Landessozialgericht NRW Urteil, 13. Jan. 2016 - L 17 U 30/06
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15.11.2005 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten um die Folgen eines Arbeitsunfalls, den der Kläger am 10.06.1994 erlitten hat.
3Der 1962 geborene, bei der Beklagten seinerzeit freiwillig versicherte Kläger war zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls selbständiger Rechtsanwalt. Auf dem Weg von seiner Kanzlei in N zum Finanzgericht E, wo er im Rahmen seiner anwaltlichen Tätigkeit einen Termin wahrzunehmen hatte, wurde er mit seinem Pkw in einen Verkehrsunfall verwickelt. Nach dem polizeilichen Aufnahmeprotokoll vom 10.06.1994 hatte sich der Verkehr an der Unfallstelle aufgrund eines vorausgegangenen Verkehrsunfalls stark verlangsamt, was ein auf der Autobahn rechts fahrender Lkw-Fahrer zu spät bemerkt habe und deshalb zur Vermeidung eines Auffahrunfalls mit seinem Fahrzeug nach links auf die vom Kläger benutzte Fahrbahn ausgeschert sei. Dabei sei es zur Kollision mit dessen VW Golf gekommen. Der Kläger habe nicht rechtzeitig ausweichen können und sei unter den Anhänger gefahren. Der Wagen des Klägers war rechtsseitig total beschädigt. Die Geschwindigkeit des Lkw habe zum Unfallzeitpunkt laut Schaublatt ca. 82 km/h betragen.
4Der Kläger wurde mit dem Notarzt ins Evangelische Krankenhaus C in N (Leitender Arzt Dr. U, Abteilung Unfall- und Gelenkchirurgie) verbracht. Dort wurde eine schmerzhafte Verspannung der linksseitigen Nackenmuskulatur des Klägers festgestellt. Die Kopfwendung nach links war schmerzhaft. Außerdem gab der Kläger Schmerzen an der vorderen Brustkorbseite und einen Druckschmerz beidseits neben der Wirbelsäule (WS) im Übergang der Brust- (BWS) zur Lendenwirbelsäule (LWS) an. Röntgenaufnahmen der Halswirbelsäule (HWS) und des Brustkorbs ergaben keinen Anhalt für eine frische Knochenverletzung, jedoch eine Blockwirbelbildung bei C5/6 und eine Steilstellung der HWS. Diagnostiziert wurden ein HWS-Schleudertrauma und eine Rippenprellung. Der Kläger wurde dann nach Wiedervorstellung im Krankenhaus C am 15.06.1994 aufgrund eines von ihm angegebenen Schwindelgefühls mit Verzerrung des Blickfeldes und globaler Schwäche stationär dort aufgenommen und es wurden folgende Diagnosen gestellt: Links hinterkopfseitige Schädelprellung mit ausgeprägt vegetativem Begleitsyndrom, HWS-Distorsion mit traumatischer Bandscheibenvorwölbung C3-C4 und C5, unfallunabhängige Blockwirbelbildung C 5/6 sowie LWS-Distorsion mit rechtsbetonter Lumboischialgie und Bandscheibenvorwölbung L5/S1. Im MRT von Schädel und HWS ergab sich in der HWS kein Hinweis auf eine Einblutung. Auch Stammhirnläsionen und Einblutungszeichen ließen sich nicht erkennen. Der Kläger wurde alsdann in die Neurologische Klinik des Krankenhauses N (Chefarzt Prof. Dr. I) verlegt. Dieser hatte bereits mit Bericht vom 22.06.1994 ein HWS-Schleudertrauma I. Grades ohne objektivierbares neurologisches Defizit, eine links-occipitale Schädelprellung mit ausgeprägtem vegetativem Begleitsyndrom und Verdacht auf Hirnstammaffektion und ein traumatisch bedingtes LWS-Schmerzsyndrom mit rechtsseitiger Lumboischialgie festgestellt. In Zwischenberichten vom 07. und 11.07.1994 wurden zunächst eine beidseitige rechtsbetonte Lumboischialgie bei traumatisch bedingter medio-rechtslateraler Diskusprotrusion L5/S1 und ein HWS-Schleudertrauma 3. Grades mit Schmerzsyndrom diagnostiziert. Im Überweisungsbericht in die Anschlussheilbehandlung vom 19.07.1994 teilte das Krankenhaus N mit, die Kernspintomographie habe eine unauffällige Darstellung des Schädels und des Hirnstamms ergeben. Die in diesem Bericht aufgeführten Diagnosen links-occipitale Schädelprellung mit protrahiertem psychovegetativem Begleitsyndrom, beidseitige rechtsbetonte Lumboischialgie bei Bandscheibenvorwölbung L5/S1 sowie HWS-Schleudertrauma 3. Grades mit paravertebraler Schmerzsymptomatik und hochgradigen Bandscheibenvorwölbungen bei C3 bis C5 seien traumatisch bedingt, die darüber hinaus festgestellte Verblockung von C 5/6 hingegen angeboren. Der Kläger wurde am 16.08.1994 aus der stationären Behandlung entlassen.
5Am 04.08.1995 erlitt er einen weiteren Verkehrsunfall im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit. Hierbei war ein Pkw auf das Fahrzeug des Klägers aufgefahren. Dr. U nannte in dem diesbezüglichen Durchgangarztbericht vom 01.09.1995 als Diagnose eine HWS-Distorsion.
6Die Beklagte forderte bei Prof. Dr. I einen Bericht an. Dieser berichtete unter dem 13.09.1995, dass beim Kläger ein Zustand nach zweimaligem HWS-Schleudertrauma (1994 II. - III. Grades, 1995 I. Grades), eine beidseitige rechtsbetonte typische Lumboischialgie bei initial nachgewiesener traumatischer Diskusprotrusion L5/S1 sowie ein Zustand nach Schädelprellung bestünden. Das neuerliche HWS-Schleudertrauma habe die Beschwerden verschlimmert. Eine gutachterliche Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei erforderlich.
7Mit Gutachten vom 26.02.1996 stellte Prof. Dr. I folgende Gesundheitsbeeinträchtigungen beim Kläger fest:
81. Zustand nach zweimaligem Halswirbelsäulenschleudertrauma (10.06.1994: II. bis III. Grades und 04.08.1995: I. Grades) mit ausgeprägtem paravertebralem, teils radikulär, teils pseudoradikulär ausstrahlendem Schmerzsyndrom und traumatisch bedingten Diskusprotrusionen C3 bis C5 mit Myelontangierung links.
92. Beidseitige rechtsbetonte Lumboischialgie bei traumatisch bedingter medio-rechtslateraler Diskusprotrusion L5/S1.
103. Zustand nach links occipitaler Schädelprellung mit protrahiertem psychovegetativem Begleitsyndrom und kognitiven Störungen.
111976 und 1985 sei es bereits zu HWS-Schleudertraumata gekommen, jedoch ohne persistierende Beschwerden. Der psychische Befund des Klägers sei im Wesentlichen unauffällig. Die festgestellten Protrusionen in den Segmenten C3/C4, C4/C5, C6/C7 und L5/S1 seien jeweils traumatisch bedingt und auf den Unfall vom 10.06.1994 zurückzuführen. Die Beschwerden seien durch den Folgeunfall akzentuiert worden. Ab dem 01.09.1995 liege deshalb eine dauerhafte MdE von 60 v.H. vor.
12Der hierzu von der Beklagten beratungsärztlich gehörte Chirurg und Unfallchirurg Dr. S hielt es für in hohem Maße zweifelhaft, ob es durch die Arbeitsunfälle zu den vom Sachverständigen angenommenen unfallbedingten Bandscheibenvorwölbungen in LWS und HWS gekommen sei. Der Krankheitswert dieser Befunde sei ebenso zweifelhaft, weil die Beschwerdesymptomatik sich nicht entsprechenden Nervenwurzeln zuordnen lasse. Eine Hirnstammschädigung sei aufgrund der MRT-Untersuchungen auszuschließen. Die Bandscheibenveränderungen hätten zudem keinen prozesshaften Wandel gezeigt. Substanzielle unfallbedingte Schäden im Bereich von Schädel, Gehirn, HWS, Rückenmark, Nervenwurzel und LWS seien bisher nicht nachgewiesen. Sichere funktionelle Defizite seien beim Kläger nicht beschrieben worden. Der hierzu um ergänzende Stellungnahme gebetene Prof. Dr. I hielt an seiner Beurteilung fest.
13Die Beklagte hielt es nach Auswertung des Gutachtens für zweifelhaft, dass die Bandscheibenvorwölbungen durch den Unfall entstanden seien. Sie beabsichtigte daher eine erneute Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen. Zwischen den Beteiligten entstand in der Folge eine Auseinandersetzung darüber, ob und durch welchen Sachverständigen eine weitere Untersuchung durchgeführt werden solle.
14Mit Bescheid vom 05.06.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.09.1997 lehnte die Beklagte weitere Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, dass der Kläger seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sei. In einem im Rahmen eines in der Folge vor dem Senat zu Az. L 17 U 319/00 geführten Berufungsverfahrens geschlossenen Vergleichs vom 20.06.2001 erklärte sich der Kläger bereit, sich von dem Facharzt für Nervenheilkunde, physikalische und rehabilitative Medizin und Chefarzt der neurologischen Abteilung der Klinik am S Bad P, Dr. Dr. X, untersuchen zu lassen. Die Beklagte erklärte sich bereit, die wegen mangelnder Mitwirkung erlassenen Bescheide alsdann aufzuheben.
15Dr. Dr. X erstellte nach Untersuchung des Klägers unter dem 28.12.2001 sein Gutachten, in dem er den Kläger mit der Angabe zitierte, er habe bereits 1987 einen Verkehrsunfall mit HWS-Schleudertrauma erlitten, das aber ausgeheilt sei. Er habe auch "schon mal irgendwann" unter leichteren Rückenbeschwerden gelitten. Ihm sei auch bekannt, dass er einen Blockwirbel im HWS-Bereich habe. Er versuche, aus seiner Situation das Beste zu machen, sei nicht gedrückt oder depressiv. Aus organneurologischer Sicht sah Dr. keine krankheitswertigen Veränderungen. Die Schmerzangaben des Klägers ließen sich organmedizinisch nicht objektivieren. Die Frage der Unfallfolgen müsse allein auf der Grundlage der orthopädischen Begutachtung beantwortet werden. Hiernach liege in Auswertung auch des orthopädischen Zusatzgutachtens ein unfallfremdes degeneratives HWS-Leiden vor, das im Zusammenwirken mit der anlagebedingten HWS-Blockwirbelbildung zu den geklagten Beschwerden geführt habe. Mit den von Prof. Dr. I gestellten Diagnosen stimme er somit überein, die hieraus folgenden Funktionseinschränkungen seien aber nicht unfallbedingt.
16Die orthopädische Begutachtung führte der Facharzt für Orthopädie, physikalische und rehabilitative Medizin Dr. P am 17.12.2001 durch. Als Folgen des Unfalls beschrieb Dr. P:
171. Leichtgradige Halswirbelsäulendistorsion
182. Rippenprellung
19Bei der seitlichen Kollision mit dem Lkw sei es zu einer Flexionsverletzung gekommen. Eine Beschleunigungsverletzung stehe angesichts des Unfallverlaufs mit seitlichem Anprall des Lkw nicht zur Diskussion. Die zu einem späteren Zeitpunkt nachgewiesenen Bandscheibenprotrusionen C3-5 sowie L5/S1 seien nicht durch den Unfall verursacht worden. Die beim Kläger vorliegende fixierte Fehlhaltung des Rumpfes und der HWS mit einhergehender Einschränkung der Beweglichkeit sei nicht unfallbedingt verursacht worden. Denn das Unfallereignis sei nicht schnell genug gewesen, um Rissbildungen der Bandscheibe zu verursachen. Geeignet hierfür seien Stürze aus größerer Höhe oder erhebliche Schleuderbewegungen verursachende Ereignisse. Gerade bei jüngeren Menschen würde auch zunächst das angrenzende Knochengewebe traumatisiert, was sich in bildgebenden Verfahren in Form von Gewebeveränderungen, Einblutungen, Stufenbildung oder Knochenmarködemen sicher nachweisen ließe. Solche Nachweise fehlten hier aber. Auch sei nicht im unmittelbaren Anschluss an den Unfall der Nachweis von Wurzelreizungen geführt. Weder das Unfallereignis noch die klinisch objektivierten Funktionsbefunde oder die weiteren technischen Befunde sprächen für eine traumatische Bandscheibenprotrusion im Bereich der HWS. Dies gelte auch für die später objektivierte Vorwölbung L5/S1. Unfallfremd seien daher:
201. Synostose der leichtgradig hypoplastischen 5. und 6. Halswirbelkörper
212. Anlagebedingte Bandscheibenrückbildung C3/4, 4/5 mit Protrusionen
223. Anlagebedingte Bandscheibenprotrusion L5/S1 Unfallbedingt sei damit eine leichtgradige HWS-Distorsion. Eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit habe bis zu 6 Wochen nach dem Unfall bestanden. Der Grad der MdE sei ab dem 01.12.1995 mit 10 v. H. für ein Jahr zu bewerten.
23Mit Bescheid vom 21.02.2002 lehnte die Beklagte eine Rentengewährung aus der gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlass des Unfalls vom 10.06.1994 ab. Eine MdE über das Ende des Anspruchs auf Verletztengeld hinaus bestehe nicht. Der Widerspruch des Klägers vom 18.03.2002 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 21.10.2002 zurückgewiesen.
24Gegen die Versagung von Verletztenrente hat der Kläger am 13.11.2002 Klage vor dem Sozialgericht Düsseldorf (SG) erhoben. Er hat die Auffassung vertreten, dass er auf Grund des Unfalls vom 10.06.1994 Anspruch auf Gewährung einer Rente habe, weil auch über den 01.12.1995 hinaus Beeinträchtigungen bei ihm vorlägen, die eine MdE bedingten. Dies habe der Sachverständige Prof. Dr. I in seinem Gutachten vom 26.02.1996 festgestellt. Demgegenüber seien die Gutachten von Dr. und Dr. P in weiten Teilen falsch. Bezüglich des zuletzt genannten Vortrags hat der Kläger ein Privatgutachten von dem "Medizingutachterbüro" Dr. W überreicht, wonach der Unfallhergang sehr wohl geeignet gewesen sei, die beim Kläger aufgetretenen Verletzungen hervorzurufen. Dass unfallnah kein Ödem nachgewiesen sei, liege am Unterlassen der zu dessen Objektivierung notwendigen Untersuchungen, was "natürlich nicht zu Lasten des Geschädigten" gehen könne. Die Beschwerden seien unfallbedingt, da andere Ursachen nicht erkennbar seien. Eine unfallbedingte Schädelprellung mit Hirntraumatisierung und diagnostizierter Hirnstammaffektion habe vorgelegen. Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) "dürfte vorliegen". Die gegen einen Anspruch des Klägers sprechenden Gutachten seien somit nahezu durchgängig falsch und eine MdE von mindestens 30-40 v.H. gerechtfertigt. Diese Feststellungen hat Dr. W allein anhand einer Auswertung der Vorgutachten getroffen.
25Ferner hat der Kläger eine verkehrstechnische gutachterliche Stellungnahme des Dipl.-Ing. G. A vom 16.04.2002 sowie dessen ergänzende Stellungnahme vom 29.07.2002 überreicht. Hiernach habe keine Heckkollision stattgefunden, sondern eine Streifkollision mit kurzzeitiger Kontaktierung bzw. Verhakung mit dem Unterfahrschutz bzw. Aufbau des Lkw-Anhängers, einem nachfolgenden teilweisen Unterfahren sowie einer nachfolgenden Frontalkollision der rechten Frontpartie des Pkw’s des Klägers mit dem linken hinteren Reifen des Anhängers. Nach Auswertung der Tachoscheibe habe der Lkw bei der Kollision wahrscheinlich eine Geschwindigkeit von 58 km/h gehabt. Anhand der Schäden am Pkw sei von einer Geschwindigkeitsdifferenz von 20-25 km/h und somit von einer Geschwindigkeit des Pkw bei Anprall von mindestens 78-83 km/h, eher aber 93-98 km/h auszugehen. Betreffend die Einwirkungen auf den Körper des Klägers seien die einzelnen Ablaufphasen nicht mehr exakt rekonstruierbar. Im Hinblick auf die beim Anprall frei werdende Energie könne eine HWS-Verletzung nicht ausgeschlossen werden. Das Unfallgeschehen stehe zu diesen Verletzungen jedenfalls nicht im Widerspruch.
26Der Kläger hat beantragt,
27die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.02.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.10.2002 zu verurteilen, ihm nach seinem Arbeitsunfall vom 10.06.1994 ab dem 01.12.1995 eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v. H. zu gewähren.
28Die Beklagte hat beantragt,
29die Klage abzuweisen.
30Sie hat die Auffassung vertreten, dass die angefochtene Entscheidung rechtmäßig sei. Beim Kläger habe ein ausgeprägtes anlagebedingtes Leiden bestanden, auf dessen Boden die Bandscheibenprotrusionen entstanden seien. Der Unfall vom 10.06.1994 sei nicht die Ursache für die jetzt noch beim Kläger bestehenden Beschwerden. Der Unfall vom 10.06.1994 und der Unfall vom 04.08.1995 seien als eine Einheit zu betrachten. Insoweit habe sie mit der angefochtenen Entscheidung über beide Unfälle entschieden.
31Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverstän- digengutachtens von Prof. Dr. K (Chefarzt der Abteilung Orthopädie und orthopädische Chirurgie am K-Krankenhaus in O). In seinem Gutachten vom 20.10.2003 hat dieser folgende Diagnosen gestellt:
32- Zustand nach Halswirbelsäulendistorsionsverletzung (Schleudertrauma) 1985 - Blockwirbelbildung der Halswirbelsäule in der Etage C5/C6 (Nachweis 1987) - Rezidivierendes HWS-Syndrom (Erstbehandlung 1/91 - 3/91), Cephalgien, BWS-Syndrom (Behandlung 1/91 - 3/91) - Rezidivierende Lumboischialgien (erstmals 10.03.1992) - HWS-Syndrom (Behandlung 08.05.1992 - 07.08.1992) - Zustand nach Verkehrsunfall am 10.06.1994 mit HWS-Distorsionsverletzung Grad II, links occipitaler Schädelprellung, Rippenprellung und protrahiertem psychovegetativem Begleitsyndrom - Zustand nach Verkehrsunfall am 04.08.1995 mit HWS-Distorsion Grad I - Degenerative kernspintomographisch progrediente Veränderungen der HWS in den Etagen C3/C4, C4/5 mit primärer relativer Spinalkanalstenose im Bereich HWK 4 bis HWK 5 - Degenerative Veränderungen der Lendenwirbelsäule mit schmerzhafter Funktionseinschränkung bei Osteochondrose L3/L4 - Bandscheibenprotrusion L5/S1 rechts
33Hinsichtlich der biomechanischen Einflüsse sei eine Aussage hinsichtlich der Verursachung eindeutig möglich. Die Bandscheiben könnten durch einen Verkehrsunfall, wie ihn der Kläger erlitten habe, nicht beeinträchtigt werden. Eine Hinterkopfverletzung sei nirgends dokumentiert. LWS-Beschwerden habe der Kläger schon vor dem Unfall gehabt. Den Gutachten von Dr. P und Dr. Dr. X stimme er zu. Der Kläger habe bei dem Verkehrsunfall vom 10.06.1994 eine HWS-Distorsionsverletzung II. Grades sowie eine linksoccipitale Schädelprellung, eine Rippenprellung und ein protrahiertes psychovegetatives Syndrom erlitten. Dass es hierbei zu einer Verletzung von HWS oder LWS gekommen sei, sei unwahrscheinlich. Die zeitnah durchgeführten kernspintomographischen und radiologischen Untersuchungen hätten keine Hinweise auf posttraumatische Veränderungen ergeben. Das Schadensbild im Bereich der HWS sei anlagebedingter und degenerativer Genese. Im Durchgangsarztbericht sei eine Verletzung des Hinterkopfes, die Prof. Dr. I angenommen habe, gerade nicht festgestellt worden. Äußere Verletzungszeichen seien zeitnah zum Unfall auch in bildgebenden Verfahren nicht beschrieben worden.
34Das private Gutachten von Dipl.-Ing. A hat dem Sachverständigen vorgelegen. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 27.03.2004 hat er eingeräumt, er habe dieses Gutachten privat einem Kfz-Sachverständigen vorgelegt, der es ihm erläutert habe.
35Dem Gesuch des Klägers, Prof. Dr. K deshalb und weil dieser ihn selbst nicht untersucht habe, wegen der Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, ist das SG mit Beschluss vom 13.05.2004 nicht gefolgt, hat aber ein weiteres Sachverständigengutachten bei dem Orthopäden und Sozialmediziner Dr. T in Auftrag gegeben. Dr. T hat sein Gutachten unter dem 05.04.2005 erstellt. Dort beschreibt er, dass das Unfallgeschehen grundsätzlich geeignet sei, strukturelle Verletzungen auch an der HWS hervorzurufen. Auch subjektive Beschwerden habe der Kläger hinreichend zeitnah geäußert. Zum Zeitpunkt des Unfalls habe beim Kläger jedoch eine gravierende Schadensanlage bestanden, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfallgeschehen und den beim Kläger vorliegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen ausschließe. Dr. P habe unter Bezug auf die Röntgenaufnahmen vom 10.06.1994 dargelegt, dass bereits am Unfalltag eine ausgeprägte Segmentdegeneration C4/C5 mit nachweisbarer Bandscheibenhöhenminderung und restspondylotischer Reaktion vorgelegen habe. Zeichen einer frischen Bandscheibenmassenverlagerung nach dem Unfall fänden sich hingegen nicht. Zweifelsfrei zu sichernder Erstschaden sei eine HWS-Schleuderverletzung Grad I bis II nach Erdmann. Für die Annahme einer unfallbedingten LWS-Verletzung fehle es hingegen an einem entsprechenden durchgangsärztlichen Erstbefund und gesicherten Funktionseinschränkungen der LWS in den ersten 10 Tagen nach dem Unfall. Jederzeit habe insoweit eine Schadensmanifestation stattfinden können, auch ohne ein äußeres Ereignis. Es sei in diesem Zusammenhang unerheblich, dass der Kläger im Segment C5/C6 eine angeborene Befundauffälligkeit im Sinne eines Blockwirbels aufweise. Diese Befundauffälligkeit rufe keine klinischen Symptome hervor. Sie bilde allenfalls eine sogenannte prädiskotische Deformität, da es durch die damit verbundene Teilversteifung der HWS zu einer statischen und dynamischen Mehrbelastung der benachbarten Bewegungssegmente komme, die vergleichbar mit dem Zustand nach einer Versteifungsoperation ein erhöhtes Degenerationsrisiko der benachbarten Bandscheiben nach sich ziehe. Für seine jetzige Bewertung und für die Feststellung einer gravierenden Schadensanlage sei nicht dieser Blockwirbel entscheidend, sondern der Umstand, dass das benachbarte Segment C4/C5 nicht nur theoretisch Verschleißveränderungen unterworfen sein könne, sondern bereits eingetretenen Verschleißumformungen unterworfen gewesen sei. Diese Feststellung werde gesichert durch die Höhenminderung der Bandscheibe C4/C5 und die eingetretene Umklammerungsreaktion (Retrospondylose) mit dadurch verbundener Einengung des Zwischenwirbelloches und des Wirbelkanals. Eine solche eingetretene Höhenminderung des Zwischenwirbelraumes zeige, dass es sich um eine fortgeschrittene Bandscheibendegeneration handele, da bereits eine Druckminderung der Bandscheibe als Ausdruck der Höhenminderung bestehe und regelmäßig zumindest zeitweilige Bandscheibenmassenverlagerungen im Sinne von Protrusionen oder Bandscheibenvorfällen gleichzeitig bestehen oder vorangegangen sein müssten. Ein solcher Befund sei ausschließlich denkbar, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits eine Rissbildung im Bereich des Bandscheibenfaserringes bestehe. Solche Befunde würden als röntgenologische Zufallsbefunde in der orthopädischen Praxis des Sachverständigen immer wieder auch bei symptomarmen oder symptomfreien Patienten festgestellt. Beim Kläger bestehe ein degeneratives Cervicalsyndrom bei Bandscheibenprotrusionen der HWS und ein degeneratives Lumbalsyndrom. Ein Zusammenhang mit dem Ereignis vom 10.06.1994 könne nicht wahrscheinlich gemacht werden. Gegen den Kausalzusammenhang spreche das Ausmaß der bestehenden Schadensanlage zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens mit weit fortgeschrittener und deutlich. altersvorauseilender Degeneration der HWS. Gleichzeitig spreche gegen den Kausalzusammenhang die mehrsegmentale Bandscheibenprotrusion. Ein solcher mehrsegmentaler Befund, der zeitlich parallel auch im LWS-Bereich auftrete, sei ein Zeichen einer "inneren Ursache". Im LWS-Bereich spreche gegen den ursächlichen Zusammenhang, dass in den ersten Tagen nach dem Unfallgeschehen keine LWS-Verletzung und keine diesbezügliche Funktionseinschränkung gesichert worden seien. Bei der Erstuntersuchung sei lediglich ein Druckschmerz im Übergangsbereich der BWS zur LWS auffällig gewesen. Hier bestehe keinerlei denkbarer Zusammenhang zu einer Bandscheibenmassenverlagerung im tiefer liegenden Segment L5/S1, die später festgestellt worden sei. Eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit habe bis zum 30.11.1995 bestanden. Ab dem 01.12.1995 sei eine unfallbedingte MdE von 10 v. H. festzustellen. Ab dem 10.06.1996 sei keine messbare MdE mehr gegeben.
36Hierzu hat der Kläger eine von ihm eingeholte Stellungnahme des Neurochirurgen Dr. C vorgelegt, der die Auffassung vertreten hat, seit dem Unfall liege beim Kläger ein cervikocephales Syndrom vor. Das Beschwerdebild sei nicht durch die vorbestehenden degenerativen HWS-Beschwerden erklärbar. Vor dem Unfall hätten keine Beschwerden bestanden, nunmehr persistierten diese seit 11 Jahren. Die von Dr. C wiedergegebenen Beschwerden des Klägers seien somit ausschließlich unfallbedingt. Ferner hat der Kläger u.a. ein Attest des Allgemeinmediziners, Psychotherapeuten und Psychosomatikers Dr. S vom 28.02.2005 vorgelegt, wonach der Kläger wegen einer PTBS infolge der 1994 und 1995 erlittenen Verkehrsunfälle bei ihm in fortlaufender tiefenpsychologischer Psychotherapie sei. Auch Dr. W hat in einer weiteren Stellungnahme für den Kläger vom 12.09.2005 das Gutachten Dr. T für falsch gehalten, weil dieser auf das ja ebenfalls falsche Gutachten Dr. P Bezug nehme. Es liege nicht nur ein geeigneter Unfallhergang, sondern auch ein Kausalzusammenhang mit sämtlichen nunmehr bestehenden Beschwerden einschließlich der PTBS vor, was eine MdE um 70 v.H. begründe. In einer weiteren Ergänzung seiner dem Kläger privat erstatteten Gutachten vom 27.06.2005 hat Dipl.-Ing. A dargelegt, dass es bei dem Unfall auch zu einer starken Verdrehung des Oberkörpers entgegen dem Uhrzeigersinn gekommen sei, was er nunmehr anhand einer neuerdings zur Verfügung stehenden digitalen Simulationssoftware belegen könne.
37Mit Urteil vom 15.11.2005 hat das SG die Klage abgewiesen. Zu Recht habe es die Beklagte abgelehnt, dem Kläger eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen seines Unfalls vom 10.06.1994 zu gewähren. Denn nach Ablauf der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit, während der Verletztengeld gezahlt wurde, bestehe keine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit mehr, die zu einer Rentengewährung führe. Es könne dahinstehen, ob die Beklagte, wie sie es im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgetragen habe, mit der angefochtenen Entscheidung sowohl über das Ereignis vom 10.06.1994 als auch über das Ereignis vom 04.08.1995 entschieden habe. Denn nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme stehe dem Kläger nach beiden Ereignissen kein Anspruch auf Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu. Denn über die 26. Woche hinaus nach dem schädigendem Ereignis bestehe bei dem Kläger keine MdE in rentenberechtigender Höhe mehr. Der Kläger habe am 10.06.1994 in Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit als Rechtsanwalt einen Verkehrsunfall erlitten. Dieser Unfall stelle einen Versicherungsfall im Sinne des § 7 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) dar, denn es handele sich um einen Arbeitsunfall im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB VII. Weder dieser Arbeitsunfall vom 10.06.1994 noch das weitere Ereignis vom 04.08.1995 hätten jedoch die beim Kläger vorliegenden Schäden an der HWS und LWS verursacht. Die beim Kläger festgestellten Protrusionen der Bandscheiben im Bereich der HWS und der LWS seien vielmehr auf ein anlagebedingtes Leiden und somit auf eine innere Ursache zurückzuführen, die der Entschädigung durch die gesetzliche Unfallversicherung nicht unterliege. Bei seiner Einschätzung habe das SG das von Prof. Dr. K unterzeichnete Sachverständigengutachten vom 27.03.2004 nicht verwertet. Zwar habe die Kammer den Antrag des Klägers auf Ablehnung des Sachverständigen wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, sich jedoch nicht mit der ausreichenden Sicherheit davon überzeugen können, dass der durch die Beweisanordnung vom 23.06.2003 beauftragte Sachverständige das Gutachten selbst auf der Basis einer eigenen Untersuchung und Urteilsfindung erstellt habe. Die vom Kläger aufgeworfenen Zweifel an der eigenständigen Untersuchung durch den beauftragten Sachverständigen habe das SG trotz nachhaltiger Recherchen nicht ausräumen können. Das SG hat seine Auffassung deshalb auf das im Anschluss eingeholte Sachverständigengutachten von Dr. T vom 05.04.2005 sowie auf die im Verwaltungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten von Dr. Dr. X vom 28.12.2001 und von Dr. P vom 17.12.2001 gestützt. In einer das SG überzeugenden Weise hätten diese Sachverständigen dargestellt, dass bereits zum Zeitpunkt des Unfalls vom 10.06.1994 eine erhebliche Vorbelastung in der HWS des Klägers und auch der LWS bestanden habe. Die bei dem beschriebenen Unfall auf den Körper des Klägers wirkenden Kräfte könnten zur Überzeugung der Sachverständigen, denen sich das SG angeschlossen hat, die Veränderungen der Bandscheiben im HWS und LWS-Bereich des Klägers nicht verursachen. Wenn auch der Unfallhergang in Nuancen streitig geblieben sei, so stehe doch fest, dass es beim Spurwechsel des Lkws von der rechten auf die linke Spur, die vom Pkw des Klägers genutzt wurde, zu einem Seitenaufprall gekommen sei. Die dabei auftretenden Kräfte seien sowohl im Gutachten von Dr. P wie auch im Gutachten von Dr. T beschrieben worden. Der Vortrag des Klägers, der sich im Wesentlichen auf eine Stellungnahme der "GutachtensteIle W" beziehe, stütze sich im Wesentlichen auf Spekulationen. Auch das die Zusammenhangsfrage bejahende Gutachten von Prof. Dr. I berücksichtige nicht die für eine Bandscheibenschädigung notwendige mechanische Dynamik, die durch den beschriebenen Unfall nicht habe verursacht werden können. Wie Dr. T überzeugend ausgeführt habe, habe beim Kläger eine so gravierende Vorveranlagung bestanden, dass es zu der jetzt vorliegenden Schadensmanifestation auch ohne ein äußeres Ereignis habe kommen können. Um die Kausalität bezüglich einer Bandscheibenprotrusion und eines degenerativen Cervicalsyndroms beim Kläger zu bewerten, sei es daher erforderlich, die Frage zu klären, ob das Unfallgeschehen geeignet war, eine wesentliche Vorverlagerung der Schadensmanifestation zu bewirken. Eine solche, für die Begründung der Kausalität notwendige Vorverlagerung der Schadensmanifestation um mindestens ein Jahr könne nach den vorliegenden Befunden nicht begründet werden. Das Ausmaß der bestehenden Schadensanlage, die jederzeit eine Schadensmanifestation ohne jegliche äußere Verursachung ermöglicht hätte, und ferner der Umstand, dass die Bandscheibenmassenverlagerungen beim Kläger im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen in drei Bewegungssegmenten nämlich C3/C4, C4/C5 und C6/C7 festgestellt worden seien, sprächen dagegen. Eine solche mehrsegmentale Befundkonstellation, gerade wenn sie in Kombination mit einer prädiskotischen Deformität (Blockwirbelbildung C5/C6) vorliege, spreche gegen eine unfallbedingte Verursachung und für eine schicksalhafte Entstehung der Bandscheibenmassenverlagerungen. Beim Kläger sei es daher wahrscheinlicher, dass es auch ohne das Unfallgeschehen vom 10.06.1994 im Laufe von einem Jahr zur Ausprägung eines degenerativen Cervicalsyndroms im Rahmen einer Bandscheibenprotrusion der HWS gekommen wäre. Eine unfallbedingte Teilverursachung sei zwar möglich, jedoch nicht wahrscheinlich. Der Frage einer psychischen Schädigung des Klägers durch das Unfallgeschehen im Sinne eines posttraumatischen Psychosyndroms habe das SG nicht nachgehen müssen, da hierfür jegliche Anhaltspunkte fehlten. Schon im Erstgutachten von Prof. Dr. I werde der psychische Befund des Klägers als unauffällig beschrieben. Auch Dr. Dr. X beschreibe den psychopathologischen Befund des Klägers als unauffällig. Zeigten sich aber bereits im engeren Zusammenhang zum Unfallgeschehen keine psychischen Reaktionen, so erscheine eine Verursachung einer wie auch immer gearteten psychischen Störung durch das Unfallgeschehen als äußerst unwahrscheinlich.
38Gegen dieses ihm am 31.01.2006 zugestellte Urteil richtet sich die vom Kläger am 15.02.2006 eingelegte Berufung, die er auf das Gutachten Prof. Dr. I und die Stellungnahmen der Dres. W und C stützt. Dr. T sei bereits zu Unrecht davon ausgegangen, dass beim Unfall nur ein seitlicher Aufprall des Lkw stattgefunden habe. Vielmehr sei es, wie Dipl.-Ing. A dargelegt habe, zu einem kombinierten Seit- und Heckaufprall mit einer Verdrehung des Oberkörpers mit Anprall des Kopfes und damit einhergehender erheblicher Einwirkung auf die HWS gekommen. Entgegen Dr. T sei es auch nicht bereits bei früheren Unfällen zu einer HWS-Distorsion gekommen. Der hier in Rede stehende schwere Unfall könne auch zu Bandscheibenvorfällen führen. Es sei auch unberücksichtigt geblieben, dass es zu einer Hirnstammläsion bei Hirntraumatisierung gekommen sei. Am Unfalltag hätten auch schon LWS-Beschwerden mit Ausstrahlung in die Beine bestanden. Gemäß Dr. S bestehe überdies eine PTBS.
39Der Senat hat auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Neurologin und Psychiaterin Dr. I und den Orthopäden Dr. P mit der Erstattung von Sachverständigengutachten beauftragt. Bei Dr. I (Gutachten vom 12.04.2007) hat der Kläger von einem 1985 erlittenen Schleudertrauma infolge eines Verkehrsunfalls und von Nackenmassagen in der Examenszeit 1991/92 berichtet. Diagnostiziert hat sie ein hirnorganisches Psychosyndrom nach Schleudertrauma Grad III am 10.06.1994 (F06.9; S 13.6Z), ein HWS- und LWS-Syndrom (M54.2; M54.4), ein chronisches Schmerzsyndrom (R52.2), eine chronische depressive Erkrankung (F33.2) und eine posttraumatische Belastungsreaktion (F41.3). Infolge des Unfalls von 1994 habe der Kläger eine HWS-Symptomatik mit konsekutiver neurasthenischer Symptomatik und ein Psychotrauma erlitten. Letzteres drücke sich mit den Worten "ich dachte, das war´s" als Unfallbeschreibung deutlich aus. Dies zeige sich auch in seinen Alpträumen und Panikattacken, weshalb er sich in psychotherapeutische Behandlung habe begeben müssen. Die Beschwerden seien unfallbedingt, wie sich aus dem zeitlichen Zusammenhang, dem posttraumatischen Leistungsknick und den Therapieberichten von Prof. I ableiten lasse. Vorher sei der Kläger beschwerdefrei gewesen. Andere Faktoren könnten nicht eruiert werden. Der Grad der MdE betrage 60 v.H.
40Dr. P (Gutachten vom 07.08.2007) hat als Unfallfolge ein chronisches myofasciales Schmerzsyndrom nach HWS-Syndrom mit cervikocephaler Symptomatik diagnostiziert. Eigenständige prätraumatische Krankheiten oder Krankheitsanlagen, die für die nach dem Unfall aufgetretene Beschwerdesymptomatik angeschuldigt werden könnten, lägen nicht vor. Wenn auch davon auszugehen sei, dass der Unfall ungeeignet gewesen sei, einen Bandscheibenvorfall mit Erstschaden herbeizuführen, müsse er dennoch im Hinblick auf die ungewöhnliche und langandauernde Beschwerdesymptomatik ursächlich auf den Unfall zurückgeführt werden. Der Primärschaden sei durch das nach dem Unfall schlagartig veränderte Sozialverhalten des Klägers nachgewiesen, das nur als Unfallfolge gewertet werden könne. Die Beschwerden des Klägers seien ohne den Unfall nicht denkbar, die MdE betrage 60 v.H.
41Der Kläger, der ab dem 01.11.2006 Berufsunfähigkeitsrente vom Rechtsanwaltsversorgungswerk bezieht, hat ferner ein Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Dipl.-Psychologen Dr. L vom 24.01.2007 zur Frage der Berufsunfähigkeit im Rahmen des Rechts der Rechtsanwaltsversorgung vorgelegt. Hierin wird u.a. von einem stationären Aufenthalt des Klägers vom 09.07.-22.09.2006 in der T-Klinik in N berichtet, wo eine schwere depressive Episode vor dem Hintergrund einer PTBS sowie eine anhaltende Schmerzstörung diagnostiziert worden seien. Der Kläger hat angegeben, sich auch nach den Unfällen zunächst "durchlaviert" und auch Mandate akquiriert zu haben. Ab 2002 sei es ihm "richtig beschissen" gegangen. Anfang 2003 habe er sich dann bei dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. S in psychiatrische Behandlung begeben und sei ab Sommer 2003 gehäuft wegen körperlicher und psychischer Beschwerden arbeitsunfähig gewesen. 2006 hätten diese Beschwerden dann weiter zugenommen. Seit Juli 2006 arbeite er gar nicht mehr. Dr. L hat die gestellten Diagnosen "unzweifelhaft" als Folge des Unfalls vom 10.06.1994 angesehen.
42Ein gegen den seinerzeitigen Berichterstatter, VRiLSG H, gestelltes Befangenheitsgesuch mit der Begründung, dass der Richter eine für falsch gehaltene Vorgabe einer später aus anderen Gründen nicht beauftragten Sachverständigen, nämlich den Kläger nicht in Anwesenheit einer Begleitperson untersuchen zu wollen, durch sein Verhalten unterstützt habe, hat der Senat mit Beschluss vom 03.06.2009 zurückgewiesen.
43Der Senat hat sodann von Amts wegen ein Gutachten von dem Neurologen und Psychiater Dr. L eingeholt (Gutachten vom 18.06.2010). Der bei dieser Begutachtung ebenfalls anwesende behandelnde Arzt Dr. S habe angegeben, dass der Kläger nur zu rein supportiven Gesprächen zu ihm komme. Der Kläger habe ferner angegeben, zur Behandlung zu Dr. C aus der T-Klink zu gehen. Auf die Frage, welche Therapien denn dort stattfänden, habe der Kläger geantwortet, Dr. C versuche, ihm Tipps zu geben. In Schmerzbehandlung sei er bei Dr. C, in hausärztlicher Behandlung bei Dr. I. Stationär psychiatrisch sei er 2006, 2007 und 2009 behandelt worden. Vor 2003 sei er nicht in psychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlung gewesen. Er habe einen Führerschein und fahre auch Pkw. Dr. L kam zu dem Ergebnis, ein hirnorganisches Psychosyndrom bestehe bei dem Kläger mit Sicherheit nicht. Eine strukturelle Verletzung des Gehirns sei nie nachgewiesen worden. Vielmehr sei es infolge des Unfalls zu einer allenfalls geringgradigen Gehirnerschütterung gekommen, die aber jedenfalls folgenlos ausgeheilt sei. Ferner liege eine somatoforme Schmerzstörung vor sowie eine mittelgradige depressive Episode. Eine PTBS bestehe definitiv nicht. Der Unfall sei keine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde. Ein sogenanntes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, Träumen oder Albträumen sei einigermaßen zeitnah zum Unfall nicht dokumentiert. Allererste psychopathologische Auffälligkeiten habe Dr. S vielmehr erst 2005 diagnostiziert. Auch liege kein Vermeidungsverhalten vor. Der Kläger spreche über den Unfall. Die aktuell bestehenden psychischen Beschwerden seien nicht wahrscheinlich ursächlich auf den Unfall zurückzuführen, zumal erstmals neun Jahre nach dem Unfallereignis psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen worden sei. Traumatische Veränderungen der HWS seien nie nachgewiesen worden, die Diagnose Dr. I eines HWS-Schleudertraumas Grad III daher falsch.
44Auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG ist Prof. Dr. I hierzu erneut gehört worden (ergänzende Stellungnahme vom 11.01.2010). Sie hat an ihrer Beurteilung festgehalten und wiederum auf das Fehlen vor dem Unfall bestehender psychiatrischer Krankheiten hingewiesen. Hierzu seinerseits von Amts wegen um ergänzende Stellungnahme gebeten, hat Dr. L unter dem 18.02.2011 ausgeführt, dass sich der Kläger bei dem Unfall eine Schädelprellung und möglicherweise ein HWS-Schleudertrauma Grad II nach Erdmann zugezogen habe. Wenn Letzteres der Fall gewesen sei, sei es allerdings verwunderlich, dass sich der Kläger erst fünf Tage später in stationäre Behandlung begeben habe, weil ein solches Schleudertrauma initial sehr starke Schmerzen auslöse. Ein hirnorganisches Syndrom liege hingegen mit Sicherheit nicht vor. Dies impliziere nämlich eine strukturelle Verletzung des Gehirns, die gerade nicht nachgewiesen sei.
45Dem hat der Kläger unter Vorlage weiterer Stellungnahmen der Dres. I und C nicht folgen können. Ferner hat er einen vierseitigen Auszug aus einer Stellungnahme des Psychiaters und Psychotherapeuten Dr. B vom 12.09.2010 vorgelegt, der - ohne Behandler zu sein - den Kläger aus mehreren persönlichen Gesprächen in der T-Klinik N kenne. Dieser hat die Kriterien für eine PTBS als erfüllt angesehen, aus der sich allein eine MdE um mindestens 80 v.H. ergebe. In seiner auch hierzu eingeholten zweiten ergänzenden Stellungnahme vom 12.04.2011 hat Dr. L darauf hingewiesen, dass ein - ohnehin nicht nachgewiesenes - hirnorganisches Psychosyndrom eine Hirnleistungsschwäche bedeute, die mit der zunächst über Jahre fortgeführten rechtsanwaltlichen Tätigkeit des Klägers auch halbtags nicht vereinbar sei. Ansonsten hat er an seinen bisherigen Aussagen festgehalten. Alsdann ist erneut Prof. Dr. I nach § 109 SGG gehört worden (Stellungnahme vom 24.08.2011). Sie hat nunmehr gemeint, Hirnverletzungen seien beim Kläger deshalb nicht nachgewiesen, weil Kernspintomogramme keine genügende Auflösung aufwiesen. Sie hätten aber beim Kläger sicherlich vorgelegen. Auch hat sie eingeräumt, dass ihre 13 Jahre nach dem Unfall durchgeführten Tests zu Konzentration und Intelligenz nichts zu einer Unfallbedingtheit besagten. Schließlich habe aber Prof. Dr. I ähnliche Aufmerksamkeitstests bereits in den ersten zwei Jahren nach dem Unfall durchgeführt. Hiernach habe der Kläger unfallbedingt Einschränkungen erlebt. Was den Nachweis einer posttraumatischen Belastungsreaktion und eines chronischen Schmerzsyndroms angehe, liege hier eine Schwäche ihres eigenen Gutachtens. Sie gehe davon aus, dass alle beim Kläger bestehenden psychopathologischen Auffälligkeiten hirnorganisch bedingt seien.
46Der Kläger hat privat durch die Neurologin und Psychiaterin Dr. A aus N eine nicht datierte "Qualitätskontrolle des Gutachtens Dr. L" veranlasst, die dessen Gutachten für zu kurz und zu kursorisch und deshalb für unzureichend hält. Auch Dr. C kann in einer weiteren vom Kläger privat veranlassten Stellungnahme vom 16.07.2012 dem Gutachten Dr. L nicht folgen.
47Die mündliche Verhandlung vom 18.07.2012 wurde vertagt. Im Anschluss daran hat der Kläger u.a. eine Honorarrechnung Prof. Dr. I vom 16.09.1994 vorgelegt, in der u.a. eine "psych. Untersuchung" am 06.07.1994 und, vom 12.07 - 13.08.1994, 13 psychotherapeutische Behandlungen bzw. eingehende therapeutische Gespräche - nach Klägerangaben wegen Vegetativsymptomatik der Schädelprellung - abgerechnet wurden.
48Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 17.09.2012 sind Dr. L (§ 106 SGG) und Prof. Dr. I (§ 109 SGG) als Sachverständige gehört worden. Dr. L hat erläutert, für die Annahme einer PTBS fehle es an einigermaßen zeitnah zum Unfall dokumentierten passenden Primärschäden. Auf welcher Grundlage die Liquidation Prof. Dr. I erfolgt sei, könne er nicht sagen. Verlauf und Dauer der unfallnah dokumentierten Schmerzen des Klägers seien nicht als Brückensymptome einer PTBS zu werten. Die Diagnosekriterien für eine PTBS seien nicht erfüllt. Prof. Dr. I hat erklärt, sie habe Befunde erhoben, die in Richtung einer Hirnstammverletzung gingen, wozu auch das hirnorganische Psychosyndrom gehöre, und nunmehr Zeichen einer posttraumatischen Epilepsie gesehen, denen durch Einholung eines neuropsychologischen Gutachtens nachzugehen sei. Dr. L war bei ihrer Vernehmung anwesend, aber nicht mehr nach der Beratung, so dass der Senat ihn nicht ergänzend befragen konnte. Die mündliche Verhandlung wurde erneut vertagt.
49Aus einer danach eingegangenen weiteren Stellungnahme Dipl.-Ing. A vom 12.09.2012 geht dessen Auffassung hervor, dass beim Fahrzeuganprall anlässlich des streitigen Arbeitsunfalls eine Geschwindigkeitsdifferenz vom mindestens 20-25 km/h vorgelegen habe, die gravierende HWS-Verletzungen verursachen könne. Dr. L bagatellisiere das Unfallgeschehen.
50Zu den Äußerungen Prof. Dr. I im Termin vom 17.09.2012 hat sich dann Dr. L unaufgefordert mit Schreiben vom 18.09.2012 zu Wort gemeldet, woraufhin ihn der Kläger als befangen abgelehnt hat. Hinsichtlich (nur) dieser ergänzenden Äußerungen hat der Senat mit Beschluss vom 27.11.2012 das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt.
51Die erneut nach § 109 SGG gehörte Prof. Dr. I (Stellungnahme vom 27.08.2013) hat nach Auswertung von vom Kläger eingereichten EEG-Ausdrucken dort keine eine Epilepsie beweisenden, aber doch ihrer Ansicht nach hierauf hinweisende Zeichen gefunden und eine neuropsychologische Untersuchung zur Klassifikation des vorliegenden hirnorganischen Psychosyndroms für sinnvoll gehalten. Wann eine Epilepsie ggfs. aufgetreten sei, könne sie nicht sagen.
52Von Amts wegen sind daraufhin ein Hauptgutachten des leitenden Abteilungsarztes am Epilepsiezentrum Bethel Dr. C vom 14.01.2015 (Anlage des Dokuments; Fertigstellung in 04/15) aufgrund stationärer Untersuchung des Klägers vom 08.-10.09.2014, ein kernspintomografisches Zusatzgutachten des Neurologen, Zusatzbezeichnung Magnetresonanztomografie, Dr. X1 (Bethel) vom 20.03.2015 und ein neuropsychologisches Zusatzgutachten des Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. H (Bethel) vom 27.03.2015 eingeholt worden. In der Beweisanordnung vom 11.10.2013 sind die Sachverständigen gebeten worden zu beachten, dass Dr. L bezüglich seiner Äußerungen ab Bl. 1173 (Schreiben vom 18.09.2012) der Prozessakte als befangen anzusehen und zu diesen Ausführungen nicht inhaltlich Stellung zu nehmen sei.
53Dr. C hat darauf hingewiesen, dass Prof. Dr. I in dem am 12.04.2007 erstellten Gutachten keine epilepsietypischen Potenziale gefunden habe. In den vorliegenden EEGs von 2009 fand der Sachverständige Dr. C ebenfalls keine epilepsietypischen Potenziale. Die Zungenmotilität war unauffällig, keine Zungenbissnarbe. Während der gutachtlichen Untersuchung ist es zu einem 15-sekündigen Zittern der rechten Hand gekommen, für das sich kein EEG-Korrelat fand und das der Sachverständige als nicht epileptisch und nicht organisch einordnet. Die Videoauswertung der Schlafenszeit ergab ein Aufwachereignis beim Kläger gegen 23:17 Uhr, das der Sachverständige als nicht-epileptische normale Schreckreaktion bei Aufwachen aus dem Schlaf einordnet. Der Sachverständige sieht ein "buntes Bild der Anfallsbeschreibung", mit dem der Kläger nur Phänomene schildere, die an kleinere Anfälle erinnerten. Im Rahmen der stationären Untersuchung hätten weder im gut 20-stündigen Videomonitoring noch im Routine-EEG epilepsietypische Potenziale registriert werden können. Das kernspintomografische Zusatzgutachten habe einen cerebralen Normalbefund ohne Hinweise auf einen möglichen epileptogenen Fokus erbracht. Es ergebe sich kein stimmiges Bild und somit kein Hinweis auf eine Epilepsie. Eine Epilepsie sei zwar auch bei unauffälligem EEG und Kernspin möglich, scheide hier aber wegen der unschlüssigen Epilepsieanamnese aus. Ein hirnorganisches Psychosyndrom sei angesichts des neuropsychologischen Zusatzgutachtens Dr. H ebenfalls abzulehnen. Prof. Dr. I sei insoweit nicht zu folgen. Sie habe überwiegend subjektive Beschwerdeskalen eingesetzt, um dieses Ergebnis zu untermauern, was angesichts der bereits von Prof. Dr. I festgestellten Aggravationstendenzen und der von Dr. H festgestellten suboptimalen Leistungsbereitschaft nicht überzeuge. Ein zeitlich unfallnahes hirnorganisches Psychosyndrom lasse sich ohnehin nicht sichern. Zwar könne die von Prof. Dr. I berichtete nächtliche Taubheit des rechten Armes bei einem epileptischen Anfall auftreten. Dies sei aber ein sehr unspezifisches Symptom. Letztlich gebe es in der Zusammenschau aller Einzelheiten keinen Hinweis auf eine Epilepsie. Insbesondere sei das von Prof. Dr. I als deutliches Zeichen einer Epilepsie gewertete Abreißen der Haube bei der EEG-Untersuchung unter Flackerlicht keinesfalls epilepsiebeweisend, da Fotoepilepsie ein seltenes epileptisches Symptom sei. Dr. X1 hat ein cerebrales Kernspintomogramm (MRT) angefertigt und einen alterstypischen Normalbefund erhoben. Dr. H hat den Kläger zahlreichen Tests unterzogen, hierbei auch solchen, die vermeintlich die Gedächtnisleistung, real jedoch die Leistungsmotivation des Probanden überprüfen. Dies sind der TOMM- und der Rey 15-Item Test, wo der Kläger auffällige Werte nahe der Zufallsquote zeigte, was auf suboptimale Leistungsbereitschaft hindeute. Auch bei Prof. Dr. I sei der Rey-Test auffällig gewesen. Somit kämen erhebliche Zweifel an der Validität der auch sonst nahezu durchgängig unterdurchschnittlich bis weit unterdurchschnittlich ausgefallenen Testergebnisse auf. Eine Aussage zur kognitiven Leistungsfähigkeit des Klägers sei damit nicht valide möglich. Ob neuropsychologische Störungen oder ein hirnorganisches Psychosyndrom vorlägen, könne deshalb nicht gesagt werden.
54Mit Schriftsatz vom 19.05.2015 hat sich für den seinerzeit noch anderweitig anwaltlich vertretenen Kläger Rechtsanwalt T, N, gemeldet und ausgeführt, seine Vollmacht erstrecke sich derzeit zunächst ausschließlich auf die Stellung und Begründung von Befangenheitsanträgen gegen die Sachverständigen Dr. C und Dr. H. Im Übrigen verbleibe es bei der bisherigen Bevollmächtigung von Rechtsanwalt G, E. Für den Kläger hat er sodann Befangenheitsanträge gegen Dr. C und Dr. H gestellt, die der Senat mit Beschlüssen vom 24.09 und 20.10.2015 zurückgewiesen hat. Auf die Antragsbegründung vom 19.05.2015 (Bl. 1381 bis 1407 der Gerichtsakten) und die genannten Beschlüsse des Senats wird Bezug genommen. Dem Akteneinsichtsantrag von Rechtsanwalt T ist der Senat am 22.06.2015 durch Übersendung aller bei ihm geführten und beigezogenen Akten in dessen Kanzlei nachgekommen.
55Nach Mandatsniederlegung durch Rechtsanwalt G am 07.08.2015 hat Rechtsanwalt T am 21.08.2015 um Verlängerung der Frist zur Rückgabe der Akten bis 29.08.2015 gebeten, da noch geklärt werden müsse, ob der Kläger nunmehr ihn mandatiere und da noch Kopien der sehr umfangreichen Akten anzufertigen seien. Bei Rückgabe der Akten am 04.09.2015 teilte Rechtsanwalt T mit, dass er Fehlseiten und Abheftungsfehler festgestellt habe; er habe die Akten in diesem Zustand fotokopiert und keinerlei Veränderungen vorgenommen. Im Übrigen benötige er Zeit, sich "vollumfänglich und mit großem Zeitaufwand" in die Sache einzuarbeiten. Unter dem 26.11.2015 hat sich Rechtsanwalt T sodann für den Kläger bestellt und zunächst beantragt, die dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Akten zu vervollständigen und in einen ordnungsgemäßen Zustand zu bringen. Die Durchsicht der ihm überlassenen Akten habe ergeben, dass in Band 1 der Verwaltungsakte die Seiten 156 und 181 bis 189 fehlten. Band 2 sei verknickt und äußerlich beschädigt, teilweise seien die offenbar häufiger ein- und ausgehefteten Seiten nicht in der richtigen Reihenfolge. Anscheinend fehlten Seiten, die Seiten 256, 257, 314 und 364 seien hingegen dPt, jedoch mit abweichendem Inhalt. Unregelmäßigkeiten gebe es auch bei den Seiten 555-568, 587, 599, 658, 669, 986 und 987 der weiteren Bände der Verwaltungsakten. In der Gerichtsakte finde sich ein Seitensprung von Seite 819 zu Seite 880, auf Seite 1122, 1124 und 1132 fänden sich leere Blätter. Bei der Stellungnahme des Dr. B vom 12.09.2010, Blatt 978 bis 981, fehlten die - vom Kläger nunmehr nachgereichten - Seiten 2 bis 6, obwohl sie vom Kläger vollständig zu den Akten gereicht worden seien. Da sich Dr. B auf den fehlenden Seiten als einziger kompetent mit den Diagnosekriterien der PTBS auseinandersetze, seien alle darauf aufbauenden Gutachten mangelhaft. Schließlich seien auch viele der in den Akten erwähnten Röntgen- und MRT-Aufnahmen nicht bei den Akten. Nach erfolgter Vervollständigung der Verwaltungs-, Gerichts- und RöBi-Akte beantrage er, ihm erneut Akteneinsicht zu gewähren. Er beantrage außerdem, aktenkundig zu machen, welchem Unfallablauf das Gericht folgen wolle. Nach Aktenlage sei folgender Unfall zugrunde zu legen: "Am 10.06.1994 befuhr der Kläger bei Regen die linke Fahrspur der BAB 61 in Fahrtrichtung Düsseldorf mit Richtgeschwindigkeit, als plötzlich der niederländische 40-Tonnen-LKW des 01 im Überholverbot und ohne Blinker von der rechten Fahrspur auf die vom Kläger genutzte linke Fahrspur fuhr. Der Kläger fuhr unter den hinteren Teil des LKW-Hängers." Die "hohe Differenzgeschwindigkeit von 35-40 km/h" mache alle beim Kläger vorhandenen Verletzungen möglich und plausibel. Auch habe subjektiv wie objektiv Lebensgefahr bestanden. Es sei zu einem erheblichen Kopfanprall des Klägers und einer Körperdrehung in Längs- und Querrichtung gekommen, wie sich aus dem Rekonstruktionsgutachten von Dipl.-Ing. A ergebe. Auch im aktenkundigen Polizeibericht vom 10.06.1994 sei festgehalten, dass der Kläger nicht rechtzeitig ausweichen konnte und unter den Anhänger fuhr. Soweit die Sachverständigen selber biomechanische Überlegungen anstellten, überschritten sie ihre Kompetenz. Soweit die Beklagte in ihren Gutachtenaufträgen von einer "seitlichen Kollision zweier nebeneinander herfahrender Fahrzeuge" gesprochen habe, führe diese verharmlosende Darstellung zu falschen Gutachtenergebnissen. Er beantrage, auszusprechen, dass die Gutachten des Dr. Dr. X vom 28.12.2001 und des Dr. P vom 17.12.2001 sowie das Gutachten des Dr. T nicht verwertet werden dürfen. Darüber hinaus beantrage er auszusprechen, dass auch das Gutachten des Dr. L sowie dessen nachfolgende ergänzende Stellungnahmen und seine mündliche Einvernahme nicht verwertbar seien. Die Auffassung des Senats, dass trotz des Senatsbeschlusses vom 27.11.2012 Dr. L nur im Hinblick auf seine Äußerungen ab Bl. 1173 der Gerichtsakte als befangen anzusehen sei, sei nicht haltbar. Entweder sei ein Gutachter befangen oder nicht. Im Arbeitskreis "Unfallversicherung" bei dem Landessozialgericht in Essen am 22.03.2006 sei ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass das Gericht das Gutachten eines abgelehnten Sachverständigen nicht verwerten dürfe, wenn es das Ablehnungsgesuch für begründet gehalten habe. Außerdem gehe auch Dr. L von einem falschen Unfallgeschehen aus. Auch die Gutachten von Dr. C und Dr. H seien nicht verwertbar, weil sie auf den falschen Annahmen der Vorgutachter zum Unfall und auf den Äußerungen des befangenen Dr. L beruhten. Auch dies beantrage er ausdrücklich auszusprechen. Deshalb seien alle den Zusammenhang verneinenden Gutachten unbrauchbar.
56Der Kläger trägt weiter vor, der Beratungsarzt der Beklagten habe bei ihm eine Persönlichkeitsveränderung konstatiert. Die Beklagte habe mehrfach im Zusammenhang mit der Anschlussheilbehandlung und der Verletztengeldzahlung die Unfallbedingtheit der Beschwerden anerkannt. Die Gefährlichkeit von Kopfverletzungen untermauert der Kläger mit einem Artikel aus der Apotheken-Umschau, der zeige, dass die Sachverständigen insoweit nicht auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft seien.
57Mit Ladungsverfügung vom 30.11.2015 hat der Senatsvorsitzende Termin zur mündlichen Verhandlung am 13.01.2016 anberaumt. Zugleich hat er einerseits die Verwaltungsakten der Beklagten mit der Bitte um Überprüfung der Aktenführung übersandt, andererseits dem Kläger erläutert, dass die Gerichtsakten vollständig seien. Der "Sprung" von Blatt 819 zu Blatt 880 beruhe auf einer versehentlich falschen Paginierung. Warum leere Seiten gerügt würden, bleibe unklar, eine Unvollständigkeit der Akten ergebe sich daraus nicht.
58Die Beklagte hat mitgeteilt, Band 1 ihrer Akten sei vollständig. Blatt 49 sei hinter Blatt 44 geheftet, Blatt 156 zwischen 150 und 151. Blatt 181 bis 189 existierten nicht, es handele sich um eine Fehlnummerierung. In Band 2 fehlten auf Blatt 271, 289, 312 und 341 nicht entscheidungserhebliche Taxiquittungen, die Abrechnung eines Erstattungsanspruchs der AOK und eine Krankengymnastik-Rechnung. Seite 314 und 364 seien jeweils nur einmal vorhanden und versehentlich gemeinsam mit Seite 319 und 369 abgeheftet gewesen. Das Fehlen der Seiten 255 ff. beruhe erneut auf einem Paginierungsfehler, ebenso wie die Doppelvergabe der Seitennummer 587. Blatt 556 bis 567 beträfen Kopien von Gesetzestexten zur Rechtsanwaltsversorgung. Seite 569 und 599 seien bei 564 und 594 abgeheftet gewesen. Blatt 986 und 987 seien Kopien der Klage vom 07.11.2002, deren Originale bei Blatt 976, 977 abgeheftet seien. Alle fehlenden Seiten seien nachgeheftet worden. Die Bände 2 und 5 habe die Beklagte in jeweils zwei Bände aufgeteilt, um erneutes Auseinanderfallen zu vermeiden. Diese Stellungnahme ist dem Kläger am 28.12.2015 per Fax übersandt worden.
59Der Kläger hat daraufhin mit Fax vom 07.01.2016 die Aufhebung des Termins am 13.01.2016 sowie erneute Akteneinsicht beantragt und die Bescheidung seiner diversen Verfahrensanträge angemahnt. Er hat außerdem beantragt, das Verfahren für mindestens drei Monate zum Ruhen zu bringen, bis die Beklagte über seinen bei ihr gestellten Antrag vom 16.12.2015 entschieden habe, mehrere ärztliche Stellungnahmen und Gutachten aus den Verwaltungsakten zu löschen. Die Gerichtsakte könne nicht vollständig sein. Die gerügten leeren Seiten 1122, 1124 und 1132 enthielten die Faxkennung der früheren Bevollmächtigten. Die Übersendung leerer Seiten sei ungewöhnlich, ebenso wie die Tatsache, dass das Fehlen von Seiten aus der Stellungnahme von Dr. B nicht aufgefallen sei. MRT-Bilder seien nicht vorhanden gewesen. Es stelle sich die Frage, wo diese Bilder seien. Die Akte sei also offenbar nicht vollständig. Die Akten seien nach Mitteilung der Beklagten teilweise neu angelegt und ein neuer Aktenband angelegt worden. Soweit Fehlnummerierungen behauptet würden, bestünden Zweifel, ob es diese Seiten nicht doch gegeben habe. Eine ordnungsgemäße und faire Gerichtsverhandlung sei daher derzeit nicht möglich. Der Termin sei nicht ordnungsgemäß vorzubereiten.
60Der Senatsvorsitzende hat dem Kläger unter dem 08.01.2016 mitgeteilt, dass es bei dem geladenen Termin am 13.01.2016 verbleibt. Unmittelbar nach Rückgabe der Akten durch die Beklagte am 11.01.2016 hat der Vorsitzende dem Kläger angeboten, vor dem Termin oder beginnend mit der Terminsstunde am 13.01.2016, 13.45 Uhr, im Sitzungssaal noch einmal Akteneinsicht zu nehmen. Hiermit war eine zeitliche Beschränkung nicht verbunden. Der Kläger hat sich hierzu bis zum Terminsbeginn nicht geäußert. Der Vorsitzende des Senats hat daraufhin vor Beginn der mündlichen Verhandlung Gelegenheit gegeben, die Gerichts- und Verwaltungsakten einzusehen und darauf zu kontrollieren, ob sie nunmehr vollständig seien. Der Senat werde die Einsichtnahme abwarten, mindestens stehe hierfür eine Stunde zur Verfügung.
61Der Kläger hat es abgelehnt, Akteneinsicht zu nehmen und stattdessen nach Eintritt in die mündliche Verhandlung unter Bezugnahme auf seinen Schriftsatz vom 13.01.2016 beantragt,
621. die dem Rechtsstreit zugrundeliegenden Akten zu vervollständigen,
632. ihm die Akten nach Vervollständigung zur Akteneinsicht für zwei Wochen zur Verfügung zu stellen,
643. die Verhandlung zu vertagen.
65Die Akten seien weiterhin nicht vollständig. Er verweise auf die textleeren Seiten 1122, 1124 und 1132 und die weiterhin fehlenden MRT-Bilder. Akteneinsicht sei nach Vervollständigung der Akten für wenigstens zwei Wochen durch Übersendung an die Kanzlei erforderlich.
66Der Senat hat den Vertagungsantrag durch Beschluss abgelehnt. Ein Vertagungsanlass bestehe nicht. Dem Kläger sei ausreichend Gelegenheit gegeben worden, die Akten auf Vollständigkeit zu kontrollieren. Hierfür sehe der Senat eine Stunde als ausreichend an, da nur eine überschaubare Anzahl an Seiten auf Vollständigkeit zu überprüfen sei. Dieses Angebot habe der Kläger abgelehnt. Da er zuvor ausreichend Akteneinsicht genommen und die Akten umfassend ausgewertet habe, seien ihm die Akten hinreichend bekannt. Der Senat hat den Akteneinsichtsantrag deshalb als in Verzögerungsabsicht gestellt angesehen.
67Der Kläger hat daraufhin die Berufsrichter und die ehrenamtlichen Richterinnen des Senats wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Zur Begründung hat er auf das bereits maschinenschriftlich vorbereitete und mit handschriftlichen Ergänzungen versehene Befangenheitsgesuch vom 13.01.2016 verwiesen, auf das Bezug genommen wird (Anlage 2 zur Niederschrift vom 13.01.2016).
68Der Senat hat die mündliche Verhandlung fortgesetzt. Der Kläger hat dem widersprochen.
69Der Kläger beantragt,
70das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15.11.2005 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.02.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.10.2002 zu verurteilen, ihm nach seinem Arbeitsunfall vom 10.06.1994 ab dem 01.12.1995 eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 60 v. H. zu zahlen,
71hilfsweise,
72das Verfahren auszusetzen, bis die Beklagte über seine Anträge zur Löschung von beratungsärztlichen Stellungnahmen und Gutachten des Instituts für medizinische Begutachtung, Dr. S einerseits und der von der VBG beauftragten Gutachter Dr. X und Dr. P entschieden hat,
73nach Klärung des zutreffenden Unfallablaufes wegen der Unverwertbarkeit der Gerichtsgutachten des Dr. T, des Dr. L sowie von Dr. C und Dr. H vorsorglich,
74- ein neues orthopädisches Gerichtsgutachten nach § 106 SGG einzuholen unter Zugrundelegung des tatsächlichen Unfallablaufes, - ein neues neurologisch-psychiatrisches Gerichtsgutachten nach § 106 SGG einzuholen unter Zugrundelegung des tatsächlichen Unfallablaufes,
75ein weiteres Gutachten nach § 106 SGG zur PTBS unter Berücksichtigung des Sachverhaltes wie vom Sachverständigen A dargestellt einzuholen,
76die mündliche Vernehmung der Sachverständigen Dr. T und Dr. P, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen,
77sowie - schriftlich als Anlage zu Protokoll sinngemäß -
78auszusprechen, dass die Sachverständigengutachten, ergänzenden Stellungnahmen und mündlichen Äußerungen von Dr. T, Dr. L, Dr. C, Dr. H nicht verwertet werden dürfen
79die bereits anderweitig benannte Zeugin und Physiotherapeutin N, S-straße 00 in O zu vernehmen zu der Tatsache, dass von ihr bei den Begutachtungen des Klägers beobachtete Befunde und Auffälligkeiten von den Sachverständigen Dr. L und Dr. C verschwiegen wurden,
80den sachverständigen Zeugen, den Neurochirurgen Dr. P. C zu vernehmen, der ebenfalls schon mehrfach, u.a. vor und nach den Untersuchungen des Klägers durch die vorgenannten "Gutachter", den für befangen erklärten "Gutachter" Dr. L und Dr. C die gleichen Feststellungen gemacht hat, wie die Zeugin N.
81Die Beklagte beantragt,
82die Berufung zurückzuweisen.
83Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
84Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten - soweit sie Gegenstand der Akteneinsicht des Klägers in der Zeit vom 22.06. bis 04.09.2015 waren - insbesondere auf die gewechselten Schriftsätze, die medizinischen Berichte, Stellungnahmen und Gutachten sowie die Niederschriften der Termine zur mündlichen Verhandlung vom 17.09.2012 und 13.01.2016 nebst Anlagen verwiesen.
85Entscheidungsgründe:
86Der Senat konnte trotz des Befangenheitsgesuchs des Klägers in der aus dem Rubrum ersichtlichen Besetzung entscheiden (I.). Die zulässige Berufung ist jedoch nicht begründet (II.). Den noch offenen Hilfs- und Verfahrensanträgen des Klägers war nicht zu folgen (III.)
87I. Obwohl der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, er lehne die Richter des Senats, die seinen Vertagungsantrag abgelehnt haben, wegen Besorgnis der Befangenheit ab, kann der Senat unter Mitwirkung der abgelehnten Richter selbst in der Sache entscheiden, denn der Befangenheitsantrag ist offensichtlich unzulässig. Das Verbot der Selbstentscheidung (§§ 60 Abs. 1 SGG, 45 Abs. 1 der Zivilprozessordnung -ZPO-) gilt insoweit nicht (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 23. Juni 2015 - L 8 SO 50/13 -, juris-Rn. 34).
88Ist das Ablehnungsgesuch rechtsmissbräuchlich und deshalb offensichtlich unzulässig, entscheidet das Gericht darüber in der nach dem Geschäftsverteilungsplan vorgesehenen Besetzung, ohne dass es einer vorherigen dienstlichen Äußerung der abgelehnten Richter nach § 60 SGG i.V.m. § 44 Abs. 3 ZPO bedarf. In diesem Fall ist es auch nicht notwendig, über den Antrag in einem besonderen Beschluss zu entscheiden, sondern es kann im Urteil darüber mit entschieden werden (BFH, Beschluss vom 10. März 2015 - V B 108/14 -, juris-Rn. 15).
89Zu den rechtsmissbräuchlichen Gesuchen zählen das offenbar grundlose, nur der Verschleppung dienende und damit rechtsmissbräuchliche Gesuch und die Ablehnung als taktisches Mittel für verfahrensfremde Zwecke (vgl. Vollkommer, in: Zöller, ZPO, 31. Aufl. 2016, § 45 Rn. 4 m.w.N; BVerfG, Kammerbeschluss vom 15. Juni 2015 - 1 BvR 1288/14 -, juris-Rn. 15). Ein Befangenheitsgesuch kann außerdem als unzulässig abgelehnt werden, wenn es keinen oder nur einen von vornherein völlig ungeeigneten Ablehnungsgrund nennt, § 60 Abs. 1 SGG i.V.m. § 44 Abs. 2 S. 1 ZPO (BVerfG, Kammerbeschluss vom 02. Juni 2005 - 2 BvR 625/01, 2 BvR 638/01 -, juris; BSG, Beschluss vom 31. August 2015 - B 9 V 26/15 B -, juris-Rn. 15), z.B. wenn nur Tatsachen vorgetragen werden, die eine Befangenheit unter keinem denkbaren Gesichtspunkt begründen lassen (BSG, Beschluss vom 31. August 2015 - B 9 V 26/15 B -, juris-Rn. 15 m.w.N.). Maßgeblich dafür, ob der Antrag zu Recht als missbräuchlich abgelehnt worden ist, sind die im Antrag vorgebrachten Gründe; später geltend gemachte Gründe können nicht berücksichtigt werden (BFH, Beschluss vom 10. März 2015 - V B 108/14 -, juris-Rn. 13)
90An die Offensichtlichkeit des Rechtsmissbrauchs sind dabei strenge Maßstäbe anzulegen. Eine Selbstentscheidung ist nur zulässig, wenn die Begründung des Ablehnungsersuchens jeder Substanz entbehrt, so dass seine Verwerfung ein Eingehen auf den Verfahrensgegenstand nicht erfordert. Ist dies nicht der Fall, kommt eine Selbstentscheidung nicht in Betracht, da sich der abgelehnte Richter über eine bloße formale Prüfung hinaus durch die inhaltliche Entscheidung eines gegen ihn gerichteten Ablehnungsantrags nicht zum Richter in eigener Sache machen darf (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 23. Juni 2015 - L 8 SO 50/13 -, juris-Rn. 36).
91Auch nach Maßgabe dieser strengen Voraussetzungen ist das Befangenheitsgesuch des Klägers gegen die Richterinnen und Richter des Senats offensichtlich missbräuchlich, denn es dient ersichtlich allein dazu, mit untauglichen Mitteln die Vertagung der mündlichen Verhandlung zu erzwingen. Das Befangenheitsgesuch ist allein in Verschleppungsabsicht gestellt, wenn der Antragsteller ausschließlich eine Verzögerung des Verfahrens bezweckt (BGH 21.06.07, V ZB 3/07, juris-Rn. 7; BVerwG, Beschluss vom 09.07.1973,I D 45.73). Verfahrensfremde Zwecke werden z.B. verfolgt, wenn das Befangenheitsgesuch allein dazu dient, einen Termin zur mündlichen Verhandlung zu verhindern (BSG 26.7.07, B 13 R 28/06 R, juris-Rn. 9) bzw. eine zu Recht abgelehnte Terminsverlegung zu erzwingen (LSG Thüringen, Urteil vom 28.3.07, L 1 U 809/02; Meyer-Ladewig, SGG, 11. Aufl., § 60 Rn. 10c). Beide Voraussetzungen liegen hier vor.
92Mit dem Befangenheitsgesuch rügt der Kläger zwar vordergründig Verstöße des Senats gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens und des rechtlichen Gehörs, weil ihm die Gerichts- und Verwaltungsakten nicht erneut für zwei Wochen zur Akteneinsicht überlassen worden seien, zur Prüfung, ob von ihm gerügte Versäumnisse bei der Aktenführung beseitigt seien. Diese Rügen sind aber vollständig substanzlos und dienen ausschließlich der Verfolgung verfahrensfremder Zwecke.
93Die behauptete Gehörsverletzung ist fernliegend. Gemäß § 62 Halbsatz 1 SGG, der das schon durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierte prozessuale Grundrecht wiederholt, ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren. Entsprechend darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs. 2 SGG). Zu diesem Zweck haben die Beteiligten u.a. das Recht auf Akteneinsicht (§ 120 SGG; BSG, Urteil vom 11.12.2002, B 6 KA 8/02 R, juris-Rn. 23). Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs im Gerichtsverfahren hat u.a. zum Inhalt, dass die Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen haben müssen und ihnen dazu eine angemessene Zeit eingeräumt wird (BSG, a.a.O.). Daher muss ein Gericht einem Vertagungsantrag des Betroffenen entsprechen, wenn in der mündlichen Verhandlung keine Äußerung abgegeben werden kann, etwa, weil Tatsachen oder neue wesentliche rechtliche Gesichtspunkte aufgetreten sind, zu denen sich die Beteiligten noch nicht äußern konnten (BSG, a.a.O., m.w.N.). Eine Vertagung des Rechtsstreits kann aus erheblichen Gründen (§ 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO i.V.m. § 202 SGG) erforderlich werden, um einem Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu neuen Tatsachen oder Beweisergebnissen zu äußern (BSG, a.a.O., m.w.N.).
94Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist offensichtlich, dass es an einer substantiierten Begründung des Vertagungsantrages und damit auch des auf dessen Ablehnung gestützten Befangenheitsgesuchs fehlt. Denn dem Kläger und seinem neuen Bevollmächtigten standen die gesamten Gerichts- und Verfahrensakten vom 22.06.2015 bis 04.09.2015, also mehr als zwei Monate, in der Kanzlei des Bevollmächtigten zur Verfügung. Der Bevollmächtigte des Klägers hat diese Akten nach eigenem Bekunden kopiert und verfügte damit über den vollständigen Erkenntnis- und Wissensstand, wie ihn auch das Gericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat. Er hatte ganz offensichtlich auch ausreichend Zeit, die Akten intensiv durchzuarbeiten, wie seine detaillierten Angaben zum Akteninhalt belegen. Seine den Akteninhalt betreffenden Rügen betrafen sämtlich Aktenbestandteile oder Paginierungsfehler, aus denen sich keinerlei neuen oder wesentlichen den Streitgegenstand betreffenden Erkenntnisse ergeben konnten. Anderes hat auch der Kläger selbst nicht ansatzweise dargelegt.
95Die angeblich umfangreiche Prüfungsnotwendigkeit nach Vervollständigung der Akte ist offensichtlich vorgeschoben. Zu prüfen waren wenige, im Einzelnen bekannte und mit Blattzahlen bezeichnete Seiten. Diese Prüfung hätte binnen deutlich weniger als einer Stunde ergeben, dass die Akten gemäß den Angaben des Senats und der Beklagten über die Vervollständigung der Akten ergänzt worden waren. Dass hierfür ausreichend Zeit zur Verfügung stand, belegt die Tatsache, dass die um 14.10 Uhr begonnene Sitzung erst um 20.45 Uhr endete.
96Was der Kläger auf den angeblich fehlenden Aktenseiten vermutet und inwieweit dies für die Entscheidung erheblich sei, hat er zu keiner Zeit vorgetragen. Die vom Kläger zuletzt in den Vordergrund gestellten, angeblich leeren Seiten Blatt 1122, 1124 und 1132 der Akten lassen gerade durch das Vorhandensein der Faxkennung des seinerzeitigen Klägerbevollmächtigten auf den "leeren" Seiten und durch die Tatsache, dass Blatt 1123 als "Seite 2" des mit Blatt 1121 beginnenden Schriftsatzes bezeichnet ist, einwandfrei erkennen, dass hier lediglich leere Rückseiten mit kopiert und übersandt wurden. Dies musste dem Kläger umso klarer sein, als es sich um einen eigenen klägerischen Schriftsatz handelt. Bildgebende Befunde müssen nicht während des gesamten Verfahrens bei den Akten aufbewahrt werden, sondern werden regelmäßig den Eigentümern zurückgesandt. Die Zweiteilung zweier zu dicker Bände Verwaltungsakten ist auf das Verfahren ohne jeden Einfluss, es ändern sich hierdurch nicht einmal die Blattzahlen. Insgesamt war von den verschiedenen Vollständigkeitsrügen des Klägers der Streitstoff an keiner Stelle betroffen.
97Der Kläger hat sich, nachdem der Vorsitzende ihm unmittelbar nach Rückkehr der Akten von der Beklagten am 11.01.2016 Akteneinsicht - ohne Zeitbegrenzung - vor oder während des Termins am 13.01.2016 angeboten hatte, nicht mehr bei Gericht gemeldet, insbesondere auch nicht mitgeteilt, dass er von diesem Angebot keinen Gebrauch machen wolle oder verhindert sei. Er hat auch weder die Ablehnung seines Vertagungsantrages am 08.01.2016, noch die Nachricht des Vorsitzenden vom 11.01.2016 und die hierdurch jeweils dokumentierte Absicht des Senats, den Termin am 13.01.2016 nicht zu verlegen, zum Anlass genommen, einen Befangenheitsantrag zu stellen. Stattdessen hat er insgesamt mehr als 30 Seiten am 13.01.2016 verfasste Verfahrensanträge, darunter einen bereits maschinenschriftlich vorformulierten Befangenheitsantrag, in die mündliche Verhandlung mitgebracht und insbesondere durch die Vorfertigung des letzteren dokumentiert, dass es ihm ausschließlich darum ging, den Verhandlungstermin "platzen zu lassen". Denn wäre es um die Sache gegangen, hätte er durch Einreichung des bei gleicher Sachlage bereits unmittelbar nach der Mitteilung des Vorsitzenden über die nicht beabsichtigte Vertagung möglichen Befangenheitsantrages bequem eine Beschlussfassung hierüber noch vor der mündlichen Verhandlung herbeiführen können. Nachdem schon vorterminlich mehrfach dem Vertagungsantrag nicht stattgegeben worden war, der Kläger also wusste, dass der Senat nicht vertagen würde, kann dieses Vorgehen nur dahin gedeutet werden, dass einer Entscheidung über das Befangenheitsgesuch vor dem Termin aus dem Weg gegangen werden sollte, um eine erwartete ablehnende Entscheidung hierüber vermeiden und eine Aufhebung des Termins sicher erreichen zu können.
98II. Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Streitgegenstand ist - gemäß den gestellten Anträgen und dem Regelungsumfang der (bisher zu dem weiteren Unfall vom 04.08.1995 fehlenden) Verwaltungsentscheidungen und der erstinstanzlichen Entscheidung - allein ein Anspruch des Klägers auf Zahlung von Rente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 10.06.1994. Die auf entsprechende Änderung des klageabweisenden sozialgerichtlichen Urteils gerichtete Berufung ist aber unbegründet.
99Der Kläger, dessen Erwerbsfähigkeit aus keinem anderen Arbeitsunfall oder wegen Berufskrankheit um wenigstens 10 v.H. gemindert ist, hat keinen Anspruch auf Verletztenrente wegen der Folgen des anerkannten Arbeitsunfalls vom 10.06.1994. Der diesen Anspruch ablehnende Bescheid der Beklagten vom 21.02.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.10.2002 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Bei dem Kläger sind keine Folgen des Arbeitsunfalls vom 10.06.1994 verblieben, die ab dem mit der Berufung begehrten Rentenbeginn am 01.12.1995 einen Anspruch auf Rente nach Maßgabe einer MdE um wenigstens 20 v.H. verursacht haben. Der Senat hat sich nicht davon überzeugen können, dass weitere Gesundheitsstörungen des Klägers mit Wahrscheinlichkeit auf das Ereignis zurückzuführen sind.
100Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Ein - hier allein in Betracht kommender - Unfall ist nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führt. Als Folge eines Arbeitsunfalls sind Gesundheitsstörungen (nur) zu berücksichtigen, wenn das Unfallereignis und das Vorliegen der konkreten Beeinträchtigung bzw. Gesundheitsstörung jeweils bewiesen und die Beeinträchtigung mit Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist. Es ist mithin neben dem hier unstreitigen ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall (Unfallkausalität) auch die Kausalität zwischen dem Unfallereignis und einem Gesundheitserstschaden oder dem Tod des Versicherten (haftungsbegründende Kausalität) und dem Gesundheitserstschaden und ggfs. länger anhaltenden Unfallfolgen (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt, dass die Tatsachen, die die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung zur Zeit des Unfalls", "Unfallereignis" sowie "Gesundheits(erst)schaden" erfüllen sollen, im Grad des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen müssen. Demgegenüber genügt für den Nachweis der kausalen Zusammenhänge zwischen diesen Voraussetzungen der Grad der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die Glaubhaftmachung und erst Recht nicht die bloße Möglichkeit (BSG, Urteil vom 31.01.2012, B 2 U 2/11 R, juris-Rn. 17 m.w.N.; Urteil vom 24.07.2012, B 2 U 23/11 R, juris-Rn. 27; Senatsurteil vom 12.11.2014, L 17 U 189/10). "Hinreichend wahrscheinlich" bedeutet, dass mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht (BSG, Urteil vom 15.05.2012, B 2 U 31/11 R, juris-Rn. 34; Urteil vom 27.10.1989, 9 RV 40/88, juris-Rn. 17). Ist ein Arbeitsunfall nicht nachgewiesen oder lässt sich der ursächliche Zusammenhang zwischen diesem und den geltend gemachten Gesundheitsstörungen nicht wahrscheinlich machen, geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Versicherten (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 31.01.2012, B 2 U 2/11 R). Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen. Das schließt eine Prüfung ein, ob ein Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, eine bestimmte körperliche oder seelische Störung hervorzurufen (BSG, Urteil vom 09. Mai 2006, B 2 U 1/05 R, juris-Rn. 17). Beweisrechtlich ist außerdem zu beachten, dass der Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Es gibt keine Beweisregel des Inhalts, dass bei fehlender Alternativursache das angeschuldigte Ereignis die Ursache ist oder dass die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellte versicherte Ursache im naturwissenschaftlichen Sinn automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexen Krankheitsgeschehen zu einer Beweislastumkehr führen würde (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, juris-Rn. 20; Senatsurteil vom 15.10.2014, L 17 U 709/11).
101Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Kläger keinen Anspruch auf die begehrte Unfallrente. Zwar ist es bei ihm unfallbedingt zu einer HWS-Schleuderverletzung gekommen. Unfallfolgen, die über den 30.11.1995 hinaus bei dem Kläger zu einem 10 v.H. überschreitenden Grad der MdE führen, liegen jedoch nicht vor. Insbesondere sind weder höhergradige HWS-Verletzungen und/oder Bandscheibenvorwölbungen im Bereich der HWS (dazu nachfolgend 1.) oder LWS (dazu 2.), ein hirnorganisches Psychosyndrom (dazu 3.), eine posttraumatische Epilepsie (dazu 4.) noch eine PTBS oder eine sonst unfallbedingte psychische Störung (dazu 5.) als Unfallfolgen festzustellen. Bei dieser Einschätzung stützt sich der Senat insbesondere auf die im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten von Dr. T, Dr. P, Dr. Dr. X, Dr. L in dem unter II.5. genannten Umfang, Dr. C, Dr. X1 und Dr. H.
1021. Die bei dem Kläger festgestellten Bandscheibenvorwölbungen der HWS sind keine Unfallfolgen. Hierfür ist unerheblich, ob entsprechend dem vom Kläger in Auftrag gegebenen technischen Gutachten von Dipl.-Ing. A der Unfall von seiner Mechanik her geeignet war, ein HWS-Schleudertrauma II. oder III. Grades zu verursachen. Die Eignung eines Unfalls, bestimmte Körpererstschäden hervorzurufen, beweist nicht, dass diese auch tatsächlich eingetreten sind. Dass der Kläger ein HWS-Schleudertrauma erlitten hat, das grundsätzlich geeignet war, einen HWS-Schaden hervorzurufen, stellt in Übereinstimmung mit Dipl.-Ing. A auch der orthopädische Sachverständige Dr. T fest. Für die Diagnose eines höhergradigen HWS-Schleudertraumas, dessen Folgen auch über den 30.11.1995 noch zu einer MdE führen könnten, fehlt es hier aber an nachgewiesenen geeigneten Körpererstschäden. Der Senat vermag sich nicht davon zu überzeugen, dass der Unfall bei dem Kläger zu einem HWS-Schleudertrauma geführt hat, das bereits den Schweregrad II erreicht hat. Soweit Oberarzt Dr. L in Vertretung für Prof. Dr. I am 07.07.1994 ein HWS-Schleudertrauma Grad III dokumentiert, spricht er nur vier Tage später (11.07.1994) selbst nur noch vom Schweregrad I. Der Schweregrad III ist charakterisiert durch vollkommen durchgerissene Bänder, gesprengte Gelenkkapseln und eine Liquidation des mechanischen Zusammenhalts (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., S. 462). Die Diagnose des Schweregrades II erfordert mikrostrukturelle Weichteilläsionen mit Hämatombildung und evtl. temporärer Raumforderung und ist durchweg kernspintomographisch nachweisbar (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 462, 463). Derartige Erstschäden sind beim Kläger nicht festgestellt worden, müssten aber im Vollbeweis nachgewiesen sein. Der Befund des D-Arztes Dr. U weist nur eine Steilstellung der HWS mit Muskelverspannung und schmerzhafter Kopfdrehung sowie einen Druckschmerz über der BWS aus. Äußere Verletzungszeichen wurden nicht dokumentiert, auch haben sich keine Hämatome, Knochenödeme o.ä. an der Wirbelsäule und auch keine Anzeichen einer Schädelprellung am linken Hinterkopf gefunden. Für den Senat deshalb überzeugend weist Dr. T darauf hin, dass das Unfallereignis strukturelle Verletzungen der HWS nicht hervorgerufen hat. Insoweit führt er nachvollziehbar aus, dass die nach allgemeiner ärztlicher Einschätzung anlagebedingt bei dem Kläger bestehende HWS-Verblockung C5/C6 zu einer Versteifung führt und hierdurch die benachbarten Bandscheiben ein erhöhtes Degenerationsrisiko haben. Dass sich dieses Risiko beim Kläger zum Unfallzeitpunkt bereits verwirklicht hatte, belegt Dr. T alsdann überzeugend unter Bezugnahme auf die Röntgenaufnahmen im C-Krankenhaus vom Unfalltag, dem 10.06.1994. Demnach hat bereits am Unfalltag eine ausgeprägte Segmentdegeneration C4/C5 mit nachweisbarer Bandscheibenhöhenminderung und retrospondylotischer Reaktion vorgelegen. Die Bandscheibe C4/C5 war dadurch bereits am Unfalltag höhengemindert, und das Zwischenwirbelloch sowie der Wirbelkanal eingeengt. Diese Einschätzung bestätigt Dr. P in seinem Gutachten vom 17.12.2001. Da es insoweit lediglich um die Bewertung bildgebender Befunde geht, sieht der Senat keinen Anhaltspunkt für eine Unverwertbarkeit eines der Gutachten, denn die vom Kläger hierfür in den Vordergrund gestellte Frage, ob Dr. P von dem richtigen Unfallhergang ausgeht, stellt sich insoweit gar nicht. Die bestehende gravierende Schadensanlage mit weit fortgeschrittener und deutlich vorauseilender Degeneration der HWS schließt aus der Sicht des Senats, der auch insoweit Dr. T folgt, eine - ohnehin für eine mehrsegmentale Bandscheibenprotrusion an der HWS nur in seltenen Fällen zu bejahende - Kausalität des Unfalls aus. Da sie eine bereits bestehende Rissbildung im Bereich des Bandscheibenfaserringes belegt, kann auch eine Vorverlagerung der Erkrankung um mehr als ein Jahr nicht begründet werden.
103Hingegen vermag der Senat den Sachverständigen, die insoweit einen Unfallzusammenhang erkennen, nicht zu folgen. Angesichts dessen, dass Dr. T nachvollziehbar und in Übereinstimmung mit der unfallversicherungsrechtlichen Literatur (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 454 ff.) darlegt, dass vorbestehende degenerative Erkrankungen durchaus und üblicherweise lange Zeit beschwerdefrei sein können, kann der Hinweis Dr. C auf eine angeblich vorbestehende Beschwerdefreiheit des Klägers die Auffassung Dr. T nicht durchgreifend entkräften. Gleiches gilt für Dr. P, der unzutreffend "prätraumatische Krankheiten oder Krankheitsanlagen" negiert und die Unfallbedingtheit der Beschwerden auf deren lange Dauer und Intensität zurückführen will. Dr. L wiederum begnügt sich mit dem - für seinen Gutachterauftrag auch gar nicht erheblichen, aber hier völlig unzureichenden - Hinweis, die Diagnosen seien "unzweifelhaft" unfallbedingt. Privatgutachter Dr. W hat seine Qualifikation zu gutachtlicher Äußerung durch nichts belegt.
1042. Vergleichbar stellt sich die Situation hinsichtlich der an der LWS festgestellten Bandscheibenprotrusion im Übergang der Lenden- zur Steißwirbelsäule bei L5/S1 dar. Hier fehlt es nicht nur wiederum an entsprechenden Feststellungen im durchgangsärztlichen Befund, sondern auch an gesicherten Funktionseinschränkungen der LWS in den ersten 10 Tagen nach dem Unfall, wie Dr. T für den Senat überzeugend ausführt. Selbst Schmerzangaben des Klägers fehlen im Durchgangsarztbericht vom 10.06.2009. Die Wirbelsäule wurde aber untersucht. Denn es wird ein Druckschmerz (nur) im BWS/LWS-Übergang, also an der oberen, nicht aber an der unteren LWS angegeben, wo sich der Bandscheibenschaden des Klägers befindet.
1053. Ein hirnorganisches Psychosyndrom ist beim Kläger nicht erwiesen und dementsprechend auch nicht als Unfallfolge anzuerkennen. Es fehlt bei dem Kläger sowohl an geeigneten Körpererstschäden als auch überhaupt am Nachweis eines solchen Gesundheitsschadens. Eine Kopfverletzung ist beim Kläger nicht dokumentiert. Der Nachweis der Möglichkeit eines Kopfanpralls in einem technischen Gutachten, wie dem des Dipl.-Ing. A, ist hierfür kein Ersatz. Dass die Rekonstruktion eines Unfalls einen Ablauf plausibel machen, aber nicht in allen Einzelheiten beweisen kann, ergibt sich anschaulich aus den vom Kläger vorgelegten Standbildauszügen aus dem Videomaterial selbst, die u.a. einen Unfallhergang zeigen, in dem sich die Arme des Unfallopfers vom Rumpf lösen, was unzweifelhaft tatsächlich nicht der Fall war. Auf den Nachweis eines tatsächlichen Körpererstschadens kann deshalb nicht verzichtet werden. Ein Nachweis eines bei dem Kläger bestehenden hirnorganischen Gesundheitsschadens ist ebenfalls nicht erbracht. In keinem MRT des Schädels konnte eine hirnorganische Schädigung nachgewiesen werden. Die von Dres. I und I erhobenen Befunde, die in die Richtung eines hirnorganischen Schadens zu weisen scheinen, sind nicht beweisend, da ihre Erhebung, wie der Senat dem Gutachten von Dr. C entnimmt, auf mitarbeitsabhängigen Selbstbeurteilungstests beruht und nach Mitteilung von Dr. I selbst Hinweise auf Aggravation bestanden. Der Senat folgt den deshalb überzeugenderen Gutachten von Dr. H und Dr. C, die schlüssig darlegen, dass sich ein hirnorganisches Psychosyndrom vor dem Hintergrund einer suboptimalen Leistungsbereitschaft des Klägers während der neuropsychologischen Begutachtung, die auch Dr. I zur Validierung der Ursachen der beim Kläger bestehenden Beschwerden noch für erforderlich gehalten hatte, nicht objektivieren ließ.
1064. Eine Epilepsie ist beim Kläger ebenfalls nicht gesichert, demzufolge auch nicht als posttraumatische Erkrankung. Wiederum fehlt es an einem geeigneten Körpererstschaden. Aber auch eine entsprechende Erkrankung ist nicht nachgewiesen. Dr. I teilt hierzu in ihren Gutachten mit, sie habe Hinweise auf eine Epilepsie, könne aber weder deren Vorhandensein noch den Zeitpunkt ihrer evtl. Entstehung nachweisen. Im dem von Dr. X1 erstellten MRT zeigte sich ein altersentsprechender Normalbefund ohne Hinweise auf Läsionen, die als Epilepsieursache in Frage kämen. Dr. X1 hat auch frühere Kernspinaufnahmen der Radiologie des Medizin-Centers C vom 04.11.2009 nachbefundet, die einen zunächst als mögliches Residuum eines Kontusionsherdes verdächtigen (vgl. Bericht von Dr. C, T Privatklinik N, vom 06.01.2010) Partialvolumendefekt und damit - auch nach Einschätzung von Dr. C - keinen pathologischen Befund zeigen. Zwar betonen die Sachverständigen, dass ein Kernspin-Normalbefund die Diagnose einer Epilepsie nicht ausschließe. Auch anhand der im Hinblick auf eine Epilepsie nicht schlüssigen anamnestischen Angaben des Klägers und der Ergebnisse der mehrtägigen stationären Beobachtung des Klägers im Rahmen der Begutachtung ist aber die Diagnose nicht anderweitig belegbar.
1075. Schließlich ist eine PTBS oder eine sonst unfallbedingte psychopathologische Störung beim Kläger nicht nachgewiesen. Auf die ärztlichen Äußerungen, die beim Kläger eine solche Erkrankung bejahen, vermag der Senat keine für diesen günstige Entscheidung zu stützen. Dass der Privatgutachter Dr. W über eine wie auch immer geartete Facharztqualifikation verfügt, die ihn zu einer solchen Diagnose befähigt, ist nicht ersichtlich. Dr. B erstattet sein Privatgutachten am 12.09.2010 für den Kläger nach eigenen Angaben anhand "mehrerer persönlicher Gespräche" mit dem Kläger in der T-Klinik N, aber ohne Kenntnis der Aktenlage und ohne den Kläger selbst behandelt zu haben. Auf welcher Basis er dann zu einer objektiven Beurteilung der Diagnosekriterien beim Kläger in der Lage sein kann, erschließt sich dem Senat vor diesem Hintergrund nicht. Der Gutachter im Rentenverfahren, Dr. L, übernimmt die Diagnose PTBS von dritter Seite, sieht aber aktuell eine Depression ohne aus dem Gutachten nachvollziehbare kausale Verbindung mit einer PTBS oder einem Unfallgeschehen; auch ihm fehlt die Kenntnis der Unfallakten und -gutachten. Dr. Dr. X und Dr. I diagnostizieren keine PTBS. Dr. I hat an ihrer ursprünglichen Diagnose einer posttraumatischen psychopathologischen und Schmerzerkrankung nicht festgehalten, sondern in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 24.08.2011 alle insoweit beim Kläger bestehenden Auffälligkeiten als hirnorganisch angesehen (siehe dazu aber oben 3.).
108Gelingt von daher schon ein positiver Nachweis einer PTBS oder sonstigen traumabezogenen psychopathologischen Störung nicht, ist der Senat zusätzlich aufgrund des Gutachtens von Dr. L und dessen Angaben im Termin zur mündlichen Verhandlung am 17.09.2012 davon überzeugt, dass zwar möglicherweise bei dem Kläger - wie auch z.T. von Dr. L und zunächst auch von Dr. I angenommen - eine depressive Erkrankung und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bestehen. Zeitnah während der ersten Jahre nach dem Unfall waren aber bis auf unspezifische vegetative Störungen, die während seiner Krankenhausbehandlungen 1994 abgerechnet, jedoch nicht näher bezeichnet wurden, bei dem Kläger keine psychischen Störungen bekannt geworden. Eine Behandlung wegen solcher Beschwerden hat nach dessen eigenen Angaben erst neun Jahre nach dem Unfall stattgefunden. Für den Senat überzeugend hat der Sachverständige Dr. L wegen des Fehlens zeitnaher psychischer reaktiver Störungen und erkennbarer Brückensymptome über einen derart langen Zeitraum eine Kausalität des Unfalls für diese Gesundheitsstörungen verneint. Der Senat stützt sich insoweit ausschließlich auf Aussagen des Sachverständigen Dr. L vor dem Eintritt seiner Befangenheit (dazu näher unter III.).
1096. Auf weitere, beim Kläger möglicherweise noch zu einer rentenberechtigenden MdE führende unfallbedingte Erkrankungen gibt der Sachverhalt keine Hinweise.
110III. Den im Termin zur mündlichen Verhandlung am 13.01.2016 gestellten Hilfs- und Verfahrensanträgen des Klägers - soweit nicht bereits beschieden - war nicht zu entsprechen. Eine Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf bei der Beklagten gestellte Anträge zur Löschung von ärztlichen Stellungnahmen und Gutachten aus den Verwaltungsakten war nicht geboten, da die Entscheidung der Beklagten über diese Anträge im gerichtlichen Verfahren nicht vorgreiflich im Sinne von § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG ist (BSG, Urteil vom 20.07.2010 - B 2 U 17/09 R -, juris-Rn. 12).
111Soweit der Kläger beantragt hat, auszusprechen, dass die Gutachten von Dr. Dr. X vom 28.12.2001, Dr. P vom 17.12.2001, Dr. T, Dr. L vom 18.06.2010 mit nachfolgenden Stellungnahmen bis einschließlich zur Niederschrift seiner Einvernahme im mündlichen Termin am 17.09.2012, Dr. C vom 14.01.2015 und Dr. H vom 27.03.2015 nicht verwertet werden dürfen, war dem schon deshalb nicht zu folgen, weil kein Beweisverwertungsverbot besteht.
112Hinsichtlich der Gutachten von Dr. Dr. X, Dr. P, Dr. T, Dr. L, Dr. C und Dr. H macht der Kläger geltend, dass die Sachverständigen von einem falschen Unfallhergang ausgegangen seien oder bei ihrer Begutachtung auf Gutachten aufgebaut hätten, die einen solchen falschen Unfallhergang zugrunde gelegt hätten und deshalb zu falschen Gutachtenergebnissen gekommen seien. Hiermit wird kein Sachverhalt beschrieben, der zu einem Beweisverwertungsverbot führen kann. Ist ein Gutachten inhaltlich falsch, begründet dies nicht die Unverwertbarkeit des Gutachtens, sondern es ist im Rahmen der Beweiswürdigung zu bewerten.
113Entgegen der Auffassung des Klägers führt auch die vom Senat mit Beschluss vom 27.11.2012 festgestellte Befangenheit des Sachverständigen Dr. L nicht zur Unverwertbarkeit seiner früheren, seinem die Besorgnis der Befangenheit begründenden Schreiben vom 18.09.2012 vorausgehenden gutachterlichen Äußerungen oder der später erstellten Gutachten von Dr. C und Dr. H. Einer späteren erfolgreichen Ablehnung eines Sachverständigen steht die Verwertung seiner früheren Gutachten nicht entgegen, solange die Gründe für eine Befangenheit bei deren Erstattung noch nicht vorlagen (OLG Hamm, Urteil vom 24.09.1993 - 12 U 175/92). So liegt der Fall hier, denn die Besorgnis der Befangenheit von Dr. L ergab sich erst aus seinem Verhalten nach seiner mündlichen Einvernahme. Die Unverwertbarkeit des ergänzenden Schreibens des Dr. L vom 18.09.2012 wegen dessen vom Senat bejahter Befangenheit hat auch keine Auswirkungen auf die Verwertbarkeit der späteren Gutachten von Dr. C und Dr. H. Ein Verwertungsverbot für ein Beweismittel kann sich nur dann im Sinne einer Fernwirkung auf alle späteren Beweismittel auswirken, wenn durch das weitere Beweismittel das Verwertungsverbot hinsichtlich des ersten Beweismittels umgangen würde, das zweite Beweismittel ohne das erste - unzulässige und verbotene - keinen Bestand hätte oder das zweite auf dem ersten aufbaut (BSG, Urteil vom 05.02.2008, B 2 U 8/07 R, juris-Rn. 63). Davon ausgehend erstreckt sich das Verwertungsverbot nicht auf die Gutachten von Dr. C und Dr. H. Denn beide haben den Kläger persönlich untersucht und sind unabhängig von der unverwertbaren Stellungnahme zu ihren Einschätzungen und Begründungen gelangt (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 05.06.2014 - L 3 U 254/10 -, juris-Rn. 50). Ohnehin war, wie der Kläger richtig anmerkt, den Sachverständigen Dres. C, X1 und H in der Beweisanordnung vom 11.10.2013 (mit nachfolgenden Ergänzungen), Ziff. 5, aufgegeben worden, wegen der Befangenheit des Sachverständigen Dr. L auf dessen Ausführungen "ab Bl. 1173 ff.", also auf dessen Schreiben vom 18.09.2012, nicht inhaltlich einzugehen. Dr. C erwähnt folgerichtig das Schreiben Dr. L vom 18.09.2012 und den Beschluss des Senats vom 27.11.2012 nur in seinem Aktenauszug und verwertet es inhaltlich an keiner Stelle seines Gutachtens, das ohnehin die bei der eigenen Begutachtung und durch die Zusatzgutachter gewonnenen Erkenntnisse ganz in den Vordergrund stellt. Dr. H nimmt an keiner Stelle seines Zusatzgutachtens Bezug auf Erkenntnisse oder Bewertungen von Dr. L. Diese Gutachten haben mithin auch ohne die unverwertbare Stellungnahme Bestand und führen nicht zu einer Umgehung des diesbezüglichen Beweisverwertungsverbotes.
114Anlass, die angebotenen Zeugen N und Dr. C zu hören, bestand nicht. Diese Personen werden dafür benannt, dass sie Befunde, die die Sachverständigen bei ihrer Begutachtung erhoben haben (oder nicht erhoben haben), anders einschätzen als diese und/oder selbst mit anderem Ergebnis festgestellt haben. Sie zielen damit letztlich nicht auf Zeugenaussagen, sondern auf die Einführung weiterer Sachverständiger, die im Sinne des Klageantrags zu der bisherigen Beweisaufnahme Stellung nehmen sollen. Hierfür ist Frau N als behandelnde Physiotherapeutin des Klägers schon nicht qualifiziert. Weitere medizinische Sachverhaltsaufklärung über den bereits umfangreich erhobenen Sachverständigenbeweis hinaus hat der Senat aber auch nicht für erforderlich gehalten.
115IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
116V. Anlass zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) bestand nicht.
ra.de-Urteilsbesprechung zu Landessozialgericht NRW Urteil, 13. Jan. 2016 - L 17 U 30/06
Urteilsbesprechung schreiben0 Urteilsbesprechungen zu Landessozialgericht NRW Urteil, 13. Jan. 2016 - L 17 U 30/06
Referenzen - Gesetze
Referenzen - Urteile
Urteil einreichenLandessozialgericht NRW Urteil, 13. Jan. 2016 - L 17 U 30/06 zitiert oder wird zitiert von 10 Urteil(en).
(1) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Wird die versicherte Tätigkeit im Haushalt der Versicherten oder an einem anderen Ort ausgeübt, besteht Versicherungsschutz in gleichem Umfang wie bei Ausübung der Tätigkeit auf der Unternehmensstätte.
(2) Versicherte Tätigkeiten sind auch
- 1.
das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit, - 2.
das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges, um - a)
Kinder von Versicherten (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wegen ihrer, ihrer Ehegatten oder ihrer Lebenspartner beruflichen Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen oder - b)
mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug zu benutzen,
- 2a.
das Zurücklegen des unmittelbaren Weges nach und von dem Ort, an dem Kinder von Versicherten nach Nummer 2 Buchstabe a fremder Obhut anvertraut werden, wenn die versicherte Tätigkeit an dem Ort des gemeinsamen Haushalts ausgeübt wird, - 3.
das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges der Kinder von Personen (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wenn die Abweichung darauf beruht, daß die Kinder wegen der beruflichen Tätigkeit dieser Personen oder deren Ehegatten oder deren Lebenspartner fremder Obhut anvertraut werden, - 4.
das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben, - 5.
das mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängende Verwahren, Befördern, Instandhalten und Erneuern eines Arbeitsgeräts oder einer Schutzausrüstung sowie deren Erstbeschaffung, wenn diese auf Veranlassung der Unternehmer erfolgt.
(3) Als Gesundheitsschaden gilt auch die Beschädigung oder der Verlust eines Hilfsmittels.
(1) Auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen muß ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann davon abhängig gemacht werden, daß der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt.
(2) Das Gericht kann einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist.
(1) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.
(2) Der Vorsitzende hat bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen.
(3) Zu diesem Zweck kann er insbesondere
- 1.
um Mitteilung von Urkunden sowie um Übermittlung elektronischer Dokumente ersuchen, - 2.
Krankenpapiere, Aufzeichnungen, Krankengeschichten, Sektions- und Untersuchungsbefunde sowie Röntgenbilder beiziehen, - 3.
Auskünfte jeder Art einholen, - 4.
Zeugen und Sachverständige in geeigneten Fällen vernehmen oder, auch eidlich, durch den ersuchten Richter vernehmen lassen, - 5.
die Einnahme des Augenscheins sowie die Begutachtung durch Sachverständige anordnen und ausführen, - 6.
andere beiladen, - 7.
einen Termin anberaumen, das persönliche Erscheinen der Beteiligten hierzu anordnen und den Sachverhalt mit diesen erörtern.
(4) Für die Beweisaufnahme gelten die §§ 116, 118 und 119 entsprechend.
(1) Auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen muß ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann davon abhängig gemacht werden, daß der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt.
(2) Das Gericht kann einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist.
(1) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.
(2) Der Vorsitzende hat bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen.
(3) Zu diesem Zweck kann er insbesondere
- 1.
um Mitteilung von Urkunden sowie um Übermittlung elektronischer Dokumente ersuchen, - 2.
Krankenpapiere, Aufzeichnungen, Krankengeschichten, Sektions- und Untersuchungsbefunde sowie Röntgenbilder beiziehen, - 3.
Auskünfte jeder Art einholen, - 4.
Zeugen und Sachverständige in geeigneten Fällen vernehmen oder, auch eidlich, durch den ersuchten Richter vernehmen lassen, - 5.
die Einnahme des Augenscheins sowie die Begutachtung durch Sachverständige anordnen und ausführen, - 6.
andere beiladen, - 7.
einen Termin anberaumen, das persönliche Erscheinen der Beteiligten hierzu anordnen und den Sachverhalt mit diesen erörtern.
(4) Für die Beweisaufnahme gelten die §§ 116, 118 und 119 entsprechend.
(1) Für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen gelten die §§ 41 bis 46 Absatz 1 und die §§ 47 bis 49 der Zivilprozeßordnung entsprechend.
(2) Von der Ausübung des Amtes als Richter ist auch ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat.
(3) Die Besorgnis der Befangenheit nach § 42 der Zivilprozeßordnung gilt stets als begründet, wenn der Richter dem Vorstand einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts angehört, deren Interessen durch das Verfahren unmittelbar berührt werden.
(4) (weggefallen)
Tenor
I.
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg
II.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Höhe des von der Beklagten an die Klägerin zu erbringenden Pflegegeldes nach dem 7. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Die 1938 geborene und unter Betreuung ihres Sohnes stehende Klägerin ist bosnische und kroatische Staatsangehörige und bezieht seit 1993 staatliche Fürsorgeleistungen (zunächst nach dem AsylbLG, später nach dem BSHG und dem SGB XII). Seit 2006 erhält sie laufend Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII). Die Klägerin ist schwerbehindert, ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen „B“, „G“ und ab 19.03.2009 „aG“ wurden zuerkannt; mit Bescheid vom 05.11.2014 auch noch die Merkzeichen H und RF.
Die Versorgung der Klägerin im Krankheitsfall wurde von der Beklagten zunächst durch Krankenhilfeleistungen nach den Vorschriften des BSHG sichergestellt. Ab dem 01.01.2004 bis 31.12.2011 bestand bei der AOK A-Stadt im Rahmen eines Auftragsverhältnisses Versicherungsschutz. Zum 01.01.2012 ist die Klägerin - wiederum im Rahmen eines Auftragsverhältnisses nach § 264 SGB V - zur Barmer GEK gewechselt und dort statusversichert. Die Klägerin ist weder Mitglied in einer gesetzlichen noch einer privaten Pflegeversicherung. Zuletzt war die Klägerin im April 2015 rückwirkend ab 01.08.2014 in der Familienversicherung über die bosnisch-herzegowinischen Krankenversicherung ihres Ehemannes versichert ist (Schreiben Beklagte an die Klägerin vom 22.04.2015 und vom 27.04.2015, Schreiben der Barmer GEK vom 26.05.2015 im Beschwerdeverfahren L 4 KR 65/15 B ER). Die Barmer GEK gewährt rückwirkend ab 01.08.2014 Leistungsaushilfe im Auftrag der bosnischen Krankenversicherung. Eine Absicherung im Bereich der Pflegeversicherung besteht über den bosnisch-herzegowinischen Sozialversicherungsträger nicht.
Mit Schreiben vom 30.01.2008 beantragte der Sohn und Betreuer der Klägerin formlos die Gewährung von Hilfe zur Pflege. Daraufhin beauftragte die Beklagte den medizinischen Dienst der Krankenkassen in B. (MDK), ein Gutachten über die Pflegebedürftigkeit der Klägerin zu erstellen. Mit Gutachten vom 25.03.2008 stellte der MDK fest, dass ein Hilfebedarf von 49 min täglich für Zeiten der Grundpflege und ein Zeitaufwand von 45 min täglich für die hauswirtschaftliche Versorgung der Klägerin bestünden. Eine wesentliche Störung der Alltagskompetenz liege nicht vor. Eine Nachbegutachtung wurde für 09/2008 empfohlen.
Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 01.04.2008 für die Zeit ab 07.02.2008 Pflegegeld nach der Stufe 1 in Höhe von 205 € monatlich. Hiergegen erhob der Betreuer der Klägerin am 15.04.2008 Widerspruch. Die Klägerin sei in größerem Umfang auf die Hilfe einer Pflegeperson angewiesen, derzeit leiste er die Pflege allein.
Am 16.06.2008 erließ die Beklagte einen Änderungsbescheid und gewährte der Klägerin für die Zeit ab 01.07.2008 ein Pflegegeld in Höhe von 215 € monatlich. Auch gegen diesen Bescheid legte der Betreuer der Klägerin mit Schreiben vom 15.07.2008 Widerspruch ein.
Am 06.03.2009 übersandte der seinerzeit bevollmächtigte Rechtsanwalt eine umfassende Widerspruchsbegründung zur Pflegesituation (mit 57 medizinischen Anlagen). Die festgestellte Pflegestufe sei zu überprüfen; die angegriffenen Bescheide basierten auf einer unzureichenden und falschen Tatsachengrundlage.
Das zweite Gutachten des MDK vom 26.05.2009 kam zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin ein Zeitaufwand für die Grundpflege in Höhe von 92 min täglich und ein Zeitaufwand für die hauswirtschaftliche Versorgung im Umfang von 45 min täglich erforderlich seien. Aufgrund des geringen zeitlichen Aufwandes für die gesamte pflegerische Versorgung der Klägerin, sei aber weiterhin nur eine Einstufung in die Pflegestufe I möglich. Gleichwohl sei ein Fortschreiten der Demenzerkrankung erkennbar. Die Alltagskompetenz der Klägerin sei in erhöhtem Maße eingeschränkt.
Am 18.06.2009 erhob der Betreuer der Klägerin „Untätigkeitsklage“ zum Sozialgericht Regensburg (SG, S 4 SO 40/09).
Die E. wies die Widersprüche der Klägerin gegen die Bescheide 01.04.2008 und 16.06.2008 mit zurück. Der Umfang der Pflegebedürftigkeit der Klägerin ergebe sich aus den beiden Gutachten des MDK.
Am 30.11.2009 hat die damalige Prozessbevollmächtigte der Klägerin Klage zum SG (S 4 SO 91/09) erhoben. Der Klägerin sei ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen „B“, „G“ und „aG“ zuerkannt worden. Die Vielzahl von Gesundheitsstörungen lasse es gerechtfertigt erscheinen, Leistungen der Pflegestufe III zu gewähren.
Mit Änderungsbescheid vom 01.12.2009 hat die Beklagte ein Pflegegeld für die Zeit ab 01.01.2010 in Höhe von 225 € monatlich gewährt. Seit 01.01.2012 gewährt die Beklagte der Klägerin Leistungen in Höhe von 235 € monatlich; einen dies ausdrücklich umsetzenden Bescheid hat die Beklagte gleichwohl nicht erlassen.
Das SG hat zwei Gutachten bei dem Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Sozialmedizin, Umweltmedizin Dr. med. J. E. jeweils nach Hausbesuchen bei der Klägerin, eingeholt.
Im ersten Gutachten vom 05.07.2011 listete der Sachverständige als pflegerelevante Gesundheitsstörungen auf: dementielles Syndrom mit Gangunsicherheit und Blaseninkontinenz, chronische Depressionen mit Antriebsarmut, Ernährungsstörung im Rahmen der Demenz und der Depression sowie Beinkrampfadern mit Ödembildung an den Unterschenkeln. Der Sachverständige kommt zu dem Ergebnis, dass der anrechenbare Zeitaufwand für die Grundpflege (Körperpflege, Darm- und Blasenentleerung, Ernährung, Mobilität) bei etwa 142 min täglich liege und der zeitliche Aufwand für die gesamte pflegerische Versorgung - welche die hauswirtschaftliche Versorgung mit einschließe - bei etwa 202 min pro Tag liege. Der Übergang von Pflegestufe I zu Pflegestufe II habe zwischen März 2008 und Mai 2009 stattgefunden; es biete sich an, als Beginn des Vorliegens von Pflegestufe II den Februar 2009 als Stichtag heranzuziehen.
Das zweite - unter dem 29.10.2012 erstellte - Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass zwar eine Verschlechterung des Allgemeinzustandes und des dementiellen Syndroms bei der Klägerin festzustellen sei; hieraus aber eine wesentliche Änderung des zeitlichen Pflegebedarfes oder gar eine andere Pflegestufe nicht resultiere. Der zeitliche Aufwand für die gesamte pflegerische Versorgung der Klägerin liege bei etwa 200 min pro Tag.
Das SG hat durch Beschluss vom 05.09.2011 die Verfahren S 4 SO 40/09 und S 4 SO 91/09 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Mit Gerichtsbescheid vom 8. Februar 2013 hat es die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 01.04.2008 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 16.06.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2009 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 01.12.2009 verurteilt, der Klägerin für die Zeit ab 01.02.2009 Pflegegeld für Schwerpflegebedürftige (Stufe 2) zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klagen abgewiesen. Das SG hat die Voraussetzungen für eine Leistungsberechtigung nach § 61 SGB XII und für einen Anspruch auf Pflegegeld für Schwerpflegebedürftige nach § 64 Abs.2 SGB XII i.V.m § 37 Abs. 1 S.3 Nr. 2 SGB XI ab 01.02.2009 bejaht und ist dabei den Feststellungen des medizinischen Sachverständigen Dr. E. gefolgt. Das SG ist von einem täglichen Grundpflegebedarf von 140 - 142 Minuten und einem Bedarf an hauswirtschaftlicher Versorgung von 60 Minuten ausgegangen.
Gegen den am 20.02.2013 zugestellten Gerichtsbescheid des SG hat die Klägerin am 14.03.2013 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) erhoben. Es sei davon auszugehen, dass ein weiterer Pflegeaufwand im Umfang von 40 min täglich bestehe. Der zweite Bevollmächtigte der Klägerin hat in der ergänzenden Berufungsbegründung vom 25.03.2014 einen Grundpflegeaufwand von 250 Minuten geltend gemacht und dabei Angaben der Pflegerin Frau J. und des Betreuers zugrunde gelegt.
Die Klägerin beantragt;
die Beklagte unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Regensburg
Am 11.02.2015 hat der Betreuer der Klägerin außerdem beantragt,
der Klägerin Schmerzensgeld, Schadensersatz, Opfergeld nach OEG zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der vom Betreuer vorgenommenen Klageänderung hat die Beklagte am 04.03.2015 ausdrücklich widersprochen.
Mit Änderungsbescheid vom 04.03.2013 hat die Beklagte den Bescheid vom 01.12.2009 aufgehoben und der Klägerin ab 01.03.2013 ein Pflegegeld in Höhe von 440 € monatlich gewährt. Für den Zeitraum vom 01.02.2009 bis 28.02.2013 hat die Beklagte der Klägerin 10.045 € als Pflegegeld nachgezahlt.
Mit Beschluss vom 11.09.2014 hat der Senat der Klägerin Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwälte H., E., G., F-Stadt beigeordnet. Die Beiordnung hat der Senat mit Beschluss vom 12.03.2015 auf Antrag der beigeordneten Rechtsanwälte wieder aufgehoben.
Der Senat hat ein medizinisches Sachverständigengutachten nach Hausbesuch von Dr. D., vom 29.12.2014 eingeholt. Dieser kommt abschließend zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin ein Pflegeaufwand von 161 min pro Tag für Körperpflege, Ernährung und Mobilität bestehe. Für hauswirtschaftliche Versorgung würden 60 min Pflege benötigt, so dass insgesamt ein täglicher Pflegeaufwand von 221 min vorliege. Die Alltagskompetenz der Klägerin sei seit September 2008 in erhöhtem Maße eingeschränkt.
Der Betreuer der Klägerin hat das Gutachten von Dr. D. durch die Pflegerin Frau J. handschriftlich kommentieren lassen und einen höheren Pflegeaufwand geltend gemacht.
Der Beklagte hat auf Nachfrage des Senats ausgeführt, dass die Klägerin keinen Anspruch auf ein nach § 123 SGB XI erhöhtes Pflegegeld wegen der Einschränkung der Alltagskompetenz habe, weil dieser Anspruch nach § 123 SGB XI nur gesetzlich Pflegeversicherten zustünde und nicht zu einer Ausweitung des sozialhilferechtlichen Pflegeanspruches führe. Dies ergebe sich aus der Rechtssystematik, der amtlichen Begründung zu § 124 SGB XI und aus dem gesetzgeberischen Willen (vgl. Schreiben des BMAS vom 24.06.2013).
Zusätzliche Betreuungsleistungen nach § 45 a SGB XI seien nicht Gegenstand eines weiterverfolgten weiteren Verwaltungsverfahrens geworden. Der Betreuer der Klägerin habe diese Leistungen am 19.12.2008 beantragt. Die Beklagte habe die Klägerin mit Schreiben vom 19.01.2009, 15.06.2009 darüber informiert, dass die Leistungen nur zweckgebunden für qualitätsgesicherte Betreuungsleistungen gewährt werden könnten. In einem weiteren Informationsschreiben an die damalige Bevollmächtigte vom 02.07.202009 seien die Voraussetzungen der Leistungen erläutert worden. Den gegen das Infoschreiben erhobenen Widerspruch habe die Bevollmächtigte am 31.08.2009 wieder zurückgenommen. Die Beklagte gehe daher davon aus, dass der ursprüngliche Antrag nicht weiterverfolgt worden sei. Im Übrigen seien keinerlei Rechnungen über entsprechende qualitätsgesicherte Betreuungsleistungen eingereicht worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Gründe
1. Die zulässige Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 8. Februar 2013 ist unbegründet. Der Klägerin steht kein Anspruch auf ein höheres Pflegegeld für die Zeit ab 01.02.2009 zu.
2. Der Senat durfte in seiner nach Geschäftsverteilungsplan A 2015 geregelten Besetzung mit der dort vorgesehenen Vertreterin über die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG Regensburg
Über ein offensichtlich unzulässiges und rechtsmissbräuchliches Ablehnungsgesuch können Gerichte unter Beteiligung der abgelehnten Richter entscheiden. Das Verbot der Selbstentscheidung (§§ 60 Abs. 1 SGG, 45 I ZPO) gilt insoweit nicht (vgl. BAG, Beschl. v. 7.2.2012 - 8 AZA 20/11).
Eine Ausnahme von dem in § 45 ZPO verankerten Verbot der Selbstentscheidung gilt für rechtsmissbräuchliche Ablehnungsanträge, welche offensichtlich und ausschließlich zur Prozessverschleppung oder zur Verfolgung anderer verfahrensfremder Zwecke gestellt werden (BeckOK ZPO § 45, Rn. 7 Autor: Vossler Beck’scher Online-Kommentar ZPO Hrsg: Vorwerk/Wolf, Stand: 01.03.2015, BGH NJW-RR 2005, 1226; OLG Karlsruhe MDR 2014, 242, OLG Köln JMBl NW 2009, 89; BAG NJW 2012, 1531; Musielak/Heinrich ZPO § 45 Rn. 3; Zöller/Vollkommer ZPO § 45 Rn. 4; Ghassemi-Tabar/Nober NJW 2013, 3686 f.). Ein offensichtlich unzulässiges und rechtsmissbräuchliches Ablehnungsgesuch liegt jedenfalls dann vor, wenn nicht erkennbar ist, dass das Gesuch überhaupt auf einen Grund gestützt werden soll, der die Besorgnis der Befangenheit auslösen und einen Ablehnungsgrund darstellen könnte.
An die Offensichtlichkeit des Rechtsmissbrauchs sind (vgl. dazu die Einschätzung des Gesetzgebers in § 26a StPO, BVerfG NJW 2005, 3410) strenge Maßstäbe anzulegen. Eine Selbstentscheidung ist daher nur zulässig, wenn die Begründung des Ablehnungsersuchens jeder Substanz entbehrt, so dass seine Verwerfung ein Eingehen auf den Verfahrensgegenstand nicht erfordert. Ist dies nicht der Fall, kommt eine Selbstentscheidung nicht in Betracht, da sich der abgelehnte Richter über eine bloße formale Prüfung hinaus durch die inhaltliche Entscheidung eines gegen ihn gerichteten Ablehnungsantrags nicht zum Richter in eigner Sache machen darf.
Bei Anträgen ohne oder mit nur substanzloser Begründung ohne hinreichenden Bezug zum konkreten Rechtstreit (Musielak/Heinrich ZPO § 45 Rn. 3) - wie hier - ist eine Selbstentscheidung geboten. Es wird kein Ablehnungsgrund genannt. Ein solcher muss aber gem. § 42 Abs. 1 i. V. m. § 44 Abs. 2 S. 1 ZPO vorgebracht werden. Einem fehlenden Ablehnungsgrund steht es gleich, wenn die Begründung zur Rechtfertigung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet ist (BVerfG 2.6.05, 2 BvR 625/01, NJW 05, 3410, 3412; Ghassemi-Tabar/Nober NJW 13, 3686, 3687), z. B. wenn keinerlei substantiierte Tatsachen vorgetragen werden (BVerwG NJW 97, 3327). Dies ist etwa der Fall, wenn der Beteiligte nur Wertungen ohne tatsächliche Substanz vorbringt.
Die Klägerin lehnt hier alle Richter in den Verfahren L 8 SO 3/13, L 8 SO 63/13, L 8 SO 50/13 und L 8 SO 51/13 ab und „weist reine deutsche Richter ausdrücklich zurück“. Es gäbe genügend andere EU Richter, die nicht reiner deutscher Herkunft seien, die entscheiden könnten sowie an einer mündlichen Verhandlung teilnehmen könnten. Der Wunsch der Klägerin, die Richterbank nach bestimmten Nationalitäten zu besetzen, ist ein völlig ungeeigneter und nicht substantiierter Vortrag. Die Klägerin stellt ihren Befangenheitsantrag zudem unzulässiger Weise unter eine innerprozessuale Bedingung. So wird der Befangenheitsantrag gestellt, falls das Gericht die Absicht habe, die Verfahren abzuhandeln.
Damit nennt die Klägerin keinen Ablehnungsgrund i. S. § 42 Abs. 1, 2 ZPO. Das Gesuch ist rechtsmissbräuchlich und wird allein in Verschleppungsabsicht gestellt, weil die Klägerin mit dem Gesuch ausschließlich die Verzögerung des Verfahrens bezweckt. Sie versucht damit, den Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat zu verhindern und verfolgt verfahrensfremde Zwecke. Die Klägerin, die im Verwaltungs-, Widerspruchs- und Klageverfahren schon durch eine Vielzahl von Prozessbevollmächtigten vertreten war, zu denen das Mandatsverhältnis immer wieder nachhaltig gestört war und beendet wurde, versucht, einem weiteren Bevollmächtigten ein Mandat zu erteilen, der dies aber schon abgelehnt hat. Einen Verlegungsantrag nach § 202 SGG, § 227 Abs. 1 ZPO hat die Klägerin nicht gestellt.
3. Der Senat konnte in der mündlichen Verhandlung vom 23. Juni 2015 auch in Abwesenheit der Klägerin entscheiden, da dem Betreuer der Klägerin mit Postzustellungsurkunde vom 02.06.2015 ordnungsgemäß der Termin mitgeteilt wurde und in der Terminsmitteilung darauf hingewiesen wurde, dass im Falle eines Ausbleibens ein Urteil nach Lage der Akten ergehen könne (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 126 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Dass der Betreuer Kenntnis vom Termin hatte, ergibt sich zudem aus seinen Schreiben vom 22.06.2015, 20.06.2015 und 17.06.2015.
Die Terminsmitteilung (mit dem Hinweis auf § 110 SGG) wurde auch dem neuen Bevollmächtigten der Klägerin zugestellt. Dies ergibt sich aus dem Schreiben des neuen Bevollmächtigten vom 21.05.2015. Der Senat hat der Klägerin mit Beschluss vom 19. Mai 2015 auf deren Antrag den neuen Bevollmächtigten im Rahmen der bereits bewilligten Prozesskostenhilfe beigeordnet. Der neue Bevollmächtigte wurde am 18.06.2015 auch vom Betreuer der Klägerin bevollmächtigt.
4. Die zulässige Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 8. Februar 2013 ist unbegründet. Der Klägerin steht kein Anspruch auf ein höheres Pflegegeld für die Zeit ab 01.02.2009 zu.
Gegen die Entscheidung des SG vom 8. Februar 2013 ist die Berufung zulässig, da sie nach § 144 Abs. 1 S. 1 SGG nicht ausgeschlossen ist (§ 143 SGG). Die Klägerin begehrt für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr laufenden höhere Geldleistungen, so dass die Berufung nach § 144 Abs. 1 S. 2 SGG statthaft ist. Die Berufung ist zulässig und form- und fristgemäß eingelegt (§ 151 SGG).
5. Streitgegenständlich ist das mit der Berufung geltend gemachte Pflegegeld nach der Pflegestufe III für die Zeit ab 01.02.2009.
6. Soweit die Klägerin mit der Berufung auch einen Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte wegen eines vermeintlichen Vertrauensschadens und einer Amtspflichtverletzung
geltend macht, handelt es sich um eine unzulässige Klageänderung im Berufungsverfahren, weil sich weder die Beklagte darauf eingelassen hat (vgl. Schreiben vom 04.03.2015) noch der Senat die Klageänderung für sachdienlich hält (§ 99 Abs. 1 SGG).
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 04.03.2015 einer diesbezüglichen Klageänderung ausdrücklich widersprochen.
Damit liegt auch keine zulässige, in der Berufungsinstanz erstmals erhobene Klage auf Schadensersatz aus Amtshaftung vor, die vom anhängigen Verfahren abzutrennen und als erstinstanzliche Klage in der Berufungsinstanz zu erfassen wäre (BSG, Urteil vom 28.03.2000, Az.: B 8 KN 3/98 UR, Rz. 12, Bayer. LSG Beschluss vom 24.11.2014, L 7 SF 250/14 KL, vgl. § 17 Abs. 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz - GVG -). Ein solche würde voraussetzen, dass ein Fall des § 99 Abs. 3 Nr. 3 GG vorläge, der kraft gesetzlicher Fiktion nicht als Klageänderung anzusehen ist. Hier macht die Klägerin aber unverändert auch noch originäre Ansprüche auf höheres Pflegegeld weiter neben vermeintlichen Schadensersatzansprüchen geltend.
Ein Ausnahmefall, der dem Senat über die Bindungswirkung des § 17a Abs. 5 GVG als Rechtsmittelgericht eine eigene Kompetenz geben könnte, über den Amtshaftungsanspruch zu entscheiden, liegt nicht vor, da in erster Instanz keine Entscheidung in der Hauptsache im Sinn von § 17a Abs. 5 GVG über den Amtshaftungsanspruch getroffen werden konnte und getroffen wurde (vgl. BSG, Urteil vom 30.10.2012, Az.: B 13 R 473/11 B). Der Senat ist deshalb nicht verpflichtet, kraft eigener Kompetenz über die Amtshaftungsanspruch zu entscheiden (vgl. BSG, Urteil vom 20.10.2010, Az.: B 13 R 63/10 B).
7. Streitgegenständlich sind nicht mehr die von der Klägerin ursprünglich angegriffenen Verwaltungsentscheidungen vom 01.04.2008, vom 16.06.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides 28.10.2009 und vom 01.12.2009. Denn die Beklagte hat mit Änderungsbescheid vom 04.03.2013 den Bescheid vom 01.12.2009 für die Zeit ab 01.03.2013 aufgehoben und der Klägerin ab 01.03.2013 ein Pflegegeld in Höhe von 440 € monatlich gewährt. Für den Zeitraum vom 01.02.2009 bis 28.02.2013 hat die Beklagte der Klägerin 10.045 € als Pflegegeld entsprechend der Verurteilung im Gerichtsbescheid des SG vom 8. Februar 2008 nachgezahlt. Ihr Klageziel verfolgt die Klägerin zulässigerweise mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1, 4 SGG die auf die Gewährung eines höheren Pflegegeldes ab 01.02.2009 gerichtet ist. Die Beklagte hat der Klägerin mit den angegriffenen Bescheiden Pflegegeld nach der Pflegestufe I bewilligt, zwischenzeitlich aber ab 01.02.2009 Pflegegeld nach der Pflegestufe 2 gewährt.
8. Die Klägerin hat für die Zeit ab 01.02.2009 einen Anspruch auf Pflegegeld für Schwerpflegebedürftige nach der Pflegestufe II. Sie hat keinen Anspruch auf Gewährung eines Pflegegeldes nach der Pflegestufe III für Schwerstpflegebedürftige.
a) Die Klägerin war im streitgegenständlichen Zeitraum leistungsberechtigt im Sinne des § 61 Abs. 1 SGB XII. Danach erhalten Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen, Hilfe zur Pflege. Aufgrund der diagnostizierten Erkrankungen der Klägerin, die zuletzt in dem Gutachten des medizinischen Sachverständigen Dr. D. vom 29.12.2014 bestätigt wurden (Demenz bei Alzheimer-Krankheit, Stuhlinkontinenz, Harninkontinenz, chronisch venöse Insuffizienz beider Beine, Schulterversteifung bds. bei Oberarmfraktur rechts, Arthrose beider Hüftgelenke, Arthrose beider Kniegelenke, Mangelernährung, degeneratives Wirbelsäulensyndrom) liegen damit Krankheiten und Behinderungen i. S. § 61 Abs. 3 Nrn. 1-3 SGB XII vor, wegen der die Klägerin der Hilfe bei den gewöhnlichen Verrichtungen des täglichen Lebens im Bereich der Körperpflege, der Ernährung, der Mobilität und der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 61 Abs. 5 SGB XII) dauerhaft bedarf.
Die Klägerin ist auch nicht pflegeversichert und hat demnach keinen Anspruch auf (vorrangige) Leistungen der Pflegeversicherung nach dem SGB XI (§ 2 SGB XII, § 13 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI). Die Klägerin war nie Mitglied der gesetzlichen Pflegeversicherung. Die Zuerkennung einer zum 01.08.2014 rückwirkenden Familienversicherung in der bosnisch-herzegowinischen Krankenversicherung ihres Ehemannes im Wege der Leistungsaushilfe der Barmer GEK vermittelt der Klägerin keinen Zugang zur deutschen Pflegeversicherung. Im Übrigen hätte sie dort selbst dann, wenn sie über ihren Ehemann in der gesetzlichen Pflegeversicherung nach § 25 SGB XI familienversichert wäre, eine Karenzzeit von zwei Jahren Versicherungszeit (§ 33 Abs. 3 Nr. 6 SGB XI).
b) Die Hilfe zu Pflege umfasst gemäß § 61 Abs. 2 SGB XII auch die häusliche Pflege nach § 63 SGB XII. Sie dient dazu, den Zweck des § 63 SGB XII zu erreichen, nämlich es dem Pflegebedürftigen zu ermöglichen, seine Pflege durch nahe stehende Personen oder durch Nachbarschaftshilfe zu sichern. Dabei ist das Pflegegeld nicht dazu gedacht, die genannten Personen für ihre Pflegehilfe zu bezahlen. Das Pflegegeld dient vielmehr dazu, deren Pflegebereitschaft zu erhalten und zu stärken, indem ihnen etwa kleinere Zuwendungen gewährt werden (BVerwGE 92, 220 = NVwZ 1994, 490; OVG Frankfurt/Oder, FEVS 54, 371; VGH Kassel, Behindertenrecht 2004, 88). Dies schließt nicht aus, dass der Pflegebedürftige den Pflegepersonen aus dem Pflegegeld regelmäßig Zahlungen zukommen lässt. Die Gewährung von Pflegegeld gemäß § 64 SGB XII ist dabei die wichtigste Leistungsart der häuslichen Pflege. In terminologischer und inhaltlicher Hinsicht knüpfen § 64 Abs. 1 - 3 SGB XII an die entsprechenden Regelungen in § 15 und § 37 SGB XI an. Anders als in den parallelen Vorschriften des SGB XI fehlt in § 64 Abs. 1 - 3 SGB XII zwar der Begriff der Pflegestufe; gleichwohl entsprechen die drei Grade der Pflegebedürftigkeit nach § 64 Abs. 1-3 SGB XII den pflegeversicherungsrechtlichen Pflegestufen nach § 15 SGB XI (zu all dem Grube, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Auflage 2014, § 64 Rz. 2 und 8).
c) § 64 XII unterscheidet in seinen Absätzen 1 - 3 zwischen erheblich Pflegebedürftigen, Schwerpflegebedürftigen und Schwerstpflegebedürftigen. Erheblich pflegebedürftig sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrmals in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Eine Zuordnung zur Schwerpflegebedürftigkeit setzt voraus, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für mehrere Verrichtungen mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Schwerstpflegebedürftig sind endlich solche, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für mehrere Verrichtungen täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
§ 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XI präzisiert den Terminus der Schwerpflegebedürftigkeit (Pflegestufe II) dahingehend, dass der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens drei Stunden zu betragen hat, wobei auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen müssen. Unter Grundpflege ist gemäß § 14 Abs. 4 Nrn.1 - 3 SGB XI die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität, unter hauswirtschaftlicher Versorgung gemäß § 14 Abs. 4 Nr.4 SGB XI die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, bei der Kleidungspflege sowie bei der Wohnungsreinigung und Beheizung zu verstehen. Dagegen muss nach § 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB XI der Zeitaufwand in Pflegestufe III wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens fünf Stunden betragen, wobei auf die Grundpflege mindestens drei Stunden entfallen müssen.
d) Daran gemessen liegen lediglich die Voraussetzungen für die Gewährung eines Pflegegeldes für Schwerpflegebedürftige (Pflegestufe II) vor; der tägliche Grundpflegebedarf der Klägerin betrug im streitgegenständlichen Zeitraum seit dem 01.02.2009 mehr als die nach § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XI geforderten 120 Minuten. Ein für Leistungen der Pflegestufe III täglich notwendiger Zeitaufwand für Grundpflegeleistungen in Höhe von mindestens 240 Minuten (§ 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB XI) lässt sich hingegen nicht feststellen.
Diese Erkenntnis des Senats ergibt sich aus den im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten von Dr. E. vom 05.07.2011 und 29.10.2012 und dem im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten von Dr. D. vom 29.12.2014.
Danach ist der Pflegebedarf der Klägerin im Laufe der Zeit angewachsen, er erreicht unverändert aber nicht die für die Zuerkennung der Pflegestufe III erforderliche Schwelle von täglich 240 Minuten Grundpflege.
Dies ergibt sich aus dem schlüssigen und überzeugenden Gutachten des sozialmedizinischen Sachverständigen Dr. D. vom 29.12.2014, der die Klägerin im Rahmen eines Hausbesuches begutachtet hat. Das Gutachten gibt die häusliche Pflegesituation der Klägerin schlüssig und nachvollziehbar wieder. Der medizinische Sachverständige hat zunächst die pflegebegründende Vorgeschichte anhand der Akten und der Angaben des Sohnes und Betreuers der Klägerin dargestellt. Anschließend hat er die pflegebegründenden Diagnosen und Befunde und funktionelle Einschränkungen der Klägerin aufgrund eigener Untersuchung beschrieben. Nach der Inaugenscheinnahme hat der Sachverständige die Versorgungssituation der Klägerin beschrieben. In seiner Beurteilung der Pflegesituation hat der medizinische Sachverständige zunächst die Behinderung der Klägerin als Demenz schweren Grades mit kognitiven Beeinträchtigungen und Verlust der selbstständigen Handlungsfähigkeit, eine Stuhl- und Harninkontinenz, erhebliche Beeinträchtigung des Bewegungsapparats und eine allgemeine körperliche Schwäche bei Unterernährung festgestellt. Sodann hat er, in Übereinstimmung mit den Richtlinien des GKV- Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI und der Hilfsmittel-Richtlinie sowie dem Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbandes zunächst den Hilfebedarf der Klägerin in den vier Kategorien Körperpflege, Ernährung, Mobilität und Hauswirtschaft tabellarisch beschrieben und anschließend bewertet, bevor er abschließend die vom Senat gestellten Beweisfragen beantwortet hat. Seinem Gutachten hat er eine vom Betreuer und der Pflegerin Frau J. unterzeichnete Aufstellung des Tagesablaufes der Klägerin und den jüngsten Bescheid des ZBFS vom 05.11.2014 beigefügt.
Das Gutachten beschreibt den Pflegebedarf der Klägerin und deren Bedarf an Pflegehilfsmitteln nachvollziehbar und frei von Widersprüchen. Es zeigt eine sich verschlechternde Entwicklung bei der Klägerin verglichen mit den im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Gutachten von Dr. E. vom 05.07.2011 und 29.10.2012. In der Zusammenschau aller drei Gutachten ergibt sich ein in sich schlüssiges Bild von der Pflegesituation und dem daraus resultierenden Pflegebedarf der Klägerin.
Der medizinische Sachverständige hat verrichtungsbezogen den Zeitbedarf für die einschlägigen Verrichtungen in Übereinstimmung mit der nach § 17 SGB XI erlassenen Pflegebedürftigkeitsrichtlinie und Begutachtungsrichtlinie erfasst. Er hat sich dabei an den in den Begutachtungsrichtlinien (BRi) festgelegten Zeitkorridoren orientiert, die Orientierungswerte für die Pflegezeitbemessung der Verrichtungen der Grundpflege geben. Das Gutachten stützt sich auf die individuellen Pflegebedürfnisse der Klägerin, die der Sachverständige in ihrem häuslichen Umfeld begutachtet hat. Der Gutachter berücksichtigt Pflege erschwerende und erleichternde Faktoren und legt einen individuellen Maßstab bezogen auf das konkrete Wohnumfeld der Klägerin an.
In der tabellarischen Darstellung des Hilfebedarfes stellt der Sachverständige in Übereinstimmung mit der im Text beschriebenen Pflegesituation im Bereich der Körperpflege fest, dass die Klägerin diese überhaupt nicht mehr selbst ausführen kann. Daher werden alle beschriebenen einzelnen Verrichtungen in dem Gutachten nachvollziehbar mit der vollständigen Übernahme beschrieben. Die einzelnen Zeitangaben für die Verrichtungen Waschen (Teilwäsche Hände/Gesicht, Duschen/Baden, Zahnpflege, Kämmen) betragen 34 Minuten täglich, wobei das Duschen/Baden entgegen der Beschreibung der Pflegerin täglich mit 20 Minuten angesetzt wird, obwohl im Wechsel auch Ganzkörperwäschen im Bett durchgeführt werden. Diese sind jedoch nach den BRi Punkt F 4.1 mit einem Orientierungswert von 20 - 25 Minuten zu bewerten, für das Duschen/Baden werden nach BRi hingegen 15 -20 Minuten angesetzt. Das tägliche Berücksichtigen einer Dusche/Bad mit 20 Minuten ist daher sachgerecht. Eine Hilfestellung beim Einsteigen in die Badewanne ist im Bereich der Mobilität „Stehen“ zu berücksichtigen (BRi); dies wurde vom Sachverständigen auch so vermerkt.
Der Senat ist davon überzeugt, dass der Pflegebedarf der Klägerin an Verrichtungen zur Körperpflege zutreffend vom medizinischen Sachverständigen mit insgesamt 76 Minuten bewertet wurde und in diesem Umfang auch besteht. Aus der durch die Pflegerin handschriftlich kommentierten Version des Gutachtens (Schreiben des Betreuers der Klägerin vom 11.02.2015) ergibt sich kein höherer Bedarf. Dort werden die vom Gutachter eingeschätzten Zeitanteile jeweils mit dem Zusatz: „Unmöglich zu schaffen aufgrund wegen Abwehrhaltung“ kommentiert. Dieses pflegeerschwerende Verhalten hat der medizinische Sachverständige in seinem Gutachten berücksichtigt (vgl. Gutachten vom 29.12.2014, S. 4).
Im Bereich der Ernährung liegt zur Überzeugung des Senats ein verrichtungsbezogener Pflegebedarf von insgesamt 51 Minuten täglich vor. Auch hier geht der Senat davon aus, dass ebenfalls eine vollständige Übernahme durch die Pflegeperson erfolgt. Dies kommt in dem Gutachten durch die Einschätzung „VÜ“ vollständige Übernahme zum Ausdruck. Der Gutachter hat entsprechend der BRi für die mundgerechte Zubereitung der Nahrung 6 Minuten täglich eingerechnet. Nach BRi Ziffer D 4.2 Punkt 8 gehört zur „mundgerechten“ Zubereitung der Nahrung allein die letzte Maßnahme vor der Nahrungsaufnahme, z. B. das Zerkleinern in mundgerechte Bissen, das Heraustrennen von Knochen und Gräten, das Einweichen harter Nahrung bei Kau- und Schluckbeschwerden und das Einfüllen von Getränken in Trinkgefäße. Erfasst werden nur solche Maßnahmen, die dazu dienen, die bereits zubereitete Nahrung so aufzubereiten, dass eine abschließende Aufnahme durch den Antragsteller erfolgen kann. Hierzu zählen nicht das Kochen oder das Eindecken des Tisches. Zur Aufnahme der Nahrung gehören die Nahrungsaufnahme in jeder Form (fest, breiig, flüssig) wie auch die Verabreichung von Sondennahrung mittels Ernährungssonde einschließlich der Pflege der Sonde und die Verwendung von Besteck oder anderer geeigneter Geräte (z. B. behindertengerechtes Geschirr oder Essbesteck), um Nahrung zum Mund zu führen. Notwendige Aufforderungen zur bedarfsgerechten Aufnahme der Nahrung in fester, breiiger und flüssiger Form (Essen und Trinken), die eine Überwachung und/oder Erledigungskontrolle erfordern, sind beim Hilfebedarf zu berücksichtigen, wenn der Antragsteller aufgrund fehlender Einsichtsfähigkeit dazu nicht in der Lage ist.
Die vom medizinischen Sachverständigen angesetzten Zeitanteile stehen in Übereinstimmung mit den Orientierungswerten in den BRi und sind auch angesichts der Beschreibung des Pflegeablaufes in der dem Gutachten beigegebenen Beschreibung durch die Pflegeperson vom 29.12.2014 nachvollziehbar. Zutreffend hat der Sachverständige auch das Pürieren der Nahrung der hauswirtschaftlichen Zubereitung des Essens zugeschlagen. Er hat ebenso zutreffend das darüber hinausgehende mundgerechte Zubereiten mit täglich sechs Minuten angesetzt.
Im Bereich der Mobilität sieht der Senat einen verrichtungsbezogenen Bedarf der Klägerin im Umfang von insgesamt 34 Minuten. Der Senat folgt auch hier der Einschätzung von Dr. D., der für das Aufstehen und Zubettgehen einen Bedarf von 4 Minuten, für die vollständige Übernahme des Ankleidens 16 Minuten, für das Entkleiden 8 Minuten und für Gehen, Stehen/Transfer einen Bedarf von 6 Minuten berücksichtigt hat. Auch diese Werte stehen in Übereinstimmung mit den BRi, die für Ankleiden 8 -10 Minuten, für das Entkleiden gesamt 4-6 Minuten vorsehen. Der vom Sachverständigen berücksichtigte höhere Zeitanteil resultiert nachvollziehbar aus der Berücksichtigung des erhöhten Aufwandes beim An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen der Klasse 2. Die Einschätzung der Zeitanteile für die Mobilität ist schlüssig, nachdem sich die Klägerin nicht mehr allein in der kleinen Wohnung bewegt und einen Positionswechsel (vom Pflegebett zur Couch) nur mit Unterstützung der Pflegeperson vornimmt. Schlüssig ist auch die Begründung des Gutachters, wonach die Klägerin noch nicht vollständig bettlägerig ist und kein zusätzlicher Bedarf an Umlagerungen tagsüber oder nachts gesehen wird, nachdem die Klägerin zwar bewegungseingeschränkt, aber nicht bewegungsunfähig ist.
Somit ergibt sich ein Bedarf an Grundpflege im Umfang von 161 Minuten täglich, der der Einschätzung in die Pflegestufe II (mindestens 120 Minuten Grundpflege) entspricht. Ein Grundpflegebedarf von 240 Minuten, wie er der Pflegestufe III nach § 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB XI entspräche, ist nicht begründbar.
Bei der hauswirtschaftlichen Versorgung der Klägerin ist nach den BRi Ziffer D 4.4 der tatsächlich anfallende individuelle Hilfebedarf zu bewerten und der Zeitaufwand in Stunden pro Woche abzuschätzen. Es sind nur die Tätigkeiten bei Verrichtungen zu berücksichtigen, die sich auf die Versorgung der Antragstellerin selbst beziehen. Die Versorgung möglicher weiterer Familienmitglieder bleibt unberücksichtigt. Wenn ein krankheits- und/oder behinderungsbedingter Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung besteht, ist er zu berücksichtigen, auch wenn die Versorgung durch Dritte (z. B. Putzfrau, Essen auf Rädern, Angehörige) erfolgt. Die hauswirtschaftliche Versorgung umfasst das Einkaufen, das Kochen, das Reinigen der Wohnung, das Spülen und das Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung. Der vom Sachverständigen angesetzte Bedarf von täglich 60 Minuten ist nachvollziehbar und schlüssig.
Damit ergibt sich insgesamt ein täglicher Pflegebedarf der Klägerin im Umfang von 221 Minuten, so dass die Einstufung in die Pflegestufe II insgesamt zutreffend ist. Das SG hat die Beklagte bereits zur Zahlung eines Pflegegeldes nach der Pflegestufe II verpflichtet.
Von Seiten der Klägerin wurden keine substantiierten Einwände gegen die Richtigkeit des Gutachtens vorgebracht. Die Klägerin trägt lediglich vor, dass die Angaben zum Zeitaufwand „unrealistisch“ seien, ohne dies aber im Einzelnen ausführlich und einleuchtend zu begründen. So wird pauschal behauptet, dass die Zeitangaben aus dem Gutachten aufgrund der Abwehrhaltung der Klägerin unmöglich einzuhalten seien. Im Bereich der Mobilität werden mindestens 4 wöchentliche Fahrten an die Frischluft angegeben, die der Gutachter vergessen habe. Berücksichtigungsfähig sind bei der Mobilität jedoch nur solche Verrichtungen außerhalb der Wohnung, die für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause unumgänglich sind und das persönliche Erscheinen des Pflegebedürftigen notwendig machen. Weitere Hilfen - z. B. bei Spaziergängen oder Besuchen von kulturellen Veranstaltungen - sind nicht berücksichtigungsfähig (Koch in Kasseler Kommentar, § 14 SGB X, Rn. 19).
Auch wenn man davon ausgehen wollte, dass eine „minutengenaue“ Bestimmung des Pflegeaufwandes nicht möglich ist und den eingeholten Sachverständigengutachten eine gewisse Ungenauigkeit wesensimmanent ist, kann - auch unter Berücksichtigung einer „Fehlertoleranz“ - ein Zeitaufwand für die Grundpflege von über 240 Minuten - anstatt der vom Sachverständigen festgestellten 161 Minuten - ohne weiteres ausgeschlossen werden. Denn selbst wenn man der zeitlichen Einschätzung des Grundpflegebedarfes die jeweils höheren Werte aus den Zeitkorridoren der BRi zugrunde legt, ergäbe sich im Bereich der Körperpflege ein höherer Bedarf von insgesamt 35 Minuten, bei der Ernährung von plus 18 Minuten und bei der Mobilität von plus 4 Minuten, insgesamt somit plus 57 Minuten. Selbst bei dieser „worst-case“ Berechnung anhand der oberen Werte aus der BRi läge der Pflegebedarf für die Grundpflege unterhalb von 240 Minuten (nämlich bei 218 Minuten).
In Übereinstimmung mit dem SG weist der Senat darauf hin, dass die Vielzahl der bei der Klägerin vorliegenden medizinischen Befunde und Diagnosen keine höhere Pflegestufe rechtfertigt. Endlich geht auch das Vorbringen, die Schwerbehinderung der Klägerin sei nicht ausreichend gewürdigt worden, an der Sache vorbei. Die Feststellung der Merkzeichen „B“, „G“ und „aG“ nach dem Schwerbehindertenrecht hat keine Bindungswirkung für das Recht des SGB XI. Die Rechtsprechung hat bereits früh darauf hingewiesen, dass die Voraussetzungen einer Zuordnung zu den Pflegestufen des SGB XI nur nach den darin enthaltenen Kriterien zu ermitteln sind (BayLSG, Urteil vom 14.12.2011 - Az.: L 2 P 72/10, Rz. 24 unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 26.11.1998 - Az.: B 3 P 20/97 R).
e) Die Höhe des Pflegegeldes bemisst sich danach, in welche der drei Pflegestufen die Hilfeempfängerin eingestuft ist. Für die Pflegegeldhöhe verweisen die Absätze 1-3 des § 64 SGB XII auf die in § 37 SGB XI genannten Beträge. Danach beträgt das Pflegegeld in der Pflegestufe II für den Zeitraum bis 31.12.2009 420 € monatlich, ab 01.01.2010
430 € monatlich und ab 01.01.2012 440 € monatlich und ab 01.01.2015 458 € monatlich.
Da die Beklagte ursprünglich lediglich Leistungen der Pflegestufe I gewährt hat, waren die entsprechenden Differenzbeträge zur Pflegestufe II nachzubezahlen und künftig Leistungen der Pflegestufe II zu gewähren. Für den Zeitraum vom 01.02.2009 bis 28.02.2013 ergab sich somit zugunsten der Klägerin eine von der Beklagten zu leistende Nachzahlung in Höhe von insgesamt 10.045 €. Ab 01.03.2013 gewährt die Beklagte der Klägerin Leistungen in Höhe von monatlich 440 € (Bescheid vom 04.03.2013). Der Senat geht davon aus, dass die Beklagte der Klägerin entsprechend der gesetzlichen Anhebung ab 01.01.2015 monatlich 458 € als Pflegegeld für Schwerpflegebedürftige gewährt.
f). Aus dem Umstand, dass die Klägerin nach den schlüssigen Feststellungen des Gutachters, denen der Senat folgt, erheblich in ihrer Alltagskompetenz eingeschränkt ist, und ein erheblicher Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung i. S. § 45 a SGB XI vorliegt, ergibt sich kein höherer Anspruch auf Pflegegeld. Die Klägerin ist zwar in den Bereichen aus § 45 a Abs. 2 S. 1 Nrn. 6, 7, 8, 9, 10, 13 SGB XI eingeschränkt (Unfähigkeit, die eigenen körperlichen und seelischen Gefühle oder Bedürfnisse wahrzunehmen; Unfähigkeit zu einer erforderlichen Kooperation bei therapeutischen oder schützenden Maßnahmen als Folge einer therapieresistenten Depression oder Angststörung; Störungen der höheren Hirnfunktionen (Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, herabgesetztes Urteilsvermögen), die zu Problemen bei der Bewältigung von sozialen Alltagsleistungen geführt haben; Störung des Tag-/Nacht-Rhythmus; Unfähigkeit, eigenständig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren; zeitlich überwiegend Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Hilflosigkeit oder Hoffnungslosigkeit aufgrund einer therapieresistenten Depression). Daraus lässt sich jedoch kein Anspruch auf höheres Pflegegeld nach § 64 Abs. 2 SGB XII i. V. m. § 37 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 SGB XI ableiten.
Die zusätzlichen Verrichtungen bedingen einen Pflegebedarf nach § 61 Abs. 1 S. 2 SGB XII i. S. des erweiterten Pflegebegriffs in der Sozialhilfe, wonach auch andere Verrichtungen als die in § 61 Abs. 5 SGB XII genannten gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen den Pflegebedarf begründen können.
Der Anspruch auf zusätzliche Betreuungsleistungen entsprechend § 45 b SGB XI ist jedoch zweckgerichtet auf die Inanspruchnahme von qualitätsgesicherten Betreuungsleistungen (§ 45 b Abs. 1 S. 5 SGB XI).
Das Ausgrenzen allgemeinen Aufsichts- und Betreuungsbedarfs aus dem relevanten Pflegebedarf erweist sich gerade bei geistig oder seelisch behinderten Menschen als problematisch, da bei ihnen im Wesentlichen nur dieser Pflegebedarf besteht, der zudem ein großes zeitliches Ausmaß erlangen kann. Dieses Problem ist jetzt durch das Gesetz zur Ergänzung der Leistungen bei häuslicher Pflege von Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz - PflEG) vom 14.12.2001 (BGBl. I S. 3728), zuletzt geändert durch das Pflegeweiterentwicklungsgesetz vom 28.05.2008 (BGBl I S. 874) zum Teil entschärft. Danach ist ein neuer Abschnitt in das SGB XI (§§ 45a ff. SGB XI) eingefügt worden, der Leistungen für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf vorsieht. Die entsprechenden Defizite in der Alltagskompetenz sind in § 45 a Abs. 2 Nr. 1 bis 13 SGB XI abschließend aufgezählt. Als Leistung ist nach § 45 b Abs. 1 SGB XI höchstens ein Betrag von 100 € monatlich (Grundbetrag) oder von 200 € (erhöhter Betrag) vorgesehen. Der Betrag ist zweckgebunden einzusetzen für Aufwendungen, die durch qualitätsgesicherte Betreuungsleistungen entstehen. Gleichzeitig ist eine neuer § 13 Abs. 3a SGB XI eingefügt worden, wonach die Leistungen nach § 45 b SGB XI bei den Fürsorgeleistungen zur Pflege (also der Sozialhilfe) keine Berücksichtigung finden (Grube a. a. O. § 61 Rn. 24).
Ein Anspruch auf Pflegegeld aus der Sozialhilfe besteht jedoch nur für die in § 64 SGB XII genannten Verrichtungen der Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftlichen Versorgung. Dies ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut der Norm, der Verwendung der Begrifflichkeiten (erheblich Pflegebedürftige, Schwerpflegebedürftige und Schwerstpflegebedürftige, die identisch mit den Begriffen aus §§ 15 Abs. 1 SGB XI) sowie aus der Verweisung auf die Vorschrift des § 37 Abs. 1 S. 3 Nrn. 1-3 SGB XI.
Im Übrigen hat die Klägerin am 19.12.2009 und erneut am 20.06.2009 bei der Beklagten zusätzliche Betreuungsleistungen beantragt. Die Beklagte informierte die Klägerin daraufhin am 19.01.2009 und am 15.06.2009 sowie am 02.07.2009 über die Voraussetzungen der Gewährung zusätzlicher qualitätsgesicherter Betreuungsleistungen. Den gegen das Informationsschreiben gerichteten Widerspruch der Klägerin nahm die damalige Bevollmächtigte der Klägerin am 31.08.2009 zurück.
Es braucht hier nicht entschieden werden, ob das die Gewährung zusätzlicher Betreuungsleistungen nach § 45 b SGB XI entsprechend gerichtete Verwaltungsverfahren der Beklagten noch offen ist, oder ob mit der Rücknahme des Widerspruchs gegen das Infoschreiben vom 02.07.2009 auch der entsprechende Leistungsantrag zurückgenommen wurde. Jedenfalls sind die zusätzlichen Betreuungsleistungen, die nach § 45 b SGB XI als untypischer Kostenersatzanspruch und nicht als Sachleistung ausgestaltet sind (Klie in LPK SGB XI, 4. Auflage, § 45 b Rn. 5) nicht Gegenstand des Verfahrens auf höheres Pflegegeld, weil es sich um eine eigenständige Leistungsart handelt. Zudem ist überhaupt nicht ersichtlich, ob bei der Klägerin ein entsprechender Bedarf vorliegt, weil nicht vorgetragen wurde, dass die Klägerin besondere Betreuungsmöglichleiten nach § 45 b Abs. 1 S. 6 SGB XI (Erstattung von Aufwendungen durch die Inanspruchnahme von Leistungen der Tages- und Nachtpflege, der Kurzzeitpflege, der zugelassenen Pflegedienste oder der nach Landesrecht zugelassenen niederschwelligen Angebote) in Anspruch nimmt.
g.) Eine Erhöhung des Pflegegeldes nach der Pflegestufe II für die Zeit ab 01.01.2013 entsprechend der Übergangsregelung des § 123 SGB XI - verbesserte Pflegeleistungen für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz - kommt ebenfalls nicht in Betracht.
Nach § 123 Abs. 4 SGB XI in der Fassung vom 23.10.2012, gültig ab 01.01.2013 bis 31.12.2014 erhöht sich für Pflegebedürftige der Pflegestufe II das Pflegegeld nach § 37 um 85 Euro auf 525 Euro und die Pflegesachleistungen nach § 36 um 150 Euro auf bis zu 1 250 Euro.
Nach § 123 Abs. 4 SGB XI in der Fassung vom 17.12.2014, gültig ab 01.01.2015 erhöht sich für Pflegebedürftige der Pflegestufe II das Pflegegeld nach § 37 um 87 Euro auf 545 Euro und die Pflegesachleistungen nach § 36 um 154 Euro auf bis zu 1 298 Euro.
§ 123 SGB XI ist mit Wirkung vom 01.01.2013 durch Art. 1 Nr. 48 des Gesetzes zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz - PNG) vom 23.10.2012 angefügt worden. Durch Art. 1 Nr. 29 des Ersten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Erstes Pflegestärkungsgesetzes - PSG I) vom 17.12.2014 (BGBl I 2014, 2222) ist § 123 Abs. 2-4 SGB XI geändert worden.
Mit der neuen Vorschrift des § 123 SGB XI werden für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (§ 45a SGB XI) Leistungsverbesserungen in der sozialen und privaten Pflegeversicherung eingeführt; bei diesem Personenkreis spielen die körperlichen Defizite häufig nicht die zentrale Rolle, ihr dennoch bestehender Hilfe- und Betreuungsbedarf konnte nach den früheren Regelungen nicht ausreichend bei der Begutachtung erfasst werden. Deshalb soll der Begriff der Pflegebedürftigkeit neu definiert werden.
Nach dem Wortlaut der neuen Vorschrift des § 123 SGB XI sollen Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz bis zum Inkrafttreten eines Gesetzes, das die Leistungsgewährung aufgrund eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines entsprechenden Begutachtungsverfahrens regelt, bereits höhere Leistungen erhalten und neben Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung auch Betreuungsleistungen in Anspruch nehmen können.
Die Anforderungen bezüglich erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz ergeben sich aus § 45a SGB XI; der Anspruch ist auf Versicherte beschränkt, die in ihrer häuslichen Umgebung gepflegt werden, zumal bei der stationären Pflege bereits vor Inkrafttreten des PNG soziale Betreuung gewährleistet ist (§ 82 Abs. 1 Satz 3 SGB XI) und künftig bei allen Formen der stationären Pflege zusätzliche Betreuungskräfte (§ 87b SGB XI) zulasten der Pflegekassen eingesetzt werden können ( Dahm in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 1. Aufl. 2014, § 123 SGB XI, Rn. 1 ff).
Ein Anspruch der Klägerin auf ein entsprechend der in § 123 SGB XI festgelegten Sätze erhöhtes Pflegegeld für Schwerpflegebedürftige nach § 64 Abs. 2 SGB XII besteht nicht.
Mit der Einführung der Leistungen der §§ 123 ff SGB XI sind die Regelleistungen der §§ 36 ff SGB XI, auf die § 64 SGB XII ausdrücklich verweist, nicht ausgeweitet worden. Diese Sonderleistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung können daher nicht vom Sozialhilfeträger gewährt werden, sondern kommen ausschließlich den nach dem SGB XI Pflegeversicherten zugute (Schellhorn in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII Kommentar, 19. Auflage, § 64 Rn. 5).
Dies ergibt sich aus der Rechtssystematik. Die Leistungen nach § 123 SGB XI werden im Leistungskatalog des § 28 SGB XI gesondert in § 28 Abs. 1 b S. 2 SGB XI aufgeführt. Hinsichtlich des Inhalts der Leistungen der Hilfe zur Pflege verweist § 61 Abs. 2 S. 2 SGB XII aber nur auf § 28 Abs. 1 Nrn. 1 und 5-8 SGB XI. Damit sind die verbesserten Pflegeleistungen für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz nach § 123 SGB XI nicht Inhalt der Leistungen der Hilfe zur Pflege in der Sozialhilfe. Die Verweisung in § 64 Abs. 2 SGB XII bezieht sich ausschließlich auf ein Pflegegeld in Höhe von § 37 Abs.1 S. 3 Nr. 2 SGB XI.
Aus den Gesetzesmaterialien zu dem Pflegeneuausrichtungsgesetz PNG ergibt sich der gesetzgeberische Wille, mit der Einführung des § 123 SGB XI eine Übergangsleistung außerhalb des Systems der Regelleistungen des SGB XI und der Hilfe zur Pflege einzuführen, um eine präjudizierende Wirkung im Hinblick auf die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu vermeiden. So heißt es im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Entwurf des PNG, Bundestagsdrucksache, 17/9369, vom 23.04.2012, S. 52 ff:
„Zu § 123 (neu)
Mit dieser Vorschrift werden für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (§ 45a) Leistungsverbesserungen in der sozialen und privaten Pflegeversicherung eingeführt. Menschen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen haben einen besonderen Hilfe- und Betreuungsbedarf, der vor allem über den Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege, also der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität, hinausgeht. Bei diesem Personenkreis spielen die körperlichen Defizite häufig nicht die zentrale Rolle. Ihr dennoch bestehender Hilfe- und Betreuungsbedarf kann nach den bisherigen Regelungen oftmals nicht ausreichend bei der Begutachtung erfasst werden. Aus diesem Grund soll der Begriff der Pflegebedürftigkeit neu definiert werden. Das Bundesministerium für Gesundheit wird die weiteren Schritte für die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs von einem Expertenbeirat fachlich fundiert vorbereiten lassen.
Bis zum Inkrafttreten eines Gesetzes, das die Leistungsgewährung aufgrund eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines entsprechenden Begutachtungsverfahrens regelt, sollen Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz jedoch bereits höhere Leistungen erhalten (§ 123) und neben Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung auch Betreuungsleistungen (§ 124) in Anspruch nehmen können.
Die Leistungsverbesserungen beziehen sich auf Pflegebedürftige in häuslicher Pflege, weil die stationäre Pflege bereits heute die soziale Betreuung mit einschließt (§ 82 Absatz 1 Satz 3) und darüber hinaus künftig bei allen Formen stationärer Pflege zusätzliche Betreuungskräfte (§ 87b) zulasten der Pflegekassen eingesetzt werden können.
Zu Absatz 1
Bis zum Inkrafttreten eines Gesetzes, das die Leistungsgewährung aufgrund eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines entsprechenden Begutachtungsverfahrens regelt, erhalten ambulant versorgte Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (§ 45a) aufgestockte Leistungen, die höher liegen als die aktuellen Leistungsbeträge der jeweiligen Pflegestufe. Weder das bestehende Begutachtungsverfahren nach § 18 noch das Verfahren zur Feststellung einer eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a müssen hierzu geändert werden. Damit wird bei der Frage, ob und in welcher Höhe Pflegeleistungen bezogen werden können, auch darauf abgestellt, ob ein besonderer Betreuungsbedarf im Sinne des § 45a bei der Begutachtung festgestellt wird. Etwa 500 000 ambulant versorgte Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz und einem Pflegebedarf unterhalb der Pflegestufe III werden von den Leistungsverbesserungen profitieren.“
Damit ist klargestellt, dass es sich bewusst um Übergangsleistungen handeln soll, die das bisherige Leistungssystem des SGB XI und SGB XII nicht tangieren sollen.
Im Übrigen ergibt sich auch aus den Gesetzesmaterialien der Begründung zu § 124 SGB XI (Anspruch auf häusliche Betreuung), dass es sich nur der Art nach um einen Sachleistungsanspruch im Sinne des § 36 SGB XI handeln soll. Die häusliche Betreuung ist aus diesem Grund nicht in § 36 SGB XI integriert, sondern als eigenständige Übergangsleistung außerhalb des Regelleistungskatalogs ausgestaltet worden. In der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfes heißt es nach der Bundestagsdrucksache, 17/9369, vom 23.04.2012, S. 53: „Die Einbeziehung von häuslicher Betreuung im Übergangsrecht der Pflegeversicherung hat keine Ausweitung der Art und des Umfangs der Leistungen, die als Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Buch und dem Bundesversorgungsgesetz (Kriegsopferfürsorge) zu erbringen sind, zur Folge.“ Der Gesetzgeber hat sich damit bei Einführung des § 123 SGB XI bewusst gegen eine Anhebung des Pflegegeldes nach § 64 SGB XII entschieden, so dass keine Regelungslücke vorliegt.
Im Bereich der Hilfen zur Pflege finden die besonderen Bedarfe der demenzerkrankten Hilfebedürftigen ausschließlich in § 65 Abs. 1 S. 2 SGB XII Berücksichtigung. Danach können Leistungen zur häuslichen Pflege angemessene Kosten für besondere Betreuungs- oder Pflegeleistungen übernommen werden (Schellhorn ia. a. O. § 61 Rn. 48 a. E.). Für eine Systemunabhängigkeit der besonderen Pflegeleistungen für demenzerkrankte Pflegeversicherte spricht auch die Abgrenzungsnorm des § 13 Abs. 3 a SGB XI, der anordnet, dass die Leistungen nach § 45 b SGB XI bei den Fürsorgeleistungen zur Pflege nach § 13 Abs. 3 S. 1 SGB XI keine Berücksichtigung finden.
Damit ergibt sich insgesamt für die Klägerin ein Anspruch auf Pflegegeld in entsprechender Höhe der Pflegestufe II, das ihr bereits von der Beklagten gewährt wird.
Die auf Gewährung eines höheren Pflegegeldes gerichtete Berufung hat somit keinen Erfolg.
9. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
10. Gründe für die Zulassung der Revision nach § §160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG sind nicht ersichtlich.
(1) Für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen gelten die §§ 41 bis 46 Absatz 1 und die §§ 47 bis 49 der Zivilprozeßordnung entsprechend.
(2) Von der Ausübung des Amtes als Richter ist auch ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat.
(3) Die Besorgnis der Befangenheit nach § 42 der Zivilprozeßordnung gilt stets als begründet, wenn der Richter dem Vorstand einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts angehört, deren Interessen durch das Verfahren unmittelbar berührt werden.
(4) (weggefallen)
(1) Das Ablehnungsgesuch ist bei dem Gericht, dem der Richter angehört, anzubringen; es kann vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt werden.
(2) Der Ablehnungsgrund ist glaubhaft zu machen; zur Versicherung an Eides statt darf die Partei nicht zugelassen werden. Zur Glaubhaftmachung kann auf das Zeugnis des abgelehnten Richters Bezug genommen werden.
(3) Der abgelehnte Richter hat sich über den Ablehnungsgrund dienstlich zu äußern.
(4) Wird ein Richter, bei dem die Partei sich in eine Verhandlung eingelassen oder Anträge gestellt hat, wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, so ist glaubhaft zu machen, dass der Ablehnungsgrund erst später entstanden oder der Partei bekannt geworden sei. Das Ablehnungsgesuch ist unverzüglich anzubringen.
Tenor
-
Die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 25. Juli 2014 6 K 940/14 wird als unbegründet zurückgewiesen.
-
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Gründe
- 1
-
Die Beschwerde ist unbegründet. Die geltend gemachten Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) führen nicht zur Zulassung der Revision.
- 2
-
1. Die Ablehnung eines Antrags auf Verlegung eines Termins zur mündlichen Verhandlung verletzt nur dann den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG-- und § 96 Abs. 2 FGO), wenn erhebliche Gründe für eine Aufhebung oder Verlegung geltend gemacht worden sind (§ 155 FGO i.V.m. § 227 der Zivilprozessordnung --ZPO--). Eine schlüssige Rüge dieses Verfahrensmangels erfordert daher die Darlegung, dass zur Begründung des Verlegungsantrags derart erhebliche Gründe substantiiert vorgetragen und glaubhaft gemacht worden sind (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19. Dezember 2011 V B 37/11, BFH/NV 2012, 956; vom 30. Mai 2008 IX B 216/07, BFH/NV 2008, 1510, sowie vom 4. August 2005 I B 219/04, BFH/NV 2006, 73, m.w.N.).
- 3
-
Eine nicht zu beseitigende Terminsüberlagerung mit einem anderweitigen Rechtsstreit stellt zwar einen "erheblichen Grund" i.S. von § 227 ZPO dar, lag aber im Streitfall ersichtlich nicht vor: Der Termin beim Bundespatentgericht fand am Vortag statt und der Termin beim Amtsgericht in D zwar am Tag der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht (FG), aber erst um 9:30 Uhr. Zur Vermeidung einer Terminkollision hat das FG die mündliche Verhandlung von 11:00 Uhr auf 7:00 Uhr vorverlegt, eine Fahrzeit nach D von zwei Stunden berücksichtigt und sich überdies bereit erklärt, den Termin von 7:00 Uhr auf 6:30 Uhr vorzuverlegen. Gründe, die den Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) in dieser Zeit an der Teilnahme hinderten, hat er weder vorgebracht noch glaubhaft gemacht. Bloße Unannehmlichkeiten, um den Termin pünktlich wahrnehmen zu können (wie beispielsweise eine frühe Anreise oder eine Hotelübernachtung), reichen dagegen für die Annahme eines erheblichen Grundes nicht aus.
- 4
-
2. Die Beschwerde ist auch insoweit ohne Erfolg, als sie auf die Ablehnung des Befangenheitsgesuchs durch das FG gestützt wird.
- 5
-
a) Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 42 ZPO findet die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Dabei kommt es darauf an, ob der Prozessbeteiligte von seinem Standpunkt aus bei vernünftiger objektiver Betrachtung Anlass hat, die Voreingenommenheit des oder der abgelehnten Richter zu befürchten (BFH-Beschlüsse vom 27. August 1998 VII B 8/98, BFH/NV 1999, 480, und vom 11. Februar 2003 VII B 330/02, VII S 41/02, BFHE 201, 483, BStBl II 2003, 422). Gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 44 Abs. 2 ZPO sind die das Misstrauen in die Unparteilichkeit rechtfertigenden Umstände im Ablehnungsgesuch substantiiert darzulegen und glaubhaft zu machen (BFH-Beschlüsse vom 13. September 1991 IV B 147/90, BFH/NV 1992, 320, und in BFHE 201, 483, BStBl II 2003, 422).
- 6
-
b) Soweit die Beschwerdeschrift das Vorliegen eines Verfahrensmangels darauf stützt, dass das FG den Befangenheitsantrag des Klägers zu Unrecht abgelehnt habe, ist zu berücksichtigen, dass Beschlüsse über die Ablehnung von Gerichtspersonen nach § 128 Abs. 2 FGO nicht mit der Beschwerde und damit grundsätzlich auch nicht mit einer Nichtzulassungsbeschwerde angefochten werden können (§ 124 Abs. 2 FGO). Geltend gemacht werden können somit nur solche Verfahrensmängel, die als Folge der Ablehnung des Befangenheitsgesuchs dem angefochtenen Urteil anhaften. Ein Zulassungsgrund ist daher nur dann gegeben, wenn die Ablehnung entweder gegen das Willkürverbot verstößt oder ein Verfahrensgrundrecht wie den Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt wird. Auch das Verfahrensgrundrecht auf den gesetzlichen Richter schützt indes nur vor willkürlichen Verstößen gegen Verfahrensvorschriften. Eine Besetzungsrüge kann deshalb auch nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn sich --woran es vorliegend fehlt-- dem Beschwerdevorbringen entnehmen lässt, dass der Beschluss über die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs nicht nur fehlerhaft, sondern greifbar gesetzwidrig und damit willkürlich war (BFH-Beschlüsse vom 25. Juli 2005 VII B 2/05, BFH/NV 2005, 2035, sowie vom 13. Januar 2003 III B 51/02, BFH/NV 2003, 640).
- 7
-
c) Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor:
- 8
-
aa) Dass der Einzelrichter dem Antrag des Klägers auf Verlegung des Termins für die mündliche Verhandlung nicht entsprochen hat, lässt eine greifbar gesetzeswidrige Ablehnung des Befangenheitsgesuchs und damit eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nicht erkennen. Denn der Verlegungsantrag wurde mangels Vorliegens eines erheblichen Grundes zu Recht abgelehnt (vgl. Ausführungen unter 1.).
- 9
-
bb) Die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs erweist sich auch nicht insoweit als greifbar gesetzeswidrig und damit willkürlich, als der Kläger vorbringt, der Einzelrichter habe eine telefonische Äußerung von ihm mit der Erwiderung quittiert "Da muss ich aber lachen".
- 10
-
(1) Freimütige oder saloppe Formulierungen geben grundsätzlich noch keinen Anlass zur Besorgnis der Befangenheit (BFH-Beschlüsse vom 29. August 2001 IX B 117/00, BFH/NV 2002, 63; vom 8. Dezember 1998 VII B 227/98, BFH/NV 1999, 661; vom 27. September 1994 VIII B 64-76/94, BFH/NV 1995, 526, und vom 31. August 1987 IV B 101/86, BFH/NV 1989, 169). Evident unsachliche oder unangemessene sowie herabsetzende und beleidigende Äußerungen des Richters können aber die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen, wenn sie den nötigen Abstand zwischen Person und Sache vermissen lassen (BFH-Beschlüsse vom 13. Januar 1987 IX B 12/84, BFH/NV 1987, 656; vom 6. Februar 1989 V B 119/88, BFH/NV 1990, 45, und vom 21. November 1991 V B 157/91, BFH/NV 1992, 479).
- 11
-
(2) Vorliegend begründet die vom Kläger beanstandete Äußerung des Einzelrichters jedenfalls deshalb keine auf Voreingenommenheit hinweisende Unsachlichkeit, weil der Einzelrichter --wie sich aus dem Schriftsatz des Klägers vom 22. Juli 2014 ergibt-- anschließend konzediert hat, dass der Absturz des Computers mit allen Steuerdaten auch in seinen Augen ein anerkennenswertes Problem sei. Danach bestand bei vernünftiger objektiver Betrachtung kein Anlass mehr, die Voreingenommenheit des abgelehnten Richters zu befürchten.
- 12
-
3. Das FG war trotz des Befangenheitsantrages des Klägers nicht gehindert, in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung durch Einzelrichter über die Klage zu entscheiden. Denn das Ablehnungsgesuch war rechtsmissbräuchlich.
- 13
-
a) Gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO richtet sich die Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch nach den §§ 45, 47 ZPO. Danach wirkt der abgelehnte Richter an der Entscheidung grundsätzlich nicht mit. Von diesem Grundsatz gilt jedoch dann eine Ausnahme, wenn die Ablehnung missbräuchlich ist (BFH-Beschluss vom 8. Oktober 1997 I B 103/97, BFH/NV 1998, 475, m.w.N.). Dies ist der Fall, wenn der Antrag offenbar grundlos ist (BFH-Beschluss vom 10. August 1987 X B 29/87, BFH/NV 1988, 103) oder nur der Verschleppung dient (BFH-Beschluss vom 12. November 2009 IV B 66/08, BFH/NV 2010, 671). Maßgeblich dafür, ob der Antrag zu Recht als missbräuchlich abgelehnt worden ist, sind die im Antrag vorgebrachten Gründe; später geltend gemachte Gründe können nicht berücksichtigt werden (vgl. BFH-Beschluss vom 30. September 1998 XI B 22/98, BFH/NV 1999, 348).
- 14
-
b) Vorliegend hat der Kläger den Einzelrichter am FG deswegen abgelehnt, weil dieser seinen Antrag auf Terminverlegung abgelehnt und sich unsachlich geäußert habe. Diese Befangenheitsgründe liegen nach den Ausführungen unter 2. c offensichtlich nicht vor. Darüber hinaus diente der Befangenheitsantrag, wie vom FG zutreffend ausgeführt wird, der Prozessverschleppung. Denn der Prozessbevollmächtigte beendete das Telefongespräch mit dem Einzelrichter vom 22. Juli 2014, in dem das Gericht dem Kläger mitteilte, dass der Termin voraussichtlich nicht verlegt werde, sinngemäß mit den Worten, er wisse nun, was er zu tun habe. Hierzu instrumentalisierte er eine --schon mehrere Wochen zurückliegende und bei objektiver Betrachtungsweise keinen Anlass für eine Befangenheit gebende-- Äußerung des Einzelrichters als Begründung für seinen Befangenheitsantrag.
- 15
-
c) Ist das Ablehnungsgesuch rechtsmissbräuchlich und deshalb offensichtlich unzulässig, entscheidet das Gericht darüber in der nach dem Geschäftsverteilungsplan vorgesehenen Besetzung, ohne dass es einer vorherigen dienstlichen Äußerung der abgelehnten Richter nach § 51 FGO i.V.m. § 44 Abs. 3 ZPO bedarf (z.B. BFH-Beschluss vom 1. April 2003 VII S 7/03, BFH/NV 2003, 1331). In diesem Fall ist es auch nicht notwendig, über den Antrag in einem besonderen Beschluss zu entscheiden, sondern es kann im Urteil darüber mitentschieden werden (BFH-Beschlüsse in BFHE 201, 483, BStBl II 2003, 422; vom 21. November 2002 VII B 58/02, BFH/NV 2003, 485, und vom 31. August 1999 V B 53/97, V S 13/99, BFH/NV 2000, 244).
- 16
-
4. Von der Wiedergabe des Tatbestands und einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.
- 17
-
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
(1) Für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen gelten die §§ 41 bis 46 Absatz 1 und die §§ 47 bis 49 der Zivilprozeßordnung entsprechend.
(2) Von der Ausübung des Amtes als Richter ist auch ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat.
(3) Die Besorgnis der Befangenheit nach § 42 der Zivilprozeßordnung gilt stets als begründet, wenn der Richter dem Vorstand einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts angehört, deren Interessen durch das Verfahren unmittelbar berührt werden.
(4) (weggefallen)
(1) Das Ablehnungsgesuch ist bei dem Gericht, dem der Richter angehört, anzubringen; es kann vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt werden.
(2) Der Ablehnungsgrund ist glaubhaft zu machen; zur Versicherung an Eides statt darf die Partei nicht zugelassen werden. Zur Glaubhaftmachung kann auf das Zeugnis des abgelehnten Richters Bezug genommen werden.
(3) Der abgelehnte Richter hat sich über den Ablehnungsgrund dienstlich zu äußern.
(4) Wird ein Richter, bei dem die Partei sich in eine Verhandlung eingelassen oder Anträge gestellt hat, wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, so ist glaubhaft zu machen, dass der Ablehnungsgrund erst später entstanden oder der Partei bekannt geworden sei. Das Ablehnungsgesuch ist unverzüglich anzubringen.
Tenor
-
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 16. April 2015 wird als unzulässig verworfen.
-
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
- 2
-
Der Kläger wurde im August 2007 bei einer körperlichen Auseinandersetzung verletzt. Seinen Antrag, ihm deshalb Beschädigtenversorgung zu gewähren, lehnte der Beklagte ab, weil der schädigende Vorgang nicht erwiesen sei (Bescheid vom 25.11.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.10.2009).
- 3
-
Die dagegen erhobene Klage wies das SG ebenfalls mit der Begründung ab, die anspruchsbegründenden Tatsachen seien nicht erwiesen (Urteil vom 2.11.2011). Der Kläger hat im Februar 2012 dagegen Berufung eingelegt. Er leide infolge des tätlichen Angriffs an einer Trigeminusneuralgie, die ihn gesundheitlich schwer beeinträchtige. Das LSG zog ärztliche Befundunterlagen sowie die Akten des den Kläger betreffenden Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft E. bei. Am 24.3.2014 erfolgte die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 16.4.2014.
- 4
-
Mit gesonderten, aber im Wesentlichen gleichlautenden Anträgen vom 15.4.2015 lehnte der Prozessbevollmächtigte des Klägers alle Berufsrichter des zuständigen LSG-Senats wegen Befangenheit ab. Wie er schriftsätzlich nachgewiesen habe, sei das Verfahren weder verhandlungs- noch entscheidungsreif. Die Berufsrichter des Senats hätten grob gegen § 103 SGG verstoßen, indem sämtliche Anträge auf Beweiserhebung des Antragstellers ungehört geblieben seien. Die gesamte bisherige unsachgemäße Verfahrensleitung, fortgesetzt begangene grobe Verfahrensverstöße und jahrelange Untätigkeit des Gerichts seien Ablehnungsgründe.
- 5
-
Mit dem angefochtenen Urteil vom 16.4.2015 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. Es habe trotz der noch nicht beschiedenen Befangenheitsgesuche gegen sämtliche abgelehnten Berufsrichter entscheiden können, da der Kläger sich in Kenntnis der Ablehnungsgründe im Termin zur Sache eingelassen habe. Die Befangenheitsanträge seien im Übrigen unzulässig gewesen, weil sie von Anfang an nur den Verhandlungstermin hätten verhindern sollen und der Prozessbevollmächtigte des Klägers sie zudem im eigenen Namen gestellt habe.
- 6
-
In der Sache sei zwar ein Angriff iS von § 1 OEG ohne Weiteres zu bejahen. Allerdings sei die Trigeminusneuralgie des Klägers nicht mit Wahrscheinlichkeit Folge des tätlichen Angriffs. Die in zeitlicher Nähe zum Angriff erstellten ärztlichen Befundberichte dokumentierten lediglich oberflächliche Verletzungen und keine Schädigung von Nerven, die für eine Trigeminusneuralgie ursächlich sein könne. Die weiteren vom Kläger beantragten Ermittlungen wie die Anhörung seiner Ehefrau, seines Sohnes sowie die Untersuchung der Notrufverbindungen seines Netzanbieters seien nicht veranlasst, weil nicht entscheidungserheblich gewesen.
- 7
-
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt. Die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung, es liege eine Divergenz vor und vor allem habe das LSG Verfahrensfehler begangen, indem es durch die als befangen abgelehnten Richter entschieden habe.
- 8
-
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil keiner der behaupteten Zulassungsgründe ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
- 9
-
1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden.
- 10
-
a) Der Kläger hat die behauptete Verletzung von § 60 SGG iVm § 42 ZPO sowie seines Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art 101 Abs 1 S 2 GG nicht hinreichend substantiiert dargetan.
- 11
-
Grundsätzlich unterliegen Entscheidungen, die dem Endurteil vorausgegangen sind und - wie im Falle einer Ablehnung eines Befangenheitsantrages durch ein LSG - unanfechtbar sind (§ 177 SGG), nicht der Beurteilung des Revisionsgerichts (§ 202 SGG iVm § 557 Abs 2 ZPO). Deshalb kommt ein Verstoß gegen Art 101 Abs 1 S 2 GG nur bei willkürlichen Verstößen gegen Verfahrensvorschriften in Betracht (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 1 RdNr 9 f). Hier liegt der Fall indes anders, weil das LSG die Befangenheitsanträge nicht durch Zwischenentscheidung abgelehnt hat; vielmehr ist es in seinen Urteilsgründen von rechtsmissbräuchlichen Ablehnungsgesuchen, die unbeachtlich seien, ausgegangen. In einem solchen Fall kann sich die fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts - anders als in den Fällen einer Zwischenentscheidung - als Verfahrensfehler erweisen, auf dem die Entscheidung beruhen kann (BSG Beschluss vom 13.8. 2009 - B 8 SO 13/09 B - Juris; vgl auch BSG SozR 4-1500 § 60 Nr 4 S 7).
- 12
-
Auch eine solche fehlerhafte Anwendung einfachen Verfahrensrechts, hier § 60 SGG iVm § 42 ZPO, bei der Behandlung der Befangenheitsgesuche des Klägers hat die Beschwerde indes nicht hinreichend substantiiert dargelegt und damit noch weniger seines Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art 101 Abs 1 S 2 GG.
- 13
-
Zwar erscheint es zweifelhaft, ob das LSG das Befangenheitsgesuch des Klägers allein deshalb als erledigt ansehen durfte, weil sein Prozessbevollmächtigter im Termin zur mündlichen Verhandlung zur Sache verhandelt und einen Sachantrag gestellt hat. Nach § 60 SGG iVm § 43 ZPO kann ein Beteiligter einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit nicht mehr ablehnen, wenn er sich bei ihm, ohne den ihm bekannten Ablehnungsgrund geltend zu machen, in eine Verhandlung eingelassen oder Anträge gestellt hat. Nach dieser Vorschrift verliert der Beteiligte sein Ablehnungsrecht grundsätzlich auch dann, wenn er, nachdem er ein Ablehnungsgesuch erhoben hat, die weitere Verhandlung nicht verweigert. Dies gilt allerdings nicht, wenn ihn inkorrektes richterliches Verhalten zu einer weiteren Einlassung oder Antragstellung gezwungen hat (Gehrlein in Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl 2013, § 43 RdNr 7 mwN). Nach § 47 Abs 1 ZPO hat ein abgelehnter Richter vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vorzunehmen, die keinen Aufschub gestatten. Zu diesen unaufschiebbaren Handlungen zählt es normalerweise nicht, eine vollständige mündliche Verhandlung durchzuführen, wie es das LSG getan hat.
- 14
-
Andererseits gilt die Wartepflicht aus § 47 ZPO nicht, wenn das Ablehnungsgesuch missbräuchlich ist(vgl Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 35. Aufl 2014, § 47 RdNr 1a mwN). Insoweit setzt die Beschwerde dem nachvollziehbaren Argument des LSG nichts Stichhaltiges entgegen, das Befangenheitsgesuch sei als missbräuchlich anzusehen, weil der Kläger es erst am Tag vor der mündlichen Verhandlung eingereicht hat, die er für verfrüht hielt und zugunsten weiterer Ermittlungen abwenden wollte.
- 15
-
Letztlich kann die Frage der Erledigung des Gesuchs aber dahinstehen, denn das LSG hat das Befangenheitsgesuch des Klägers unabhängig davon auch als unzulässig angesehen. Die Nichtzulassungsbeschwerde legt nicht hinreichend substantiiert dar, warum darin ein Verfahrensverstoß liegen sollte. Zur Begründung des Befangenheitsgesuchs wiederholt sie lediglich ihren bereits gegenüber dem LSG erhobenen Vorwurf, das LSG sei jahrelang untätig gewesen, habe grobe Fehler bei der Verfahrensleitung begangen und insbesondere die erforderlichen Ermittlungen unterlassen und damit gegen seine Amtsermittlungspflicht verstoßen. Dabei setzt sich die Beschwerde aber nicht hinreichend damit auseinander, dass ein Befangenheitsgesuch auch dann als unzulässig abgelehnt werden kann, wenn es keinen oder nur einen von vornherein völlig ungeeigneten Ablehnungsgrund nennt, § 60 Abs 1 SGG iVm § 44 Abs 2 S 1 ZPO(BVerfG vom 2.6.2005 - 2 BvR 625/01 - NJW 2005, 3410, 3412), zB wenn keinerlei substantiierte Tatsachen vorgetragen werden (BVerwG NJW 1997, 3327) oder nur Tatsachen, die eine Befangenheit unter keinem denkbaren Gesichtspunkt begründen lassen (OVG Hamburg NVwZ-RR 2000, 548). Ein im Rahmen gebotener richterlicher Verfahrensweise liegendes Verhalten kann einem Ablehnungsgesuch von vornherein nicht zum Erfolg verhelfen. Selbst Fehler des Richters - sofern nicht besondere weitere Umstände hinzutreten - vermögen keine Besorgnis der Befangenheit begründen (vgl BFH Beschlüsse vom 27.6.1996 - X B 84/96 - BFH/NV 1997, 122, Juris; vom 29.8.2001 - IX B 3/01 - BFH/NV 2002, 64, Juris). Es müssen vielmehr mit dem Ablehnungsgesuch Gründe dargetan werden, die dafür sprechen, dass die mögliche Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung des Richters gegen den ablehnenden Beteiligten oder auf Willkür beruht (vgl BFH Beschluss vom 16.2.1989 - X B 99/88, BFH/NV 1989, 708, Juris; BFH Beschluss vom 27.6.1996 - X B 84/96 - BFH/NV 1997, 122, Juris). Solche Gründe hat der Kläger weder vor dem LSG noch im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde dargelegt. Behaupteten Fehlern bei der Sachverhaltsaufklärung allein kann kein objektiv vernünftiger Grund für die Besorgnis der Befangenheit des abgelehnten Richters entnommen werden. Soweit der Beteiligte meint, Ermittlungsdefizite festgestellt zu haben, ist diesen etwa durch entsprechende Beweisanträge zu begegnen. Ein Befangenheitsgesuch ist nicht geeignet, die gewünschten Ermittlungen zu erzwingen (BSG Beschluss vom 29.3.2007 - B 9a SB 18/06 B - SozR 4-1500 § 60 Nr 4, SozR 4-1500 § 160 Nr 14). Die Beschwerde hat auch nicht substantiiert dargelegt, warum das LSG durch den Umgang mit den Ermittlungsanregungen des Klägers eine Parteilichkeit oder eine unsachliche Einstellung zum Ausdruck gebracht haben könnte. Anhaltspunkte für eine Willkür (vgl hierzu BFH Beschlüsse vom 28.11.2001 - VII B 67/01 und vom 19.2.2002 - X B 41/01, beide Juris) sind vom Kläger ebenfalls nicht dargetan worden. Zudem hat er sich auch, wie ausgeführt, nicht mit der nachvollziehbaren Einstufung seines Befangenheitsgesuchs als missbräuchlich durch das LSG auseinandergesetzt.
- 16
-
Ebenso wenig hat die Beschwerde dargetan, warum das LSG nicht ausnahmsweise abweichend von § 60 Abs 1 SGG iVm § 45 Abs 1 ZPO über sein offensichtlich vollständig ungeeignetes Befangenheitsgesuch unter Mitwirkung der Richter entscheiden durfte, die der Kläger für befangen hält. In der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichtshöfe und des BVerfG ist anerkannt, dass rechtsmissbräuchliche oder gänzlich untaugliche Ablehnungsgesuche ausnahmsweise im vereinfachten Ablehnungsverfahren in der geschäftsplanmäßigen Besetzung des Gerichts unter Beteiligung der abgelehnten Richter behandelt werden können, wenn für die Verwerfung als unzulässig jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens entbehrlich ist. Dies ist der Fall, wenn das Gericht einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts für sachfremde Zwecke verhindern will oder lediglich eine bloße Formalentscheidung über ein offensichtlich unzulässiges Gesuch trifft, die keinerlei Beurteilung des eigenen Verhaltens durch die entscheidenden Richter und kein Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erfordert (vgl BSG SozR 4-1500 § 60 Nr 7; BVerfG NJW 2013, 1665; BVerfG NJW 2007, 3771; BFH NJW 2009, 3806 mwN; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 60 RdNr 10d mwN; Wolff-Dellen in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 60 RdNr 79 ff; aA BVerwG, Beschluss vom 11.12.2012 - 8 B 58/12 - Juris). Mehr als eine solche bloße Formalentscheidung brauchte das LSG über das, wie ausgeführt, unter keinem denkbaren Gesichtspunkt erfolgversprechende Befangenheitsgesuch des Klägers nicht zu treffen. Zumal der Kläger auch dem Missbrauchsvorwurf des LSG nicht substantiiert entgegengetreten ist.
- 17
-
b) Ebenso wenig kann der Kläger mit Erfolg eine Verletzung von § 103 SGG der Amtsermittlungspflicht durch das LSG geltend machen. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann ein Verfahrensmangel auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Will die Beschwerde demnach einen Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht rügen (§ 103 SGG), so muss sie einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, dem das LSG nicht gefolgt ist. Ein Beweisantrag hat im sozialgerichtlichen Verfahren Warnfunktion und soll der Tatsacheninstanz unmittelbar vor der Entscheidung vor Augen führen, dass die gerichtliche Aufklärungspflicht von einem Beteiligten noch nicht als erfüllt angesehen wird. Wird ein Beweisantrag in einem vorbereitenden Schriftsatz gestellt, so ist er dann nicht iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG übergangen worden, wenn den näheren Umständen zu entnehmen ist, dass er in der maßgebenden mündlichen Verhandlung nicht weiter verfolgt wurde. Dies ist bei rechtskundig vertretenen Beteiligten regelmäßig anzunehmen, wenn in der letzten mündlichen Verhandlung nur noch ein Sachantrag gestellt und der Beweisantrag nicht wenigstens hilfsweise wiederholt wird (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 35 S 73 mwN). Der Kläger behauptet selber nicht, in der letzten mündlichen Verhandlung einen Beweisantrag gestellt bzw aufrechterhalten zu haben. Solche Beweisanträge lassen sich auch dem Protokoll der mündlichen Verhandlung nicht entnehmen. Mit seinen umfangreichen Ausführungen zur unzureichenden Sachaufklärung durch das LSG kann der Kläger daher mangels des erforderlichen prozessordnungsgemäßen Beweisantrags keinen Verfahrensmangel darlegen. Nichts anderes gilt für seinen vielfach wiederholten Vorwurf unrichtiger Tatsachenfeststellungen durch das LSG. Der Kläger wendet sich damit gegen die Beweiswürdigung des LSG, die § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG indes der Beurteilung durch das Revisionsgericht vollständig entzieht. Kraft der darin enthaltenen ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung kann die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts mit der Nichtzulassungsbeschwerde weder unmittelbar noch mittelbar angegriffen werden (Karmanski in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 160 RdNr 58 mwN). Die inhaltliche Richtigkeit seiner Entscheidung im Einzelfall ist nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).
- 18
-
2. Zu den vom Kläger ebenfalls behaupteten Zulassungsgründen der Divergenz bzw grundsätzlichen Bedeutung macht die Nichtzulassungsbeschwerde überhaupt keine näheren Ausführungen. Diese Nichtzulassungsgründe sind deshalb noch weniger als die behaupteten Verfahrensmängel substantiiert dargelegt.
- 19
-
Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).
- 20
-
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
- 21
-
3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Tenor
-
Die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 25. Juli 2014 6 K 940/14 wird als unbegründet zurückgewiesen.
-
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Gründe
- 1
-
Die Beschwerde ist unbegründet. Die geltend gemachten Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) führen nicht zur Zulassung der Revision.
- 2
-
1. Die Ablehnung eines Antrags auf Verlegung eines Termins zur mündlichen Verhandlung verletzt nur dann den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG-- und § 96 Abs. 2 FGO), wenn erhebliche Gründe für eine Aufhebung oder Verlegung geltend gemacht worden sind (§ 155 FGO i.V.m. § 227 der Zivilprozessordnung --ZPO--). Eine schlüssige Rüge dieses Verfahrensmangels erfordert daher die Darlegung, dass zur Begründung des Verlegungsantrags derart erhebliche Gründe substantiiert vorgetragen und glaubhaft gemacht worden sind (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19. Dezember 2011 V B 37/11, BFH/NV 2012, 956; vom 30. Mai 2008 IX B 216/07, BFH/NV 2008, 1510, sowie vom 4. August 2005 I B 219/04, BFH/NV 2006, 73, m.w.N.).
- 3
-
Eine nicht zu beseitigende Terminsüberlagerung mit einem anderweitigen Rechtsstreit stellt zwar einen "erheblichen Grund" i.S. von § 227 ZPO dar, lag aber im Streitfall ersichtlich nicht vor: Der Termin beim Bundespatentgericht fand am Vortag statt und der Termin beim Amtsgericht in D zwar am Tag der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht (FG), aber erst um 9:30 Uhr. Zur Vermeidung einer Terminkollision hat das FG die mündliche Verhandlung von 11:00 Uhr auf 7:00 Uhr vorverlegt, eine Fahrzeit nach D von zwei Stunden berücksichtigt und sich überdies bereit erklärt, den Termin von 7:00 Uhr auf 6:30 Uhr vorzuverlegen. Gründe, die den Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) in dieser Zeit an der Teilnahme hinderten, hat er weder vorgebracht noch glaubhaft gemacht. Bloße Unannehmlichkeiten, um den Termin pünktlich wahrnehmen zu können (wie beispielsweise eine frühe Anreise oder eine Hotelübernachtung), reichen dagegen für die Annahme eines erheblichen Grundes nicht aus.
- 4
-
2. Die Beschwerde ist auch insoweit ohne Erfolg, als sie auf die Ablehnung des Befangenheitsgesuchs durch das FG gestützt wird.
- 5
-
a) Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 42 ZPO findet die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Dabei kommt es darauf an, ob der Prozessbeteiligte von seinem Standpunkt aus bei vernünftiger objektiver Betrachtung Anlass hat, die Voreingenommenheit des oder der abgelehnten Richter zu befürchten (BFH-Beschlüsse vom 27. August 1998 VII B 8/98, BFH/NV 1999, 480, und vom 11. Februar 2003 VII B 330/02, VII S 41/02, BFHE 201, 483, BStBl II 2003, 422). Gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 44 Abs. 2 ZPO sind die das Misstrauen in die Unparteilichkeit rechtfertigenden Umstände im Ablehnungsgesuch substantiiert darzulegen und glaubhaft zu machen (BFH-Beschlüsse vom 13. September 1991 IV B 147/90, BFH/NV 1992, 320, und in BFHE 201, 483, BStBl II 2003, 422).
- 6
-
b) Soweit die Beschwerdeschrift das Vorliegen eines Verfahrensmangels darauf stützt, dass das FG den Befangenheitsantrag des Klägers zu Unrecht abgelehnt habe, ist zu berücksichtigen, dass Beschlüsse über die Ablehnung von Gerichtspersonen nach § 128 Abs. 2 FGO nicht mit der Beschwerde und damit grundsätzlich auch nicht mit einer Nichtzulassungsbeschwerde angefochten werden können (§ 124 Abs. 2 FGO). Geltend gemacht werden können somit nur solche Verfahrensmängel, die als Folge der Ablehnung des Befangenheitsgesuchs dem angefochtenen Urteil anhaften. Ein Zulassungsgrund ist daher nur dann gegeben, wenn die Ablehnung entweder gegen das Willkürverbot verstößt oder ein Verfahrensgrundrecht wie den Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt wird. Auch das Verfahrensgrundrecht auf den gesetzlichen Richter schützt indes nur vor willkürlichen Verstößen gegen Verfahrensvorschriften. Eine Besetzungsrüge kann deshalb auch nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn sich --woran es vorliegend fehlt-- dem Beschwerdevorbringen entnehmen lässt, dass der Beschluss über die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs nicht nur fehlerhaft, sondern greifbar gesetzwidrig und damit willkürlich war (BFH-Beschlüsse vom 25. Juli 2005 VII B 2/05, BFH/NV 2005, 2035, sowie vom 13. Januar 2003 III B 51/02, BFH/NV 2003, 640).
- 7
-
c) Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor:
- 8
-
aa) Dass der Einzelrichter dem Antrag des Klägers auf Verlegung des Termins für die mündliche Verhandlung nicht entsprochen hat, lässt eine greifbar gesetzeswidrige Ablehnung des Befangenheitsgesuchs und damit eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nicht erkennen. Denn der Verlegungsantrag wurde mangels Vorliegens eines erheblichen Grundes zu Recht abgelehnt (vgl. Ausführungen unter 1.).
- 9
-
bb) Die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs erweist sich auch nicht insoweit als greifbar gesetzeswidrig und damit willkürlich, als der Kläger vorbringt, der Einzelrichter habe eine telefonische Äußerung von ihm mit der Erwiderung quittiert "Da muss ich aber lachen".
- 10
-
(1) Freimütige oder saloppe Formulierungen geben grundsätzlich noch keinen Anlass zur Besorgnis der Befangenheit (BFH-Beschlüsse vom 29. August 2001 IX B 117/00, BFH/NV 2002, 63; vom 8. Dezember 1998 VII B 227/98, BFH/NV 1999, 661; vom 27. September 1994 VIII B 64-76/94, BFH/NV 1995, 526, und vom 31. August 1987 IV B 101/86, BFH/NV 1989, 169). Evident unsachliche oder unangemessene sowie herabsetzende und beleidigende Äußerungen des Richters können aber die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen, wenn sie den nötigen Abstand zwischen Person und Sache vermissen lassen (BFH-Beschlüsse vom 13. Januar 1987 IX B 12/84, BFH/NV 1987, 656; vom 6. Februar 1989 V B 119/88, BFH/NV 1990, 45, und vom 21. November 1991 V B 157/91, BFH/NV 1992, 479).
- 11
-
(2) Vorliegend begründet die vom Kläger beanstandete Äußerung des Einzelrichters jedenfalls deshalb keine auf Voreingenommenheit hinweisende Unsachlichkeit, weil der Einzelrichter --wie sich aus dem Schriftsatz des Klägers vom 22. Juli 2014 ergibt-- anschließend konzediert hat, dass der Absturz des Computers mit allen Steuerdaten auch in seinen Augen ein anerkennenswertes Problem sei. Danach bestand bei vernünftiger objektiver Betrachtung kein Anlass mehr, die Voreingenommenheit des abgelehnten Richters zu befürchten.
- 12
-
3. Das FG war trotz des Befangenheitsantrages des Klägers nicht gehindert, in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung durch Einzelrichter über die Klage zu entscheiden. Denn das Ablehnungsgesuch war rechtsmissbräuchlich.
- 13
-
a) Gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO richtet sich die Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch nach den §§ 45, 47 ZPO. Danach wirkt der abgelehnte Richter an der Entscheidung grundsätzlich nicht mit. Von diesem Grundsatz gilt jedoch dann eine Ausnahme, wenn die Ablehnung missbräuchlich ist (BFH-Beschluss vom 8. Oktober 1997 I B 103/97, BFH/NV 1998, 475, m.w.N.). Dies ist der Fall, wenn der Antrag offenbar grundlos ist (BFH-Beschluss vom 10. August 1987 X B 29/87, BFH/NV 1988, 103) oder nur der Verschleppung dient (BFH-Beschluss vom 12. November 2009 IV B 66/08, BFH/NV 2010, 671). Maßgeblich dafür, ob der Antrag zu Recht als missbräuchlich abgelehnt worden ist, sind die im Antrag vorgebrachten Gründe; später geltend gemachte Gründe können nicht berücksichtigt werden (vgl. BFH-Beschluss vom 30. September 1998 XI B 22/98, BFH/NV 1999, 348).
- 14
-
b) Vorliegend hat der Kläger den Einzelrichter am FG deswegen abgelehnt, weil dieser seinen Antrag auf Terminverlegung abgelehnt und sich unsachlich geäußert habe. Diese Befangenheitsgründe liegen nach den Ausführungen unter 2. c offensichtlich nicht vor. Darüber hinaus diente der Befangenheitsantrag, wie vom FG zutreffend ausgeführt wird, der Prozessverschleppung. Denn der Prozessbevollmächtigte beendete das Telefongespräch mit dem Einzelrichter vom 22. Juli 2014, in dem das Gericht dem Kläger mitteilte, dass der Termin voraussichtlich nicht verlegt werde, sinngemäß mit den Worten, er wisse nun, was er zu tun habe. Hierzu instrumentalisierte er eine --schon mehrere Wochen zurückliegende und bei objektiver Betrachtungsweise keinen Anlass für eine Befangenheit gebende-- Äußerung des Einzelrichters als Begründung für seinen Befangenheitsantrag.
- 15
-
c) Ist das Ablehnungsgesuch rechtsmissbräuchlich und deshalb offensichtlich unzulässig, entscheidet das Gericht darüber in der nach dem Geschäftsverteilungsplan vorgesehenen Besetzung, ohne dass es einer vorherigen dienstlichen Äußerung der abgelehnten Richter nach § 51 FGO i.V.m. § 44 Abs. 3 ZPO bedarf (z.B. BFH-Beschluss vom 1. April 2003 VII S 7/03, BFH/NV 2003, 1331). In diesem Fall ist es auch nicht notwendig, über den Antrag in einem besonderen Beschluss zu entscheiden, sondern es kann im Urteil darüber mitentschieden werden (BFH-Beschlüsse in BFHE 201, 483, BStBl II 2003, 422; vom 21. November 2002 VII B 58/02, BFH/NV 2003, 485, und vom 31. August 1999 V B 53/97, V S 13/99, BFH/NV 2000, 244).
- 16
-
4. Von der Wiedergabe des Tatbestands und einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.
- 17
-
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
Tenor
I.
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg
II.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Höhe des von der Beklagten an die Klägerin zu erbringenden Pflegegeldes nach dem 7. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Die 1938 geborene und unter Betreuung ihres Sohnes stehende Klägerin ist bosnische und kroatische Staatsangehörige und bezieht seit 1993 staatliche Fürsorgeleistungen (zunächst nach dem AsylbLG, später nach dem BSHG und dem SGB XII). Seit 2006 erhält sie laufend Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII). Die Klägerin ist schwerbehindert, ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen „B“, „G“ und ab 19.03.2009 „aG“ wurden zuerkannt; mit Bescheid vom 05.11.2014 auch noch die Merkzeichen H und RF.
Die Versorgung der Klägerin im Krankheitsfall wurde von der Beklagten zunächst durch Krankenhilfeleistungen nach den Vorschriften des BSHG sichergestellt. Ab dem 01.01.2004 bis 31.12.2011 bestand bei der AOK A-Stadt im Rahmen eines Auftragsverhältnisses Versicherungsschutz. Zum 01.01.2012 ist die Klägerin - wiederum im Rahmen eines Auftragsverhältnisses nach § 264 SGB V - zur Barmer GEK gewechselt und dort statusversichert. Die Klägerin ist weder Mitglied in einer gesetzlichen noch einer privaten Pflegeversicherung. Zuletzt war die Klägerin im April 2015 rückwirkend ab 01.08.2014 in der Familienversicherung über die bosnisch-herzegowinischen Krankenversicherung ihres Ehemannes versichert ist (Schreiben Beklagte an die Klägerin vom 22.04.2015 und vom 27.04.2015, Schreiben der Barmer GEK vom 26.05.2015 im Beschwerdeverfahren L 4 KR 65/15 B ER). Die Barmer GEK gewährt rückwirkend ab 01.08.2014 Leistungsaushilfe im Auftrag der bosnischen Krankenversicherung. Eine Absicherung im Bereich der Pflegeversicherung besteht über den bosnisch-herzegowinischen Sozialversicherungsträger nicht.
Mit Schreiben vom 30.01.2008 beantragte der Sohn und Betreuer der Klägerin formlos die Gewährung von Hilfe zur Pflege. Daraufhin beauftragte die Beklagte den medizinischen Dienst der Krankenkassen in B. (MDK), ein Gutachten über die Pflegebedürftigkeit der Klägerin zu erstellen. Mit Gutachten vom 25.03.2008 stellte der MDK fest, dass ein Hilfebedarf von 49 min täglich für Zeiten der Grundpflege und ein Zeitaufwand von 45 min täglich für die hauswirtschaftliche Versorgung der Klägerin bestünden. Eine wesentliche Störung der Alltagskompetenz liege nicht vor. Eine Nachbegutachtung wurde für 09/2008 empfohlen.
Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 01.04.2008 für die Zeit ab 07.02.2008 Pflegegeld nach der Stufe 1 in Höhe von 205 € monatlich. Hiergegen erhob der Betreuer der Klägerin am 15.04.2008 Widerspruch. Die Klägerin sei in größerem Umfang auf die Hilfe einer Pflegeperson angewiesen, derzeit leiste er die Pflege allein.
Am 16.06.2008 erließ die Beklagte einen Änderungsbescheid und gewährte der Klägerin für die Zeit ab 01.07.2008 ein Pflegegeld in Höhe von 215 € monatlich. Auch gegen diesen Bescheid legte der Betreuer der Klägerin mit Schreiben vom 15.07.2008 Widerspruch ein.
Am 06.03.2009 übersandte der seinerzeit bevollmächtigte Rechtsanwalt eine umfassende Widerspruchsbegründung zur Pflegesituation (mit 57 medizinischen Anlagen). Die festgestellte Pflegestufe sei zu überprüfen; die angegriffenen Bescheide basierten auf einer unzureichenden und falschen Tatsachengrundlage.
Das zweite Gutachten des MDK vom 26.05.2009 kam zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin ein Zeitaufwand für die Grundpflege in Höhe von 92 min täglich und ein Zeitaufwand für die hauswirtschaftliche Versorgung im Umfang von 45 min täglich erforderlich seien. Aufgrund des geringen zeitlichen Aufwandes für die gesamte pflegerische Versorgung der Klägerin, sei aber weiterhin nur eine Einstufung in die Pflegestufe I möglich. Gleichwohl sei ein Fortschreiten der Demenzerkrankung erkennbar. Die Alltagskompetenz der Klägerin sei in erhöhtem Maße eingeschränkt.
Am 18.06.2009 erhob der Betreuer der Klägerin „Untätigkeitsklage“ zum Sozialgericht Regensburg (SG, S 4 SO 40/09).
Die E. wies die Widersprüche der Klägerin gegen die Bescheide 01.04.2008 und 16.06.2008 mit zurück. Der Umfang der Pflegebedürftigkeit der Klägerin ergebe sich aus den beiden Gutachten des MDK.
Am 30.11.2009 hat die damalige Prozessbevollmächtigte der Klägerin Klage zum SG (S 4 SO 91/09) erhoben. Der Klägerin sei ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen „B“, „G“ und „aG“ zuerkannt worden. Die Vielzahl von Gesundheitsstörungen lasse es gerechtfertigt erscheinen, Leistungen der Pflegestufe III zu gewähren.
Mit Änderungsbescheid vom 01.12.2009 hat die Beklagte ein Pflegegeld für die Zeit ab 01.01.2010 in Höhe von 225 € monatlich gewährt. Seit 01.01.2012 gewährt die Beklagte der Klägerin Leistungen in Höhe von 235 € monatlich; einen dies ausdrücklich umsetzenden Bescheid hat die Beklagte gleichwohl nicht erlassen.
Das SG hat zwei Gutachten bei dem Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Sozialmedizin, Umweltmedizin Dr. med. J. E. jeweils nach Hausbesuchen bei der Klägerin, eingeholt.
Im ersten Gutachten vom 05.07.2011 listete der Sachverständige als pflegerelevante Gesundheitsstörungen auf: dementielles Syndrom mit Gangunsicherheit und Blaseninkontinenz, chronische Depressionen mit Antriebsarmut, Ernährungsstörung im Rahmen der Demenz und der Depression sowie Beinkrampfadern mit Ödembildung an den Unterschenkeln. Der Sachverständige kommt zu dem Ergebnis, dass der anrechenbare Zeitaufwand für die Grundpflege (Körperpflege, Darm- und Blasenentleerung, Ernährung, Mobilität) bei etwa 142 min täglich liege und der zeitliche Aufwand für die gesamte pflegerische Versorgung - welche die hauswirtschaftliche Versorgung mit einschließe - bei etwa 202 min pro Tag liege. Der Übergang von Pflegestufe I zu Pflegestufe II habe zwischen März 2008 und Mai 2009 stattgefunden; es biete sich an, als Beginn des Vorliegens von Pflegestufe II den Februar 2009 als Stichtag heranzuziehen.
Das zweite - unter dem 29.10.2012 erstellte - Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass zwar eine Verschlechterung des Allgemeinzustandes und des dementiellen Syndroms bei der Klägerin festzustellen sei; hieraus aber eine wesentliche Änderung des zeitlichen Pflegebedarfes oder gar eine andere Pflegestufe nicht resultiere. Der zeitliche Aufwand für die gesamte pflegerische Versorgung der Klägerin liege bei etwa 200 min pro Tag.
Das SG hat durch Beschluss vom 05.09.2011 die Verfahren S 4 SO 40/09 und S 4 SO 91/09 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Mit Gerichtsbescheid vom 8. Februar 2013 hat es die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 01.04.2008 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 16.06.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2009 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 01.12.2009 verurteilt, der Klägerin für die Zeit ab 01.02.2009 Pflegegeld für Schwerpflegebedürftige (Stufe 2) zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klagen abgewiesen. Das SG hat die Voraussetzungen für eine Leistungsberechtigung nach § 61 SGB XII und für einen Anspruch auf Pflegegeld für Schwerpflegebedürftige nach § 64 Abs.2 SGB XII i.V.m § 37 Abs. 1 S.3 Nr. 2 SGB XI ab 01.02.2009 bejaht und ist dabei den Feststellungen des medizinischen Sachverständigen Dr. E. gefolgt. Das SG ist von einem täglichen Grundpflegebedarf von 140 - 142 Minuten und einem Bedarf an hauswirtschaftlicher Versorgung von 60 Minuten ausgegangen.
Gegen den am 20.02.2013 zugestellten Gerichtsbescheid des SG hat die Klägerin am 14.03.2013 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) erhoben. Es sei davon auszugehen, dass ein weiterer Pflegeaufwand im Umfang von 40 min täglich bestehe. Der zweite Bevollmächtigte der Klägerin hat in der ergänzenden Berufungsbegründung vom 25.03.2014 einen Grundpflegeaufwand von 250 Minuten geltend gemacht und dabei Angaben der Pflegerin Frau J. und des Betreuers zugrunde gelegt.
Die Klägerin beantragt;
die Beklagte unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Regensburg
Am 11.02.2015 hat der Betreuer der Klägerin außerdem beantragt,
der Klägerin Schmerzensgeld, Schadensersatz, Opfergeld nach OEG zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der vom Betreuer vorgenommenen Klageänderung hat die Beklagte am 04.03.2015 ausdrücklich widersprochen.
Mit Änderungsbescheid vom 04.03.2013 hat die Beklagte den Bescheid vom 01.12.2009 aufgehoben und der Klägerin ab 01.03.2013 ein Pflegegeld in Höhe von 440 € monatlich gewährt. Für den Zeitraum vom 01.02.2009 bis 28.02.2013 hat die Beklagte der Klägerin 10.045 € als Pflegegeld nachgezahlt.
Mit Beschluss vom 11.09.2014 hat der Senat der Klägerin Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwälte H., E., G., F-Stadt beigeordnet. Die Beiordnung hat der Senat mit Beschluss vom 12.03.2015 auf Antrag der beigeordneten Rechtsanwälte wieder aufgehoben.
Der Senat hat ein medizinisches Sachverständigengutachten nach Hausbesuch von Dr. D., vom 29.12.2014 eingeholt. Dieser kommt abschließend zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin ein Pflegeaufwand von 161 min pro Tag für Körperpflege, Ernährung und Mobilität bestehe. Für hauswirtschaftliche Versorgung würden 60 min Pflege benötigt, so dass insgesamt ein täglicher Pflegeaufwand von 221 min vorliege. Die Alltagskompetenz der Klägerin sei seit September 2008 in erhöhtem Maße eingeschränkt.
Der Betreuer der Klägerin hat das Gutachten von Dr. D. durch die Pflegerin Frau J. handschriftlich kommentieren lassen und einen höheren Pflegeaufwand geltend gemacht.
Der Beklagte hat auf Nachfrage des Senats ausgeführt, dass die Klägerin keinen Anspruch auf ein nach § 123 SGB XI erhöhtes Pflegegeld wegen der Einschränkung der Alltagskompetenz habe, weil dieser Anspruch nach § 123 SGB XI nur gesetzlich Pflegeversicherten zustünde und nicht zu einer Ausweitung des sozialhilferechtlichen Pflegeanspruches führe. Dies ergebe sich aus der Rechtssystematik, der amtlichen Begründung zu § 124 SGB XI und aus dem gesetzgeberischen Willen (vgl. Schreiben des BMAS vom 24.06.2013).
Zusätzliche Betreuungsleistungen nach § 45 a SGB XI seien nicht Gegenstand eines weiterverfolgten weiteren Verwaltungsverfahrens geworden. Der Betreuer der Klägerin habe diese Leistungen am 19.12.2008 beantragt. Die Beklagte habe die Klägerin mit Schreiben vom 19.01.2009, 15.06.2009 darüber informiert, dass die Leistungen nur zweckgebunden für qualitätsgesicherte Betreuungsleistungen gewährt werden könnten. In einem weiteren Informationsschreiben an die damalige Bevollmächtigte vom 02.07.202009 seien die Voraussetzungen der Leistungen erläutert worden. Den gegen das Infoschreiben erhobenen Widerspruch habe die Bevollmächtigte am 31.08.2009 wieder zurückgenommen. Die Beklagte gehe daher davon aus, dass der ursprüngliche Antrag nicht weiterverfolgt worden sei. Im Übrigen seien keinerlei Rechnungen über entsprechende qualitätsgesicherte Betreuungsleistungen eingereicht worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Gründe
1. Die zulässige Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 8. Februar 2013 ist unbegründet. Der Klägerin steht kein Anspruch auf ein höheres Pflegegeld für die Zeit ab 01.02.2009 zu.
2. Der Senat durfte in seiner nach Geschäftsverteilungsplan A 2015 geregelten Besetzung mit der dort vorgesehenen Vertreterin über die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG Regensburg
Über ein offensichtlich unzulässiges und rechtsmissbräuchliches Ablehnungsgesuch können Gerichte unter Beteiligung der abgelehnten Richter entscheiden. Das Verbot der Selbstentscheidung (§§ 60 Abs. 1 SGG, 45 I ZPO) gilt insoweit nicht (vgl. BAG, Beschl. v. 7.2.2012 - 8 AZA 20/11).
Eine Ausnahme von dem in § 45 ZPO verankerten Verbot der Selbstentscheidung gilt für rechtsmissbräuchliche Ablehnungsanträge, welche offensichtlich und ausschließlich zur Prozessverschleppung oder zur Verfolgung anderer verfahrensfremder Zwecke gestellt werden (BeckOK ZPO § 45, Rn. 7 Autor: Vossler Beck’scher Online-Kommentar ZPO Hrsg: Vorwerk/Wolf, Stand: 01.03.2015, BGH NJW-RR 2005, 1226; OLG Karlsruhe MDR 2014, 242, OLG Köln JMBl NW 2009, 89; BAG NJW 2012, 1531; Musielak/Heinrich ZPO § 45 Rn. 3; Zöller/Vollkommer ZPO § 45 Rn. 4; Ghassemi-Tabar/Nober NJW 2013, 3686 f.). Ein offensichtlich unzulässiges und rechtsmissbräuchliches Ablehnungsgesuch liegt jedenfalls dann vor, wenn nicht erkennbar ist, dass das Gesuch überhaupt auf einen Grund gestützt werden soll, der die Besorgnis der Befangenheit auslösen und einen Ablehnungsgrund darstellen könnte.
An die Offensichtlichkeit des Rechtsmissbrauchs sind (vgl. dazu die Einschätzung des Gesetzgebers in § 26a StPO, BVerfG NJW 2005, 3410) strenge Maßstäbe anzulegen. Eine Selbstentscheidung ist daher nur zulässig, wenn die Begründung des Ablehnungsersuchens jeder Substanz entbehrt, so dass seine Verwerfung ein Eingehen auf den Verfahrensgegenstand nicht erfordert. Ist dies nicht der Fall, kommt eine Selbstentscheidung nicht in Betracht, da sich der abgelehnte Richter über eine bloße formale Prüfung hinaus durch die inhaltliche Entscheidung eines gegen ihn gerichteten Ablehnungsantrags nicht zum Richter in eigner Sache machen darf.
Bei Anträgen ohne oder mit nur substanzloser Begründung ohne hinreichenden Bezug zum konkreten Rechtstreit (Musielak/Heinrich ZPO § 45 Rn. 3) - wie hier - ist eine Selbstentscheidung geboten. Es wird kein Ablehnungsgrund genannt. Ein solcher muss aber gem. § 42 Abs. 1 i. V. m. § 44 Abs. 2 S. 1 ZPO vorgebracht werden. Einem fehlenden Ablehnungsgrund steht es gleich, wenn die Begründung zur Rechtfertigung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet ist (BVerfG 2.6.05, 2 BvR 625/01, NJW 05, 3410, 3412; Ghassemi-Tabar/Nober NJW 13, 3686, 3687), z. B. wenn keinerlei substantiierte Tatsachen vorgetragen werden (BVerwG NJW 97, 3327). Dies ist etwa der Fall, wenn der Beteiligte nur Wertungen ohne tatsächliche Substanz vorbringt.
Die Klägerin lehnt hier alle Richter in den Verfahren L 8 SO 3/13, L 8 SO 63/13, L 8 SO 50/13 und L 8 SO 51/13 ab und „weist reine deutsche Richter ausdrücklich zurück“. Es gäbe genügend andere EU Richter, die nicht reiner deutscher Herkunft seien, die entscheiden könnten sowie an einer mündlichen Verhandlung teilnehmen könnten. Der Wunsch der Klägerin, die Richterbank nach bestimmten Nationalitäten zu besetzen, ist ein völlig ungeeigneter und nicht substantiierter Vortrag. Die Klägerin stellt ihren Befangenheitsantrag zudem unzulässiger Weise unter eine innerprozessuale Bedingung. So wird der Befangenheitsantrag gestellt, falls das Gericht die Absicht habe, die Verfahren abzuhandeln.
Damit nennt die Klägerin keinen Ablehnungsgrund i. S. § 42 Abs. 1, 2 ZPO. Das Gesuch ist rechtsmissbräuchlich und wird allein in Verschleppungsabsicht gestellt, weil die Klägerin mit dem Gesuch ausschließlich die Verzögerung des Verfahrens bezweckt. Sie versucht damit, den Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat zu verhindern und verfolgt verfahrensfremde Zwecke. Die Klägerin, die im Verwaltungs-, Widerspruchs- und Klageverfahren schon durch eine Vielzahl von Prozessbevollmächtigten vertreten war, zu denen das Mandatsverhältnis immer wieder nachhaltig gestört war und beendet wurde, versucht, einem weiteren Bevollmächtigten ein Mandat zu erteilen, der dies aber schon abgelehnt hat. Einen Verlegungsantrag nach § 202 SGG, § 227 Abs. 1 ZPO hat die Klägerin nicht gestellt.
3. Der Senat konnte in der mündlichen Verhandlung vom 23. Juni 2015 auch in Abwesenheit der Klägerin entscheiden, da dem Betreuer der Klägerin mit Postzustellungsurkunde vom 02.06.2015 ordnungsgemäß der Termin mitgeteilt wurde und in der Terminsmitteilung darauf hingewiesen wurde, dass im Falle eines Ausbleibens ein Urteil nach Lage der Akten ergehen könne (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 126 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Dass der Betreuer Kenntnis vom Termin hatte, ergibt sich zudem aus seinen Schreiben vom 22.06.2015, 20.06.2015 und 17.06.2015.
Die Terminsmitteilung (mit dem Hinweis auf § 110 SGG) wurde auch dem neuen Bevollmächtigten der Klägerin zugestellt. Dies ergibt sich aus dem Schreiben des neuen Bevollmächtigten vom 21.05.2015. Der Senat hat der Klägerin mit Beschluss vom 19. Mai 2015 auf deren Antrag den neuen Bevollmächtigten im Rahmen der bereits bewilligten Prozesskostenhilfe beigeordnet. Der neue Bevollmächtigte wurde am 18.06.2015 auch vom Betreuer der Klägerin bevollmächtigt.
4. Die zulässige Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 8. Februar 2013 ist unbegründet. Der Klägerin steht kein Anspruch auf ein höheres Pflegegeld für die Zeit ab 01.02.2009 zu.
Gegen die Entscheidung des SG vom 8. Februar 2013 ist die Berufung zulässig, da sie nach § 144 Abs. 1 S. 1 SGG nicht ausgeschlossen ist (§ 143 SGG). Die Klägerin begehrt für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr laufenden höhere Geldleistungen, so dass die Berufung nach § 144 Abs. 1 S. 2 SGG statthaft ist. Die Berufung ist zulässig und form- und fristgemäß eingelegt (§ 151 SGG).
5. Streitgegenständlich ist das mit der Berufung geltend gemachte Pflegegeld nach der Pflegestufe III für die Zeit ab 01.02.2009.
6. Soweit die Klägerin mit der Berufung auch einen Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte wegen eines vermeintlichen Vertrauensschadens und einer Amtspflichtverletzung
geltend macht, handelt es sich um eine unzulässige Klageänderung im Berufungsverfahren, weil sich weder die Beklagte darauf eingelassen hat (vgl. Schreiben vom 04.03.2015) noch der Senat die Klageänderung für sachdienlich hält (§ 99 Abs. 1 SGG).
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 04.03.2015 einer diesbezüglichen Klageänderung ausdrücklich widersprochen.
Damit liegt auch keine zulässige, in der Berufungsinstanz erstmals erhobene Klage auf Schadensersatz aus Amtshaftung vor, die vom anhängigen Verfahren abzutrennen und als erstinstanzliche Klage in der Berufungsinstanz zu erfassen wäre (BSG, Urteil vom 28.03.2000, Az.: B 8 KN 3/98 UR, Rz. 12, Bayer. LSG Beschluss vom 24.11.2014, L 7 SF 250/14 KL, vgl. § 17 Abs. 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz - GVG -). Ein solche würde voraussetzen, dass ein Fall des § 99 Abs. 3 Nr. 3 GG vorläge, der kraft gesetzlicher Fiktion nicht als Klageänderung anzusehen ist. Hier macht die Klägerin aber unverändert auch noch originäre Ansprüche auf höheres Pflegegeld weiter neben vermeintlichen Schadensersatzansprüchen geltend.
Ein Ausnahmefall, der dem Senat über die Bindungswirkung des § 17a Abs. 5 GVG als Rechtsmittelgericht eine eigene Kompetenz geben könnte, über den Amtshaftungsanspruch zu entscheiden, liegt nicht vor, da in erster Instanz keine Entscheidung in der Hauptsache im Sinn von § 17a Abs. 5 GVG über den Amtshaftungsanspruch getroffen werden konnte und getroffen wurde (vgl. BSG, Urteil vom 30.10.2012, Az.: B 13 R 473/11 B). Der Senat ist deshalb nicht verpflichtet, kraft eigener Kompetenz über die Amtshaftungsanspruch zu entscheiden (vgl. BSG, Urteil vom 20.10.2010, Az.: B 13 R 63/10 B).
7. Streitgegenständlich sind nicht mehr die von der Klägerin ursprünglich angegriffenen Verwaltungsentscheidungen vom 01.04.2008, vom 16.06.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides 28.10.2009 und vom 01.12.2009. Denn die Beklagte hat mit Änderungsbescheid vom 04.03.2013 den Bescheid vom 01.12.2009 für die Zeit ab 01.03.2013 aufgehoben und der Klägerin ab 01.03.2013 ein Pflegegeld in Höhe von 440 € monatlich gewährt. Für den Zeitraum vom 01.02.2009 bis 28.02.2013 hat die Beklagte der Klägerin 10.045 € als Pflegegeld entsprechend der Verurteilung im Gerichtsbescheid des SG vom 8. Februar 2008 nachgezahlt. Ihr Klageziel verfolgt die Klägerin zulässigerweise mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1, 4 SGG die auf die Gewährung eines höheren Pflegegeldes ab 01.02.2009 gerichtet ist. Die Beklagte hat der Klägerin mit den angegriffenen Bescheiden Pflegegeld nach der Pflegestufe I bewilligt, zwischenzeitlich aber ab 01.02.2009 Pflegegeld nach der Pflegestufe 2 gewährt.
8. Die Klägerin hat für die Zeit ab 01.02.2009 einen Anspruch auf Pflegegeld für Schwerpflegebedürftige nach der Pflegestufe II. Sie hat keinen Anspruch auf Gewährung eines Pflegegeldes nach der Pflegestufe III für Schwerstpflegebedürftige.
a) Die Klägerin war im streitgegenständlichen Zeitraum leistungsberechtigt im Sinne des § 61 Abs. 1 SGB XII. Danach erhalten Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen, Hilfe zur Pflege. Aufgrund der diagnostizierten Erkrankungen der Klägerin, die zuletzt in dem Gutachten des medizinischen Sachverständigen Dr. D. vom 29.12.2014 bestätigt wurden (Demenz bei Alzheimer-Krankheit, Stuhlinkontinenz, Harninkontinenz, chronisch venöse Insuffizienz beider Beine, Schulterversteifung bds. bei Oberarmfraktur rechts, Arthrose beider Hüftgelenke, Arthrose beider Kniegelenke, Mangelernährung, degeneratives Wirbelsäulensyndrom) liegen damit Krankheiten und Behinderungen i. S. § 61 Abs. 3 Nrn. 1-3 SGB XII vor, wegen der die Klägerin der Hilfe bei den gewöhnlichen Verrichtungen des täglichen Lebens im Bereich der Körperpflege, der Ernährung, der Mobilität und der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 61 Abs. 5 SGB XII) dauerhaft bedarf.
Die Klägerin ist auch nicht pflegeversichert und hat demnach keinen Anspruch auf (vorrangige) Leistungen der Pflegeversicherung nach dem SGB XI (§ 2 SGB XII, § 13 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI). Die Klägerin war nie Mitglied der gesetzlichen Pflegeversicherung. Die Zuerkennung einer zum 01.08.2014 rückwirkenden Familienversicherung in der bosnisch-herzegowinischen Krankenversicherung ihres Ehemannes im Wege der Leistungsaushilfe der Barmer GEK vermittelt der Klägerin keinen Zugang zur deutschen Pflegeversicherung. Im Übrigen hätte sie dort selbst dann, wenn sie über ihren Ehemann in der gesetzlichen Pflegeversicherung nach § 25 SGB XI familienversichert wäre, eine Karenzzeit von zwei Jahren Versicherungszeit (§ 33 Abs. 3 Nr. 6 SGB XI).
b) Die Hilfe zu Pflege umfasst gemäß § 61 Abs. 2 SGB XII auch die häusliche Pflege nach § 63 SGB XII. Sie dient dazu, den Zweck des § 63 SGB XII zu erreichen, nämlich es dem Pflegebedürftigen zu ermöglichen, seine Pflege durch nahe stehende Personen oder durch Nachbarschaftshilfe zu sichern. Dabei ist das Pflegegeld nicht dazu gedacht, die genannten Personen für ihre Pflegehilfe zu bezahlen. Das Pflegegeld dient vielmehr dazu, deren Pflegebereitschaft zu erhalten und zu stärken, indem ihnen etwa kleinere Zuwendungen gewährt werden (BVerwGE 92, 220 = NVwZ 1994, 490; OVG Frankfurt/Oder, FEVS 54, 371; VGH Kassel, Behindertenrecht 2004, 88). Dies schließt nicht aus, dass der Pflegebedürftige den Pflegepersonen aus dem Pflegegeld regelmäßig Zahlungen zukommen lässt. Die Gewährung von Pflegegeld gemäß § 64 SGB XII ist dabei die wichtigste Leistungsart der häuslichen Pflege. In terminologischer und inhaltlicher Hinsicht knüpfen § 64 Abs. 1 - 3 SGB XII an die entsprechenden Regelungen in § 15 und § 37 SGB XI an. Anders als in den parallelen Vorschriften des SGB XI fehlt in § 64 Abs. 1 - 3 SGB XII zwar der Begriff der Pflegestufe; gleichwohl entsprechen die drei Grade der Pflegebedürftigkeit nach § 64 Abs. 1-3 SGB XII den pflegeversicherungsrechtlichen Pflegestufen nach § 15 SGB XI (zu all dem Grube, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Auflage 2014, § 64 Rz. 2 und 8).
c) § 64 XII unterscheidet in seinen Absätzen 1 - 3 zwischen erheblich Pflegebedürftigen, Schwerpflegebedürftigen und Schwerstpflegebedürftigen. Erheblich pflegebedürftig sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrmals in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Eine Zuordnung zur Schwerpflegebedürftigkeit setzt voraus, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für mehrere Verrichtungen mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Schwerstpflegebedürftig sind endlich solche, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für mehrere Verrichtungen täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
§ 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XI präzisiert den Terminus der Schwerpflegebedürftigkeit (Pflegestufe II) dahingehend, dass der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens drei Stunden zu betragen hat, wobei auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen müssen. Unter Grundpflege ist gemäß § 14 Abs. 4 Nrn.1 - 3 SGB XI die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität, unter hauswirtschaftlicher Versorgung gemäß § 14 Abs. 4 Nr.4 SGB XI die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, bei der Kleidungspflege sowie bei der Wohnungsreinigung und Beheizung zu verstehen. Dagegen muss nach § 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB XI der Zeitaufwand in Pflegestufe III wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens fünf Stunden betragen, wobei auf die Grundpflege mindestens drei Stunden entfallen müssen.
d) Daran gemessen liegen lediglich die Voraussetzungen für die Gewährung eines Pflegegeldes für Schwerpflegebedürftige (Pflegestufe II) vor; der tägliche Grundpflegebedarf der Klägerin betrug im streitgegenständlichen Zeitraum seit dem 01.02.2009 mehr als die nach § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XI geforderten 120 Minuten. Ein für Leistungen der Pflegestufe III täglich notwendiger Zeitaufwand für Grundpflegeleistungen in Höhe von mindestens 240 Minuten (§ 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB XI) lässt sich hingegen nicht feststellen.
Diese Erkenntnis des Senats ergibt sich aus den im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten von Dr. E. vom 05.07.2011 und 29.10.2012 und dem im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten von Dr. D. vom 29.12.2014.
Danach ist der Pflegebedarf der Klägerin im Laufe der Zeit angewachsen, er erreicht unverändert aber nicht die für die Zuerkennung der Pflegestufe III erforderliche Schwelle von täglich 240 Minuten Grundpflege.
Dies ergibt sich aus dem schlüssigen und überzeugenden Gutachten des sozialmedizinischen Sachverständigen Dr. D. vom 29.12.2014, der die Klägerin im Rahmen eines Hausbesuches begutachtet hat. Das Gutachten gibt die häusliche Pflegesituation der Klägerin schlüssig und nachvollziehbar wieder. Der medizinische Sachverständige hat zunächst die pflegebegründende Vorgeschichte anhand der Akten und der Angaben des Sohnes und Betreuers der Klägerin dargestellt. Anschließend hat er die pflegebegründenden Diagnosen und Befunde und funktionelle Einschränkungen der Klägerin aufgrund eigener Untersuchung beschrieben. Nach der Inaugenscheinnahme hat der Sachverständige die Versorgungssituation der Klägerin beschrieben. In seiner Beurteilung der Pflegesituation hat der medizinische Sachverständige zunächst die Behinderung der Klägerin als Demenz schweren Grades mit kognitiven Beeinträchtigungen und Verlust der selbstständigen Handlungsfähigkeit, eine Stuhl- und Harninkontinenz, erhebliche Beeinträchtigung des Bewegungsapparats und eine allgemeine körperliche Schwäche bei Unterernährung festgestellt. Sodann hat er, in Übereinstimmung mit den Richtlinien des GKV- Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI und der Hilfsmittel-Richtlinie sowie dem Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbandes zunächst den Hilfebedarf der Klägerin in den vier Kategorien Körperpflege, Ernährung, Mobilität und Hauswirtschaft tabellarisch beschrieben und anschließend bewertet, bevor er abschließend die vom Senat gestellten Beweisfragen beantwortet hat. Seinem Gutachten hat er eine vom Betreuer und der Pflegerin Frau J. unterzeichnete Aufstellung des Tagesablaufes der Klägerin und den jüngsten Bescheid des ZBFS vom 05.11.2014 beigefügt.
Das Gutachten beschreibt den Pflegebedarf der Klägerin und deren Bedarf an Pflegehilfsmitteln nachvollziehbar und frei von Widersprüchen. Es zeigt eine sich verschlechternde Entwicklung bei der Klägerin verglichen mit den im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Gutachten von Dr. E. vom 05.07.2011 und 29.10.2012. In der Zusammenschau aller drei Gutachten ergibt sich ein in sich schlüssiges Bild von der Pflegesituation und dem daraus resultierenden Pflegebedarf der Klägerin.
Der medizinische Sachverständige hat verrichtungsbezogen den Zeitbedarf für die einschlägigen Verrichtungen in Übereinstimmung mit der nach § 17 SGB XI erlassenen Pflegebedürftigkeitsrichtlinie und Begutachtungsrichtlinie erfasst. Er hat sich dabei an den in den Begutachtungsrichtlinien (BRi) festgelegten Zeitkorridoren orientiert, die Orientierungswerte für die Pflegezeitbemessung der Verrichtungen der Grundpflege geben. Das Gutachten stützt sich auf die individuellen Pflegebedürfnisse der Klägerin, die der Sachverständige in ihrem häuslichen Umfeld begutachtet hat. Der Gutachter berücksichtigt Pflege erschwerende und erleichternde Faktoren und legt einen individuellen Maßstab bezogen auf das konkrete Wohnumfeld der Klägerin an.
In der tabellarischen Darstellung des Hilfebedarfes stellt der Sachverständige in Übereinstimmung mit der im Text beschriebenen Pflegesituation im Bereich der Körperpflege fest, dass die Klägerin diese überhaupt nicht mehr selbst ausführen kann. Daher werden alle beschriebenen einzelnen Verrichtungen in dem Gutachten nachvollziehbar mit der vollständigen Übernahme beschrieben. Die einzelnen Zeitangaben für die Verrichtungen Waschen (Teilwäsche Hände/Gesicht, Duschen/Baden, Zahnpflege, Kämmen) betragen 34 Minuten täglich, wobei das Duschen/Baden entgegen der Beschreibung der Pflegerin täglich mit 20 Minuten angesetzt wird, obwohl im Wechsel auch Ganzkörperwäschen im Bett durchgeführt werden. Diese sind jedoch nach den BRi Punkt F 4.1 mit einem Orientierungswert von 20 - 25 Minuten zu bewerten, für das Duschen/Baden werden nach BRi hingegen 15 -20 Minuten angesetzt. Das tägliche Berücksichtigen einer Dusche/Bad mit 20 Minuten ist daher sachgerecht. Eine Hilfestellung beim Einsteigen in die Badewanne ist im Bereich der Mobilität „Stehen“ zu berücksichtigen (BRi); dies wurde vom Sachverständigen auch so vermerkt.
Der Senat ist davon überzeugt, dass der Pflegebedarf der Klägerin an Verrichtungen zur Körperpflege zutreffend vom medizinischen Sachverständigen mit insgesamt 76 Minuten bewertet wurde und in diesem Umfang auch besteht. Aus der durch die Pflegerin handschriftlich kommentierten Version des Gutachtens (Schreiben des Betreuers der Klägerin vom 11.02.2015) ergibt sich kein höherer Bedarf. Dort werden die vom Gutachter eingeschätzten Zeitanteile jeweils mit dem Zusatz: „Unmöglich zu schaffen aufgrund wegen Abwehrhaltung“ kommentiert. Dieses pflegeerschwerende Verhalten hat der medizinische Sachverständige in seinem Gutachten berücksichtigt (vgl. Gutachten vom 29.12.2014, S. 4).
Im Bereich der Ernährung liegt zur Überzeugung des Senats ein verrichtungsbezogener Pflegebedarf von insgesamt 51 Minuten täglich vor. Auch hier geht der Senat davon aus, dass ebenfalls eine vollständige Übernahme durch die Pflegeperson erfolgt. Dies kommt in dem Gutachten durch die Einschätzung „VÜ“ vollständige Übernahme zum Ausdruck. Der Gutachter hat entsprechend der BRi für die mundgerechte Zubereitung der Nahrung 6 Minuten täglich eingerechnet. Nach BRi Ziffer D 4.2 Punkt 8 gehört zur „mundgerechten“ Zubereitung der Nahrung allein die letzte Maßnahme vor der Nahrungsaufnahme, z. B. das Zerkleinern in mundgerechte Bissen, das Heraustrennen von Knochen und Gräten, das Einweichen harter Nahrung bei Kau- und Schluckbeschwerden und das Einfüllen von Getränken in Trinkgefäße. Erfasst werden nur solche Maßnahmen, die dazu dienen, die bereits zubereitete Nahrung so aufzubereiten, dass eine abschließende Aufnahme durch den Antragsteller erfolgen kann. Hierzu zählen nicht das Kochen oder das Eindecken des Tisches. Zur Aufnahme der Nahrung gehören die Nahrungsaufnahme in jeder Form (fest, breiig, flüssig) wie auch die Verabreichung von Sondennahrung mittels Ernährungssonde einschließlich der Pflege der Sonde und die Verwendung von Besteck oder anderer geeigneter Geräte (z. B. behindertengerechtes Geschirr oder Essbesteck), um Nahrung zum Mund zu führen. Notwendige Aufforderungen zur bedarfsgerechten Aufnahme der Nahrung in fester, breiiger und flüssiger Form (Essen und Trinken), die eine Überwachung und/oder Erledigungskontrolle erfordern, sind beim Hilfebedarf zu berücksichtigen, wenn der Antragsteller aufgrund fehlender Einsichtsfähigkeit dazu nicht in der Lage ist.
Die vom medizinischen Sachverständigen angesetzten Zeitanteile stehen in Übereinstimmung mit den Orientierungswerten in den BRi und sind auch angesichts der Beschreibung des Pflegeablaufes in der dem Gutachten beigegebenen Beschreibung durch die Pflegeperson vom 29.12.2014 nachvollziehbar. Zutreffend hat der Sachverständige auch das Pürieren der Nahrung der hauswirtschaftlichen Zubereitung des Essens zugeschlagen. Er hat ebenso zutreffend das darüber hinausgehende mundgerechte Zubereiten mit täglich sechs Minuten angesetzt.
Im Bereich der Mobilität sieht der Senat einen verrichtungsbezogenen Bedarf der Klägerin im Umfang von insgesamt 34 Minuten. Der Senat folgt auch hier der Einschätzung von Dr. D., der für das Aufstehen und Zubettgehen einen Bedarf von 4 Minuten, für die vollständige Übernahme des Ankleidens 16 Minuten, für das Entkleiden 8 Minuten und für Gehen, Stehen/Transfer einen Bedarf von 6 Minuten berücksichtigt hat. Auch diese Werte stehen in Übereinstimmung mit den BRi, die für Ankleiden 8 -10 Minuten, für das Entkleiden gesamt 4-6 Minuten vorsehen. Der vom Sachverständigen berücksichtigte höhere Zeitanteil resultiert nachvollziehbar aus der Berücksichtigung des erhöhten Aufwandes beim An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen der Klasse 2. Die Einschätzung der Zeitanteile für die Mobilität ist schlüssig, nachdem sich die Klägerin nicht mehr allein in der kleinen Wohnung bewegt und einen Positionswechsel (vom Pflegebett zur Couch) nur mit Unterstützung der Pflegeperson vornimmt. Schlüssig ist auch die Begründung des Gutachters, wonach die Klägerin noch nicht vollständig bettlägerig ist und kein zusätzlicher Bedarf an Umlagerungen tagsüber oder nachts gesehen wird, nachdem die Klägerin zwar bewegungseingeschränkt, aber nicht bewegungsunfähig ist.
Somit ergibt sich ein Bedarf an Grundpflege im Umfang von 161 Minuten täglich, der der Einschätzung in die Pflegestufe II (mindestens 120 Minuten Grundpflege) entspricht. Ein Grundpflegebedarf von 240 Minuten, wie er der Pflegestufe III nach § 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB XI entspräche, ist nicht begründbar.
Bei der hauswirtschaftlichen Versorgung der Klägerin ist nach den BRi Ziffer D 4.4 der tatsächlich anfallende individuelle Hilfebedarf zu bewerten und der Zeitaufwand in Stunden pro Woche abzuschätzen. Es sind nur die Tätigkeiten bei Verrichtungen zu berücksichtigen, die sich auf die Versorgung der Antragstellerin selbst beziehen. Die Versorgung möglicher weiterer Familienmitglieder bleibt unberücksichtigt. Wenn ein krankheits- und/oder behinderungsbedingter Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung besteht, ist er zu berücksichtigen, auch wenn die Versorgung durch Dritte (z. B. Putzfrau, Essen auf Rädern, Angehörige) erfolgt. Die hauswirtschaftliche Versorgung umfasst das Einkaufen, das Kochen, das Reinigen der Wohnung, das Spülen und das Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung. Der vom Sachverständigen angesetzte Bedarf von täglich 60 Minuten ist nachvollziehbar und schlüssig.
Damit ergibt sich insgesamt ein täglicher Pflegebedarf der Klägerin im Umfang von 221 Minuten, so dass die Einstufung in die Pflegestufe II insgesamt zutreffend ist. Das SG hat die Beklagte bereits zur Zahlung eines Pflegegeldes nach der Pflegestufe II verpflichtet.
Von Seiten der Klägerin wurden keine substantiierten Einwände gegen die Richtigkeit des Gutachtens vorgebracht. Die Klägerin trägt lediglich vor, dass die Angaben zum Zeitaufwand „unrealistisch“ seien, ohne dies aber im Einzelnen ausführlich und einleuchtend zu begründen. So wird pauschal behauptet, dass die Zeitangaben aus dem Gutachten aufgrund der Abwehrhaltung der Klägerin unmöglich einzuhalten seien. Im Bereich der Mobilität werden mindestens 4 wöchentliche Fahrten an die Frischluft angegeben, die der Gutachter vergessen habe. Berücksichtigungsfähig sind bei der Mobilität jedoch nur solche Verrichtungen außerhalb der Wohnung, die für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause unumgänglich sind und das persönliche Erscheinen des Pflegebedürftigen notwendig machen. Weitere Hilfen - z. B. bei Spaziergängen oder Besuchen von kulturellen Veranstaltungen - sind nicht berücksichtigungsfähig (Koch in Kasseler Kommentar, § 14 SGB X, Rn. 19).
Auch wenn man davon ausgehen wollte, dass eine „minutengenaue“ Bestimmung des Pflegeaufwandes nicht möglich ist und den eingeholten Sachverständigengutachten eine gewisse Ungenauigkeit wesensimmanent ist, kann - auch unter Berücksichtigung einer „Fehlertoleranz“ - ein Zeitaufwand für die Grundpflege von über 240 Minuten - anstatt der vom Sachverständigen festgestellten 161 Minuten - ohne weiteres ausgeschlossen werden. Denn selbst wenn man der zeitlichen Einschätzung des Grundpflegebedarfes die jeweils höheren Werte aus den Zeitkorridoren der BRi zugrunde legt, ergäbe sich im Bereich der Körperpflege ein höherer Bedarf von insgesamt 35 Minuten, bei der Ernährung von plus 18 Minuten und bei der Mobilität von plus 4 Minuten, insgesamt somit plus 57 Minuten. Selbst bei dieser „worst-case“ Berechnung anhand der oberen Werte aus der BRi läge der Pflegebedarf für die Grundpflege unterhalb von 240 Minuten (nämlich bei 218 Minuten).
In Übereinstimmung mit dem SG weist der Senat darauf hin, dass die Vielzahl der bei der Klägerin vorliegenden medizinischen Befunde und Diagnosen keine höhere Pflegestufe rechtfertigt. Endlich geht auch das Vorbringen, die Schwerbehinderung der Klägerin sei nicht ausreichend gewürdigt worden, an der Sache vorbei. Die Feststellung der Merkzeichen „B“, „G“ und „aG“ nach dem Schwerbehindertenrecht hat keine Bindungswirkung für das Recht des SGB XI. Die Rechtsprechung hat bereits früh darauf hingewiesen, dass die Voraussetzungen einer Zuordnung zu den Pflegestufen des SGB XI nur nach den darin enthaltenen Kriterien zu ermitteln sind (BayLSG, Urteil vom 14.12.2011 - Az.: L 2 P 72/10, Rz. 24 unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 26.11.1998 - Az.: B 3 P 20/97 R).
e) Die Höhe des Pflegegeldes bemisst sich danach, in welche der drei Pflegestufen die Hilfeempfängerin eingestuft ist. Für die Pflegegeldhöhe verweisen die Absätze 1-3 des § 64 SGB XII auf die in § 37 SGB XI genannten Beträge. Danach beträgt das Pflegegeld in der Pflegestufe II für den Zeitraum bis 31.12.2009 420 € monatlich, ab 01.01.2010
430 € monatlich und ab 01.01.2012 440 € monatlich und ab 01.01.2015 458 € monatlich.
Da die Beklagte ursprünglich lediglich Leistungen der Pflegestufe I gewährt hat, waren die entsprechenden Differenzbeträge zur Pflegestufe II nachzubezahlen und künftig Leistungen der Pflegestufe II zu gewähren. Für den Zeitraum vom 01.02.2009 bis 28.02.2013 ergab sich somit zugunsten der Klägerin eine von der Beklagten zu leistende Nachzahlung in Höhe von insgesamt 10.045 €. Ab 01.03.2013 gewährt die Beklagte der Klägerin Leistungen in Höhe von monatlich 440 € (Bescheid vom 04.03.2013). Der Senat geht davon aus, dass die Beklagte der Klägerin entsprechend der gesetzlichen Anhebung ab 01.01.2015 monatlich 458 € als Pflegegeld für Schwerpflegebedürftige gewährt.
f). Aus dem Umstand, dass die Klägerin nach den schlüssigen Feststellungen des Gutachters, denen der Senat folgt, erheblich in ihrer Alltagskompetenz eingeschränkt ist, und ein erheblicher Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung i. S. § 45 a SGB XI vorliegt, ergibt sich kein höherer Anspruch auf Pflegegeld. Die Klägerin ist zwar in den Bereichen aus § 45 a Abs. 2 S. 1 Nrn. 6, 7, 8, 9, 10, 13 SGB XI eingeschränkt (Unfähigkeit, die eigenen körperlichen und seelischen Gefühle oder Bedürfnisse wahrzunehmen; Unfähigkeit zu einer erforderlichen Kooperation bei therapeutischen oder schützenden Maßnahmen als Folge einer therapieresistenten Depression oder Angststörung; Störungen der höheren Hirnfunktionen (Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, herabgesetztes Urteilsvermögen), die zu Problemen bei der Bewältigung von sozialen Alltagsleistungen geführt haben; Störung des Tag-/Nacht-Rhythmus; Unfähigkeit, eigenständig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren; zeitlich überwiegend Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Hilflosigkeit oder Hoffnungslosigkeit aufgrund einer therapieresistenten Depression). Daraus lässt sich jedoch kein Anspruch auf höheres Pflegegeld nach § 64 Abs. 2 SGB XII i. V. m. § 37 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 SGB XI ableiten.
Die zusätzlichen Verrichtungen bedingen einen Pflegebedarf nach § 61 Abs. 1 S. 2 SGB XII i. S. des erweiterten Pflegebegriffs in der Sozialhilfe, wonach auch andere Verrichtungen als die in § 61 Abs. 5 SGB XII genannten gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen den Pflegebedarf begründen können.
Der Anspruch auf zusätzliche Betreuungsleistungen entsprechend § 45 b SGB XI ist jedoch zweckgerichtet auf die Inanspruchnahme von qualitätsgesicherten Betreuungsleistungen (§ 45 b Abs. 1 S. 5 SGB XI).
Das Ausgrenzen allgemeinen Aufsichts- und Betreuungsbedarfs aus dem relevanten Pflegebedarf erweist sich gerade bei geistig oder seelisch behinderten Menschen als problematisch, da bei ihnen im Wesentlichen nur dieser Pflegebedarf besteht, der zudem ein großes zeitliches Ausmaß erlangen kann. Dieses Problem ist jetzt durch das Gesetz zur Ergänzung der Leistungen bei häuslicher Pflege von Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz - PflEG) vom 14.12.2001 (BGBl. I S. 3728), zuletzt geändert durch das Pflegeweiterentwicklungsgesetz vom 28.05.2008 (BGBl I S. 874) zum Teil entschärft. Danach ist ein neuer Abschnitt in das SGB XI (§§ 45a ff. SGB XI) eingefügt worden, der Leistungen für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf vorsieht. Die entsprechenden Defizite in der Alltagskompetenz sind in § 45 a Abs. 2 Nr. 1 bis 13 SGB XI abschließend aufgezählt. Als Leistung ist nach § 45 b Abs. 1 SGB XI höchstens ein Betrag von 100 € monatlich (Grundbetrag) oder von 200 € (erhöhter Betrag) vorgesehen. Der Betrag ist zweckgebunden einzusetzen für Aufwendungen, die durch qualitätsgesicherte Betreuungsleistungen entstehen. Gleichzeitig ist eine neuer § 13 Abs. 3a SGB XI eingefügt worden, wonach die Leistungen nach § 45 b SGB XI bei den Fürsorgeleistungen zur Pflege (also der Sozialhilfe) keine Berücksichtigung finden (Grube a. a. O. § 61 Rn. 24).
Ein Anspruch auf Pflegegeld aus der Sozialhilfe besteht jedoch nur für die in § 64 SGB XII genannten Verrichtungen der Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftlichen Versorgung. Dies ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut der Norm, der Verwendung der Begrifflichkeiten (erheblich Pflegebedürftige, Schwerpflegebedürftige und Schwerstpflegebedürftige, die identisch mit den Begriffen aus §§ 15 Abs. 1 SGB XI) sowie aus der Verweisung auf die Vorschrift des § 37 Abs. 1 S. 3 Nrn. 1-3 SGB XI.
Im Übrigen hat die Klägerin am 19.12.2009 und erneut am 20.06.2009 bei der Beklagten zusätzliche Betreuungsleistungen beantragt. Die Beklagte informierte die Klägerin daraufhin am 19.01.2009 und am 15.06.2009 sowie am 02.07.2009 über die Voraussetzungen der Gewährung zusätzlicher qualitätsgesicherter Betreuungsleistungen. Den gegen das Informationsschreiben gerichteten Widerspruch der Klägerin nahm die damalige Bevollmächtigte der Klägerin am 31.08.2009 zurück.
Es braucht hier nicht entschieden werden, ob das die Gewährung zusätzlicher Betreuungsleistungen nach § 45 b SGB XI entsprechend gerichtete Verwaltungsverfahren der Beklagten noch offen ist, oder ob mit der Rücknahme des Widerspruchs gegen das Infoschreiben vom 02.07.2009 auch der entsprechende Leistungsantrag zurückgenommen wurde. Jedenfalls sind die zusätzlichen Betreuungsleistungen, die nach § 45 b SGB XI als untypischer Kostenersatzanspruch und nicht als Sachleistung ausgestaltet sind (Klie in LPK SGB XI, 4. Auflage, § 45 b Rn. 5) nicht Gegenstand des Verfahrens auf höheres Pflegegeld, weil es sich um eine eigenständige Leistungsart handelt. Zudem ist überhaupt nicht ersichtlich, ob bei der Klägerin ein entsprechender Bedarf vorliegt, weil nicht vorgetragen wurde, dass die Klägerin besondere Betreuungsmöglichleiten nach § 45 b Abs. 1 S. 6 SGB XI (Erstattung von Aufwendungen durch die Inanspruchnahme von Leistungen der Tages- und Nachtpflege, der Kurzzeitpflege, der zugelassenen Pflegedienste oder der nach Landesrecht zugelassenen niederschwelligen Angebote) in Anspruch nimmt.
g.) Eine Erhöhung des Pflegegeldes nach der Pflegestufe II für die Zeit ab 01.01.2013 entsprechend der Übergangsregelung des § 123 SGB XI - verbesserte Pflegeleistungen für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz - kommt ebenfalls nicht in Betracht.
Nach § 123 Abs. 4 SGB XI in der Fassung vom 23.10.2012, gültig ab 01.01.2013 bis 31.12.2014 erhöht sich für Pflegebedürftige der Pflegestufe II das Pflegegeld nach § 37 um 85 Euro auf 525 Euro und die Pflegesachleistungen nach § 36 um 150 Euro auf bis zu 1 250 Euro.
Nach § 123 Abs. 4 SGB XI in der Fassung vom 17.12.2014, gültig ab 01.01.2015 erhöht sich für Pflegebedürftige der Pflegestufe II das Pflegegeld nach § 37 um 87 Euro auf 545 Euro und die Pflegesachleistungen nach § 36 um 154 Euro auf bis zu 1 298 Euro.
§ 123 SGB XI ist mit Wirkung vom 01.01.2013 durch Art. 1 Nr. 48 des Gesetzes zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz - PNG) vom 23.10.2012 angefügt worden. Durch Art. 1 Nr. 29 des Ersten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Erstes Pflegestärkungsgesetzes - PSG I) vom 17.12.2014 (BGBl I 2014, 2222) ist § 123 Abs. 2-4 SGB XI geändert worden.
Mit der neuen Vorschrift des § 123 SGB XI werden für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (§ 45a SGB XI) Leistungsverbesserungen in der sozialen und privaten Pflegeversicherung eingeführt; bei diesem Personenkreis spielen die körperlichen Defizite häufig nicht die zentrale Rolle, ihr dennoch bestehender Hilfe- und Betreuungsbedarf konnte nach den früheren Regelungen nicht ausreichend bei der Begutachtung erfasst werden. Deshalb soll der Begriff der Pflegebedürftigkeit neu definiert werden.
Nach dem Wortlaut der neuen Vorschrift des § 123 SGB XI sollen Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz bis zum Inkrafttreten eines Gesetzes, das die Leistungsgewährung aufgrund eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines entsprechenden Begutachtungsverfahrens regelt, bereits höhere Leistungen erhalten und neben Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung auch Betreuungsleistungen in Anspruch nehmen können.
Die Anforderungen bezüglich erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz ergeben sich aus § 45a SGB XI; der Anspruch ist auf Versicherte beschränkt, die in ihrer häuslichen Umgebung gepflegt werden, zumal bei der stationären Pflege bereits vor Inkrafttreten des PNG soziale Betreuung gewährleistet ist (§ 82 Abs. 1 Satz 3 SGB XI) und künftig bei allen Formen der stationären Pflege zusätzliche Betreuungskräfte (§ 87b SGB XI) zulasten der Pflegekassen eingesetzt werden können ( Dahm in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 1. Aufl. 2014, § 123 SGB XI, Rn. 1 ff).
Ein Anspruch der Klägerin auf ein entsprechend der in § 123 SGB XI festgelegten Sätze erhöhtes Pflegegeld für Schwerpflegebedürftige nach § 64 Abs. 2 SGB XII besteht nicht.
Mit der Einführung der Leistungen der §§ 123 ff SGB XI sind die Regelleistungen der §§ 36 ff SGB XI, auf die § 64 SGB XII ausdrücklich verweist, nicht ausgeweitet worden. Diese Sonderleistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung können daher nicht vom Sozialhilfeträger gewährt werden, sondern kommen ausschließlich den nach dem SGB XI Pflegeversicherten zugute (Schellhorn in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII Kommentar, 19. Auflage, § 64 Rn. 5).
Dies ergibt sich aus der Rechtssystematik. Die Leistungen nach § 123 SGB XI werden im Leistungskatalog des § 28 SGB XI gesondert in § 28 Abs. 1 b S. 2 SGB XI aufgeführt. Hinsichtlich des Inhalts der Leistungen der Hilfe zur Pflege verweist § 61 Abs. 2 S. 2 SGB XII aber nur auf § 28 Abs. 1 Nrn. 1 und 5-8 SGB XI. Damit sind die verbesserten Pflegeleistungen für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz nach § 123 SGB XI nicht Inhalt der Leistungen der Hilfe zur Pflege in der Sozialhilfe. Die Verweisung in § 64 Abs. 2 SGB XII bezieht sich ausschließlich auf ein Pflegegeld in Höhe von § 37 Abs.1 S. 3 Nr. 2 SGB XI.
Aus den Gesetzesmaterialien zu dem Pflegeneuausrichtungsgesetz PNG ergibt sich der gesetzgeberische Wille, mit der Einführung des § 123 SGB XI eine Übergangsleistung außerhalb des Systems der Regelleistungen des SGB XI und der Hilfe zur Pflege einzuführen, um eine präjudizierende Wirkung im Hinblick auf die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu vermeiden. So heißt es im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Entwurf des PNG, Bundestagsdrucksache, 17/9369, vom 23.04.2012, S. 52 ff:
„Zu § 123 (neu)
Mit dieser Vorschrift werden für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (§ 45a) Leistungsverbesserungen in der sozialen und privaten Pflegeversicherung eingeführt. Menschen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen haben einen besonderen Hilfe- und Betreuungsbedarf, der vor allem über den Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege, also der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität, hinausgeht. Bei diesem Personenkreis spielen die körperlichen Defizite häufig nicht die zentrale Rolle. Ihr dennoch bestehender Hilfe- und Betreuungsbedarf kann nach den bisherigen Regelungen oftmals nicht ausreichend bei der Begutachtung erfasst werden. Aus diesem Grund soll der Begriff der Pflegebedürftigkeit neu definiert werden. Das Bundesministerium für Gesundheit wird die weiteren Schritte für die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs von einem Expertenbeirat fachlich fundiert vorbereiten lassen.
Bis zum Inkrafttreten eines Gesetzes, das die Leistungsgewährung aufgrund eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines entsprechenden Begutachtungsverfahrens regelt, sollen Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz jedoch bereits höhere Leistungen erhalten (§ 123) und neben Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung auch Betreuungsleistungen (§ 124) in Anspruch nehmen können.
Die Leistungsverbesserungen beziehen sich auf Pflegebedürftige in häuslicher Pflege, weil die stationäre Pflege bereits heute die soziale Betreuung mit einschließt (§ 82 Absatz 1 Satz 3) und darüber hinaus künftig bei allen Formen stationärer Pflege zusätzliche Betreuungskräfte (§ 87b) zulasten der Pflegekassen eingesetzt werden können.
Zu Absatz 1
Bis zum Inkrafttreten eines Gesetzes, das die Leistungsgewährung aufgrund eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines entsprechenden Begutachtungsverfahrens regelt, erhalten ambulant versorgte Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (§ 45a) aufgestockte Leistungen, die höher liegen als die aktuellen Leistungsbeträge der jeweiligen Pflegestufe. Weder das bestehende Begutachtungsverfahren nach § 18 noch das Verfahren zur Feststellung einer eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a müssen hierzu geändert werden. Damit wird bei der Frage, ob und in welcher Höhe Pflegeleistungen bezogen werden können, auch darauf abgestellt, ob ein besonderer Betreuungsbedarf im Sinne des § 45a bei der Begutachtung festgestellt wird. Etwa 500 000 ambulant versorgte Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz und einem Pflegebedarf unterhalb der Pflegestufe III werden von den Leistungsverbesserungen profitieren.“
Damit ist klargestellt, dass es sich bewusst um Übergangsleistungen handeln soll, die das bisherige Leistungssystem des SGB XI und SGB XII nicht tangieren sollen.
Im Übrigen ergibt sich auch aus den Gesetzesmaterialien der Begründung zu § 124 SGB XI (Anspruch auf häusliche Betreuung), dass es sich nur der Art nach um einen Sachleistungsanspruch im Sinne des § 36 SGB XI handeln soll. Die häusliche Betreuung ist aus diesem Grund nicht in § 36 SGB XI integriert, sondern als eigenständige Übergangsleistung außerhalb des Regelleistungskatalogs ausgestaltet worden. In der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfes heißt es nach der Bundestagsdrucksache, 17/9369, vom 23.04.2012, S. 53: „Die Einbeziehung von häuslicher Betreuung im Übergangsrecht der Pflegeversicherung hat keine Ausweitung der Art und des Umfangs der Leistungen, die als Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Buch und dem Bundesversorgungsgesetz (Kriegsopferfürsorge) zu erbringen sind, zur Folge.“ Der Gesetzgeber hat sich damit bei Einführung des § 123 SGB XI bewusst gegen eine Anhebung des Pflegegeldes nach § 64 SGB XII entschieden, so dass keine Regelungslücke vorliegt.
Im Bereich der Hilfen zur Pflege finden die besonderen Bedarfe der demenzerkrankten Hilfebedürftigen ausschließlich in § 65 Abs. 1 S. 2 SGB XII Berücksichtigung. Danach können Leistungen zur häuslichen Pflege angemessene Kosten für besondere Betreuungs- oder Pflegeleistungen übernommen werden (Schellhorn ia. a. O. § 61 Rn. 48 a. E.). Für eine Systemunabhängigkeit der besonderen Pflegeleistungen für demenzerkrankte Pflegeversicherte spricht auch die Abgrenzungsnorm des § 13 Abs. 3 a SGB XI, der anordnet, dass die Leistungen nach § 45 b SGB XI bei den Fürsorgeleistungen zur Pflege nach § 13 Abs. 3 S. 1 SGB XI keine Berücksichtigung finden.
Damit ergibt sich insgesamt für die Klägerin ein Anspruch auf Pflegegeld in entsprechender Höhe der Pflegestufe II, das ihr bereits von der Beklagten gewährt wird.
Die auf Gewährung eines höheren Pflegegeldes gerichtete Berufung hat somit keinen Erfolg.
9. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
10. Gründe für die Zulassung der Revision nach § §160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG sind nicht ersichtlich.
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
I.
- 1
- Auf Antrag der Beteiligten zu 3 wurde die Zwangsversteigerung des im Rubrum näher bezeichneten Grundbesitzes der Schuldner angeordnet. Der Beitritt der Beteiligten zu 4 und 5 wurde zugelassen. Nachdem die Beteiligten zu 6 und 7 in dem Zwangsversteigerungstermin vom 23. August 2006 Meistbietende geblieben waren, bestimmte das Vollstreckungsgericht als Verkündungstermin den 5. September 2006, 11 Uhr. An diesem Tag ging bei dem Vollstreckungsgericht um 10 Uhr 18 ein Fax der Schuldner ein, in dem die Verschiebung der Zuschlagsverkündung um eine Woche beantragt wurde. In dem Verkündungstermin , in dem der Schuldner zu 1 und der Vertreter der Beteiligten zu 3 anwesend waren, wies der Rechtspfleger darauf hin, dass die Angaben der Schuldner für eine (nochmalige) Aussetzung des Termins zu vage seien. Das - nach dem Sitzungsprotokoll unmittelbar nach Verkündung des Zuschlags gestellte - Befangenheitsgesuch des Schuldners zu 1 hat das Amtsgericht durch den Richter mit Beschluss vom 25. Oktober 2006 "als verspäteten Versuch einer Verfahrensverzögerung" zurückgewiesen.
- 2
- Ein Rechtsmittel gegen diesen Beschluss haben die Schuldner nicht eingelegt , jedoch mit der sofortigen Beschwerde gegen den Zuschlagsbeschluss geltend gemacht, der Erteilung des Zuschlags habe entgegen gestanden, dass der Schuldner zu 1 den Rechtspfleger noch vor der Verkündung als befangen abgelehnt habe. Dieser Darstellung zur zeitlichen Reihenfolge ist der Rechtspfleger in seiner amtlichen Stellungnahme entgegen getreten; das Protokoll sei richtig. Die sofortige Beschwerde ist erfolglos geblieben. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde erstreben die Schuldner eine Versagung des Zuschlags.
II.
- 3
- Nach Auffassung des Beschwerdegerichts sind die Voraussetzungen des § 83 Nr. 6 ZVG nicht erfüllt. Da der Rechtspfleger das Ablehnungsgesuch nicht vor der Entscheidung über den Zuschlag als rechtsmissbräuchlich verworfen, sondern die Bescheidung des Gesuchs dem Richter überlassen habe, komme es darauf an, wann das Gesuch gestellt worden sei. Nach dem Sitzungsprotokoll sei dies erst nach der Verkündung des Zuschlagsbeschlusses geschehen. Damit habe der Antrag die Entscheidung über den Zuschlag nicht mehr beeinflussen können. Gegen die Beweiskraft des Protokolls sei nur der Nachweis der Fälschung zulässig (§ 165 ZPO). Der hierzu erforderliche Beweis einer vorsätzlichen Falschprotokollierung sei den Schuldnern nicht gelungen, weil es durchaus denkbar sei, dass der Rechtspfleger aufgrund der aufgetretenen Unruhe eine früher erklärte Ablehnung nicht wahrgenommen habe.
III.
- 4
- 1. Die nach § 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 575 ZPO) Rechtsbeschwerde ist jedenfalls im Ergebnis unbegründet.
- 5
- a) Auf die Frage, ob das Beschwerdegericht den Nachweis der Protokollfälschung (§ 165 Satz 2 ZPO) verfahrensfehlerhaft verneint hat, kommt es nicht an. Denn selbst wenn festgestellt werden könnte, dass der Schuldner die Ablehnung des Rechtspflegers bereits vor Verkündung des Zuschlagsbeschlusses erklärt hat, läge aufgrund der Besonderheiten des Falles kein zur Versagung des Zuschlages führender Grund vor.
- 6
- aa) Im Ausgangspunkt zutreffend geht das Beschwerdegericht davon aus, dass der Zuschlag nach § 83 Nr. 6 ZVG (vorläufig) nicht erteilt werden darf, wenn der Rechtspfleger zuvor wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt worden ist (so auch OLG Celle NJW-RR 1989, 569). Zwar kann ein Termin bei drohender Vertagung unter Mitwirkung des abgelehnten Rechtspflegers fortgesetzt werden (§ 10 Satz 1 RPflG i.V.m. § 47 Abs. 2 ZPO). Das ändert jedoch nichts daran, dass jedenfalls eine Endentscheidung grundsätzlich erst nach Bescheidung des Ablehnungsgesuchs ergehen darf (zutreffend Zöller /Vollkommer, ZPO, 26. Aufl., § 47 Rdn. 3a; vgl. auch Musielak/Heinrich, ZPO, 5. Aufl., Rdn. 9; a.A. Stein/Jonas/ Bork, ZPO, 22. Aufl., § 47 Rdn. 2a); mit Blick auf die Wirkungen des § 90 ZVG gilt dies für den Zuschlagsbeschluss in besonderer Weise. Dem kann der abgelehnte Rechtspfleger durch eine Unterbrechung der Sitzung - so eine zeitnahe Entscheidung des Richters erreichbar erscheint - und ansonsten durch Anberaumung oder Verschiebung eines Verkündungstermins oder durch Vertagung Rechnung tragen.
- 7
- bb) Anders verhält es sich jedoch, wenn das Ablehnungsgesuch rechtsmissbräuchlich ist. Die Übergehung eines solchen Gesuchs kann nicht als sonstiger - der Zuschlagserteilung einstweilen entgegenstehender - Grund im Sinne von § 83 Nr. 6 ZVG anerkannt werden. Der auch das Zwangsvollstreckungsrecht beherrschende Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verpflichtet die Parteien zu redlicher Verfahrensführung und verbietet insbesondere den Missbrauch prozessualer Befugnisse (std. Rspr., vgl. nur Senatsbeschl. v. 10. Mai 2007, V ZB 83/06, S. 6 ff. m.w.N., zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt ). Vor diesem Hintergrund hat der Senat bereits entschieden, dass die Ablehnung des Rechtpflegers wegen Besorgnis der Befangenheit rechtsmissbräuchlich ist, wenn sie lediglich der Verfahrensverschleppung dient (Beschl. v. 14. April 2005, V ZB 7/05, NJW-RR 2005, 1226, 1227). Ob der Rechtspfleger von der in solchen Fällen gegebenen Befugnis Gebrauch gemacht hat, das Ablehnungsgesuch vor der Entscheidung über den Zuschlag selbst als unzulässig zu verwerfen (Senatsbeschl. aaO), ist für Beantwortung der Frage, ob die Stellung eines rechtsmissbräuchlichen Ablehnungsgesuchs als sonstiger Grund im Sinne von § 83 Nr. 6 ZPO zu qualifizieren ist, unerheblich. Insoweit kann lediglich entscheidend sein, dass es dem das Verfahrensrecht missbrauchenden Beteiligten nach Treu und Glauben versagt ist, aus seinem Rechtsmissbrauch prozessuale Vorteile zu ziehen.
- 8
- b) Das Befangenheitsgesuchs war rechtsmissbräuchlich, weil es lediglich zur Verfahrensverschleppung gestellt wurde. Das von dem Schuldner zu 1 mit dem - ersichtlich haltlosen - Ablehnungsgesuch verfolgte Ziel bestand allein darin , die mit redlichen Mitteln nicht zu erlangende Vertagung doch noch über den - funktionswidrigen - Einsatz des Rechts zur Ablehnung zu erreichen, nachdem der Rechtspfleger eine Aussetzung des Verfahrens mit der sachlichen - und im Übrigen zutreffenden - Begründung abgelehnt hatte, die von den Schuldnern vorgetragenen Gründe seien zu vage. Nach der von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffenen Feststellung des Beschwerdegerichts haben die Schuldner im Beschwerdeverfahren ausgeführt, der Befangenheitsantrag sei aufgrund der Äußerungen des Rechtspflegers zur (versagten) Verschiebung des Verkündungstermins gestellt worden. Aber auch davon abgesehen erschöpft sich das Vorbringen der Schuldner zu dem Grund der Ablehnung in seinem wesentlichen Kern in der Begründung, es habe eine gereizte Stimmung bestanden; Redeund Widerrede hätten zu einer lautstarken und hitzigen Auseinandersetzung geführt. Die Stützung des Ablehnungsgesuchs hierauf erachtet der Senat als vorgeschoben, weil es für jeden verständigen Verfahrensbeteiligten auf der Hand liegt, dass der geltend gemachte Grund unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt die Besorgnis der Befangenheit zu rechtfertigen vermag.
- 9
- 2. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Die durch das Rechtsbeschwerdeverfahren entstandenen Gebühren (Nr. 2243 KV-GKG) hat der Rechtsbeschwerdeführer nach § 26 Abs. 3 GKG zu tragen. Eine Anordnung zur Erstattung außergerichtlicher Kosten nach § 97 Abs. 1 ZPO kommt nicht in Be- tracht, weil sich die Beteiligten in dem Verfahren über die Zuschlagsbeschwerde grundsätzlich nicht als Parteien im Sinne der Zivilprozessordnung gegenüber stehen (vgl. dazu insbesondere Senat, Beschl. v. 25. Januar 2007, V ZB 125/05, WM 2007, 947 f.; ferner Beschl. v. 20. Juli 2006, V ZB 168/05, RPfleger 2006, 665, und v. 18. Mai 2005, V ZB 142/05, WM 2006, 1727, 1730).
Schmidt-Räntsch Roth
Vorinstanzen:
AG Düsseldorf, Entscheidung vom 05.09.2006 - 82 K 63/04 -
LG Düsseldorf, Entscheidung vom 07.12.2006 - 25 T 1137/06 -
(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.
(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten.
(1) Die Beteiligten haben das Recht der Einsicht in die Akten, soweit die übermittelnde Behörde dieses nicht ausschließt. Beteiligte können sich auf ihre Kosten durch die Geschäftsstelle Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen. Für die Versendung von Akten, die Übermittlung elektronischer Dokumente und die Gewährung des elektronischen Zugriffs auf Akten werden Kosten nicht erhoben, sofern nicht nach § 197a das Gerichtskostengesetz gilt.
(2) Werden die Prozessakten elektronisch geführt, wird Akteneinsicht durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf oder durch Übermittlung des Inhalts der Akten auf einem sicheren Übermittlungsweg gewährt. Auf besonderen Antrag wird Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt. Ein Aktenausdruck oder ein Datenträger mit dem Inhalt der Akten wird auf besonders zu begründenden Antrag nur übermittelt, wenn der Antragsteller hieran ein berechtigtes Interesse darlegt. Stehen der Akteneinsicht in der nach Satz 1 vorgesehenen Form wichtige Gründe entgegen, kann die Akteneinsicht in der nach den Sätzen 2 und 3 vorgesehenen Form auch ohne Antrag gewährt werden. Über einen Antrag nach Satz 3 entscheidet der Vorsitzende; die Entscheidung ist unanfechtbar. § 155 Absatz 4 gilt entsprechend.
(3) Werden die Prozessakten in Papierform geführt, wird Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt. Die Akteneinsicht kann, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf oder durch Übermittlung des Inhalts der Akten auf einem sicheren Übermittlungsweg gewährt werden. Nach dem Ermessen des Vorsitzenden kann einem Bevollmächtigten, der zu den in § 73 Absatz 2 Satz 1 und 2 Nummer 3 bis 9 bezeichneten natürlichen Personen gehört, die Mitnahme der Akten in die Wohnung oder Geschäftsräume gestattet werden. § 155 Absatz 4 gilt entsprechend.
(4) Der Vorsitzende kann aus besonderen Gründen die Einsicht in die Akten oder in Aktenteile sowie die Fertigung oder Erteilung von Auszügen und Abschriften versagen oder beschränken. Gegen die Versagung oder die Beschränkung der Akteneinsicht kann das Gericht angerufen werden; es entscheidet endgültig.
(5) Die Entwürfe zu Urteilen, Beschlüssen und Verfügungen, die zu ihrer Vorbereitung angefertigten Arbeiten sowie die Dokumente, welche Abstimmungen betreffen, werden weder vorgelegt noch abschriftlich mitgeteilt.
(1) Aus erheblichen Gründen kann ein Termin aufgehoben oder verlegt sowie eine Verhandlung vertagt werden. Erhebliche Gründe sind insbesondere nicht
- 1.
das Ausbleiben einer Partei oder die Ankündigung, nicht zu erscheinen, wenn nicht das Gericht dafür hält, dass die Partei ohne ihr Verschulden am Erscheinen verhindert ist; - 2.
die mangelnde Vorbereitung einer Partei, wenn nicht die Partei dies genügend entschuldigt; - 3.
das Einvernehmen der Parteien allein.
(2) Die erheblichen Gründe sind auf Verlangen des Vorsitzenden, für eine Vertagung auf Verlangen des Gerichts glaubhaft zu machen.
(3) Ein für die Zeit vom 1. Juli bis 31. August bestimmter Termin, mit Ausnahme eines Termins zur Verkündung einer Entscheidung, ist auf Antrag innerhalb einer Woche nach Zugang der Ladung oder Terminsbestimmung zu verlegen. Dies gilt nicht für
- 1.
Arrestsachen oder die eine einstweilige Verfügung oder einstweilige Anordnung betreffenden Sachen, - 2.
Streitigkeiten wegen Überlassung, Benutzung, Räumung oder Herausgabe von Räumen oder wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs, - 3.
(weggefallen) - 4.
Wechsel- oder Scheckprozesse, - 5.
Bausachen, wenn über die Fortsetzung eines angefangenen Baues gestritten wird, - 6.
Streitigkeiten wegen Überlassung oder Herausgabe einer Sache an eine Person, bei der die Sache nicht der Pfändung unterworfen ist, - 7.
Zwangsvollstreckungsverfahren oder - 8.
Verfahren der Vollstreckbarerklärung oder zur Vornahme richterlicher Handlungen im Schiedsverfahren;
(4) Über die Aufhebung sowie Verlegung eines Termins entscheidet der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung; über die Vertagung einer Verhandlung entscheidet das Gericht. Die Entscheidung ist kurz zu begründen. Sie ist unanfechtbar.
Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen; Buch 6 der Zivilprozessordnung ist nicht anzuwenden. Die Vorschriften des Siebzehnten Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes sind mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt. In Streitigkeiten über Entscheidungen des Bundeskartellamts, die die freiwillige Vereinigung von Krankenkassen nach § 172a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch betreffen, sind die §§ 63 bis 80 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt.
(1) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Wird die versicherte Tätigkeit im Haushalt der Versicherten oder an einem anderen Ort ausgeübt, besteht Versicherungsschutz in gleichem Umfang wie bei Ausübung der Tätigkeit auf der Unternehmensstätte.
(2) Versicherte Tätigkeiten sind auch
- 1.
das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit, - 2.
das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges, um - a)
Kinder von Versicherten (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wegen ihrer, ihrer Ehegatten oder ihrer Lebenspartner beruflichen Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen oder - b)
mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug zu benutzen,
- 2a.
das Zurücklegen des unmittelbaren Weges nach und von dem Ort, an dem Kinder von Versicherten nach Nummer 2 Buchstabe a fremder Obhut anvertraut werden, wenn die versicherte Tätigkeit an dem Ort des gemeinsamen Haushalts ausgeübt wird, - 3.
das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges der Kinder von Personen (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wenn die Abweichung darauf beruht, daß die Kinder wegen der beruflichen Tätigkeit dieser Personen oder deren Ehegatten oder deren Lebenspartner fremder Obhut anvertraut werden, - 4.
das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben, - 5.
das mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängende Verwahren, Befördern, Instandhalten und Erneuern eines Arbeitsgeräts oder einer Schutzausrüstung sowie deren Erstbeschaffung, wenn diese auf Veranlassung der Unternehmer erfolgt.
(3) Als Gesundheitsschaden gilt auch die Beschädigung oder der Verlust eines Hilfsmittels.
Tenor
-
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. Dezember 2010 wird zurückgewiesen.
-
Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
- 1
-
Streitig ist, ob der Kläger die Feststellung eines Arbeitsunfalls wegen des Ereignisses vom 7.4.2003 beanspruchen kann.
- 2
-
Der 1953 geborene Kläger war bei der Firma H. als Kraftfahrer beschäftigt. Am 7.4.2003 hatte er den Auftrag, Waren von M. aus zur Firma C. in B. zu transportieren. Er fuhr gegen 1.00 Uhr in M. ab, kam gegen 2.30 Uhr in der Umgebung von B. an. Nachdem sich C morgens bei H nach dem Verbleib der Ware erkundigt hatte, kam der Kläger gegen 9.30 Uhr bei C in B. an. Nach dem Abladevorgang bewegte er sich mit einem Hämatom am Kopf langsam taumelnd. Beim Eintreffen des Rettungssanitäters zeigte er sich desorientiert und bewusstseinsgetrübt. Ferner zeigte er einen schwankenden Gang und konnte keine adäquaten Angaben zum vorangegangenen Geschehen machen. Bei der notärztlichen und der anschließenden stationären Behandlung in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. vom 7. bis 29.4.2003 bestand hinsichtlich des Geschehenen eine vollständige Amnesie. Diagnostiziert wurden ein schweres Schädel-Hirn-Trauma unklarer Genese, eine Kalottenfraktur okzipital, multiple Einblutungen fronto-basal rechts, ein passagerer Verwirrtheitszustand, ein hirnorganisches Psychosyndrom, eine retrograde Amnesie und eine chronische Bronchitis bei Nikotinabusus.
- 3
-
Die Beklagte gewährte dem Kläger Heilbehandlung und ab 20.5.2003 Verletztengeld. Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten führte am 4.6.2003 Telefongespräche mit dem Inhaber der H sowie einem Mitarbeiter E des Betriebs, bei dem der Kläger die Waren entladen sollte. Nach weiteren Ermittlungen verfügte die Beklagte unter dem 6.8.2004 die Einstellung der Zahlung des Verletztengeldes mit Ablauf des 27.9.2004. Mit dem Eintritt der Arbeitsfähigkeit sei nach Ablauf der 78. Woche nach dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit nicht mehr zu rechnen, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben seien derzeit nicht zu erbringen.
- 4
-
Der Kläger beantragte am 31.8.2004 Verletztenrente. Die Beklagte zahlte ihm im Oktober 2004 auf die "voraussichtlich zu gewährende Unfallentschädigung" einen Vorschuss in Höhe von 300 €. Dieser stehe unter dem Vorbehalt späterer Rückforderung, falls sich herausstelle, dass keine oder eine geringere Leistungspflicht bestehe. Auf das klägerische Schreiben vom 16.3.2005 zahlte die Beklagte unter dem Vorbehalt späterer Rückforderung auf die "voraussichtlich zu gewährende Unfallentschädigung" einen weiteren Vorschuss von 1700 €.
- 5
-
Mit Bescheid vom 24.6.2005 lehnte die Beklagte eine Entschädigung aus Anlass des Ereignisses vom 7.4.2003 ab. Es lasse sich nicht feststellen, dass sich der Kläger seine Kopfverletzung bei einer versicherten Tätigkeit zugezogen habe. Ein zu entschädigender Arbeitsunfall sei nicht erwiesen. Die Vorschüsse auf Leistungen in Höhe von 2000 € seien zu erstatten. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1.2.2006 zurückwies.
- 6
-
Der Kläger hat beim SG Heilbronn Klage erhoben. Er habe seinen Arbeitstag am 7.4.2003 wie immer begonnen, wenn er mit seinem Lkw in Richtung B. gefahren sei. Bei diesen Fahrten sei er gegen 1.00 Uhr zum Betrieb in M. gefahren, habe Lkw und Ladung kontrolliert und habe sich dann auf den Weg in Richtung B. gemacht. Wie üblich habe er die Absicht gehabt, einen vor R. gelegenen Parkplatz anzufahren, auf dem er üblicherweise bei dieser Tour stehe. Von dort zur Abladestation in B. betrage die Fahrtzeit ca 20 Minuten.
- 7
-
Mit Urteil vom 3.3.2009 hat das SG "den Bescheid der Beklagten vom 24.6.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006" aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, das Ereignis vom 7.4.2003 als Arbeitsunfall festzustellen. Als der Kläger die versicherte Tätigkeit aufgenommen habe, sei er noch gesund gewesen. Bei der Ankunft an der Entladestelle habe er sich Verletzungen zugezogen gehabt, die aus einem Unfall resultieren müssten. Es lasse sich nicht nachweisen, dass der Kläger die versicherte Tätigkeit zwischen 1.00 Uhr und 9.30 Uhr für eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit unterbrochen habe.
- 8
-
Gegen das Urteil des SG hat die Beklagte beim LSG Berufung eingelegt. Das Urteil überzeuge nicht, da nicht nachgewiesen sei, dass der Kläger zur Zeit der Gesundheitsschädigung eine versicherte Tätigkeit verrichtet habe. Das LSG hat mit Urteil vom 9.12.2010 (L 6 U 2656/09) das Urteil des SG aufgehoben und die Klagen abgewiesen. Dass sich der Nachweis der Ausübung einer versicherten Tätigkeit zum Zeitpunkt des Unfalls nicht führen lasse, gehe nach dem Grundsatz der materiellen Beweislast zu Lasten des Versicherten. Verunglücke ein Versicherter unter ungeklärten Umständen an seinem Arbeitsplatz, an dem er zuletzt betriebliche Arbeit verrichtet habe, entfalle der Versicherungsschutz zwar nur, wenn bewiesen werde, dass er die versicherte Tätigkeit im Unfallzeitpunkt für eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit unterbrochen habe (unter Hinweis auf BSG vom 26.10.2004 - B 2 U 24/03 R - BSGE 93, 279 = SozR 4-2700 § 8 Nr 9; BSG vom 4.9.2007 - B 2 U 28/06 R - veröffentlicht in Juris). Diese Voraussetzungen seien hier nicht gegeben, denn es lasse sich nicht feststellen, dass der Kläger an seinem Arbeitsplatz, an dem er zuletzt die versicherte Tätigkeit verrichtet habe, verunglückt sei. Der Kläger habe am Unfalltag nicht ausschließlich betriebliche, sondern auch eigenwirtschaftliche Zwecke verfolgt. So habe er von vornherein beabsichtigt, auf einem Parkplatz eine 4 bis 4,5 Stunden dauernde Pause einzulegen, die er nach den Ermittlungen auch eingelegt habe. Die Einlegung einer nicht versicherten Pause führe "zu einer Beweislastumkehr" dergestalt, dass nicht die Beklagte die Beweislast dafür trage, dass der Kläger die versicherte Tätigkeit im Unfallzeitpunkt für eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit unterbrochen habe, sondern der Kläger die Beweislast dafür trage, dass er nicht während einer eigenwirtschaftlichen Unterbrechung verunfallt sei.
- 9
-
Gegen das Urteil des LSG hat der Kläger Revision eingelegt. Es verletze §§ 7, 8 SGB VII, indem es zu Unrecht davon ausgehe, dass der vorliegende Fall von den Konstellationen abweiche, die den Entscheidungen des BSG vom 4.9.2007 (B 2 U 28/06 R) und vom 26.10.2004 (B 2 U 24/03 R) zu Grunde lagen. Bei der von ihm eingelegten Pause handle es sich nicht um eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit. Vielmehr sei er zur Einhaltung von Ruhezeiten normativ verpflichtet. Er sei darin frei, sich die Ruhezeiten nach eigener Planung einzuteilen. Die Ungewissheit darüber, unter welchen Umständen er sich die Verletzungen zugezogen habe, gehe zu Lasten der Beklagten.
- 10
-
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. Dezember 2010 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 3. März 2009 zurückzuweisen.
- 11
-
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 12
-
Der Vollbeweis dafür, dass der Kläger einen Unfall in Ausübung der versicherten Tätigkeit erlitten habe, sei nicht erbracht worden.
Entscheidungsgründe
- 13
-
Die zulässige Revision des Klägers, mit der er die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Ereignisses vom 7.4.2003 als Arbeitsunfall begehrt, ist unbegründet.
- 14
-
Das LSG hat das Urteil des SG im Ergebnis zu Recht aufgehoben und die Klagen abgewiesen (1.). Vorliegend können nicht die "Beweiserleichterungen" gelten, die der Senat angenommen hat, wenn ein Versicherter am Arbeitsplatz und in engem zeitlichem Zusammenhang mit einer versicherten Verrichtung einen Gesundheitsschaden oder den Tod erleidet (2.). Es findet keine "Beweislastumkehr" zu Lasten des Klägers statt (3.). Ein Arbeitsunfall ist auch nicht nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins festzustellen (4.).
- 15
-
1. Der Versicherte kann vom zuständigen Unfallversicherungsträger nach § 102 SGB VII die Feststellung eines Versicherungsfalles, hier eines Arbeitsunfalles, beanspruchen, wenn ein solcher eingetreten ist(vgl BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - SozR 4-2700 § 11 Nr 1 RdNr 15 f). Einen Arbeitsunfall hat der Kläger aber nach den für das BSG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht erlitten.
- 16
-
Nach § 8 Abs 1 S 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Abs 1 S 2). Für einen Arbeitsunfall ist danach im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls einer versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung wesentlich ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis (Unfallereignis) verursacht hat (Unfallkausalität) und das Unfallereignis wesentlich einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität) (vgl BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 10/11 R - zur Veröffentlichung vorgesehen; BSG vom 18.1.2011 - B 2 U 9/10 R - BSGE 107, 197 = SozR 4-2700 § 2 Nr 17 RdNr 10; BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 27/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 30 RdNr 10 mwN).
- 17
-
Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt für die Beweiswürdigung der Tatsacheninstanzen bei der Tatsachenfeststellung, dass die Tatsachen, die die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung zur Zeit des Unfalls", "Unfallereignis" sowie "Gesundheitsschaden" erfüllen sollen im Grad des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen müssen. Demgegenüber genügt für den Nachweis der naturphilosophischen Ursachenzusammenhänge zwischen diesen Voraussetzungen der Grad der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die Glaubhaftmachung und erst Recht nicht die bloße Möglichkeit (vgl BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4 mwN). Das BSG ist an die Feststellung nicht nur dieser Tatsachen, sondern auch an die eines naturphilosophischen Kausalzusammenhangs durch das LSG grundsätzlich gebunden, falls - wie hier - keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen gegen die dabei zu Grunde gelegten Tatsachenfeststellungen erhoben werden und materiellrechtlich nicht ersichtlich ist, dass das LSG die rechtlichen Vorgaben für diesen ersten Schritt der Kausalitätsbeurteilung verkannt hat. Zu einer eigenständigen beweiswürdigenden Tatsachenfeststellung ist das BSG nur in seltenen, hier nicht einschlägigen Ausnahmesituationen befugt. Demgegenüber ist die Entscheidung über die Wesentlichkeit eines naturphilosophischen Kausalzusammenhangs im Einzelfall eine reine Rechts- und Rechtsanwendungsfrage.
- 18
-
Eine "Verrichtung zur Zeit des Unfalls", die unter einen gesetzlichen Versicherungstatbestand zu subsumieren wäre, ist nicht erwiesen. Nach den vom LSG bindend festgestellten Tatsachen ist weder nachgewiesen noch nachweisbar, dass der Kläger die Gesundheitsschäden bei der Ausübung einer Tätigkeit erlitten hat, die in einem sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stand. Danach steht schon nicht fest, ob der Gesundheitsschaden am 7.4.2003 oder vorher entstanden ist. Weiter ist nicht nachgewiesen, ob, wenn die Gesundheitsschädigung am 7.4.2003 zwischen 1.00 Uhr und 9.30 Uhr entstand, diese während der Zeiten der Verrichtung von Kraftfahreraufgaben oder während einer mehrstündigen Erholungspause eintrat. Als abhängig beschäftigter Kraftfahrer hätte er zur Zeit der Schädigung eine nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versicherte Tätigkeit nur verrichtet, wenn er Haupt- oder Nebenpflichten aus dem Beschäftigungsverhältnis erfüllt hätte oder eine nicht geschuldete Handlung mit der objektivierten Handlungstendenz vorgenommen hätte, seine vertraglichen Pflichten zu erfüllen. Es steht aber nur fest, dass er am Unfalltag um 1.00 Uhr die Ausübung der versicherten Tätigkeit als Kraftfahrer aufgenommen hat und dass bei ihm gegen 9.30 Uhr erhebliche Gesundheitsschäden vorgelegen haben. Allerdings war nicht feststellbar, welche versicherten und nicht versicherten Verrichtungen der Kläger in der Zwischenzeit ausgeführt hat.
- 19
-
Die Anspruchsvoraussetzungen für die Feststellung eines Arbeitsunfalls iS des § 8 Abs 1 SGB VII sind deshalb nicht erfüllt.
- 20
-
2. Das LSG hat bei seiner Entscheidung nicht verkannt, dass bei der Beweiswürdigung der rechtliche Beweismaßstab des Vollbeweises bei der Prüfung der versicherten Tätigkeit eines Beschäftigten auch dann erfüllt sein kann, wenn ein Versicherter an dem Arbeitsplatz, an dem er zuletzt versicherte Tätigkeiten verrichtet hatte, aus ungeklärten Umständen einen Gesundheitsschaden oder den Tod erleidet, falls keine konkret festgestellten Tatsachen Zweifel daran begründen, dass er auch noch zur Unfallzeit versichert gearbeitet hat (teilweise als "Beweiserleichterung" bezeichnet).
- 21
-
Der Senat hat in der Entscheidung vom 4.9.2007 (B 2 U 28/06 R - Juris RdNr 22) folgende Maßstäbe aufgestellt: "Die Ungewissheit darüber, aus welchen Beweggründen V (Anm: der Versicherte) … 10 bis 20 Minuten auf der Plattform verblieben ist und was er dort getan hat, geht zu Lasten der Beklagten. Denn sie trägt bei der gegebenen Sachlage die objektive Beweislast dafür, dass der Verunglückte sich während der versicherten Baustelleneinrichtung vorübergehend einer anderen, privaten Zwecken dienenden Verrichtung zugewandt hatte."
- 22
-
Ähnlich führte er schon im Urteil vom 26.10.2004 (B 2 U 24/03 R - BSGE 93, 279 = SozR 4-2700 § 8 Nr 9)aus: "Verunglückt ein Versicherter unter ungeklärten Umständen an seinem Arbeitsplatz, wo er zuletzt betriebliche Arbeit verrichtet hatte, so entfällt der Versicherungsschutz nur dann, wenn bewiesen wird, dass er die versicherte Tätigkeit im Unfallzeitpunkt für eine eigenwirtschaftliche Verrichtung unterbrochen hatte." Der Entscheidung lag ein Sachverhalt zu Grunde, bei dem ein Versicherter mit einem Arbeitskollegen auf einem Dach Arbeiten verrichtete und nach einer 15 bis 30 Minuten dauernden Abwesenheit des Kollegen von dem Dach abgestürzt war.
- 23
-
Die Umstände des vorliegenden Falls unterscheiden sich - wie das LSG zutreffend herausgearbeitet hat - von den Konstellationen, die den Entscheidungen des BSG vom 4.9.2007 (B 2 U 28/06 R) und vom 26.10.2004 (B 2 U 24/03 R - BSGE 93, 279 = SozR 4-2700 § 8 Nr 9) zu Grunde lagen. Beiden Entscheidungen lag ein Sachverhalt zu Grunde, in dem jeweils die Aufnahme einer versicherten Tätigkeit nachgewiesen war und die Versicherten aus nicht zu klärenden Umständen in einem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz zu einem bekannten Zeitpunkt Unfälle erlitten hatten. "Beweiserleichterungen" nach den og Urteilen kommen daher nur in Betracht, wenn der Versicherte den räumlichen Bereich, in dem er zuletzt die versicherte Tätigkeit verrichtet hat, nicht verlassen und er dort kurz zuvor versicherte Tätigkeiten verrichtet hat (so auch Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand Mai 2011, K § 8 RdNr 340; derselbe in jurisPR-SozR 12/2005 Anm 5).
- 24
-
Daran fehlt es hier. Es ist völlig offen, wann genau, wo und bei welcher Gelegenheit der Kläger sich seine Verletzungen zugezogen hat. Vergleichbar liegt der Fall des Klägers mit denjenigen, die den oben genannten Urteilen zu Grunde lagen, nur insoweit, als auch der Kläger unter ungeklärten Umständen erhebliche Gesundheitsschäden erlitten hat. Vorliegend erstreckt sich aber der Zeitraum zwischen der Aufnahme der versicherten Tätigkeit (1.00 Uhr), einer Pause von 2.30 Uhr bis 9.00 Uhr bis zur Wahrnehmung bestehender Gesundheitsschäden (gegen 9.30 Uhr) auf mehr als acht Stunden. Für diese Zeitspanne ist unklar, wann die Schädigung stattgefunden hat und welchen konkreten versicherten und nichtversicherten Verrichtungen der Kläger nachgegangen ist. Der Zeitraum, in dem die Einwirkung möglicherweise erfolgte, übersteigt sogar die zeitliche Dauer einer Arbeitsschicht, die als Grenze gilt, bis zu der das Merkmal "zeitlich begrenzt" in § 8 Abs 1 S 2 SGB VII noch erfüllt werden kann(stRspr BSG vom 30.5.1985 - 2 RU 17/84 - SozR 2200 § 548 Nr 71; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand Mai 2011, K § 8 RdNr 12 f).
- 25
-
Auch in örtlicher Hinsicht ist offen, ob der Kläger die Verletzungen am Arbeitsplatz, zB in seinem Fahrzeug, oder an einem Ort erlitten hat, den er bedingt durch die versicherte Tätigkeit aufsuchen musste, oder an einem zu eigenwirtschaftlichen Verrichtungen aufgesuchten Ort, zB einem Rasthof.
- 26
-
Das LSG hat die Nichtfeststellbarkeit der Verrichtung der versicherten Beschäftigung auch unter Berücksichtigung der rechtlichen Möglichkeit geprüft, dass die vom Kläger einzuhaltenden und zwingend vorgeschriebenen Ruhezeiten Teil der versicherten Tätigkeit wären (vgl zu Ruhe- und Lenkzeiten der Kraftfahrer: Art 6 f EGV Nr 561/2006; unbeschadet der EGV gilt für Fahrer in einem Arbeitsverhältnis auch das ArbZG, insbesondere § 21a; vgl auch BAG vom 20.04.2011 - 5 AZR 200/10). Hier kann offenbleiben, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Kraftfahrer bei der Einhaltung von Ruhe-, Lenk- und Standzeiten eine versicherte Tätigkeit verrichtet. Denn das LSG hat bindend festgestellt, dass vorliegend eine betriebliche Notwendigkeit - wie etwa einzuhaltende Lenkzeiten - für die gewählte Pausengestaltung nicht ersichtlich ist. Im Übrigen hat der Senat in dem mehrfach zitierten Urteil vom 26.10.2004 (B 2 U 24/03 R - aaO RdNr 8) bereits darauf verwiesen, dass ein Versicherter, der während einer Arbeitspause oder während eines Bereitschaftsdienstes einer höchst persönlichen oder eigenwirtschaftlichen Verrichtung nachgeht, ebenso wenig versichert ist, wie ein Versicherter, der während der normalen Arbeitszeit eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit einschiebt. In beiden Fällen wird die versicherte Tätigkeit unterbrochen.
- 27
-
3. Eine "Umkehr der Beweislast" zu Lasten des Klägers oder eine "Rückausnahme", wie das LSG meint, liegt nicht vor.
- 28
-
Das LSG ist unzutreffend davon ausgegangen, dass die hier vorliegenden Umstände, ausgehend von den Entscheidungen des Senats eine "Beweislastumkehr" zu Lasten des Klägers bewirken. Vielmehr bleibt es bei den allgemeinen Regeln der materiellen Beweislast. Danach trägt derjenige, der ein Recht - hier Feststellung eines Arbeitsunfalls - für sich beansprucht, nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Ermittlung die materielle Beweislast für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen dieses Rechts (stRspr; vgl BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196, 198 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17 RdNr 10 mwN; BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 27/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 30 RdNr 10 mwN). Bei Tatsachen, die das LSG nur mit dem Überzeugungsgrad des Vollbeweises feststellen darf, schaden rein theoretische Zweifel, die immer vorliegen können, ohnehin nicht (Erforderlich ist "ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit" so Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 32. Aufl 2011, § 286 RdNr 2 mwN). Die in den oben zitierten Entscheidungen sehr unspezifisch als "Beweiserleichterungen" (zu dem Begriff vgl Greger in Zöller, ZPO, 29. Aufl, Vor § 284 RdNr 25 f) bezeichneten Ausnahmesituationen zeichnen sich dadurch aus, dass weder eine Unterbrechung der versicherten Tätigkeit zur Unfallzeit noch konkrete Hilfstatsachen dafür festgestellt sind. Folglich könnten nur aus der Unaufklärbarkeit der Umstände des Einzelfalles Zweifel an der (weiteren) Verrichtung der versicherten Tätigkeit bis zur Unfallzeit entstehen. Solche Zweifel aber, die sich nicht auf festgestellte Tatsachen stützen lassen, können auch nur rein theoretischer Natur sein.
- 29
-
4. Das LSG hätte, worauf nur beiläufig hinzuweisen ist, die Verrichtung der versicherten Beschäftigung zur Unfallzeit auch nicht wegen eines Anscheinsbeweises feststellen müssen.
- 30
-
Beim Beweis des ersten Anscheins handelt es sich um eine Tatsachenvermutung. Bei typischen Geschehensabläufen erlaubt er den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs oder eines schuldhaften Verhaltens aufgrund von Erfahrungssätzen, auch wenn im Einzelfall entsprechende Tatsachen nicht festgestellt werden können (Greger in Zöller, ZPO, 29. Aufl, Vor § 284 RdNr 29). Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte kann also der Geschehensablauf zu Grunde gelegt werden, als habe er sich in der typischen Weise ereignet. Erforderlich ist ein Hergang, der nach der Lebenserfahrung unabhängig von den Umständen des Einzelfalls und dem Willen der handelnden Personen in einer bestimmten Weise abzulaufen pflegt und deshalb auch im zu entscheidenden Fall als gegeben unterstellt werden kann (s dazu: Keller aaO; BSG SozR 5670 Anl 1 Nr 2102 Nr 2 S 2). Es kann offenbleiben, ob und in welchen Fällen ein Beweis des ersten Anscheins für den Überzeugungsgrad des Vollbeweises ausreichen kann.
- 31
-
Dementsprechend wird auch für einzelne Voraussetzungen des Arbeitsunfalls, wie zB die Unfallkausalität, die Möglichkeit des Anscheinsbeweises bejaht (dazu BSG vom 30.1.2007 - B 2 U 23/05 R - BSGE 98, 79 = SozR 4-2700 § 8 Nr 22, RdNr 15; vgl auch Bolay in Hk-SGG, 3. Aufl 2009, § 128 RdNr 12; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 128 RdNr 9 ff). Vorliegend kann ein Anscheinsbeweis schon mangels eines typischen Geschehensablaufs nicht den Nachweis begründen, dass ein Unfallereignis bei der "Verrichtung einer versicherten Tätigkeit zur Unfallzeit" eingetreten ist. Neben einer feststellbaren Unfallzeit fehlt es auch an einem Erfahrungssatz des Inhalts, dass Beschäftigte im Transportgewerbe (außerhalb von Verkehrsunfällen) bei Ausübung ihrer Tätigkeit Einwirkungen ausgesetzt sind, die zu Verletzungen der vom Kläger erlittenen Art führen.
- 32
-
Nach alledem ist die Revision des Klägers gegen das Urteil des LSG zurückzuweisen.
Tenor
-
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Januar 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
- 1
-
Der Kläger begehrt die gerichtliche Feststellung, dass sein Bandscheibenvorfall im Bereich L 3/4 seiner Lendenwirbelsäule (LWS) ein weiterer Gesundheitserstschaden seines von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfalls vom 19.12.2006 ist.
- 2
-
Der 1958 geborene Kläger leidet etwa seit seinem 20. Lebensjahr an Rückenschmerzen. Wegen Beschwerden im Bereich der LWS gab er 1992 seine Tätigkeit als Gießereiarbeiter auf. Nach einer Umschulung zum Feinmechaniker nahm er im Jahr 2002 wegen eines chronisch rezidivierenden Lumbal- und Zervikalsyndroms mit pseudoradikulärer Symptomatik an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme teil. Im Anschluss daran wurde er wegen der Wirbelsäulenbeschwerden regelmäßig ambulant behandelt. Bei einer im Februar 2005 durchgeführten Computertomographie der LWS war eine sichere Bandscheibenvorwölbung nicht zu erkennen.
- 3
-
Der Kläger war zuletzt in der Qualitätssicherung der R. GmbH beschäftigt. Am 19.12.2006 rutschte er in der zweiten Schicht mit dem linken Fuß von einer ca 30 bis 40 cm hohen Stufe ab, arbeitete trotz Schmerzen aber zunächst bis zum 21.12.2006 weiter. Der an diesem Tag aufgesuchte Durchgangsarzt diagnostizierte eine Distorsion der LWS und des linken Beckens. Bei einer am 22.12.2006 durchgeführten Computertomographie zeigte sich ein frischer lateraler Bandscheibenvorfall im Segment L 3/4 mit einer Kompression der Nervenwurzel. Dieser Bandscheibenvorfall wurde im Januar 2007 mikrochirurgisch beseitigt.
- 4
-
Die Beklagte stellte einen Arbeitsunfall vom 19.12.2006 mit den als Unfallfolge bezeichneten Erstschäden "Zerrung der LWS und des linken Beckens" fest. Die Feststellung der "Unfallfolgen" krankhafter Veränderungen der LWS sowie des Bandscheibenvorfalls L 3/4 lehnte sie hingegen ab. Der Unfall sei nur geeignet gewesen, eine Zerrung zu verursachen. Die weiteren Gesundheitsbeeinträchtigungen seien das Ergebnis eines Verschleißprozesses und nicht traumatisch bedingt (Bescheid vom 19.3.2007; Widerspruchsbescheid vom 21.8.2007).
- 6
-
Das LSG Baden-Württemberg hat die Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen abgeändert und einen "operierten Bandscheibenvorfall L 3/4 als weitere Unfallfolge" festgestellt (Urteil vom 27.1.2011). Das Begehren sei wegen der Bandscheibenoperation auf die Feststellung des operierten Bandscheibenvorfalls als Unfallfolge gerichtet. Für diesen Bandscheibenvorfall sei das Abrutschen von der Stufe eine naturwissenschaftliche Ursache. Auf eine traumatische Schädigung der Bandscheibe L 3/4 durch das Unfallereignis deuteten wesentliche Indizien hin. Im unmittelbaren Anschluss an den Vorfall hätten sich zunehmende Schmerzen in der LWS mit Ausstrahlung und Sensibilitätsstörungen im linken Oberschenkel entwickelt. Der am dritten Tag nach dem Unfallereignis nachgewiesene Bandscheibenvorfall sei als frisch beschrieben worden. Neben diesem zeitlichen Zusammenhang bestehe auch ein örtlicher Zusammenhang des Bandscheibenvorfalls mit dem Abrutschen, denn selbst die Beklagte habe eine Zerrung der LWS festgestellt. Den gegen den naturwissenschaftlichen Zusammenhang sprechenden Umständen komme keine durchgreifende Bedeutung zu. Die beim Kläger gegebenen Bandscheibendegenerationen relativierten grundsätzlich nicht die auf eine akute traumatische Schädigung hinweisenden Zeichen. Das Unfallereignis sei auch geeignet gewesen, den Bandscheibenvorfall hervorzurufen. An der notwendigen Geeignetheit fehle es nur dann, wenn der geschädigte Körperteil überhaupt nicht betroffen gewesen sei. Der Unfall habe aufgrund seiner relevanten biomechanischen Belastung aber zu einer Stauchung der LWS geführt. Des Nachweises von Begleitverletzungen des Bandapparates oder der umgebenden Wirbelkörper bedürfe es nicht, weil ein Bandscheibenvorfall regelmäßig degenerativer Natur sei. Die gegenteilige, ggf den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergebende Auffassung in Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, berücksichtige nicht die zweistufige Kausalitätsprüfung und könne schon aus Rechtsgründen nicht zu Grunde gelegt werden. Abgesehen davon ließen sich minimale Begleitverletzungen nicht immer computertomographisch abbilden. Das Unfallereignis sei nach den gutachtlichen Feststellungen von Dr. H. auch die rechtlich wesentliche Ursache. Von den fortgeschrittenen Verschleißerscheinungen sei nicht das Bewegungssegment L 3/4 betroffen gewesen. Die zurückliegenden Rückenbeschwerden hätten vor dem Unfall nicht zu gravierenden sozialmedizinischen Einschränkungen geführt. Ein Bandscheibenvorfall sei bei der im Februar 2005 durchgeführten Computertomographie gerade nicht festgestellt worden. Selbst wenn aber die degenerativen Prozesse als mitursächlich angesehen würden, wäre die Wahrscheinlichkeit eines unfallunabhängigen Bandscheibenvorfalls um ein Vielfaches geringer als ein unfallbedingter Bandscheibenvorfall. Der Kläger habe aufgrund seines Lebensalters 28 Jahre Zeit gehabt, einen symptomatischen Bandscheibenvorfall zu entwickeln. Auch sei das Unfallgeschehen in Kombination mit dem erheblichen Körpergewicht von 100 Kilogramm kein alltägliches Ereignis.
- 7
-
Mit der vom BSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII und einen Verstoß gegen die Pflicht zur Amtsermittlung. Der erforderliche ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Bandscheibenvorfall liege nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vor. Ausweislich der bildgebenden Diagnostik fehle es an nach herrschender unfallmedizinischer Lehrmeinung notwendigen Begleitverletzungen der ligamentären oder knöchernen Strukturen. Das LSG habe sich allein auf die Feststellungen des Sachverständigen Dr. H. gestützt, ohne sich mit dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand inhaltlich auseinanderzusetzen. Der vom Berufungsgericht aufgestellte Grundsatz, dass es an der Geeignetheit eines Unfallgeschehens nur dann fehle, wenn der geschädigte Körperteil nicht betroffen sei, widerspreche der Rechtsprechung des BSG.
- 8
-
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Januar 2011 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 20. August 2009 zurückzuweisen.
- 9
-
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 10
-
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
- 11
-
Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an das LSG (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet.
- 12
-
1. Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG kann das BSG nicht abschließend darüber befinden, ob die Verrichtung der versicherten Tätigkeit, die die Verbandszuständigkeit der Beklagten begründet und eine Einwirkung auf die LWS des Klägers wesentlich mit verursacht hat (dazu unter 3.), dadurch auch eine objektive und zudem rechtlich wesentliche Mitursache des Bandscheibenvorfalls auf der Höhe des 3./4. Lendenwirbelkörpers geworden ist. Nur dann wäre dieser ein Gesundheitserstschaden des anerkannten Arbeitsunfalls.
- 13
-
Das LSG hat nicht festgestellt, ob dieser Schaden nach Maßgabe des derzeit anerkannten Standes der medizinischen Wissenschaft durch die verrichtungsbedingte und deshalb versicherte Einwirkung unmittelbar objektiv mit verursacht wurde (dazu unter 4.). Seine Ansicht, dies könne durch "eine wertende Entscheidung", die "ohnehin dem juristischen Betrachter vorbehalten" sei, im Rahmen der rechtlichen "Wesentlichkeitsbeurteilung" ersetzt werden, stimmt nicht mit dem Rechtsbegriff der unfallversicherungsrechtlichen "Wesentlichkeit" einer Ursache für eine bestimmte Wirkung überein (dazu unter 3. und 5.).
- 14
-
2. Die Beklagte wendet sich mit ihrer Revision dagegen, dass das LSG auf die Berufung des Klägers das die Klage abweisende Urteil des SG Stuttgart vom 20.8.2009 aufgehoben, die angefochtenen Bescheide abgeändert und als "weitere Folge des Arbeitsunfalls vom 19.12.2006" einen "Operierten Bandscheibenvorfall L 3/4" festgestellt hat. Der Erfolg ihrer Rechtsmittel hängt davon ab, ob die zulässige Kombination der zulässigen Anfechtungs- mit der zulässigen Feststellungsklage des Klägers begründet ist. Das wäre dann der Fall, wenn die Beklagte durch ihren negativ feststellenden Verwaltungsakt einen Anspruch des Klägers auf die Feststellung eines Bandscheibenvorfalls L 3/4 als Gesundheitserstschaden zu Unrecht abgelehnt hätte. Dann wäre dieser durch Feststellungsurteil als weiterer Erstschaden des anerkannten Arbeitsunfalls festzustellen gewesen. Andernfalls hätte ihre Revision durchgreifenden Erfolg.
- 15
-
Wie in der mündlichen Verhandlung vor dem BSG zwischen den Beteiligten klargestellt werden konnte, richtete sich das Begehren des Klägers von Anfang an nicht auf die Feststellung seines Bandscheibenvorfalls als eine (unmittelbare) Unfallfolge. Ihm kam es vielmehr stets auf die Feststellung dieses Gesundheitsschadens als weiteren Erstschaden des anerkannten Arbeitsunfalls an. Eine unmittelbare Unfallfolge kann sich hingegen nur infolge eines Gesundheitserstschadens einstellen, der selbst als Tatbestandsvoraussetzung des Unfallbegriffs iS des § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII dem Begriff des Arbeitsunfalls unterfällt. Der Bandscheibenvorfall war zudem ersichtlich keine Wirkung eines bereits anerkannten Erstschadens. Bei sachgerechter Auslegung war auch die angefochtene negative Feststellung der Beklagten auf die Ablehnung der Anerkennung eines Erstschadens gerichtet.
- 16
-
3. Nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des LSG ist nicht abschließend beurteilbar, aber möglich, dass dem Kläger der erhobene Feststellungsanspruch gegen die Beklagte zusteht. Jeder Versicherte hat nämlich das Recht, vom zuständigen Unfallversicherungsträger gemäß § 102 SGB VII die Feststellung aller Erstschäden (Gesundheitserstschäden oder Tod) eines Arbeitsunfalls iS von § 8 Abs 1 SGB VII zu verlangen, wenn ein solcher eingetreten ist(vgl BSG vom 31.1.2012 - B 2 U 2/11 R - zur Veröffentlichung in SozR 4-2700 § 8 Nr 43 vorgesehen, Juris RdNr 15 sowie BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - SozR 4-2700 § 11 Nr 1 RdNr 15 f).
- 17
-
a) Der Anspruch scheitert nicht daran, dass die Beklagte eine insoweit unanfechtbar gewordene Feststellung getroffen hätte, der Kläger habe infolge seiner versicherten Tätigkeit an der Druckgießmaschine einen Arbeitsunfall mit folgenden Gesundheitserstschäden erlitten: "Zerrung der Lendenwirbelsäule und des linken Beckens." Denn zugleich hat die Beklagte in diesem Verwaltungsakt ausdrücklich unter Ziffer 3 verfügt, dass krankhafte Veränderungen der LWS sowie der Bandscheibenvorfall in den Segmenten L 3/4 weder im Sinne der Entstehung noch im Sinne der Verschlimmerung "Folgen des Arbeitsunfalls" sind.
- 18
-
Werden die Erstschäden anfangs nur unvollständig anerkannt, hat der Versicherte Anspruch auf eine vollständige Feststellung aller objektiv vom Arbeitsunfall umfassten Gesundheitserstschäden. Entscheidet der Versicherungsträgerbei seiner Feststellung eines Arbeitsunfalls, wie hier, dass der Versicherte keinen Anspruch auf Feststellung bestimmter weiterer Erstschäden habe, oder stellt er die Gesundheitserstschäden ausdrücklich abschließend (positiv oder negativ) fest, ist dagegen der Widerspruch gegeben (nach Fristablauf allein §§ 44 f SGB X). Da hier um einen weiteren, von der Beklagten ausdrücklich abgelehnten Gesundheitserstschaden gestritten wird, erfasst die rechtliche Bindungswirkung des den Arbeitsunfall feststellenden Verwaltungsakts den hier rechtshängigen Streitgegenstand nicht.
- 19
-
b) Die Feststellungen des LSG lassen erkennen, dass der Kläger möglicherweise einen Anspruch auf Feststellung des umstrittenen Gesundheitserstschadens hat. Denn danach hat er eine versicherte Tätigkeit als Beschäftigter verrichtet und infolge dessen ein Unfallereignis erlitten (dazu sogleich).
- 20
-
Nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 (oder 8 Abs 2) SGB VII begründenden Tätigkeit(versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Abs 1 Satz 2).
- 21
-
Daher muss eine Verrichtung des Verletzten vor dem fraglichen Unfallereignis, das "infolge", also ua nach dieser Verrichtung eingetreten sein muss, den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt haben. Nur dies begründet seine Versichertenstellung in und seinen Versicherungsschutz aus der jeweiligen Versicherung.
- 22
-
Diese (versicherte) Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis (Unfallereignis), kurz gesagt: eine Einwirkung, objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität). Diese (versicherte) Einwirkung muss einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität).
- 23
-
Die den Versicherungsschutz in der jeweiligen Versicherung begründende "Verrichtung", die (möglicherweise dadurch verursachte) "Einwirkung" und der (möglicherweise dadurch verursachte) "Erstschaden" müssen (vom Richter im Überzeugungsgrad des Vollbeweises) festgestellt sein.
- 24
-
aa) § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII setzt voraus, dass der Verletzte eine "den Versicherungsschutz" begründende "Tätigkeit (versicherte Tätigkeit)" verrichtet hat und dass der Unfall(iS von Satz 2 aaO) "infolge" dieser versicherten Tätigkeit eingetreten ist.
- 25
-
Diese gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen umschreiben den Rechtsgrund, aufgrund dessen der wegen einer Verrichtung einer versicherten Tätigkeit durch den Verletzten verbandszuständige Unfallversicherungsträger überhaupt versicherungsrechtlich für die Schäden, Nachteile und Bedarfe des verunfallten Verletzten einstehen soll. Er soll nur verpflichtet sein, soweit der Versicherungsschutz durch die Verrichtung der versicherten Tätigkeit in der jeweiligen Versicherung begründet ist. Er soll deshalb (grundsätzlich) nur einstehen müssen für Gesundheitsschäden (oder Tod und ggf wirtschaftliche Folgen etc), die "infolge" der versicherten Verrichtung eingetreten sind und ein Risiko realisieren, gegen das die jeweils begründete Versicherung schützen soll. Zurechnungsvoraussetzungen sind somit auf der ersten Stufe die (faktisch-objektive) Wirkursächlichkeit der versicherten Verrichtung des Verletzten für den Schaden und auf der darauf aufbauenden zweiten Stufe dessen rechtliche Erfassung vom Schutzzweck der begründeten Versicherung.
- 26
-
bb) Die Zurechnung setzt somit erstens voraus, dass die Verrichtung der versicherten Tätigkeit den Schaden (ggf neben anderen konkret festgestellten unversicherten Wirkursachen) objektiv mitverursacht hat. Denn für Einbußen des Verletzten, für welche die versicherte Verrichtung keine Wirkursache war, ist schlechthin kein Versicherungsschutz begründet, hat also der Versicherungsträger nicht einzustehen. Eine Verrichtung ist jedes konkrete Handeln eines Verletzten, das (objektiv) seiner Art nach von Dritten beobachtbar (BSG vom 9.11.2010 - B 2 U 14/10 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 39 RdNr 22)und (subjektiv, also jedenfalls in laienhafter Sicht) - zumindest auch - auf die Erfüllung des Tatbestandes der jeweiligen versicherten Tätigkeit ausgerichtet ist (innere Tatsache). Als (objektives) Handeln des Verletzten kann es erste Ursache einer objektiven Verursachungskette sein. Diese kann über die Einwirkung auf den Körper, über Gesundheitserstschäden oder Tod hinaus bis zu unmittelbaren oder iS von § 11 SGB VII, der für die zweite Stufe andere Zurechnungsgründe als die "Wesentlichkeit" regelt, mittelbaren Unfallfolgen sowie ua zur Minderung der Erwerbsfähigkeit und zu den Bedarfen reichen, derentwegen das SGB VII Leistungsrechte vorsieht.
- 27
-
Erst dann, wenn die "Verrichtung", die (möglicherweise dadurch verursachte) "Einwirkung" und der (möglicherweise dadurch verursachte) "Erstschaden" festgestellt sind, kann und darf (auf der ersten Stufe der Zurechnung) über die tatsächliche Kausalitätsbeziehung (objektive Verursachung) zwischen der Verrichtung und der Einwirkung (mit dem richterlichen Überzeugungsgrad mindestens der Wahrscheinlichkeit) entschieden werden. Es geht hierbei ausschließlich um die rein tatsächliche Frage, ob und ggf mit welchem Mitwirkungsanteil die versicherte Verrichtung (ggf neben anderen konkret festgestellten unversicherten Wirkursachen) eine Wirkursache der von außen kommenden, zeitlich begrenzten Einwirkung auf den Körper des Versicherten war.
- 28
-
cc) Zweitens muss der (letztlich) durch die versicherte Verrichtung mitbewirkte Schaden rechtlich auch unter Würdigung unversicherter Mitursachen als Realisierung einer in den Schutzbereich der begründeten Versicherung fallenden Gefahr, eines dort versicherten Risikos, zu bewerten sein. Denn der Versicherungsschutz greift nur ein, wenn sich ein Risiko verwirklicht hat, gegen das die jeweils begründete Versicherung Schutz gewähren soll.
- 29
-
Wird auf der ersten Stufe die objektive (Mit-)Verursachung bejaht, indiziert dies in keiner Weise die auf der zweiten Stufe der Zurechnung rechtlich zu gebende Antwort auf die Rechtsfrage (so schon BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17), ob die Mitverursachung der Einwirkung durch die versicherte Verrichtung unfallversicherungsrechtlich rechtserheblich, "wesentlich", war. Denn die unfallversicherungsrechtliche Wesentlichkeit der Wirkursächlichkeit der versicherten Verrichtung für die Einwirkung (etc) muss eigenständig rechtlich nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils begründeten Versicherung beurteilt werden.
- 30
-
Sie setzt rechtlich voraus, dass der Schutzbereich und der Schutzzweck der jeweiligen durch die versicherte Verrichtung begründeten Versicherung durch juristische Auslegung des Versicherungstatbestandes nach den anerkannten Auslegungsmethoden erkannt werden. Insbesondere ist festzuhalten, ob und wie weit der Versicherungstatbestand gegen Gefahren aus von ihm versicherten Tätigkeiten schützen soll (vgl hierzu BSG vom 15.5.2012 - B 2 U 16/11 R - zur Veröffentlichung in SozR 4-2700 § 2 Nr 21 vorgesehen - RdNr 21 ff - Lebendnierenspende).
- 31
-
Bei der folgenden Subsumtion muss vorab entschieden werden, ob die versicherte Verrichtung durch ihren auf der ersten Stufe festgestellten Verursachungsbeitrag überhaupt ein Risiko verwirklicht hat, das in den Schutzbereich der begründeten Versicherung fällt. Nur wenn dies, wie zumeist, zu bejahen ist, kommt es darauf an, ob ggf konkret festgestellte unversicherte Mitursachen, die selbst die Zurechnung zum Unfallversicherungsträger nie begründen können, gleichwohl die Zurechnung ausschließen. Das ist der Fall, wenn die unversicherten Wirkursachen das gesamte Unfallgeschehen derart geprägt haben, dass die Wirkung insgesamt trotz des Mitwirkungsanteils der versicherten Verrichtung nicht mehr unter den Schutzbereich der jeweiligen Versicherung fällt. Bei dieser Subsumtion sind alle auf der ersten Stufe im Einzelfall konkret festgestellten versicherten und unversicherten Wirkursachen mit ihren ggf festgestellten Mitwirkungsanteilen in einer rechtlichen Gesamtabwägung nach Maßgabe des jeweilig festgestellten Schutzzwecks des Versicherungstatbestandes zu bewerten.
- 32
-
Nur wenn beide Zurechnungskriterien bejaht sind, erweist sich die versicherte Verrichtung als "wesentliche Ursache" (vgl schon RVA vom 24.5.1912, AN 1912, 930
= Breithaupt 1912, 212; GS RVA vom 26.2.1914, AN 1914, 411 <2690>; vgl BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R -; BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 = SozR 4-2700 § 11 Nr 1; BSG vom 17.2.2009 - B 2 U 18/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 31; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 11/04 R - BSGE 94, 262 = SozR 4-2700 § 8 Nr 14, RdNr 17) .
- 33
-
dd) In gleicher Weise muss zum Vorliegen eines Arbeitsunfalls ggf die versicherte Einwirkung den Erstschaden (ggf den Tod) a) objektiv und b) rechtlich wesentlich verursacht haben. Dabei kommt es schon wegen der Einheit des jeweiligen Versicherungsfalls stets auch darauf an, dass die Zurechnungskette auf ein- und dieselbe versicherte und den Versicherungsschutz bei dem Unfallversicherungsträger begründende Verrichtung zurückzuführen ist.
- 34
-
ee) Diese Voraussetzungen müssen für jeden einzelnen Gesundheitserstschaden erfüllt sein. "Gesundheitserstschaden" ist jeder abgrenzbare Gesundheitsschaden, der unmittelbar durch eine versicherte Einwirkung objektiv und rechtlich wesentlich verursacht wurde, die durch ein- und dieselbe versicherte Verrichtung objektiv und rechtlich wesentlich verursacht wurde. Es handelt sich also um die ersten voneinander medizinisch abgrenzbaren Gesundheitsschäden (oder den Tod), die "infolge" ein- und derselben versicherten Verrichtung eintreten.
- 35
-
c) Nach den Feststellungen des LSG liegt eine versicherte Verrichtung des Klägers vor, die eine Einwirkung objektiv und rechtlich wesentlich verursacht hat.
- 36
-
aa) Der Kläger hat durch seine Tätigkeit an der Druckgießmaschine während der zweiten Arbeitsschicht den Tatbestand der versicherten Tätigkeit als "Beschäftigter" iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII erfüllt(zu den Voraussetzungen dieses Tatbestandes näher BSG Urteil vom 15.5.2012 - B 2 U 8/11 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2700 § 2 Nr 20 vorgesehen). Denn er hat dadurch eine Hauptpflicht aus seinem Beschäftigungsverhältnis mit der R. GmbH erfüllt, wie in der mündlichen Verhandlung vor dem BSG auch in tatsächlicher Hinsicht abschließend außer Streit gestellt werden konnte. Er war daher in der Beschäftigtenversicherung grundsätzlich gegen alle Gefahren unfallversichert, die sich "infolge" der versicherten Tätigkeit an der Druckgießmaschine verwirklichten.
- 37
-
bb) Das LSG hat ferner bindend festgestellt, dass es infolge des Ausrutschens von einer Stufe an der Maschine in Höhe von 30 bis 40 cm und den Aufprall auf dem Boden zu einer Einwirkung auf das Becken und die LWS gekommen ist. Unter "Einwirkung" (als Kurzbezeichnung für das von außen kommende, zeitlich begrenzt einwirkende Unfallereignis) ist die durch einen solchen Vorgang ausgelöste Änderung des physiologischen Körperzustandes zu verstehen, die von dem (möglicherweise zeitnah danach eintretenden) Gesundheitserstschaden zu unterscheiden ist. Das LSG hat zur Natur der körperlichen Veränderung festgestellt, dass nach dem 19.12.2006 mehrere Ärzte eine "Zerrung" bzw Distorsion der LWS und des linken Beckens diagnostiziert haben. Nach dem Gesamtzusammenhang des Urteils des LSG hat es sich diese Diagnose zu eigen gemacht. Eine solche LWS-Distorsion genügt jedenfalls dem (weiten) Einwirkungsbegriff.
- 38
-
cc) Das LSG hat durch die Bezugnahme auf "die Unfallanzeige der Arbeitgeberin" vom 5.1.2007 auch noch festgestellt, dass die versicherte Tätigkeit an der Maschine mit dem Rutschen von einer 30-40 cm hohen Stufe und dem Auftreffen des linken Fußes auf dem Boden bei einem Körpergewicht des Klägers von mehr als 100 kg diese Einwirkung auf die LWS objektiv mitverursacht hat.
- 39
-
Das LSG hat zwar keine näheren Feststellungen zur Ursache des Ausrutschens und zu anderen Mitursachen (ua Beschaffenheit der Treppe bzw Stufe, Materialfehler, äußere Ursache) und auch nicht dazu getroffen, ob es gerade bei dem Begehen der Stufen um die Ausübung der Kontrolltätigkeit an der Maschine ging oder ob der Kläger unmittelbar bei der Kontrolltätigkeit abgerutscht ist. Dennoch ist die Feststellung des LSG rechtlich nicht zu beanstanden, dass die versicherte Tätigkeit in der Qualitätskontrolle an der Druckgießmaschine als Grundvoraussetzung des Unfallhergangs eine mitwirkende Ursache für die Einwirkung war. Wie zudem vor dem BSG zur Gehörsgewährung eingeführt und von den Beteiligten bestätigt wurde, entspricht es dem heutigen allgemeinkundigen Stand der Erfahrung, dass ein solcher Ablauf eines Sturzes/Ausrutschens mit der Wirkung eines starken Aufpralls des linken Fußes bei einem 100 kg schweren Menschen Ursache ua einer Verstauchung der LWS sein kann und nach den konkreten Umständen des Falles hier auch war. Weitere Mitursachen wurden vom LSG nicht festgestellt und von der Beklagten nicht behauptet.
- 40
-
dd) Das LSG hat sinngemäß auch die rechtliche Beurteilung geäußert, dass das versicherte Handeln des Klägers eine mit der Erfüllung dieser Pflicht aus seinem Beschäftigungsverhältnis verbundene Gefahr für seine Gesundheit verwirklicht hat. Das trifft bundesrechtlich zu. Denn die Beschäftigtenversicherung soll grundsätzlich in allen Lebens- und Gesundheitsgefahren schützen, die sich aus dem Handeln zur Erfüllung von Pflichten oder zur Wahrnehmung unternehmensbezogener Rechte aus dem Beschäftigungsverhältnis unter Eingliederung in einen vom Unternehmer bestimmten Gefahrenbereich ergeben. Der Kläger hat infolge der ihm aufgetragenen Aufgaben an der Druckgießmaschine mit entsprechenden Treppenstufen Gesundheitsgefahren eingehen müssen, die sich in der Einwirkung realisiert haben. Damit fällt bei der gebotenen rechtlichen Gesamtabwägung die durch die versicherte Verrichtung mit bewirkte Einwirkung auf die LWS unter den Schutzbereich der hier begründeten Beschäftigtenversicherung. Weitere Mitursachen der Einwirkung sind nicht festgestellt.
- 41
-
ee) Das LSG hat schließlich auch bindend festgestellt, dass der vom Kläger als Gesundheitserstschaden geltend gemachte Bandscheibenvorfall L 3/4 vorliegt.
- 42
-
d) Damit sind die Voraussetzungen für den vom Kläger erhobenen Anspruch auf Feststellung dieses Vorfalls L 3/4 als weiteren Gesundheitserstschaden des anerkannten Arbeitsunfalls mit der Ausnahme erfüllt, dass das BSG noch nicht entscheiden kann, ob das Arbeiten an der Druckgießmaschine mit der durch sie rechtlich wesentlich mitverursachten Einwirkung auf die LWS des Klägers auch rechtserhebliche (Mit-)Wirkursache dieses Bandscheibenvorfalls war.
- 43
-
4. Das LSG hat zwar ausgeführt, die versicherte Einwirkung und letztlich die versicherte Tätigkeit an der Druckgießmaschine hätten auch den Bandscheibenvorfall objektiv und wesentlich verursacht. Dies ist jedoch für das BSG nicht bindend. Es darf dies seiner Entscheidung nicht zugrunde legen.
- 44
-
a) Dies folgt für die Rechtsfrage der unfallversicherungsrechtlichen Wesentlichkeit schon daraus, dass es hier allein um Rechtsanwendung, also um die rechtliche Subsumtion der auf der ersten Stufe der Zurechnung festgestellten Tatsachen unter den Schutzbereich der für die konkrete Beschäftigung begründeten Beschäftigtenversicherung geht. Hier muss das Revisionsgericht in vollem Umfang die Beachtung des Bundesrechts überprüfen. Das LSG hat hierbei den Rechtsbegriff der unfallversicherungsrechtlichen "Wesentlichkeit" einer Ursache unzutreffend angewandt (dazu unter 5.).
- 45
-
b) Auf der ersten Stufe der Zurechnung hat das LSG keine das BSG bindenden tatsächlichen Feststellungen zur objektiven Verursachung des Bandscheibenvorfalls durch die versicherte Einwirkung/versicherte Verrichtung getroffen.
- 46
-
Allerdings hat das LSG ausdrücklich festgestellt, dass die (versicherte) Einwirkung auf die LWS des Klägers naturwissenschaftliche Ursache des beim Kläger aufgetretenen Bandscheibenvorfalls im Bewegungssegment L 3/4 gewesen ist.
- 47
-
aa) Grundsätzlich ist das Revisionsgericht an eine solche Tatsachenfeststellung, zu der auch der konkrete objektive Kausalzusammenhang im Einzelfall gehört, gebunden (§ 163 SGG). Hier tritt diese Bindung jedoch nicht ein, weil das LSG zum einen von einem unzutreffenden Rechtsbegriff der objektiven ("wissenschaftlich-philosophischen") Kausalität ausgegangen ist. Zum anderen hat es damit die Grenzen der Befugnis zur freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) überschritten. Es hat seinem Urteil einen nicht existierenden Erfahrungssatz zugrunde gelegt und deshalb davon abgesehen aufzuklären, ob es einen nach dem neuesten Stand der medizinischen Wissenschaft anerkannten Erfahrungssatz gibt, nach dem isolierte Bandscheibenvorfälle durch Unfalleinwirkungen nur verursacht werden können, wenn ein unfallbedingter Begleitschaden vorliegt.
- 48
-
bb) Das LSG hat seine Kausalitätsbeurteilung auch auf folgenden nicht existierenden Erfahrungssatz gestützt: Liegen - wie hier - Hinweise auf eine traumatische Schädigung vor, ohne dass eine andere Schädigung als der Arbeitsunfall örtlich-zeitlich in Rede steht, ist ein naturwissenschaftlicher Zusammenhang regelmäßig als wahrscheinlich anzusehen.
- 49
-
Daran ist das BSG nicht gebunden. Ein solcher Erfahrungssatz ist nicht allgemeinkundig oder dem BSG gerichtsbekannt. Die Revisionsführerin bestreitet seine Existenz. Das LSG hat nicht mitgeteilt, woher es diese Erkenntnis gewonnen hat. Soweit die Formulierung auch als generelle weitere "Beweiserleichterung" bei der richterlichen Überzeugungsbildung zum Grad der (juristischen) Wahrscheinlichkeit gemeint sein könnte, wäre sie bundesrechtswidrig. Denn der juristische Überzeugungsgrad der Wahrscheinlichkeit knüpft an die Würdigung der Einzelfallumstände nach Maßgabe der im jeweiligen Lebensbereich vorhandenen aktuell anerkannten wissenschaftlichen Erfahrung, hilfsweise der sonstigen einschlägigen Fachkunde, und deren ggf vorhandene Unsicherheiten an. Er erlaubt es aber nicht, an dem vorhandenen Erfahrungswissen durch "juristische Betrachtungen" vorbeizugehen.
- 50
-
c) Das LSG hat auch im Übrigen einen unzutreffenden Rechtsbegriff der objektiven Verursachung (der "philosophisch-wissenschaftlichen Kausalität") zugrunde gelegt.
- 51
-
Objektive Verursachung bedeutet einen nach dem jeweils neuesten anerkannten Stand der einschlägigen Erfahrung (insbesondere der Wissenschaft, hilfsweise der sonstigen Fachkunde) geprüften und festgestellten Wirkungszusammenhang zwischen einer bestimmten Wirkursache und ihrer Wirkung. Dabei gibt es keine Ursache ohne Wirkung und keine Wirkung ohne Ursache.
- 52
-
Die versicherte Verrichtung muss also eine Wirkursache (ggf neben anderen Wirkursachen) der Einwirkung, die Einwirkung eine Wirkursache (ggf neben anderen Wirkursachen) des Gesundheitserstschadens sein. Ob die Verrichtung Wirkursache der Einwirkung (etc) war, ist eine Frage, die nur auf der Grundlage von Erfahrung über Kausalbeziehungen beantwortet werden kann.
- 53
-
Auch der Satz der Bedingungstheorie, ein tatsächlicher Umstand sei "notwendige Bedingung" (nicht: Ursache) eines anderen Umstandes, wenn der erste nicht "hinweggedacht" werden könne, ohne dass der zweite (der "Erfolg") entfiele ("conditio sine qua non"), ist kein logischer Schluss. Er verlangt eine hypothetische, dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich fremde, alternative Zusammenhangserwägung ohne Berücksichtigung eines in Wirklichkeit vorhandenen Umstandes und mit Unterstellung eines in Wirklichkeit nicht erfolgten Geschehensablaufs. Darüber hinaus verweist er auf Erfahrungswissen über den Zusammenhang von Bedingungen.
- 54
-
Die Erwägung nach dieser Formel führt zur Unbeachtlichkeit von Bedingungen, die nach Erfahrung die Wirkung nicht verursacht haben können. Insoweit kann sie zur ersten negativen Vorklärung, dem Ausscheiden von als Ursachen von vornherein nicht in Betracht kommender Bedingungen, beitragen. Sie erfasst aber alle Bedingungen, die nach Erfahrung möglicherweise die fragliche Wirkung (den "Erfolg") verursacht haben könnten. Aus sich heraus gibt sie aber keinen Maßstab dafür, ob ein solcher als für das Geschehen erforderliche (und nur in diesem Sinne "notwendige") Bedingung erkannter Umstand den "Erfolg" wirklich bewirkt, also die Wirkung mitverursacht hat, worauf schon der große Senat des RVA (aaO) hingewiesen hat. Eine solche Bedingung kann Wirkursache sein, muss es aber nicht. Sie kann auch bloße Randbedingung sein. Die Formel schließt nur "Bedingungen" aus, die nach Erfahrung unmöglich Wirkursachen sein können.
- 55
-
Entscheidend ist aber, ob die versicherte Verrichtung die Einwirkung und ob diese den Erstschaden bewirkt hat. Wenn die festgestellte versicherte Verrichtung nach Erfahrung eine "Bedingung eines Erfolgs", also einer Einwirkung und des Gesundheitserstschadens (etc) ist, wären diese (hypothetisch) ohne sie nicht eingetreten. Gleiches gilt für eine kaum abzählbare Menge anderer Bedingungen für den konkreten Unfall. Die Verrichtung war aber nur dann eine Wirkursache der Einwirkung/des Gesundheitserstschadens, wenn sie das Unfallereignis hervorgerufen oder in Gang gehalten und dadurch die Einwirkung herbeigeführt hat, welche den Körper des Verletzten/seinen physiologischen Zustand verändert und dadurch den Gesundheitsschaden mitbewirkt hat. Ob dies der Fall war, ist nach dem neuesten anerkannten Stand des einschlägigen Fachwissens zu beurteilen.
- 56
-
aa) Dies gilt auch für die Beantwortung der Frage, ob der festgestellte Bandscheibenvorfall des Klägers Wirkung der festgestellten versicherten Einwirkung/versicherten Tätigkeit an der Druckgießmaschine als Ursache war. Dafür kommt es, weil es sich um eine in den Fachbereich der medizinischen Wissenschaft fallende Frage handelt, allein darauf an, ob ein Wirkungszusammenhang zwischen dem Ausrutschen und dem Aufprall auf dem Boden und dieser Einwirkung auf die LWS des Klägers und diesem Bandscheibenvorfall nach dem aktuellen Stand des anerkannten medizinischen Erfahrungswissens vorliegt. Dafür reicht ein bloßer örtlicher und zeitlicher Zusammenhang nicht aus.
- 57
-
Vielmehr ist der jeweils neueste anerkannte Stand des einschlägigen Erfahrungswissens zugrunde zu legen. Dies wird in der Regel die Auffassung der Mehrheit der im jeweiligen Fragenbereich veröffentlichenden Wissenschaftler/Fachkundigen eines Fachgebiets sein. Lässt sich eine solche "herrschende Meinung" nicht feststellen, so darf der Richter nicht gleichsam als Schiedsrichter im Streit einer Wissenschaft fungieren und selbst eine (von ihm anerkannte) Ansicht zur maßgeblichen des jeweiligen für ihn fachfremden Wissenschaftsgebietes erklären. Vielmehr kommt, falls auch durch staatliche Merkblätter, Empfehlungen der Fachverbände etc kein von den Fachkreisen mehrheitlich anerkannter neuester Erfahrungsstand festgestellt werden kann, eine Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen in Betracht (anders offenbar noch BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 18).
- 58
-
Dazu muss dieser Erfahrungsstand inhaltlich festgestellt und so rechtzeitig mit seiner Erkenntnisquelle (zB medizinisches Fachbuch) in das Gerichtsverfahren eingeführt werden, dass die Beteiligten sich darüber fachkundig machen und ggf konkrete Beweiserhebungen beantragen können. Das gilt auch dann, wenn das Gericht meint, der Stand des einschlägigen Erfahrungswissens sei gerichtsbekannt, allgemeinkundig oder könne vom Gericht aus eigener, stets rechtzeitig offenzulegender Fachkompetenz beurteilt werden.
- 59
-
bb) Soweit ein nicht allgemeinkundiges oder gerichtsbekanntes Erfahrungswissen Gegenstand einer staatlich anerkannten Wissenschaft, hilfsweise einer sonstigen fachkundigen Profession, ist, muss das Gericht, sofern es keine nachweisbare eigene Fachkompetenz oder Gerichtskenntnis auf diesem Gebiet hat, aufgrund der Ermessensreduktion im Rahmen seiner Sachaufklärung nach § 103 SGG sich die erforderliche Kenntnis durch Sachverständige verschaffen. Es ist gerade Aufgabe der Sachverständigen, dem Richter den aktuellen anerkannten Stand des Wissens darüber zu vermitteln, ob es Erfahrungssätze über Ursache-Wirkung-Beziehungen der fraglichen Art gibt und ggf welche Anwendungsbedingungen für die Anwendung dieser Sätze im Einzelfall erfüllt sein müssen. Soweit auch die Anwendung der Erfahrungssätze im Einzelfall, wie häufig, ebenfalls besondere Sachkunde erfordert, kann der Sachverständige auch damit beauftragt werden.
- 60
-
Gegenstand solcher Erfahrungssätze und ihrer generellen Anwendungsbedingungen ist, ob Vorgänge der Art des vorderen Kausalgliedes - hier: die Einwirkung auf den LWS-Bereich durch den Aufprall unter Absehung von bloßen Randbedingungen des konkreten Falles - allein oder im Zusammenwirken mit anderen nach dieser Erfahrung ursächlichen Bedingungen Vorgänge der Art des zweiten Kausalgliedes - hier: Bandscheibenvorfall L 3/4 als Gesundheitserstschaden - bewirken. Sofern diese Kausalbeziehung zwischen den beiden Arten der Kausalglieder besteht, ist das vordere eine hinreichende Ursache des folgenden Kausalgliedes. Tritt das zweite Kausalglied (hier: der Gesundheitserstschaden) immer und nur dann auf, wenn das vordere Kausalglied vorliegt, handelt es sich bei diesem um eine notwendige Ursache, bei dem zweiten um eine notwendige Wirkung. Bedingungen im Sinne der Bedingungstheorie, die erfahrungsgemäß keine solchen hinreichenden oder sogar notwendigen Wirkursachen sind, bleiben schon deshalb bei der Zurechnung außer Betracht.
- 61
-
cc) Allerdings darf das Gericht die jeweils einschlägige Wissenschaft (oder Fachkunde) auch nicht mit gebietsfremden Anforderungen überfordern, welchen dieser Erfahrungsbereich nicht genügen kann. Das Rechtssystem knüpft in den Grenzen der Rechtslogik an den jeweiligen aktuell anerkannten Stand der einschlägigen empirischen Wissenschaft (oder Fachkunde) an.
- 62
-
Es sind - gerade auch im Bereich der Medizin - nicht immer deterministische Erfahrungssätze vorhanden oder anerkannt. Sehr häufig werden nur wissenschaftlich begründete Wahrscheinlichkeitssätze (die nichts mit dem juristischen Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit zu tun haben) festgestellt werden können. Dabei gibt es in den verschiedenen Wissenschaften unterschiedliche Begriffe von empirischer Wahrscheinlichkeit bis hin zu probabilistischen Erfahrungssätzen. Sie werden nach entsprechenden Untersuchungen gelegentlich mathematisch formuliert, häufig aber allein durch tradierte Erfahrung im jeweiligen Fachkreis mit geringer Überprüfungsdichte gelehrt und/oder bloß unausgesprochen in der Praxis vorausgesetzt (begründete Vermutungen). Hier sind Unterschiede ferner zwischen Fachbereichen zu beachten, in denen es wissenschaftliche Fachdisziplinen gibt, und solchen, in denen es überwiegend nur die tradierte Erfahrung des Kreises der professionell im jeweiligen Gebiet Tätigen gibt.
- 63
-
dd) Maßstab für die objektive Kausalitätsbeurteilung ist also der neueste anerkannte Stand des Erfahrungswissens (vgl hierzu zuletzt auch BSG Urteil vom 15.9.2011 - B 2 U 25/10 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4111 Nr 3 - RdNr 23 f "in der Regel 100 Feinstaubjahre"). Als Maßstäbe sind jeweils, soweit vorhanden, die aktuell anerkannten Erfahrungssätze festzustellen und anzuwenden. Dies ist eine reine Tatsachenfeststellung, bei der der Richter der Hilfe des Sachverständigen bedarf. Hinsichtlich der richterlichen Feststellung des Inhalts der Erfahrungssätze genügt der richterliche Beweisgrad der juristischen Wahrscheinlichkeit. Der Sachverständige muss bei seiner Begutachtung also verdeutlichen, welche Erfahrungssätze er seiner Begutachtung zugrunde legt und dass dieses Erfahrungswissen in der einschlägigen Wissenschaft (oder Fachkunde) aktuell als neuester Stand anerkannt ist.
- 64
-
ee) Die Feststellung des jeweils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes ist für eine objektive Urteilsfindung unerlässlich (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 24 ff). Ausgangsbasis der richterlichen Erkenntnisbildung über wissenschaftliche Erfahrungssätze sind auch bei Fragen der objektiven Verursachung die Fachbücher und Standardwerke insbesondere zur Begutachtung im jeweiligen Bereich. Außerdem sind die jeweiligen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zu berücksichtigen. Hinzu kommen andere aktuelle wissenschaftliche Veröffentlichungen. Diese Quellen hat der Richter jeweils kritisch zu würdigen.
- 65
-
Eine bloße Literaturauswertung durch auf dem einschlägigen Gebiet nicht fachgerecht ausgebildete Richter genügt zur Feststellung des (nicht allgemeinkundigen oder gerichtsbekannten) aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über Kausalbeziehungen in der Regel nicht. Vielmehr wird dessen Klärung im Rahmen des ohnehin benötigten Gutachtens erfolgen. Dieser Erkenntnisstand ist aber die Basis für die Beurteilung durch den Sachverständigen, die er stets zugrunde legen muss und von der er nur durch zusätzliche Ausführungen, weshalb er ihr nicht folgt, mit wissenschaftlicher Begründung abweichen darf.
- 66
-
Bestreitet nach rechtzeitiger Einführung eines solchen Erfahrungssatzes in den Prozess einer der Beteiligten dessen Vorliegen oder Tragweite mit nicht offenkundig fernliegenden Sachargumenten, so wird das Gericht im Regelfall diesem Vorbingen durch (zumindest schriftliche) Befragung eines Sachverständigen nachzugehen haben (vgl hierzu BSG Beschluss vom 24.7.2012 - B 2 U 100/12 B - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Insofern macht die Beklagte auch zutreffend geltend, dass der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß § 62 SGG iVm Art 103 GG gebietet, dass das LSG jeweils vor der Zugrundelegung solcher Erfahrungssätze diese in den Prozess einführen und den Beteiligten Gelegenheit geben muss, sich zu diesen Erfahrungssätzen (und ggf zu deren Tragweite) zu äußern.
- 67
-
d) Das LSG hat hinsichtlich der strittigen Verursachung des Bandscheibenvorfalls schon keinen neuesten anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft festgestellt, sondern einen anderen Verursachungsbegriff zugrunde gelegt.
- 68
-
aa) Die Beklagte hat unter Zitierung des Werks von Schönberger/Mehrtens/Valentin gegenüber dem LSG dargelegt, dass es dem dort dokumentierten Stand der medizinischen Wissenschaft entspreche, dass ein traumatischer Bandscheibenvorfall nur mit knöchernen oder ligamentären Begleitverletzungen vorkommen könne. Das LSG hätte deshalb im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht selbst die Existenz oder Nichtexistenz dieses oder eines anderen anerkannten Erfahrungssatzes in der medizinischen Wissenschaft feststellen müssen.
- 69
-
bb) Das Vorgehen des LSG war auch nicht etwa deshalb gerechtfertigt, weil es davon ausgegangen ist, dass sich eine Feststellung des einschlägigen medizinischen Erfahrungssatzes erübrige, weil die Autoren Schönberger/Mehrtens/Valentin von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab bei der Kausalitätsbetrachtung ausgegangen seien. Sie hätten Aspekte der rechtlichen Wesentlichkeit im Sinne der Rechtsprechung des BSG mit naturwissenschaftlichen Aussagen verquickt.
- 70
-
Es ist hier nicht darauf einzugehen, ob diese Behauptungen zutreffen. Beiläufig ist darauf hinzuweisen, dass nicht jeder Gebrauch des Wortes "wesentlich" zugleich eine Äußerung zur "Theorie der wesentlichen Bedingung" sein muss. Soweit Nichtjuristen sich zu solchen juristischen Problemen äußern, liegen keine Stellungnahmen eines Sachverständigen, möglicherweise aber dennoch bedenkenswerte oder richtige Argumente vor. In keinem Fall durfte das LSG davon absehen, den aktuellen Stand der anerkannten medizinischen Erfahrung über durch Unfälle verursachte Bandscheibenvorfälle festzustellen.
- 71
-
e) Es ist nicht tunlich (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), dass das BSG das Bestehen und den Inhalt des von der Beklagten behaupteten oder eines sonstigen aktuell anerkannten medizinischen Erfahrungssatzes über die Verursachung von Bandscheibenvorfällen durch Unfalleinwirkungen und dessen generelle Anwendungsbedingungen selbst feststellt. Zwar gehören solche generellen Erfahrungssätze dem revisiblen Bundesrecht (§ 162 SGG) an. Jedoch bedürfte es zu einer Entscheidung darüber, ob im Fall des Klägers die Vorgaben eines solchen Erfahrungssatzes erfüllt sind, der Feststellung von Einzelfalltatsachen und deren fachgerechte Zuordnung zum generellen medizinischen Erfahrungssatz. Das BSG müsste daher voraussichtlich nach Klärung des generellen Standes der anerkannten Erfahrung die Sache dennoch an das LSG zurückverweisen, dem die Feststellung von Tatsachen des Einzelfalles grundsätzlich vorbehalten ist.
- 72
-
Das LSG wird folglich nach der Zurückverweisung durch Einholung von Sachverständigengutachten und die anderen aufgezeigten Ermittlungsmöglichkeiten festzustellen haben, ob der von der Beklagten behauptete wissenschaftliche Erfahrungssatz oder ein anderer von der Mehrheit der Wissenschaftler des einschlägigen medizinischen Wissenschaftszweiges vertreten wird.
- 73
-
Lässt sich dies zur vollen richterlichen Überzeugung bejahen, so ist er nebst seinen in gleicher Weise wissenschaftlich anerkannten generellen Anwendungsbedingungen der (mindestens im richterlichen Beweisgrad der juristischen Wahrscheinlichkeit zu treffenden) Feststellung zwingend zugrunde zu legen, ob im vorliegenden Fall die versicherte Einwirkung faktische Mitursache des Bandscheibenvorfalls L 3/4 war. Stellt das LSG hingegen fest, dass nicht dieser Erfahrungssatz, sondern ein anderer entsprechend anerkannt ist, ist dieser zwingend maßgeblich. In jedem Fall ist dann über die Mitursächlichkeit des Ausrutschens an der Maschine und des Aufpralls auf dem Boden und der durch sie verursachten Einwirkung für den Vorfall L 3/4 und dabei auch der Mitverursachungsanteil anderer Wirkursachen zu entscheiden.
- 74
-
5. Von diesen Feststellungen darf das LSG nicht wegen der zweiten Zurechnungsstufe, der rechtlichen "Wesentlichkeit" der Wirkursache für den Schaden, absehen. Das LSG hat nämlich in seinem Urteil den dargelegten bundesrechtlichen Begriff der Wesentlichkeit unzutreffend auf den Bereich der objektiven Verursachung angewandt. Er betrifft aber allein die zweite Stufe der Zurechnung. Auf ihr geht es ausschließlich um die Rechtsfrage, ob die auf der ersten Stufe abschließend festzustellende faktische Mitverursachung des Gesundheitsschadens durch die versicherte Verrichtung/versicherte Einwirkung überhaupt ein versichertes Risiko der Beschäftigtenversicherung verwirklicht hat. Gegebenenfalls hängt - wie oben gezeigt - diese Rechtserheblichkeit davon ab, ob unversicherte Mitursachen und ihr Mitwirkungsanteil nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweiligen Versicherung in einer Gesamtabwägung dieser Umstände des Einzelfalls die Schadensverursachung derart prägen, dass dieser nicht mehr dem Schutzbereich der Versicherung, sondern dem allgemeinen Lebensrisiko unterfällt.
- 75
-
Hierbei geht es ausschließlich um rechtliche Bewertungen (Auslegung und Subsumtion). Die Wirkursachen und ihre Mitwirkungsanteile (Tatsachenfrage) sind bereits auf der ersten Stufe der objektiven Verursachung abschließend festzustellen. Insbesondere kann die ordnungsgemäße Tatsachenfeststellung auf der ersten Stufe nicht durch Wertungen auf der zweiten ersetzt werden.
- 76
-
Das LSG wird daher, falls es auf der ersten Stufe die objektive Verursachung des Bandscheibenvorfalls durch die versicherte Verrichtung/Einwirkung nach neuer Prüfung bejahen wird, auf der zweiten Stufe erstmals die vorgenannte Rechtsfrage beantworten müssen.
- 77
-
6. Das LSG wird auch abschließend über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 21.01.2010 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Streitig ist (nur noch) die Anerkennung von Schäden im linken Hüftgelenk des Klägers als Folgen eines Arbeitsunfalls. Die zunächst darüber hinaus begehrte Zahlung von Verletztengeld ist nicht mehr streitig, da der Kläger den entsprechenden Antrag im Berufungsverfahren zurückgenommen hat.
3Der 1947 geborene Kläger erlitt am 08.09.1994 einen Wegeunfall, als er auf der Rückfahrt von einem Kundentermin mit einem anderen PKW frontal zusammenstieß. Er begab sich ca. zweieinhalb Stunden nach dem Unfall zur ambulanten Erstbehandlung in das St. K-Hospital in E. Dort stellte der Durchgangsarzt Dr. K in seinem Bericht vom 14.10.1994 eine Schädelprellung mit Schürfwunde, eine Prellung des rechten Knies, eine Abdominalprellung, eine Prellung am linken Unterarm, ein HWS-Schleudertrauma, ein Haematom an der rechten Hand und eine Prellung der linken Schulter fest (Bericht vom 14.10.1994). Die Weiterbehandlung erfolgte durch den Hausarzt des Klägers, den Internisten Dr. T. Hier klagte der Kläger seit dem 23.09.1994 erstmals über Beschwerden im linken Hüftgelenk, woraufhin eine Beckenübersichtsaufnahme angefertigt wurde, auf der keine Fraktur zu erkennen war. In dem durch den Radiologen Dr. L angefertigten Ganzkörperskelettszintigramm vom 04.11.1994 fand sich bei Zustand nach schwerer Prellung im Lendenwirbelsäulen- und Beckenbereich kein Hinweis auf eine knöcherne Verletzung dort. Auch der Unfallchirurg Prof. Dr. M von den Städtischen Kliniken E stellte in seinen Berichten vom 30.12.1994, 31.01.1995 und 03.05.1995 fest, dass die Röntgenaufnahmen der linken Beckenregion keinen Hinweis auf knöcherne Verletzungen ergeben hätten. Drei bis fünf Tage nach dem Unfall sei es nach Angaben des Klägers zum Auftreten einer Blutergussverfärbung in der linken Leistengegend gekommen. Eine Kernspintomografie der linken Hüfte vom 23.01.1995 habe eine Verdickung im Bereich des linken Musculus gluteus medius ergeben, welche passend zu einer Hämosiderinablagerung als Folge einer Einblutung zu interpretieren sei. Da keine Besserung der Beschwerden eintrat, stellte sich der Kläger in den Berufsgenossenschaftlichen Kliniken C in C (BG-Kliniken C) vor. Der Direktor der dortigen Chirurgischen Klinik und Poliklinik Prof. Dr. N berichtete am 05.05.1995 ebenfalls, dass der Röntgenbefund des Beckens und der linken Hüfte unauffällig war. Bei der klinischen Untersuchung fanden sich völlig reizlose Weichteilverhältnisse in der linken Hüfte, die Beweglichkeit im linken Hüftgelenk war frei. Die von Prof. Dr. M erwähnte Blutergussverfärbung in der linken Leiste sei vermutlich auf die Einwirkung des Beckengurts zurückzuführen. Die in der kernspintomografischen Untersuchung vom 23.01.1995 gesehene Verdickung im linken Musculus gluteus medius passe nicht zur Lokalisation des Blutergusses in der linken Leiste, sodass von einem unfallunabhängigen Befund auszugehen sei. Auch die Beschwerden an der Außenseite des linken Oberschenkels seien nicht auf das Unfallereignis zurückzuführen. Es handele sich um das Beschwerdebild einer sogenannten schnappenden Hüfte. Bei einer am 07.08.1995 von Dr. L durchgeführten Kernspintomografie des Beckens zeigten sich wieder unauffällige Weichteilverhältnisse im Bereich der linksseitigen Glutealmuskulatur.
4Im Auftrag der Beklagten erstellte Prof. Dr. N ein fachchirurgisches Zusammenhangsgutachten. In seinem Gutachten vom 01.02.1996 gelangte er aufgrund einer ambulanten und röntgenologischen Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis, dass sich beim Kläger keine unfallbedingten Unfallfolgen finden ließen, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in wirtschaftlich messbaren Sinne bedingen. Unfallunabhängig bestehe im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) eine Spondylarthrose. Im Bereich der linken Hüfte seien tendopathische Reizbeschwerden der Gluteal- und Adduktorenmuskulatur verblieben, die ambulant zu Lasten des Unfallversicherungsträgers behandelt werden sollten. Der Bluterguss im Bereich des linken Musculus gluteus medius sei eine Teilursache der lang anhaltenden Beschwerden mit verzögertem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit. Die Kernspintomografie von August 1995 habe jedoch den Nachweis einer vollständigen Rückbildung ergeben. Die persistierenden hüftgelenksnahen Muskelreizbeschwerden resultierten aus Muskeldysbalancen durch eine ehemals lang bestehende schmerzbedingte Schon- und Zwangshaltung mit Mindereinsatz des linken Beines.
5Aufgrund des Gutachtens von Prof. Dr. N lehnte die Rechtsvorgängerin der Beklagten, die Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel (im Folgenden: Beklagte), die Bewilligung einer Verletztenrente mit Bescheid vom 03.04.1996 (Widerspruchsbescheid vom 16.07.1996) ab.
6Im Verlauf des anschließenden Klageverfahrens (S 17 U 205/96) vor dem Sozialgericht Dortmund (SG) holte das SG u.a. ein Gutachten von dem Arzt für Orthopädie Dr. X ein. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 28.01.1997 aufgrund einer röntgenologischen und ambulanten Untersuchung des Klägers fest, dass bei diesem multiple linksseitige hüftgelenknahe Tendinosen (Reizzustände der Muskelansätze) ohne nachweisbare Funktionseinschränkung des linken Hüftgelenks, ohne begleitende Verschmächtigung der hüftnahen und der Beinmuskulatur, ferner ohne röntgenologisch fassbare, über das Altersmaß hinausgehende Veränderungen im Bereich des linken Hüftgelenks vorliegen. Im Falle des Klägers könne davon ausgegangen werden, dass die nach dem Unfall kernspintomografisch nachgewiesene Verdickung der linksseitigen Gesäßmuskulatur zu einer späteren schonungsbedingten Verkürzung der Gesäßmuskulatur und infolgedessen zu einer sogenannten statischen Störung und mechanisch induzierten Tendinosen am Ansatz der Gesäßmuskulatur am linken großen Rollhügel mit Begleitung des benachbarten Schleimbeutels begleitend am Ansatz der hüftanspreizenden Muskulatur am linken Schambein geführt haben müsse. Die hierdurch bedingten Funktionseinschränkungen führten jedoch nicht zu einer MdE in wirtschaftlich messbarer Höhe.
7Schon vor und während des Klageverfahrens kam es zu einer Vielzahl von Sturzereignissen, u.a. auch am 15.05.1997, wobei der Kläger in der Hüfte einknickte und sich eine Zerrung der linken Wade zuzog. Der von der Beklagten beauftragte Neurologe Dr. Q vom Evangelischen Krankenhaus I berichtete am 12.11.1996, eine Untersuchung der Hüftgelenke habe beidseits regelrechte Befunde ergeben. Er erklärte die vom Kläger geklagten Beschwerden in der linken Hüftregion bis zum Knie mit plötzlichem Wegsacken des linken Beines als Reizung des Nervus femoralis infolge des nach dem Unfall aufgetretenen Hämatoms. Im September 1997 wurde von dem Arzt für Allgemein-, Unfall- und Gefäßchirurgie Dr. T1, Evangelisches Krankenhaus M, durch eine Arthroskopie des linken Kniegelenks eine Insuffizienz im linken Kniegelenk und eine Chondromalazie in der Nähe von Knorpelrissen festgestellt. Im Oktober 1997 ersetzte Dr. T1 das vordere Kreuzband durch eine künstliche Sehne. Mit Schreiben vom 18.11.1997 erklärte Dr. T1 gegenüber der Beklagten: "Da sich Knie und Hüfte gelegentlich gegenseitig beeinflussen und z.B. pathologische Hüftbefunde sich in Knieschmerzen und umgekehrt äußern, haben wir das zunächst einfacher zu sanierende Gelenk behandelt. Sollten die Hüftbeschwerden auf Dauer persistieren, müsste auch noch eine Hüftarthroskopie durchgeführt werden."
8Während des Klageverfahrens erklärte sich die Beklagte daraufhin bereit, hüftgelenksnahe Tendinosen ohne Funktionseinschränkungen als Folge des Unfalls vom 08.09.1994 anzuerkennen.
9Mit Urteil vom 21.07.1997 wies das SG die Klage bezüglich der Anerkennung weiterer Unfallfolgen und die Bewilligung einer Verletztenrente ab.
10Während des anschließenden Berufungsverfahrens (L 5 U 65/97) vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) ließ die Beklagte den Kläger durch Prof. Dr. M, Städtische Kliniken E, Unfallklinik, zur Frage des Zusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall vom 08.09.1994 und dem Einknicken der Hüfte am 15.05.1997 begutachten. Prof. Dr. M kam aufgrund einer ambulanten und röntgenologischen Untersuchung in seinem Gutachten vom 05.02.1998 zu dem Ergebnis, dass beim Kläger an Unfallfolgen vorliegen ein Zustand nach HWS-Schleudertrauma, ein Zustand nach Thoraxprellung links, ein Zustand nach Prellung rechtes Kniegelenk, ein Zustand nach ursprünglich nicht erkannter Dashboard-Verletzung des linken Beines mit Schädigung des vorderen Kreuzbands im linken Kniegelenk und Verletzung des Bandapparats der linken Hüfte, Knorpelschaden im linken Kniegelenk durch direktes Anpralltrauma, erhebliches Muskeldefizit im linken Oberschenkelbereich, Gangunsicherheit mit Schonhinken im linken Hüftbereich und die MdE mit 20 v.H. zu bewerten sei. Den Unfall vom 15.05.1997 führte er zunächst auf den Arbeitsunfall vom 08.09.1994 zurück. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 11.05.1998 teilte er noch mit, dass er auch die persistierenden hüftgelenksnahen Muskelreizbeschwerden mit resultierender Muskeldysbalance und eindeutig nachgewiesenem Muskeldefizit für direkte Folgen des Unfalls vom 08.09.1994 hielt. Mit Schreiben vom 03.11.1998 revidierte er seine Auffassung. Nach erneuter Aktenstudie und genauer Überprüfung der Ausführungen des Beratungsarztes der Beklagten Dr. L1 vertrat er nun die Auffassung, dass kein Zusammenhang zwischen der endopathischen und muskulären Dysbalance im Hüftgelenkbereich und dem Unfallereignis vom 08.09.1994 bestehe und das Unfallereignis vom 15.5.1997 deshalb nicht als Folge des Unfalls vom 08.09.1994 angesehen werden könne. Einem Bericht des Radiologen Dr. L vom 23.09.1998 ist zu entnehmen, dass die Kernspintomografie der linken Hüfte mit ihren Weichteilen unauffällig war; die knöchernen Konturen und Strukturen zeigten keine Auffälligkeiten, ein Hämatom in der Glutealmuskulatur war nicht mehr nachweisbar.
11Das LSG holte Gutachten ein von dem Unfallchirurgen Prof. Dr. C, Klinik für Allgemeine Chirurgie, Unfallchirurgie und Gefäßchirurgie, B Krankenhaus F, von dem Radiologen Prof. Dr. L2 und dem Neurologen Prof. Dr. C1, beide ebf. vom B Krankenhaus F. Prof Dr. C stellte in seinem Gutachten vom 05.11.1999 aufgrund einer klinischen Untersuchung des Klägers und unter Berücksichtigung des radiologischen Zusatzgutachtens von Prof. Dr. L2 vom 29.09.1999 sowie des neurologischen Zusatzgutachtens von Prof. Dr. C1 vom 14.06.1999 fest, dass beim Kläger eine Tendinose im linken Hüftgelenkbereich mit endgradig schmerzhafter Bewegungseinschränkung hinsichtlich der Außendrehfähigkeit vorliege, die mit Wahrscheinlichkeit durch den Unfall vom 08.09.1994 verursacht worden sei. Der Zustand nach Kreuzbandruptur im linken Kniegelenk mit leichter vorderer Knieinstabilität und Muskelminderung sei auf das Ereignis vom 15.05.1997 zurückzuführen und somit mittelbare Unfallfolge. Der arthroskopisch nachgewiesene Knorpelschaden im Bereich des linken Kniegelenks sowie die Wirbelsäulenveränderungen seien degenerativer Ursache und somit unfallunabhängig. Prof. Dr. L2 war in seinem Gutachten zu der Beurteilung gelangt: "Altersentsprechend regelrechte Darstellung des knöchernen Bereichs des Beckens und des linken proximalen Femurs. Nebenbefundlich kleine Compactinseln linksseitig im Trochanter major und rechts im Femurhals ohne pathologischen Wert ...". Prof. Dr. C1 hatte bei einer klinisch-neurologischen Untersuchung des Klägers bis auf eine Hypästhesie im rechten Zeigefinger keine pathologischen Befunde festgestellt. Auf Antrag des Klägers wurde gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) noch ein Gutachten von dem Chirurgen Prof. Dr. C2, Klinik für Allgemein-, Viszeral und Gefäßchirurgie, Krankenhaus Güstrow, eingeholt. In seinem Gutachten vom 09.02.2000 bestätigte Prof. Dr. C2 die Einschätzung von Prof. Dr. C zur Zusammenhangsfrage im Wesentlichen. Eine Arthrose im linken Hüftgelenk sei radiologisch nicht nachweisbar; ein Knorpelschaden sei nur durch eine Arthroskopie nachweisbar.
12Das Berufungsverfahren endete am 12.12.2000 mit einem Vergleich, in dem die Beklagte das Sturzereignis vom 15.05.1997 als mittelbare Folge des Unfalls vom 08.09.1994 und eine Bewegungseinschränkung im Kniegelenk und Muskelminderung des Oberschenkels nach Kreuzbandplastik mit muskulär kompensierbarer vorderer Knieinstabilität nach Kreuzbandruptur des linken Kniegelenks und einen degenerativen Knorpelschaden des linken Kniegelenks als Unfallfolgen anerkannte und dem Kläger für die Zeit vom 30.05.1995 bis zum 31.01.2000 - unterbrochen durch die Bewilligung von Verletztengeld für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit ab 15.05.1997 bis zum Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit - Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. bewilligte.
13Im Januar 2001 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag mit der Begründung, wegen einer Instabilität der Hüfte sei er bereits mehrfach gestürzt und habe sich Schnittwunden und Prellungen zugezogen. Die Beklagte holte ein Gutachten von Prof. Dr. A, Direktor der Chirurgischen Klinik der S-Universität C, St. K-Hospital, ein. In dem Gutachten vom 28.09.2001 gelangte Prof. Dr. A aufgrund einer klinischen und röntgenologischen Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis, dass im Vergleich zu den Gutachten von Prof. Dr. C und Prof. Dr. C2 die Bewegungseinschränkung der linken Hüfte zugenommen habe und deshalb eine MdE von 20 v.H. gerechtfertigt sei. Röntgenaufnahmen des Beckens hätten auf beiden Seiten einen regelrechten Knochen- und Gelenkbefund ergeben. Anzeichen für eine frische oder alte Knochenverletzung fehlten ebenso wie Hinweise auf arthrotische Veränderungen. Es bestehe keine Entrundung des Hüftkopfes oder Deformität der Hüftgelenkpfanne. Die von ihm festgestellte Bewegungseinschränkung im linken Hüftgelenk sei unfallunabhängig.
14Mit Bescheid vom 12.02.2003 (Widerspruchsbescheid vom 19.08.2003) bewilligte die Beklagte dem Kläger nun ab 27.07.2000 eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 20 v.H. ab dem 27.07.2000. Als Unfallfolgen erkannte sie an: eine Bewegungseinschränkung sowie einen degenerativen Knorpelschaden im Kniegelenk, eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung mit geringer Einschränkung der Streckung und Beugung sowie einer deutlichen Einschränkung der Außenrotation im Bereich der Hüfte, eine Muskelminderung des Oberschenkels, eine Kraftminderung des Beines mit Unmöglichkeit des Spitzenstandes und -ganges nach durchgeführter vorderer Kreuzbandplastik mit muskulär kompensierbarer Knieinstabilität nach Kreuzbandruptur des linken Kniegelenkes.
15In dem anschließenden Klageverfahren vor dem SG (S 17 U 261/03) wurde Beweis erhoben durch Einholung eines fachchirurgischen Gutachtens nebst ergänzender Stellungnahme von Prof. Dr. C3. Dieser gelangte unter Berücksichtigung der Akten und der vorliegenden CT-, MRT- und Röntgenaufnahmen sowie einer gutachtlichen Untersuchung des Klägers in seinem Gutachten vom 29.10.2004 und einer ergänzenden Stellungnahme vom 28.10.2005 zu dem Ergebnis, dass die MdE weiterhin mit 20 v.H. zutreffend bemessen sei. Auf Antrag des Klägers holte das SG anschließend noch ein Gutachten gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von Prof. Dr. C2 ein. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 13.07.2005 eine moderate Verschlechterung bezüglich des Muskelschwunds im linken Bein, der Beugung im Hüftgelenk, im linken Kniegelenk und im linken Sprunggelenk fest und nahm eine MdE von 30 v.H. an. Das Klageverfahren endete am 10.07.2006 durch Klagerücknahme.
16Bereits im Oktober 2005 hatte der Kläger bei der Beklagten die Erstattung von Fahrtkosten für Fahrten zur Krankengymnastik/Massage beantragt. Der verschreibende Arzt Dr. L3 diagnostizierte beim Kläger eine Coxarthrose links und hielt in seinem Bericht vom 07.11.2005 die Behandlungen wegen der anerkannten Unfallfolgen für erforderlich. Einem Bericht des Radiologen Dr. L vom 06.10.2005 über eine MR-Arthografie beider Hüftgelenke ist folgende Beurteilung zu entnehmen: "Bis auf die Asymmetrie der Muskulatur durch mäßige Atrophie linksseitig unauffällige Kernspintomografie/MR-Arthografie des linken Hüftgelenks. Kein Nachweis eines Labrum-Abrisses". In der Befundbeschreibung heißt es u.a.: "Die das Hüftgelenk bildenden Knochenabschnitte zeigen beidseits unauffällige Konturen und Strukturen. Der Knorpelüberzug der artikulierenden Flächen ist intakt. Das Labrum acetabuli ist in allen Abschnitten regelrecht abgrenzbar."
17In der Zeit vom 09.01.2006 bis 18.01.2006 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung in dem Evangelischen Krankenhaus M. Dort erfolgte am 09.01.2006 eine Arthroskopie der linken Hüfte durch den dortigen Chefarzt Dr. T1. Mit Schreiben vom 02.02.2006 übersandte Dr. T1 ein Operationsprotokoll vom 09.01.2006 und teilte mit, dass der Kläger mit der Diagnose einer posttraumatischen Coxarthrose der linken Seite von Dr. L3 in die chirurgisch stationäre Behandlung eingewiesen worden sei. Am 09.01.2006 habe er eine Hüftgelenksarthroskopie der linken Seite, dokumentiert durch Videoprint, durchgeführt. Den vorgefundenen Befund eines einengenden Pfannenerkers, eines inselartigen viertgradigen Knorpelschadens in der Hüftgelenkspfanne, einer Lockerung der dorsalen Pfannenlippe und einer zweitgradigen Chondromalazie im ventrolateralen Hüftkopfbereich wertete er als am ehesten posttraumatisch. Insgesamt handele es sich um eine beginnende Coxarthrose, deren Ätiologie wohl in dem Dashboard Unfall von 1994 zu suchen sei.
18Auch der von der Beklagten mit einer Untersuchung des Klägers beauftragte Chirurg Dr. L4, Leitender Arzt der Abteilung Unfallchirurgie des St. Josef- Hospitals C, sah in seinen Berichten vom 27.03.2006, 24.08.2006, 01.02.2007 in den von ihm als beginnende Arthrose gedeuteten Veränderungen am linken Hüftgelenk - allerdings ohne Begründung - Folgen des Wegeunfalls vom 08.09.1994. Nach Auswertung der MRT-Bilder von Dr. L vom 06.10.2005 gebe es keinerlei Anhalt für degenerative Veränderungen am rechten Hüftgelenk. Am linken Hüftgelenk fänden sich Zeichen einer Knorpelläsion i.S. eines beginnenden Hüftgelenkverschleißes, passend zum intraoperativen arthroskopischen Befund.
19Mit Bescheiden vom 05.05.2006 und 07.08.2006 bewilligte die Beklagte dem Kläger Verletztengeld für die Zeit der stationären Behandlung vom 09.01.2006 bis zum 18.01.2006 und die anschließende Arbeitsunfähigkeit bis zum 05.02.2006 als Vorwegzahlungen. Die Vorwegleistung begründete sie damit, dass noch nicht geklärt sei, ob die durchgeführte Behandlung und somit auch die Arbeitsunfähigkeit auf den Unfall vom 08.09.1994 zurückzuführen sei.
20Der beratende Arzt der Beklagten Dr. H, Chirurg in L, hielt eine Begutachtung zur Klärung der Zusammenhangsfrage der beginnenden Arthrose des linken Hüftgelenkes mit dem Unfall für erforderlich, da er auf den MRT-Bildern von Dr. L keine Coxarthrose links feststellen konnte.
21Die Beklagte holte daraufhin ein radiologisches Gutachten von Prof. Dr. O, BG Kliniken C C, ein. Im Rahmen der Untersuchung wurden eine Kernspintomografie und eine Computertomografie beider Hüftgelenke angefertigt. Prof. Dr. O gelangte in seinem Gutachten vom 01.08.2007 zu dem Ergebnis, dass sich im Bereich beider Hüftgelenke seitengleiche, diskrete degenerative Veränderungen fänden, die innerhalb der Altersnorm lägen. Unfallfolgen seien im vorliegenden Bildmaterial nicht erkennbar. Eine Prominenz der degenerativen Veränderungen der linken Hüfte lasse sich nicht nachweisen.
22Mit Bescheid vom 15.08.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.10.2007 lehnte die Beklagte sodann eine Entschädigung der bestehenden degenerativen Veränderungen im Bereich der linken Hüfte als Folge des Arbeitsunfalls vom 08.09.1994 sowie die Erstattung von Fahrtkosten aufgrund von Fahrten zur Massage/Krankengymnastik hinsichtlich der Behandlung dieser degenerativen Erkrankungen ab. Hierbei stützte sie sich auf das Gutachten von Prof. Dr. O.
23Hiergegen hat der Kläger am 22.11.2007 Klage vor dem SG erhoben, mit der er die Anerkennung weiterer Unfallfolgen im linken Hüftgelenk geltend gemacht hat. Er hat die bei ihm vorliegenden Hüftgelenksbeschwerden als unfallbedingt angesehen. Dies ergebe sich aus dem Operationsprotokoll des Dr. T1 vom 09.01.2006. Dr. T1 habe bei der Operation auch eine Videoprint-Dokumentation vorgenommen, die bisher nicht ausgewertet worden sei.
24Er hat beantragt,
25Dr. T1 als Zeugen zu seinen Beobachtungen bei der Operation zu vernehmen,
26Prof. Dr. C3 zwecks Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens zu laden
27hilfsweise,
28den Bescheid vom 15.8.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2007 aufzuheben und festzustellen, dass die Beklagte für die nachfolgenden Körperschäden im linken Hüftgelenk a) Vernarbung der Hüftgelenkskapsel, b) Knorpelschäden im Hüftgelenk und der Hüftpfanne, c) Lockerung der Pfannenlippe als Folgen des Wegeunfalls vom 08.09.1994 einzustehen hat, sowie die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Dauer seiner stationären Behandlung im Evangelischen Krankenhaus in E-M vom 09. bis 18.01.2006 und seiner anschließenden Arbeitsunfähigkeit Verletztengeld zu gewähren.
29Die Beklagte hat beantragt,
30die Klage abzuweisen.
31Sie hat den angefochtenen Bescheid unter Bezugnahme auf das fachradiologische Gutachten von Prof. Dr. O für rechtmäßig gehalten.
32Das SG hat den Kläger erneut von Prof. Dr. C3, Chefarzt i.R. der Chirurgischen Abteilung des Evangelischen Krankenhauses I, untersuchen und begutachten lassen. Der Sachverständige ist in seinem Gutachten vom 29.05.2008 aufgrund einer ambulanten Untersuchung des Klägers und unter Berücksichtigung der aktenkundigen medizinischen Unterlagen, der von ihm beigezogenen Röntgen-, CT- und MRT-Aufnahmen des Evangelischen Krankenhauses M (18.09.1997), des Dr. L (6.10.2005) und der BG Kliniken C C (15.06.2007) sowie des vom Kläger zur Untersuchung mitgebrachten Videoprints der Hüftarthroskopie vom 09.01.2006 zu dem Ergebnis gelangt, dass am linken Hüftgelenk ebenso wie am rechten Hüftgelenk beginnende, das altersübliche Maß nicht übersteigende arthrotische Veränderungen vorliegen. Die bei der Arthroskopie des linken Hüftgelenkes am 09.01.2006 festgestellten degenerativen Knorpel- und Labrumschäden passten zu dem Befund einer beginnenden, das altersübliche Maß nicht übersteigenden Coxarthrose. Ein bei dem Ereignis vom 08.09.1994 eingetretener Unfallschaden am Gelenkknorpel oder am Labrum hätte in den gut 11 Jahren bis zur Arthroskopie des linken Hüftgelenkes zu viel stärkeren Veränderungen führen müssen, als von Dr. T1 beschrieben und auf dem Videoprint festgehalten. Es sei schwer vorstellbar, dass die in Abständen immer wieder auftretenden Sturzereignisse von Schmerzen oder einem mangelhaften Halt im Hüftgelenk ausgehen würden. Auch eine neurologische Ursache für das plötzliche Versagen des linken Beines sei bei wiederholten fachneurologischen Untersuchungen nicht festgestellt worden. Viel eher dürften die Versagenszustände des linken Beines von einem Giving-Way des linken Kniegelenkes ausgehen.
33Im weiteren Verlauf des Klageverfahrens hat der Kläger das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm (OLG) vom 22.12.2008 (I-13 U 158/07) in der Streitsache des Klägers gegen den Landwirtschaftlichen Versicherungsverein Münster a.G. (LVM) zu den Akten gereicht, in dem über die Frage, ob dem Kläger wegen der Folgen des Wegeunfalls vom 08.09.1994 Schmerzensgeld zusteht, entschieden wurde. In den Entscheidungsgründen hat das OLG unter anderem ausgeführt: "Es ist ferner davon auszugehen, dass der Kläger bei dem Unfall die hier in Rede stehende Verletzung des linken Hüftgelenks (Läsion bzw. Ruptur des Labrum acetabulare, einer faserknorpeligen Vergrößerung des Gelenkspfannenrandes) erlitten hat. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist auch dies überwiegend wahrscheinlich. Die vorgenannte, bei einer auf Anregung des medizinischen Sachverständigen durchgeführten Arthroskopie sicher festgestellte Hüftgelenksverletzung, ist nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. X1 traumatisch und nicht verschleißbedingt. Sie lässt sich - so der Sachverständige weiter - vom Verletzungsort, dem Unfallmechanismus und den Belastungskräften her durch den streitgegenständlichen Unfall erklären und passt zu der oben erörterten Knieverletzung. Für die Unfallbedingtheit spricht - so der Sachverständige weiter - auch der zeitnah dokumentierte Bluterguss im Bereich der linken Hüfte. Insgesamt ist nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Privatdozent Dr. X1 zu mehr als 50 %, mithin überwiegend wahrscheinlich, dass auch die Hüftgelenksverletzung dem streitgegenständlichen Unfall zuzuordnen ist, zumal ein als Verletzungsursache sonst nur in Betracht kommendes anderes massives Unfallereignis nicht ersichtlich, insbesondere nirgends dokumentiert ist."
34Mit Urteil vom 21.01.2010 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Hauptanträge seien unzulässig. Die zulässigen Hilfsanträge seien unbegründet, da der Ursachenzusammenhang zwischen den geltend gemachten Veränderungen im Bereich der linken Hüfte und dem Arbeitsunfall vom 08.09.1994 nicht wahrscheinlich sei. Dies ergebe sich aus den Gutachten von Prof. Dr. O und Prof. Dr. C3. Wegen der Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe in dem angefochtenen Urteil Bezug genommen.
35Gegen das ihm am 19.02.2010 zugestellte Urteil hat der Kläger am 19.03.2010 Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, das Urteil verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör, da das SG seinen Beweisanträgen nicht entsprochen habe. Das Urteil enthalte auch keinerlei Auseinandersetzung mit der Beweiswürdigung in dem Urteil des OLG Hamm vom 22.12.2008, das zu einem völlig anderen Ergebnis gekommen sei.
36Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Verfahrensfehler beim Zustandekommen des Urteils seien nicht ersichtlich. Das SG habe sich sowohl mit den Hauptanträgen des Klägers als auch mit den vorliegenden ärztlichen Gutachten eingehend auseinandergesetzt.
37Der Senat hat zunächst die Akten des Landgerichts Dortmund (21 O 364/07) beigezogen und das darin enthaltene Gutachten von Prof. Dr. L5/Oberarzt Dr. X1 vom 15.06.2005 nebst ergänzender Stellungnahme vom 08.01.2007 sowie den Berichterstattervermerk vom 12.11.2008 zu den Akten genommen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Gutachtens von Prof. Dr. L5/Oberarzt Dr. X1 Bezug genommen.
38Sodann hat der Senat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens von dem Arzt für Orthopädie Dr. U. Dieser ist in seinem Gutachten vom 08.09.2011 aufgrund einer klinischen Untersuchung des Klägers von August 2011 und unter Berücksichtigung der Gerichts- und Verwaltungsakten sowie der aktenkundigen bildgebenden Darstellungen zu dem Ergebnis gelangt, eine Substanzverletzung des linken Hüftgelenks sei nicht festzustellen. Im unmittelbaren zeitlichen Verlauf nach dem Unfallgeschehen habe sich in der Kernspintomografie von Januar 1995 lediglich eine Signalveränderung im Bereich des mittleren Gesäßmuskels, welche hinweisend war für einen abgelaufenen Bluterguss, gezeigt. Erneute Aufnahmen ca. sieben Monate später hätten dann keinerlei Signalveränderungen in der Glutealmuskulatur mehr gezeigt. In dem ersten fachchirurgischen Gutachten von Prof. Dr. N von Februar 1996 sei eine Muskelminderung der linken Gesäßmuskulatur ausdrücklich verneint, jedoch deutliche Druckbeschwerden im Ursprungsbereich der Gesäßmuskulatur im Bereich des großen Trochantermassivs (Hüftknochen) wie auch weniger stark im Verlauf der Adduktorenmuskulatur gefunden worden. Es sei deshalb von tendopathischen Reizbeschwerden der Gluteal- und Adduktorenmuskulatur gesprochen und der beschriebene Bluterguss im Bereich des linken Musculus gluteus medius als Teilursache der lang anhaltenden Beschwerden angesehen worden. Diese hätten sich aber vollständig zurückgebildet. Auch in dem Gutachten von Dr. X vom 28.01.1997 hätte sich eine Muskelminderung nicht feststellen lassen, ebenso wenig eine Seitendifferenz der Beweglichkeit der Hüft -und Kniegelenke. Dr. T1 habe in seinem Operationsprotokoll nicht behauptet, dass die beginnende Coxarthrose sicher dem Unfall zuzurechnen sei. Dies ergebe sich schon aus dessen Formulierungen, die letztlich nur die Möglichkeit eines Zusammenhangs ausdrückten. Das primäre Untersuchungsergebnis unmittelbar nach dem Unfallereignis dokumentiere keine Bewegungsstörung, der Kläger habe auch nicht über Beschwerden im linken Hüftbereich geklagt. Unfallbedingt sei die Minderung der linken Gesäßmuskulatur mit vorgetragenen wechselnden belastungsabhängigen Sitz-, Steh-, Gehbeschwerden, die Schmerzhaftigkeit der Außendrehung des linken Hüftgelenks, die minimale Muskelminderung des linken Oberschenkels, eine reizlose Narbe am linken Kniegelenk nach vorderem Kreuzbandersatz mit stabiler Führung und operativ nachgewiesenen beginnenden Rückbildungsveränderungen. Die kernspintomografisch nachgewiesenen beginnenden degenerativen Veränderungen beider Hüftgelenke und die arthroskopisch festgestellten deutlicheren Rückbildungsveränderungen des linken Hüftgelenkes seien nicht unfallbedingt. Die durch die Unfallfolgen bedingte MdE betrage 10 v.H. Im Vergleich zu dem Gutachten von Prof. Dr. C3 sei nun keine deutliche Muskelminderung des linken Beines gegenüber dem rechten Bein mehr feststellbar. Es sei also zu einer maßgeblichen Befundbesserung gekommen. Das Gutachten, das im Rahmen des Zivilrechts eingeholt wurde, sei in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht problemlos zu übernehmen, da die rechtlichen Bedingungen unterschiedlich seien. Der Gutachter sei aber auch von grundsätzlich falschen Voraussetzungen ausgegangen. Er sei der Meinung gewesen, dass die 1997 nachgewiesene vordere Kreuzbandschädigungsfolge eine Dashboard-Verletzung war, was aber falsch sei. Wenn er die primären Untersuchungsergebnisse korrekt ausgewertet hätte, so hätte er feststellen müssen, dass eine Dashboard-Verletzung mit Randschädigung und insbesondere auch eine Stauchungsverletzung im Bereich des Hüftgelenks auch nuklearmedizinisch noch nach zwei Monaten zu erfassen gewesen wäre. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 08.09.2011 verwiesen.
39Anschließend hat der Senat auf Antrag des Klägers ein Gutachten nach § 109 SGG von dem Arzt für Orthopädie Dr. X1 (Praxisnachfolger von Prof. Dr. L5) eingeholt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 24.07.2012 aufgrund einer klinischen Untersuchung des Klägers von Dezember 2011 und unter Berücksichtigung des Inhalts der Verwaltungs- und Gerichtsakten bei dem Kläger folgende Gesundheitsstörungen festgestellt und als Folgen des Unfalls vom 08.09.1994 angesehen: "Bewegungsschmerz im linken Hüftgelenk mit Einschränkung der Rotationsfähigkeit, Einschränkung der Abspreiz- und Beugefähigkeit, Verschmächtigung der Muskulatur der linken Gesäßseite sowie des linken Beines, leichtgradige sekundärarthrotische Veränderungen des linken Kniegelenks mit leichter bis mäßig starker Muskelminderung des Ober- und Unterschenkels, reizlose Narben nach arthroskopischer Operation des Hüftgelenks, periartikuläre Verkalkung der linken Hüfte, 8 cm lange reizlose Operationsnarbe nach vorderer Kreuzbandersatzplastik am linken Kniegelenk, Instabilität der linken Hüfte mit rezidivierender Go-away-Symptomatik". Zu den Beschwerden im linken Hüftgelenk hat er ausgeführt, dass die kurz nach dem Unfall vom 08.09.1994 festgestellte Hämatomentwicklung im Bereich des Musculus gluteus medius linksseitig nur bei einer Gewebezerreißung mit entsprechender Gefäßschädigung entstanden sein könne. Die Tatsache, dass sich das Hämatom eher im Bereich des Gluteus medius und nicht im Bereich des Gluteus maximus ausgebreitet habe, spreche eher für eine Entstehung der Blutungen in unmittelbarer Nähe der Gelenkkapsel des linken Hüftgelenks. Bei dem Kläger sei zwar keine höhergradige knöcherne Verletzung festgestellt worden, bei der nochmaligen Durchsicht der (nicht datumsmäßig bezeichneten) MRT-Aufnahmen sei jedoch eine Inhomogenität der knöchernen Struktur in dem dorsalen Pfannenkern des linken Hüftgelenks aufgefallen. Korrespondierend hierzu habe sich im Verlauf der letzten Jahre eine entsprechende Veränderung im Bereich des Pfannenerkers ergeben. Ebenfalls habe sich eine Muskeldystrophie am linken Bein entwickelt. Die Schädigung des Labrums sei in der Arthroskopie von Dr. T1 nachgewiesen worden. Die Rotationsfähigkeit des Hüftgelenks habe sich seit 2005 gebessert. Eine kernspintomografische Untersuchung beider Hüftgelenke im Januar 2012 im OMRT C habe eindeutig bestätigt, dass im Bereich des linken Hüftgelenks eine manifeste Coxarthrose, rechts aber allenfalls eine initiale, altersentsprechende Arthrose bestehe. Die MdE sei insgesamt mit 20 v.H. einzuschätzen, allenfalls sei noch eine MdE von 25 v.H. gerechtfertigt. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 24.07.2012 verwiesen.
40Der Kläger hält das Gutachten von Dr. X1 für überzeugend und vermag dem Gutachten von Dr. U nicht zu folgen. Er legt einen Aufsatz von Prof. Dr. I u.a., BG Unfallklinik N, mit dem Titel "Begutachtung des Knorpelschadens - Klassifikation des Knorpelschadens - traumatisch versus nichttraumatisch", erschienen im Januar 2007 in den Nachrichten der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) vor, durch den er sich bestätigt sieht.
41Der Senat hat sodann zunächst eine ergänzende Stellungnahme von Dr. U eingeholt, der in seiner Stellungnahme vom 23.04.2013 bei seiner Auffassung geblieben ist. An dem Gutachten von Dr. X1 hat er insbesondere bemängelt, dass sich dieser überhaupt nicht mit der Primärsymptomatik auseinandergesetzt habe. Dr. X1 setze sich auch nicht damit auseinander, dass die Arthroskopie erst im Januar 2006 erfolgte. Schon nach einem Zeitraum von wenigen Jahren lasse sich eine Differenzierung zwischen unfallbedingten und schicksalsmäßigen Gelenkschäden nicht mehr erbringen, insbesondere wenn es keine Primärsymptomatik gegeben habe. Da eine eindeutige schmerzhafte Bewegungsstörung des Gelenks weder bei der Erstdiagnostik noch am nächsten Tag geklagt worden sei, sei dies ein untrügerischer Beweis gegen eine durch den Unfall eingetretene Schädigung dieses Gelenks. Außerdem hätte sich in der Kernspintomografie ein Knochenödem (Bone bruise) finden müssen, das im MRT noch zwei bis fünf Monate zu erkennen gewesen wäre. Ohne Knochenödem sei eine Knorpelquetschung mit nachfolgender dauerhafter Schädigung nicht möglich, da das Elastizitätsmodul des Knorpels höher als das des Knochens sei. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Stellungnahme vom 23.04.2013 verwiesen.
42Abschließend hat der Senat nach § 109 SGG noch eine ergänzende Stellungnahme von Dr. X1 eingeholt. Dieser ist in der Stellungnahme vom 19.12.2013 ebenfalls bei seiner Auffassung geblieben. Er hat insbesondere ausgeführt, dass eine knöcherne Verletzung nicht Voraussetzung dafür sei, dass eine Knorpelschädigung stattgefunden habe. Da eine knöcherne Verletzung typischerweise innerhalb von zwei bis fünf Monaten ausheile und damit nicht mehr nachgewiesen werden könne, sei die Tatsache, dass beim Kläger nach vier Monaten kein Ödem mehr erkennbar war, kein Beweis dafür, dass ein solches nicht bestanden habe. Die klinischen Angaben und die dokumentierten pathologischen Veränderungen wiesen jedoch auf einen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und der Schädigung des linken Hüftgelenks hin. Beschwerden an der Hüfte seien bereits ab dem 23.09.1994 dokumentiert. Die am 24.01.1995 durch eine Kernspintomografie gesicherte Hämosiderin-ablagerung spreche dafür, dass die Ursache der Blutung hüftgelenksnah im Bereich der Kapsel- und Pfannenrandbereiche gelegen habe. Ob diese Schädigung bei dem Unfall entstanden sei, könne naturgemäß nach so langer Zeit nicht mehr mit Sicherheit nachgewiesen werden. Andere Unfallereignisse zwischen dem 08.09.1994 und etwa Mitte Dezember 1994 seien jedoch nicht bekannt. Der weitere Verlauf der Beschwerden im Bereich der Hüfte bis etwa Juni 1995 passe auch zu einer Reizerscheinung, wie sie typischerweise nach einer Verletzung des Labrums und/oder einer Knorpelschädigung auftreten. Die Beurteilung von Knorpelveränderungen sei mit normalen, nicht speziell darauf ausgerichteten Knorpelsequenzen 1995 nicht mit Sicherheit zu dokumentieren bzw. auszuschließen gewesen. Gerade Verletzungen im Randbereich der Pfanne hätten 1995 noch kaum nachgewiesen oder erkannt werden können. Die Tatsache, dass Knorpelveränderungen bis 2006 in keiner MRT-Untersuchung erkennbar gewesen seien, belege lediglich, dass diese Veränderungen nicht erkennbar waren. Eine Szintigrafie könne einen ausgeprägten Bone-bruise bestätigen, geringere Knorpelschäden jedoch keinesfalls ausschließen. Als Beweis gegen einen Gelenkschaden sei sie daher ungeeignet. Er schließe sich dem Befund und der Beurteilung von Dr. T1 an. Wegen der Einzelheiten wird auf die Stellungnahme vom 19.12.2013 Bezug genommen.
43Der Kläger hat beanstandet, dass Dr. U von der rechtlich unzutreffenden Prämisse, die Kausalität müsse im Vollbeweis gesichert sein, ausgegangen sei, obwohl die überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreiche. Außerdem hat er darauf hingewiesen, dass sich die Hüftbeschwerden schon bald nach dem Unfall gezeigt hätten. Im Übrigen sei nach den Ausführungen in dem vorgelegten wissenschaftlichen Aufsatz von Prof. I u.a. eine Knorpelquetschung auch ohne Knochenödem denkbar. Auch der Unfallhergang spreche für einen Zusammenhang. Der Kläger hat die ergänzende Stellungnahme von Dr. X1 für überzeugend gehalten, da diese seiner Meinung nach mit der Darstellung in dem wissenschaftlichen Aufsatz von Prof. I u.a. harmoniere. Er hat erklärt, Dr. X1 im Termin zur mündlichen Verhandlung danach befragen zu wollen, welche Bedeutung er der von Dr. T1 beschriebenen Kapselverhärtung beimesse, wie sich dieser Befund des Operateurs mit der festgestellten Verdickung des mittleren Gesäßmuskels vereinbare und ob sich insgesamt die aus der Zeit vom Unfallzeitpunkt bis zum Sommer 1995 vorliegenden Beschreibungen und Erhebungen des klinischen Verlaufs als eine sich entwickelnde Arthrose erklären lassen.
44Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 02.07.2014 hat der Kläger seinen Antrag auf Gewährung von Verletztengeld zurückgenommen, nachdem sich die Beklagte bereit erklärt hatte, binnen sechs Wochen nach Rechtskraft des im vorliegenden Verfahren zu fällenden Urteils zu entscheiden. Die mündliche Verhandlung wurde vertagt, weil noch Beweis erhoben werden sollte durch Befragung des Dr. T1 und des Dr. X1.
45Der Senat hat dann im August Dr. T1 als Zeugen und Prof. Dr. C3 sowie Dr. X1 als Sachverständige für den Termin am 12.11.2014 geladen. Nach der Ladung hat sich herausgestellt, dass Dr. T1 im März 2014 verstorben ist und Dr. X1 zwischenzeitlich in Manchester praktiziert.
46Dr. X1 wurde deshalb gebeten, die vom Kläger aufgeworfenen Fragen unter Berücksichtigung der vom Senat vom Evangelischen Krankenhaus M noch beigezogenen Videoprintaufnahmen über die Arthroskopie vom 09.01.2006 zu beantworten.
47Dr. X1 hat die an ihn gerichteten Fragen in seinen Stellungnahmen vom 17.09.2014 und 23.09.2014 wie folgt beantwortet: Die von Dr. T1 beschriebene Kapselverhärtung befinde sich im seitlichen Bereich der Hüfte. Diese lasse sich nicht eindeutig einer Ursache zuordnen. Eine Kapselverdickung könne zum einen durch ein einzelnes Ereignis, wie etwa einen Unfall oder eine Operation erzeugt werden. Im Rahmen dieses Ereignisses müsse es zu einer ausgedehnten Gewebeschädigung mit anschließender Einblutung kommen, die dann anschließend zu Narbengewebe umgewandelt würde. Als weitere Ursache käme ein mehrzeitiges Ereignis in Frage, bei dem die Gewebeschädigung durch mehrfach wiederholte Einblutungen oder Entzündungen jeweils mit einer Narbe verheile. Die am 24.01.1995 erfolgte kernspintomografische Untersuchung belege eine Hämosiderinablagerung des Musculus gluteus medius als Zustand nach Einblutung in diesem Bereich. Dieser Muskel liege der Gelenkkapsel des Hüftgelenks unmittelbar an, sodass die Ursache dieser Blutung hüftgelenksnah im Bereich der Kapsel und Pfannenrandbereiche liege. Die im Zeitraum vom Unfall bis zum Sommer 1999 beschriebenen Befunde wiesen nicht auf eine symptomatische Arthrose hin. Grobe arthrotische Veränderungen könnten auf Röntgenaufnahmen bis 1995 nicht belegt werden. Initiale arthrotische Stadien eines Knorpelschadens hätten aber in den 90-er Jahren weder durch Röntgen- noch durch Kernspinuntersuchungen ausgeschlossen werden können. Die Videoprintaufnahmen zeigten eine Knorpelschädigung im Bereich der Pfanne. Die von Dr. T1 festgestellten Vernarbungen seien kein Beweis für eine Verletzung durch den Unfall von 1994. Sie seien seiner Meinung nach aber als direkte Unfallfolge zu bewerten, da es einige Tage nach dem Unfall zu einem Bluterguss in der linken Leiste gekommen sei mit zunehmender Beschwerdesymptomatik im Bereich der linken Hüfte. Durch die Hämosiderinablagerungen erscheine eine massive Gewalteinwirkung auf das Hüftgelenk als erwiesen. Die Knorpelschäden seien hierdurch nicht sicher erwiesen, eine derartige Gewalteinwirkung könne den Knorpel aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schädigen. Den Videoprintaufnahmen seien Veränderungen am Knorpel der Hüfte nicht zu entnehmen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Stellungnahmen vom 17.09.2014 und 23.09.2014 Bezug genommen.
48Anschließend hat der Senat Prof. Dr. C3 gebeten, unter Berücksichtigung der Videoprintaufnahmen über die Arthroskopie vom 09.01.2006 dieselben Fragen wie Dr. X1 zu beantworten und sich mit den Gutachten und Stellungnahmen von Dr. X1 und Dr. U auseinanderzusetzen. Prof. Dr. C3 hat sich in seiner Stellungnahme vom 13.10.2014 wie folgt geäußert: Nach der Beschreibung im OP-Bericht des Dr. T1 sei schwer zu sagen, wie weit die Kapsel des linken Hüftgelenks verändert war, ob es sich um Traumafolgen oder um Folgen eines mit den Gelenkknorpel- und Labrumschäden in Zusammenhang stehenden Kapselreizzustandes handelt. Die von Dr. T1 festgestellte Vernarbung der linken Hüftgelenkskapsel lasse sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall im Jahre 1994 zurückführen. Sie könne ebenso gut in Zusammenhang mit einer Gelenkknorpel- und Labrumdegeneration des linken Hüftgelenks und einem damit verbundenen Reizzustand der Synovia (Gelenkschmiere) entstanden sein, die unfallunabhängig abgelaufen sei. Wenn es sich um Folgen des Unfalls handeln würde, hätte sich die Arthrose im linken Hüftgelenk in den 12 Jahren bis zu den Kernspintomogrammen des Beckens in 2007 stärker entwickeln müssen, als die im rechten Hüftgelenk, was aber nicht der Fall sei. Von der wahrscheinlich durch eine Muskelfaserzerreißung eingetretenen Blutergussbildung im linken Musculus gluteus lasse sich nicht darauf schließen, dass es bei dem Unfall gleichzeitig auch zu einer schädigenden Einwirkung auf das linke Hüftgelenk selbst, insbesondere auf seine Kapsel, gekommen ist. Dann hätte das linke Hüftgelenk bei der Arthroskopie durch Dr. T1 im Januar 2006, gut 11 Jahre nach dem Unfall, viel stärkere Schäden an Knorpel, Labrum und Gelenkkapsel aufweisen müssen, wofür sich bei der kernspintomografischen Untersuchung am 15.06.2007 aber kein Hinweis gefunden habe. Die Einblutung in den linken Musculus gluteus medius und in die linke Leiste erkläre sich eher durch die Einwirkung des das Becken umspannenden Teils des Haltegurts bei dem Zusammenstoß, wie schon die Ärzte des C C vermutet haben, als durch ein Dashboard-Trauma, für das sich weder am Hüft- noch am Kniegelenk typische Verletzungsfolgen finden ließen. Zudem befinde sich der Musculus gluteus medius nicht in unmittelbarer Nachbarschaft zur Hüftgelenkskapsel, es bestehe überhaupt kein direkter Kontakt. Den Röntgenaufnahmen, die nach dem Unfall bis zum Sommer 1995 angefertigt wurden, sei allenfalls eine höchstens beginnende Coxarthrose beider Hüftgelenke zu entnehmen. Aus einer Statistik aus dem Jahre 2011 ergebe sich, dass Labrumeinrisse, die Chondromalazie des Acetabulum, dessen Hinterrandschäden und die Chondromalazie des Hüftkopfes mit zunehmendem Alter signifikant an Stärke zunehmen. Bei 64% der über 50-jährigen solle bereits eine mäßig- bis schwergradige Chondromalazie der Hüftgelenke bestehen. Hieraus sei abzuleiten, dass es sich bei dem von Dr. T1 erhobenen Befund eher um einen Altersverschleiß des Labrums als um eine traumatische Schädigung handele, zumal es nach dem Unfall zu keiner stärkeren Arthrose im linken als im rechten Hüftgelenk gekommen sei. Da das bei der Arthroskopie von Januar 2009 abgetragene Kapselgewebe nicht histologisch untersucht worden sei, sei nicht bewiesen, dass es sich bei der einengenden Pfannendachleiste um Narbengewebe handelte. Mit dem Gutachten von Dr. U stimme er im Wesentlichen überein. Ob eine wesentliche Besserung in den Unfallfolgen eingetreten sei, wie von Dr. U angenommen, könne er nicht beurteilen. Dr. X1 könne er nicht in allen Teilen seines Gutachtens folgen. Schon dessen Auswertung der Bildaufnahmen stehe im Gegensatz zu seiner eigenen Auswertung und der Auswertung durch Prof. Dr. O und Dr. U. Nach der Befundbeschreibung der Computer- und Kernspintomogramme vom 15.06.2007 durch Prof. Dr. O und ihn sei davon auszugehen, dass zumindest bis zum Herstellungsdatum dieser Aufnahmen, nahezu 13 Jahre nach dem Unfall, noch eine völlig seitengleiche, das altersübliche Maß nicht übersteigende Hüftarthrose bestand. Ob es inzwischen zu einer Seitendifferenz in der Ausprägung der Coxarthrose zwischen dem linken und rechten Hüftgelenk gekommen sei, sei unerheblich. Die Behauptung von Dr. X1, dass er bei der Befundung der Kernspintomogramme der Hüftgelenke, wobei nur die vom 25.09.1996 und vom 06.01.1997 gemeint sein können, hypointensive Areale in den dorsalen Pfannenbereichen des linken Hüftgelenks gefunden habe, sei unrichtig. Kein Wort davon finde sich in den Befundbeschreibungen der genannten Kernspintomogramme. Soweit Dr. X1 das Hämatom im linken Musculus gluteus medius in Zusammenhang mit dem von ihm angenommenen Dashboard-Trauma sehe, sei er fälschlicherweise davon ausgegangen, dass dieser Muskel unmittelbar der Hüftkapsel aufliege, was nicht der Fall sei. Dr. X1 habe auch übergangen, dass bei den radiologischen Untersuchungen vom 04.11.1994 und 24.01.1995 keine Mehranreicherung des Radionukleids im Bereich des linken Hüftgelenks und auch kein Bone bruise festgestellt wurde. Das Fehlen dieser beiden Indikatoren spreche aber gegen eine Traumatisierung des linken Hüftgelenks durch den Unfall. Auch zu der bis zur der Arthroskopie im Januar 2006 seitengleichen Entwicklung der eine das altersübliche Ausmaß nicht überschreitenden Arthrose habe sich Dr. X1 überhaupt nicht geäußert. Soweit Dr. X1 die Auffassung vertrete, dass Knorpelschäden auch ohne Nachweis einer Knochenschädigung möglich seien, stehe dies im Widerspruch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen - siehe den vom Kläger selbst vorgelegten Aufsatz von I u.a. zur Begutachtung von Knorpelschäden -, wonach es nur in Ausnahmefällen bei axialen Traumen zu Gelenkknorpelschäden ohne begleitende Knochen- und/oder Bandschäden komme. Außerdem widerspreche sich Dr. X1 auch selbst, da er ausgeführt hat, dass es bei starken Gewalteinwirkungen auf die Gelenke zu einer knöchernen Beteiligung in Form eines Bone bruise komme, bei weniger starken Kräften die unterste Knorpelschicht verletzt werden könne, ohne dass der Knochen Verletzungen aufweise, diese Verletzungen aber meist reversibel seien und oft folgenlos ausheilten. Dr. X1 habe zwar verschiedene mögliche Ursachen für die von Dr. T1 beschriebene Kapselverhärtung genannt, jedoch nicht erwähnt, dass der mit degenerativen Gelenkschäden regelmäßig verbundene Reizzustand im Hüftgelenk ebenso wie in allen anderen Gelenken durch entzündliche Prozesse und Vernarbungen auch zu Verhärtungen in der Gelenkkapsel führen kann. Der Schluss Dr. X1 aus der nachgewiesenen Einblutung in den linken Musculus gluteus medius auf eine massive Gewalteinwirkung auf das linke Hüftgelenk mit Verletzung der Hüftkapsel sei unzulässig, da dieser Muskel eben nicht in direktem Kontakt mit der Hüftgelenkkapsel und den mit dieser verwobenen Bänder stehe. Wegen der Einzelheiten wird auf die Stellungnahme vom 13.10.2014 verwiesen.
49Nachdem er die Stellungnahme von Prof. Dr. C3 am 20.10.2014 erhalten hat, hat der Kläger Prof. Dr. C3 mit Schreiben vom 27.10.2014 als befangen abgelehnt. Außerdem hat er mit Schreiben vom 30.10.2014 erklärt, das schriftliche Gutachten von Prof. Dr. C3 werfe folgende Fragen auf, die entweder schriftlich oder in der mündlichen Verhandlung von Dr. X1 zu klären seien:
501. Verschafft die Arthroskopie des Hüftgelenks dem Operateur einen vollständigen Einblick in das Gelenk? Gerät die Knorpelauskleidung von Hüftpfanne und Oberschenkelkopf vollständig in sein Blickfeld? Könnte es sein, dass es neben den im Januar erkannten arthrotischen Stellen weitere gab?
512. Ist die Arthroskopie der "Goldstandard" bei der Diagnostik von Knorpelschäden? Kommt es häufiger vor, dass der bei einer Arthroskopie oder bei einer Prothetik erhobene Befund nicht der vorangegangenen Diagnose anhand radiologischer Befunde entspricht? Gibt es dazu ggf. Untersuchungen?
523. Lassen sich Rückschlüsse aus der im Operationsbericht erwähnten Verdickung der Kapsel auf die Ursache ziehen? Treten solche Vernarbungen/Verdickungen in der Kapsel regelmäßig oder jedenfalls häufig als Folgen einer Arthrose auf oder ist dies eher die Ausnahme? Ist insofern zwischen der primären (schicksals- oder altersbedingten) und der sekundären (der auf einer Verletzung beruhenden) Arthrose zu differenzieren?
534. Ausgehend von dem Ergebnis der Gutachten von Prof. Dr. O und Prof. Dr. C3, die im Bereich beider Hüftgelenke diskrete, dem Alter des Versicherten entsprechende degenerativen Veränderungen ohne Seitenprominenz festgestellt haben, müsste sich auch auf der rechten Seite eine entsprechende Chondromalazie 4. Grades finden. Wo exakt finden sich in der rechten Hüfte derlei Knorpelschäden? Befinden sie sich auf dem Oberschenkelkopf oder innerhalb der Hüftpfanne? Wie lasse es sich erklären, dass er linksseitig in der Hüfte Schmerz empfinde, wohingegen die rechte, angeblich ebenso stark geschädigte Hüfte, schmerzfrei geblieben ist?
545. Sind die anatomischen Gegebenheiten so, wie von Prof. Dr. C3 geschildert? Gilt dies für jede Haltung des Beins, ob in gestrecktem, gebeugtem oder verdrehtem Zustand? Ist der Sachverständige Dr. X1 im Besitz einer bildlichen Darstellung, die die anatomischen Gegebenheiten zeigt? Ist es ausgeschlossen, dass eine Gewalteinwirkung auf das Gelenkinnere auch zu einer Verdickung/Vernarbung der Kapsel und gleichzeitig zu einem Bluterguss im gluteus medius führen kann? Wird der Gluteus medius von dem Gluteus maximus überdeckt, sodass, wenn man die Einwirkung eines Haltegurts unterstellt, primär dieser Muskel und erst sekundär der darunter liegende Muskel zusammengepresst worden wäre? Gibt es eine medizinische Erklärung dafür, dass weder im Durchgangsarztbericht vom Unfalltag noch im Bericht des Internisten vom folgenden Tag zwar massive Prellungen im Bereich der Brust und typische Airbag-Verletzungen auch im Bauchbereich geschildert wurden, nicht jedoch auf der linken Hüfte? Oder ist der Schluss nahe liegend, dass nicht eine Pressung durch den Haltegurt im Bereich der linken Hüfte der Auslöser des Blutergusses war? Teilt Dr. X1 die Auffassung, dass der durch Dr. L5 im Februar 1995 erhobene Befund eine von außen kommende Einwirkung ausschließt? Ist es dann nicht doch wahrscheinlicher, einen vom Gelenk ausgehenden Vorgang anzunehmen?
556. Nimmt Dr. X1 an, dass der Unfall vom 08.09.1994 Ursache der zur Arthrose führenden Knorpelverletzung war? Dr. X1 sei nicht auf den klinischen Verlauf in den ersten Monaten nach dem Unfall im Einzelnen eingegangen, so dass er diesen noch zu ergänzen habe.
567. Entsprach der Befund von Dr. T1 einer alterstypischen Arthrose? Ist die von Prof. Dr. C3 erwähnte Veröffentlichung tatsächlich so zu verstehen, dass in Großbritannien 64 % der über 50-jährigen an einer Knorpelglatze im Hüftgelenk leiden? Hat man sich dies unter den wiederholt von Prof. Dr. C3 verwandten Formulierungen "altersüblich" oder "altersentsprechend" vorzustellen? Gibt es zu dem Thema der alterstypischen Arthrose auch Untersuchungen bzw. Veröffentlichungen aus dem deutschsprachigen Raum? Was sagen diese aus? Spricht die in den ersten neun Monaten nach dem Unfall aufgetretene Beschwerdesymptomatik für eine sich bildende Arthrose? Kann eine Zerrung bei dem Versuch, sich aus dem PKW zu befreien, zu einer Knorpelverletzung geführt haben?
57Wegen weiterer Einzelheiten zu den vom Kläger umrissenen Fragenkomplexen wird auf dessen Schreiben vom 30.10.2014 Bezug genommen.
58Mit Beschluss vom 10.11.2014 hat der Senat den Antrag des Klägers, Prof. Dr. C3 wegen der Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, zurückgewiesen. Wegen der Begründung wird auf die Gründe dieses Beschlusses verwiesen.
59Der Kläger beantragt, nachdem sich die Beklagte bereit erklärt hat, über die Gewährung von Verletztengeld binnen sechs Wochen nach Rechtskraft des Urteils zu entscheiden, nur noch
60das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 21.01.2010 abzuändern und unter Aufhebung des Bescheids vom 15.08.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2007 festzustellen, dass die Beklagte für die nachfolgenden Körperschäden im linken Hüftgelenk
61a) Vernarbung der Hüftgelenkskapsel,
62b) Knorpelschaden im Hüftgelenk und der Hüftpfanne,
63c) Lockerung der Pfannenlippe
64als Folgen des Wegeunfalls vom 08.09.1994 einzustehen hat,
65hilfsweise,
66die Verhandlung zu vertagen und Herrn Dr. X1 zur Fortsetzung der Verhandlung zu laden zur Erläuterung seiner Gutachten und Stellungnahme zu den im Schriftsatz vom 30.10.2014 aufgeworfenen Fragen,
67hilfsweise,
68Dr. X1 die Teilnahme an der Verhandlung durch eine Videokonferenz zu ermöglichen,
69äußerst hilfsweise,
70ihm eine schriftliche Beantwortung der Fragen zu ermöglichen.
71Die Beklagte beantragt,
72die Berufung zurückzuweisen.
73Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Ihre Inhalte sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
74Entscheidungsgründe:
75Die gemäß §§ 143 und 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, nach § 151 SGG frist- sowie formgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 15.08.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.10.2007 verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung, der von ihm benannten Körperschäden in seinem linken Hüftgelenk als Gesundheitserstschäden oder Unfallfolgen.
76Streitgegenstand ist, nachdem der Kläger seinen Antrag auf Zahlung von Verletztengeld zurückgenommen hat, nur noch die Anerkennung von Schäden im linken Hüftgelenk (Vernarbung der Hüftgelenkskapsel, Knorpelschäden im Hüftgelenk und der Hüftpfanne, Lockerung der Pfannenlippe) als Unfallfolgen. Der Antrag des Klägers zielt damit auf die Feststellung der von Dr. T1 bei der Arthroskopie am 09.01.2006 erkannten Gesundheitsschäden als Unfallfolgen. Der Senat wertet den Hauptantrag des Klägers als eine nach §§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG zulässige Anfechtungs- und Feststellungsklage und nicht als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 und 2 SGG, auch wenn nach dem Wortlaut des Antrages die Einstandspflicht der Beklagten festgestellt werden soll. Der Kläger hat schon in der Berufungsschrift vom 19.03.2010 eindeutig klargestellt, dass es in dem Rechtsstreit nur um die Frage gehen soll, ob der Schaden der linken Hüfte eine Folge seines Wegeunfalls ist. Damit geht es ihm zunächst nur um die Feststellung der Unfallfolgen im linken Hüftgelenk, aus der im weiteren Verlauf gegebenenfalls konkrete Leistungsansprüche abgeleitet werden können. Das Begehren, die Einstandspflicht der Beklagten festzustellen, hat neben dem Feststellungsausspruch keine eigenständige Bedeutung, sondern beschreibt nur die rechtlichen Folgerungen, die sich im Falle der begehrten Feststellung weiterer Unfallfolgen ergeben (vgl. BSG, Urteil vom 02.04.2009, B 2 U 30/07 R, Rn. 11 zitiert nach juris).
77Nach § 102 SGB VII haben die Versicherten gegen den zuständigen Unfallversicherungsträger u.a. einen Anspruch auf Feststellung einer Unfallfolge, wenn ein Gesundheitsschaden durch den Versicherungsfall rechtlich wesentlich verursacht wird (BSG, Urteil vom 05.07.2011, B 2 U 17/10 R. Rn. 15-19 zitiert nach juris). Zu den mit der Feststellungsklage abstrakt feststellbaren Anspruchselementen gehören die ggfs. bisher nicht festgestellten weiteren Gesundheitserstschäden, die (sog. unmittelbaren) Unfallfolgen im engeren Sinn, also die Gesundheitsschäden, die wesentlich (und deshalb zurechenbar) spezifisch durch den Gesundheitserstschaden des Versicherungsfalls verursacht wurden, sowie die (sog. mittelbaren) Unfallfolgen im weiteren Sinn, also die Gesundheitsschäden, die nicht wesentlich durch den Gesundheitserstschaden des Versicherungsfalls verursacht wurden, aber dem Unfallereignis aufgrund einer besonderen gesetzlichen Zurechnungsnorm zuzurechnen sind (vgl. BSG, Urteil vom 24.07.2012, B 2 U 9/11 R, Rn. 23 zitiert nach juris; Urteil vom 05.07.2011, B 2 U 17/10 R, Rn. 19 zitiert nach juris).
78Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Unfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Als Folge eines Arbeitsunfalls sind Gesundheitsstörungen (nur) zu berücksichtigen, wenn das Unfallereignis und das Vorliegen der konkreten Beeinträchtigung bzw. Gesundheitsstörung jeweils bewiesen und die Beeinträchtigung mit Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist. Es ist mithin ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall (Unfallkausalität), zwischen dem Unfallereignis und einem Gesundheitserstschaden oder dem Tod des Versicherten (haftungsbegründende Kausalität) und ggf. länger anhaltenden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt, dass die Tatsachen, die die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung zur Zeit des Unfalls", "Unfallereignis" sowie "Gesundheitsschaden" erfüllen sollen, im Grad des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen müssen. Demgegenüber genügt für den Nachweis der kausalen Zusammenhänge zwischen diesen Voraussetzungen der Grad der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die Glaubhaftmachung und erst Recht nicht die bloße Möglichkeit (BSG, Urteil vom 31.01.2012, B 2 U 2/11 R, Rn. 17 zitiert nach juris m.w.N.; Urteil vom 24.07.2012, B 2 U 23/11 R, Rn. 27 zitiert nach juris). "Hinreichend wahrscheinlich" bedeutet, dass mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht (BSG, Urteil vom 15.05.2012, B 2 U 31/11 R, Rn. 34 zitiert nach juris; Urteil vom 27.101989, 9 RV 40/88, Rn. 17 zitiert nach juris). Ist ein Arbeitsunfall nicht nachgewiesen oder lässt sich der ursächliche Zusammenhang zwischen diesem und den geltend gemachten Gesundheitsstörungen nicht wahrscheinlich machen, geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Versicherten (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 31.01.2012, B 2 U 2/11 R, juris). Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen. Das schließt eine Prüfung ein, ob ein Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, eine bestimmte körperliche oder seelische Störung hervorzurufen (BSG, Urteil vom 09. Mai 2006, B 2 U 1/05 R, Rn. 17 zitiert nach juris). Beweisrechtlich ist außerdem zu beachten, dass der Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Es gibt keine Beweisregel des Inhalts, dass bei fehlender Alternativursache das angeschuldigte Ereignis die Ursache ist oder dass die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellte versicherte Ursache im naturwissenschaftlichen Sinn automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexem Krankheitsgeschehen zu einer Beweislastumkehr führen würde (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, Rn. 20 zitiert nach juris; Senatsurteil vom 15.10.2014, L 17 U 709/11).
79Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Kläger keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung. Zwischen den Beteiligten steht aufgrund des Bescheides der Beklagten vom 03.04.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.06.1996 und des gerichtlichen Teilanerkenntnisses vom 03.12.1996 fest, dass der Kläger am 08.09.1994 bei versicherter Tätigkeit einen in die Verbandszuständigkeit der Beklagten fallenden Arbeitsunfall erlitten hat. Die von ihm über die bereits anerkannten Unfallfolgen hinaus geltend gemachten weiteren Schädigungen an der linken Hüfte (Vernarbung der Hüftgelenkskapsel, Knorpelschäden im Hüftgelenk und der Hüftpfanne, Lockerung der Pfannenlippe) liegen zwar objektiv vor, sind aber nicht mit Wahrscheinlichkeit auf diesen Unfall zurückzuführen.
80Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im Berufungsverfahren sind die vom Kläger geltend gemachten Substanzverletzungen an der linken Hüfte nicht mit Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückzuführen. Insoweit folgt der Senat den Gutachten und ergänzenden Stellungnahmen des von Amts wegen beauftragten Sachverständigen Dr. U sowie der Stellungnahme von Prof. Dr. C3, die nach dem Beschluss des Senats vom 10.11.2014 über das Befangenheitsgesuch des Klägers auch verwertbar ist. Sowohl Dr. U als auch Prof. Dr. C3 haben ausführlich und mit überzeugender Argumentation dargelegt und begründet, warum es sich bei den geltend gemachten Gesundheitsschäden an der linken Hüfte des Klägers nicht um Gesundheitserstschäden oder Unfallfolgen handelt. Dr. U hat für den Senat nachvollziehbar ausgeführt, bei den verschiedensten Untersuchungen nach dem Unfall sei eine Verletzung des linken Hüftgelenks mit genügender Sicherheit ausgeschlossen worden. Wenn das linke Hüftgelenk durch eine so genannte Dashboard-Verletzung, wie sie Dr. X1 als ursächlich vermutet, also durch eine Staucheinwirkung über den Anschlag des Kniegelenks mit axialer Stauchung des Oberschenkels und damit des Hüftgelenks eingetreten wäre, hätte dies zwar zu signifikanten Knie- und Hüftgelenkverletzungen führen können. Solche Verletzungen wären aber nach der überzeugenden Darstellung des Sachverständigen Dr. U nicht zu übersehen gewesen. Wären die von Dr. T1 beschriebenen Veränderungen, insbesondere der Pfannenlippe, Folgen des Unfalls von 1994, müsste dies zu erheblichen Primärschmerzen unmittelbar nach dem Ereignis geführt haben, auch mit lang anhaltenden Schmerzen bei einer Bewegungsprüfung. Am Hüftgelenk hat sich aber kein entsprechender Schaden in einer eindeutigen schmerzhaften Bewegungsstörung des Gelenks gezeigt. Da diese weder bei der Erstdiagnostik, noch am nächsten Tag geklagt wurde, beweist dies nach der den Senat überzeugenden Einschätzung von Dr. U das Fehlen einer durch den Unfall eingetretenen primären Schädigung dieses Gelenks. Der Kläger wäre auch bei einem solchen Primärschaden nicht in der Lage gewesen, sich in irgendeiner Form selbst fortzubewegen. Auch Stauchungen, die nicht zu unmittelbar in der Standardröntgenologie nachweisbaren Veränderungen geführt hätten, wären in den bildgebenden Darstellungen, die im weiteren Verlauf durchgeführt wurden, nachweisbar gewesen. Wenn das Unfallgeschehen zu einer signifikanten Stauchung und damit Quetschung im Bereich des Hüftkopfes und der Hüftpfanne geführt hätte und damit zu Strukturveränderungen, die im Laufe des Lebens dann eine Degeneration entwickeln könnten, so hätte sich diese entschieden früher dargestellt. Auch der ergänzenden Stellungnahme von Prof. Dr. C3 vom 13.10.2014 entnimmt der Senat, dass sich die Arthrose im linken Hüftgelenk, um als Unfallfolge in Betracht zu kommen, in den Jahren vom Unfall bis zu den Kernspintomogrammen des Beckens in 2007 hätte stärker entwickeln müssen, als die im rechten Hüftgelenk, was aber eben bis dahin nicht der Fall war. Die vorstehend wiedergegebenen Ausführungen Dr. Thomas und Prof. Dr. Bußmanns, stehen - worauf auch Prof. Dr. C3 ausdrücklich hinweist - im Einklang mit den demnach auch aus seiner Sicht dem Stand der Wissenschaft entsprechenden Ausführungen in dem vom Kläger eingereichten Aufsatz von I u.a. zur "Begutachtung des Knorpelschadens - traumatisch versus nicht traumatisch" und sind für den Senat ohne Weiteres nachvollziehbar.
81Die Einschätzung von Dr. T1 und das Gutachten von Dr. X1 nebst ergänzenden Stellungnahmen sind demgegenüber nicht geeignet, die Gutachten und Stellungnahmen von Dr. U und Prof. Dr. C3 zu widerlegen und einen ursächlichen Zusammenhang wahrscheinlich zu machen.
82Der Befund der von Dr. T1 im Januar 2006 durchgeführten Arthroskopie beweist, dass die vom Kläger geltend gemachten Schädigungen an der linken Hüfte tatsächlich vorliegen. Der Befund rechtfertigt jedoch nicht die Annahme, dass diese Schädigungen als Gesundheitserstschaden oder Unfallfolge hinreichend wahrscheinlich in einem kausalen Zusammenhang mit dem Unfall vom 08.09.1994 stehen. Prof. Dr. C3 hat in seiner Stellungnahme vom 13.10.2014 in für den Senat überzeugender Weise begründet, dass es sich bei der Ursache der Schädigungen im linken Hüftgelenk des Klägers nicht um die von Dr. X1 angenommene Dashboard-Verletzung handeln kann, da sich zeitnah zum Unfall weder an Hüft- und Kniegelenken typische Verletzungsfolgen finden ließen. Zudem fehle es an anfänglich geklagten Beschwerden im linken Hüftgelenk. Auch die fehlende Radionukleidanreicherung bei der Skelettszintgrafie am 04.11.1994 in den das linke Hüftgelenk bildenden Knochen und ein auf dem noch unfallnahen Kernspintomogramm vom 24.01.1995 nicht zur Darstellung kommender Bone bruise sind deutliche Indizien gegen eine Dashboard-Verletzung. Durch die Arthroskopie konnte hingegen über elf Jahre nach dem Unfall nicht mehr festgestellt werden, ob die arthrotischen Veränderungen degenerativer oder traumatischer Natur sind. Dies ergibt sich aus den Ausführungen von Dr. U, die wiederum in Übereinstimmung stehen mit den Erkenntnissen in der vom Kläger vorgelegten wissenschaftlichen Arbeit von I u.a. (a.a.O), wonach eine Unterscheidung zwischen einem traumatisch bedingten und einem degenerativ bedingten Knorpelschaden längstens sechs Monate nach dem Unfall möglich ist. Aus dem Aufsatz von I u.a. ist ersichtlich, dass für den traumatischen Knorpelschaden scharfe Bruchkanten typisch sind, die nur sechs Wochen lang bestehen. Nach mehr als 24 Wochen bestehe dann eine Defektauffüllung ohne Kantenbildung. Dies bedeute gutachterlich, dass danach arthroskopisch nicht mehr sicher entschieden werden könne, ob ein Knorpelschaden traumatischer Natur sei oder nicht. Die Arthroskopie sei zwar wohl die aussagekräftigste Methode zur Beurteilung eines Knorpelschadens. Dies bedeute aber nicht, dass sie zeitneutral einen traumatisch bedingten von einem nicht traumatisch bedingten Knorpelschaden unterscheiden könne. Die von Dr. T1 erhobenen Befunde sind deshalb für den Senat kein überzeugendes Argument für das Vorliegen von Erstschäden oder Unfallfolgen. Dass Dr. T1 bei der Arthroskopie Vernarbungen der Hüftgelenkskapsel vorfand und deshalb die Einführung des Instrumentes erschwert war, ist nach übereinstimmender Darlegung von Prof. Dr. C3, Dr. U und auch Dr. X1 kein Beleg für eine traumatische Schädigung des Hüftgelenks, sondern kann ebenso gut auf degenerative und/oder entzündliche Prozesse zurückgehen.
83Auch das Gutachten von Dr. X1 stützt die Auffassung des Klägers nicht. Es besteht überwiegend in Ausführungen dazu, warum ein Knorpelschaden nicht schon vor der Arthroskopie im Januar 2006 nachgewiesen werden konnte. Diese Ausführungen sind jedoch unerheblich, da sie nicht als Beleg dafür geeignet sind, dass der Knorpelschaden schon unfallnah entstanden ist. Denn ein entsprechender Schaden wurde vor der Arthroskopie im Januar 2006 tatsächlich nicht nachgewiesen. Dies gilt unabhängig davon, ob sich schon in der Kernspintomografie von Januar 1995 ein entsprechender räumlicher Zusammenhang hätte erkennen lassen müssen, da die Technik bereits ausreichend fortgeschritten war (so die Auffassung von Dr. U) oder ob die Technik 1995 noch nicht genug ausgereift war, um einen entsprechenden Befund darstellen zu können (so Dr. X1). Die Ausführungen Dr. X1 sind aber auch unter Berücksichtigung seiner eigenen Stellungnahme vom 19.12.2013 nicht nachvollziehbar. Denn hierin hat er erklärt, dass eine spezielle MR-Arthrografie geeignet ist, kleinere Knorpel- oder Kapselveränderungen sensitiv aufzuspüren. Eine derartige Untersuchung war aber bereits am 06.10.2005 von dem Radiologen Dr. L vorgenommen worden, ohne den Knorpelschaden zu zeigen. Mit Ausnahme einer Asymmetrie der Muskulatur wurde kein krankhafter Befund erhoben; vielmehr wurde ausdrücklich erklärt, dass das Labrum acetabuli in allen Abschnitten regelrecht abgrenzbar und ein Labrum-Abriss nicht nachweisbar war. Insoweit ist auch die Behauptung des von der Beklagten im Verwaltungsverfahren beauftragten Dr. L4, die Untersuchung vom 06.10.2005 durch Dr. L habe eine Knorpelläsion i.S. eines beginnenden Hüftgelenkverschleisses gezeigt, nicht verständlich.
84Ein Bluterguss in der linken Leistengegend ist als Erstschaden nicht nachgewiesen und kommt schon deshalb nicht als Anknüpfungspunkt für eine hinreichend wahrscheinliche Verursachung der Hüftgelenksschäden des Klägers durch den Unfall 1994 in Betracht. Dr. U weist zutreffend darauf hin, dass über ein solches Hämatom nirgends aktenkundig berichtet wird und insoweit nur anamnestische Angaben des Klägers verfügbar sind. Bei klinisch freier Beweglichkeit des linken Hüftgelenks sei eine solche Einblutung in die Muskulatur aber ohnehin kein Beleg für eine Mitbeteiligung des linken Hüftgelenks. Daneben führen auch die Ausführungen Dr. X1 nicht weiter, der Nachweis einer Einblutung in den linken Musculus gluteus medius durch Hämosiderinablagerungen könne ein Beleg dafür sein, dass diese ihren Ausgang an der Gelenkkapsel gehabt habe, da Dr. X1 offensichtlich selbst nur von einem möglichen Beleg ausgeht. Auch der Verlauf der Beschwerden im Bereich der Hüfte bis etwa Juni 1995, der nach Auffassung von Dr. X1 zu einer Reizerscheinung geführt haben soll, wie sie typischerweise nach einer Verletzung des Labrums und/oder einer Knorpelschädigung auftrete, macht den ursächlichen Zusammenhang nicht wahrscheinlich, sondern nur möglich. Keiner der den Kläger in diesem Zeitraum behandelnden Ärzte hat eine Knorpelschädigung in Betracht gezogen; die nach Juni 1995 zunächst fortbestehenden Beschwerden wurden vielmehr auf eine unfallunabhängige schnappende Hüfte und unfallbedingte Tendinosen (Reizzustände der Muskelansätze) und daraus resultierende Muskeldysbalancen zurückgeführt. Wenn die Symptome typisch für einen Knorpelschaden gewesen wären, wäre zu erwarten gewesen, dass einer der zahlreichen den Kläger behandelnden oder begutachtenden Ärzte schon zeitnah einen entsprechenden Verdacht geäußert hätte.
85Schließlich ist - entgegen der Auffassung von Dr. X1 - auch der Unfallhergang selbst kein geeignetes Argument für den streitigen Ursachenzusammenhang. Selbst wenn dieser geeignet gewesen sein sollte, die geltend gemachten Schädigungen zu verursachen, heißt das nicht im Umkehrschluss, dass er sie auch verursacht hat. Soweit der Kläger unter Bezugnahme auf die Ausführungen von Dr. X1 zutreffend darauf hingewiesen hat, dass eine knöcherne Verletzung keine Voraussetzung für die Annahme einer Knorpelschädigung sei, ändert das nichts daran, dass isolierte Knorpelschädigungen ohne knöcherne Begleitverletzungen sehr selten (vgl. I u.a., a.a.O.) und deshalb eher unwahrscheinlich als wahrscheinlich sind. Das Gutachten von Dr. X1 ist, was den von ihm angenommenen Unfallhergang angeht, auch deshalb nicht überzeugend, weil er bei seiner Begutachtung unzutreffend von einer sogenannten Dashboard-Verletzung (vgl. dazu oben) ausgegangen und schon deshalb zu falschen Ergebnissen gelangt ist. Auf das Fehlen typischer Verletzungsfolgen der von ihm postulierten Dashboard-Verletzung ist Dr. X1 in seinen Gutachten überhaupt nicht eingegangen.
86Das vom Kläger als Beleg für die Richtigkeit seiner Rechtsauffassung angeführte Urteil des OLG Hamm vom 22.12.2008 rechtfertigt keine andere Beurteilung, da hinsichtlich des Kausalitätsbegriffs im Zivilrecht andere Maßstäbe gelten als im Unfallversicherungsrecht. Auch gilt dort nicht der Amtsermittlungsgrundsatz, so dass das OLG seiner Entscheidung die im dortigen Verfahren ausweislich der Urteilsgründe "unstreitige" Dashboard-Verletzung ("erheblicher Knieanprall links", vgl. S. 10 und 11 des Urteils), von deren Vorliegen der Senat gerade nicht überzeugt ist, als gegeben zu unterstellen hatte. Abgesehen davon beruht dieses Urteil auf einem Gutachten von Dr. X1, das nahezu inhaltsgleich mit dessen Gutachten im vorliegenden Verfahren ist. Warum der Senat diesem Gutachten nicht folgt, wurde bereits erläutert.
87Die allein streitgegenständlichen Gesundheitsschäden in der linken Hüfte des Klägers kommen auch nicht als Folgen anderer versicherter Einwirkungen im Zusammenhang mit dem Unfall vom 08.09.1994, etwa des als Folgeunfall anerkannten Sturzereignisses vom 15.05.1997 oder ärztlicher Behandlungen, in Betracht. Hierfür ergeben sich aus den eingeholten ärztlichen Berichten und Gutachten keine Anhaltspunkte.
88Der Senat sieht deshalb von Amts wegen keinen weiteren Ermittlungsbedarf und deshalb von einer mündlichen Anhörung eines oder mehrerer der schriftlich befragten Sachverständigen ab. Die vom Kläger mit seinen verschiedenen Hilfsanträgen beantragte Befragung von Dr. X1 im Termin gibt dem Senat keine Veranlassung zu einer anderen Entscheidung. Zum einen besteht ein Anspruch auf Anhörung von Dr. X1 im Hinblick auf dessen Auslandswohnsitz nicht mehr (BSG, Urteil vom 20.04.2010, B 1/3 KR 22/08 R, Rn. 22 zitiert nach juris), was im Hinblick auf die von der vorstehend zitierten Rechtsprechung in den Vordergrund gestellten Unterwerfung des Sachverständigen unter Zwangsmittel der deutschen Gerichtsbarkeit für alle technischen Formen der Anhörung gelten muss und damit auch für die vom Kläger gestellten weiteren Hilfsanträge gilt. Zum anderen hat Dr. X1 die vom Kläger mit Schriftsatz vom 20.01.2014 aufgeworfenen Fragen zu seinem Gutachten mit den Stellungnahmen vom 17.09.2014 und 23.09.2014 beantwortet und auch der mit dem Berufungshilfsantrag in Bezug genommene Schriftsatz des Klägers vom 30.10.2014 gibt keine Veranlassung, Dr. X1 im Termin zu befragen.
89Es entspricht zwar ständiger Rechtsprechung des BSG, dass unabhängig von der nach § 411 Abs. 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, jedem Beteiligten gemäß § 116 Satz 2, § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 397, 402, 411 Abs. 4 ZPO das Recht zusteht, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die er zur Aufklärung der Sache für dienlich erachtet (st. Rspr., vgl. BSG, Beschlüsse vom 17.04.2012, B 13 R 355/11 B; vom 10.12.2013, B 13 R 198/13 B; BVerfG, Beschluss vom 3.2.1998, 1 BvR 909/94). Sachdienlichkeit i.S. von § 116 Satz 2 SGG ist insbesondere dann zu bejahen, wenn sich die Fragen im Rahmen des Beweisthemas halten und nicht abwegig oder bereits eindeutig beantwortet sind. Abgelehnt werden kann ein solcher Antrag prozessordnungsgemäß auch dann, wenn er rechtsmissbräuchlich gestellt ist, insbesondere wenn die Notwendigkeit einer Erörterung überhaupt nicht begründet wird, wenn die an den Sachverständigen zu richtenden Fragen nicht hinreichend genau benannt oder nur beweisunerhebliche Fragen angekündigt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.08.1995, 2 BvR 175/95, Rn. 29 zitiert nach juris). Das auf den o.g. Rechtsgrundlagen beruhende Fragerecht begründet hingegen keinen Anspruch auf stets neue Befragungen, wenn der Beteiligte und der Sachverständige in ihrer Beurteilung nicht übereinstimmen. Das Recht, Fragen an einen Sachverständigen zu stellen, bezieht sich zudem nur auf die aus dessen Gutachten folgenden Unklarheiten und Zweifelsfragen; von ihm wird das Begehren nicht umfasst, einen früher bereits gehörten Sachverständigen nach Einholung eines weiteren Gutachtens zu seiner Meinung zu diesem neuen Gutachten zu hören (hierzu z.B. BSG, Beschluss vom 17.08.2000, B 8 KN 2/00 U B).
90Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Voraussetzungen sind die zuletzt mit Schreiben vom 30.10.2014 vom Kläger aufgeworfenen Fragen nicht sachdienlich. Denn sie sind entweder beweisunerheblich, eindeutig beantwortet oder nicht darauf gerichtet, eine Erläuterung des Gutachtens von Dr. X1 zu erhalten. Schon einleitend zu seinem Fragenkatalog weist der Kläger darauf hin, dass die Ladung von Dr. X1 beantragt werde, weil das Gutachten von Prof. C3 Fragen aufwerfe, also gerade nicht, weil das Gutachten von Dr. X1 erläuterungsbedürftig sei. Einer weiteren Anhörung des Sachverständigen bedurfte es daher nicht. Hinsichtlich der einzelnen angekündigten Fragen gilt darüber hinaus Folgendes:
91Die Beantwortung der Fragen zu 1. ist nicht entscheidungserheblich, da sie nicht zu Erkenntnissen zu den konkret beim Kläger vorliegenden Gesundheitsschäden an der linken Hüfte noch zur Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs dieser Schäden mit dem Unfall von 1994 führen würde.
92Zu den Fragen zu 2. gilt dasselbe. Selbst wenn es tatsächlich häufiger vorkommen sollte, dass der bei einer Arthroskopie erhobene Befund nicht der vorangegangenen Diagnose anhand radiologischer Befunde entsprechen würde, ließe dies keine verifizierbare Aussage zu der konkreten Beurteilung im Fall des Klägers zu.
93Die Fragen zu 3. hat Dr. X1 in seiner Stellungnahme vom 17.09.2014 bereits eindeutig beantwortet. Genau wie Prof. Dr. C3 hat er ausgeführt, dass für die Verhärtung und Verdickung einer Gelenkkapsel verschiedene Erklärungen in Betracht kommen (traumatische oder "etwa Entzündungen die dann jeweils mit einer Narbe verheilen und so quasi Schicht für Schicht zu einer Verdickung" führen). Ob und ggf. in welcher Häufigkeit solche Vernarbungen/Verdickungen der Kapsel als Folgen einer Arthrose vorkommen und ob insofern zwischen einer primären und einer sekundären Arthrose zu differenzieren ist, ist deshalb unerheblich.
94Die Fragen zu 4. und 5. beziehen sich nicht auf Unklarheiten und Zweifelsfragen, die sich aus dem Gutachten bzw. den Stellungnahmen von Dr. X1 ergeben, sondern zielen allein darauf ab, die Beurteilung von Prof. Dr. C3 in Frage zu stellen. Das Fragerecht beinhaltet aber nicht das Begehren, einen früher bereits gehörten Sachverständigen - hier Dr. X1 - nach Einholung eines weiteren Gutachtens bzw. einer gutachtlichen Stellungnahme - hier von Prof. Dr. C3 - zu seiner Meinung zu diesem neuen Gutachten bzw. der neuen gutachtlichen Stellungnahme zu hören. Die Frage nach der anatomischen Lage des Musculus gluteus medius hat Dr. X1 im Übrigen bereits beantwortet. Dass er sie anders Prof. Dr. C3 beantwortet hat, führt nicht dazu, dass eine erneute Befragung sachdienlich ist.
95Von den Fragen zu 6. ist die Frage nach der Ursache der zur Arthrose führenden Knorpelverletzung bereits durch Dr. X1 in seinem Gutachten beantwortet. Die Frage nach dem klinischen Verlauf in den ersten Monaten hat Dr. X1 bereits eindeutig wie folgt beantwortet: "Die beschriebenen Befunde und Untersuchungsergebnisse weisen in diesem Zeitrahmen nicht auf eine symptomatische Arthrose hin". Bei der Begutachtung haben ihm die kompletten Akten, aus denen sich der klinische Verlauf der Erkrankung ergibt, vorgelegen. Es gibt keinen Grund zu der Unterstellung, er habe diese bei der Beantwortung seiner Frage nicht berücksichtigt. Der Befund von Prof. Dr. L5 war Dr. X1 bekannt, denn er war als Oberarzt an der Begutachtung durch Prof. Dr. L5 beteiligt.
96Auch die Fragen zu 7. zielen nicht auf eine Erläuterung des Gutachtens und der ergänzenden Stellungnahmen von Dr. X1 ab, sondern werfen Fragen zu dem Gutachten von Prof. Dr. C3 auf. Auch hier gilt, dass sich das Recht, Fragen an einen Sachverständigen zu stellen, nur auf die aus dem Gutachten Dr. X1 folgenden Unklarheiten und Zweifelsfragen bezieht.
97Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs.1 Satz 1 SGG.
98Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Tenor
-
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. September 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses zurückverwiesen.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger unter Anerkennung einer "mittelgradigen depressiven Störung" als Unfallfolge ab 1.3.1998 Verletztenrente nach einer MdE um 30 vH zu zahlen ist.
- 2
-
Der Kläger war ab August 1995 als Gepäckabfertiger bei der damaligen Flughafen AG beschäftigt. Am 13.1.1997 wurde er bei der Ausübung der Beschäftigung zwischen einem Containertransporter sowie einem Gepäckcontainer-Anhänger eingeklemmt. Dadurch wurden sein dritter Finger links und sein Kniegelenk links gequetscht. Folgen dieser Verletzungen lagen über den 18.7.1997 hinaus nicht mehr vor.
- 3
-
Der Kläger wurde wegen des Unfalls zunächst ambulant, wegen anhaltender Beschwerden im linken Kniegelenk ab April 1997 in einer Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik stationär behandelt. Danach wurde eine Arbeitserprobung durchgeführt, die wegen gesundheitlicher Beschwerden abgebrochen wurde.
- 4
-
Anschließend fand eine Vielzahl von Behandlungen statt, die bis November 1999 überwiegend durch Durchgangsärzte erfolgten und im Auftrag und zulasten der Beklagten durchgeführt wurden. Diese Maßnahmen zur Diagnose und zur Heilbehandlung waren aber rückwirkend betrachtet nur zum Teil durch die Unfallfolgen bedingt. Zum anderen Teil beruhten sie auf unfallunabhängigen Vorschäden am linken Kniegelenk.
- 5
-
Der Kläger befand sich unter der Diagnose einer chronifizierten Depression ab März 1998 bei einer Diplom-Psychologin und ab April 1998 bei einem Psychiater in Behandlung. Vom 8.9. bis 3.10.1998 fand eine stationäre Behandlung in einer Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie statt, wo eine Angstneurose mit Panikattacken sowie eine Störung der Impulskontrolle diagnostiziert wurden.
- 6
-
Die Beklagte bewilligte dem Kläger einen ersten Vorschuss auf die voraussichtlich zu zahlende Verletztenrente (Vorschussbescheid vom 8.9.1998). Weitere Vorschusszahlungen folgten. Die Beklagte lehnte zunächst dennoch die "Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung über den 18.7.1997 hinaus" ab (Bescheid vom 27.9.2002). Den hiergegen vom Kläger erhobenen Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 11.3.2005 zurück. Später bewilligte und zahlte die Beklagte dem Kläger rückwirkend und durchgängig vom Unfalltag bis zum 30.9.2002 Verletztengeld.
- 7
-
Das SG Gießen hat die Beklagte durch Urteil vom 3.7.2008 verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung einer mittelgradigen depressiven Störung als Folge des Arbeitsunfalls ab 19.7.1997 Verletztenrente nach einer MdE um 30 vH zu zahlen.
- 8
-
Das Hessische LSG hat der Berufung der Beklagten insoweit stattgegeben, als die Verletztenrente erst am 1.3.1998 beginne, und sie im Übrigen zurückgewiesen (Urteil vom 26.9.2011). Bei dem Kläger liege eine dauerhafte psychische Erkrankung im Sinne einer chronifizierten depressiven Episode vor. Diese sei in "rechtlich-wesentlichem Umfang" durch den Verlauf der Heilbehandlung der unmittelbaren körperlichen Verletzungen aufgrund des Arbeitsunfalls verursacht worden. Die Heilbehandlung sei zwar rückwirkend betrachtet durch erhebliche degenerative Vorschäden bedingt gewesen. Für die Zurechnung mittelbarer Unfallfolgen komme es aber nicht darauf an, dass die Maßnahmen der Heilbehandlung von der Beklagten angeordnet worden seien. Vielmehr reiche es für die Zurechnung im Rahmen des § 11 Abs 1 SGB VII aus, wenn der Unfallversicherungsträger oder der ihm rechtlich zuzuordnende Durchgangsarzt bei seinem Handeln den objektivierbaren Anschein oder den Rechtsschein gesetzt habe, dass die Behandlung oder Untersuchung zur berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung oder zur Untersuchung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls angeordnet werde und der Versicherte der Auffassung sein könne, dass die Heilbehandlung geeignet sei, die Unfallfolgen zu bessern oder zu beseitigen.
- 9
-
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und rügt die Verletzung der §§ 11 Abs 1, 56 Abs 1, 72 Abs 1 sowie 74 Abs 2 SGB VII. Das LSG habe durch seine Auslegung § 11 Abs 1 SGB VII verletzt, da als Ursache der Erkrankung letztlich nicht die Durchführung einer Heilbehandlung oder eine Untersuchung zur Klärung des Versicherungsfalls gesehen werde, sondern vielmehr die Art und Weise des Ablaufs der Heilbehandlung, die - jedenfalls aus Sicht des Klägers - zu Problemen geführt habe. Die Zurechnung zu den Unfallfolgen dürfe nicht aufgrund der subjektiven Einschätzung des Klägers erfolgen, weil dieser die Maßnahmen aus seiner Sicht für undurchschaubar halte und sich durch Zuständigkeitsfragen zwischen Ärzten oder Trägern belastet fühle. Unsicherheiten, die aus dem Wechsel der behandelnden Ärzte oder deren Diagnosestellung herrührten, seien aber durch § 11 SGB VII nicht geschützt. Das LSG habe auch weder festgestellt, dass die Maßnahmen zulasten des Unfallversicherungsträgers angeordnet worden seien, noch festgestellt, dass es sich um die Behandlung von Unfallfolgen gehandelt habe, noch dass diese durchgangsärztlich zu ihren Lasten angeordnet worden seien. Darüber hinaus verletze die Festlegung des Rentenbeginns durch das LSG §§ 72 Abs 1, 74 Abs 2 SGB VII, da dem Kläger rückwirkend bis einschließlich 30.9.2002 Verletztengeld gezahlt worden sei. Das Urteil beruhe zudem auf Verfahrensfehlern (Verletzung von §§ 62, 103 SGG).
- 10
-
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. September 2011 und des Sozialgerichts Gießen vom 3. Juli 2008 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.
- 11
-
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 12
-
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend. Insbesondere handele es sich bei der diagnostizierten mittelgradigen Depression um eine mittelbare Unfallfolge iS des § 11 SGB VII.
Entscheidungsgründe
- 13
-
Die Revision der Beklagten ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung durch das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
- 14
-
In dem Rechtsstreit wegen Feststellung einer Unfallfolge und Zahlung einer Verletztenrente nach einer MdE um 30 vH (1.) kann der Senat auf der Grundlage der vom LSG getroffenen Feststellungen nicht entscheiden, ob und ggf welche psychischen Gesundheitsstörungen gemäß § 8 Abs 1 SGB VII unmittelbar durch den Arbeitsunfall wesentlich verursacht worden sind (2. a>) oder ob und ggf welche psychischen Gesundheitsstörungen als mittelbare Unfallfolgen iSd § 11 Abs 1 SGB VII festzustellen sind (2. b>). Es kann auch nicht abschließend beurteilt werden, ob ein Anspruch auf Verletztenrente iSd § 56 Abs 1 SGB VII besteht (3. a>). Soweit das LSG erneut zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass ein Anspruch auf Verletztenrente gegeben ist, kann ein solcher gemäß § 72 Abs 1 SGB VII nicht für Zeiten vor dem 1.10.2002 bestehen (3. b>).
- 15
-
1. Die Beklagte wendet sich mit der Revision gegen das Urteil des LSG, mit dem dieses die Berufung gegen das den Anfechtungsklagen wegen der ablehnenden Verwaltungsakte in den Bescheiden der Beklagten (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG), den Klagen auf Feststellung einer chronifizierten depressiven Episode als Unfallfolge (§ 55 Abs 1 Nr 3 SGG) sowie auf Zahlung einer Verletztenrente (§ 54 Abs 4 SGG)nach einer MdE um 30 vH stattgebende Urteil des SG im Wesentlichen bestätigt hat. Der Senat kann nicht abschließend entscheiden, ob das LSG Bundesrecht verletzt hat, da dessen tatsächliche Feststellungen keine abschließende Beurteilung der geltend gemachten Ansprüche erlauben.
- 16
-
Die Beklagte hat (spätestens) in dem angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides festgestellt, dass der Kläger am 13.1.1997 einen Arbeitsunfall mit den Gesundheitserstschäden am dritten Finger links und am Kniegelenk links erlitten hat. Daher richten sich dessen Anfechtungsklagen gegen die Ablehnung eines Anspruchs auf Feststellung einer chronifizierten depressiven Episode als Unfallfolge und die Ablehnung eines Rechts auf Verletztenrente.
- 17
-
Mit der Feststellungsklage nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG kann der Kläger den behaupteten materiellen Anspruch auf Feststellung der Unfallfolge durchsetzen, ohne dass er daran durch seine Befugnis zur Erhebung einer Verpflichtungsklage gehindert wäre. Denn er kann zwischen beiden Rechtsschutzformen wählen, weil sie, soweit um Ansprüche auf Feststellung von Unfallfolgen (oder Versicherungsfällen) gestritten wird, grundsätzlich gleich rechtsschutzintensiv sind (vgl BSG Urteil vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274, RdNr 12 f). Für das Begehren auf Verletztenrente hat er die Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs 4 SGG zulässig mit der unechten Leistungsklage auf Gewährung einer Verletztenrente kombiniert.
- 18
-
2. Nach § 102 SGB VII haben die Versicherten gegen den zuständigen Unfallversicherungsträger einen Anspruch auf Feststellung einer Unfallfolge (oder eines Versicherungsfalls), wenn ein Gesundheitsschaden durch den Gesundheitserstschaden eines Versicherungsfalls oder infolge der Erfüllung eines Tatbestandes des § 11 SGB VII rechtlich wesentlich verursacht wird. Der Gesundheitsschaden muss sicher feststehen (Vollbeweis) und durch Einordnung in eines der gängigen Diagnosesysteme (zB ICD-10, DSM IV) unter Verwendung der dortigen Schlüssel exakt bezeichnet werden.
- 19
-
a) Es steht schon nicht sicher fest, welche Gesundheitsstörung bei dem Kläger genau vorliegt.
- 20
-
Zwar steht aufgrund der Feststellungen des LSG fest, dass auf "orthopädisch/chirurgischem und neurologischem" Fachgebiet über den 18.7.1997 hinaus keine Folgen des Arbeitsunfalls vom 13.1.1997 vorliegen. Das LSG hat aber nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit festgestellt, welche psychische Gesundheitsstörung beim Kläger vorliegt, denn die Bezeichnung der Erkran-kung im Tenor weicht von derjenigen in den Gründen ab. Nach den Gründen der Entscheidung liegt beim Kläger eine mittelgradige depressive Episode nach "F 33.1" des ICD-10 vor. Im Tenor hat das LSG dagegen als Unfallfolge eine "mittelgradige depressive Störung" festgestellt.
- 21
-
b) Der Senat kann auch nicht abschließend beurteilen, ob eine ggf vorliegende mittelgradige depressive Episode iSv F 33.1 ICD-10 "infolge" des Versicherungsfalls besteht.
- 22
-
Das LSG hat nicht geprüft, ob die psychische Gesundheitsstörung eine solche iSd § 8 Abs 1 SGB VII ist. Das wäre anzunehmen, wenn sie unmittelbar durch den beim Versicherungsfall ausgelösten Gesundheitserstschaden verursacht worden ist. Die genau zu bezeichnende Gesundheitsstörung ist also als Unfallfolge festzustellen, wenn im wieder eröffneten Berufungsverfahren festzustellen ist, dass zwischen dem beim Arbeitsunfall vom 13.1.1997 eingetretenen Erstschaden und der psychischen Gesundheitsstörung ein unmittelbarer und rechtlich wesentlicher Ursachenzusammenhang besteht (haftungsausfüllende Kausalität).
- 23
-
c) Der Senat kann schon mangels Klarheit über das Vorliegen einer unmittelbaren Unfallfolge auch nicht abschließend entscheiden, ob die psychische Störung dem Versicherungsfall vom 13.1.1997 nach § 11 SGB VII als mittelbare Unfallfolge zuzurechnen ist. Das wird das LSG bei Verneinung einer unmittelbaren Unfallfolge aber zu prüfen haben.
- 24
-
Nach § 11 Abs 1 Nr 1 und 3 SGB VII sind Folgen eines Versicherungsfalls auch solche Gesundheitsschäden oder der Tod eines Versicherten, die durch die Durchführung einer Heilbehandlung nach dem SGB VII oder durch Maßnahmen wesentlich verursacht wurden, welche zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls angeordnet wurden. Diese Vorschrift regelt, dass auch solche Gesundheitsschäden, die durch die Erfüllung der in ihr umschriebenen Tatbestände wesentlich verursacht werden, dem Versicherungsfall rechtlich zugerechnet werden. Diese mittelbaren Folgen müssen - anders als nach § 8 Abs 1 SGB VII - nicht durch den Gesundheitserstschaden verursacht worden sein(vgl BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 mwN).
- 25
-
Mit dieser Entscheidung hat der Senat seine Rechtsprechung zum früheren Recht fortgeführt. Bereits für die Bejahung des nach § 555 Abs 1 RVO erforderlichen ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall und der Heilbehandlung genügte es, dass der Verletzte, der einen Arbeitsunfall erlitten hat, von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, dass die Heilbehandlung, zu deren Durchführung er sich begeben hat, geeignet ist, der Beseitigung oder Besserung der durch den Arbeitsunfall verursachten Gesundheitsstörungen zu dienen. Schon zu jener Vorschrift hat das BSG entschieden, dass es nicht erforderlich ist, dass die Heilbehandlung wegen Folgen des Arbeitsunfalls objektiv geboten war (BSG vom 24.6.1981 - 2 RU 87/80 - BSGE 52, 57, 58 = SozR 2200 § 555 Nr 5).
- 26
-
Hieran ist mit der Maßgabe festzuhalten, dass § 11 Abs 1 SGB VII nun darauf abstellt, dass die Mitwirkung an einer vom Träger angeordneten ärztlichen Maßnahme sich auch dann als versichert erweist, wenn sich später herausstellt, dass in Wirklichkeit kein Versicherungsfall vorlag. Allerdings setzt die Zurechnung eines Gesundheitsschadens, der rechtlich wesentlich durch eine iSv § 11 Abs 1 SGB VII vom Unfallversicherungsträger angeordnete Maßnahme verursacht wurde, die bisherige Rechtsprechung eingrenzend voraus, dass der Träger oder seine Leistungserbringer gegenüber dem durch die Verrichtung einer bestimmten versicherten Tätigkeit Versicherten durch (festgestellte) Handlungen den Anschein begründet haben, die Behandlungs- oder Untersuchungsmaßnahme erfolge zur Behandlung von Unfallfolgen (oder zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalles oder einer Unfallfolge). Hieran hält der Senat auch im Hinblick auf die an seiner Rechtsprechung geäußerte Kritik (vgl Gundolf Wagner in juris PraxisReport 9/12 Anm 2) fest (wie der Senat wohl auch Krasney, in Becker ua, Kommentar zum SGB VII, § 11 RdNr 15; aA auch Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 11 RdNr 3; G. Wagner in jurisPK-SGB VII, § 11 RdNr 15; Holtstraeter in K/S/W, Kommentar zum Sozialrecht, § 11 SGB VII RdNr 2; Rapp in LPK-SGB VII, § 11 RdNr 1; Schmitt, SGB VII, 4. Aufl 2009, § 11 RdNr 4; Schwerdtfeger in Lauterbach, UV-SGB VII, Stand April 2007, § 11 SGB VII RdNr 4).
- 27
-
Auch die Prüfung des Ursachenzusammenhangs zwischen einer Gesundheitsstörung und einer der nach § 11 Abs 1 SGB VII tatbestandlichen Maßnahmen erfolgt nach der Theorie der wesentlichen Bedingung. Dabei ist auf einer ersten Prüfungsstufe zu fragen, ob der Versicherungsfall eine naturwissenschaftlich-philosophische Bedingung für den Eintritt der Gesundheitsstörung ist. Dabei ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nach den einschlägigen Erfahrungssätzen nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (aa). Wenn festzustellen ist, dass der Versicherungsfall eine (von möglicherweise vielen) Bedingungen für den Erfolg - hier die psychische Störung - ist, ist auf der ersten Prüfungsstufe weiter zu fragen, ob es für den Eintritt des Erfolgs noch andere Ursachen iS der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie gibt (bb); das können Bedingungen aus dem nicht versicherten Lebensbereich wie zB Vorerkrankungen, Anlagen, nicht versicherte Betätigungen oder Verhaltensweisen sein (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 15). Erst wenn sowohl der Versicherungsfall als auch andere Umstände als Ursachen des Gesundheitsschadens feststehen, ist auf einer zweiten Prüfungsstufe rechtlich wertend zu entscheiden, welche der positiv festzustellenden adäquaten Ursachen für die Gesundheitsstörung die rechtlich "Wesentliche" ist (cc). Dasselbe gilt für die Frage, ob eine MdE vorliegt und im Wesentlichen durch Unfallfolgen verursacht wurde.
- 28
-
aa) Der Senat kann nicht entscheiden, ob die Erkrankung des Klägers eine mittelbare Unfallfolge nach § 11 Abs 1 Nr 1 oder Nr 3 SGB VII ist oder keine Unfallfolge war.
- 29
-
Ob sich eine medizinische Maßnahme als Durchführung einer Heilbehandlung (§ 11 Abs 1 Nr 1 SGB VII) oder als Maßnahme zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls (§ 11 Abs 1 Nr 3 SGB VII)durch die Beklagte darstellt, beurteilt sich danach, wie der Versicherte ein der Beklagten zuzurechnendes Verhalten bei verständiger Würdigung der objektiven Gegebenheiten zum Zeitpunkt ihrer Durchführung verstehen kann und darf (vgl BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274, RdNr 43).
- 30
-
Ob der Kläger zum Zeitpunkt der jeweiligen ärztlichen Behandlungen diese nach den objektiven Gegebenheiten als solche der Beklagten verstehen musste, steht nicht sicher fest. Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 11 Abs 1 SGB VII spricht zwar, dass die fraglichen Maßnahmen durch D-Ärzte und BG-Kliniken veranlasst wurden und die Beklagte deren Kosten trug. Das LSG hat aber nicht mit der gebotenen Deutlichkeit festgestellt, dass die verschiedenen von Ärzten veranlassten Maßnahmen sich nicht nur nach der subjektiven Wahrnehmung des Klägers zur Zeit ihrer Erbringung, sondern auch nach den objektiven Gegebenheiten für den Kläger als Heilbehandlung der Beklagten oder als deren Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls darstellten.
- 31
-
bb) Das LSG hat auch keine hinreichenden Feststellungen dazu getroffen, ob und ggf welche anderen Ursachen als der Versicherungsfall das Vorliegen der psychischen Erkrankung naturwissenschaftlich-philosophisch verursacht haben.
- 32
-
Aus dem Fehlen solcher Feststellungen kann andererseits nicht gefolgert werden, dass die Verwirklichung eines Tatbestands nach § 11 Abs 1 Nr 1 und 3 SGB VII die einzige Ursache der bestehenden Gesundheitsstörung war. Denn das LSG hat bei der Abwägung der Beiträge, die verschiedene Ursachen für das Entstehen der MdE haben, also auf der (zweiten) Stufe zur Prüfung der "Wesentlichkeit" von (verschiedenen) Ursachen, Vorerkrankungen des Klägers auf psychischem Gebiet sowie das Bestehen weiterer, nicht mit dem Arbeitsunfall in Verbindung stehender Faktoren, zB familiäre Probleme, bejaht. Ohne (ausdrückliche) Feststellung dazu, ob und inwieweit diese nicht dem versicherten Risiko zuzurechnenden Ursachen naturwissenschaftlich-philosophisch wirksam geworden sind, ist das LSG sogleich in die rechtliche Wertung eingetreten und hat den Versicherungsfall als die wesentliche Ursache für das Bestehen der Erkrankung bezeichnet.
- 33
-
cc) Falls bei erneuter Prüfung des Klagebegehrens festgestellt werden sollte, dass für die Erkrankung sowohl der Versicherungsfall als auch andere Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne vorliegen, ist nach der Theorie der wesentlichen Bedingung (zweite Stufe) zu prüfen, ob der Versicherungsfall die psychische Störung "wesentlich" verursacht hat. Unter Berücksichtigung der verschiedenen nach Erfahrungssätzen notwendigen oder hinreichenden Ursachen ist abzuwägen, welche von ihnen die rechtlich Wesentliche ist.
- 34
-
Bei der Überzeugungsbildung des Tatsachengerichts genügt für die Feststellung des naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachenzusammenhangs der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit (stRspr BSG vom 2.2.1978 - 8 RU 66/77 - BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr 38 S 105 f; BSG vom 30.4.1985 - 2 RU 43/84 - BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr 1 S 3 f). Dieser ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht; allein die Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs genügt dagegen nicht (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 20; BSG vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 3).
- 35
-
3. a) Aus den gleichen Gründen kann der Senat nicht entscheiden, ob der Kläger einen Anspruch auf Verletztenrente hat.
- 36
-
Gemäß § 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls - hier des anerkannten Arbeitsunfalls vom 13.1.1997 - über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert (MdE) ist, Anspruch auf Rente. Die Höhe der Rente richtet sich ua nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII).
- 37
-
Auch insoweit wird das LSG zu prüfen haben, ob eine MdE "infolge" des Arbeitsunfalls besteht. Hierfür gelten die oben zu 2. dargelegten Grundsätze entsprechend.
- 38
-
b) Sollte das LSG in dem erneuten Berufungsverfahren einen Anspruch auf Verletztenrente nach § 56 Abs 1 SGB VII bejahen, wird zu beachten sein, dass dieser erst am Tag nach Erlöschen des dem Kläger bewilligten Rechts auf Verletztengeld beginnen kann.
- 39
-
Zwar kann der Anspruch auf Verletztenrente - anders als das LSG meint - grundsätzlich bereits am Tag nach dem Versicherungsfall beginnen, wenn bereits zu diesem Zeitpunkt feststeht, dass eine MdE über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus vorliegen wird (zB bei Verlust eines Körperteils) und ein gesetzlich vorrangiger Anspruch nicht besteht.
- 40
-
Hier hat das LSG seine Entscheidung aber unter Verletzung von § 72 Abs 1 Nr 1 SGB VII getroffen. Nach dieser Vorschrift beginnt ein Rentenanspruch erst, nachdem der Anspruch auf Verletztengeld geendet hat. Renten werden danach an Versicherte erst von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem der Anspruch auf Verletztengeld geendet hat. Nach dem Wortlaut der Vorschrift kommt es nicht darauf an, ob Verletztengeld gezahlt worden ist, sondern darauf, ob ein Anspruch auf diese Leistung bestand. Die Regelung verfolgt den Zweck, Doppelleistungen aus dem System der GUV, insbesondere den zeitgleichen Bezug von Verletztengeld und Verletztenrente, zu vermeiden.
- 41
-
Für die vom Kläger geführte Anfechtungs- und Leistungsklage wegen Verletztenrente ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich. Zu diesem Zeitpunkt stand und steht zwischen den Beteiligten durch Verwaltungsakt bindend fest, dass der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Verletztengeld vom Unfalltag durchgehend bis 30.9.2002 hat. Eine mögliche Verletztenrente (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII) kann daher erst nach dem 30.9.2002, also nach dem Ende des Zeitraums beginnen, für den Verletztengeld zustand (§ 72 Abs 1 Nr 1 SGB VII; § 74 Abs 2 SGB VII ist nicht anwendbar, da der Anspruch auf Verletztengeld nicht aufgrund einer erneuten Arbeitsunfähigkeit infolge Wiedererkrankung eingetreten ist; siehe dazu Kranig in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 74 RdNr 13).
- 42
-
4. Da das Urteil des LSG aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen worden ist, bedarf es keiner Entscheidung mehr über die Frage, ob die Beklagte zulässige und begründete Verfahrensrügen gegen das Urteil des LSG erhoben hat.
- 43
-
5. Das LSG hat mit der im wiedereröffneten Berufungsverfahren zu treffenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden. Dabei wird ggf zu berücksichtigen sein, dass dem Kläger eine Verletztenrente nicht - wie begehrt - ab Juli 1997, sondern erst ab 1.10.2002 zusteht.
Tenor
-
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. Dezember 2010 wird zurückgewiesen.
-
Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
- 1
-
Streitig ist, ob der Kläger die Feststellung eines Arbeitsunfalls wegen des Ereignisses vom 7.4.2003 beanspruchen kann.
- 2
-
Der 1953 geborene Kläger war bei der Firma H. als Kraftfahrer beschäftigt. Am 7.4.2003 hatte er den Auftrag, Waren von M. aus zur Firma C. in B. zu transportieren. Er fuhr gegen 1.00 Uhr in M. ab, kam gegen 2.30 Uhr in der Umgebung von B. an. Nachdem sich C morgens bei H nach dem Verbleib der Ware erkundigt hatte, kam der Kläger gegen 9.30 Uhr bei C in B. an. Nach dem Abladevorgang bewegte er sich mit einem Hämatom am Kopf langsam taumelnd. Beim Eintreffen des Rettungssanitäters zeigte er sich desorientiert und bewusstseinsgetrübt. Ferner zeigte er einen schwankenden Gang und konnte keine adäquaten Angaben zum vorangegangenen Geschehen machen. Bei der notärztlichen und der anschließenden stationären Behandlung in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. vom 7. bis 29.4.2003 bestand hinsichtlich des Geschehenen eine vollständige Amnesie. Diagnostiziert wurden ein schweres Schädel-Hirn-Trauma unklarer Genese, eine Kalottenfraktur okzipital, multiple Einblutungen fronto-basal rechts, ein passagerer Verwirrtheitszustand, ein hirnorganisches Psychosyndrom, eine retrograde Amnesie und eine chronische Bronchitis bei Nikotinabusus.
- 3
-
Die Beklagte gewährte dem Kläger Heilbehandlung und ab 20.5.2003 Verletztengeld. Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten führte am 4.6.2003 Telefongespräche mit dem Inhaber der H sowie einem Mitarbeiter E des Betriebs, bei dem der Kläger die Waren entladen sollte. Nach weiteren Ermittlungen verfügte die Beklagte unter dem 6.8.2004 die Einstellung der Zahlung des Verletztengeldes mit Ablauf des 27.9.2004. Mit dem Eintritt der Arbeitsfähigkeit sei nach Ablauf der 78. Woche nach dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit nicht mehr zu rechnen, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben seien derzeit nicht zu erbringen.
- 4
-
Der Kläger beantragte am 31.8.2004 Verletztenrente. Die Beklagte zahlte ihm im Oktober 2004 auf die "voraussichtlich zu gewährende Unfallentschädigung" einen Vorschuss in Höhe von 300 €. Dieser stehe unter dem Vorbehalt späterer Rückforderung, falls sich herausstelle, dass keine oder eine geringere Leistungspflicht bestehe. Auf das klägerische Schreiben vom 16.3.2005 zahlte die Beklagte unter dem Vorbehalt späterer Rückforderung auf die "voraussichtlich zu gewährende Unfallentschädigung" einen weiteren Vorschuss von 1700 €.
- 5
-
Mit Bescheid vom 24.6.2005 lehnte die Beklagte eine Entschädigung aus Anlass des Ereignisses vom 7.4.2003 ab. Es lasse sich nicht feststellen, dass sich der Kläger seine Kopfverletzung bei einer versicherten Tätigkeit zugezogen habe. Ein zu entschädigender Arbeitsunfall sei nicht erwiesen. Die Vorschüsse auf Leistungen in Höhe von 2000 € seien zu erstatten. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1.2.2006 zurückwies.
- 6
-
Der Kläger hat beim SG Heilbronn Klage erhoben. Er habe seinen Arbeitstag am 7.4.2003 wie immer begonnen, wenn er mit seinem Lkw in Richtung B. gefahren sei. Bei diesen Fahrten sei er gegen 1.00 Uhr zum Betrieb in M. gefahren, habe Lkw und Ladung kontrolliert und habe sich dann auf den Weg in Richtung B. gemacht. Wie üblich habe er die Absicht gehabt, einen vor R. gelegenen Parkplatz anzufahren, auf dem er üblicherweise bei dieser Tour stehe. Von dort zur Abladestation in B. betrage die Fahrtzeit ca 20 Minuten.
- 7
-
Mit Urteil vom 3.3.2009 hat das SG "den Bescheid der Beklagten vom 24.6.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006" aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, das Ereignis vom 7.4.2003 als Arbeitsunfall festzustellen. Als der Kläger die versicherte Tätigkeit aufgenommen habe, sei er noch gesund gewesen. Bei der Ankunft an der Entladestelle habe er sich Verletzungen zugezogen gehabt, die aus einem Unfall resultieren müssten. Es lasse sich nicht nachweisen, dass der Kläger die versicherte Tätigkeit zwischen 1.00 Uhr und 9.30 Uhr für eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit unterbrochen habe.
- 8
-
Gegen das Urteil des SG hat die Beklagte beim LSG Berufung eingelegt. Das Urteil überzeuge nicht, da nicht nachgewiesen sei, dass der Kläger zur Zeit der Gesundheitsschädigung eine versicherte Tätigkeit verrichtet habe. Das LSG hat mit Urteil vom 9.12.2010 (L 6 U 2656/09) das Urteil des SG aufgehoben und die Klagen abgewiesen. Dass sich der Nachweis der Ausübung einer versicherten Tätigkeit zum Zeitpunkt des Unfalls nicht führen lasse, gehe nach dem Grundsatz der materiellen Beweislast zu Lasten des Versicherten. Verunglücke ein Versicherter unter ungeklärten Umständen an seinem Arbeitsplatz, an dem er zuletzt betriebliche Arbeit verrichtet habe, entfalle der Versicherungsschutz zwar nur, wenn bewiesen werde, dass er die versicherte Tätigkeit im Unfallzeitpunkt für eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit unterbrochen habe (unter Hinweis auf BSG vom 26.10.2004 - B 2 U 24/03 R - BSGE 93, 279 = SozR 4-2700 § 8 Nr 9; BSG vom 4.9.2007 - B 2 U 28/06 R - veröffentlicht in Juris). Diese Voraussetzungen seien hier nicht gegeben, denn es lasse sich nicht feststellen, dass der Kläger an seinem Arbeitsplatz, an dem er zuletzt die versicherte Tätigkeit verrichtet habe, verunglückt sei. Der Kläger habe am Unfalltag nicht ausschließlich betriebliche, sondern auch eigenwirtschaftliche Zwecke verfolgt. So habe er von vornherein beabsichtigt, auf einem Parkplatz eine 4 bis 4,5 Stunden dauernde Pause einzulegen, die er nach den Ermittlungen auch eingelegt habe. Die Einlegung einer nicht versicherten Pause führe "zu einer Beweislastumkehr" dergestalt, dass nicht die Beklagte die Beweislast dafür trage, dass der Kläger die versicherte Tätigkeit im Unfallzeitpunkt für eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit unterbrochen habe, sondern der Kläger die Beweislast dafür trage, dass er nicht während einer eigenwirtschaftlichen Unterbrechung verunfallt sei.
- 9
-
Gegen das Urteil des LSG hat der Kläger Revision eingelegt. Es verletze §§ 7, 8 SGB VII, indem es zu Unrecht davon ausgehe, dass der vorliegende Fall von den Konstellationen abweiche, die den Entscheidungen des BSG vom 4.9.2007 (B 2 U 28/06 R) und vom 26.10.2004 (B 2 U 24/03 R) zu Grunde lagen. Bei der von ihm eingelegten Pause handle es sich nicht um eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit. Vielmehr sei er zur Einhaltung von Ruhezeiten normativ verpflichtet. Er sei darin frei, sich die Ruhezeiten nach eigener Planung einzuteilen. Die Ungewissheit darüber, unter welchen Umständen er sich die Verletzungen zugezogen habe, gehe zu Lasten der Beklagten.
- 10
-
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. Dezember 2010 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 3. März 2009 zurückzuweisen.
- 11
-
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 12
-
Der Vollbeweis dafür, dass der Kläger einen Unfall in Ausübung der versicherten Tätigkeit erlitten habe, sei nicht erbracht worden.
Entscheidungsgründe
- 13
-
Die zulässige Revision des Klägers, mit der er die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Ereignisses vom 7.4.2003 als Arbeitsunfall begehrt, ist unbegründet.
- 14
-
Das LSG hat das Urteil des SG im Ergebnis zu Recht aufgehoben und die Klagen abgewiesen (1.). Vorliegend können nicht die "Beweiserleichterungen" gelten, die der Senat angenommen hat, wenn ein Versicherter am Arbeitsplatz und in engem zeitlichem Zusammenhang mit einer versicherten Verrichtung einen Gesundheitsschaden oder den Tod erleidet (2.). Es findet keine "Beweislastumkehr" zu Lasten des Klägers statt (3.). Ein Arbeitsunfall ist auch nicht nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins festzustellen (4.).
- 15
-
1. Der Versicherte kann vom zuständigen Unfallversicherungsträger nach § 102 SGB VII die Feststellung eines Versicherungsfalles, hier eines Arbeitsunfalles, beanspruchen, wenn ein solcher eingetreten ist(vgl BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - SozR 4-2700 § 11 Nr 1 RdNr 15 f). Einen Arbeitsunfall hat der Kläger aber nach den für das BSG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht erlitten.
- 16
-
Nach § 8 Abs 1 S 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Abs 1 S 2). Für einen Arbeitsunfall ist danach im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls einer versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung wesentlich ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis (Unfallereignis) verursacht hat (Unfallkausalität) und das Unfallereignis wesentlich einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität) (vgl BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 10/11 R - zur Veröffentlichung vorgesehen; BSG vom 18.1.2011 - B 2 U 9/10 R - BSGE 107, 197 = SozR 4-2700 § 2 Nr 17 RdNr 10; BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 27/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 30 RdNr 10 mwN).
- 17
-
Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt für die Beweiswürdigung der Tatsacheninstanzen bei der Tatsachenfeststellung, dass die Tatsachen, die die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung zur Zeit des Unfalls", "Unfallereignis" sowie "Gesundheitsschaden" erfüllen sollen im Grad des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen müssen. Demgegenüber genügt für den Nachweis der naturphilosophischen Ursachenzusammenhänge zwischen diesen Voraussetzungen der Grad der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die Glaubhaftmachung und erst Recht nicht die bloße Möglichkeit (vgl BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4 mwN). Das BSG ist an die Feststellung nicht nur dieser Tatsachen, sondern auch an die eines naturphilosophischen Kausalzusammenhangs durch das LSG grundsätzlich gebunden, falls - wie hier - keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen gegen die dabei zu Grunde gelegten Tatsachenfeststellungen erhoben werden und materiellrechtlich nicht ersichtlich ist, dass das LSG die rechtlichen Vorgaben für diesen ersten Schritt der Kausalitätsbeurteilung verkannt hat. Zu einer eigenständigen beweiswürdigenden Tatsachenfeststellung ist das BSG nur in seltenen, hier nicht einschlägigen Ausnahmesituationen befugt. Demgegenüber ist die Entscheidung über die Wesentlichkeit eines naturphilosophischen Kausalzusammenhangs im Einzelfall eine reine Rechts- und Rechtsanwendungsfrage.
- 18
-
Eine "Verrichtung zur Zeit des Unfalls", die unter einen gesetzlichen Versicherungstatbestand zu subsumieren wäre, ist nicht erwiesen. Nach den vom LSG bindend festgestellten Tatsachen ist weder nachgewiesen noch nachweisbar, dass der Kläger die Gesundheitsschäden bei der Ausübung einer Tätigkeit erlitten hat, die in einem sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stand. Danach steht schon nicht fest, ob der Gesundheitsschaden am 7.4.2003 oder vorher entstanden ist. Weiter ist nicht nachgewiesen, ob, wenn die Gesundheitsschädigung am 7.4.2003 zwischen 1.00 Uhr und 9.30 Uhr entstand, diese während der Zeiten der Verrichtung von Kraftfahreraufgaben oder während einer mehrstündigen Erholungspause eintrat. Als abhängig beschäftigter Kraftfahrer hätte er zur Zeit der Schädigung eine nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versicherte Tätigkeit nur verrichtet, wenn er Haupt- oder Nebenpflichten aus dem Beschäftigungsverhältnis erfüllt hätte oder eine nicht geschuldete Handlung mit der objektivierten Handlungstendenz vorgenommen hätte, seine vertraglichen Pflichten zu erfüllen. Es steht aber nur fest, dass er am Unfalltag um 1.00 Uhr die Ausübung der versicherten Tätigkeit als Kraftfahrer aufgenommen hat und dass bei ihm gegen 9.30 Uhr erhebliche Gesundheitsschäden vorgelegen haben. Allerdings war nicht feststellbar, welche versicherten und nicht versicherten Verrichtungen der Kläger in der Zwischenzeit ausgeführt hat.
- 19
-
Die Anspruchsvoraussetzungen für die Feststellung eines Arbeitsunfalls iS des § 8 Abs 1 SGB VII sind deshalb nicht erfüllt.
- 20
-
2. Das LSG hat bei seiner Entscheidung nicht verkannt, dass bei der Beweiswürdigung der rechtliche Beweismaßstab des Vollbeweises bei der Prüfung der versicherten Tätigkeit eines Beschäftigten auch dann erfüllt sein kann, wenn ein Versicherter an dem Arbeitsplatz, an dem er zuletzt versicherte Tätigkeiten verrichtet hatte, aus ungeklärten Umständen einen Gesundheitsschaden oder den Tod erleidet, falls keine konkret festgestellten Tatsachen Zweifel daran begründen, dass er auch noch zur Unfallzeit versichert gearbeitet hat (teilweise als "Beweiserleichterung" bezeichnet).
- 21
-
Der Senat hat in der Entscheidung vom 4.9.2007 (B 2 U 28/06 R - Juris RdNr 22) folgende Maßstäbe aufgestellt: "Die Ungewissheit darüber, aus welchen Beweggründen V (Anm: der Versicherte) … 10 bis 20 Minuten auf der Plattform verblieben ist und was er dort getan hat, geht zu Lasten der Beklagten. Denn sie trägt bei der gegebenen Sachlage die objektive Beweislast dafür, dass der Verunglückte sich während der versicherten Baustelleneinrichtung vorübergehend einer anderen, privaten Zwecken dienenden Verrichtung zugewandt hatte."
- 22
-
Ähnlich führte er schon im Urteil vom 26.10.2004 (B 2 U 24/03 R - BSGE 93, 279 = SozR 4-2700 § 8 Nr 9)aus: "Verunglückt ein Versicherter unter ungeklärten Umständen an seinem Arbeitsplatz, wo er zuletzt betriebliche Arbeit verrichtet hatte, so entfällt der Versicherungsschutz nur dann, wenn bewiesen wird, dass er die versicherte Tätigkeit im Unfallzeitpunkt für eine eigenwirtschaftliche Verrichtung unterbrochen hatte." Der Entscheidung lag ein Sachverhalt zu Grunde, bei dem ein Versicherter mit einem Arbeitskollegen auf einem Dach Arbeiten verrichtete und nach einer 15 bis 30 Minuten dauernden Abwesenheit des Kollegen von dem Dach abgestürzt war.
- 23
-
Die Umstände des vorliegenden Falls unterscheiden sich - wie das LSG zutreffend herausgearbeitet hat - von den Konstellationen, die den Entscheidungen des BSG vom 4.9.2007 (B 2 U 28/06 R) und vom 26.10.2004 (B 2 U 24/03 R - BSGE 93, 279 = SozR 4-2700 § 8 Nr 9) zu Grunde lagen. Beiden Entscheidungen lag ein Sachverhalt zu Grunde, in dem jeweils die Aufnahme einer versicherten Tätigkeit nachgewiesen war und die Versicherten aus nicht zu klärenden Umständen in einem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz zu einem bekannten Zeitpunkt Unfälle erlitten hatten. "Beweiserleichterungen" nach den og Urteilen kommen daher nur in Betracht, wenn der Versicherte den räumlichen Bereich, in dem er zuletzt die versicherte Tätigkeit verrichtet hat, nicht verlassen und er dort kurz zuvor versicherte Tätigkeiten verrichtet hat (so auch Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand Mai 2011, K § 8 RdNr 340; derselbe in jurisPR-SozR 12/2005 Anm 5).
- 24
-
Daran fehlt es hier. Es ist völlig offen, wann genau, wo und bei welcher Gelegenheit der Kläger sich seine Verletzungen zugezogen hat. Vergleichbar liegt der Fall des Klägers mit denjenigen, die den oben genannten Urteilen zu Grunde lagen, nur insoweit, als auch der Kläger unter ungeklärten Umständen erhebliche Gesundheitsschäden erlitten hat. Vorliegend erstreckt sich aber der Zeitraum zwischen der Aufnahme der versicherten Tätigkeit (1.00 Uhr), einer Pause von 2.30 Uhr bis 9.00 Uhr bis zur Wahrnehmung bestehender Gesundheitsschäden (gegen 9.30 Uhr) auf mehr als acht Stunden. Für diese Zeitspanne ist unklar, wann die Schädigung stattgefunden hat und welchen konkreten versicherten und nichtversicherten Verrichtungen der Kläger nachgegangen ist. Der Zeitraum, in dem die Einwirkung möglicherweise erfolgte, übersteigt sogar die zeitliche Dauer einer Arbeitsschicht, die als Grenze gilt, bis zu der das Merkmal "zeitlich begrenzt" in § 8 Abs 1 S 2 SGB VII noch erfüllt werden kann(stRspr BSG vom 30.5.1985 - 2 RU 17/84 - SozR 2200 § 548 Nr 71; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand Mai 2011, K § 8 RdNr 12 f).
- 25
-
Auch in örtlicher Hinsicht ist offen, ob der Kläger die Verletzungen am Arbeitsplatz, zB in seinem Fahrzeug, oder an einem Ort erlitten hat, den er bedingt durch die versicherte Tätigkeit aufsuchen musste, oder an einem zu eigenwirtschaftlichen Verrichtungen aufgesuchten Ort, zB einem Rasthof.
- 26
-
Das LSG hat die Nichtfeststellbarkeit der Verrichtung der versicherten Beschäftigung auch unter Berücksichtigung der rechtlichen Möglichkeit geprüft, dass die vom Kläger einzuhaltenden und zwingend vorgeschriebenen Ruhezeiten Teil der versicherten Tätigkeit wären (vgl zu Ruhe- und Lenkzeiten der Kraftfahrer: Art 6 f EGV Nr 561/2006; unbeschadet der EGV gilt für Fahrer in einem Arbeitsverhältnis auch das ArbZG, insbesondere § 21a; vgl auch BAG vom 20.04.2011 - 5 AZR 200/10). Hier kann offenbleiben, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Kraftfahrer bei der Einhaltung von Ruhe-, Lenk- und Standzeiten eine versicherte Tätigkeit verrichtet. Denn das LSG hat bindend festgestellt, dass vorliegend eine betriebliche Notwendigkeit - wie etwa einzuhaltende Lenkzeiten - für die gewählte Pausengestaltung nicht ersichtlich ist. Im Übrigen hat der Senat in dem mehrfach zitierten Urteil vom 26.10.2004 (B 2 U 24/03 R - aaO RdNr 8) bereits darauf verwiesen, dass ein Versicherter, der während einer Arbeitspause oder während eines Bereitschaftsdienstes einer höchst persönlichen oder eigenwirtschaftlichen Verrichtung nachgeht, ebenso wenig versichert ist, wie ein Versicherter, der während der normalen Arbeitszeit eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit einschiebt. In beiden Fällen wird die versicherte Tätigkeit unterbrochen.
- 27
-
3. Eine "Umkehr der Beweislast" zu Lasten des Klägers oder eine "Rückausnahme", wie das LSG meint, liegt nicht vor.
- 28
-
Das LSG ist unzutreffend davon ausgegangen, dass die hier vorliegenden Umstände, ausgehend von den Entscheidungen des Senats eine "Beweislastumkehr" zu Lasten des Klägers bewirken. Vielmehr bleibt es bei den allgemeinen Regeln der materiellen Beweislast. Danach trägt derjenige, der ein Recht - hier Feststellung eines Arbeitsunfalls - für sich beansprucht, nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Ermittlung die materielle Beweislast für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen dieses Rechts (stRspr; vgl BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196, 198 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17 RdNr 10 mwN; BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 27/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 30 RdNr 10 mwN). Bei Tatsachen, die das LSG nur mit dem Überzeugungsgrad des Vollbeweises feststellen darf, schaden rein theoretische Zweifel, die immer vorliegen können, ohnehin nicht (Erforderlich ist "ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit" so Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 32. Aufl 2011, § 286 RdNr 2 mwN). Die in den oben zitierten Entscheidungen sehr unspezifisch als "Beweiserleichterungen" (zu dem Begriff vgl Greger in Zöller, ZPO, 29. Aufl, Vor § 284 RdNr 25 f) bezeichneten Ausnahmesituationen zeichnen sich dadurch aus, dass weder eine Unterbrechung der versicherten Tätigkeit zur Unfallzeit noch konkrete Hilfstatsachen dafür festgestellt sind. Folglich könnten nur aus der Unaufklärbarkeit der Umstände des Einzelfalles Zweifel an der (weiteren) Verrichtung der versicherten Tätigkeit bis zur Unfallzeit entstehen. Solche Zweifel aber, die sich nicht auf festgestellte Tatsachen stützen lassen, können auch nur rein theoretischer Natur sein.
- 29
-
4. Das LSG hätte, worauf nur beiläufig hinzuweisen ist, die Verrichtung der versicherten Beschäftigung zur Unfallzeit auch nicht wegen eines Anscheinsbeweises feststellen müssen.
- 30
-
Beim Beweis des ersten Anscheins handelt es sich um eine Tatsachenvermutung. Bei typischen Geschehensabläufen erlaubt er den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs oder eines schuldhaften Verhaltens aufgrund von Erfahrungssätzen, auch wenn im Einzelfall entsprechende Tatsachen nicht festgestellt werden können (Greger in Zöller, ZPO, 29. Aufl, Vor § 284 RdNr 29). Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte kann also der Geschehensablauf zu Grunde gelegt werden, als habe er sich in der typischen Weise ereignet. Erforderlich ist ein Hergang, der nach der Lebenserfahrung unabhängig von den Umständen des Einzelfalls und dem Willen der handelnden Personen in einer bestimmten Weise abzulaufen pflegt und deshalb auch im zu entscheidenden Fall als gegeben unterstellt werden kann (s dazu: Keller aaO; BSG SozR 5670 Anl 1 Nr 2102 Nr 2 S 2). Es kann offenbleiben, ob und in welchen Fällen ein Beweis des ersten Anscheins für den Überzeugungsgrad des Vollbeweises ausreichen kann.
- 31
-
Dementsprechend wird auch für einzelne Voraussetzungen des Arbeitsunfalls, wie zB die Unfallkausalität, die Möglichkeit des Anscheinsbeweises bejaht (dazu BSG vom 30.1.2007 - B 2 U 23/05 R - BSGE 98, 79 = SozR 4-2700 § 8 Nr 22, RdNr 15; vgl auch Bolay in Hk-SGG, 3. Aufl 2009, § 128 RdNr 12; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 128 RdNr 9 ff). Vorliegend kann ein Anscheinsbeweis schon mangels eines typischen Geschehensablaufs nicht den Nachweis begründen, dass ein Unfallereignis bei der "Verrichtung einer versicherten Tätigkeit zur Unfallzeit" eingetreten ist. Neben einer feststellbaren Unfallzeit fehlt es auch an einem Erfahrungssatz des Inhalts, dass Beschäftigte im Transportgewerbe (außerhalb von Verkehrsunfällen) bei Ausübung ihrer Tätigkeit Einwirkungen ausgesetzt sind, die zu Verletzungen der vom Kläger erlittenen Art führen.
- 32
-
Nach alledem ist die Revision des Klägers gegen das Urteil des LSG zurückzuweisen.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 11.11.2011 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen
1
Tatbestand:
2Streitig ist, ob der Kläger von der Beklagten aufgrund eines am 20.12.2006 erlittenen Arbeitsunfalls Rente beanspruchen kann.
3Der Kläger wurde während seiner Tätigkeit als Ordnungsamtssachbearbeiter für den ruhenden Straßenverkehr am 20.12.2006 von einem PKW angefahren. Ausweislich des Polizeiberichts vom 20.12.2007 hatte der Kläger sich um 11:27 Uhr telefonisch bei der Polizei gemeldet, weil der Fahrer eines PKW "gerade dabei sei, ihn über den Haufen zu fahren". Nachdem er seinen Standort genannt habe, sei das Telefonat abrupt beendet worden. Laut der Unfallanzeige der Stadt S vom 15.01.2007 hatte der Kläger nach eigenen Angaben eine Verwarnung für ein vor einem Behindertenparkplatz parkendes Fahrzeug ausgestellt und war dabei, ein Foto anzufertigen, als der Fahrer des Fahrzeugs zurückkehrte und es zum Streit kam. In dessen Verlauf sei der PKW-Fahrer in sein Fahrzeug gestiegen, habe mit voll eingeschlagener Lenkung zurückgesetzt und dabei den auf dem Gehweg stehenden Kläger mit dem rechten Kotflügel am rechten Knie getroffen. Der Kläger sei infolge des Anpralls nach vorne auf die Haube des PKW gestürzt. Er habe einen Riss in der Kniescheibe, starke Schmerzen beim Beugen des Knies und beim Gehen sowie Albträume und Angstzustände, denn er habe einen Fall rücklings auf die stark befahrene Hauptstraße nur mit Mühe vermeiden können.
4Der H-Arzt Dr. N diagnostizierte am 20.12.2006 eine Knieprellung rechts. Die Allgemeinärztin Dr. M erstattete anlässlich einer Untersuchung des Klägers am 27.12.2006 eine Unfallmeldung. Danach bestand eine Schwellung und deutliche Bewegungseinschränkung des rechten Knies bei Kniegelenksprellung rechts und posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). Der Kläger sei psychisch noch sehr erregt. Der am 08.01.2007 aufgesuchten Unfallchirurgin und Durchgangsärztin Dr. W1 berichtete der Kläger über Schmerzen im rechten Knie. Mangels sichtbarer knöcherner Verletzung im Röntgenbild diagnostizierte sie eine Distorsion des rechten Knies. Eine von ihr veranlasste Kernspinuntersuchung ergab dann jedoch eine Patellafraktur mit begleitendem Knorpelschaden und Zerrung/Dehnung des äußeren Kollateralbandes. Aufgrund eines kleinen Begleitergusses konnte ein außerdem vorgefundener Längsriss des Innenmeniskushinterhorns bei deutlich vorgeschädigtem Meniskus nicht ausgeschlossen werden. Dr. W1 wertete in ihrem Bericht vom 08.03.2007 die Patellafraktur und den "winzigen Längsriss" im Innenmeniskushinterhorn bei deutlicher degenerativer Vorschädigung als traumabedingt. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) werde über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus nicht verbleiben. Die Beklagte zahlte Verletztengeld für die Zeit vom 20.12.2006 bis zum Ende der Arbeitsunfähigkeit am 11.02.2007.
5Am 24.01.2007 wandte sich der Kläger an die Beklagte, weil er psychotherapeutische Behandlung benötige. Die Beklagte zog ein Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse bei, aus dem sich keine Arbeitsunfähigkeitszeiten in der Vergangenheit wegen Erkrankungen des Knies oder der Psyche ergaben. Die von ihm auf Vorschlag der Beklagten aufgesuchte psychologische Psychotherapeutin Dr. E fasste das Ergebnis fünf probatorischer Sitzungen am 05.03.2007 dahingehend zusammen, dass bei dem Kläger eine PTBS (ICD 10 F 43.1: Typ I - kurzdauernde traumatische Ereignisse leichter Ausprägung) mit leichter spezifischer Phobie und Vermeidungsverhalten in der Unfallfolge bestehe. Eine psychologische Testung habe unauffällige Werte im Hinblick auf Angst, Depression oder Verfälschungstendenzen ergeben. Der Kläger vermeide trotz wiedererlangter Arbeitsfähigkeit am 12.02.2007 den Außendienst mit Feststellung von falschem Parken. Eine Besserung zeichne sich nach Konfrontationen zum Abbau von Phobien ab, weitere Behandlung sei aber erforderlich. Der Kläger werde nach eigenen Angaben die Vorstellung nicht los, er habe vielleicht auch nach rückwärts in den fließenden Verkehr fallen können. Diese Vorstellung tauche manchmal nachts in seinen Albträumen auf, in denen er sich immer wieder in den fließenden Verkehr fallen sehe.
6Bei anhaltenden Kniebeschwerden wurde am 21.08.2007 eine weitere Kernspintomographie durchgeführt. Neben der von ihr nicht als Unfallfolge gewerteten degenerativen Innenmeniskusläsion erkannte Dr. W1 eine Knorpelschädigung mit diskret beginnender Retropatellararthrose, die aufgrund ihrer Lage dem Unfall zuzurechnen sei. Eine Funktionsbeeinträchtigung bestehe nicht, damit auch keine MdE. Nach vorzeitigem Abschluss einer Kurzzeittherapie berichtete Dr. E am 28.10.2007, dass der Kläger nicht mehr an Angstzuständen leide und auch sonstige relevante vegetative oder Trauma-Symptome nicht mehr aufträten. Das Schlafverhalten sei noch nicht vollständig, aber weitgehend normalisiert.
7Am 29.11.2007 teilte der seit dem 26.11.2007 wieder arbeitsunfähige Kläger der Beklagten mit, dass er sich entgegen Dr. E nicht in der Lage sehe, seinen Beruf als Verkehrsüberwacher weiter auszuüben. Am 27.11.2007 wurde sein Arbeitsverhältnis betriebsbedingt zum 31.03.2008 gekündigt.
8Vom 07.12.2007 bis 11.12.2007 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung im N-Krankenhaus C wegen eines Grand-mal-Anfalls, den der Kläger zu Hause während des Essens gehabt habe. Nach dem Entlassungsbericht sei von einem Gelegenheitsanfall auf der Grundlage eines beim Kläger bestehenden Diabetes auszugehen. Der Beklagten teilte der Kläger am 13.02.2008 mit, er führe alle seine Beschwerden auf den Unfall zurück. Zwar sei es ihm zwischenzeitlich besser gegangen, nun aber wieder schlechter. Am 30.11.2007 sei gegen den Unfallverursacher verhandelt worden, der sei aber in Berufung gegangen. Die Unstimmigkeiten mit dem Unfallverursacher und dem Arbeitgeber machten ihn krank und hätten auch den Anfall verursacht.
9Vom 27.02. bis 09.04.2008 befand sich der Kläger stationär in der Abteilung Psychosomatik/Psychotherapie der X-Klinik Bad X. Im dortigen Entlassungsbericht heißt es, der Kläger habe sich durch das Verhalten des Unfallverursachers extrem bedroht und sehr hilflos gefühlt; hieraus resultiere die aktuell noch bestehende posttraumatische Symptomatik, die aufgrund der daraus resultierenden Arbeitslosigkeit zu einer weiteren Destabilisierung und Herabsetzung des Selbstwertgefühls geführt habe. Private Belastungen, wie die zweimalige Operation der Ehefrau nach einem Hirntumor vor vier Jahren und der Einsatz für einen 19 Monate alten schwerbehinderten Enkel habe er nach eigenen Angaben gut verkraftet. Als eigenes Anliegen habe der Kläger den Umgang mit Depressionen und möglichen Zusammenhängen zu belastenden Erlebnissen und der Lebensgeschichte beschrieben. Der Kläger wurde mit den Diagnosen PTBS, Adipositas (140 kg / 186 cm), Diabetes mellitus, div. Allergien, Psoriasis vulgaris arbeitsunfähig und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht vollschichtig leistungsfähig entlassen.
10Die Beklagte zog die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft L bei und holte ein Aktenlagegutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. C vom 12.05.2008 ein. Dr. C hielt das Unfallereignis für geeignet, eine PTBS auszulösen, die allerdings nur noch in einer leichten Teilsymptomatik vorliege. Es sei schwierig zu beurteilen, inwieweit der Unfall an der aktuellen psychischen Symptomatik noch einen Anteil habe. Es bestehe weiterhin unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit für voraussichtlich insgesamt 78 Wochen, im Anschluss daran werde keine rentenberechtigende MdE verbleiben, da eine PTBS in der Regel in ein bis zwei Jahren überwunden werde.
11Die Beklagte zahlte Verletztengeld ab 07.01.2008 bis zum Beginn einer von der gesetzlichen Rentenversicherung rückwirkend ab 01.06.2008 gezahlten Erwerbsminderungsrente am 12.08.2008.
12Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie G behandelte den Kläger am 25.06.2008 und diagnostizierte Angst und Depression gemischt mit Schlafstörungen, Angst- und Panikattacken (F 41.2). Die Stimmung sei deutlich ängstlich getönt, der Patient aggravierend. Eine ambulante Behandlung über 50 Stunden zur Reduktion der ängstlich-depressiven Symptome sei angezeigt.
13Am 08.09.2008 erlitt der Kläger beim Sturz von einem Fahrradergometer ein Schädel-Hirn-Trauma Grad III mit Schädelbasisfraktur und multiplen Mittelgesichtsfrakturen. Ab 29.09.2008 war der Kläger bei der Ärztin für Psychiatrie K in Behandlung, die auf ihrem Fachgebiet die Diagnosen PTBS (F 43.1), rez. z.Zt. schwere dekompensierte agitierte depressive Störung (F 32.3), Angst und depressive Störung gemischt (F 41.2), generalisierte Angsterkrankung (F 41.1), depressive Störung mit somatischen Symptomen (F 33.11), psychogene Umkehr des Tag-/Nacht-Rhythmus (F 51.2), Organphobie (Herzangst) mit Panikattacken (F 41.0), nicht organische Insomnie (F 51.0), Erschöpfungssyndrom (F 48.0), sowie hirnorganisches Anfallsleiden, einmalig Grand mal (G 40.6) stellte. Der Kläger sei weiterhin nicht arbeitsfähig.
14Die Beklagte holte ein nervenärztliches Gutachten des Facharztes für Nervenheilkunde, Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. Dr. X (vom 07.12.2009) mit klinisch-psychologischem Zusatzgutachten vom 06.11.2009 der Dipl. Psychologin S ein. Letztere kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger nach dem Unfall vom 20.12.2006 eine Anpassungsstörung entwickelt habe, dass aber die aktuell beklagten Symptome eher nicht mehr im Rahmen dieser Anpassungsstörung und damit unfallabhängig zu interpretieren seien, sondern es vielmehr zu einer Verschiebung der Wesensgrundlage auf der Basis vorbestehender finanzieller Probleme mit Privatinsolvenz 2006, sowie unbefriedigender beruflicher und persönlicher Situation gekommen sei, in deren Rahmen das Unfallgeschehen inzwischen funktionalisiert werde. Dr. Dr. X stellte bei dem Kläger eine unfallunabhängige Agoraphobie mit Panikstörung, einen Z.n. (Zustand nach) Grand-mal-Anfall und Schädel-Hirn-Trauma Grad III mit Schädelbasisfrakturen und multiplen Mittelgesichtsfrakturen und nachfolgend aufgetretenen kognitiven Leistungseinschränkungen, eine Übergewichtigkeit, einen Diabetes mellitus, einen Z.n. Divertikulitis-Operation 2002, einen Z.n. Schilddrüsenentfernung 2009 sowie eine zurückgebildete Anpassungsstörung fest. Folgen des Unfalls vom 20.12.2006 lägen nach zwischenzeitlicher Rückbildung der Anpassungsstörung nicht vor. Die MdE liege unter 10 v.H. Wegen des Ergebnisses der Begutachtung im Übrigen wird auf die beiden genannten Gutachten Bezug genommen.
15Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 01.03.2010 den Unfall des Klägers vom 20.12.2006 als Arbeitsunfall und als dessen Folge einen folgenlos ausgeheilten Riss der Kniescheibe rechts und eine vollständig zurückgebildete Anpassungsstörung an. Unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit habe bis zum 17.06.2008 bestanden. Eine MdE in rentenberechtigendem Grade habe nicht über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus bestanden.
16Hiergegen legte der Kläger am 08.03.2010 Widerspruch ein. Der kausale Zusammenhang zwischen dem Unfall und der daraus entstandenen Arbeitssituation (Mobbing) sei den Daten eindeutig zu entnehmen. Am 30.11.2007 sei das verkehrsrechtliche Urteil gegen den Verursacher gesprochen worden, die Einspruchsfrist sei bis 07.12.2007 gelaufen. Aufgrund seiner Vermutung, der Verursacher werde den Widerspruch einlegen und seiner damals schon bestehenden Depression habe er am Abend des 07.12.2007 einen totalen Zusammenbruch erlitten, der letztlich zum Aufenthalt in der X-Klinik und zur Berentung geführt habe. Im Schwerbehindertenverfahren sei ihm von dem neur./psych. Sachverständigen des Sozialgerichts Köln ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 attestiert worden. Offenbar sei das Gutachten von Dr. Dr. X nicht neutral. Es enthalte auch zahlreiche Fehler.
17Am 09.03.2010 wandte sich die behandelnde Psychiaterin K nach Beendigung der Heilbehandlung durch die Beklagte an diese. Der Ablehnungsbescheid der Beklagten habe den Kläger in eine akute suizidale Krise geführt, die sie nur durch eine ausführliche telefonische Intervention und Verordnung von Tavor® habe stabilisieren können. Die Behandlung seit dem 29.09.2008 sei durch laufende Verwaltungs- und Gerichtsverfahren erschwert worden, weshalb weder der gewünschte Therapieerfolg erzielt, noch ein schriftlicher Bericht über die Behandlung habe erstellt werden können. Wegen der Notwendigkeit der Fortführung der Medikation und des zu ihr bestehenden Vertrauensverhältnisses sei ein Behandlungsabbruch kontraproduktiv, zumal durch die Verordnung eines Therapiehundes eine Stimmungsverbesserung gelungen sei.
18Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers unter Bezugnahme auf die von ihr eingeholten Gutachten zurück (Bescheid vom 21.05.2010). Der im Schwerbehindertenverfahren von dem Neurologen und Psychiater Dr. H festgestellte GdB von 40 sei nicht auf die unfallrechtliche MdE übertragbar.
19Hiergegen hat der Kläger am 28.05.2010 Klage erhoben.
20Der Kläger hat vorgetragen, in dem Gutachten von Dr. H sei der kausale Zusammenhang klar dargelegt. Er hat einen Entlassungsbericht der X-Klinik aus einem erneuten Heilverfahren dort vom 26.05.2010 bis 23.06.2010 vorgelegt, wo er mit den Diagnosen PTBS, kombinierte narzisstisch-anankastische Persönlichkeitsstörung, insulinpflichtiger Diabetes, Adipositas, Hypothyreose und Strumektomie als auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeitsunfähig entlassen worden war. Testpsychologisch hatten sich auffällige Werte in der Depressionsskala und ADS-K und der Borderline Symptom Checkliste BSL ergeben. Der Kläger leide nach eigenen Angaben stark unter Intrusionen, allgemein auf Italien bezogen, weil der Täter Italiener gewesen sei und versuche, sich durch ausgeprägtes Vermeidungsverhalten zu stabilisieren. Er habe sich in der Unfallsituation extrem bedroht und hilflos gefühlt. Hieraus resultiere die aktuell noch bestehende posttraumatische Symptomatik, die aufgrund der bestehenden Arbeitslosigkeit zu einer weiteren Destabilisierung und Herabsetzung des Selbstwertgefühles geführt habe. Hinzu komme die instabile und narzisstische Persönlichkeit. Die andauernden Verfahren trügen zur Aufrechterhaltung der Symptomatik bei, gleichzeitig sei der starke Wunsch des Patienten nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung nachvollziehbar.
21Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Beiziehung der Klageakten des SG Köln (S 31 SB 137/08) im Schwerbehindertenverfahren mit den darin enthaltenen Gutachten des Orthopäden Dr. U vom 12.02.2009, des Neurologen, Psychiaters und Psychotherapeuten Dr. H vom 24.03.2009 und des Facharztes für Innere Medizin - Geriatrie, Rheumatologie, Psychotherapie - Dr. L. Auf den Inhalt der genannten Gutachten wird Bezug genommen. Bei Dr. H, dessen Auftrag keine Kausalitätsfragen umfasste, gab der Kläger an, er sei in der Unfallsituation emotional eher ruhig geblieben, seine Probleme seien erst im Anschluss daran in sich steigernder Form aufgetreten. Auf der Erlebnis- und Bewertungsebene zeige sich, so Dr. H, ein sehr komplexes, sehr schwierig in herkömmlichen Rastern zu fassendes Bild. Der sehr geradlinige, mit sehr hohem Gerechtigkeitsanspruch ausgestattete Kläger sei durch das Ereignis im Dezember 2006 erheblich in seiner sozialen Integrität gestört worden. Es zeigten sich inzwischen zusätzlich deutliche Zeichen einer Verbitterung aufgrund zusätzlicher Traumatisierung durch das als inadäquat empfundene Verhalten des Arbeitgebers. Bei dem Kläger bestehe eine Reaktion auf schwere Belastung (ICD 10 F 43.8) mit diffusen, zum Teil zentrierten Ängsten, Labilisierung der Affektlage, sozialem Rückzug und ausgeprägten Schlafstörungen. Der GdB betrage insoweit 40. Eine PTBS liege in Ermangelung des sog. "A-Kriteriums" nicht vor. Der einmalige hirnorganische Anfall lasse ein Dauerleiden nicht erwarten und verursache keinen GdB.
22Das Sozialgericht hat sodann ein Sachverständigengutachten eingeholt von Dr. W, Arzt für Neurologie und Psychiatrie im St. F-Krankenhaus in W, vom 13.04.2011. Auf den Inhalt des Gutachtens wird Bezug genommen. Dr. W sah die Eingangskriterien für eine PTBS in keiner Weise als erfüllt an. Weder habe sich der Kläger bei dem Unfall ernst oder gar lebensbedrohlich verletzt, noch habe er sich im Zustand der Hilflosigkeit befunden. Bezüglich auch den Unfall einbeziehender Albträume sei die Symptomatik einer PTBS nicht erfüllt. Die nachfolgenden affektiven Auslenkungen seien ganz wesentlich auf die rechtlichen Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber und dem Unfallgegner zurückzuführen. Zwar gebe es keinen Anhalt für eine vorbestehende psychische Erkrankung des Klägers. Es sei allerdings spätestens im Jahre 2008 zu einer mittlerweile rezidivierend und phasenhaft verlaufenden, zeitweilig schwergradigen, aber unfallunabhängigen depressiven Störung gekommen.
23Der Kläger hat gegen das Gutachten eingewandt, ob man seine Erkrankung PTBS oder anders nenne, sei für die Klage nicht erheblich. Der Zusammenhang ergebe sich ohne weiteres aus dem Zeitablauf (Ereignis am 20.12.2006, Erkrankung daraus bis Februar 2007, danach auftretende Lügen des Unfallverursachers, Mobbing und massive Drohungen seitens des Arbeitgebers, psychische Überlastung mit Grand-mal-Anfall im Zusammenhang mit dem verkehrsrechtlichen Verfahren gegen den Verursacher, Kündigung durch den Arbeitgeber, spätestens ab 2008 schwergradige depressive Störungen, wie von Dr. W bestätigt).
24Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
25die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 01.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2010 zu verurteilen, ihm eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
26Die Beklagte hat beantragt,
27die Klage abzuweisen.
28Sie hat sich auf das Gutachten von Dr. Dr. X bezogen. Es sei nach Abklingen der Anpassungsstörung zu einer Verschiebung der Wesensgrundlage insoweit gekommen, als die Erkrankung des Klägers durch unfallunabhängige Belastungsfaktoren - anhaltende Arbeitslosigkeit, Zukunftsängste, laufende Privatinsolvenz, Belastungen im familiären Umfeld, Schädelbasisfraktur mit neurochirurgischer Operation 2008 - aufrecht erhalten werde.
29Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 11.11.2011, dem Kläger zugestellt am 18.11.2011, abgewiesen und ist in seiner Begründung im Wesentlichen Dr. W gefolgt. Auf die Entscheidungsgründe des sozialgerichtlichen Urteils wird verwiesen.
30Mit seiner am 13.12.2011 eingegangenen Berufung trägt der Kläger vor, es habe bei dem Unfall durchaus die Möglichkeit einer lebensbedrohlichen Verletzung gegeben, wenn er nämlich nicht nach vorne auf die Motorhaube, sondern nach hinten mit dem Kopf in den fließenden Verkehr auf der vorbeiführenden Straße gefallen wäre. Diese Möglichkeit der Fallrichtung habe in einem verkehrsrechtlichen Verfahren ein anderes Gutachten anhand einer Rekonstruktion des Unfalls mit Fotodokumentation bestätigt. Ab Oktober 2007 hätten seine schon zuvor vorhandenen Albträume, in denen er in den fließenden Verkehr falle, wieder zugenommen. Die PTBS sei nach März 2007 nicht weggefallen, sondern durch verschiedene berufliche Vorgänge nur vorübergehend unterdrückt worden. Der Verlauf der Erkrankung sei dann durch Mobbing im Beruf und die anstehenden Verhandlungen wieder sehr verstärkt worden und habe sich dann am 07.12.2007 in seinem körperlichen Zusammenbruch entladen. Das Gutachten sei nicht verwertbar, da er unter Medikamenten gestanden habe.
31Der Kläger beantragt schriftlich sinngemäß,
32das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 11.11.2011 zu ändern und nach seinem erstinstanzlich gestellten Antrag zu entscheiden.
33Die Beklagte beantragt,
34die Berufung zurückzuweisen.
35Sie hält insbesondere die Gutachten der Sachverständigen Dr. W und Dr. Dr. X für überzeugend.
36Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme von Dr. W vom 15.05.2012 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, der Unfall des Klägers sei nicht mit der Möglichkeit einer lebensbedrohlichen Verletzung einhergegangen. Die vom Kläger beschriebenen Albträume seien nicht mit der Symptomatik einer PTBS in Einklang zu bringen. Bei der bei dem Kläger aufgetretenen Depression handele es sich um eine schicksalhaft aufgetretene Erkrankung, wie sie nach epidemiologischen Erkenntnissen bei 10 bis 15% der Bevölkerung auftrete.
37Auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG hat der Senat sodann ein Gutachten der weiterhin behandelnden Psychiaterin K eingeholt. Auf den Inhalt des Gutachtens vom 04.03.2013 wird Bezug genommen. Frau K ist zusammenfassend zu dem Ergebnis gekommen, dass Dr. W die beschreibenden Texte zur PTBS im ICD 10 und im DSM-IV falsch interpretiere, da schon alleine die - von ihr hier bejahte - Möglichkeit einer todbringenden Verletzung die Kausalität begründen könne. Da ihrer Ansicht nach die Kausalität bewiesen sei, der Kläger die Symptome einer PTBS in voller Ausprägung aufweise und keine anderen traumatischen Ereignisse in dieser Zeit erlitten habe, die geeignet gewesen wären, eine PTBS auszulösen, sei die Auffassung von Dr. W widerlegt. Der Grad der MdE liege in Anwendung der GdB-Tabelle bei 60% (entsprechend der Einschätzung einer Teilerwerbsfähigkeit in der Reha) bis einschließlich Juni 2010, danach bei 100% (volle Erwerbsminderung im zweiten Reha-Bericht der X-Klinik). Die Beklagte hat sich von Neurologin und Psychiaterin Dr. X1 beraten lassen, die die Auffassung vertreten hat, dass das Gutachten der Sachverständigen K wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genüge, wesentliche formale Inhalte - wie etwa eine Anamnese - vermissen lasse und eher ein Plädoyer für den Kläger und für ihre als behandelnde Ärztin seit 2008 gestellte Diagnose einer PTBS darstelle. Auch die Ermittlung des Grades der MdE lasse mangelnde Erfahrung der Sachverständigen in der Beurteilung von Unfallfolgen erkennen. Bei dem Kläger sei als Unfallfolge eine abgeklungene Anpassungsstörung nach Kniegelenksverletzung rechts vorhanden, die - in Übereinstimmung mit Dr. Dr. X und Dr. W - keine MdE bedinge.
38In einer ergänzenden Stellungnahme vom 31.07.2013 hat die Sachverständige K mitgeteilt, sie habe bisher noch keine Erfahrung mit Gutachten für Sozialgerichte und hat eine Anamnese nachgereicht. Die Bezeichnung ihres Gutachtens als Plädoyer für den Versicherten und Begründung ihrer Diagnose empfinde sie als unangemessen, da sie den Kläger wegen dieser Diagnose behandele und dementsprechend auch alle entsprechenden Symptome aufführen müsse. Hingegen hätten die übrigen Sachverständigen den Kläger jeweils nur wenige Stunden gesehen, in denen er zudem hochdosiert unter Beruhigungsmitteln gestanden habe. Das Argument, dass für den Kläger keine lebensbedrohende Situation bestanden habe, sei nicht haltbar, da er für Sekundenbruchteile tatsächlich in Gefahr gewesen sei, rückwärts unter den rollenden Verkehr zu geraten. Die Todesangst dieses Moments wiederhole sich seither in allen Flashbacks und Albträumen des Klägers. Der sei weiterhin nicht in der Lage, den Ortsteil aufzusuchen, in dem er dem Verursacher begegnen könnte und leide weiterhin unter im Einzelnen näher beschriebenen anhaltenden Symptomen erhöhter psychischer Sensitivität und Erregung. Dies seien eindeutig Kriterien einer PTBS. Die Kausalität sei gegeben, da der Kläger vor dem Unfall nie psychisch auffällig war und "alle Beschwerden sich eindeutig auf diesen Vorfall ziehen und somit als Unfallfolge anzusehen" seien.
39Auch Dr. W hat unter dem 26.09.2013 ergänzend Stellung genommen und kritisiert, dass die Sachverständige K mögliche konkurrierende Ursachen gar nicht diskutiere. Ihre Bewertung der Symptomatik teile er nicht. Die von ihr nachgereichte Anamnese enthalte keine Hinweise auf körperliche oder nervenärztliche Gesundheitsstörungen.
40In seinen Stellungnahmen zum Beweisergebnis vertritt der Kläger die Auffassung, die Sachverständige K kenne ihn als behandelnde Ärztin am besten und sei deshalb besonders geeignet, ein Gutachten über ihn zu erstatten. Er legt ein Strafurteil des Amtsgerichts C vom 30.11.2007 vor, das den Unfallverursacher wegen fahrlässiger Körperverletzung und Unfallflucht zu einer Geldstrafe verurteilt hat.
41Außerdem hat der Kläger ein in seinem Zivilverfahren gegen den Verursacher erstattetes psychiatrisches Gutachten von Dr. L, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik L vom 20.08.2013 mit testpsychologischem Zusatzgutachten von Prof. Dr. T vom 23.04.2013 vorgelegt. Prof. Dr. T hat ausgeführt, im Rahmen der Persönlichkeitsdiagnostik zeige der Kläger eine Tendenz, Items wahllos mit "Richtig" zu beantworten. Es ergäben sich Hinweise darauf, dass er ungünstige Aspekte seines Erlebens und Verhaltens dissimuliere. Hohe Werte auf den sog. Seltenheitsskalen wiesen auf eine auffällig übertreibende Darstellung von Symptomen hin. Der Kläger übertreibe seine Beschwerden und seine psychopathologischen Symptome in extremem Maße. Die Beschreibung seines Selbsterlebens falle allenthalben zufällig und unplausibel aus. Auch in der Kontrollskalenauswertung im MMPI ("Minnesota Multiphasic Personality Inventory", einer der weltweit am häufigsten verwendeten Persönlichkeitstests in der klinischen Psychologie und Psychiatrie) ergebe sich eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger sein Leiden übertreibe. Auf der FBS-Skala, deren Sensitivität für die Übertreibung neurokognitiver und somatischer Beschwerden im MMPI im Rahmen von Gerichtsverfahren in einer beachtlichen Anzahl von Veröffentlichungen beschrieben werde, erreiche der Kläger einen höheren Wert als alle 2600 Teilnehmer der angelsächsischen Normstichprobe. Der Rohwert des Klägers sei so hoch, dass eine Vergleichbarkeit mit klinischen Stichproben wie Depression, Psychose oder PTBS praktisch ausgeschlossen sei. In der sog. Ds-Skala produziere der Kläger eine Antworttendenz, die durch stereotype Vorstellungen über psychiatrische Erkrankungen geleitet sei. In allen psychopathologischen Skalen zeige sich eine extrem große Diskrepanz zwischen deren "offensichtlichen" und "subtilen" Anteilen zugunsten der ersteren, so dass der Verdacht erheblicher, motivierter Aggravation unübersehbar sei. Inhaltlich sei nicht davon auszugehen, dass die Angaben des Klägers seinem wahren Erlebnishintergrund entsprächen. Im Persönlichkeits-Pathologie-Fragebogen (DAPP-BQ) nach Livesley erreiche der Kläger auf der sog. "Lügen-Skala" einen hohen Wert - von 95% der Altersgruppe wären in diesem Verfahren ehrlichere Antworten zu erwarten. Der Befund weise außerdem auf starke Tendenzen, die eigenen psychopathologischen Symptome zu übertreiben und soziale Auffälligkeiten zu dissimulieren. Zusammenfassend zeige der Kläger in der psychologischen Testung bei überdurchschnittlicher Primärintelligenz hochgradige Unplausibilitäten bei der Beschreibung seiner subjektiven Erlebnisse. Er habe in den Fragebogen in untypischer Weise somatische, emotional-instabile, paranoide, affektive und psychotische Beschwerden dargestellt, so dass sich in klinisch unplausibler Weise generalisiert in fast allen psychopathologischen Diagnosekategorien extrem auffällige Normabweichungen beobachten ließen, die nur schwer auf einem realen Erlebnishintergrund erklärbar seien.
42Demgegenüber hat Prof. Dr. L im Hauptgutachten zusammenfassend die Schilderung des Klägers als glaubhaft gewertet und eine erhebliche Funktionseinschränkung im Berufsleben und im gesamten Lebensbereich mit ausgeprägtem Vermeidungsverhalten, sozialem Rückzug, Interessenverlust und Schlafstörungen als gegeben angesehen. Der Kläger hatte dort angegeben, am Tag nach dem Unfall habe sich bei ihm die Vorstellung entwickelt, er habe auch nach hinten in den fließenden Verkehr fallen können. Zwar liege mangels eines ausreichend schwerwiegenden Unfallereignisses keine PTBS bei dem Kläger vor, jedoch seien die Diagnosekriterien einer Anpassungsstörung erfüllt, wobei die lange Dauer der Erkrankung eine Änderung der klassifikatorischen Einordnung des Syndroms als "mittelschwer agitierte Depression, depressive Störung mit somatischen Symptomen" entsprechend der Vordiagnose durch die behandelnde Psychiaterin erforderlich mache. Ein Zusammenhang mit dem Unfall müsse angenommen werden, so dass bei dem Kläger Gesundheitsstörungen bestünden, die ursächlich im Sinne der Entstehung auf das Unfallgeschehen zurückzuführen seien und durch berufliche, finanzielle und andere belastende psychosoziale Belastungsfaktoren wie laufende Prozessverfahren aufrechterhalten würden. Letztere seien nicht verursachend, trügen aber zur Chronifizierung bei.
43Vom Senat erneut um ergänzende Stellungnahme gebeten, hat Dr. W unter dem 29.03.2014 dem Gutachten von Prof. Dr. L eine detaillierte Würdigung vermeintlich traumatisierender Folgen des Ereignisses vom 20.12.2006 nicht entnehmen können. Den Ergebnissen der Zusatzbegutachtung werde kaum Beachtung geschenkt.
44Schließlich hat der Kläger ein Gutachten zur Unfallrekonstruktion für das Landgericht Köln durch Dipl.-Ing. N vom 26.07.2011 vorgelegt, aus dem sich ergibt, dass bei der vom Kläger beschriebenen Rückwärtsfahrt seines Unfallgegners die erlittene Knieverletzung zwanglos möglich war. Nach den der Rekonstruktion beigefügten Lichtbildern erfolgte der Anstoß in paralleler Richtung zur noch durch einen 3 Meter breiten Fahrradweg von der Fahrbahn getrennten Hauptstraße. Da der Anstoß des Fahrzeuges unterhalb des Körperschwerpunktes des Klägers erfolgt sei, sei der Kläger auf die Motorhaube des Fahrzeugs "aufgeladen" worden.
45Dazu angehört, dass nach dem Gutachten die Fallrichtung nur nach vorne auf die Motorhaube gerichtet sein konnte, hat der Kläger eingewandt, er habe, wenn er sich nur eine Zehntelsekunde früher bewegt hätte, nach hinten in den fließenden Verkehr fallen können.
46Mit vom Kläger vorgelegtem Urteil vom 11.02.2014 hat das Landgericht Köln den Unfallgegner des Klägers verurteilt, diesem für erlittene Unfallschäden Schadenersatz zu leisten. Dabei hat es nach mündlicher Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. L zu den Unfallfolgen auch die beim Kläger bestehende Depression gezählt. Ausweislich seiner in dem landgerichtlichen Urteil, das insoweit in Bezug genommen wird, wiedergegebenen mündlichen Angaben hat sich Prof. Dr. L dahingehend eingelassen, dass das testpsychologische Gutachten von Dr. T trotz der festgestellten Simulationstendenzen seine Einschätzung nicht widerlege. Der Kläger sei bereits zweimal zuvor testpsychologisch untersucht worden. Während Ende 2007 Dr. E valide Testergebnisse erhoben habe, hätten sich bei der Befragung im Heilverfahren in der X-Klinik 2010 bereits auffällige Ergebnisse gezeigt. Insoweit sei es plausibel, dass der Kläger aufgrund des lange dauernden Prozesses ein Bedürfnis gehabt habe, seinen Leidensdruck massiv zu dokumentieren und seine Beschwerden übertrieben darzustellen. Die klinischen Schilderungen seien für sich betrachtet immer stimmig gewesen, so dass aus dem Gutachten von Prof. Dr. T nicht auf Übertreibungen und Simulationen auch in der Vergangenheit geschlossen werden könne. Dies könne zwar nicht ausgeschlossen werden, da aber sämtliche dokumentierten Vorgänge und klinischen Umstände in sich stimmig seien, komme er zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger aufgrund des Unfalls die geschilderten psychologischen Folgen aufgetreten seien und nicht lediglich simuliert würden.
47Entscheidungsgründe:
48Der Senat kann über die Berufung entscheiden, obwohl die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend und nicht vertreten waren, da sie in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden waren.
49Die gemäß §§ 143 und 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, nach § 151 SGG frist- sowie formgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
50Der Kläger, dessen Erwerbsfähigkeit aus keinem anderen Arbeitsunfall oder wegen Berufskrankheit um wenigstens 10 v.H. gemindert ist, hat keinen Anspruch auf Verletztenrente wegen der Folgen des anerkannten Arbeitsunfalls vom 20.12.2006. Der diesen Anspruch ablehnende Bescheid der Beklagten vom 01.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2010 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Bei dem Kläger sind als Unfallfolgen eine ausgeheilte Kniegelenksverletzung rechts und eine abgeklungene Anpassungsstörung vorhanden, die über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus keine MdE um wenigstens 20 v.H. verursacht haben. Der Senat hat sich nicht davon überzeugen können, dass daneben weitere Erkrankungen des Klägers auf neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet mit Wahrscheinlichkeit auf das Ereignis vom 20.12.2006 zurückzuführen sind. Zu Recht hat die Beklagte deshalb einen rentenberechtigenden Grad der MdE verneint.
51Als Rechtsgrundlage für einen Anspruch des Klägers auf Rente kommen §§ 7, 8 und 56 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) in Betracht. Danach sind Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII), also auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
52Für die Feststellung eines Arbeitsunfalls ist erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer beziehungsweise sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem Unfallereignis als einem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität). Für die Gewährung von Verletztenrente ist erforderlich, dass länger andauernde Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens entstanden sind (haftungsausfüllende Kausalität) und eine hierdurch bedingte MdE um mindestens 20 v. H. erreicht wird.
53Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Art und das Ausmaß des Unfallereignisses, der Gesundheitserstschaden und die hierdurch verursachten länger andauernden Unfallfolgen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. Lässt sich ein Nachweis nicht führen, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der materiellen Beweislast zu Lasten des Versicherten.
54Für die haftungsbegründende und die haftungsausfüllende Kausalität, welche nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen sind, ist grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit, ausreichend, aber auch erforderlich. Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht, so dass auf diesen Grad der Wahrscheinlichkeit vernünftigerweise die Entscheidung gestützt werden kann und ernste Zweifel ausscheiden. Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen. Dies schließt eine Prüfung ein, ob ein Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, eine bestimmte körperliche oder seelische Störung hervorzurufen.
55Nach der Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs beziehungsweise Gesundheitsschadens abgeleitet werden. Wenn es mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen gibt, ist sozialrechtlich allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende Ursache es auch war, ist unerheblich. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange keine andere Ursache eine überragende Bedeutung hat. Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur diese Ursache/n "wesentlich" und damit Ursachen im Sinne des Sozialrechts.
56Gesichtspunkte für die Beurteilung der besonderen Beziehung einer versicherten Ursache zum Erfolg sind neben der versicherten Ursache beziehungsweise dem Ereignis als solchem, einschließlich der Art und des Ausmaßes der Einwirkung, die evtl. konkurrierende Ursache unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, der zeitliche Ablauf des Geschehens, ferner das Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, die Befunde und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie die gesamte Krankengeschichte. Ergänzend kann der Schutzzweck der Norm heranzuziehen sein.
57Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Es gibt keine Beweisregel des Inhalts, dass bei fehlender Alternativursache das angeschuldigte Ereignis die Ursache ist oder dass die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellte versicherte Ursache im naturwissenschaftlichen Sinn automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexem Krankheitsgeschehen zu einer Beweislastumkehr führen würde.
58Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze (vgl. zum Vorstehenden BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R; BSG, Urteil vom 24.07.2012 - B 2 U 9/11 R) hat der zum Unfallzeitpunkt unter Versicherungsschutz stehende Kläger aufgrund des anerkannten Arbeitsunfalls vom 20.12.2006 keinen Anspruch auf die Gewährung von Verletztenrente.
59Zwischen den Beteiligten steht aufgrund des Bescheides der Beklagten vom 01.03.2010 fest, dass der Kläger am 20.12.2006 bei versicherter Tätigkeit einen in die Verbandszuständigkeit der Beklagten fallenden Arbeitsunfall und als dessen Folge (mindestens) einen folgenlos ausgeheilten Riss der Kniescheibe rechts und eine vollständig zurückgebildete Anpassungsstörung erlitten hat. Diese Gesundheitsschäden bedingen über die 26. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus keine rentenberechtigende MdE um wenigstens 20 v.H. Weitere Unfallfolgen, die in der Gesamtschau zu einer solchen MdE führen, sind nicht festzustellen.
60Gesundheitserstschäden, also abgrenzbare Gesundheitsschäden, die unmittelbar durch die versicherte Verrichtung objektiv und rechtlich wesentlich verursacht sind (BSG, Urteil vom 24.07.2012 - B 2 U 9/11 R) liegen beim Kläger über die Kniescheibenverletzung und die abgelaufene Anpassungsstörung hinaus nicht vor, insbesondere keine Gesundheitsschäden auf neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet.
61Voraussetzung für die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge ist zunächst die Feststellung der konkreten Gesundheitsstörungen, die bei dem Verletzten vorliegen und seine Erwerbsfähigkeit mindern und zwar aufgrund eines der üblichen Diagnosesysteme und unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen, damit die Feststellung nachvollziehbar ist (BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 40/05 R, B 2 U 1/05 R, B 2 U 26/04 R).
62Bei Anwendung dieser Grundsätze hat sich der Senat nicht davon überzeugen können, dass bei dem Kläger eine PTBS vorliegt, wie dies insbesondere Dr. K in ihren Befundberichten und in ihrem Gutachten, aber auch die Hausärztin Dr. M, die Ärzte der X-Klinik und die behandelnde Psychologin Dr. E vertreten haben. Dr. Dr. X, Dr. W, Dr. H und Prof. Dr. L haben diese Diagnose verneint, weil es an dem sog. "A-" bzw. "A1-Kriterium" fehle. Dies überzeugt den Senat, weil sich die Sachverständigen für ihre Auffassung auf die einschlägigen Diagnosemanuale stützen können. Hierbei ist nach gegenwärtigem Stand der Wissenschaft noch auf die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme - 10. Revision - (ICD 10) und das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen - Textrevision - (DSM-IV-TR) zurückzugreifen. Auch das zwischenzeitlich seit Mai 2013 als Nachfolger des DSM-IV-TR in englischer Sprache vorliegende diagnostische und statistische Manual 5. Auflage (DSM-5) stützt aber dieses Ergebnis.
63Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich - soweit Diagnosesysteme in deutscher Sprache vorliegen - um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 43.1 beziehungsweise DSM-IV-TR 309.81 (zum DSM-5 siehe unten). Nach ICD-10 F 43.1 besagt das sog. Traumakriterium (A-Kriterium) folgendes: Die posttraumatische Belastungsstörung entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Nach DSM-IV-TR 309.81 gilt hinsichtlich des A-Kriteriums: Das Hauptmerkmal der posttraumatischen Belastungsstörung ist die Entwicklung charakteristischer Symptome nach der Konfrontation mit einem extrem traumatischen Ereignis. Das traumatische Ereignis beinhaltet unter anderem das direkte persönliche Erleben einer Situation, die mit dem Tod oder der Androhung des Todes, einer schweren Verletzung oder einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit zu tun hat (Kriterium A1). Die Reaktion der Person auf das Ereignis muss intensive Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen umfassen (Kriterium A2). Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.
64Zwar zog der Arbeitsunfall mit der Verletzung des rechten Knies eine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit des Klägers nach sich. Die vergleichsweise wenig beeinträchtigende Knieverletzung des Klägers kann aber einer außergewöhnlichen Bedrohung katastrophenartigen Ausmaßes im Sinne des ICD-10 nicht gleichgesetzt werden. Es handelte sich auch nicht um das Erleben einer Situation, die mit der Androhung des Todes, einer schweren Verletzung oder einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit zu tun gehabt hat, so dass auch das Kriterium A1 nach DSM-IV-TR nicht erfüllt ist. Denn nicht jede erlebte Körperverletzung genügt, um dieses Kriterium zu erfüllen. Vielmehr muss es sich - wie es zum DSM-IV-TR 309.81 unter dem Stichwort "Differentialdiagnose" heißt - um ein Ereignis extremer, z.B. lebensbedrohlicher Natur handeln. Die Knieverletzung des Klägers erfüllte dieses Ausmaß der Verletzung oder Bedrohung bei weitem nicht. Bei dem Kläger bestand ausweislich der Unfallrekonstruktion durch Dipl.-Ing. N auch zu keinem Zeitpunkt die Gefahr, nach hinten über die verbleibende Breite des Radwegs hinaus in den fließenden Verkehr zu fallen. Denn aufgrund der Anstoßhöhe und -richtung kam nach dessen für den Senat gut nachvollziehbarer und überzeugender Darstellung nur eine Fallrichtung nach vorne auf die Motorhaube des rückwärtsfahrenden PKW des Unfallverursachers in Frage, also in von der Straße abgewandter Richtung. Der Kläger hatte nach eigenen Angaben auch im Zeitpunkt des Unfalls noch nicht - wie von der behandelnden Psychiaterin K unterstellt - die panische Sorge, nach hinten auf die Straße zu fallen, sondern die - unter Berücksichtigung der Unfallrekonstruktion realitätsferne - Vorstellung der Möglichkeit eines solchen Unfallverlaufs entwickelte sich bei ihm erst im Laufe des folgenden Tages.
65Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht aufgrund des bisher erst in englischer Sprache vorliegenden Diagnosesystems DSM-5. Dazu kann vorliegend offen bleiben, ob dieses Manual mangels einer autorisierten deutschen Übersetzung schon hinreichende Grundlage für gutachtliche Empfehlungen und wissenschaftlich begründete Gutachten sein kann (verneinend: Stevens/Fabra, Die Begutachtung der Posttraumatischen Belastungsstörung, VersMed 2013, 191 ff.). Denn auch nach DSM-5 (sinngemäß nach den nicht autorisierten Übersetzungen bei Dressing/Foerster, Der Nervenarzt 2014, 279, 283; Stevens/Fabra, VersMed 2013, 191, 193) erfordert das A-Kriterium, dass der Betroffene tatsächlich ausgesetzt ist - oder bedroht wird durch - Tod, schwerwiegende Verletzung oder sexuelle Gewalt im Wege des direkten Erlebens eines dieser traumatischen Ereignisse (bzw. - hier nicht einschlägig - unter bestimmten Voraussetzungen als Ersthelfer, Augenzeuge oder Empfänger der Nachricht), eine Voraussetzung, die bei der zunächst als bloße Prellung missdeuteten und dann alsbald verheilten Fraktur der Kniescheibe des Klägers nicht in der erforderlichen Schwere gegeben ist.
66Allerdings hat der Kläger aufgrund des Arbeitsunfalls eine Anpassungsstörung erlitten, die sich jedoch im Laufe der deshalb sogar vorzeitig beendeten Behandlung durch Dr. E kontinuierlich gebessert hatte und schließlich abgeklungen war. Ausweislich des Berichts von Dr. E vom 28.10.2007 litt der Kläger nicht mehr an Angstzuständen und auch sonstige relevante vegetative oder Trauma-Symptome traten nicht mehr auf. Es ist deshalb für den Senat überzeugend, wenn Dr. Dr. X und Dr. W eine rentenberechtigende MdE über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus verneinen.
67Hinsichtlich der beim Kläger später neu aufgetretenen Beschwerden fehlt es zur Überzeugung des Senats bereits am naturwissenschaftlichen Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen. Dabei kann offen bleiben, aus welcher genauen alternativen Ursache die beim Kläger in der weiteren Folge aufgetretenen psychischen, als Depression und Angststörung diagnostizierten Erkrankungen entstanden sind. Zwar kann grundsätzlich ohne klare Feststellung der naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhänge hinsichtlich der geltend gemachten Gesundheitsstörung keine zuverlässige Ursachenbeurteilung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung in Abwägung der verschiedenen Gesichtspunkte für die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Ursache erfolgen; andernfalls könnten die Ereignisse und Ursachen nicht zueinander in Verhältnis gesetzt und nicht in die Krankheitsgeschichte des Verletzten eingeordnet werden (BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 26/04 R). Der Senat entnimmt aber dem insoweit überzeugend und nachvollziehbar begründeten Gutachten von Dr. W, dass die psychische Erkrankung des Klägers nach epidemiologischen Erkenntnissen bei 10 bis 15% der Bevölkerung schicksalhaft, also ohne klare kausale Zuordnung zu einem auslösenden Ereignis auftritt. Der Senat hält schon deshalb - aus den nachstehend erläuterten Gründen - die von Dr. Dr. X in seinem für die Beklagte erstellten Gutachten vom 07.12.2009 vertretene und von Dr. W bestätigte Auffassung für plausibel, dass diese Symptome des Klägers eher nicht mehr im Rahmen der unfallbedingten Anpassungsstörung sondern als unfallunabhängig zu interpretieren seien. Er ist aber darüber hinaus davon überzeugt, dass jedenfalls angesichts des zeitlichen Ablaufs der Erkrankung des Klägers andere konkurrierende Ursachen in den Vordergrund getreten sind, die zumindest im Sinne der von Dr. Dr. X gesehenen "Verschiebung der Wesensgrundlage" nach dem 28.10.2007 die allein wesentlichen Ursachen für die beim Kläger aufgetretenen psychischen Gesundheitsschäden sind. Denn erst mit einigem zeitlichen Abstand nach der wieder eingetretenen Arbeitsfähigkeit des Klägers im Februar 2007 traten von diesem als Mobbing bezeichnete Unstimmigkeiten am Arbeitsplatz auf, die in eine "betriebsbedingte" Kündigung des daraufhin seit dem 26.11.2007 wieder arbeitsunfähigen Klägers am 27.11.2007 mündeten. Zwei Tage später, am 29.11.2007, teilte der Kläger mit, dass er sich entgegen Dr. E nicht in der Lage sehe, seinen Beruf als Verkehrsüberwacher weiter auszuüben. Wieder wenige Tage später, am 07.12.2007, erlitt der Kläger einen Grand-mal-Anfall. Die Annahme von Dr. Dr. X, der insoweit eine Verschiebung der Wesensgrundlage sieht, zu der es auf der Basis zusätzlicher vorbestehender finanzieller Probleme mit Privatinsolvenz nach einer gescheiterten Investition in den neuen Bundesländern 2006, sowie unbefriedigender beruflicher und (auch aufgrund gesundheitlicher Schicksalsschläge bei Familienmitgliedern) persönlicher Situation gekommen sei, in deren Rahmen das Unfallgeschehen funktionalisiert werde, ist vor dem Hintergrund dieses Geschehensablaufs überzeugend. Dr. K, die mögliche alternative Krankheitsursachen beim Kläger bei ihrer Begutachtung völlig ausblendet, kann sich der Senat deshalb nicht anschließen. Auch Prof. Dr. L vermag der Senat nicht zu folgen, soweit dieser bei seiner mündlichen Anhörung vor dem Zivilgericht zwar einerseits zugestanden hat, dass angesichts des testpsychologischen Zusatzgutachtens von Prof. Dr. T Übertreibungen und Simulationen des Klägers auch in der Vergangenheit nicht ausgeschlossen werden könnten und dass der Kläger ein Bedürfnis gehabt habe, seinen Leidensdruck massiv zu dokumentieren und seine Beschwerden übertrieben darzustellen, andererseits aber die klinischen Schilderungen des Klägers für sich betrachtet immer als "stimmig" angesehen hat. Dies mag auf die Krankheitssymptomatik zutreffen, auch wenn entgegen Prof. Dr. L vor der von diesem angeführten psychologischen Testung 2010 in der X-Klinik Psychiaterin G schon am 25.06.2008 Auffälligkeiten in der Beschwerdeschilderung des Klägers feststellte. Dies begründet aber nicht zugleich eine Plausibilität der Kausalitätsvorstellungen des Klägers. Dessen eigene Darstellung des Kausalzusammenhangs anhand des Zeitablaufs ("Ereignis am 20.12.2006, Erkrankung daraus bis Februar 2007, danach auftretende Lügen des Unfallverursachers, Mobbing und massive Drohungen seitens des Arbeitgebers, psychische Überlastung mit Grand-mal-Anfall im Zusammenhang mit dem verkehrsrechtlichen Verfahren gegen den Verursacher, Kündigung durch den Arbeitgeber, spätestens ab 2008 schwergradige depressive Störungen, wie von Dr. W bestätigt") belegt eher, dass die Beschwerden des Klägers, soweit sie erlebnisfundiert sind, nicht auf dem Unfall, sondern auf den für ihn ungünstigen Rahmenbedingungen, nämlich den als Mobbing empfundenen Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber und dem Unfallverursacher, sowie auf der Verschlechterung seines eigenen Gesundheitszustandes (Grand mal, Trainingsunfall) in der Zeit danach gründen.
68Der Grand-mal-Anfall des Klägers im Dezember 2007 steht in keinem Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall und wäre auch anderenfalls kein eine MdE verursachendes Dauerleiden, da es sich nach dem Entlassungsbericht des N-Krankenhauses C lediglich um einen "Gelegenheitsanfall" auf der Grundlage des beim Kläger bestehenden Diabetes gehandelt hat.
69Daneben sind bei der Bildung der MdE lediglich die auf chirurgischem Fachgebiet vorhandenen Unfallfolgen, also der mit Bescheid vom 01.03.2010 als Unfallfolge festgestellte "folgenlos ausgeheilte Riss der Kniescheibe rechts" zu berücksichtigen. Auch bei zusätzlicher Einbeziehung der von Dr. W1 als traumabedingt angesehenen Knorpelschädigung mit diskret beginnender Retropatellararthrose ergibt sich keine Funktionseinschränkung, die über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus eine MdE um mindestens 20 v.H. bedingt, wie sich zur Überzeugung des Senats aus dem chirurgischen Bericht von Dr. W1 ergibt.
70Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
71Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG gegeben ist.
(1) Hängt die Entscheidung eines Rechtsstreits von einem familien- oder erbrechtlichen Verhältnis ab, so kann das Gericht das Verfahren solange aussetzen, bis dieses Verhältnis im Zivilprozeß festgestellt worden ist.
(2) Hängt die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist, so kann das Gericht anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen sei. Auf Antrag kann das Gericht die Verhandlung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern aussetzen, soweit dies im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich ist.
(2a) Hängt die Entscheidung des Rechtsstreits ab von der Gültigkeit einer Satzung oder einer anderen im Rang unter einem Landesgesetz stehenden Vorschrift, die nach § 22a Absatz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und dem dazu ergangenen Landesgesetz erlassen worden ist, so kann das Gericht anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des Antragsverfahrens nach § 55a auszusetzen ist.
(3) Das Gericht kann, wenn sich im Laufe eines Rechtsstreits der Verdacht einer Straftat ergibt, deren Ermittlung auf die Entscheidung von Einfluß ist, die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Strafverfahrens anordnen.
Tenor
-
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. September 2008 wird zurückgewiesen.
-
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
- 1
-
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Löschung eines von ihr eingeholten medizinischen Sachverständigengutachtens.
- 2
-
Auf die ärztliche Anzeige einer Berufskrankheit (BK) teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 13.5.2003 mit, dass beabsichtigt sei, das Vorliegen einer BK durch ein ärztliches Gutachten feststellen zu lassen. Sie schlug als Gutachter Dr. Sch., , Dr. B., , und die "Orthopädische Gemeinschaftspraxis Prof. Dr. Dr. A., , " vor. Ferner wies sie darauf hin, dass das Gutachten auf Grund einer Untersuchung erstattet werden soll, zu der der Gutachter andere Ärzte hinzuziehen könne, und der Kläger der Übermittlung der Unterlagen über die bisherigen Feststellungen an den Gutachter nach den Vorschriften über den Sozialdatenschutz gemäß § 76 Abs 2 SGB X widersprechen könne. Mit eigenhändigem Schreiben vom 20.5.2003 erklärte der Kläger sein Einverständnis mit dem Gutachter "Orthopädische Gemeinschaftspraxis Prof. Dr. Dr. A.".
- 3
-
Dr. S. erstellte am 27.7.2003 als Mitglied der Orthopädischen Gemeinschaftspraxis Prof. Dr. Dr. A. nach Untersuchung des Klägers (am 25.7.2003) ein Gutachten. Daraufhin lehnte die Beklagte die Feststellung einer BK nach Nr 2108 (BK 2108) der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung ab (Bescheid vom 2.10.2003; Widerspruchsbescheid vom 16.12.2003).
- 4
-
Der Kläger hat hiergegen am 6.1.2004 beim SG Köln geklagt. Am 20.5.2005 beantragte er bei der Beklagten, das Gutachten von Dr. S. vom 27.7.2003 zu löschen, hilfsweise, es zu sperren. Dies lehnte die Beklagte im Bescheid vom 22.7.2005 ab. Das SG hat "die Klage" abgewiesen (Urteil vom 30.11.2005). Sowohl die Ablehnung der Feststellung einer BK 2108 als auch die der Entfernung des Gutachtens aus den Verwaltungsakten, die nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden sei, seien rechtmäßig; der Kläger habe ein etwaiges Rügerecht verwirkt.
- 5
-
Das LSG Nordrhein-Westfalen hat das Verfahren, soweit die Klagen gegen die Ablehnung des Löschungsanspruchs gerichtet waren, zur gesonderten Verhandlung und Entscheidung abgetrennt und zur Nachholung des Widerspruchsverfahrens ausgesetzt. Nachdem die Beklagte den Widerspruch zurückgewiesen hatte (Widerspruchsbescheid vom 19.7.2007), hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 3.9.2008). Das Gutachten von Dr. S. sei nicht wegen Verstoßes gegen das in § 200 Abs 2 SGB VII geregelte Widerspruchs- und Auswahlrecht in rechtlich unzulässiger Weise zu Stande gekommen. Mit der Auswahl der "Orthopädischen Gemeinschaftspraxis Prof. Dr. Dr. A." habe der Kläger der Übermittlung seiner Sozialdaten an die Gemeinschaftspraxis zugestimmt. Ihm seien auch mehrere Gutachter vorgeschlagen worden. Dass sich sein Einverständnis nicht auf die Gemeinschaftspraxis, sondern allein auf Prof. Dr. Dr. A. bezogen habe, sei nicht zu erkennen gewesen. Aber auch unabhängig davon sei das von einem nicht namentlich bezeichneten Mitglied einer Gemeinschaftspraxis erstellte Gutachten nicht zu entfernen. Nach der Rechtsprechung des BSG könnten lediglich Verstöße gegen das Widerspruchsrecht durch Entfernung des Gutachtens aus der Akte geheilt werden.
- 6
-
Mit der vom BSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung seines Löschungsanspruchs aus § 84 Abs 2 Satz 1 SGB X. Das Gutachten von Dr. S. sei wegen Verstoßes gegen sein Auswahl- und Widerspruchsrecht des § 200 Abs 2 SGB VII zu löschen. Eine Gemeinschaftspraxis sei kein Gutachter im Sinne dieser Vorschrift, sondern eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, bei der allein die Ärzte als Rechtspersonen höchstpersönlich handelten. Da das Gutachterauswahlrecht nicht nur zur Verbesserung der Verfahrenstransparenz beitragen, sondern auch die Mitwirkungsrechte der Versicherten stärken solle, sei die Benennung eines individualisierten Arztes zwingend erforderlich. Nach dem Empfängerhorizont sei lediglich Prof. Dr. Dr. A. als Gutachter vorgeschlagen worden. Dieser hätte das Gutachten erstellen und dafür Sorge tragen müssen, dass die sich aus der Begutachtung ergebenden Daten den anderen Ärzten der Gemeinschaftspraxis nicht zugänglich gemacht würden. Mit der Auswahl der Orthopädischen Gemeinschaftspraxis Prof. Dr. Dr. A. sei kein Einverständnis zur Übermittlung der Sozialdaten an die anderen Ärzte der Gemeinschaftspraxis erklärt worden. Von einem Versicherten könnten Kenntnisse über den rechtlichen Status einer Gemeinschaftspraxis nicht verlangt werden. Durch die Datenübermittlung an Dr. S. sei zudem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt worden. Dieser Verstoß ziehe ein Beweisverwertungsverbot nach sich. Dem stehe nicht entgegen, dass Prof. Dr. Dr. A. in einer späteren Stellungnahme zu demselben Ergebnis wie Dr. S. gekommen sei.
- 7
-
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. September 2008 und des Sozialgerichts Köln vom 30. November 2005 sowie die ablehnende Entscheidung im Bescheid der Beklagten vom 22. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass er einen Anspruch auf Löschung des Gutachtens des Dr. S. vom 27. Juli 2003 hat, hilfsweise, die Beklagte zu verurteilen, das Gutachten von Dr. S. vom 27. Juli 2003 zu löschen.
- 8
-
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 9
-
Sie schließt sich den Ausführungen der Vorinstanz an.
Entscheidungsgründe
- 10
-
Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Löschung des von ihr im Verwaltungsverfahren eingeholten medizinischen Sachverständigengutachtens.
- 11
-
1. Das LSG hatte zulässig den Rechtsstreit über den Löschungsanspruch von demjenigen über den Anspruch auf Feststellung einer BK 2108 getrennt und gesondert über den streitigen Löschungsanspruch entschieden. Denn es handelt sich um zwei unterschiedliche Rechtsfolgen und somit um unterschiedliche Streitgegenstände. Ferner ersetzt oder ändert die Feststellung der Beklagten, der Kläger habe keinen Löschungsanspruch gegen sie, ihre Feststellung nicht, er habe gegen sie keinen Anspruch auf Feststellung einer BK 2108. Daher war die den Löschungsanspruch verneinende Feststellung entgegen dem SG nicht Gegenstand des die Feststellung einer BK 2108 betreffenden Klageverfahrens iS des § 96 Abs 1 SGG geworden.
- 12
-
Die Entscheidung über den Löschungsanspruch ist für die Entscheidung des Rechtsstreits um die BK 2108 und diese für jene darüber hinaus auch nicht vorgreiflich iS des § 114 Abs 2 Satz 1 SGG. Dies gilt auch für die Frage, ob das ärztliche Gutachten, das der Kläger gelöscht haben will, im Streit um die BK 2108 verwertbar ist. Denn der Löschungsanspruch hängt allein von der Unzulässigkeit einer Speicherung von Sozialdaten ab. Hingegen ist für diesen Anspruch unerheblich, ob ein von der Verwaltung eingeholtes und tatsächlich nicht gelöschtes (Verwaltungs-) Gutachten vom Gericht (im Urkundsbeweis) gewürdigt werden darf oder einem Beweisverwertungsverbot unterfällt und deshalb für die Überzeugungsbildung des Gerichts nicht verwertbar ist. Denn die Frage der Verwertbarkeit von Sozialdaten stellt sich dem Gericht nur hinsichtlich solcher von einem Träger übermittelter Sozialdaten, die ihm "ungelöscht" zur Kenntnis gebracht wurden. Eine spätere, ggf gerichtlich erstrittene, tatsächliche Löschung der Daten in den Dateiträgern/Akten der Verwaltung kann diese erworbene Kenntnis des Gerichts, gegen das der Löschungsanspruch nicht gerichtet ist, nicht beseitigen.
- 13
-
2. Die zulässige Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) gegen die Feststellung der Beklagten, der Kläger habe keinen Löschungsanspruch gegen sie, ist unbegründet. Denn dieser Verwaltungsakt (vom 22.7.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.7.2007) ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
- 14
-
Daher konnte offen bleiben, mit welcher Klage in Fällen der vorliegenden Art die Anfechtungsklage zulässigerweise verbunden werden kann. Der Kläger hat sie (entsprechend der Rechtsprechung des Senats, Urteil vom 21.3.2006 - B 2 U 24/04 R - SozR 4-1300 § 84 Nr 1 RdNr 25; vgl auch BVerwG, Urteil vom 9.6.2010 - 6 C 5/09) mit einer Verpflichtungsklage (Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Anspruchs auf Löschung) kombiniert. Er hat sie hilfsweise mit einer (unechten <§ 54 Abs 4 SGG> oder echten<§ 54 Abs 5 SGG>) Leistungsklage auf tatsächliche Durchführung der Löschung verbunden (vgl zu den Klagearten VG Karlsruhe, Urteil vom 14.4.2010 - 3 RK 2309/09; Bieresborn in: von Wulffen, SGB X, § 84 RdNr 10). Unabhängig davon, ob die Verpflichtungsklage als spezielle Leistungsklage oder die unechte oder die allgemeine Leistungsklage gegeben und zulässig war, stand fest, dass (nur und jedenfalls) eine dieser Klagen zulässig war, sodass das BSG in jedem Fall zu einer Entscheidung in der Sache befugt war. Einer Bestimmung, welche dieser Klagen zulässig war, bedurfte es trotz des Haupt- und Hilfsantrags nicht, weil jede von ihnen, sofern zulässig, unbegründet war. Denn sie alle sind nur dann begründet, wenn der Kläger den abgelehnten Löschungsanspruch hat. Mit der Abweisung der Anfechtungsklage gegen diese Ablehnung steht aber fest, dass der Kläger keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Feststellung eines Anspruchs auf Löschung und auch keinen Anspruch unmittelbar auf Löschung durch die Beklagte hat.
- 15
-
Deshalb war auch nicht zu entscheiden, ob die das Leistungsbegehren betreffenden Revisionsanträge des Klägers, "das Gutachten" zu löschen, hinreichend bestimmt waren. Dies war zweifelhaft, weil er grundsätzlich die Sozialdaten, deren Löschung er begehrt, so genau hätte bezeichnen müssen, dass im Urteil klar hätte ausgesprochen werden können, was die Beklagte in dem Gutachten hätte löschen müssen.
- 16
-
3. Die Feststellung der Beklagten, der Kläger habe keinen Löschungsanspruch gegen sie, ist rechtmäßig.
- 17
-
Als Anspruchsgrundlage kommt einzig § 84 Abs 2 Satz 1 SGB X in Betracht (a). Die Beklagte war zuständig und befugt, über den Löschungsanspruch des Klägers zu entscheiden (b). Die "Speicherung" des Gutachtens war zulässig. Selbst wenn vorliegend eine Verletzung des Auswahlrechts aus § 200 Abs 2 Halbs 1 SGB VII vorliegen sollte und diese überhaupt geeignet wäre, die Unzulässigkeit der "Speicherung" zu begründen, wäre dieser Verfahrensmangel unbeachtlich geworden, weil der Kläger ihn der Beklagten nicht rechtzeitig mitgeteilt hat (c).
- 18
-
a) Nach § 84 Abs 2 Satz 1 SGB X sind Sozialdaten zu löschen, wenn ihre Speicherung unzulässig ist. Der vom Informationseingriff Betroffene hat das Recht, vom Träger die Unkenntlichmachung seiner unzulässig gespeicherten Sozialdaten zu verlangen.
- 19
-
Diese Norm ist, wie in der genannten Senatsentscheidung vom 21.3.2006 vorausgesetzt, eine Anspruchsgrundlage. Der Bürger kann eine Löschung beanspruchen, obwohl § 38 SGB I (Rechtsanspruch bei gebundenen Sozialleistungen auch ohne Feststellung eines individualschützenden Normzwecks) nicht gilt. Denn § 84 Abs 2 Satz 1 SGB X ist eine drittschützende Norm. Sie soll dem Schutz der von einem Informationseingriff betroffenen Bürger, mithin einem von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreis, dienen und ihnen die Rechtsmacht zuweisen, gegen die Verwaltung durchzusetzen, dass die Ergebnisse des Eingriffs, die gespeicherten Sozialdaten, gelöscht werden.
- 20
-
§ 20 Abs 2 Nr 1 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), der gemäß § 1 Abs 2 BDSG nur auf personenbezogene Daten anwendbar ist, ist gegenüber § 84 Abs 2 Satz 1 SGB X subsidiär(§ 1 Abs 3 Satz 1 BDSG; vgl auch § 84 Abs 1a SGB X; offen gelassen im BSG-Urteil vom 13.10.1992 - 5 RJ 16/92 - BSGE 71, 170 ff). Denn § 84 Abs 2 Satz 1 SGB X ist eine Rechtsvorschrift des Bundes, die die Löschung (auch) personenbezogener (Sozial-) Daten regelt.
- 21
-
b) Die Beklagte war zuständig und befugt, verbindlich festzustellen, der Kläger habe den gegen sie erhobenen Löschungsanspruch nicht. Wie ua § 83 Abs 4 bis 6 SGB X hinsichtlich der Ablehnung eines Auskunftsanspruchs zeigt, lässt es das Gesetz iS des Gesetzesvorbehalts des § 31 SGB I zu, dass der Verwaltungsträger über das Bestehen eines im Zusammenhang mit gespeicherten Daten gegen ihn erhobenen Anspruchs selbst verbindlich entscheiden darf.
- 22
-
c) Die Speicherung des Gutachtens war zulässig iS des § 84 Abs 2 Satz 1 SGB X.
- 23
-
aa) Es konnte offen bleiben, ob ein Löschungsanspruch nach Einfügung eines in Papierform erstellten Gutachtens in eine Verwaltungsakte, die ein "Speichern auf einem Datenträger" iS des § 84 Abs 2 Satz 1 iVm § 67 Abs 6 Satz 2 Nr 1 SGB X ist, entgegen dem Gesetzeswortlaut die Löschung des ganzen Gutachtens oder nur diejenige von einzelnen unzulässig gespeicherten Sozialdaten erfasst. Unterstellt, der Anspruch erfasse die Löschung des ganzen Gutachtens, hat die Beklagte nach den Maßstäben des Sozialdatenschutzes des § 35 SGB I iVm §§ 67 ff SGB X zulässig gehandelt(§ 67c Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 SGB X). Denn das Einfügen des Gutachtens in die Verwaltungsakte war zur Erfüllung der Aufgabe der Beklagten erforderlich, über das Bestehen eines Anspruchs auf Feststellung einer BK 2108 rechtmäßig zu entscheiden. Die Daten waren ferner zu dem Zweck gespeichert worden, die das Verfahren abschließende Entscheidung darüber vorzubereiten und ggf später zu überprüfen, ob der Kläger die medizinischen Voraussetzungen einer BK 2108 erfüllt und den erhobenen Feststellungsanspruch hat.
- 24
-
bb) SGB X-spezifische Unzulässigkeitsgründe liegen nicht vor. Insbesondere berührt die Rüge des Klägers, es sei infolge der Verletzung seines Auswahlrechts auch sein Widerspruchsrecht verletzt, nicht die Zulässigkeit einer Speicherung von Sozialdaten gemäß § 67c Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 SGB X.
- 25
-
Die Beklagte hatte den Kläger gemäß § 200 Abs 2 SGB VII ua auf sein Widerspruchsrecht aus § 76 Abs 2 Nr 1 SGB X hingewiesen. Ferner war sie zur Datenübermittlung an die "Gemeinschaftspraxis Prof. Dr. Dr. A." nach § 69 Abs 1 Nr 1 SGB X sowie wegen des eigenhändig erklärten "Einverständnisses" des Klägers mit dieser Gemeinschaftspraxis als Gutachter befugt, unabhängig davon, ob der Kläger damit für sie nicht erkennbar gemeint hatte, er habe nur Prof. Dr. Dr. A. persönlich als Gutachter ausgewählt. Außerdem war sie (auch) zur Entgegennahme der von dem im Geheimnisverbund des § 78 Abs 1 Satz 1 SGB X stehenden Dr. S. erhobenen Daten gemäß § 76 Abs 2 Nr 1 SGB X ermächtigt. Der Kläger hatte nicht widersprochen.
- 26
-
cc) Die Beachtung des Auswahlrechts ist in § 67c SGB X nicht als Zulässigkeitsvoraussetzung einer Speicherung von Sozialdaten ausgestaltet. Auch keine andere Vorschrift des SGB regelt ausdrücklich, dass eine Verletzung des Auswahlrechts die Rechtsfolge der Unzulässigkeit der Speicherung von Sozialdaten begründet.
- 27
-
§ 200 Abs 2 Halbs 1 SGB VII sieht diese Rechtsfolge jedenfalls nicht ausdrücklich vor.
- 28
-
Es musste aber nicht abschließend geklärt werden, ob diese Vorschrift dennoch so verstanden werden darf, als ob sie gleichwohl die Unzulässigkeit der Speicherung sinngemäß und noch hinreichend bestimmt anordne. Denn die mögliche Verletzung dieses Verfahrensrechts des Klägers war unbeachtlich geworden.
- 29
-
Es kann offen bleiben, ob die Beklagte das einfachgesetzliche verwaltungsverfahrensrechtliche Auswahlrecht des Klägers aus § 200 Abs 2 Halbs 1 SGB VII verletzt hat.
- 30
-
Nach dieser Vorschrift "soll" - dh im Regelfall, wenn mehrere geeignete Gutachter vorhanden sind, "muss" - der Unfallversicherungsträger vor Erteilung eines Gutachtensauftrags dem Versicherten mehrere Gutachter zur Auswahl benennen. Dies entspricht im Regelfall dem Auswahlrecht aus § 14 Abs 5 Satz 3 und 4 SGB IX. Auch danach wird dem Wunsch des Leistungsberechtigten Rechnung getragen, wenn dieser sich für einen der (im Regelfall drei) vom Leistungsträger benannten Sachverständigen entschieden hat. Die Gutachter, zwischen denen der Versicherte auswählen darf, müssen folglich "benannt" werden. Ein eigenes, den Träger bindendes Vorschlagsrecht hat der Versicherte hingegen nicht (vgl Kranig in: Hauck/Noftz, SGB VII, K § 200 RdNr 11 und Gutachtenkolloquium, Band 13, 1998, S 35, 44; Ricke in: Kasseler Komm, SGB VII, § 200 RdNr 3; Franke in: LPK-SGB VII, § 200 RdNr 3; Kliegel in: Lauterbach, SGB VII, 4. Aufl, 6. Lfg., März 1998, § 200 RdNr 8, 14; Becker, MEDSACH 2006, 74 f; Neumann, Unfallmedizinische Tagungen Heft 97, 1997, S 231, 239; Plagemann, NJW 1996, 3173, 3176). Dies spricht dafür, dass die Gutachter genau mit ihrem "Namen" (einschließlich der Berufsbezeichnung und der Anschrift) zu benennen sind. Nur dann ist grundsätzlich sichergestellt, dass der Versicherte ohne eigene Nachforschungen darüber, wen der Träger als Gutachter zur Auswahl vorschlägt, sich über die Benannten unterrichten und eine sachlich begründete Auswahl unter ihnen treffen kann. Wird hingegen eine Gemeinschaftspraxis nur mit dem Namen eines ihrer Ärzte bezeichnet, werden die anderen Gutachter gerade nicht benannt.
- 31
-
Es musste ebenfalls nicht entschieden werden, ob der Kläger erkannt hatte, dass die "Gemeinschaftspraxis Prof. Dr. Dr. A." aus mehreren Ärzten und aus welchen sie bestand und ob er durch sein eigenhändiges Schreiben des Inhalts, er wähle diese Gemeinschaftspraxis, alle Ärzte der Gemeinschaftspraxis als Gutachter "auswählen" wollte.
- 32
-
dd) Eine (mögliche) Verletzung des Auswahlrechts war nämlich unbeachtlich geworden und konnte schon deshalb keine Unzulässigkeit der Speicherung begründen. Der Kläger war nämlich seiner verwaltungsverfahrensrechtlichen Obliegenheit nicht nachgekommen, der Beklagten unverzüglich mitzuteilen, dass nicht der von ihm angeblich allein ausgewählte Gutachter Prof. Dr. Dr. A., sondern der von ihm nach seinem Vortrag nicht ausgewählte Dr. S. die Begutachtung übernommen hatte.
- 33
-
Ein Versicherter, der meint, dass nicht der von ihm ausgewählte Arzt das Gutachten erstellt, muss dem Unfallversicherungsträger unverzüglich mitteilen, dass er sein Auswahlrecht verletzt sieht (Rügeobliegenheit).
- 34
-
Grundsätzlich hat er dies unverzüglich anzuzeigen, sobald er erkennt, dass ein anderer als der von ihm gewählte Gutachter vom Träger zum Gutachter bestellt wurde oder die Begutachtung übernimmt. Das muss er nicht hinnehmen; es obliegt ihm aber, sein Auswahlrecht unverzüglich zu verteidigen. Daher kann nach den Umständen des Einzelfalls seine Mitwirkung an einer Gutachtenerstellung durch einen vom Träger bestellten Gutachter, den der Versicherte zuvor als von ihm nicht ausgewählt erkannt hat, die Genehmigung der vom Träger getroffenen Gutachterauswahl bedeuten. Erkennt der Versicherte den Fehler ausnahmsweise erst später, etwa bei Kenntnisnahme von dem Gutachten, obliegt es ihm besonders dringlich, dies unverzüglich dem Träger mitzuteilen. Denn nur dann kann dieser sofort die Lage klären und notfalls rechtzeitig ein Gutachten des vom Versicherten ausgewählten Sachverständigen einholen. Nur so kann der Träger sicherstellen, dass er seine das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung auf ein Gutachten stützen kann, das ohne eine Verletzung des Auswahlrechts erstellt wurde.
- 35
-
Das Auswahlrecht des § 200 Abs 2 Halbs 1 SGB VII ist rein verwaltungsverfahrensrechtlicher Natur. Es ermöglicht dem Bürger eine qualifizierte Mitwirkung bei der behördlichen Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 20 SGB X) und dient der Förderung der Akzeptanz des das Verwaltungsverfahren abschließenden Verwaltungsakts des Unfallversicherungsträgers, soweit er dem Gutachten des vom Bürger ausgewählten Gutachters folgt. Dadurch dient es mittelbar auch der besseren Durchsichtigkeit ("Transparenz") der Entscheidungsfindung des Trägers und des Datenflusses für den Versicherten.
- 36
-
Das Auswahlrecht bezweckt ausschließlich, im jeweiligen Verwaltungsverfahren einen inhaltlich richtigen und für den Versicherten akzeptablen verfahrensabschließenden Verwaltungsakt vorzubereiten. Von einer (beabsichtigten) Begutachtung durch einen vom Versicherten nicht ausgewählten Gutachter muss der Sozialversicherungsträger unverzüglich erfahren, um die Rechtsverletzung zu verhindern oder zu beseitigen und das Verfahren unter Beachtung des Auswahlrechts durchführen zu können. Der Bürger, der bei der Ermittlung des Sachverhalts mitwirken und insbesondere ihm bekannte Tatsachen angeben soll (§ 21 Abs 2 Satz 1 und 2 SGB X), ist hier der einzige, der eine Verletzung seines Auswahlrechts rechtzeitig abwenden oder eine Heilung dieses Verfahrensfehlers rechtzeitig anstoßen kann.
- 37
-
Eine Verletzung des Auswahlrechts kann grundsätzlich nur bis zum Abschluss des jeweiligen Verwaltungsverfahrens vom Unfallversicherungsträger geheilt werden. Deshalb wird die Verletzung, auch wenn sie ungeheilt bleibt, mit dem Abschluss des Verwaltungsverfahrens grundsätzlich unbeachtlich (vgl zur Rügeobliegenheit im Prüfungsrecht BVerwGE 96, 126, 129 ff, Juris-RdNr 18 f).
- 38
-
Dies gilt nur dann nicht, wenn der Bürger ausnahmsweise die Verletzung seines Auswahlrechts vor dem Erlass des abschließenden Verwaltungsakts nicht erkennen konnte, also keine Möglichkeit zur Rechtsverteidigung hatte, oder wenn der Träger das Auswahlrecht trotz einer rechtzeitigen Rüge des Bürgers nicht als verletzt ansieht und keine Heilung veranlasst. Dann kann der Bürger den Mangel auch noch im Widerspruchsverfahren geltend machen, sodass die Ausgangsbehörde, die auch die Abhilfebehörde ist, oder die Widerspruchsbehörde noch eine Heilung im Verantwortungsbereich der Verwaltung herbeiführen kann.
- 39
-
Wird erst danach gerügt, ist eine zweckwahrende Heilung des Auswahlrechts, die zu einem verfahrensfehlerfreien Abschluss des Verwaltungsverfahrens allein durch eine Entscheidung der Verwaltung führt, nicht mehr möglich. War nämlich eine (bestehende) Verletzung des Auswahlrechts auch bis zum Ende des Widerspruchsverfahrens nicht zu erkennen oder wurde sie, obwohl rechtzeitig gerügt, auch von der Widerspruchsbehörde des Trägers verneint, kann der Zweck des Auswahlrechts in dem jeweiligen Verwaltungsverfahren, in dem es besteht, nicht mehr erreicht werden. Der Verfahrensfehler bleibt ggf nur noch nach Maßgabe des § 42 Satz 1 SGB X rechtserheblich und kann nicht gesondert angefochten werden(so auch Kranig in: Hauck/Noftz, SGB VII, K § 200 RdNr 26 und K § 199 RdNr 5; aA Thüringer LSG, Urteil vom 22.1.2009 - L 1 U 1089/06 - Juris RdNr 40; offen gelassen ua in BSGE 100, 25, 39 f, RdNr 57 f mwN; kritisch dazu C. Wagner in jurisPK-SGB VII, § 200 RdNr 51). Er führt zur Aufhebung des verfahrensabschließenden Verwaltungsakts, wenn nicht offensichtlich ist, dass die Auswahlrechtsverletzung die Entscheidung der Verwaltung in der Sache nicht beeinflusst hat.
- 40
-
ee) Der Kläger hat den (angeblichen) Verfahrensmangel im Verwaltungsverfahren nicht rechtzeitig angezeigt. Er hat die Beklagte in Kenntnis der Begutachtung durch Dr. S. bis zum Verfahrensabschluss nicht darauf hingewiesen, dass er mit seiner eigenhändigen Erklärung nur Prof. Dr. Dr. A. als Gutachter habe wählen wollen. Daher kam es für die Zulässigkeit der im Verwaltungsverfahren erfolgten Speicherung des Gutachtens des Dr. S. auf diesen nicht einmal mit dem Widerspruch, sondern erst vor dem SG gerügten Mangel des Verwaltungsverfahrens nicht an.
- 41
-
ff) Es gibt auch keine anwendbare Rechtsnorm außerhalb des SGB, welche die Speicherung eines Gutachtens datenschutzrechtlich für unzulässig erklärt, wenn das Gutachten von einem Gutachter erstellt wurde, den der Bürger nicht als Sachverständigen ausgewählt hat.
- 42
-
Insbesondere das vom Kläger angeführte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 GG), ein Abwehrrecht, verbietet die Speicherung eines Gutachtens in solchen Fällen nicht. Es gebietet dem Gesetzgeber grundsätzlich auch nicht, ein verletztes einfachgesetzliches Auswahlrecht als Unzulässigkeitsgrund für eine derartige Speicherung einzuführen. Dass das Auswahlrecht mittelbar auch die Durchsichtigkeit der Entscheidungsfindung des Trägers und die des Datenflusses für den Versicherten fördert, bedeutet noch nicht, dass es vom Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung umfasst wird und somit grundsätzlich allen Bürgern gegen alle Verwaltungsträger zustünde. Vielmehr ist es ein grundrechtlich nicht gebotenes, aber für ein bürgernahes Verwaltungsverfahren nützliches, einfachgesetzliches Verfahrensrecht der Versicherten gegen die Unfallversicherungsträger (und der Behinderten in Teilhabeverfahren).
(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.
(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.
(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.
(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.
(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.
(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.