zurückstoßen und -drängen des Opfers zur Durchsetzung des Verbots, die Wohnung zu verlassen, ausreichen lassen, um das Vorliegen eines tätlichen Angriffs zu bejahen. Aus einem solchen Verhalten des Täters kann der Schluss auf eine drohende verstärkte Gewaltanwendung bei einem ggf beabsichtigten Widerstand des Opfers gezogen werden (vgl BSG Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 10 RdNr 14) und damit auf eine objektiv hohe Gefährdungslage für das Opfer. Entsprechendes gilt für das absichtliche Versperren eines Fahrradweges, das im Falle der Kollision mit einer erheblichen Verletzungsgefahr für das Opfer verbunden ist (vgl BSG Urteil vom 12.12.1995 - 9 RVg 1/94 - SozR 3-3800 § 10a Nr 1 S 2), sowie für das Zünden von Feuerwerkskörpern in unmittelbarer Nähe einer anderen Person (vgl hierzu BSG Urteil vom 3.2.1999 - B 9 VG 7/97 R - SozR 3-3800 § 1 Nr 14 S 57; BSG Urteil vom 28.5.1997 - 9 RVg 1/95 - USK 9714; vgl auch BSG Urteil vom 24.4.1991 - 9a/9 RVg 1/89 - SozR 3-3800 § 1 Nr 1 S 3 f).

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bbb) Für die - insbesondere bei dem Phänomen des "Stalkings" relevanten - Fälle der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, bei denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, hat das BSG noch nicht abschließend geklärt, unter welchen Voraussetzungen solche Handlungen für sich allein bereits als tätlicher Angriff zu werten sind (vgl BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 237 = SozR 3800 § 1 Nr 4 S 9). Auch dabei ist jedenfalls auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib oder Leben des Opfers abzustellen.

42

Das BSG hat es insoweit genügen lassen, dass eine erhebliche Drohung gegenüber dem Opfer mit einer unmittelbaren Gewaltanwendung gegen eine Sache einherging, die als einziges Hindernis dem unmittelbaren körperlichen Zugriff auf das Opfer durch die Täter im Wege stand, sodass der Sachverhalt nicht allein auf Drohungen beschränkt war (BSG Urteil vom 10.9.1997 - 9 RVg 1/96 - BSGE 81, 42, 44 = SozR 3-3800 § 1 Nr 11). Es hat auch die Würdigung eines Sachverhalts, bei dem ein einschlägig vorbestrafter Täter mit dem Ausruf "Jetzt hab´ ich Euch, Ihr Schweine" auf offener Straße auf das Opfer zugestürzt ist, als tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG nicht beanstandet (BSG Beschluss vom 29.9.1993 - 9 BVg 3/93 - juris RdNr 1, 5). Als tätlichen Angriff hat es das BSG zudem angesehen, wenn der Täter das Opfer vorsätzlich mit einer scharf geladenen und entsicherten Schusswaffe bedroht hat, auch wenn ein Tötungs- oder Verletzungsvorsatz noch gefehlt hat (BSG Urteil vom 24.7.2002 - B 9 VG 4/01 R - BSGE 90, 6 = SozR 3-3800 § 1 Nr 22 S 103 f), nicht aber die bloß verbale Drohung zu schießen, wenn der Täter keine Schusswaffe bei sich führt (vgl BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - juris RdNr 20). Im Zusammenhang mit einer Aussetzung (§ 221 Abs 1 StGB) durch aktives Tun hat das BSG die bloße Aufforderung gegenüber einem 83 Jahre alten Gehbehinderten, den Wagen zu verlassen, als Ausübung von körperlichem Zwang und damit als tätlichen Angriff angesehen, weil diese erzwungene Ortsveränderung das letzte Glied in einer Kette von Gewalttaten des fortgesetzt aggressiv handelnden Täters war (BSG Urteil vom 24.9.1992 - 9a RVg 5/91 - USK 9237).

43

Bei der Würdigung des Tatgeschehens sind insoweit alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, die auf eine objektiv hohe Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Integrität des Opfers schließen lassen. Angesichts der Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte wird eine feste Grenzziehung zwischen bloßer Drohung mit Gewalt und ihrer Anwendung kaum möglich sein. Ein tätlicher Angriff wird indes umso eher zu bejahen sein, je größer die objektive Gefahr für Leib oder Leben des Bedrohten war (BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - juris RdNr 16), je mehr also eine schädigende Gewaltanwendung unmittelbar bevorsteht.

44

ccc) Mit Rücksicht auf die grundlegende gesetzgeberische Entscheidung, dass durch die Verwendung des Begriffs des tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG der allgemeine Gewaltbegriff im strafrechtlichen Sinn begrenzt und grundsätzlich eine Kraftentfaltung gegen eine Person erforderlich sein soll(vgl BT-Drucks 7/2506 S 10), sieht der Senat die Grenze der Wortlautinterpretation jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (in diese Richtung bereits BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 279 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 73). So hat der Senat für den Fall einer mit List durchgeführten, strafbaren Kindesentziehung die erheblichen Gefahren, die damit wegen der völligen Ungewissheit über das Schicksal des Kindes für die psychische Gesundheit des betroffenen Elternteils verbunden sind, für sich allein nicht ausreichen lassen, um einen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG anzuerkennen, sondern darüber hinaus zumindest ein Fortwirken einer körperlichen Gewaltanwendung gegenüber dem Elternteil gefordert(BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 S 3).

45

Von den Kriterien eines tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG wird auch bei den Fällen des sog "Schockschadens"(vgl hierzu BSG Urteil vom 7.11.1979 - 9 RVg 1/78 - BSGE 49, 98 = SozR 3800 § 1 Nr 1) keine Ausnahme gemacht. Insoweit ist zwischen dem schädigenden Vorgang - der "unmittelbaren Einwirkung" auf den Körper des Primäropfers - und der geschädigten Person - der "unmittelbaren Schädigung" des Sekundäropfers - zu unterscheiden (vgl hierzu Trenk-Hinterberger in Festschrift 50 Jahre BSG, 2004, S 745, 751 ff).

46

Selbst in Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat nicht vollständig auf das Erfordernis körperlicher Handlungen verzichtet. Die besondere Schutzbedürftigkeit des Kindes, die Möglichkeit seiner "sekundären Viktimisierung" im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sowie die Gefahr schwerwiegender seelischer Krankheiten hat ihn allerdings - beschränkt auf diese Fallgestaltungen - zu einem erweiterten Verständnis des Begriffs des tätlichen Angriffs veranlasst. Danach ist für die "unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Kindes" entscheidend, dass die erfolgten sexuellen Handlungen strafbar sind, unabhängig davon, ob bei der Tatbegehung das gewaltsam handgreifliche oder das spielerische Moment im Vordergrund steht (BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 7 = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 bzw BSGE 77, 11 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7).

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Demnach ist nicht - wie im Schrifttum teilweise vertreten wird - darauf abzustellen, ob die Angriffshandlung "körperlich wirkt" bzw zu körperlichen Auswirkungen im Sinne eines pathologisch, somatisch, objektivierbaren Zustands führt (so Weiner in Kunz/Zellner/Gelhausen/Weiner, OEG, 5. Aufl 2010, § 1 RdNr 22 aE; Heinz, VersorgVerw 2007, 36, 37 f; ders, ZfS 2005, 266, 268; ders, ZfS 2000, 65, 69; Eppenstein in Opferentschädigungsgesetz - Intention und Praxis opfergerecht?, Mainzer Schriften zur Situation von Kriminalitätsopfern, 1995, S 92, 95) oder welches Individualrechtsgut (insbesondere körperliche Unversehrtheit, Leben) von der verletzten Strafrechtsnorm geschützt wird (vgl etwa Weiner, aaO, § 1 RdNr 16; Heinz, ZfS 2005, 266, 267 f).

48

           

Schließlich führt auch der Hinweis der Klägerin auf das Europäische Übereinkommen vom 24.11.1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Zustimmungsgesetz vom 17.7.1996, BGBl II 1120; Bekanntmachung vom 24.2.1997 über das Inkrafttreten des Übereinkommens in Deutschland am 1.3.1997, BGBl II 740) zu keiner anderen Beurteilung. Nach seinem Art 1 verpflichten sich die Vertragsparteien des Übereinkommens, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die in dessen Teil I enthaltenen Grundsätze zu verwirklichen. Art 2 Abs 1 Buchst a des Übereinkommens bestimmt:

Soweit eine Entschädigung nicht in vollem Umfang aus anderen Quellen erhältlich ist, trägt der Staat zur Entschädigung für Personen bei, die eine schwere Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung erlitten haben, die unmittelbar auf eine vorsätzliche Gewalttat zurückzuführen ist.

49

Eine Definition des Begriffs "vorsätzliche Gewalttat" enthält das Übereinkommen nicht (vgl Denkschrift zum Übereinkommen, BR-Drucks 508/95 S 14 = BT-Drucks 13/2477 S 14). Dementsprechend hat der bundesdeutsche Gesetzgeber durch das Tatbestandsmerkmal "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" in § 1 Abs 1 Satz 1 OEG in zulässiger Weise von einem durch das Übereinkommen belassenen Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht. Richtig ist allerdings, dass der Gesetzgeber den Zielen des Übereinkommens durchaus entsprechen würde, wenn er - über die von dem Begriff des tätlichen Angriffs erfassten Fallgestaltungen hinaus - Opfer psychischer Gewalt in den Schutzbereich des OEG einbeziehen würde. Immerhin heißt es in dem Erläuternden Bericht des Europarats zum Übereinkommen (European Convention on the Compensation of Victims of Violent Crimes, Explanatory Report, http://conventions.coe.int/treaty/EN/Reports/Html/116.htm ): Die Gewalt sei nicht notwendig, physische Gewalt; Entschädigung könne auch geschuldet werden in Fällen psychischer Gewalt, zB bei schwerwiegenden Drohungen (vgl dazu auch Denkschrift, BR-Drucks 508/95 S 14 = BT-Drucks 13/2477 S 14).

50

bb) Der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG zeichnet sich zudem dadurch aus, dass die Einwirkung "unmittelbar" auf den Körper der anderen Person zielen muss. Dieses Tatbestandsmerkmal ist von dem Erfordernis der Unmittelbarkeit der Gesundheitsschädigung - dem zweiten Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette - zu unterscheiden und begrenzt die Entschädigungspflicht des Staates auf konkrete Gefährdungen des Opfers durch zielgerichtete Angriffshandlungen. Da die Zielrichtung einer Handlung allein auf dem Willen des Täters beruht, sind Feststellungen zu diesem Merkmal in erster Linie von der inneren Tatseite, dem Vorsatz des Täters, abhängig; bleibt der Täter unbekannt, müssen wenigstens die äußeren Tatumstände überzeugende Hinweise auf den erforderlichen subjektiven Tatbestand geben (vgl BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 237 = SozR 3800 § 1 Nr 4 S 10; BSG Urteil vom 4.2.1998 - B 9 VG 5/96 R - BSGE 81, 288, 289 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 12).

51

Insoweit dient das Merkmal auch der Abgrenzung von abstrakten bzw allgemeinen Gefährdungslagen, wie sie unter bestimmten Voraussetzungen von § 1 Abs 2 Nr 2 OEG erfasst sind(sog "mittelbarer Angriff", vgl hierzu Loytved, NZS 2004, 516, 517; ders MedSach 2005, 148, 149); so hat der Senat bereits entschieden, dass das Entfernen des Deckels eines Abflusslochs (Gully) allein - ohne unmittelbare Ausrichtung auf andere Menschen - kein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG darstellt(BSG Urteil vom 10.12.2003 - B 9 VG 3/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 5). Demgegenüber hat der Senat bei der Bewertung einer Blockade des Fahrwegs einer Fahrradfahrerin maßgeblich auf den Vorsatz der Täter, den Weg durch aktives Verhalten zu versperren, und auf die damit einhergehende ernsthafte Verletzungsgefahr im Falle einer Kollision abgestellt (BSG Urteil vom 12.12.1995 - 9 RVg 1/94 - SozR 3-3800 § 10a Nr 1 S 2 f; mangels entsprechender Feststellungen offen gelassen durch BSG Urteil vom 10.12.2003 - B 9 VG 3/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 5 S 20 f).

52

cc) Der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG setzt über den natürlichen Vorsatz des Täters bezogen auf die Angriffshandlung(vgl hierzu etwa BSG Urteil vom 3.2.1999 - B 9 VG 7/97 - SozR 3-3800 § 1 Nr 14 S 56 f) hinaus an sich eine "feindselige Willensrichtung" voraus. Dieses - einem Angriff im Wortsinn immanente - Merkmal dient im Opferentschädigungsrecht vor allem zur Abgrenzung sozial adäquaten bzw gesellschaftlich noch tolerierten Verhaltens von einem auf Rechtsbruch gerichteten Handeln des Täters (so bereits BSG Urteil vom 23.10.1985 - 9a RVg 5/84 - BSGE 59, 46 = SozR 3800 § 1 Nr 6; ähnlich auch schon Bayerisches LSG Urteil vom 16.3.1990 - L 10 Vg 1/89 - Breith 1991, 414, 415). Lässt sich eine feindselige Willensrichtung im engeren Sinne nicht feststellen, kann alternativ darauf abgestellt werden, ob der Täter eine mit Gewaltanwendung (iS einer gewaltsamen Einwirkung auf eine andere Person durch Einsatz körperlicher Mittel) verbundene strafbare Vorsatztat (zumindest einen strafbaren Versuch) begangen hat (stRspr seit 1995, vgl BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 7 = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 bzw BSGE 77, 11 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7; Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 5/95 - BSGE 77, 18 = SozR 3-3800 § 2 Nr 3; Urteil vom 3.2.1999 - B 9 VG 7/97 R - SozR 3-3800 § 1 Nr 14 - juris RdNr 11, 13; jüngst BSG Urteil vom 8.11.2007 - B 9/9a VG 3/06 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 11 RdNr 14, 17). Anstelle einer feindseligen Absicht ist dann die Rechtsfeindlichkeit des Täters entscheidend, dokumentiert durch einen willentlichen Bruch der Rechtsordnung. Die einem Angriff innewohnende Feindseligkeit manifestiert sich insoweit durch die vorsätzliche Verwirklichung der Straftat (vgl Bischofs, SGb 2010, 693, 694).

53

So verwirklicht ein Täter, der subjektiv dem Opfer helfen will oder aus Liebe handelt, dann einen rechtswidrigen tätlichen Angriff, wenn er in strafbarer Weise dessen körperliche Integrität verletzt (BSG Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7). Dies gilt regelmäßig auch für Fälle, in denen sich der Angreifer möglicherweise nur einen groben oder gewalttätigen, aber die Grenze des sozial Üblichen überschreitenden Scherz erlauben wollte und gegenüber dem Opfer keine feindselige Einstellung gehabt hat (zum Zünden eines Feuerwerkskörpers vgl etwa BSG Urteil vom 3.2.1999 - B 9 VG 7/97 R - SozR 3-3800 § 1 Nr 14 S 57; BSG Urteil vom 28.5.1997 - 9 RVg 1/95 - USK 9714; vgl auch BSG Urteil vom 24.4.1991 - 9a/9 RVg 1/89 - SozR 3-3800 § 1 Nr 1 S 3 f). Diese Rechtsprechung hat jüngst eine Einschränkung für die besondere Fallkonstellation des ärztlichen Eingriffs erfahren. Selbst wenn ein solcher Eingriff strafrechtlich als vorsätzliche Körperverletzung anzusehen ist, müssen bestimmte weitere Voraussetzungen hinzutreten, um die Grenze zu einem vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG zu überschreiten(vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 42-44).

54

b) Der schädigende Vorgang iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG - das erste Glied der entschädigungsrechtlichen Ursachenkette - ist zeitlich nicht auf die Dauer des tätlichen Angriffs selbst oder die Vollendung der mit der Gewaltanwendung verbundenen Straftat begrenzt, vielmehr dauert er so lange an, wie das daraus folgende Geschehen noch wesentlich durch die Gewaltanwendung geprägt ist, also bis zu dem Zeitpunkt, in dem das Opfer in Sicherheit ist bzw die Hilfe Dritter erhält(vgl BSG Urteil vom 12.6.2003 - B 9 VG 8/01 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 2; BSG Urteil vom 24.9.1992 - 9a RVg 5/91 - USK 9237 ). Die strafrechtliche Einordnung als Erfolgs- oder Dauerdelikt ist für die Bewertung des entschädigungsrechtlichen Kerns des Geschehens ohne Belang (vgl BSG Urteil vom 24.9.1992 - 9a RVg 5/91 - USK 9237 ; BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 S 3; BSG Urteil vom 12.6.2003 - B 9 VG 8/01 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 2; BSG Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 10 RdNr 15).

55

Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG kann als wesentliche Ursache für Gesundheitsschäden, die während des Tatgeschehens eintreten, auch dann angesehen werden, wenn das Opfer eine eigene Ursache für den weiteren Geschehensablauf (zB Flucht, Ausweichen, Notwehr) setzt. In diesen Fällen ist - anders als im Strafverfahren - nicht darauf abzustellen, ob die Tatumstände "objektiv geeignet" waren, das Verhalten des Opfers zu erklären, sondern auf dessen subjektive Sicht (vgl BSG Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 10 RdNr 16-17; ähnlich auch zur Mitverursachung der Schädigung iS des § 2 Abs 1 Satz 1 OEG BSG Urteil vom 18.6.1996 - 9 RVg 7/94 - BSGE 78, 270 = SozR 3-3800 § 2 Nr 4). Insoweit rechnen zu den Folgen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs grundsätzlich auch die Verletzungsfolgen, die während einer Flucht entstanden sind (vgl auch BSG Urteil vom 10.9.1997 - 9 RVg 1/96 - BSGE 81, 42 = SozR 3-3800 § 1 Nr 11; BSG Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 10, RdNr 15; vgl auch Loytved, NZS 2004, 516, 517; ders, MedSach 2005, 148, 149).

56

2. Nach diesen Grundsätzen ergibt sich für die opferentschädigungsrechtliche Bewertung von Stalking-Handlungen als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG für den Zeitraum bis zum Inkrafttreten des § 238 StGB am 31.3.2007 und damit auch für den hier streitgegenständlichen Zeitraum (im Wesentlichen von Oktober 2001 bis Dezember 2003) Folgendes:

57

a) Das Phänomen Stalking hat in jüngster Zeit zunehmend an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen und zu besonderen Entwicklungen im Zivil- und Strafrecht geführt. Die unter dem englischen Begriff "Stalking" diskutierten Verhaltensweisen zeichnen sich dadurch aus, dass einer anderen Person fortwährend nachgestellt, aufgelauert oder auf andere Weise mit hoher Intensität Kontakt zu ihr gesucht bzw in ihren individuellen Lebensbereich eingegriffen wird (so der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 8.2.2006, BT-Drucks 16/575 S 1). Eine einheitliche Begriffsbestimmung ist wegen der äußerst facettenreichen Fallgestaltungen schwierig (vgl etwa Bieszk/Sadtler, NJW 2007, 3382, 3384). Allgemein handelt es sich um ein Verhalten der fortgesetzten Verfolgung, Belästigung und Bedrohung einer anderen Person gegen deren Willen (so die Gesetzentwürfe des Bundesrates vom 27.4.2005 und 23.3.2006, BT-Drucks 15/5410 S 1 und BT-Drucks 16/1030 S 1). Dabei sind die einzelnen Handlungen des Täters sehr vielgestaltig. Sie reichen von häufigen, vielfach wiederholten Telefonanrufen zu jeder Tages- und Nachtzeit, dem Übersenden von E-Mails, SMS oder Briefen, der Übermittlung von Geschenken, dem Auflauern vor der Wohnung oder am Arbeitsplatz und Drohungen bis hin zu Zudringlichkeiten und tätlichen Angriffen. Durch ihre Häufigkeit und Kontinuität führen auch Einzelhandlungen, die jeweils für sich genommen als sozialadäquat angesehen werden könnten, zu unzumutbaren Beeinträchtigungen und einer erzwungenen Veränderung der Lebensumstände des Opfers (so der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 8.2.2006, BT-Drucks 16/575 S 1).

58

           

In der mit Wirkung vom 31.3.2007 Gesetz gewordenen Fassung des § 238 Abs 1 StGB lautet der Tatbestand der Nachstellung:

Wer einem Menschen unbefugt nachstellt, indem er beharrlich

1.    

seine räumliche Nähe aufsucht,

2.    

unter Verwendung von Telekommunikationsmitteln oder sonstigen Mitteln der Kommunikation oder über Dritte Kontakt zu ihm herzustellen versucht,

3.    

unter missbräuchlicher Verwendung von dessen personenbezogenen Daten Bestellungen von Waren oder Dienstleistungen für ihn aufgibt oder Dritte veranlasst, mit diesem Kontakt aufzunehmen,

4.    

ihn mit der Verletzung von Leben, körperlicher Unversehrtheit, Gesundheit oder Freiheit seiner selbst oder einer ihm nahe stehenden Person bedroht oder

5.    

eine andere vergleichbare Handlung vornimmt

und dadurch seine Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

59

Durch § 238 StGB sollen nach dem Willen des Gesetzgebers beharrliche Nachstellungen, die einschneidend in das Leben des Opfers eingreifen, über die bereits bestehenden und in Betracht kommenden Straftatbestände - wie etwa der Nötigung(§ 240 StGB), Bedrohung (§ 241 StGB), Beleidigung (§ 185 StGB) oder des Zuwiderhandelns gegen eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz (§ 4 GewSchG) - hinaus mittels eines weiteren Straftatbestandes verfolgt werden können, um auf diese Weise einen besseren Opferschutz zu erreichen und Strafbarkeitslücken zu schließen (BT-Drucks 16/575 S 1). Der neue Straftatbestand dient damit dem Schutz der eigenen Lebensführung vor gezielten, hartnäckigen und schwerwiegenden Belästigungen der Lebensgestaltung (vgl BGH Beschluss vom 19.11.2009 - 3 StR 244/09 - BGHSt 54, 189 - juris RdNr 14 mwN).

60

Nach der Rechtsprechung des BGH (aaO) ist Tathandlung des § 238 Abs 1 StGB das unbefugte Nachstellen durch beharrliche unmittelbare und mittelbare Annäherungshandlungen an das Opfer und näher bestimmte Drohungen iS des § 238 Abs 1 Nr 1 bis 5 StGB. Das Merkmal der "Beharrlichkeit" soll ua die Deliktstypik des "Stalkings" zum Ausdruck bringen und einzelne, für sich genommen vom Gesetzgeber als sozialadäquat angesehene Handlungen (BT-Drucks 16/575 S 7) von unerwünschtem "Stalking" abgrenzen; ihm wohnen sowohl objektive Momente der Zeit sowie subjektive und normative Elemente der Uneinsichtigkeit und Rechtsfeindlichkeit inne, die in der Tatbegehung durch besondere Hartnäckigkeit und eine gesteigerte Gleichgültigkeit des Täters gegenüber dem gesetzlichen Verbot zum Ausdruck kommt. Die Beharrlichkeit ergibt sich aus einer Gesamtwürdigung der verschiedenen Handlungen, bei der insbesondere auch der zeitliche Abstand zwischen den Angriffen und deren innerer Zusammenhang von Bedeutung sind (BGH, aaO, mwN).

61

b) Solange der Gesetzgeber den Tatbestand des § 238 StGB nicht gesondert in den Schutzbereich des § 1 OEG einbezogen hat, sind die erfolgten Stalking-Handlungen daraufhin zu prüfen, ob jeweils nach den insoweit maßgeblichen Kriterien ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG vorliegt. Ein sich - wie hier - über Jahre erstreckendes Stalking, das aus einer Vielzahl einzelner, für sich abgeschlossener Sachverhalte besteht, kann entgegen der Auffassung des LSG nicht als ein einheitlicher schädigender Vorgang gewertet werden. Denn ein solcher umfasst nur den konkreten tätlichen Angriff und das diesem unmittelbar folgende gewaltgeprägte Geschehen.

62

Soweit sich eine feindselige Willensrichtung des Täters nicht feststellen lässt, kommt es auch beim Stalking auf das Vorliegen einer mit Gewaltanwendung verbundenen vorsätzlichen Straftat an. Der Senat hat bereits zum Phänomen des sog Mobbings entschieden, dass sich diese Vorgänge des Arbeitslebens, die den Rahmen des zwar gesellschaftlich Missbilligten, aber nicht Strafbaren nicht verlassen und die Schwelle zum kriminellen Unrecht nicht überschreiten, nicht als tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG angesehen werden können(BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18). Denn bei der Anwendung des OEG ist von dessen Grundgedanken auszugehen, dass nur Opfer von Gewalttaten entschädigt werden sollen (vgl BT-Drucks 7/2506 S 7). Das OEG deckt mithin nicht alle - sonstigen - aus dem Gesellschaftsleben folgenden Verletzungsrisiken ab, die einem anderen als dem Geschädigten zuzurechnen sind (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18). Ebenso wenig reicht das Verwirklichen eines Straftatbestandes aus, wenn es (wie zB bei Vermögensdelikten) ohne körperliche Einwirkungen auf das Opfer geschieht. Dies gilt grundsätzlich auch für Stalking-Handlungen, die jedoch nach heute geltendem Recht wegen des Tatbestands der Nachstellung gemäß § 238 StGB eine besondere strafrechtliche Relevanz aufweisen können. Allerdings kann für den Zeitraum vor Inkrafttreten dieser Norm zum 31.3.2007 zur opferentschädigungsrechtlichen Beurteilung, ob ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG in Gestalt einer strafbaren Vorsatztat vorliegt, nicht auf diesen Straftatbestand zurückgegriffen werden(aa). Maßgeblich ist das zum Tatzeitpunkt geltende Recht (bb).

63

aa) Entgegen der Auffassung des LSG kann hier das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG - abgesehen von dem zusätzlichen Erfordernis einer Tätlichkeit - nicht mit der Begründung bejaht werden, es sei der ab dem 31.3.2007 geltende Tatbestand der Nachstellung iS des § 238 StGB erfüllt.

64

Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats dient das Merkmal der Rechtsfeindlichkeit, wie sie sich durch das Begehen einer vorsätzlichen Straftat zeigt, einer normativen Grenzziehung gegenüber Verhaltensweisen, die den Rahmen des gesellschaftlichen Lebens nicht überschreiten. Diese Abgrenzung erfordert nach Auffassung des Senats ein Abstellen auf die zum Zeitpunkt der Tat jeweils geltende Rechtslage. Ungeachtet des im Strafrecht geltenden absoluten Rückwirkungsverbots nach Art 103 Abs 2 GG drohen im Opferentschädigungsrecht anderenfalls Billigkeitserwägungen. Es müsste nämlich der Unrechtsgehalt einer erst im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung strafbaren Handlung auf Zeiträume erstreckt werden, in denen das entsprechende Täterverhalten nicht strafbar gewesen ist. Die für die Bewertung des Täterverhaltens maßgebende normative Grenze würde dadurch klare Konturen verlieren.

65

Zum einen ist die Frage, auf welche Handlungen der Staat seinen Strafanspruch erstrecken will, dem Wandel gesellschaftlicher Phänomene und Anschauungen unterworfen (vgl hierzu auch Pollähne, NK 2002, 56, 58). Dies zeigt sich gerade auch in der Aufnahme des Tatbestands der Nachstellung in das StGB, die auf die zunehmende Bedeutung des Phänomens des Stalking und den als unzureichend angesehenen Schutz der betroffenen Personen zurückzuführen ist (vgl BT-Drucks 16/575 S 1; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks 16/3641 S 1). Ein anderes Beispiel ist der erst seit 1.4.1998 strafbare Versuch einer Körperverletzung nach § 223 Abs 2 StGB(Gesetz vom 26.1.1998, BGBl I 164). Zum anderen kann von einer Feindlichkeit des Täters gegen das Strafgesetz nur bei einem - willentlichen - Bruch der zum Zeitpunkt der Tat geltenden Rechtsordnung gesprochen werden. Auf den von der Beklagten angesprochenen Gesichtspunkt eines Schutzes des Täters vor Regressforderungen des Staates nach § 5 OEG iVm § 81a BVG kommt es insofern nicht entscheidend an.

66

bb) Ist danach stets auf die zum Tatzeitpunkt geltende Rechtslage abzustellen, kommen im vorliegenden Fall, der insbesondere Stalkinghandlungen in der Zeit von Oktober 2001 bis Dezember 2003 (jedenfalls vor Inkrafttreten des § 238 StGB) betrifft, opferentschädigungsrechtlich als Straftatbestände insbesondere die Körperverletzung(§§ 223, 229 StGB), die Nötigung (§ 240 StGB), die sexuelle Nötigung (§ 177 StGB), die Bedrohung (§ 241 StGB) und die Beleidigung (§ 185 StGB) in Betracht (vgl BT-Drucks 16/575 S 6).

67

Zudem ist nach Auffassung des Senats für den Zeitraum ab 1.1.2002 eine Strafbarkeit des maßgeblichen Verhaltens nach § 4 GewSchG ausreichend, um - bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen - einen Entschädigungsanspruch nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG begründen zu können. Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe ist nach § 4 GewSchG ein Verstoß gegen eine vollstreckbare Anordnung nach § 1 GewSchG strafbar, die tatbestandlich eine vorangegangene vorsätzliche und rechtswidrige Verletzung des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit einer anderen Person voraussetzt(§ 1 Abs 1 Satz 1 GewSchG). Zum Schutz der betroffenen Person kann das Gericht gemäß § 1 Abs 1 Satz 3 GewSchG insbesondere anordnen, dass der Täter es unterlässt, die Wohnung der verletzten Person zu betreten(Nr 1), sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung der verletzten Person aufzuhalten (Nr 2), zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich die verletzte Person regelmäßig aufhält (Nr 3), Verbindung zur verletzten Person, auch unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln, aufzunehmen (Nr 4), Zusammentreffen mit der verletzten Person herbeizuführen (Nr 5), soweit dies nicht zur Wahrnehmung berechtigter Interessen erforderlich ist. Entsprechende Anordnungen können bei einer widerrechtlichen Drohung mit einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit einer anderen Person (§ 1 Abs 2 Satz 1 Nr 1 GewSchG)und bei einem widerrechtlichen Eindringen in die Wohnung einer anderen Person (§ 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 Buchst a GewSchG) ergehen, sowie gegenüber demjenigen, der eine andere Person dadurch unzumutbar belästigt, dass er ihr gegen den ausdrücklich erklärten Willen wiederholt nachstellt oder sie unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln verfolgt (§ 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 Buchst a GewSchG).

68

Der Gesetzgeber hat insoweit den Schwerpunkt der rechtlichen Maßnahmen gegen häusliche Gewalt und "unzumutbare Belästigungen" (also "Stalking") zunächst nur auf zivilrechtlicher Ebene gesetzt und die Strafbarkeit des Verhaltens durch eine Kriminalisierung des Ungehorsams gegenüber vollstreckbaren gerichtlichen Anordnungen eröffnet (Pollähne, NK 2002, 56, 58). Wenngleich hierbei vorrangiges Ziel des Gesetzgebers war, die verfahrensrechtliche Geltendmachung von zivilrechtlichen Unterlassungsansprüchen zu erleichtern, die Effizienz der Vollstreckung zivilgerichtlicher Entscheidungen zu verbessern und bei dem Verstoß gegen eine gerichtliche Schutzanordnung ein Eingreifen der Polizei zu ermöglichen (so der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 5.3.2001, BT-Drucks 14/5429 S 1, 10; Grziwotz, NJW 2002, 872, 873 f; vgl auch Rupp, Rechtstatsächliche Untersuchung zum Gewaltschutzgesetz, Berlin 2005, S 89 ff), ist die Einbeziehung solcher strafbaren Vorsatztaten in die opferentschädigungsrechtliche Bewertung nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG nicht nur wegen der sachlichen Nähe zur sog Gewaltkriminalität gerechtfertigt, sondern auch wegen der mit einem Zuwiderhandeln gegen eine entsprechende Schutzanordnung des Gerichts eindeutig hervortretenden Rechtsfeindlichkeit des Täters, des willentlichen Bruchs der Rechtsordnung.

69

Soweit der Täter durch sein Verhalten gegen eine vollstreckbare Anordnung nach § 1 GewSchG verstößt und sich dadurch nach § 4 GewSchG strafbar macht, ist die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen die durch die Anordnung geschützte Person begangen wird und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird. Insoweit gelten ähnliche Grundsätze wie bei der opferentschädigungsrechtlichen Bewertung der Freiheitsberaubung nach § 239 StGB(vgl BSG Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 10 RdNr 13; BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - juris RdNr 15). Auch mit einem nach § 4 GewSchG strafbaren Verhalten muss eine körperliche Gewaltanwendung einhergehen, um einen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG bejahen zu können(offen gelassen für die Freiheitsberaubung, vgl BSG Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 10 RdNr 13; BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - juris RdNr 15). Aus einem Verstoß gegen eine Schutzanordnung nach § 1 GewSchG kann nämlich nicht ohne Weiteres auf eine objektive Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit oder des Lebens des Opfers durch eine Tätlichkeit geschlossen werden.

70

3. Gemessen an diesen Kriterien ist es dem erkennenden Senat anhand der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht möglich, abschließend zu beurteilen, inwiefern die einzelnen Stalkinghandlungen des H. vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe gegen die Klägerin iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG darstellen.

71

a) Eine Wertung als tätlicher Angriff scheidet allerdings von vornherein für alle Telefonate, SMS, Briefe, Karten, Geschenke und dergleichen sowie für das bloße Klingeln an der Haustür der Klägerin aus, wodurch H. die Klägerin allerdings in erheblicher Weise belästigt hat. Denn insoweit fehlt es an einer unmittelbar drohenden Gewaltanwendung auch soweit einzelne Mitteilungen ernste Drohungen enthielten. Entsprechend verhält es sich mit den von H. missbräuchlich veranlassten Notfalleinsätzen, Dienstleistungen oder Lieferungen zur Wohnung der Klägerin, zumal die beauftragten Personen - soweit ersichtlich - in keiner Weise gegenüber der Klägerin gewalttätig geworden sind.

72

b) Nach den festgestellten Gegebenheiten kann es nur bei persönlichen Begegnungen des H. mit der Klägerin zu einem tätlichen Angriff gekommen sein. Dabei ist es nach den Feststellungen des LSG wiederholt zu Drohungen und Belästigungen gekommen. Inwieweit eine Gewaltanwendung durch H. unmittelbar bevorstand, lässt sich den berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen weitestgehend nicht entnehmen, zumal es nach der Rechtsauffassung des LSG nicht darauf ankam.

73

Eine gewisse Sonderstellung nimmt das Geschehen am 18.7.2003 ein. Unter ständigem Einreden auf die Klägerin ist H. ihr an diesem Tag vom Hauseingang ihrer Wohnung gefolgt und mit ihr in demselben Bus gefahren, bis er sie vor dem Eingang eines Copy-Geschäfts am Arm festgehalten und zu sich umgerissen hat. Hierin könnte ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG zu sehen sein. Jedenfalls liegt es nahe, eine strafbare, unmittelbar auf den Körper der Klägerin zielende gewaltsame Einwirkung anzunehmen.

74

Die Handlung des H. ist nicht wegen eines Verstoßes gegen § 4 GewSchG strafbar, da sie zeitlich vor der Schutzanordnung des AG B. vom 19.8.2003 liegt. Vielmehr kommt eine Strafbarkeit als Nötigung gemäß § 240 Abs 1 StGB in Betracht, da H. die Klägerin gegen ihren klar erkennbaren Willen durch körperliche Gewalt am Fortgehen gehindert hat. Diese - an sich nicht gravierende - Gewaltanwendung dürfte unter normalen Umständen zwischenmenschlicher Auseinandersetzungen in aller Regel nicht verwerflich iS des § 240 Abs 2 StGB sein(vgl zur umstrittenen Anwendung und Auslegung der Verwerflichkeitsklausel jüngst BVerfG Kammerbeschluss vom 7.3.2011 - 1 BvR 388/05 - juris RdNr 38 ff). Dies gilt angesichts der vorangegangenen Drohungen und Belästigungen durch H. seit Oktober 2001 im vorliegenden Fall hingegen nicht. Fraglich könnte allerdings sein, ob unter Berücksichtigung der Umstände des Tatgeschehens aus der Sicht eines objektiven vernünftigen Dritten eine hinreichende Gefahr für Leib oder Leben der Klägerin anzunehmen ist. Diese Feststellung obliegt der tatrichterlichen Würdigung, die der Senat im Revisionsverfahren nicht vornehmen kann (vgl § 163 SGG).

75

Etwas anders verhält es sich mit den Vorgängen am 2. und 3.10.2003. An diesen Tagen hat H. auf die Klägerin vor ihrer Wohnungstür gewartet und ist ihr beim Verlassen des Hauses entgegengegangen, mit der Folge, dass die Klägerin in ihr Haus zurückgekehrt ist und sich zur Arbeit hat abholen lassen. Mit dieser Handlung hat H. in strafbarer Weise gegen die Schutzanordnung des AG B. vom 19.8.2003 verstoßen. Nach den bisher getroffenen Feststellungen des LSG ist darin jedoch noch keine körperliche Gewaltanwendung gegenüber der Klägerin und damit kein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG zu sehen. Allein die Annäherung des H. kann - ohne Hinzutreten weiterer Umstände (zB Drohungen, aggressives Verhalten etc) - nicht als eine unmittelbar auf den Körper zielende Einwirkung gewertet werden.

76

4. Da der erkennende Senat die danach noch fehlenden Tatsachenfeststellungen im Revisionsverfahren nicht nachholen kann, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

77

Soweit das LSG nach weiteren Ermittlungen hinsichtlich einzelner Begegnungen der Klägerin mit H. zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG oder sogar von mehreren derartigen Angriffen geworden ist, wird es nach der entschädigungsrechtlichen Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung die Frage eines wahrscheinlichen Ursachenzusammenhangs zwischen den betreffenden schädigenden Vorgängen und der bei der Klägerin bestehenden psychischen Krankheit zu prüfen haben. Hierbei ist in aller Regel die Hinzuziehung medizinischen Sachverstands erforderlich.

78

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds gehandelt hat.

(2) Einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich

1.
die vorsätzliche Beibringung von Gift,
2.
die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen.

(3) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind; Buchstabe e gilt auch für einen Unfall, den der Geschädigte bei der unverzüglichen Erstattung der Strafanzeige erleidet.

(4) Ausländerinnen und Ausländer haben dieselben Ansprüche wie Deutsche.

(5) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt.

(6) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die ein Berechtigter oder Leistungsempfänger nach Absatz 1 oder 5 in Verbindung mit § 10 Abs. 4 oder 5 des Bundesversorgungsgesetzes, eine Pflegeperson oder eine Begleitperson bei einer notwendigen Begleitung des Geschädigten durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes erleidet.

(7) Einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne des Absatzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz gleich.

(8) Wird ein tätlicher Angriff im Sinne des Absatzes 1 durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers verübt, werden Leistungen nach diesem Gesetz erbracht.

(9) § 1 Abs. 3, die §§ 64 bis 64d, 64f sowie 89 des Bundesversorgungsgesetzes sind mit der Maßgabe anzuwenden, daß an die Stelle der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde tritt, sofern ein Land Kostenträger ist (§ 4). Dabei sind die für deutsche Staatsangehörige geltenden Vorschriften auch für von diesem Gesetz erfaßte Ausländer anzuwenden.

(10) § 20 des Bundesversorgungsgesetzes ist mit den Maßgaben anzuwenden, daß an die Stelle der in Absatz 1 Satz 3 genannten Zahl die Zahl der rentenberechtigten Beschädigten und Hinterbliebenen nach diesem Gesetz im Vergleich zur Zahl des Vorjahres tritt, daß in Absatz 1 Satz 4 an die Stelle der dort genannten Ausgaben der Krankenkassen je Mitglied und Rentner einschließlich Familienangehörige die bundesweiten Ausgaben je Mitglied treten, daß Absatz 2 Satz 1 für die oberste Landesbehörde, die für die Kriegsopferversorgung zuständig ist, oder die von ihr bestimmte Stelle gilt und daß in Absatz 3 an die Stelle der in Satz 1 genannten Zahl die Zahl 1,3 tritt und die Sätze 2 bis 4 nicht gelten.

(11) Im Rahmen der Heilbehandlung sind auch heilpädagogische Behandlung, heilgymnastische und bewegungstherapeutische Übungen zu gewähren, wenn diese bei der Heilbehandlung notwendig sind.

(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer

1.
sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt,
2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt,
3.
ein Kind für eine Tat nach Nummer 1 oder Nummer 2 anbietet oder nachzuweisen verspricht.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 kann das Gericht von Strafe nach dieser Vorschrift absehen, wenn zwischen Täter und Kind die sexuelle Handlung einvernehmlich erfolgt und der Unterschied sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad gering ist, es sei denn, der Täter nutzt die fehlende Fähigkeit des Kindes zur sexuellen Selbstbestimmung aus.

(1) Wer eine Person unter achtzehn Jahren dadurch missbraucht, dass er unter Ausnutzung einer Zwangslage

1.
sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt oder
2.
diese dazu bestimmt, sexuelle Handlungen an einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ebenso wird eine Person über achtzehn Jahren bestraft, die eine Person unter achtzehn Jahren dadurch missbraucht, dass sie gegen Entgelt sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt.

(3) Eine Person über einundzwanzig Jahre, die eine Person unter sechzehn Jahren dadurch mißbraucht, daß sie

1.
sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen läßt oder
2.
diese dazu bestimmt, sexuelle Handlungen an einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen,
und dabei die ihr gegenüber fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(4) Der Versuch ist strafbar.

(5) In den Fällen des Absatzes 3 wird die Tat nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, daß die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält.

(6) In den Fällen der Absätze 1 bis 3 kann das Gericht von Strafe nach diesen Vorschriften absehen, wenn bei Berücksichtigung des Verhaltens der Person, gegen die sich die Tat richtet, das Unrecht der Tat gering ist.

(1) Wer sexuelle Handlungen

1.
an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist,
2.
an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm im Rahmen eines Ausbildungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist, unter Missbrauch einer mit dem Ausbildungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnis verbundenen Abhängigkeit oder
3.
an einer Person unter achtzehn Jahren, die sein leiblicher oder rechtlicher Abkömmling ist oder der seines Ehegatten, seines Lebenspartners oder einer Person, mit der er in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft lebt,
vornimmt oder an sich von dem Schutzbefohlenen vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Ebenso wird bestraft, wer unter den Voraussetzungen des Satzes 1 den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, dass er sexuelle Handlungen an oder vor einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt.

(2) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird eine Person bestraft, der in einer dazu bestimmten Einrichtung die Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung von Personen unter achtzehn Jahren anvertraut ist, und die sexuelle Handlungen

1.
an einer Person unter sechzehn Jahren, die zu dieser Einrichtung in einem Rechtsverhältnis steht, das ihrer Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung dient, vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt oder
2.
unter Ausnutzung ihrer Stellung an einer Person unter achtzehn Jahren, die zu dieser Einrichtung in einem Rechtsverhältnis steht, das ihrer Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung dient, vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt.
Ebenso wird bestraft, wer unter den Voraussetzungen des Satzes 1 den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, dass er sexuelle Handlungen an oder vor einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt.

(3) Wer unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 oder 2

1.
sexuelle Handlungen vor dem Schutzbefohlenen vornimmt, um sich oder den Schutzbefohlenen hierdurch sexuell zu erregen, oder
2.
den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, daß er sexuelle Handlungen vor ihm vornimmt,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(4) Der Versuch ist strafbar.

(5) In den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 1, des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 oder des Absatzes 3 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 oder mit Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 kann das Gericht von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn das Unrecht der Tat gering ist.

(1) Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wenn

1.
der Täter ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern,
2.
der Täter ausnutzt, dass die Person auf Grund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er hat sich der Zustimmung dieser Person versichert,
3.
der Täter ein Überraschungsmoment ausnutzt,
4.
der Täter eine Lage ausnutzt, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches Übel droht, oder
5.
der Täter die Person zur Vornahme oder Duldung der sexuellen Handlung durch Drohung mit einem empfindlichen Übel genötigt hat.

(3) Der Versuch ist strafbar.

(4) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn die Unfähigkeit, einen Willen zu bilden oder zu äußern, auf einer Krankheit oder Behinderung des Opfers beruht.

(5) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn der Täter

1.
gegenüber dem Opfer Gewalt anwendet,
2.
dem Opfer mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben droht oder
3.
eine Lage ausnutzt, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist.

(6) In besonders schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren zu erkennen. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn

1.
der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder vollziehen lässt oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung), oder
2.
die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird.

(7) Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter

1.
eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt,
2.
sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden, oder
3.
das Opfer in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bringt.

(8) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter

1.
bei der Tat eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet oder
2.
das Opfer
a)
bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder
b)
durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt.

(9) In minder schweren Fällen der Absätze 1 und 2 ist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu drei Jahren, in minder schweren Fällen der Absätze 4 und 5 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen der Absätze 7 und 8 ist auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.

(1) Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung.

(2) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die herbeigeführt worden sind durch

a)
eine unmittelbare Kriegseinwirkung,
b)
eine Kriegsgefangenschaft,
c)
eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit,
d)
eine mit militärischem oder militärähnlichem Dienst oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Straf- oder Zwangsmaßnahme, wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist,
e)
einen Unfall, den der Beschädigte auf einem Hin- oder Rückweg erleidet, der notwendig ist, um eine Maßnahme der Heilbehandlung, eine Badekur, Versehrtenleibesübungen als Gruppenbehandlung oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 26 durchzuführen oder um auf Verlangen eines zuständigen Leistungsträgers oder eines Gerichts wegen der Schädigung persönlich zu erscheinen,
f)
einen Unfall, den der Beschädigte bei der Durchführung einer der unter Buchstabe e aufgeführten Maßnahmen erleidet.

(3) Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, kann mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden; die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

(4) Eine vom Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung gilt nicht als Schädigung im Sinne dieses Gesetzes.

(5) Ist der Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben, so erhalten seine Hinterbliebenen auf Antrag Versorgung. Absatz 3 gilt entsprechend.

Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.

(1) Die Versorgung nach diesem Gesetz obliegt den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden. Ist der Bund Kostenträger, so sind zuständig

1.
wenn der Geschädigte seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem Land hat, die Behörden dieses Landes; es finden die Übergangsregelungen gemäß § 4 Absatz 2 und 3 beschränkt auf die Zuständigkeit der Behörde entsprechend Anwendung, davon ausgenommen sind Versorgungen bei Schädigungen an einem Ort im Ausland,
2.
wenn der Geschädigte seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes hat, die Behörden des Landes, das die Versorgung von Kriegsopfern in dem Wohnsitz- oder Aufenthaltsland durchführt.
Abweichend von Satz 2 Nummer 2 sind, wenn die Schädigung auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug eingetreten ist, die Behörden des Landes zuständig, in dem das Schiff in das Schiffsregister eingetragen ist oder in dem der Halter des Luftfahrzeugs seinen Sitz oder Wohnsitz hat.

(2) Die örtliche Zuständigkeit der Behörden bestimmt die Landesregierung durch Rechtsverordnung.

(3) Das Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung, mit Ausnahme der §§ 3 bis5,sowie die Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes über das Vorverfahren sind anzuwenden.

(4) Absatz 3 gilt nicht, soweit die Versorgung in der Gewährung von Leistungen besteht, die den Leistungen der Kriegsopferfürsorge nach den §§ 25 bis 27h des Bundesversorgungsgesetzes entsprechen.

Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.

(1) Die Versorgung nach diesem Gesetz obliegt den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden. Ist der Bund Kostenträger, so sind zuständig

1.
wenn der Geschädigte seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem Land hat, die Behörden dieses Landes; es finden die Übergangsregelungen gemäß § 4 Absatz 2 und 3 beschränkt auf die Zuständigkeit der Behörde entsprechend Anwendung, davon ausgenommen sind Versorgungen bei Schädigungen an einem Ort im Ausland,
2.
wenn der Geschädigte seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes hat, die Behörden des Landes, das die Versorgung von Kriegsopfern in dem Wohnsitz- oder Aufenthaltsland durchführt.
Abweichend von Satz 2 Nummer 2 sind, wenn die Schädigung auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug eingetreten ist, die Behörden des Landes zuständig, in dem das Schiff in das Schiffsregister eingetragen ist oder in dem der Halter des Luftfahrzeugs seinen Sitz oder Wohnsitz hat.

(2) Die örtliche Zuständigkeit der Behörden bestimmt die Landesregierung durch Rechtsverordnung.

(3) Das Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung, mit Ausnahme der §§ 3 bis5,sowie die Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes über das Vorverfahren sind anzuwenden.

(4) Absatz 3 gilt nicht, soweit die Versorgung in der Gewährung von Leistungen besteht, die den Leistungen der Kriegsopferfürsorge nach den §§ 25 bis 27h des Bundesversorgungsgesetzes entsprechen.

Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.

(1) Soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, sind auf die Beweisaufnahme die §§ 358 bis 363, 365 bis 378, 380 bis 386, 387 Abs. 1 und 2, §§ 388 bis 390, 392 bis 406 Absatz 1 bis 4, die §§ 407 bis 444, 478 bis 484 der Zivilprozeßordnung entsprechend anzuwenden. Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Weigerung nach § 387 der Zivilprozeßordnung ergeht durch Beschluß.

(2) Zeugen und Sachverständige werden nur beeidigt, wenn das Gericht dies im Hinblick auf die Bedeutung des Zeugnisses oder Gutachtens für die Entscheidung des Rechtsstreits für notwendig erachtet.

(3) Der Vorsitzende kann das Auftreten eines Prozeßbevollmächtigten untersagen, solange die Partei trotz Anordnung ihres persönlichen Erscheinens unbegründet ausgeblieben ist und hierdurch der Zweck der Anordnung vereitelt wird.

(1) Eine Partei, die den ihr obliegenden Beweis mit anderen Beweismitteln nicht vollständig geführt oder andere Beweismittel nicht vorgebracht hat, kann den Beweis dadurch antreten, dass sie beantragt, den Gegner über die zu beweisenden Tatsachen zu vernehmen.

(2) Der Antrag ist nicht zu berücksichtigen, wenn er Tatsachen betrifft, deren Gegenteil das Gericht für erwiesen erachtet.

Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten.

Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.

Tenor

Auf die Berufung des beklagten Landes wird das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 17. Oktober 2001 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind für das gesamte Verfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung von Gesundheitsstörungen und von Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz.

2

Die 1972 geborene Klägerin beantragte am 16. August 1999 bei dem beklagten Land die Gewährung von Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Sie gab an, im Alter von zwei Jahren Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater geworden zu sein. Bei einem Aufenthalt in einer Gastfamilie in Australien in den Jahren 1989/1990 sei es außerdem zu einem versuchten sexuellen Übergriff durch den Gastvater gekommen. Sie leide an einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung auf dem Boden frühkindlicher Traumatisierung, und sie sei seit Ende des Jahres 1974 an Diabetes mellitus Typ I erkrankt. Weiterhin bestehe eine Bulimieerkrankung. Eine erste vage Erinnerung an den sexuellen Missbrauch sei in Form eines sog. Flash-Back im Jahre 1994 aufgetreten. 1997 habe sie sich entschlossen, sich komplett und unwiderruflich von ihrer Familie zu lösen. Sie habe einen neuen Vor- wie auch Familiennamen angenommen. Ferner nahm die Klägerin Bezug auf einen Lebenslauf (Bl. 8 - 14 Verwaltungsakte) sowie eine Bescheinigung des St. V.-Stifts vom 26. März 1997. Das beklagte Land holte eine nach Aktenlage erstellte Stellungnahme des beratenden Nervenarztes Dr. S. vom 6. Oktober 1999 ein, der mitteilte, er tendiere als Arzt zu der Einschätzung, dass an eine „false memory" zu denken sei. Im Streitfall müssten ein eingehendes psychiatrisches Gutachten und eine ausführliche Exploration und psychologische Testung durch einen anerkannten Fachmann erstellt werden. Daraufhin fragte das beklagte Land bei der Klägerin an, ob sie mit einer eingehenden Befragung aller Personen, die 1974 gemeinsam mit ihr in einem Haushalt gewohnt haben, einverstanden sei. Insbesondere müsse der Beschuldigte eingehend zu den Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs angehört werden. Die Klägerin teilte dazu mit, dass sie einer Befragung der Familie nicht zustimme; eine Aufklärung des Sachverhalts sei dadurch ohnehin nicht zu erwarten. Sie sei aber bereit, sich im Rahmen einer Begutachtung einer Untersuchung zu unterziehen.

3

Mit Bescheid vom 25. Januar 2000 lehnte das beklagte Land den Antrag der Klägerin ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Für den im vorliegenden Lebenslauf der Klägerin angegebenen versuchten sexuellen Übergriff durch den Gastvater in Melbourne/Australien könne Versorgung nach dem OEG nicht gewährt werden, weil das Ereignis nicht im Geltungsbereich des OEG geschehen sei. Der sexuelle Übergriff durch den Vater der Klägerin sei nicht erwiesen. Eine Anhörung der Eltern zu der Beschuldigung sei auf Grund der Erklärung der Klägerin nicht möglich. Mit der von der Klägerin angeregten fachpsychiatrischen Begutachtung könne der Nachweis, dass es sich bei einem eventuellen Trauma um einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 OEG handele, nicht geführt werden. Auch § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) könne der Klägerin nicht zugute kommen, weil sie keine konkreten Angaben zu dem schädigenden Ereignis gemacht habe und dies auch nicht könne. Das Ereignis habe sich etwa im zweiten Lebensjahr abgespielt und falle deshalb in die Zeit der sog. frühkindlichen Amnesie. Nach dem im sozialen Entschädigungsrecht geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast habe die Antragstellerin die Folgen der Beweislosigkeit des schädigenden Ereignisses zu tragen.

4

Zur Begründung des dagegen am 28. Februar 2000 eingelegten Widerspruchs rügte die Klägerin im Wesentlichen eine nicht ordnungsgemäße Aufklärung des Sachverhalts durch das beklagte Land. Obwohl sie die behandelnden Ärzte und Therapeuten detailliert angegeben und von der Schweigepflicht entbunden habe, habe das beklagte Land keine weiteren Ermittlungen durchgeführt und insbesondere keine Untersuchung durch einen Gutachter veranlasst.

5

Mit Widerspruchsbescheid vom 6. April 2000 wies das beklagte Land den Widerspruch der Klägerin zurück und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Die von der Klägerin beantragte Begutachtung sei entbehrlich, weil jedenfalls der Nachweis eines schädigenden Ereignisses im Sinne des § 1 OEG nicht geführt werden könne. Zur Vermeidung von Wiederholungen werde auf die Gründe des angefochtenen Bescheides Bezug genommen. Die nach eigenen Angaben der Klägerin im Jahr 1994 aufgetretene „vage" Erinnerung in Form eines sog. „Flash-Back" an einen sexuellen Missbrauch im Alter von zwei Jahren reiche als Nachweis nicht aus. Da die Klägerin das Einverständnis mit der Befragung der Personen, die im fraglichen Zeitraum mit ihr in einem Haushalt gelebt hätten, nicht erteilt habe, stünden keine Ermittlungsmöglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts zur Verfügung.

6

Gegen den am 11. April 2000 abgesandten Widerspruchsbescheid hat sich die Klägerin mit der am Montag, 15. Mai 2000 beim Sozialgericht Kiel eingegangenen Klage gewandt, zu deren Begründung sie ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft hat. Ergänzend hat sie im Wesentlichen ausgeführt: Die Problematik verzögerter traumatischer Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit sei Gegenstand umfangreicher wissenschaftlicher Diskussion und Forschung. Es existierten zahlreiche Studien darüber, dass sich Kinder nach frühem und wiederholtem sexuellen Missbrauch durch Dissoziation schützten. Auch belegten diverse Studien unterschiedliche Formen des bewussten und unbewussten Erinnerungsprozesses und auch Erinnerungen durch sog. „Flash-Bracks". Auch deshalb hätte eine Begutachtung erfolgen müssen. Zu Unrecht fordere das beklagte Land von der Klägerin den Vollbeweis. Nach § 15 KOVVfG könnten Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung in Zusammenhang stehende Tat beziehen, zu Grunde gelegt werden, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erschienen. Eine persönliche Begutachtung unter Hinzuziehung von Krankenunterlagen wäre geeignet gewesen, die Glaubhaftigkeit der Angaben festzustellen. Ihr sei durch die mangelhafte Ermittlungstätigkeit des beklagten Landes von vornherein die Möglichkeit genommen worden, sich dem ärztlichen Gutachter in einem persönlichen Gespräch über die ihr zugefügten Verletzungen anzuvertrauen und die daraus entstandenen Folgen anhand ärztlicher Berichte darzulegen.

7

Die Klägerin hat beantragt,

8

den Bescheid des Versorgungsamtes Münster vom 27. (richtig: 25.) Januar 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes vom 6. April 2000 aufzuheben und das beklagte Land zu verurteilen, ihr auf ihren Antrag vom 13. August 1999 unter Anerkennung einer chronischen Essstörung, einer schweren Depression und fraglicher multipler Persönlichkeitsanteile Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 60 v. H. zu zahlen.

9

Das beklagte Land hat beantragt,

10

die Klage abzuweisen.

11

Das beklagte Land bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.

12

Das Sozialgericht hat in der mündlichen Verhandlung am 17. Oktober 2001 den Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums K. Prof. Dr. A. als Sachverständigen gehört. Mit Urteil vom selben Tag hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt: Nach § 1 Abs. 3 BVG genüge zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges. Die Klägerin trage die objektive Beweislast. Ein Vollbeweis sei hier nicht möglich. Das Problem bestehe im vorliegenden Fall darin, dass die von der Klägerin vorgetragene sexuelle Gewalt nicht bewiesen werden könne. Beweiskräftige Aussagen könnten nicht erzielt werden. Wenn der Vater der Klägerin zu dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs gehört würde, läge es außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit, dass er - auch wenn er die Tat begangen hätte - dies zugeben würde. Ähnlich verhalte es sich mit der Mutter, die - wenn sie davon gewusst hätte - nach aller Wahrscheinlichkeit aus Scham über die Nichtverteidigung der Tochter schweigen würde. Aus diesem Grunde halte die Kammer es nicht für notwendig und sinnvoll, eine Befragung der Eltern der Klägerin durchzusetzen. Gemäß § 15 KOVVfG sei bei Fehlen von Urkunden oder Zeugen auf die nach den Umständen glaubhaften Angaben der Antragstellerin abzustellen. Im vorliegenden Fall seien die Angaben der Klägerin glaubhaft. Hierzu habe die Kammer den Sachverständigen befragt. Dieser habe nach eigener Untersuchung der Klägerin ausführlich begründet, dass er deren Angaben für glaubhaft halte. Problematisch sei insbesondere das junge Alter der Klägerin. In diesem Alter sei es sehr schwer, konkrete Angaben zu erzielen, da häufig eine frühkindliche Amnesie vorliege. Der Sachverständige habe ausgeführt, es sei stimmig, dass die Klägerin sich erst nach vielen Jahren im Rahmen von sog. „Flash-Back" an Einzelheiten des Vorganges erinnern könne. Insbesondere das Stück Tapete des Raumes, in dem sie ihre Kindheit verbracht habe und an das sie sich erinnern könne, weise darauf hin, dass hier Erinnerungen der Klägerin an das frühkindliche Alter vorhanden seien und jetzt verbalisiert werden könnten. Auch die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen seien typisch für Missbrauchsopfer. Die Angaben der Klägerin seien glaubhaft. Zwar habe der Sachverständige nicht mit letzter Sicherheit ausschließen können, dass die Erinnerungen an den Missbrauch erst durch die Auseinandersetzung mit dem Thema entstanden seien und einer eigenen Interpretation entsprächen. Dies habe der Sachverständige aber für äußerst unwahrscheinlich gehalten. Der Sachverständige sei auf dem hier vorliegenden Gebiet außerordentlich erfahren. Das Ergebnis der Beweisaufnahme stehe auch nicht im Widerspruch zu anderen festgestellten Tatsachen. Das Ergebnis widerspreche auch nicht der Lebenserfahrung. Der durch die Beweisaufnahme bestätigte Beteiligtenvortrag reiche zur Überzeugungsbildung des Gerichts aus. Die Beweisaufnahme habe weiter ergeben, dass die haftungsausfüllende Kausalität vorliege und die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen, nämlich Dissoziation, Depression und Essstörungen, im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch stünden. Gerade das Vorliegen von Essstörungen sei bei sexuell missbrauchten Kindern ausgesprochen typisch. In der Literatur werde - so der Sachverständige - in 70 % der Fälle gerade bei diesen Gesundheitsstörungen ein Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch beschrieben. Auch in der Traumaforschung werde dies bestätigt. Gerade dieser gehäufte Zusammenhang spreche auch für den rechtlich maßgeblichen Zusammenhang. Die Gewalttat sei jedenfalls geeignet, die seelische Krankheit zu verursachen. Es hätten sich keine Hinweise dafür ergeben, dass die bei der Klägerin vorliegenden psychischen Gesundheitsstörungen überwiegend auf persönlichkeitseigene, nicht schädigungsbedingte Faktoren zurückzuführen seien. Die Schwere der Schädigung, die eine jahrzehntelange psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung erforderlich mache, spreche auch für eine MdE von 60 v. H. Diese von dem Sachverständigen vorgeschlagene MdE entspreche den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und im Schwerbehindertenrecht (AHP). Dagegen sei ein Zusammenhang des Diabetes mit der Gewalttat unter medizinischen Gesichtspunkten nicht zu begründen.

13

Gegen das dem beklagten Land am 17. Januar 2002 zugestellte Urteil wendet sich dieses mit der am 13. Februar 2002 beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangenen Berufung und trägt zur Begründung im Wesentlichen vor: Das Urteil des Sozialgerichts enthalte keine ausreichenden Feststellungen zur behaupteten Gewalttat, und es fehlten hinreichende Ermittlungen zu daraus eventuell resultierenden Gesundheitsstörungen. Die Gründe, die das Sozialgericht dafür angeführt habe, die Eltern nicht zu hören, stellten einen geradezu klassischen Verfahrensmangel der vorweggenommenen Beweiswürdigung dar. Das Sozialgericht habe seine Beurteilung zu Unrecht auf § 15 KOVVfG gestützt. Denn die Anwendung dieser Norm setze voraus, dass die Antragstellerin überhaupt Angaben machen könne, die sich auf die mit der Schädigung in Zusammenhang stehenden Tatsachen bezögen. Die Ausführungen im angefochtenen Urteil gingen auf das Problem der frühkindlichen Amnesie nicht ein. Stattdessen beziehe sich das Gericht auf Entscheidungen, die nicht geeignet seien, die vertretene Auffassung zu stützen und denen ganz anders gelagerte Sachverhalte zu Grunde gelegen hätten. Das Sozialgericht hätte den Versuch unternehmen müssen, durch Ermittlungen zum Kindergartenbesuch, zur Einschulung und zum Schulbesuch Feststellungen für die Zeit ab 1974 (behauptete Tat) zu treffen, die zumindest Indizien liefern könnten. Außerdem werde ein professionelles Glaubwürdigkeitsgutachten für erforderlich gehalten.

14

Das beklagte Land beantragt,

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das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 17. Oktober 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

18

Zutreffend habe das Sozialgericht § 15 KOVVfG herangezogen. Das beklagte Land übersehe, dass sie gegenüber dem Gutachter im Zuge der Exploration konkrete Angaben gemacht und detaillierte Erinnerungen geschildert habe. Der Sachverständige habe in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht ausgeführt, dass insbesondere die konkrete Zuordnung dieser Erinnerung auf das zweite Lebensjahr anhand der Einrichtung des Kinderzimmers die Glaubwürdigkeit der Aussage der Klägerin stütze. Das Bundessozialgericht fordere für eine Anwendbarkeit des § 15 KOVVfG, dass der Antragsteller aus eigenem Wissen überhaupt Angaben machen könne. Diese Voraussetzung sei erfüllt. Auch habe sich das Sozialgericht in seiner Entscheidung mit der Problematik der frühkindlichen Amnesie beschäftigt. Das Sozialgericht habe ihre glaubhaften Angaben zu Recht zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht, sodass der Vorwurf der vorweggenommenen Beweiswürdigung ungerechtfertigt sei. Es erscheine völlig ausgeschlossen, dass die Vernehmung des Schädigers als Zeuge sachdienliche Erkenntnisse erbringen werde.

19

Der Senat hat den Entlassungsbericht der Fachklinik St. V.-Stift, Va., vom 10. Oktober 1997 (stationäre Behandlung vom 30. September 1996 bis 29. März 1997), Befund- und Behandlungsberichte des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Sa. vom 15. Juni 2003, der Ärzte für innere Medizin Dres. Ka. und D. vom 16. Juni 2003, des Arztes für innere Medizin Dr. B. vom 17. Juni 2003 sowie die Entlassungsberichte der G.-Klinik, F., vom 24. April 1995 über die stationäre Behandlung der Klägerin in der Zeit vom 6. Februar bis zum 5. April 1995 sowie vom 16. Oktober 1995 über die stationäre Behandlung vom 29. Mai bis zum 11. Oktober 1995 und den psychologischen Kurzbericht der Psychotherapeutin P. vom 30. Juli 2003 beigezogen.

20

In der mündlichen Verhandlung am 19. April 2005 hat der Senat die Klägerin befragt und deren Eltern sowie die Schwester als Zeugen vernommen. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift einschließlich der Anlagen und die vom Vater der Klägerin zur Akte gereichten Briefe der Klägerin (Ablichtungen) Bezug genommen. Ferner hat der Senat das schriftliche Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Sb. vom 31. August 2005 zu der Frage eingeholt, ob aus den bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen und den von der Klägerin geschilderten Flash-Bracks darauf geschossen werden kann, dass sie Opfer eines sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater geworden ist. Wegen des Inhalts des Gutachtens wird auf Blatt 262 bis Blatt 306 der Gerichtsakte verwiesen.

21

Die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des beklagten Landes und die Prozessakte haben dem Senat vorgelegen; diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf ihren Inhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung des beklagten Landes ist zulässig und auch begründet. Das Sozialgericht hat das beklagte Land zu Unrecht verurteilt, eine chronische Essstörung, schwere Depression und fragliche multiple Persönlichkeitsanteile als Schädigungsfolge anzuerkennen und der Klägerin Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz nach einer MdE von 60 v. H. zu gewähren.

23

Gemäß § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) setzt der Anspruch auf die Anerkennung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschrift des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) u. a. voraus, dass die zu entschädigende Gesundheitsstörung Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs ist. Das Vorliegen eines solchen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs, der ursächlich für die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen geworden sein könnte, kann nicht festgestellt werden.

24

Die Klägerin macht in erster Linie geltend, dass sie im Alter von etwa zwei Jahren Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater geworden sei. Ferner verweist die Klägerin darauf, dass sie im Alter zwischen sieben und vierzehn Jahren häufig im Ehebett neben dem Vater übernachtet habe und dass es auch in diesem Zusammenhang zu Übergriffen durch den Vater gekommen sein könne.

25

Der sexuelle Missbrauch von Kindern stellt einen rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG dar. Die Tatbestandsvoraussetzungen können auch dann erfüllt sein, wenn der Täter keine nennenswerte Kraft aufwendet, um einen Widerstand des Opfers zu überwinden, sondern sein Ziel dadurch erreicht, dass er den Widerstand seines Opfers durch Täuschung, Überredung oder sonstige Mittel ohne besonderen Kraftaufwand bricht oder gar nicht erst aufkommen lässt (vergl. BSG, Urt. v. 18. Oktober 1995 - 9 RVg 7/93 -, BSGE 77, 11 = SozR 3-3800 § 1 Nr. 7). Selbst wenn das Opfer in die Tat einwilligt, ist die Handlung nicht gerechtfertigt, wenn dem Opfer die Einwilligung durch Täuschung entlockt wird oder es dem Opfer aus sonstigen Gründen an der Fähigkeit mangelt, Bedeutung und Tragweite seiner Einwilligung zu erkennen. An dieser Fähigkeit fehlt es insbesondere bei Kindern auf sexuellem Gebiet, jedenfalls solange sie noch nicht strafmündig sind. Deshalb ist vom Vorliegen eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs auch bei dem sexuellen Missbrauch eines Kindes auszugehen, selbst wenn dabei keine Gewalt im strafrechtlichen Sinne ausgeübt wird.

26

Indes konnte der Senat auch das Vorliegen eines solchen ggf. ohne die Anwendung von Gewalt im strafrechtlichen Sinne begangenen Missbrauchs nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts nicht feststellen. Die durch den Senat vernommene Mutter und die Schwester der Klägerin haben übereinstimmend angegeben, einen sexuellen Missbrauch des Vaters gegenüber der Klägerin nicht bemerkt zu haben, und sie konnten auch keine Tatsachen angeben, die konkrete Hinweise auf ein solches Geschehen geben würden. Der Vater selbst hat den ihm von der Klägerin vorgeworfenen Missbrauch vehement bestritten. Besonderes Gewicht war nach Auffassung des Senats der Aussage der fünf Jahre älteren Schwester der Klägerin beizumessen. Diese war in jeder Hinsicht glaubwürdig. Sie hatte erkennbar kein Interesse daran, ein positiv gefärbtes Bild ihres Vaters zu vermitteln. Vielmehr hat sie das Verhältnis zu ihrem Vater glaubhaft als nicht sehr liebevoll bezeichnet und auf Nachfrage sogar angegeben, dass sie diesen als sehr unangenehm beurteile und sich vorstellen könne, dass er einen solchen Missbrauch begangen haben könnte. Auf der anderen Seite hat die Zeugin in jeder Hinsicht glaubhaft versichert, keine Angaben zu Missbrauchshandlungen machen zu können, weil sie niemals Zeugin einer solchen Tat geworden sei. Gerade angesichts des erkennbar nicht von Sympathie getragenen Verhältnisses der Schwester der Klägerin zu ihrem Vater ist der Senat von der Glaubhaftigkeit dieser Angaben der Zeugin überzeugt. Entsprechendes gilt für die Angaben der von dem Vater der Klägerin geschiedenen Mutter, die sich ebenfalls sehr kritisch gegenüber ihrem ehemaligen Ehemann geäußert und ebenfalls angegeben hat, dass sie einen sexuellen Missbrauch durch ihren Ehemann an der Tochter für möglich halte. Auch sie hat glaubhaft angegeben, dass sie nicht Zeugin eines sexuellen Missbrauchs geworden sei, und sie konnte ebenfalls keine Angaben machen, die auf einen solchen stattgefundenen Missbrauch auch nur hindeuten würden. Angesichts der fehlenden konkreten Beobachtungen zu einem sexuellen Missbrauch bewertet der Senat die Äußerungen der Mutter und der Schwester der Klägerin, nach denen dem Vater der Klägerin ein sexueller Missbrauch zuzutrauen sei, in erster Linie als Ausdruck des schlechten persönlichen Verhältnisses dieser Zeugen zu ihrem Vater bzw. ehemaligen Ehemann und nicht als Hinweis darauf, dass ein solcher Missbrauch tatsächlich stattgefunden hat. Weitere Personen, die Zeuge einer Missbrauchshandlung geworden sein könnten, sind von der Klägerin nicht angegeben worden und auch sonst nicht ersichtlich.

27

Auch die Erkrankung, an der die Klägerin leidet, lässt nicht den Schluss zu, dass es zu einem sexuellen Missbrauch oder einer anderen Gewalttat gekommen sein muss. Die Klägerin leidet an einer komplexen dissoziativen Störung sowie einer Essstörung in Gestalt einer Bulimie. Frühkindliche Traumatisierungen haben für die Entstehung sowohl dissoziativer Störungen als auch von Essstörungen Bedeutung. Als Traumatisierungen kommen Vernachlässigung, körperliche Misshandlung oder sexueller Missbrauch in Betracht. Auf Grund des klinischen Bildes lässt sich nicht differenzieren, welche Form der Traumatisierung im Einzelfall vorgelegen hat. Auch gibt es kein spezifisches Krankheitsbild, welches sich infolge frühkindlicher Traumatisierung herausbildet. So gibt es keine kausale Beziehung zwischen sexuellem Missbrauch und einer spezifischen Psychopathologie im Erwachsenenalter. Das bedeutet allerdings auch nicht, dass Traumatisierungen keine kausale Bedeutung für einzelne Krankheitsbilder haben können. Die Häufigkeit von kindlichen Traumatisierungen im Vorfeld der Entwicklung dissoziativer Störungen wird in der Literatur überwiegend mit Werten zwischen 60 % und 80 % angegeben, für dissoziative Identitätsstörungen werden auch Werte über 90 % angegeben. Dabei handelt es sich allerdings um statistische Angaben, welche für die Beurteilung des Einzelfalles nur begrenzte Bedeutung haben. Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass kindliche Traumatisierungen häufig für die spätere Entwicklung einer dissoziativen Störung ursächlich sind, dass aber nicht jede Traumatisierung zur Ausprägung einer dissoziativen oder anderen psychischen Störung führt und dass dissoziative Störungen auch auftreten können, ohne dass sich in der Vorgeschichte ein sexueller Missbrauch oder eine andersartige Traumatisierung sichern lässt. Danach spricht zwar eine statistische Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Klägerin Opfer kindlicher Traumatisierungen geworden ist. Eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit lässt sich jedoch nicht feststellen. Zudem lässt das bei der Klägerin vorliegende Krankheitsbild keinen Rückschluss darauf zu, ob es sich bei der Traumatisierung ggf. um eine Vernachlässigung, körperliche Misshandlung oder sexuellen Missbrauch gehandelt hat.

28

Mit diesen Feststellungen stützt sich der Senat in erster Linie auf das Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Sb. Dessen Ausführungen sind schlüssig und überzeugend. Der Sachverständige ist dem Senat als besonders erfahren auch bei der Beurteilung von Fragen zur Kausalität auf seinem Fachgebiet bekannt. Seine Ausführungen stehen in den wesentlichen Punkten im Einklang mit dem Gutachten des Dr. A., der ebenfalls nur einen Zusammenhang in Gestalt einer statistischen Wahrscheinlichkeit zwischen sexuellem Missbrauch und dem Vorliegen einer dissoziativen Störung beschrieben hat. Allerdings unterscheidet Dr. A. in seinem Gutachten nicht zwischen Traumatisierungen in Gestalt sexuellen Missbrauchs und anderen Formen der Traumatisierung, so dass er im Ergebnis von einer Häufigkeit von 70 % des sexuellen Missbrauchs bei entsprechenden dissoziativen Störungen ausgeht. Damit steht sein Gutachten nicht nur im Widerspruch zu dem Gutachten des Dr. Sb., sondern auch im Widerspruch zu der in den Verwaltungsakten des beklagten Landes (Bl. 25 ff.) befindlichen Veröffentlichung der Frau Kb. (Trauma und Wirklichkeits(re)konstruktion: Theoretische Überlegungen zu dem Phänomen wiederauftauchender Erinnerungen, Persönlichkeitsstörungen, 1999, S. 45 ff.), die unter Bezugnahme auf neuere Untersuchungen darlegt, dass hohe Werte für Dissoziation eher mit einem pathogenen familiären Umfeld korrelieren als mit sexuellem Missbrauch. Nach dem Eindruck, den der Senat aus der Vernehmung der Zeugen gewonnen hat, spricht jedenfalls einiges dafür, dass die Klägerin in einem „pathogenen" familiären Umfeld aufgewachsen sein könnte und dass sie unter den konfliktbeladenen familiären Verhältnissen in ihrer Kindheit gelitten hat. Eine Auseinandersetzung mit den dazu in der wissenschaftlichen Fachliteratur vertretenen Standpunkten ist dem nur sechsseitigen Gutachten des Prof. Dr. A. nicht zu entnehmen. Unabhängig davon geht aber auch Dr. A. nicht davon aus, dass aus der bei der Klägerin vorliegenden Erkrankung mit Sicherheit auf einen erlittenen sexuellen Missbrauch geschlossen werden kann. Vielmehr hält auch er lediglich eine statistische Wahrscheinlichkeit für gegeben. Ferner weist auch er darauf hin, dass neben der Traumatisierung auch die Persönlichkeit des Opfers bei der Entwicklung der Symptomatik eine Rolle spielt und dass deshalb von einem multikausalen Ursachengefüge auszugehen ist. Nach allem kann aus der bei der Klägerin vorliegenden Erkrankung allenfalls mit einer Wahrscheinlichkeit auf einen erlittenen sexuellen Missbrauch oder eine andere Traumatisierung geschlossen werden.

29

Auch unter weiterer Berücksichtigung der Aussagen der Klägerin kann die Feststellung, dass eine Missbrauchshandlung stattgefunden haben muss, nicht getroffen werden. Bezogen auf die Zeit zwischen dem 7. und 14. Lebensjahr der Klägerin, in der diese wiederholt zusammen mit ihrem Vater im Elternbett geschlafen hat, hat die Klägerin gegenüber dem Senat angegeben, dass sie sich an konkrete Übergriffe ihres Vaters nicht erinnern könne. Sie könne nicht sagen, ob und in welcher Weise sie damals sexuell missbraucht worden sei. Insofern decken sich die Angaben der Klägerin vollständig mit denen der vernommenen Zeugen. Bezogen auf die Zeit um das 2. Lebensjahr vermutet die Klägerin, dass es zu einem sexuellen Missbrauch gekommen ist. Eine konkrete Erinnerung an ein Missbrauchsereignis hat die Klägerin aber auch insoweit nicht. Vielmehr stützt sie ihre Vermutung auf bruchstückhafte mosaikartige Bildsegmente im Rahmen von Flash-Back-Erlebnissen. In der mündlichen Verhandlung am 19. April 2005 hat die Klägerin diese Bildsegmente in der Weise beschrieben, dass Bilder von ihrem Kinderzimmer aufgetaucht seien und dass sie das Gefühl gehabt habe, auf einem Bücherregal zu sitzen und das Kinderzimmer von oben zu sehen. Dabei habe sie gesehen, wie ihr Vater sich über sie gebeugt habe. Die Bilder hätten sehr schnell gewechselt. Ihr Vater habe sich über sie gelegt, und sie habe wahnsinnige Schmerzen und Angst gehabt. Nach Auffassung des Senats sind diese Angaben der Klägerin insoweit glaubhaft, als keine Zweifel daran bestehen, dass die Klägerin Flash-Back-Erlebnisse hatte und dabei die geschilderten Bilder gesehen hat. Bei den beschriebenen Bildsegmenten und den dadurch verbundenen emotionalen Zuständen handelt es sich erkennbar nicht um Geschehensabläufe, die sich genauso zugetragen haben, sondern um Bilder, die einer Deutung bedürfen. Nach Auffassung des Senats können die von der Klägerin glaubhaft beschriebenen Bilder nicht nur so gedeutet werden, dass es zu einem sexuellen Missbrauch durch den Vater gekommen sein muss. Erinnerungen werden erst frühestens ab dem 2. bis 3. Lebensjahr festgehalten. Vor diesem Zeitpunkt besteht eine sog. Kindheitsamnesie. Aus dem Fehlen erzählbarer Erinnerungen an ein Trauma kann daher nicht geschlossen werden, dass ein solches nicht vorgelegen hat. Im sog. impliziten Gedächtnis finden auch nicht bewusst erinnerte Traumatisierungen ihren Niederschlag. Diese impliziten Gedächtnisinhalte können dann der Beobachtung bzw. subjektiven Wahrnehmung und damit dem Bewusstsein zugänglich werden, wenn es zu unerwarteten Änderungen der Stimmung, des Erlebens und des Verhaltens kommt, wenn konditionierte Reaktionen ausgelöst werden sowie wenn traumatische Erfahrungen plötzlich wiedererlebt werden, die als solche zuvor dem Bewusstsein nicht zugänglich waren (sog. Flash-Back). Auch im expliziten Gedächtnis bilden die Erinnerungen aber keine originalgetreue Abbildung realer Begebenheiten und Erfahrungen. Vielmehr können sich reale Erinnerungen mit phantasierten Aspekten verbinden. Auch werden die Erinnerungen vor dem Hintergrund von Erfahrungen in kognitive Schemata eingeordnet, so dass reale Begebenheiten anders erinnert werden können, als sie sich tatsächlich abgespielt haben. Auch Erinnerungen an Begebenheiten, die so überhaupt nicht vorgekommen sind, sind möglich, so dass auch die Erinnerung an ein Trauma das Vorliegen eines solchen nicht beweist. Wie häufig derartige Fehlerinnerungen vorkommen, ist zahlenmäßig nur schwer einzuschätzen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass derartige Fehlerinnerungen im Rahmen psychotherapeutischer Behandlungen möglich sind und auch vorkommen. Die von der Klägerin beschriebenen bruchstückhaften mosaikartigen Bildsegmente und die damit verbundenen emotionalen Zustände können auch zustande gekommen sein, ohne dass ein sexueller Missbrauch stattgefunden hat.

30

Auch mit diesen Feststellungen bezieht sich der Senat auf das überzeugende und schlüssige Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Sb. Das Gutachten des Dr. Sb. steht auch insoweit in den wesentlichen Punkten nicht im Widerspruch zu dem im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Gutachten des Prof. A. Auch dieser hat ausgeführt, dass die von der Klägerin geschilderten Erinnerungen für das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs sprechen. Auf der anderen Seite räumt er aber ein, dass nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass die Erinnerungen, die so konkret erst nach Beginn einer Therapie auftraten, durch die Auseinandersetzung mit der Thematik und im Kontakt mit anderen Patienten entstanden sind und einer eigenen freien Ausgestaltung entsprechen. Im Gegensatz zur psychodynamischen Literatur der früheren Jahre müsse davon ausgegangen werden, dass in den eigenen Erinnerungen reale Erlebnisse und Phantasien häufig untrennbar miteinander verknüpft seien. Dass die Erinnerung der Klägerin durch den Kontakt mit anderen Patienten beeinflusst worden sein könnte, wird in dem vorliegenden Bericht der G.-Klinik vom 24. April 1995 besonders deutlich. Dort wird u.a. ausgeführt, dass sich die Klägerin in den Gruppentherapien „durch das sehr ähnliche Erleben von ebenfalls betroffenen Frauen einerseits bestätigt, andererseits jedoch auch bedroht" gefühlt habe.

31

Die im Gutachten des Prof. A. geäußerte Einschätzung, dass die Darstellung der Klägerin glaubhaft sei, stimmt mit der bei der Befragung der Klägerin gewonnenen Überzeugung des Senats überein. Dies beantwortet allerdings nicht die Frage, ob die Darstellungen den Schluss auf eine tatsächlich erlittene Missbrauchshandlung zulassen. Insoweit bleibt es bei den auch im Gutachten des Dr. A. wiedergegebenen Unsicherheiten durch die nicht auszuschließende Vermischung realer Erlebnisse und Phantasien gerade bei der hier erforderlichen Deutung traumähnlicher Bildsegmente, die sich auf mögliche Erlebnisse aus einer Zeit beziehen, in der erzählbare Erinnerungen und Ereignisse regelmäßig auf Grund der sog. Kindheitsamnesie nicht wiedergegeben werden können. Dass die Deutung der von der Klägerin geschilderten Flash-Back-Erlebnisse mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist, wird auch in der Formulierung der Antwort zu der zweiten Beweisfrage im Gutachten des Prof. Dr. A. deutlich. Dort wird die Wiedergabe der ursächlich auf den Missbrauch zurückzuführenden Gesundheitsstörungen unter den Vorbehalt gestellt, dass man das Vorliegen eines Missbrauchs „unterstellt".

32

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts können die Feststellungen zum Vorliegen eines Missbrauchsereignisses auch nicht unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung aus § 15 Abs. 1 KOVVfG getroffen werden. Nach dieser Vorschrift können der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatschen beziehen, zu Grunde gelegt werden, wenn Unterlagen nicht vorhanden sind oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind. Zwar gilt diese Vorschrift gem. § 6 Abs. 3 OEG auch für die Entschädigung nach dem OEG und nicht nur im Verwaltungsverfahren, sondern auch im gerichtlichen Verfahren (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 22. Juni 1988 - 9/9a RVg 3/87 -, SozR 1500 § 128 Nr. 34, juris RdZiff. 14; BSG, Urteil vom 31. Mai 1989 - 9 RVg 3/89 -, BSGE 65, 123 = SozR 1500 § 128 Nr. 39, juris RdZiff. 11 ff.). Sie hilft der Klägerin im vorliegenden Fall aber nicht. § 15 KOVVfG setzt voraus, dass der Antragsteller Angaben zu den entscheidungserheblichen Fragen aus eigenem Wissen machen kann (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 22. Juni 1988, a.a.O., juris RdZiff. 14; BSG, Urteil vom 28. Juni 2000 - B 9 VG 3/99 R -, SozR 3-3900 § 15 Nr. 3, juris RdZiff. 12, m.w.N.).

33

Der Senat hat - auch unabhängig von der durch § 15 KOVVfG bewirkten Beweiserleichterung - keine Bedenken, der Entscheidung die glaubhaften Angaben der Klägerin zu ihrer Erinnerung in der Form der Flash-Back-Ereignisse zu Grunde zu legen. Davon bleibt jedoch die Frage unberührt, wie die geschilderten Bildsegmente zu deuten sind und ob sie den Schluss auf einen erlittenen Missbrauch zulassen. Zur Beantwortung dieser Frage kann sich der Senat nicht auf Angaben der Klägerin stützen, sodass auch eine Glaubhaftmachung gem. § 15 KOVVfG insoweit nicht in Betracht kommt. Denn die Klägerin erinnert keine konkreten Missbrauchsereignisse, sondern - wie im Gutachten des Dr. Sb. zutreffend beschrieben - bruchstückhafte mosaikartige Bildsegmente und damit verbundene emotionale Zustände. Nach den überzeugenden und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen lassen diese von der Klägerin glaubhaft beschriebenen Flash-Back-Ereignisse nicht den Schluss zu, dass es zu einem Missbrauch durch den Vater gekommen sein muss.

34

Im übrigen belegen die vorliegenden Befundberichte, dass auch die Klägerin selbst jedenfalls in der ersten Zeit nach dem Auftreten der Flash-Back-Ereignisse unsicher war, wie diese zu deuten sind. So wird in dem Abschlussbericht der G.-Klinik, F. vom 24. April 1995 mitgeteilt, dass es der Klägerin gelungen sei, über ihre Befürchtungen, von ihrem Vater sexuell missbraucht worden sein, offen zu sprechen. Sie habe ihren Erinnerungen und Wahrnehmungen aber zunächst nicht recht trauen können. In dem Abschlussbericht vom 16. Oktober 1995 zu einem zweiten stationären Aufenthalt in der G.-Klinik (29. Mai bis 11. Oktober 1995) wird mitgeteilt: „Greifbare Erinnerungen bezüglich eines sexuellen Missbrauchs haben sich bis zum Ende dieses stationären Aufenthalts nicht ergeben, jedoch wohl gesicherte Erkenntnisse, dass es zu Grenzverletzungen gekommen ist."

35

Zwar hat das Bundessozialgericht in einem Urteil vom 3. Februar 1999 (- B 9 V 33/97 R -, SozR 3-3900 § 15 Nr. 2 = BSGE 83, 279) § 15 KOVVfG entsprechend auf einen Fall angewandt, in dem die Klägerin keine Angaben aus eigener Erinnerung machen konnte, und angenommen, dass die entsprechende Anwendung der Vorschrift ausnahmsweise zur Beseitigung einer Beweisnot herangezogen werden kann. In Abgrenzung zu diesem Urteil hat das BSG in seinem Urteil vom 28. Juni 2000 (a.a.O., juris RdZiff. 13) jedoch klargestellt, dass diese Beweiserleichterung nur für den dort zu entscheidenden Ausnahmefall aus den Besonderheiten des Kriegsopferverfahrensrechts und der Kriegsopferversorgung herzuleiten war. Maßgebend sei gewesen, dass das Vorliegen einer Straftat als Ursache außer Zweifel gestanden habe und dass die Beweisnot im Zusammenhang mit der Durchführung der Ermittlung durch einen Geheimdienst (NKWD) zustande gekommen war, der „nicht rechtsstaatlich zu arbeiten pflegte". Für andere Fallkonstellationen, in denen sich beispielsweise ein Gewaltopfer nicht an den schädigenden Vorgang erinnern kann, hat das BSG eine erweiternde Auslegung des § 15 KOVVfG ausdrücklich abgelehnt (BSG, Urteil vom 28. Juni 2000, a.a.O., juris RdZiff. 13).

36

Die Beweisschwierigkeiten können auch nicht durch andere Beweiserleichterungen überwunden werden. Die Voraussetzungen für einen Beweis des ersten Anscheins liegen nicht vor, denn dieser ist nur bei typischen Geschehensabläufen möglich, die nach allgemeiner Erfahrung aus einer bestimmten Tatsache auf einen bestimmten Verlauf schließen lassen. Sind wie vorliegend mehrere Geschehensabläufe oder Vorgänge möglich, dann ist eine solche Beweisregel ausgeschlossen (BSG, Urteil v. 22. Juni 1988, a.a.O., juris RdZiff. 12 sowie BSG, Beschl. v. 22. Juni 1988 - 9/9a BVg 4/87 -, SozR 1500 § 128 Nr. 35, juris RdZiff. 14). Nach dem überzeugenden Gutachten des Dr. Sb. kann aus der Erkrankung (dissoziative Störung, Essstörung) gerade nicht eindeutig der Schluss auf einen sexuellen Missbrauch gezogen werden, weil als Ursache auch andere traumatisierende Ereignisse, die nicht als Gewalttat im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG angesehen werden können, in Betracht kommen und darüber hinaus dissoziative Störungen oder Essstörungen auch ohne ein traumatisierendes Ereignis entstehen können.

37

Nach allem ist nicht mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festzustellen, dass die Klägerin Opfer eines sexuellen Missbrauchs oder einer anderen Gewalttat geworden ist. Die Folgen der Beweislosigkeit hat nach dem auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast die Klägerin zu tragen (vergl. BSG, Urt. v. 3. Februar 1999, a.a.O.; BSG, Urt. v. 22. Juni 1988, a.a.O., juris RdZiff. 11).

38

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

39

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 SGG) liegen nicht vor.


(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.