Bundessozialgericht Urteil, 03. Dez. 2015 - B 4 AS 43/15 R

bei uns veröffentlicht am03.12.2015

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Dezember 2012 aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.

Tatbestand

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Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Aufhebung einer laufenden Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für Mai 2012.

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Die Kläger sind schwedische Staatsangehörige. Die 1966 in Bosnien geborene Klägerin zu 1 reiste im Juni 2010 mit ihren Kindern, der im Mai 1994 geborenen Klägerin zu 2 sowie den in den Jahren 1998 und 1999 geborenen Klägern zu 3 und 4, erneut in die Bundesrepublik ein. Die Klägerin zu 1, die im streitigen Zeitraum Kindergeld für die Kläger zu 2 bis 4 bezog, erhielt am 1.7.2010 eine Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU, diejenigen für die weiteren Kläger datieren vom 11.7.2011. Mit Ausnahme eines weiteren im Jahre 2005 in Schweden geborenen Kindes, für das wegen des Bezugs von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz SGB II-Leistungen nicht streitig sind, sind die Kinder (Kläger zu 2 bis 4) während eines vorangegangenen langjährigen Aufenthalts in Deutschland (B.) geboren.

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Die erwerbsfähigen Klägerinnen zu 1 und 2 waren seit erneuter Einreise im Juni 2010 in kürzeren Beschäftigungen bzw Arbeitsgelegenheiten von weniger als einem Jahr tätig, jedoch nicht mehr in der Zeit ab Mai 2011. Im Übrigen bezogen die Kläger SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die der Beklagte zuletzt für die Zeit vom 1.12.2011 bis 31.5.2012 unter Beachtung des Gleichbehandlungsgebots des Art 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) bewilligte (Bescheid vom 7.9.2011 idF der Änderungsbescheide vom 26.11.2011 und 9.12.2011).

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Unter Hinweis auf den von der Bundesrepublik Deutschland im November 2011 erklärten Vorbehalt zum EFA hob der Beklagte die SGB II-Bewilligungen für den Monat Mai 2012 in vollem Umfang auf (Bescheid vom 2.4.2012; Widerspruchsbescheid vom 29.6.2012). Das SG hat diese Bescheide aufgehoben (Urteil vom 19.12.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ua ausgeführt, die Kläger könnten auch im Mai 2012 SGB II-Leistungen beanspruchen, weil eine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen nicht eingetreten sei. Zwar begründeten - bezogen auf die Klägerinnen zu 1 und 2 - "die Arbeitszeiten - für beide jeweils nicht mindestens sechs Monate seit Juni 2010 - kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht" und vermittele für beide "jeweils nach Beendigung der Beschäftigungen wieder ausschließlich die Arbeitsuche das Aufenthaltsrecht, so auch im Mai 2012". Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II greife jedoch nicht, weil Art 4 VO (EG) Nr 883/2004 jede Ungleichbehandlung von Unionsbürgern gegenüber den eigenen Staatsangehörigen bei den besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen untersage. Unabhängig hiervon werde die Ausschlussregelung weiterhin durch das speziellere Gleichbehandlungsgebot des Art 1 des EFA verdrängt.

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Mit seiner Sprungrevision macht der Beklagte geltend, der Ausschluss von SGB II-Leistungen verstoße nicht gegen EU-Recht. Bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II handele es sich um "Sozialhilfeleistungen" iS des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG, weshalb ein Leistungsausschluss für Arbeitsuchende möglich sei. § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II verstoße nicht gegen die VO (EG) Nr 883/2004. Auch das EFA stehe dem Leistungsausschluss nicht entgegen, weil der von der Bundesregierung erklärte Vorbehalt wirksam sei.

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Mit Beschluss vom 12.12.2013 (B 4 AS 9/13 R) hat der Senat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH ua die Frage vorgelegt, ob - ggf in welchem Umfang - Einschränkungen des Gleichbehandlungsgebots des Art 4 der VO (EG) Nr 883/2004 durch Bestimmungen in nationalen Rechtsvorschriften in Umsetzung des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG möglich seien, nach denen der Zugang zu besonderen beitragsunabhängigen Leistungen ausnahmslos nicht bestehe, wenn sich ein Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers in dem anderen Mitgliedstaat allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Hierzu hat der EuGH mit Urteil vom 15.9.2015 (Rs C-67/14 - SGb 2015, 638 ff) entschieden, dass Art 24 RL 2004/38/EG und Art 4 VO (EG) Nr 883/2004 dahin auszulegen seien, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstünden, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in der von Art 14 Abs 4 Buchst b RL 2004/38/EG erfassten Situation befänden, vom Bezug bestimmter "besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen" iS von Art 70 Abs 2 VO (EG) Nr 883/2004 ausgeschlossen würden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befänden, diese Leistungen erhielten.

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Der Beklagte beantragt weiterhin,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Dezember 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.

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Sie beziehen sich ua auf die Ausführungen des Generalanwalts beim EuGH Wathelet (Schlussanträge vom 26.3.2015 in der Rs C-67/14) zu möglichen anderen Aufenthaltsrechten der Kläger.

Entscheidungsgründe

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Die Sprungrevision ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG (vgl § 170 Abs 4 SGG) begründet, weil die bisher getroffenen Feststellungen (§ 163 SGG) keine abschließende Entscheidung darüber zulassen, ob die Aufhebung der SGB II-Leistungsbewilligungen für den Monat Mai 2012 rechtmäßig war.

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1. Die Revision des Beklagten ist zulässig. Gemäß § 161 Abs 1 S 1 SGG steht den Beteiligten die Sprungrevision zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und sie vom SG zugelassen worden ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Das SG hat die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz im Tenor des angefochtenen Urteils ausdrücklich zugelassen. Der Beklagte hat auch das Schriftformerfordernis des § 161 Abs 1 S 2 SGG erfüllt, weil er seiner Revisionsschrift die Zustimmung der Kläger zur Einlegung der Sprungrevision im Original beigefügt hat.

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2. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 2.4.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.6.2012, soweit der Beklagte mit diesem die Bewilligung von SGB II-Leistungen für die Kläger zu 1 bis 4 für den Monat Mai 2012 aufgehoben hat. Hiergegen wenden sich diese zu Recht mit der isolierten Anfechtungsklage (§ 54 SGG).

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3. a) Der Bescheid vom 2.4.2012 idF des Widerspruchsbescheids vom 29.6.2012 ist formell rechtmäßig. Vor Erlass des Aufhebungsbescheids sind die Kläger ordnungsgemäß angehört worden. Nach § 24 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Dies sind alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, dh auf die sich die Verwaltung auch gestützt hat (vgl nur Urteil des Senats vom 28.3.2013 - B 4 AS 59/12 R - BSGE 113, 184 ff = SozR 4-1300 § 45 Nr 13, RdNr 15). Die Kläger haben sich jedenfalls in ihrer Widerspruchsbegründung konkret zu den Gründen für die beabsichtigte Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Zukunft äußern können.

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b) Der angefochtene Bescheid genügt auch den Anforderungen an die Bestimmtheit von Verwaltungsakten. Als materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung verlangt das Bestimmtheitserfordernis nach § 33 Abs 1 SGB X, dass der Verfügungssatz nach seinem Regelungsgehalt vollständig, klar und in sich widerspruchsfrei ist. Dieses Erfordernis bezieht sich sowohl auf den Verfügungssatz der Entscheidung als auch auf den Adressaten des Verwaltungsaktes (vgl BSG Urteil vom 17.12.2009 - B 4 AS 20/09 R - BSGE 105, 194 = SozR 4-4200 § 31 Nr 2, RdNr 13 mwN; BSG Urteil vom 17.12.2009 - B 4 AS 30/09 R - SozR 4-4200 § 31 Nr 3 RdNr 16 mwN; BSG Urteil vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289 ff = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 31). Zwar ist der Bescheid vom 2.4.2012 ausdrücklich nur an die Klägerin zu 1 gerichtet. Bereits der erste Satz der Begründung regelt jedoch erkennbar, dass auch die Bewilligungen für die Kinder der Klägerin, also die Kläger zu 2 bis 4, aufgehoben werden sollten. Dies ergibt sich auch aus dem Umstand, dass der Beklagte die von ihm aufgehobenen Bescheide ausdrücklich bezeichnet hat und diese auch SGB II-Leistungen an die weiteren Kläger beinhalteten (zum Rückgriff auf früher zwischen den Beteiligten ergangene Verwaltungsakte vgl nur Urteil des Senats vom 28.3.2013 - B 4 AS 59/12 R - BSGE 113, 184 = SozR 4-1300 § 45 Nr 13, RdNr 16 mwN).

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4. a) Der Senat kann nicht abschließend beurteilen, ob der angefochtene Bescheid materiell rechtmäßig ist. Rechtsgrundlage für die Aufhebung der mit den Bescheiden vom 7.9.2011, 26.11.2011 und 9.12.2011 bewilligten SGB II-Leistungen für den Monat Mai 2012 ist hier allein § 40 SGB II iVm § 48 Abs 1 S 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Zwar war die Bewilligung anfänglich rechtmäßig, sodass eine Rücknahme nach § 45 SGB X nicht in Betracht kam; eine wesentliche Änderung ist jedoch durch den von der Bundesregierung erklärten Vorbehalt zum EFA eingetreten.

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b) Bei Erlass der Bewilligungsbescheide bestand ein Anspruch der Kläger auf SGB II-Leistungen. Das SG hat - für den Senat bindend - festgestellt, dass sämtliche Kläger die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs 1 S 1 SGB II erfüllten. Soweit das SG weiter angenommen hat, dass die Klägerinnen zu 1 und 2 im streitigen Monat Mai 2012 weiterhin als Arbeitsuchende iS von § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU anzusehen waren(vgl zu den Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche: BSG Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 31 ff mwN; BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 17 ff; BSG Urteil vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 26 mwN), stand der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II ihren Ansprüchen anfänglich schon deshalb nicht entgegen, weil er durch Art 1 EFA vom 11.12.1953 (BGBl II 1956, 564) verdrängt wurde.

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c) Nach Art 1 des Abkommens, das ua die Bundesrepublik Deutschland und Schweden unterzeichnet haben, ist jeder der Vertragschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge (im Folgenden als "Fürsorge" bezeichnet) zu erbringen, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind. Das EFA ist durch das Zustimmungsgesetz vom 15.5.1956 (BGBl II 563) in innerstaatlich anwendbares, Rechte und Pflichten begründendes Recht transformiert worden (BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 24; BVerwG Urteil vom 18.5.2000 - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200, 201). Als unmittelbar geltendes und spezielleres Bundesrecht schließt Art 1 EFA einen Leistungsausschluss für Staatsangehörige der Vertragsstaaten bei den von dem Abkommen erfassten Fürsorgeleistungen aus. Zu diesen Fürsorgeleistungen (vgl Begriffsbestimmung in Art 2 Abs a Nr i EFA) gehörte historisch die Sozialhilfe nach dem BSHG als "klassische" Fürsorgeleistung im Sozialleistungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einschränkung hinsichtlich der Gleichstellung ist nach Einführung des BSHG nur bezüglich der Leistungen nach § 30 BSHG (Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage) und nach § 72 BSHG (Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten) erfolgt(vgl Anhänge I und II zum EFA, Fassung ab 1.2.1991, BGBl II 686). Trotz der Neuordnungen im Recht der Existenzsicherung zum 1.1.2005 durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl I 2954 ff) und das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003 (BGBl I 3022), die auch das Außerkrafttreten des BSHG beinhalteten (vgl dessen Art 68), ist die Bundesrepublik ihrer Verpflichtung zur Mitteilung geänderter bzw neuer Rechtsvorschriften im Bereich der Fürsorge nach Art 16 EFA nicht nachgekommen. Dies berücksichtigend hat der 14. Senats des BSG das Gleichbehandlungsgebot auch auf die zum 1.1.2005 neu geschaffenen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erstreckt (BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 32, 35).

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5. a) Aufgrund des von der Bundesregierung zum EFA erklärten Vorbehalts ist jedoch eine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 S 1 SGB X eingetreten. Zwar hielten sich die Klägerinnen zu 1 und 2 weiterhin "erlaubt" iS des Gleichbehandlungsgebots des Art 1 EFA im Bundesgebiet auf, weil sie weiterhin über eine Freizügigkeitsberechtigung als Arbeitsuchende verfügten (vgl zum "erlaubten Aufenthalt" iS des EFA Urteil des Senats vom 3.12.2015 - B 4 AS 59/13 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Einer weiteren Inländergleichbehandlung bezogen auf die hier allein streitigen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II stand jedoch der von der Bundesregierung am 19.12.2011 erklärte Vorbehalt entgegen. Eine Verletzung von Vorschriften des EFA, die aufgrund seiner Umsetzung als Bundesrecht als revisibles Recht (§ 162 SGG) unmittelbar für die gesamte Bundesrepublik Deutschland gelten (vgl BSG Urteil vom 23.9.2004 - B 10 EG 3/04 R - BSGE 93, 194 = SozR 4-7833 § 1 Nr 6, RdNr 3 mwN), ist mit dem Vorbehalt nicht verbunden.

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b) Der Vorbehalt ist formell wirksam erklärt worden. Nach Art 16 Abs b EFA hat jeder Vertragschließende dem Generalsekretär des Europarats alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die in Anhang I noch nicht aufgeführt sind (Satz 1). Gleichzeitig mit dieser Mitteilung kann der Vertragschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden machen (Satz 2). Nach Art 16 Abs c EFA hat der Generalsekretär des Europarats den übrigen Vertragschließenden alle Mitteilungen, die ihm nach den Bestimmungen der Absätze a und b zugehen, zur Kenntnis zu bringen. Auf der Grundlage dieser Regelung hat die Bundesregierung am 19.12.2011 gegen die Anwendung des SGB II im Rahmen des EFA gegenüber dem Europarat folgenden Vorbehalt angebracht: "Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland übernimmt keine Verpflichtung, die im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - in der jeweils geltenden Fassung vorgesehenen Leistungen an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zuzuwenden" (idF der Bekanntmachung vom 31.1.2012, BGBl II 144, berichtigt durch die Bekanntmachung zum Europäischen Fürsorgeabkommen vom 3.4.2012, BGBl II 470). Gleichzeitig hat sie erstmals die Regelungen des SGB II als neue Fürsorgevorschriften notifiziert. Der Vorbehalt wurde den übrigen vertragschließenden Parteien des Fürsorgeabkommens nach Art 16 Buchst c EFA zur Kenntnis gebracht (s zur Veröffentlichung auf den Seiten des Europarats http://conventions.coe.int SEV Nr 014).

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c) Entgegen der Ansicht des SG musste der notifizierte Vorbehalt nicht durch ein entsprechendes Gesetz nach Art 59 Abs 2 S 1 GG im innerstaatlichen Recht umgesetzt werden. Nach Art 59 Abs 2 S 1 GG bedürfen Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf die Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in Form eines Bundesgesetzes. Dies gilt nicht nur für Gesetze, sondern auch für Handlungen, die konkludent eine Änderung des Vertragsinhalts bewirken und soweit ein "Vertragsänderungswille" feststellbar ist (Pernice in Dreier, GG, 3. Aufl 2015, Art 59 RdNr 36). Eine solche Änderung bereits in Bundesrecht umgesetzter völkervertraglicher Verpflichtungen liegt hier jedoch nicht vor. Die Ermächtigung zur Erklärung von nachträglichen Vorbehalten bei Gesetzesänderungen der Vertragsstaaten im Bereich der Fürsorge nach Inkrafttreten des Abkommens ist den Vertragsstaaten vielmehr von vornherein und ausdrücklich eingeräumt worden (vgl Art 16 Abs b S 2 EFA, Denkschrift zum Europäischen Fürsorgeabkommen und dem Zusatzprotokoll, BT-Drucks II/1882, S 23; Ausschussdrucksache 17<11>881, S 1).

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Art 16 EFA bringt zum Ausdruck, dass die Vertragsstaaten des EFA die Entscheidung darüber, welche nationalen Fürsorgeleistungen bei einer Änderung der nationalen Gesetzgebung in welchem Umfang in die Inländergleichbehandlung einbezogen werden (sollen), dem jeweils vertragschließenden Staat übertragen wollten. Auch wenn der 14. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 19.10.2010 davon ausgegangen ist, dass es sich sowohl bei den Regelleistungen nach dem SGB II als auch bei der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII um "Fürsorge" im Sinne des EFA handelt (B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 32), hinderte dies die Bundesregierung nicht an der Anbringung eines Vorbehalts unter Berücksichtigung der erst durch die Rechtsprechung des 14. Senats höchstrichterlich geklärten Zuordnung der SGB II-Leistungen. Es war ihr unbenommen, für die Hilfebedürftigen aus den EFA-Staaten die Anwendbarkeit des SGB II als eines von mehreren Existenzsicherungssystemen auszuschließen. Insbesondere waren mit der Einführung des SGB II materielle und über redaktionelle hinausgehende Änderungen insofern verbunden, als die Grundsicherung für Arbeitsuchende mit einer stärkeren Erwerbszentrierung, begleitenden Vermittlungstätigkeiten (s Eingliederungsvereinbarung) und einem - durch die Zusammenführung mit der ehemaligen Arbeitslosenhilfe bedingt - deutlich günstigeren Einsatz von Einkommen und Vermögen verbunden ist.

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d) Der im Vorbehalt erklärte Ausschluss bei SGB II-Leistungen ist auch nicht als Einschränkung der durch das innerstaatlich umgesetzte EFA materiell gewährleisteten Inländergleichbehandlung (BVerwG Urteil vom 18.5.2000 - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200 ff, 206) unwirksam und daher weiterhin für den Leistungsanspruch der Kläger unbeachtlich. Es handelt sich bei den SGB II-Vorschriften um "neue Rechtsvorschriften" iS der Vorbehaltsregelung des Art 16 Buchst b S 2 EFA.

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Zwar war das SGB II - in seinen hier maßgeblichen leistungsrechtlichen Bestimmungen - im Dezember 2011 bereits seit einigen Jahren in Kraft. Der Begriff der "neuen Rechtsvorschriften" begründet aber keine "(Ausschluss-)Frist" zur Anbringung des Vorbehalts nach nationalem Inkrafttreten eines neuen Gesetzes. Vielmehr steht der Begriff der "neuen Rechtsvorschriften" in einem Zusammenhang damit, ob das Gesetz bzw die konkrete Fürsorgeleistung bereits im Anhang I zum EFA erfasst worden ist. Unter Berücksichtigung dessen muss die Mitteilung "neuer Rechtsvorschriften" nach Art 16 Buchst b S 1 EFA nicht unverzüglich nach dem innerstaatlichen Inkrafttreten dieser Normen, sondern kann - wie hier zeitgleich mit der Erklärung eines Vorbehalts - auch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.

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e) In der Erklärung kann auch keine eine Unwirksamkeit des Vorbehalts herbeiführende "faktische Kündigung" iS des Art 24 EFA, also eine den Vertragsstaaten nicht über eine bloße Vorbehaltserklärung erlaubte einseitige Lösung bereits vorbestehender völkerrechtlicher Verpflichtungen - in der Auslegung durch die Rechtsprechung des 14. Senats des BSG - gesehen werden. Die Staatsangehörigen der EFA-Mitgliedstaaten haben weiterhin einen Anspruch auf SGB XII-Leistungen unter Außerachtlassung der nur für Ausländer geltenden Ausschlussregelung des § 23 Abs 3 SGB XII, weil ein Vorbehalt für die Hilfe zum Lebensunterhalt nicht erklärt worden ist. Leistungen nach dem SGB XII sind für den Personenkreis der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, für welche die Ausschlussregelungen des SGB II eingreifen, auch nicht aus Gründen des nationalen Rechts ausgeschlossen (vgl hierzu ausführlich Urteil des Senats vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 36 ff; vgl auch Ausschussdrucksache 17<11>881 vom 25.4.2012 - Schriftlicher Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Erklärung eines Vorbehalts gegen die Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens , S 2 zu möglichen SGB XII-Ansprüchen für EFA-Staatsangehörige; aA Steffen/Keßler, ZAR 2012, 245, 246) (vgl hierzu ausführlich Urteil des Senats vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 36 ff; vgl auch Ausschussdrucksache 17<11>881 vom 25.4.2012 - Schriftlicher Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Erklärung eines Vorbehalts gegen die Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens , S 2 zu möglichen SGB XII-Ansprüchen für EFA-Staatsangehörige; aA Steffen/Keßler, ZAR 2012, 245, 246).

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f) Liegt demnach eine wesentliche Änderung durch den von der Bundesregierung erklärten Vorbehalt vor, können sich die Kläger - für einen weiter bestehenden Anspruch auf SGB II-Leistungen - auch nicht darauf beziehen, dass der Ausschluss von arbeitsuchenden Unionsbürgern in ihrem Fall gegen europäisches Recht (Art 24 RL 2004/38/EG und Art 4 der VO Nr 883/2004) verstößt. Nach der Entscheidung des EuGH in dieser Sache (Urteil vom 15.9.2015 - Rs C-67/14 - SGb 2015, 638 ff) ist als geklärt anzusehen, dass der in § 7 Abs 1 S 2 SGB II normierte, ausnahmslose Ausschluss von SGB II-Leistungen auch bereits im Bundesgebiet beschäftigt gewesene Unionsbürgerinnen und Unionsbürger erfasst, die weniger als ein Jahr gearbeitet haben. Haben diese - wie hier die Klägerinnen zu 1 und 2 - nach Ablauf der Aufrechterhaltung ihrer Erwerbstätigeneigenschaft für den Zeitraum von sechs Monaten erneut ein Aufenthaltsrecht nur (noch) zur Arbeitsuche, steht der nachfolgende ausnahmslose Ausschluss von SGB II-Leistungen (vgl Frage 2 des Vorlagebeschlusses des Senats vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R) unabhängig von der Dauer des rein tatsächlichen gewöhnlichen Aufenthalts der (wieder) Arbeitsuchenden im Bundesgebiet sowie deren familiärer Umstände nach dieser Entscheidung des EuGH im Einklang mit Art 4 der VO (EG) Nr 883/2004 und Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG.

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6. Der Senat konnte dennoch nicht abschließend beurteilen, ob die durch den Vorbehalt zum EFA bewirkte Änderung in den rechtlichen Verhältnissen iS von § 48 Abs 1 S 1 SGB X wesentlich war, der Verwaltungsakt also dem Grunde oder der Höhe nach so nicht mehr ergehen dürfte(vgl Brandenburg in jurisPK-SGB X, 2013, § 48 RdNr 60; BSG Urteil vom 3.10.1989 - 10 RKg 7/89 - BSGE 65, 301, 302 = SozR 1300 § 48 Nr 60 "wahre Rechtslage"). Es sind bisher nicht getroffene Feststellungen zu möglichen anderen Aufenthaltsrechten der Klägerinnen zu 1 und 2 im Monat Mai 2012 erforderlich.

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a) Nach der Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG erfordert die Anwendbarkeit der Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II eine Prüfung des Grundes bzw der Gründe für eine im streitigen Leistungszeitraum (weiterhin) bestehende Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU bzw eines Aufenthaltsrechts nach den - im Wege eines Günstigkeitsvergleichs - anwendbaren Regelungen des Aufenthaltsgesetzes(§ 11 Abs 1 S 11 FreizügG/EU; vgl hierzu BSG Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 31 ff). Bereits das Vorliegen der Voraussetzungen für ein anderes materiell bestehendes Aufenthaltsrecht als ein solches aus dem Zweck der Arbeitsuche hindert sozialrechtlich die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II(BSG Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 31 f; BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 17 ff)bzw lässt den Leistungsausschluss "von vornherein" entfallen (BSG Urteil vom 25.1.2012 - B 14 AS 138/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 28 RdNr 20 f). Ein anderes Aufenthaltsrecht iS des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II kann sich auch aus einem - bei der Klägerin zu 2 - eigenständigen oder - im Falle der Klägerin zu 1 - abgeleiteten Aufenthaltsrecht nach der unionsrechtlichen Regelung des Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 ergeben(vgl BVerwG EuGH-Vorlage vom 13.7.2010 - 1 C 15/09 - juris RdNr 29; ein Verbleiberecht bereits unmittelbar aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 bejahend auch Epe in GK-AufenthG, § 3 FreizügG/EU RdNr 63 ff, Stand 7/2013; ebenso zu einem eigenständigen Aufenthaltsrecht des Kindes eines Wanderarbeitnehmers zusammen mit dem Recht auf Zugang zur Ausbildung bejahend auch Brechmann in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl 2011, Art 45 AEUV RdNr 91 f).

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b) Zwar hat das SG ausgeführt, dass bei den Klägerinnen zu 1 und 2 auch im streitigen Monat Mai 2012 wieder ausschließlich "die Arbeitsuche das Aufenthaltsrecht" vermittelte. Hierin liegt jedoch keine Tatsachenfeststellung entsprechend den og Anforderungen, wie sie von der zeitlich überwiegend erst nach dem angegriffenen Urteil ergangenen Rechtsprechung des BSG zur Auslegung der Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 SGB II formuliert worden sind. Zudem sind Aufenthaltsrechte nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 bisher nicht Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung des BSG gewesen.

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7. Bei seiner Entscheidung wird das LSG demnach bei möglichen Aufenthaltsrechten der Klägerinnen Folgendes zugrunde zu legen haben (§ 170 Abs 5 SGG):

Nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 können Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Nach Aufhebung der VO (EWG) Nr 1612/68 durch Art 41 VO (EU) Nr 492/2011 des EU-Parlaments und dessen Rates vom 5.4.2011 (ABl EU Nr L 141/1 vom 27.5.2011) übernimmt Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 insofern inhaltsgleich die bisherige Regelung des Art 12 Abs 1 VO (EWG) Nr 1612/68 (EuGH Urteil vom 6.9.2012 - Rs - C-147/11 und 148/11 - EAS Teil C VO Nr 1612/68 Art 12 Nr 13, RdNr 4).

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Dieses - historisch an die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Schaffung bestmöglicher Bedingungen für die Integration der Familie des Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat anknüpfende - Ausbildungsrecht des Kindes (vgl EuGH Urteil vom 17.9.2002 - Rs C-413/99 - Slg 2002, I-7091 ff, juris RdNr 51 ff) setzt voraus, dass dieses Kind "in Ausbildung" mit seinen Eltern oder einem Elternteil in einem Mitgliedstaat in der Zeit lebte, in der dort zumindest ein Elternteil als Arbeitnehmer wohnte. Der Erwerb des Ausbildungsrechts ist an den Status als Kind eines Arbeitnehmers gebunden (EuGH Urteil vom 21.6.1988 - Rs C-197/86 - Slg 1988, 3105 ff, juris RdNr 30; EuGH Urteil vom 4.5.1995 - Rs C-7/94 - Slg 1995, I-1031 ff, juris RdNr 27; EuGH Urteil vom 14.6.2012 - Rs C-542/09 - EAS Teil C AEUV Art 45 Nr 3, RdNr 50 f; vgl auch EuGH Urteil vom 6.9.2012 - Rs C-147/11 und C-148/11 - EAS Teil C VO Nr 1612/68 Art 12 Nr 13, RdNr 30 zur ausschließlichen Anwendbarkeit des Art 12 VO Nr 1612/68 auf Kinder von Arbeitnehmern). Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH impliziert das Ausbildungsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 gleichzeitig ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der sich weiterhin in Ausbildung befindlichen Kinder, das grundsätzlich bis zum Abschluss der Ausbildung und insbesondere besteht, solange sie tatsächlich im Aufnahmemitgliedstaat in das Schulsystem eingegliedert sind (EuGH Urteil vom 17.9.2002 - Rs C-413/99 - Slg 2002, I-7091 ff, juris RdNr 53 f; EuGH Urteil vom 13.6.2013 - Rs C-45/12 - EAS Teil C VO Nr 1408/71 Art 1 Nr 16, juris RdNr 46 und 52; EuGH Urteil vom 23.2.2010 - Rs C-480/08 - Slg 2010, I-1107, juris RdNr 36 und 53).

31

Soweit und solange die regelmäßig minderjährigen Kinder eines Arbeitnehmers oder ehemaligen Arbeitnehmers für die Wahrnehmung ihrer Ausbildungsrechte aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 weiterhin der Anwesenheit und der Fürsorge des Elternteils bedürfen, um ihre Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können, besteht darüber hinaus in gleicher Weise für den Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt aus Art 10 VO (EG) Nr 492/2011. Dies hat der EuGH damit begründet, dass die Versagung der Möglichkeit für die Eltern, während der Ausbildung ihrer Kinder im Aufnahmemitgliedstaat zu bleiben, geeignet sein könnte, den Kindern ein - ihnen vom Unionsgesetzgeber zuerkanntes - Recht zu nehmen (EuGH Urteil vom 13.6.2013 - Rs C-45/12 - EAS Teil C VO Nr 1408/71 Art 1 Nr 16, juris RdNr 46; EuGH Urteil vom 23.2.2010 - Rs C-480/08 - Slg 2010, I-1107, juris RdNr 36, 53, 86). Ohne Belang ist, ob die Eltern der betreffenden Kinder inzwischen geschieden sind oder der die elterliche Sorge tatsächlich wahrnehmende Elternteil nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist (vgl EuGH Urteil vom 8.5.2013 - Rs C-529/11 - EAS Teil C VO Nr 1612/68 Art 12 Nr 14, RdNr 27 mwN; Brinkmann in Huber, AufenthG, 2010, § 3 FreizügG/EU RdNr 19; Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, § 3 FreizügG/EU RdNr 60 ff).

32

Die einmal erworbenen Ausbildungs- und Aufenthaltsrechte der Kinder bzw der (sorgeberechtigten bzw die tatsächliche Sorge ausübenden) Elternteile bestehen nach der Rechtsprechung des EuGH unabhängig von den in der RL 2004/38/EG festgelegten Voraussetzungen ausreichender Existenzmittel sowie eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes (§ 4 FreizügG/EU) fort und sind autonom gegenüber den unionsrechtlichen Bestimmungen anzuwenden, die die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat regeln (EuGH Urteil vom 23.2.2010 - Rs C-310/08 - Slg 2010, I-1065, juris RdNr 42 ff, 50; EuGH Urteil vom 23.2.2010 - Rs C-480/08 - Slg 2010, I-1107, juris RdNr 53 ff; Brinkmann in Huber, AufenthG, 2010, § 3 FreizügG/EU RdNr 20 mwN; Kloesel/Christ/Häußer, Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 3 FreizügG/EU RdNr 104, Stand Juli 2011; Epe in GK-AufenthG, § 3 RdNr 67, Stand Juli 2013; Brechmann in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl 2011, Art 45 AEUV RdNr 91 f). Insofern hat der EuGH der Entstehungsgeschichte (vgl KOM <2003> 199 endg S 7) und den Inhalten der RL 2004/38/EG entnommen, dass der Anwendungsbereich des Art 12 VO (EWG) Nr 1612/68 in seiner Auslegung durch den EuGH gerade nicht eingeschränkt werden sollte (vgl EuGH Urteil vom 23.2.2010 - Rs C-310/08 - Slg 2010, I-1065, juris RdNr 46 mwN). Art 12 Abs 3 RL 2004/38/EG in seiner Anknüpfung an die EuGH-Rechtsprechung (vgl EuGH Urteil vom 17.9.2002 - Rs C-413/99 - Slg 2002, I-7091, juris RdNr 63) - im deutschen Recht umgesetzt durch § 3 Abs 4 FreizügG(vgl BT-Drucks 16/5065 S 210) - bestätigt dies. Hiernach führt der Wegzug des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat oder sein Tod weder für seine Kinder noch für den Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, bis zum Abschluss der Ausbildung zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn sich die Kinder im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten und in einer Bildungseinrichtung zu Ausbildungszwecken eingeschrieben sind (vgl hierzu auch Kloesel/Christ/Häußer, Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 3 FreizügG/EU RdNr 101, Stand Juli 2011; Epe in GK-AufenthG, § 3 FreizügG/EU RdNr 60, Stand 7/2013).

33

Näher zu prüfen ist daher, welchen Umfang und Charakter die vom SG angesprochenen "Arbeitszeiten" der Klägerin zu 1 im Bundesgebiet hatten und ob es sich hierbei um Beschäftigungen als Arbeitnehmerin iS von Art 10 der VO (EU) Nr 492/2011 handelte (vgl zur gemeinschaftlichen Bedeutung des Arbeitnehmerbegriffs zB EuGH Urteil vom 19.11.2002 - Rs C-188/00 - Slg 2002, I-10691, juris RdNr 32; Epe in GK-AufenthG, § 3 FreizügG/EU RdNr 66, Stand 7/2013 mwN). Ausgehend von seinem rechtlichen Ausgangspunkt hat das SG hierzu bisher keine Feststellungen treffen können, sondern lediglich - zusammenfassend für die Klägerinnen zu 1 und 2 - ausgeführt, dass die "Arbeitszeiten - für beide jeweils nicht mindestens sechs Monate seit Juni 2010 - kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht europarechtlich begründeten".

34

Voraussetzung solcher Aufenthaltsrechte wegen fortdauernder Ausbildungen der Kläger zu 3 und/oder 4 ist weiter, dass diese im streitigen Zeitraum ihre bereits während einer etwaigen Beschäftigung der Klägerin zu 1 als Arbeitnehmerin wahrgenommenen Schulausbildungen in einer in Deutschland gelegenen Einrichtung weiterhin regelmäßig nachgekommen sind (vgl zum Schulbesuch insb Epe in GK-AufenthG, § 3 FreizügG/EU RdNr 61 f, Stand 7/2013 mwN). Schließlich muss die Klägerin zu 1 als Elternteil die elterliche Sorge tatsächlich ausgeübt haben, was hier jedoch naheliegt.

35

Auch bezogen auf die erst während des Aufhebungsmonats Mai 2012 volljährig gewordene Klägerin zu 2 wird das LSG noch feststellen müssen, ob ihr ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach der VO (EU) Nr 492/2011 zustand. Anders als bei der Klägerin zu 1 kann sich ihre Freizügigkeitsberechtigung nicht aus derjenigen der Kläger zu 3 und 4 ableiten, weil die Geschwister im Verhältnis zu einem stammberechtigten Unionsbürger keine Familienangehörigen iS des § 3 Abs 2 FreizügG/EU und des Art 2 Nr 2 RL 2004/38/EG sind(vgl - auch zur Berücksichtigung familiärer Umstände - BVerwG Urteil vom 13.6.2013 - 10 C 16/12 - InfAuslR 2013, 364 ff). Zu klären ist ggf auch, ob sie im Mai 2012 ein Aufenthaltsrecht aus einer etwaigen Aufenthalts- bzw Freizügigkeitsberechtigung ihres Vaters ableiten konnte.

36

Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

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Gesetz


Aufenthaltsgesetz - AufenthG

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 54


(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig

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(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die1.das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,2.erwerbsfähig sind,3.hilfebedürftig sind und4.ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschla

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 48 Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse


(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltun

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 45 Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes


(1) Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen de

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 163


Das Bundessozialgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 170


(1) Ist die Revision unbegründet, so weist das Bundessozialgericht die Revision zurück. Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Gesetzesverletzung, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision eb

Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende - (Artikel 1 des Gesetzes vom 24. Dezember 2003, BGBl. I S. 2954) - SGB 2 | § 40 Anwendung von Verfahrensvorschriften


(1) Für das Verfahren nach diesem Buch gilt das Zehnte Buch. Abweichend von Satz 1 gilt § 44 des Zehnten Buches mit der Maßgabe, dass1.rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte nach den Absätzen 1 und 2 nicht später als vier Jahre nach Ablauf

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 24 Anhörung Beteiligter


(1) Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. (2) Von der Anhörung kann abgesehen werden, wenn 1. eine sof

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 33 Bestimmtheit und Form des Verwaltungsaktes


(1) Ein Verwaltungsakt muss inhaltlich hinreichend bestimmt sein. (2) Ein Verwaltungsakt kann schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden. Ein mündlicher Verwaltungsakt ist schriftlich oder elektronisch zu bestätigen, w

Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) - Sozialhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, BGBl. I S. 3022) - SGB 12 | § 23 Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer


(1) Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, ist Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach diesem Buch zu leisten. Die Vorschriften des Vierten Kapitels bleiben

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 162


Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezir

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 161


(1) Gegen das Urteil eines Sozialgerichts steht den Beteiligten die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und wenn sie von dem Sozialgericht im Urteil oder auf Antrag durch Beschluß zugelassen wird. D

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(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die

1.
das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
2.
erwerbsfähig sind,
3.
hilfebedürftig sind und
4.
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
Ausgenommen sind
1.
Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2.
Ausländerinnen und Ausländer,
a)
die kein Aufenthaltsrecht haben oder
b)
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
und ihre Familienangehörigen,
3.
Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

(2) Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Dienstleistungen und Sachleistungen werden ihnen nur erbracht, wenn dadurch Hemmnisse bei der Eingliederung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten beseitigt oder vermindert werden. Zur Deckung der Bedarfe nach § 28 erhalten die dort genannten Personen auch dann Leistungen für Bildung und Teilhabe, wenn sie mit Personen in einem Haushalt zusammenleben, mit denen sie nur deshalb keine Bedarfsgemeinschaft bilden, weil diese aufgrund des zu berücksichtigenden Einkommens oder Vermögens selbst nicht leistungsberechtigt sind.

(3) Zur Bedarfsgemeinschaft gehören

1.
die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten,
2.
die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines unverheirateten erwerbsfähigen Kindes, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und die im Haushalt lebende Partnerin oder der im Haushalt lebende Partner dieses Elternteils,
3.
als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten
a)
die nicht dauernd getrennt lebende Ehegattin oder der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte,
b)
die nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartnerin oder der nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartner,
c)
eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.
4.
die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können.

(3a) Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner

1.
länger als ein Jahr zusammenleben,
2.
mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,
3.
Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder
4.
befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.

(4) Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend von Satz 1 erhält Leistungen nach diesem Buch,

1.
wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches) untergebracht ist oder
2.
wer in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.
Die Sätze 1 und 3 Nummer 2 gelten für Bewohner von Räumlichkeiten im Sinne des § 42a Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 des Zwölften Buches entsprechend.

(4a) (weggefallen)

(5) Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Satz 1 gilt auch für Auszubildende, deren Bedarf sich nach § 61 Absatz 2, § 62 Absatz 3, § 123 Nummer 2 sowie § 124 Nummer 2 des Dritten Buches bemisst.

(6) Absatz 5 Satz 1 ist nicht anzuwenden auf Auszubildende,

1.
die aufgrund von § 2 Absatz 1a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben,
2.
deren Bedarf sich nach den §§ 12, 13 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 oder nach § 13 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bemisst und die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz
a)
erhalten oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten oder
b)
beantragt haben und über deren Antrag das zuständige Amt für Ausbildungsförderung noch nicht entschieden hat; lehnt das zuständige Amt für Ausbildungsförderung die Leistungen ab, findet Absatz 5 mit Beginn des folgenden Monats Anwendung, oder
3.
die eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule oder ein Abendgymnasium besuchen, sofern sie aufgrund des § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben.

(1) Ist die Revision unbegründet, so weist das Bundessozialgericht die Revision zurück. Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Gesetzesverletzung, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision ebenfalls zurückzuweisen.

(2) Ist die Revision begründet, so hat das Bundessozialgericht in der Sache selbst zu entscheiden. Sofern dies untunlich ist, kann es das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurückverweisen, welches das angefochtene Urteil erlassen hat.

(3) Die Entscheidung über die Revision braucht nicht begründet zu werden, soweit das Bundessozialgericht Rügen von Verfahrensmängeln nicht für durchgreifend erachtet. Dies gilt nicht für Rügen nach § 202 in Verbindung mit § 547 der Zivilprozeßordnung und, wenn mit der Revision ausschließlich Verfahrensmängel geltend gemacht werden, für Rügen, auf denen die Zulassung der Revision beruht.

(4) Verweist das Bundessozialgericht die Sache bei der Sprungrevision nach § 161 zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück, so kann es nach seinem Ermessen auch an das Landessozialgericht zurückverweisen, das für die Berufung zuständig gewesen wäre. Für das Verfahren vor dem Landessozialgericht gelten dann die gleichen Grundsätze, wie wenn der Rechtsstreit auf eine ordnungsgemäß eingelegte Berufung beim Landessozialgericht anhängig geworden wäre.

(5) Das Gericht, an das die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, hat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen.

Das Bundessozialgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

(1) Gegen das Urteil eines Sozialgerichts steht den Beteiligten die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und wenn sie von dem Sozialgericht im Urteil oder auf Antrag durch Beschluß zugelassen wird. Der Antrag ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag oder, wenn die Revision im Urteil zugelassen ist, der Revisionsschrift beizufügen.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 vorliegen. Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden. Die Ablehnung der Zulassung ist unanfechtbar.

(3) Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluß ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist oder der Frist für die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung von neuem, sofern der Antrag in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war. Läßt das Sozialgericht die Revision durch Beschluß zu, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(4) Die Revision kann nicht auf Mängel des Verfahrens gestützt werden.

(5) Die Einlegung der Revision und die Zustimmung des Gegners gelten als Verzicht auf die Berufung, wenn das Sozialgericht die Revision zugelassen hat.

(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein.

(2) Der Kläger ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

(3) Eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts kann mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde begehren, wenn sie behauptet, daß die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite.

(4) Betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, so kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden.

(5) Mit der Klage kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte.

(1) Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.

(2) Von der Anhörung kann abgesehen werden, wenn

1.
eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint,
2.
durch die Anhörung die Einhaltung einer für die Entscheidung maßgeblichen Frist in Frage gestellt würde,
3.
von den tatsächlichen Angaben eines Beteiligten, die dieser in einem Antrag oder einer Erklärung gemacht hat, nicht zu seinen Ungunsten abgewichen werden soll,
4.
Allgemeinverfügungen oder gleichartige Verwaltungsakte in größerer Zahl erlassen werden sollen,
5.
einkommensabhängige Leistungen den geänderten Verhältnissen angepasst werden sollen,
6.
Maßnahmen in der Verwaltungsvollstreckung getroffen werden sollen oder
7.
gegen Ansprüche oder mit Ansprüchen von weniger als 70 Euro aufgerechnet oder verrechnet werden soll; Nummer 5 bleibt unberührt.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 9. Mai 2012 aufgehoben und der Rechtstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Aufhebung und Erstattung von SGB II-Leistungen für den Zeitraum vom 6.8.2005 bis 31.1.2006.

2

Die 1983 geborene ledige Klägerin wohnte im streitigen Zeitraum nicht mehr bei ihren Eltern, sondern (zunächst) zur Untermiete mit einer monatlichen Pauschalmiete in Höhe von 180 Euro. Mit Wirkung zum 15.8.2005 unterzeichnete sie einen Mietvertrag über eine 45 qm große Zwei-Zimmer-Wohnung, für die sie monatlich 200 Euro Grundmiete zzgl 60 Euro Betriebs- und Nebenkosten zu zahlen hatte. Nach einer Ausbildung zur Bürokauffrau bezog sie bis 5.8.2005 Alg in Höhe von 11,99 Euro je Kalendertag. Am 27.7.2005 teilte sie ihrem Arbeitsvermittler bei der Agentur für Arbeit mit, dass sie ab 25.8.2005 eine berufsbildende Schule (BbS) besuchen werde, um die Fachhochschulreife zu erwerben.

3

Ebenfalls am 27.7.2005 beantragte sie bei dem Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. In dem am 1.8.2005 ausgefüllten Antragsvordruck gab sie an, keine Ausbildung zu absolvieren und über kein Einkommen zu verfügen (Frage IV). Zu der Frage IX betreffend "Sonstige Ansprüche gegenüber Arbeitgeber, Sozialleistungsträger und Schadenersatzansprüche" machte sie keine Angaben. Der Beklagte bewilligte SGB II-Leistungen für die Zeit vom 6.8.2005 bis 31.1.2006 in Höhe von 511 Euro monatlich (Regelleistung in Höhe von 331 Euro, Kosten für die Unterkunft und Heizung in Höhe von 180 Euro), für August 2005 nur anteilige Leistungen in Höhe von insgesamt 442,87 Euro (Bescheid vom 5.9.2005). Am 22.8.2005 beantragte die Klägerin die Bewilligung von BAföG-Leistungen, die ihr erst mit Bescheid vom 30.11.2005 in Höhe von 297 Euro monatlich für die Monate August 2005 bis Juli 2006 unter Berücksichtigung eines Grundbedarfs von 417 Euro, Unterkunftskosten von 64 Euro sowie Anrechnung des Einkommens ihrer Eltern mit dem Vorbehalt einer erneuten Einkommensprüfung zuerkannt wurden.

4

Mit dem SGB II-Fortzahlungsantrag vom 2.2.2006 gab die Klägerin erstmals an, dass sie BAföG beziehe. Auf das Anhörungsschreiben des Beklagten vom 15.2.2006 zur beabsichtigten Aufhebung der Bewilligung und zur Rückforderung teilte sie mit, sie habe den Beklagten bereits am 20.9.2006 telefonisch über den BAföG-Antrag unterrichtet. Ihr sei jedoch die Auskunft erteilt worden, dass sie den Antrag auf SGB II-Leistungen noch nicht zurücknehmen solle, weil sie ansonsten ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten könne. Den BAföG-Bescheid habe sie nach Erhalt am 11.12.2005 an den Beklagten weitergeleitet und vorab in einem Telefonat am 12.12.2005 die Bewilligung von BAföG mitgeteilt.

5

Der Beklagte hob die Bewilligung der SGB II-Leistungen für die Zeit vom 6. bis 31.8.2005 in Höhe von 442,87 Euro und für die Monate September 2005 bis Januar 2006 in Höhe von jeweils 511 Euro/Monat ganz auf. Die Klägerin habe den BAföG-Bescheid erst mit dem Fortzahlungsantrag auf SGB II-Leistungen am 2.2.2006 eingereicht und dadurch ihre Mitteilungspflichten grob fahrlässig verletzt (Bescheid vom 15.5.2006). Mit Widerspruchsbescheid vom 21.9.2006 führte der Beklagte aus, die Klägerin sei durch die Aufnahme ihrer Ausbildung von SGB II-Leistungen ausgeschlossen gewesen. Der bereits bei seinem Erlass rechtswidrige Bewilligungsbescheid habe aufgehoben werden dürfen, weil sie sich nicht auf Vertrauensschutz berufen könne. Sie habe mit ihrer Unterschrift versichert, Änderungen insbesondere der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse unaufgefordert und unverzüglich mitzuteilen, dies jedoch unterlassen. Ihr habe klar sein müssen, dass der Antrag auf BAföG Auswirkungen auf die bei dem Beklagten beantragten Leistungen haben werde.

6

Das SG hat den Bescheid vom 15.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides zum 21.9.2006 aufgehoben (Urteil vom 17.3.2008) und zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Klägerin könne sich auf Vertrauensschutz berufen. Sie habe in der mündlichen Verhandlung glaubhaft versichert, dass ihr nicht bekannt gewesen sei, wie sich der Bezug von Leistungen nach dem BAföG zu dem SGB II-Anspruch verhalte. Auch ihre Mitteilungspflicht habe sie nicht grob fahrlässig verletzt, weil sie ihrem Arbeitsvermittler den Beginn der Ausbildung angezeigt habe. Der Beklagte habe als Arbeitsgemeinschaft iS von § 44b SGB II im streitigen Zeitraum lediglich die Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit als Leistungsträger wahrgenommen. Nach § 44b Abs 4 SGB II teilten sich die Agentur für Arbeit und der kommunale Träger alle Tatsachen mit, von denen sie Kenntnis erhielten und die für die Leistungen des jeweils anderen Trägers erheblich sein könnten.

7

Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG das Urteil des SG abgeändert und - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen - den Bescheid des Beklagten vom 15.5.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 21.9.2006 aufgehoben, soweit die Leistungsbewilligung vom 5.9.2005 für die Zeit vom 6. bis 24.8.2005 aufgehoben und eine Erstattung von mehr als 2674,23 Euro gefordert wurde (Urteil vom 9.5.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die Rechtmäßigkeit der Höhe der Leistungsbewilligung in dem SGB II-Bescheid vom 5.9.2005 sei nicht zu prüfen. Dessen Bestandskraft führe dazu, dass der Leistungsanspruch und der dem Bewilligungsbescheid zugrunde liegende Sachverhalt nicht von Amts wegen zu überprüfen seien. Die Klägerin sei ab 25.8.2005 vom Bezug von SGB II-Leistungen nach § 7 Abs 5 S 1 SGB II ausgeschlossen gewesen, weil sie eine nach dem BAföG dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung absolviert habe. Sie habe durch zumindest unvollständige Angaben die Überzahlung ab 25.8.2005 grob fahrlässig iS des § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB X verursacht. Obwohl sie ausdrücklich befragt worden sei, habe sie nicht auf den beabsichtigen BAföG-Antrag hingewiesen und den Beklagten auch nicht unverzüglich über den später gestellten Antrag informiert. Der von ihr behauptete Anruf bei dem Beklagten am 20.9.2005 sei zu spät erfolgt und unerheblich. Ihrer Mitteilungspflicht sei die Klägerin auch nicht dadurch nachgekommen, dass sie ihren Arbeitsvermittler bei der Bundesagentur für Arbeit am 27.7.2005 über den beabsichtigten Besuch der BbS zum Erwerb der Fachhochschulreife informiert habe. Adressat dieser Angabe hätte der Beklagte sein müssen. Zwar habe dieser damals noch in der Rechtsform der ARGE auch die Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit bzw umgekehrt die Bundesagentur für Arbeit diejenigen des Grundsicherungsträgers wahrgenommen. Eine Wissenszurechnung komme aber nicht in Betracht, weil die Aufgabenwahrnehmung in zwei unterschiedlichen Behördenstrukturen geschehe. Die Klägerin sei von ihrem Arbeitsvermittler ausdrücklich auf die SGB II-Antragstellung hingewiesen worden. Durch seine Angaben sei ihr bekannt gewesen, dass SGB II-Leistungen in einem "gesonderten Verfahren" bewilligt würden. Die Verletzung der Mitteilungspflicht sei auch grob fahrlässig. Die Klägerin sei darüber belehrt worden, dass sie alle Änderungen in ihren persönlichen Verhältnissen dem Beklagten anzuzeigen habe. Ihr habe - insbesondere nach dem Gespräch beim Arbeitsvermittler - klar sein müssen, dass sie die beabsichtigte Leistung bzw Beantragung von BAföG-Leistungen dem Beklagten gegenüber mitzuteilen hätte. Die Revision sei zuzulassen, weil die Rechtsfrage, ob auch im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Rücknahme nach § 45 SGB X die Berechnungselemente der bestandskräftig bewilligten SGB II-Leistung von Amts wegen überprüft werden müssten, höchstrichterlich nicht eindeutig geklärt sei. Wegen der erhöhten Kosten für Unterkunft und Heizung ab 15.8.2005 sei diese Frage entscheidungserheblich.

8

Mit ihrer Revision trägt die Klägerin vor, ihr Vertrauen in den Bestand der SGB II-Leistungen sei bereits deshalb schutzwürdig, weil sie dem Arbeitsvermittler bei der Bundesagentur für Arbeit am 27.7.2005 über den Besuch der BbS zum Erwerb der Fachhochschulreife informiert habe. Die vom LSG vorgenommene Differenzierung zwischen den Zuständigkeiten des Arbeitsvermittlers bei der Bundesagentur für Arbeit und eines vermeintlichen Adressaten bei der ARGE könne nicht durchgreifen, weil die Bundesagentur für Arbeit zum damaligen Zeitpunkt Träger von Leistungen nach dem SGB II gewesen sei. Auch bestehe nach § 44b Abs 4 SGB II eine Pflicht zum Austausch der Information zwischen beiden Trägern. Die Ausführungen des LSG stellten keine für ein Urteil tragfähige Grundlage dar, weil nicht erkennbar sei, dass der zuständige Arbeitsvermittler eine Informationsweitergabe nicht beabsichtigt habe. Sie habe nicht gewusst, wie es sich mit dem BAföG und dem Alg II verhalte. Zum damaligen Zeitpunkt habe es auch Mitschüler gegeben, die neben dem BAföG SGB II-Leistungen erhalten hätten. Auch habe das LSG den Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes in Bezug auf die Aussage des zuständigen Mitarbeiters des Beklagten völlig außer Betracht gelassen, obwohl hierfür bereits in erster Instanz Beweis durch das Zeugnis der Frau C B angeboten worden sei. Nach Beantragung des BAföG habe sie sich am 20.9.2006 gegen 16:05 Uhr mit dem zuständigen Mitarbeiter des Beklagten in Verbindung gesetzt. Ihr sei mitgeteilt worden, dass sie es bis zur Bewilligung des Bafög bei den SGB II-Leistungen belassen solle, weil ihr Lebensunterhalt ansonsten nicht gesichert sei. Nach der Bewilligung der BAföG-Leistungen habe sie sich am 12.12.2005 um 15:23 Uhr erneut mit dem Beklagten in Verbindung gesetzt (im Berufungsverfahren vorgelegte Einzelverbindungsaufstellungen des Telefonanbieters). Schließlich habe das LSG bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Aufhebung die Berechnungselemente der bestandskräftig bewilligten SGB II-Leistungen, also auch die zutreffende Höhe der KdU, von Amts wegen prüfen müssen.

9

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 9. Mai 2012 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stendal vom 17. März 2008 zurückzuweisen.

10

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

11

Er bezieht sich auf die Ausführungen des Berufungsgerichts.

Entscheidungsgründe

12

Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Die bisher getroffenen Feststellungen lassen keine abschließende - positive oder negative - Entscheidung darüber zu, ob und ggf in welchem Umfang der Beklagte berechtigt war, die SGB II-Leistungen für den noch streitigen Zeitraum vom 25.8.2005 bis 31.1.2006 aufzuheben und die Erstattung der erbrachten Leistungen zu verlangen.

13

1. Das beklagte Jobcenter ist gemäß § 70 Nr 1 SGG beteiligtenfähig. Die beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG gehen in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Jobcenter (§ 6d SGB I idF des Gesetzes vom 3.8.2010, BGBl I 1112) mit Wirkung vom 1.1.2011 als Rechtsnachfolger kraft Gesetzes an die Stelle der bisher beklagten Arbeitsgemeinschaft (vgl § 76 Abs 3 S 1 SGB II) getreten sind. Dieser kraft Gesetzes eingetretene Beteiligtenwechsel wegen der Weiterentwicklung des SGB II ist keine im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung. Das Passivrubrum war daher von Amts wegen zu berichtigen. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Vorschrift des § 44b SGB II bestehen nicht, weil der Gesetzgeber sich bei der einfachgesetzlichen Ausgestaltung innerhalb des von Art 91e Abs 1 und 3 GG eröffneten Gestaltungsspielraums bewegt(vgl dazu Urteile des Senats vom 18.1.2011 ua - B 4 AS 99/10 R - SozR 4-4200 § 37 Nr 5).

14

2. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 15.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.9.2006. Hiergegen wendet sich die Klägerin zu Recht mit der isolierten Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG).

15

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, dass die formellen Voraussetzungen für eine Rücknahme oder Aufhebung des Bescheides vom 5.9.2005 gegeben sind. Die Klägerin ist ordnungsgemäß angehört worden. Nach § 24 Abs 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Dies sind alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, dh auf die sich die Verwaltung auch gestützt hat (BSGE 69, 247 = SozR 3-1300 § 24 Nr 4 S 9; vgl zuletzt Urteil des Senats vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R - SozR 4-1300 § 41 Nr 2, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen). Der Beklagte hat die beabsichtigte Aufhebung der Leistungsbewilligung im Anhörungsschreiben vom 15.2.2006 und im Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 15.5.2006 darauf gestützt, dass die Klägerin bei dem Antrag auf SGB II-Leistungen nicht angegeben habe, dass sie die Beantragung von BAföG-Leistungen beabsichtige bzw sie - nach entsprechender Antragstellung beim Amt für Ausbildungsförderung - diesen Umstand nicht unverzüglich mitgeteilt habe. Ihr sind insofern die wesentlichen Umstände, die aus Sicht des Beklagten zur Aufhebung der Bewilligungsentscheidung führten, in hinreichendem Umfang mit der Möglichkeit zur Stellungnahme eröffnet worden.

16

Der Bescheid vom 15.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.9.2006 genügt auch den Anforderungen an die Bestimmtheit von Verwaltungsakten. Das Bestimmtheitserfordernis nach § 33 Abs 1 SGB X als materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung verlangt, dass der Verfügungssatz nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist. Der Betroffene muss bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzt werden, die in ihm getroffene Rechtsfolge vollständig, klar und unzweideutig zu erkennen und sein Verhalten daran auszurichten (vgl BSGE 105, 194 = SozR 4-4200 § 31 Nr 2, RdNr 13 mwN; BSG SozR 4-4200 § 31 Nr 3 RdNr 16 mwN; BSG Urteil vom 15.12.2010 - B 14 AS 92/09 R - RdNr 18; BSGE 108, 289 ff = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 31). Insofern geht aus dem angefochtenen Bescheid vom 15.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.9.2006 hervor, dass der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 5.9.2005 in vollem Umfang aufheben wollte.

17

3. Als Rechtsgrundlage für die Rücknahme bzw Aufhebung des bindenden Bewilligungsbescheides vom 5.9.2005 kommt hier sowohl § 40 SGB II iVm § 45 SGB X als auch § 40 SGB II iVm § 48 SGB X in Betracht. § 45 Abs 1 SGB X regelt, dass ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise zurückgenommen werden darf. § 45 SGB X findet Anwendung, wenn der Verwaltungsakt bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig war und deswegen geändert werden soll. Nach § 48 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wegen § 40 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II (in der Fassung bis zum 31.3.2011) iVm § 330 Abs 2 und 3 SGB III ist diese Rechtsfolge jeweils zwingend. Beide Normen grenzen sich nach den objektiven Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes, der aufgehoben werden soll, ab (vgl zuletzt BSG Urteil vom 21.6.2011 - B 4 AS 22/10 R - juris RdNr 16 mwN), knüpfen an unterschiedliche Sachverhalte und Verschuldensvorwürfe im Sinne der subjektiven Voraussetzungen für eine Rücknahme bzw Aufhebung an und haben ggf unterschiedliche Konsequenzen für den Umfang einer rechtmäßigen Aufhebung und Erstattungsforderung. Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, dass einer Rücknahme nach § 45 SGB X nicht schon entgegensteht, dass der Beklagte den Bescheid vom 15.5.2006 zunächst auf § 48 SGB X gestützt hat. Da der angefochtene Bescheid in seinem Verfügungssatz nicht geändert worden ist und die Rücknahme nur mit einer anderen Rechtsgrundlage begründet wird, sind die Voraussetzungen einer Umdeutung nach § 43 SGB X hier nicht zu prüfen(vgl BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 42 S 138; BSG SozR 3-1300 § 24 Nr 21 S 61).

18

4. a) Ob sich der Beklagte für die Aufhebung des SGB II-Bewilligungsbescheides vom 5.9.2005 auf § 45 SGB X stützen konnte, kann der Senat aber nicht abschließend beurteilen. Zwar liegt eine anfängliche Rechtswidrigkeit vor. Es sind jedoch noch Feststellungen dazu erforderlich, ob sich die Klägerin auf Vertrauensschutz berufen kann.

19

Der Bescheid vom 5.9.2005 war bereits im Zeitpunkt seines Erlasses insoweit rechtswidrig, als der Beklagte über den tatsächlichen Beginn der Ausbildung am 25.8.2005 hinaus SGB II-Leistungen gewährt hat. Ab diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin keinen Anspruch auf Leistungen mehr, weil der Anspruchsausschluss nach § 7 Abs 5 S 1 SGB II eingriff. Nach § 7 Abs 5 S 1 SGB II(idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I 2954) haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des BAföG oder der §§ 60 bis 62 SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Eine Ausnahme hiervon galt nach § 7 Abs 6 SGB II aF nur für bestimmte Gruppen von Auszubildenden, zu denen die Klägerin nicht gehörte.

20

Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) besuchte die Klägerin seit dem 25.8.2005 eine dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung iS des § 2 Abs 1 Nr 6 BAföG(in der Neufassung des Gesetzes vom 23.12.2003 mit Wirkung vom 1.1.2005). Das LSG hat zutreffend ausgeführt, dass der Besuch der berufsbildenden Schule zum Erwerb der Fachhochschulreife nach § 2 Abs 1 Nr 1 BAföG förderungsfähig ist, weil er eine abgeschlossene Berufsausbildung voraussetzt(§ 4 Abs 1 Verordnung über Berufsbildende Schulen). Durch die in § 7 Abs 5 S 1 SGB II enthaltene Formulierung ("dem Grunde nach") wird zudem klargestellt, dass es nur auf die abstrakte Förderfähigkeit der Ausbildung ankommt(BSGE 99, 67 = SozR 4-4200 § 7 Nr 6 RdNr 15; BSG Urteil vom 22.3.2012 - B 4 AS 102/11 R). Ein tatsächlicher Bezug der Leistungen zur Ausbildungsförderung ist daher für den Anspruchsausschluss nicht erforderlich (Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, § 7 RdNr 280, Stand 9/12). Dass der Klägerin erst mit Bescheid vom 30.11.2005, also mehr als drei Monate nach Ausbildungsbeginn, BAföG-Leistungen bewilligt worden sind, ist daher für den Eintritt des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs 5 S 1 SGB II unerheblich. Auch ein Härtefall im Sinne der Regelung des § 7 Abs 5 S 2 SGB II, nach welcher trotz Leistungsausschlusses in besonderen Härtefällen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erbracht werden können, ist hier nach den Feststellungen des LSG(§ 163 SGG) nicht gegeben. Das BSG hat auch bereits entschieden, dass der Leistungsausschluss keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet und der Gesetzgeber nicht gehalten ist, außerhalb des besonderen Systems zur Ausbildungsförderung den Lebensunterhalt während der Ausbildung sicherzustellen (BSGE 99, 67 = SozR 4-4200 § 7 Nr 6 RdNr 28).

21

b) Der Senat kann aber nicht abschließend beurteilen, ob die Rücknahme des SGB II-Bewilligungsbescheids wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit nach § 45 SGB X daran scheitert, dass sich die Klägerin auf Vertrauensschutz berufen kann. Nach § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB X scheidet dies aus, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

22

Das LSG hat grob fahrlässig unvollständige Angaben zunächst darin gesehen, dass die Klägerin die Frage IX des am 1.8.2005 ausgefüllten Antragsvordrucks, ob sie (eine) andere Leistung(en) beantragt habe oder dies beabsichtigte, nicht beantwortet habe. Insofern ist es zwar zutreffend davon ausgegangen, dass bei den hier nur denkbaren "unrichtigen Angaben" durch Verschweigen von Umständen regelmäßig auf dasjenige abzustellen ist, was im Antrag abgefragt wird. Auch reicht es aus, wenn - wie hier nach dem SGB II-Antrag durch die weitere Beantragung des BAföG - zwischen dem Antrag und dem Erlass des Bescheids eine Änderung eintritt und der Leistungsempfänger diese Änderung entgegen seiner Mitteilungspflicht nicht mitteilt. Ein solches Unterlassen nach vorheriger Abfrage dieses Umstandes ist bei der Rücknahme der Leistungsbewilligung wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit der unrichtigen oder unvollständigen Angabe im Antragsvordruck gleichzusetzen (BSGE 96, 285, 290 = SozR 4-4300 § 122 Nr 4).

23

c) Es kann dahingestellt bleiben, ob dieses Handeln grob fahrlässig war. Der Senat folgt dem LSG schon aus Rechtsgründen nicht hinsichtlich der Annahme, dass die Klägerin durch unterlassene Angaben zu einer künftigen BAföG-Beantragung bzw nicht unverzüglicher Mitteilung des späteren BAföG-Antrags zu dem anfänglich rechtswidrigen Bescheid vom 5.9.2005 beigetragen habe. Insofern ist zu berücksichtigen, dass die unvollständigen oder unzutreffenden ("unrichtigen") Angaben iS des § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB X in "wesentlicher Beziehung" unrichtig bzw unvollständig sein müssen und zudem Umstände betreffen müssen, auf denen die fragliche Leistung "beruht". Zwischen der Verletzung der Anzeigepflicht und der Bewilligung der Leistung muss daher ein Zusammenhang in der Weise bestehen, dass die rechtswidrige Leistungsgewährung wesentlich durch die Verletzung der Anzeigepflicht veranlasst worden ist ("Kausalzusammenhang"). Dies beinhaltet, dass es bei richtigen Angaben bzw rechtzeitiger Anzeige des konkret bezeichneten Umstandes nicht zu den anfänglich rechtswidrigen Leistungen gekommen wäre (vgl BSGE 47, 28, 31 = SozR 4100 § 152 Nr 6 S 11). Rechtfertigender Grund für die Antragstellern und Sozialleistungsbeziehern auferlegten Mitteilungspflichten, insbesondere derjenigen nach § 60 Abs 1 Nr 1 SGB I, ist gerade, dass diese Umstände für die fragliche Leistung rechtlich erheblich sind. In diesem Sinne war die beabsichtigte BAföG-Antragstellung bzw der kurz vor der SGB II-Bewilligung dann tatsächlich gestellte BAföG-Antrag kein wesentlicher bzw "erheblicher" Umstand, weil eine anfängliche Rechtswidrigkeit des SGB II-Bescheides iS von § 45 SGB X - auch nach der vom Beklagten erst im Widerspruchsbescheid vertretenen und zutreffenden Rechtsauffassung - nur wegen des tatsächlichen Ausbildungsbeginns ab 25.8.2005, nicht jedoch wegen der zu diesem Zeitpunkt erst beantragten BAföG-Leistungen gegeben war.

24

d) Soweit das LSG eine Verletzung der Mitteilungspflicht angenommen hat, weil die Klägerin - nach Unterrichtung des Arbeitsvermittlers bei der BA am 27.7.2005 - dem Beklagten als nunmehr zuständigen Träger die beabsichtigte Aufnahme der Ausbildung an der berufsbildenden Schule zum Erwerb der Fachhochschulreife nicht (erneut) mitgeteilt habe, handelt es sich zwar um einen Umstand, auf dem die anfänglich rechtswidrige SGB II-Bewilligung beruht. Insofern kann der Senat aber nicht abschließend beurteilen, ob die Klägerin ihrer Mitteilungspflicht grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Zwar hat das LSG in seinem Urteil erörtert, ob und ggf in welchem Umfang gesonderte Mitteilungspflichten gegenüber dem Beklagten bestanden. Die Feststellungen des Berufungsgerichts zu einer groben Fahrlässigkeit des Handelns der Klägerin betreffen jedoch allein die unterlassene Mitteilung einer beabsichtigten und dann tatsächlich vorgenommenen BAföG-Beantragung.

25

Bei den insofern noch nachzuholenden Feststellungen zur groben Fahrlässigkeit der Klägerin bezogen auf einen nicht (erneut) mitgeteilten Ausbildungsbeginn dürfte zu berücksichtigen sein, dass es sich im Zusammenwirken der existenzsichernden Leistungen bei Aufnahme einer weiterführenden Ausbildung aus Laiensicht nicht ohne Weiteres aufdrängen musste, dass eine (vorläufige) Weiterzahlung der SGB II-Leistungen mit dem Beginn der tatsächlichen Ausbildung und unabhängig vom Zeitpunkt der Aufnahme der BAföG-Leistungen generell ausschied (§ 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X) und deshalb gerade dem tatsächlichen Ausbildungsbeginn maßgebende Bedeutung zukam (vgl nunmehr auch den durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 mit Wirkung zum 1.4.2011 eingeführten § 27 Abs 4 S 2 SGB II, wonach darlehensweise weiterhin SGB II-Leistungen zumindest für den Monat der Aufnahme einer Ausbildung erbracht werden können). Hiervon geht letztlich auch das LSG aus, weil es dem konkreten, bisher nicht umfassend aufgeklärten Handeln des Arbeitsvermittlers entscheidende Bedeutung beimisst. Insofern dürften noch tatsächliche Feststellungen zu den genauen Umständen der SGB II-Antragstellung über den Arbeitsvermittler der Agentur für Arbeit am 27.7.2005 und dem konkreten Zusammenwirken zwischen der BA und dem Beklagten im Falle der Klägerin in der hier streitigen Anfangszeit des SGB II erforderlich sein. Jedenfalls nach Aktenlage könnte der Vermerk des Arbeitsvermittlers vom 27.7.2005, dass ihr der Antrag auf Alg II ausgehändigt worden sei, im Sinne eines engen Zusammenwirkens und Weitergabe von Informationen auch unabhängig von einer gesonderten SGB II-Antragstellung verstanden worden sein.

26

5. Kommt das LSG nach weiterer Aufklärung der Gesamtumstände zu dem Ergebnis, dass eine vollständige Rücknahme des Bescheides vom 5.9.2005 nach § 45 SGB X wegen Vertrauensschutzes ausscheidet, ist die Rücknahmeentscheidung ggf als Aufhebung der Leistungsbewilligung wegen wesentlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nach § 48 Abs 1 S 1 SGB X (teilweise) rechtmäßig. Der Verwaltungsakt soll gemäß § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde. § 48 SGB X ist auch auf anfänglich rechtwidrige Dauerverwaltungsakte anwendbar, wenn sich die Verhältnisse nachträglich ändern. § 45 SGB X sperrt die Aufhebung nach § 48 SGB X wegen einer nachträglichen Änderung in jenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, auf denen die (ursprüngliche) Rechtswidrigkeit nicht beruht, nicht(BSG Urteil vom 11.4.2002 - B 3 P 8/01 R - USK 2002-59, juris RdNr 18; ausführlich Padé in juris-PK § 45 SGB X RdNr 56 ff, 1. Aufl 2013; BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 47, S 105). Der Beklagte hat seine Aufhebung mit Bescheid vom 15.5.2006 ebenso wie das Anhörungsschreiben vom 15.2.2006 im Übrigen zunächst darauf gestützt, dass die Klägerin BAföG-Leistungen, also nach § 11 SGB II zu berücksichtigendes Einkommen, erhalten habe. Auch zur Möglichkeit einer Aufhebung nach § 48 SGB X sind aber noch weitere Feststellungen des LSG erforderlich.

27

Nach § 11 Abs 1 S 1 SGB II sind als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld oder Geldeswert. Hierzu zählen die BAföG-Zahlungen in (vorläufiger) Höhe von 297 Euro monatlich; die in § 11 Abs 1 SGB II normierten Ausnahmen sind hier nicht von Bedeutung. Einkommen iS des § 11 Abs 1 SGB II ist nach der Rechtsprechung der für Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG zur sog Zuflusstheorie grundsätzlich alles, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu erhält. Laufende Einnahmen sind für den Monat zu berücksichtigen, in dem sie zufließen (§ 2 Abs 2 S 1 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld/Sozialgeld vom 20.10.2004 ). Insofern fehlen noch Feststellungen des LSG zu dem iS von § 11 Abs 2 SGB II maßgeblichen Zeitpunkt des Zuflusses und zu den vom Einkommen der Klägerin nach § 11 Abs 2 SGB II absetzbaren Beträgen. Auch ist zu prüfen, ob von dem im BAföG-Bescheid vom 30.11.2005 enthaltenen "Vorbehalt einer erneuten Einkommensprüfung" Gebrauch gemacht wurde.

28

6. Bei der Prüfung der Rücknahme- bzw Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung des Beklagten hat aber der Umstand keine Bedeutung, dass die Klägerin ggf Anspruch auf höhere KdU im Rahmen einer schon anfänglich rechtswidrigen SGB II-Bewilligung hätte haben können. Zwar hat sie dies - nach Aktenlage - gegenüber dem Beklagten durch Vorlage von Mietunterlagen geltend gemacht. Auch ist, wenn - wie hier - ein vollständiger oder teilweiser Eingriff in die Bestandskraft der in einer bestimmten Höhe bewilligten SGB II-Leistung erfolgt, dessen Berechtigung grundsätzlich unter Einbeziehung der weiteren, den Grund und die Höhe der bereits bewilligten Leistungen betreffenden Berechnungsfaktoren (unter Berücksichtigung des § 44 SGB X) zu prüfen, soweit Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit ersichtlich oder vorgetragen sind(vgl zu § 48 SGB X: Urteil des Senats vom 16.5.2012 - B 4 AS 132/11 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 60 RdNr 26). Hier waren nach der objektiven tatsächlichen und rechtlichen Ausgangslage für den im Revisionsverfahren noch streitigen Aufhebungszeitraum ab Ausbildungsbeginn am 25.8.2005 aber von vorneherein schon deshalb keine höheren SGB II-Leistungen möglich, weil der Anspruchsausschluss nach § 7 Abs 5 SGB II für sämtliche SGB II-Leistungen galt. § 22 Abs 7 SGB II, der abweichend hiervon für Auszubildende mit ungedeckten angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung einen Zuschuss ermöglicht, ist erst mit Wirkung zum 1.8.2006 durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006 (BGBl I 1706) neu eingeführt worden.

29

Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Ein Verwaltungsakt muss inhaltlich hinreichend bestimmt sein.

(2) Ein Verwaltungsakt kann schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden. Ein mündlicher Verwaltungsakt ist schriftlich oder elektronisch zu bestätigen, wenn hieran ein berechtigtes Interesse besteht und der Betroffene dies unverzüglich verlangt. Ein elektronischer Verwaltungsakt ist unter denselben Voraussetzungen schriftlich zu bestätigen; § 36a Abs. 2 des Ersten Buches findet insoweit keine Anwendung.

(3) Ein schriftlicher oder elektronischer Verwaltungsakt muss die erlassende Behörde erkennen lassen und die Unterschrift oder die Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder seines Beauftragten enthalten. Wird für einen Verwaltungsakt, für den durch Rechtsvorschrift die Schriftform angeordnet ist, die elektronische Form verwendet, muss auch das der Signatur zugrunde liegende qualifizierte Zertifikat oder ein zugehöriges qualifiziertes Attributzertifikat die erlassende Behörde erkennen lassen. Im Fall des § 36a Absatz 2 Satz 4 Nummer 3 des Ersten Buches muss die Bestätigung nach § 5 Absatz 5 des De-Mail-Gesetzes die erlassende Behörde als Nutzer des De-Mail-Kontos erkennen lassen.

(4) Für einen Verwaltungsakt kann für die nach § 36a Abs. 2 des Ersten Buches erforderliche Signatur durch Rechtsvorschrift die dauerhafte Überprüfbarkeit vorgeschrieben werden.

(5) Bei einem Verwaltungsakt, der mit Hilfe automatischer Einrichtungen erlassen wird, können abweichend von Absatz 3 Satz 1 Unterschrift und Namenswiedergabe fehlen; bei einem elektronischen Verwaltungsakt muss auch das der Signatur zugrunde liegende Zertifikat nur die erlassende Behörde erkennen lassen. Zur Inhaltsangabe können Schlüsselzeichen verwendet werden, wenn derjenige, für den der Verwaltungsakt bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, auf Grund der dazu gegebenen Erläuterungen den Inhalt des Verwaltungsaktes eindeutig erkennen kann.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 9. Mai 2012 aufgehoben und der Rechtstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Aufhebung und Erstattung von SGB II-Leistungen für den Zeitraum vom 6.8.2005 bis 31.1.2006.

2

Die 1983 geborene ledige Klägerin wohnte im streitigen Zeitraum nicht mehr bei ihren Eltern, sondern (zunächst) zur Untermiete mit einer monatlichen Pauschalmiete in Höhe von 180 Euro. Mit Wirkung zum 15.8.2005 unterzeichnete sie einen Mietvertrag über eine 45 qm große Zwei-Zimmer-Wohnung, für die sie monatlich 200 Euro Grundmiete zzgl 60 Euro Betriebs- und Nebenkosten zu zahlen hatte. Nach einer Ausbildung zur Bürokauffrau bezog sie bis 5.8.2005 Alg in Höhe von 11,99 Euro je Kalendertag. Am 27.7.2005 teilte sie ihrem Arbeitsvermittler bei der Agentur für Arbeit mit, dass sie ab 25.8.2005 eine berufsbildende Schule (BbS) besuchen werde, um die Fachhochschulreife zu erwerben.

3

Ebenfalls am 27.7.2005 beantragte sie bei dem Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. In dem am 1.8.2005 ausgefüllten Antragsvordruck gab sie an, keine Ausbildung zu absolvieren und über kein Einkommen zu verfügen (Frage IV). Zu der Frage IX betreffend "Sonstige Ansprüche gegenüber Arbeitgeber, Sozialleistungsträger und Schadenersatzansprüche" machte sie keine Angaben. Der Beklagte bewilligte SGB II-Leistungen für die Zeit vom 6.8.2005 bis 31.1.2006 in Höhe von 511 Euro monatlich (Regelleistung in Höhe von 331 Euro, Kosten für die Unterkunft und Heizung in Höhe von 180 Euro), für August 2005 nur anteilige Leistungen in Höhe von insgesamt 442,87 Euro (Bescheid vom 5.9.2005). Am 22.8.2005 beantragte die Klägerin die Bewilligung von BAföG-Leistungen, die ihr erst mit Bescheid vom 30.11.2005 in Höhe von 297 Euro monatlich für die Monate August 2005 bis Juli 2006 unter Berücksichtigung eines Grundbedarfs von 417 Euro, Unterkunftskosten von 64 Euro sowie Anrechnung des Einkommens ihrer Eltern mit dem Vorbehalt einer erneuten Einkommensprüfung zuerkannt wurden.

4

Mit dem SGB II-Fortzahlungsantrag vom 2.2.2006 gab die Klägerin erstmals an, dass sie BAföG beziehe. Auf das Anhörungsschreiben des Beklagten vom 15.2.2006 zur beabsichtigten Aufhebung der Bewilligung und zur Rückforderung teilte sie mit, sie habe den Beklagten bereits am 20.9.2006 telefonisch über den BAföG-Antrag unterrichtet. Ihr sei jedoch die Auskunft erteilt worden, dass sie den Antrag auf SGB II-Leistungen noch nicht zurücknehmen solle, weil sie ansonsten ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten könne. Den BAföG-Bescheid habe sie nach Erhalt am 11.12.2005 an den Beklagten weitergeleitet und vorab in einem Telefonat am 12.12.2005 die Bewilligung von BAföG mitgeteilt.

5

Der Beklagte hob die Bewilligung der SGB II-Leistungen für die Zeit vom 6. bis 31.8.2005 in Höhe von 442,87 Euro und für die Monate September 2005 bis Januar 2006 in Höhe von jeweils 511 Euro/Monat ganz auf. Die Klägerin habe den BAföG-Bescheid erst mit dem Fortzahlungsantrag auf SGB II-Leistungen am 2.2.2006 eingereicht und dadurch ihre Mitteilungspflichten grob fahrlässig verletzt (Bescheid vom 15.5.2006). Mit Widerspruchsbescheid vom 21.9.2006 führte der Beklagte aus, die Klägerin sei durch die Aufnahme ihrer Ausbildung von SGB II-Leistungen ausgeschlossen gewesen. Der bereits bei seinem Erlass rechtswidrige Bewilligungsbescheid habe aufgehoben werden dürfen, weil sie sich nicht auf Vertrauensschutz berufen könne. Sie habe mit ihrer Unterschrift versichert, Änderungen insbesondere der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse unaufgefordert und unverzüglich mitzuteilen, dies jedoch unterlassen. Ihr habe klar sein müssen, dass der Antrag auf BAföG Auswirkungen auf die bei dem Beklagten beantragten Leistungen haben werde.

6

Das SG hat den Bescheid vom 15.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides zum 21.9.2006 aufgehoben (Urteil vom 17.3.2008) und zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Klägerin könne sich auf Vertrauensschutz berufen. Sie habe in der mündlichen Verhandlung glaubhaft versichert, dass ihr nicht bekannt gewesen sei, wie sich der Bezug von Leistungen nach dem BAföG zu dem SGB II-Anspruch verhalte. Auch ihre Mitteilungspflicht habe sie nicht grob fahrlässig verletzt, weil sie ihrem Arbeitsvermittler den Beginn der Ausbildung angezeigt habe. Der Beklagte habe als Arbeitsgemeinschaft iS von § 44b SGB II im streitigen Zeitraum lediglich die Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit als Leistungsträger wahrgenommen. Nach § 44b Abs 4 SGB II teilten sich die Agentur für Arbeit und der kommunale Träger alle Tatsachen mit, von denen sie Kenntnis erhielten und die für die Leistungen des jeweils anderen Trägers erheblich sein könnten.

7

Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG das Urteil des SG abgeändert und - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen - den Bescheid des Beklagten vom 15.5.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 21.9.2006 aufgehoben, soweit die Leistungsbewilligung vom 5.9.2005 für die Zeit vom 6. bis 24.8.2005 aufgehoben und eine Erstattung von mehr als 2674,23 Euro gefordert wurde (Urteil vom 9.5.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die Rechtmäßigkeit der Höhe der Leistungsbewilligung in dem SGB II-Bescheid vom 5.9.2005 sei nicht zu prüfen. Dessen Bestandskraft führe dazu, dass der Leistungsanspruch und der dem Bewilligungsbescheid zugrunde liegende Sachverhalt nicht von Amts wegen zu überprüfen seien. Die Klägerin sei ab 25.8.2005 vom Bezug von SGB II-Leistungen nach § 7 Abs 5 S 1 SGB II ausgeschlossen gewesen, weil sie eine nach dem BAföG dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung absolviert habe. Sie habe durch zumindest unvollständige Angaben die Überzahlung ab 25.8.2005 grob fahrlässig iS des § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB X verursacht. Obwohl sie ausdrücklich befragt worden sei, habe sie nicht auf den beabsichtigen BAföG-Antrag hingewiesen und den Beklagten auch nicht unverzüglich über den später gestellten Antrag informiert. Der von ihr behauptete Anruf bei dem Beklagten am 20.9.2005 sei zu spät erfolgt und unerheblich. Ihrer Mitteilungspflicht sei die Klägerin auch nicht dadurch nachgekommen, dass sie ihren Arbeitsvermittler bei der Bundesagentur für Arbeit am 27.7.2005 über den beabsichtigten Besuch der BbS zum Erwerb der Fachhochschulreife informiert habe. Adressat dieser Angabe hätte der Beklagte sein müssen. Zwar habe dieser damals noch in der Rechtsform der ARGE auch die Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit bzw umgekehrt die Bundesagentur für Arbeit diejenigen des Grundsicherungsträgers wahrgenommen. Eine Wissenszurechnung komme aber nicht in Betracht, weil die Aufgabenwahrnehmung in zwei unterschiedlichen Behördenstrukturen geschehe. Die Klägerin sei von ihrem Arbeitsvermittler ausdrücklich auf die SGB II-Antragstellung hingewiesen worden. Durch seine Angaben sei ihr bekannt gewesen, dass SGB II-Leistungen in einem "gesonderten Verfahren" bewilligt würden. Die Verletzung der Mitteilungspflicht sei auch grob fahrlässig. Die Klägerin sei darüber belehrt worden, dass sie alle Änderungen in ihren persönlichen Verhältnissen dem Beklagten anzuzeigen habe. Ihr habe - insbesondere nach dem Gespräch beim Arbeitsvermittler - klar sein müssen, dass sie die beabsichtigte Leistung bzw Beantragung von BAföG-Leistungen dem Beklagten gegenüber mitzuteilen hätte. Die Revision sei zuzulassen, weil die Rechtsfrage, ob auch im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Rücknahme nach § 45 SGB X die Berechnungselemente der bestandskräftig bewilligten SGB II-Leistung von Amts wegen überprüft werden müssten, höchstrichterlich nicht eindeutig geklärt sei. Wegen der erhöhten Kosten für Unterkunft und Heizung ab 15.8.2005 sei diese Frage entscheidungserheblich.

8

Mit ihrer Revision trägt die Klägerin vor, ihr Vertrauen in den Bestand der SGB II-Leistungen sei bereits deshalb schutzwürdig, weil sie dem Arbeitsvermittler bei der Bundesagentur für Arbeit am 27.7.2005 über den Besuch der BbS zum Erwerb der Fachhochschulreife informiert habe. Die vom LSG vorgenommene Differenzierung zwischen den Zuständigkeiten des Arbeitsvermittlers bei der Bundesagentur für Arbeit und eines vermeintlichen Adressaten bei der ARGE könne nicht durchgreifen, weil die Bundesagentur für Arbeit zum damaligen Zeitpunkt Träger von Leistungen nach dem SGB II gewesen sei. Auch bestehe nach § 44b Abs 4 SGB II eine Pflicht zum Austausch der Information zwischen beiden Trägern. Die Ausführungen des LSG stellten keine für ein Urteil tragfähige Grundlage dar, weil nicht erkennbar sei, dass der zuständige Arbeitsvermittler eine Informationsweitergabe nicht beabsichtigt habe. Sie habe nicht gewusst, wie es sich mit dem BAföG und dem Alg II verhalte. Zum damaligen Zeitpunkt habe es auch Mitschüler gegeben, die neben dem BAföG SGB II-Leistungen erhalten hätten. Auch habe das LSG den Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes in Bezug auf die Aussage des zuständigen Mitarbeiters des Beklagten völlig außer Betracht gelassen, obwohl hierfür bereits in erster Instanz Beweis durch das Zeugnis der Frau C B angeboten worden sei. Nach Beantragung des BAföG habe sie sich am 20.9.2006 gegen 16:05 Uhr mit dem zuständigen Mitarbeiter des Beklagten in Verbindung gesetzt. Ihr sei mitgeteilt worden, dass sie es bis zur Bewilligung des Bafög bei den SGB II-Leistungen belassen solle, weil ihr Lebensunterhalt ansonsten nicht gesichert sei. Nach der Bewilligung der BAföG-Leistungen habe sie sich am 12.12.2005 um 15:23 Uhr erneut mit dem Beklagten in Verbindung gesetzt (im Berufungsverfahren vorgelegte Einzelverbindungsaufstellungen des Telefonanbieters). Schließlich habe das LSG bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Aufhebung die Berechnungselemente der bestandskräftig bewilligten SGB II-Leistungen, also auch die zutreffende Höhe der KdU, von Amts wegen prüfen müssen.

9

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 9. Mai 2012 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stendal vom 17. März 2008 zurückzuweisen.

10

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

11

Er bezieht sich auf die Ausführungen des Berufungsgerichts.

Entscheidungsgründe

12

Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Die bisher getroffenen Feststellungen lassen keine abschließende - positive oder negative - Entscheidung darüber zu, ob und ggf in welchem Umfang der Beklagte berechtigt war, die SGB II-Leistungen für den noch streitigen Zeitraum vom 25.8.2005 bis 31.1.2006 aufzuheben und die Erstattung der erbrachten Leistungen zu verlangen.

13

1. Das beklagte Jobcenter ist gemäß § 70 Nr 1 SGG beteiligtenfähig. Die beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG gehen in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Jobcenter (§ 6d SGB I idF des Gesetzes vom 3.8.2010, BGBl I 1112) mit Wirkung vom 1.1.2011 als Rechtsnachfolger kraft Gesetzes an die Stelle der bisher beklagten Arbeitsgemeinschaft (vgl § 76 Abs 3 S 1 SGB II) getreten sind. Dieser kraft Gesetzes eingetretene Beteiligtenwechsel wegen der Weiterentwicklung des SGB II ist keine im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung. Das Passivrubrum war daher von Amts wegen zu berichtigen. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Vorschrift des § 44b SGB II bestehen nicht, weil der Gesetzgeber sich bei der einfachgesetzlichen Ausgestaltung innerhalb des von Art 91e Abs 1 und 3 GG eröffneten Gestaltungsspielraums bewegt(vgl dazu Urteile des Senats vom 18.1.2011 ua - B 4 AS 99/10 R - SozR 4-4200 § 37 Nr 5).

14

2. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 15.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.9.2006. Hiergegen wendet sich die Klägerin zu Recht mit der isolierten Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG).

15

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, dass die formellen Voraussetzungen für eine Rücknahme oder Aufhebung des Bescheides vom 5.9.2005 gegeben sind. Die Klägerin ist ordnungsgemäß angehört worden. Nach § 24 Abs 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Dies sind alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, dh auf die sich die Verwaltung auch gestützt hat (BSGE 69, 247 = SozR 3-1300 § 24 Nr 4 S 9; vgl zuletzt Urteil des Senats vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R - SozR 4-1300 § 41 Nr 2, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen). Der Beklagte hat die beabsichtigte Aufhebung der Leistungsbewilligung im Anhörungsschreiben vom 15.2.2006 und im Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 15.5.2006 darauf gestützt, dass die Klägerin bei dem Antrag auf SGB II-Leistungen nicht angegeben habe, dass sie die Beantragung von BAföG-Leistungen beabsichtige bzw sie - nach entsprechender Antragstellung beim Amt für Ausbildungsförderung - diesen Umstand nicht unverzüglich mitgeteilt habe. Ihr sind insofern die wesentlichen Umstände, die aus Sicht des Beklagten zur Aufhebung der Bewilligungsentscheidung führten, in hinreichendem Umfang mit der Möglichkeit zur Stellungnahme eröffnet worden.

16

Der Bescheid vom 15.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.9.2006 genügt auch den Anforderungen an die Bestimmtheit von Verwaltungsakten. Das Bestimmtheitserfordernis nach § 33 Abs 1 SGB X als materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung verlangt, dass der Verfügungssatz nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist. Der Betroffene muss bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzt werden, die in ihm getroffene Rechtsfolge vollständig, klar und unzweideutig zu erkennen und sein Verhalten daran auszurichten (vgl BSGE 105, 194 = SozR 4-4200 § 31 Nr 2, RdNr 13 mwN; BSG SozR 4-4200 § 31 Nr 3 RdNr 16 mwN; BSG Urteil vom 15.12.2010 - B 14 AS 92/09 R - RdNr 18; BSGE 108, 289 ff = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 31). Insofern geht aus dem angefochtenen Bescheid vom 15.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.9.2006 hervor, dass der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 5.9.2005 in vollem Umfang aufheben wollte.

17

3. Als Rechtsgrundlage für die Rücknahme bzw Aufhebung des bindenden Bewilligungsbescheides vom 5.9.2005 kommt hier sowohl § 40 SGB II iVm § 45 SGB X als auch § 40 SGB II iVm § 48 SGB X in Betracht. § 45 Abs 1 SGB X regelt, dass ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise zurückgenommen werden darf. § 45 SGB X findet Anwendung, wenn der Verwaltungsakt bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig war und deswegen geändert werden soll. Nach § 48 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wegen § 40 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II (in der Fassung bis zum 31.3.2011) iVm § 330 Abs 2 und 3 SGB III ist diese Rechtsfolge jeweils zwingend. Beide Normen grenzen sich nach den objektiven Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes, der aufgehoben werden soll, ab (vgl zuletzt BSG Urteil vom 21.6.2011 - B 4 AS 22/10 R - juris RdNr 16 mwN), knüpfen an unterschiedliche Sachverhalte und Verschuldensvorwürfe im Sinne der subjektiven Voraussetzungen für eine Rücknahme bzw Aufhebung an und haben ggf unterschiedliche Konsequenzen für den Umfang einer rechtmäßigen Aufhebung und Erstattungsforderung. Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, dass einer Rücknahme nach § 45 SGB X nicht schon entgegensteht, dass der Beklagte den Bescheid vom 15.5.2006 zunächst auf § 48 SGB X gestützt hat. Da der angefochtene Bescheid in seinem Verfügungssatz nicht geändert worden ist und die Rücknahme nur mit einer anderen Rechtsgrundlage begründet wird, sind die Voraussetzungen einer Umdeutung nach § 43 SGB X hier nicht zu prüfen(vgl BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 42 S 138; BSG SozR 3-1300 § 24 Nr 21 S 61).

18

4. a) Ob sich der Beklagte für die Aufhebung des SGB II-Bewilligungsbescheides vom 5.9.2005 auf § 45 SGB X stützen konnte, kann der Senat aber nicht abschließend beurteilen. Zwar liegt eine anfängliche Rechtswidrigkeit vor. Es sind jedoch noch Feststellungen dazu erforderlich, ob sich die Klägerin auf Vertrauensschutz berufen kann.

19

Der Bescheid vom 5.9.2005 war bereits im Zeitpunkt seines Erlasses insoweit rechtswidrig, als der Beklagte über den tatsächlichen Beginn der Ausbildung am 25.8.2005 hinaus SGB II-Leistungen gewährt hat. Ab diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin keinen Anspruch auf Leistungen mehr, weil der Anspruchsausschluss nach § 7 Abs 5 S 1 SGB II eingriff. Nach § 7 Abs 5 S 1 SGB II(idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I 2954) haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des BAföG oder der §§ 60 bis 62 SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Eine Ausnahme hiervon galt nach § 7 Abs 6 SGB II aF nur für bestimmte Gruppen von Auszubildenden, zu denen die Klägerin nicht gehörte.

20

Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) besuchte die Klägerin seit dem 25.8.2005 eine dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung iS des § 2 Abs 1 Nr 6 BAföG(in der Neufassung des Gesetzes vom 23.12.2003 mit Wirkung vom 1.1.2005). Das LSG hat zutreffend ausgeführt, dass der Besuch der berufsbildenden Schule zum Erwerb der Fachhochschulreife nach § 2 Abs 1 Nr 1 BAföG förderungsfähig ist, weil er eine abgeschlossene Berufsausbildung voraussetzt(§ 4 Abs 1 Verordnung über Berufsbildende Schulen). Durch die in § 7 Abs 5 S 1 SGB II enthaltene Formulierung ("dem Grunde nach") wird zudem klargestellt, dass es nur auf die abstrakte Förderfähigkeit der Ausbildung ankommt(BSGE 99, 67 = SozR 4-4200 § 7 Nr 6 RdNr 15; BSG Urteil vom 22.3.2012 - B 4 AS 102/11 R). Ein tatsächlicher Bezug der Leistungen zur Ausbildungsförderung ist daher für den Anspruchsausschluss nicht erforderlich (Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, § 7 RdNr 280, Stand 9/12). Dass der Klägerin erst mit Bescheid vom 30.11.2005, also mehr als drei Monate nach Ausbildungsbeginn, BAföG-Leistungen bewilligt worden sind, ist daher für den Eintritt des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs 5 S 1 SGB II unerheblich. Auch ein Härtefall im Sinne der Regelung des § 7 Abs 5 S 2 SGB II, nach welcher trotz Leistungsausschlusses in besonderen Härtefällen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erbracht werden können, ist hier nach den Feststellungen des LSG(§ 163 SGG) nicht gegeben. Das BSG hat auch bereits entschieden, dass der Leistungsausschluss keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet und der Gesetzgeber nicht gehalten ist, außerhalb des besonderen Systems zur Ausbildungsförderung den Lebensunterhalt während der Ausbildung sicherzustellen (BSGE 99, 67 = SozR 4-4200 § 7 Nr 6 RdNr 28).

21

b) Der Senat kann aber nicht abschließend beurteilen, ob die Rücknahme des SGB II-Bewilligungsbescheids wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit nach § 45 SGB X daran scheitert, dass sich die Klägerin auf Vertrauensschutz berufen kann. Nach § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB X scheidet dies aus, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

22

Das LSG hat grob fahrlässig unvollständige Angaben zunächst darin gesehen, dass die Klägerin die Frage IX des am 1.8.2005 ausgefüllten Antragsvordrucks, ob sie (eine) andere Leistung(en) beantragt habe oder dies beabsichtigte, nicht beantwortet habe. Insofern ist es zwar zutreffend davon ausgegangen, dass bei den hier nur denkbaren "unrichtigen Angaben" durch Verschweigen von Umständen regelmäßig auf dasjenige abzustellen ist, was im Antrag abgefragt wird. Auch reicht es aus, wenn - wie hier nach dem SGB II-Antrag durch die weitere Beantragung des BAföG - zwischen dem Antrag und dem Erlass des Bescheids eine Änderung eintritt und der Leistungsempfänger diese Änderung entgegen seiner Mitteilungspflicht nicht mitteilt. Ein solches Unterlassen nach vorheriger Abfrage dieses Umstandes ist bei der Rücknahme der Leistungsbewilligung wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit der unrichtigen oder unvollständigen Angabe im Antragsvordruck gleichzusetzen (BSGE 96, 285, 290 = SozR 4-4300 § 122 Nr 4).

23

c) Es kann dahingestellt bleiben, ob dieses Handeln grob fahrlässig war. Der Senat folgt dem LSG schon aus Rechtsgründen nicht hinsichtlich der Annahme, dass die Klägerin durch unterlassene Angaben zu einer künftigen BAföG-Beantragung bzw nicht unverzüglicher Mitteilung des späteren BAföG-Antrags zu dem anfänglich rechtswidrigen Bescheid vom 5.9.2005 beigetragen habe. Insofern ist zu berücksichtigen, dass die unvollständigen oder unzutreffenden ("unrichtigen") Angaben iS des § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB X in "wesentlicher Beziehung" unrichtig bzw unvollständig sein müssen und zudem Umstände betreffen müssen, auf denen die fragliche Leistung "beruht". Zwischen der Verletzung der Anzeigepflicht und der Bewilligung der Leistung muss daher ein Zusammenhang in der Weise bestehen, dass die rechtswidrige Leistungsgewährung wesentlich durch die Verletzung der Anzeigepflicht veranlasst worden ist ("Kausalzusammenhang"). Dies beinhaltet, dass es bei richtigen Angaben bzw rechtzeitiger Anzeige des konkret bezeichneten Umstandes nicht zu den anfänglich rechtswidrigen Leistungen gekommen wäre (vgl BSGE 47, 28, 31 = SozR 4100 § 152 Nr 6 S 11). Rechtfertigender Grund für die Antragstellern und Sozialleistungsbeziehern auferlegten Mitteilungspflichten, insbesondere derjenigen nach § 60 Abs 1 Nr 1 SGB I, ist gerade, dass diese Umstände für die fragliche Leistung rechtlich erheblich sind. In diesem Sinne war die beabsichtigte BAföG-Antragstellung bzw der kurz vor der SGB II-Bewilligung dann tatsächlich gestellte BAföG-Antrag kein wesentlicher bzw "erheblicher" Umstand, weil eine anfängliche Rechtswidrigkeit des SGB II-Bescheides iS von § 45 SGB X - auch nach der vom Beklagten erst im Widerspruchsbescheid vertretenen und zutreffenden Rechtsauffassung - nur wegen des tatsächlichen Ausbildungsbeginns ab 25.8.2005, nicht jedoch wegen der zu diesem Zeitpunkt erst beantragten BAföG-Leistungen gegeben war.

24

d) Soweit das LSG eine Verletzung der Mitteilungspflicht angenommen hat, weil die Klägerin - nach Unterrichtung des Arbeitsvermittlers bei der BA am 27.7.2005 - dem Beklagten als nunmehr zuständigen Träger die beabsichtigte Aufnahme der Ausbildung an der berufsbildenden Schule zum Erwerb der Fachhochschulreife nicht (erneut) mitgeteilt habe, handelt es sich zwar um einen Umstand, auf dem die anfänglich rechtswidrige SGB II-Bewilligung beruht. Insofern kann der Senat aber nicht abschließend beurteilen, ob die Klägerin ihrer Mitteilungspflicht grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Zwar hat das LSG in seinem Urteil erörtert, ob und ggf in welchem Umfang gesonderte Mitteilungspflichten gegenüber dem Beklagten bestanden. Die Feststellungen des Berufungsgerichts zu einer groben Fahrlässigkeit des Handelns der Klägerin betreffen jedoch allein die unterlassene Mitteilung einer beabsichtigten und dann tatsächlich vorgenommenen BAföG-Beantragung.

25

Bei den insofern noch nachzuholenden Feststellungen zur groben Fahrlässigkeit der Klägerin bezogen auf einen nicht (erneut) mitgeteilten Ausbildungsbeginn dürfte zu berücksichtigen sein, dass es sich im Zusammenwirken der existenzsichernden Leistungen bei Aufnahme einer weiterführenden Ausbildung aus Laiensicht nicht ohne Weiteres aufdrängen musste, dass eine (vorläufige) Weiterzahlung der SGB II-Leistungen mit dem Beginn der tatsächlichen Ausbildung und unabhängig vom Zeitpunkt der Aufnahme der BAföG-Leistungen generell ausschied (§ 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X) und deshalb gerade dem tatsächlichen Ausbildungsbeginn maßgebende Bedeutung zukam (vgl nunmehr auch den durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 mit Wirkung zum 1.4.2011 eingeführten § 27 Abs 4 S 2 SGB II, wonach darlehensweise weiterhin SGB II-Leistungen zumindest für den Monat der Aufnahme einer Ausbildung erbracht werden können). Hiervon geht letztlich auch das LSG aus, weil es dem konkreten, bisher nicht umfassend aufgeklärten Handeln des Arbeitsvermittlers entscheidende Bedeutung beimisst. Insofern dürften noch tatsächliche Feststellungen zu den genauen Umständen der SGB II-Antragstellung über den Arbeitsvermittler der Agentur für Arbeit am 27.7.2005 und dem konkreten Zusammenwirken zwischen der BA und dem Beklagten im Falle der Klägerin in der hier streitigen Anfangszeit des SGB II erforderlich sein. Jedenfalls nach Aktenlage könnte der Vermerk des Arbeitsvermittlers vom 27.7.2005, dass ihr der Antrag auf Alg II ausgehändigt worden sei, im Sinne eines engen Zusammenwirkens und Weitergabe von Informationen auch unabhängig von einer gesonderten SGB II-Antragstellung verstanden worden sein.

26

5. Kommt das LSG nach weiterer Aufklärung der Gesamtumstände zu dem Ergebnis, dass eine vollständige Rücknahme des Bescheides vom 5.9.2005 nach § 45 SGB X wegen Vertrauensschutzes ausscheidet, ist die Rücknahmeentscheidung ggf als Aufhebung der Leistungsbewilligung wegen wesentlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nach § 48 Abs 1 S 1 SGB X (teilweise) rechtmäßig. Der Verwaltungsakt soll gemäß § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde. § 48 SGB X ist auch auf anfänglich rechtwidrige Dauerverwaltungsakte anwendbar, wenn sich die Verhältnisse nachträglich ändern. § 45 SGB X sperrt die Aufhebung nach § 48 SGB X wegen einer nachträglichen Änderung in jenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, auf denen die (ursprüngliche) Rechtswidrigkeit nicht beruht, nicht(BSG Urteil vom 11.4.2002 - B 3 P 8/01 R - USK 2002-59, juris RdNr 18; ausführlich Padé in juris-PK § 45 SGB X RdNr 56 ff, 1. Aufl 2013; BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 47, S 105). Der Beklagte hat seine Aufhebung mit Bescheid vom 15.5.2006 ebenso wie das Anhörungsschreiben vom 15.2.2006 im Übrigen zunächst darauf gestützt, dass die Klägerin BAföG-Leistungen, also nach § 11 SGB II zu berücksichtigendes Einkommen, erhalten habe. Auch zur Möglichkeit einer Aufhebung nach § 48 SGB X sind aber noch weitere Feststellungen des LSG erforderlich.

27

Nach § 11 Abs 1 S 1 SGB II sind als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld oder Geldeswert. Hierzu zählen die BAföG-Zahlungen in (vorläufiger) Höhe von 297 Euro monatlich; die in § 11 Abs 1 SGB II normierten Ausnahmen sind hier nicht von Bedeutung. Einkommen iS des § 11 Abs 1 SGB II ist nach der Rechtsprechung der für Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG zur sog Zuflusstheorie grundsätzlich alles, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu erhält. Laufende Einnahmen sind für den Monat zu berücksichtigen, in dem sie zufließen (§ 2 Abs 2 S 1 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld/Sozialgeld vom 20.10.2004 ). Insofern fehlen noch Feststellungen des LSG zu dem iS von § 11 Abs 2 SGB II maßgeblichen Zeitpunkt des Zuflusses und zu den vom Einkommen der Klägerin nach § 11 Abs 2 SGB II absetzbaren Beträgen. Auch ist zu prüfen, ob von dem im BAföG-Bescheid vom 30.11.2005 enthaltenen "Vorbehalt einer erneuten Einkommensprüfung" Gebrauch gemacht wurde.

28

6. Bei der Prüfung der Rücknahme- bzw Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung des Beklagten hat aber der Umstand keine Bedeutung, dass die Klägerin ggf Anspruch auf höhere KdU im Rahmen einer schon anfänglich rechtswidrigen SGB II-Bewilligung hätte haben können. Zwar hat sie dies - nach Aktenlage - gegenüber dem Beklagten durch Vorlage von Mietunterlagen geltend gemacht. Auch ist, wenn - wie hier - ein vollständiger oder teilweiser Eingriff in die Bestandskraft der in einer bestimmten Höhe bewilligten SGB II-Leistung erfolgt, dessen Berechtigung grundsätzlich unter Einbeziehung der weiteren, den Grund und die Höhe der bereits bewilligten Leistungen betreffenden Berechnungsfaktoren (unter Berücksichtigung des § 44 SGB X) zu prüfen, soweit Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit ersichtlich oder vorgetragen sind(vgl zu § 48 SGB X: Urteil des Senats vom 16.5.2012 - B 4 AS 132/11 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 60 RdNr 26). Hier waren nach der objektiven tatsächlichen und rechtlichen Ausgangslage für den im Revisionsverfahren noch streitigen Aufhebungszeitraum ab Ausbildungsbeginn am 25.8.2005 aber von vorneherein schon deshalb keine höheren SGB II-Leistungen möglich, weil der Anspruchsausschluss nach § 7 Abs 5 SGB II für sämtliche SGB II-Leistungen galt. § 22 Abs 7 SGB II, der abweichend hiervon für Auszubildende mit ungedeckten angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung einen Zuschuss ermöglicht, ist erst mit Wirkung zum 1.8.2006 durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006 (BGBl I 1706) neu eingeführt worden.

29

Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Für das Verfahren nach diesem Buch gilt das Zehnte Buch. Abweichend von Satz 1 gilt § 44 des Zehnten Buches mit der Maßgabe, dass

1.
rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte nach den Absätzen 1 und 2 nicht später als vier Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem der Verwaltungsakt bekanntgegeben wurde, zurückzunehmen sind; ausreichend ist, wenn die Rücknahme innerhalb dieses Zeitraums beantragt wird,
2.
anstelle des Zeitraums von vier Jahren nach Absatz 4 Satz 1 ein Zeitraum von einem Jahr tritt.
Abweichend von Satz 1 gelten die §§ 45, 47 und 48 des Zehnten Buches mit der Maßgabe, dass ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit nicht aufzuheben ist, wenn sich ausschließlich Erstattungsforderungen nach § 50 Absatz 1 des Zehnten Buches von insgesamt weniger als 50 Euro für die Gesamtheit der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft ergäben. Bei der Prüfung der Aufhebung nach Satz 3 sind Umstände, die bereits Gegenstand einer vorherigen Prüfung nach Satz 3 waren, nicht zu berücksichtigen. Die Sätze 3 und 4 gelten in den Fällen des § 50 Absatz 2 des Zehnten Buches entsprechend.

(2) Entsprechend anwendbar sind die Vorschriften des Dritten Buches über

1.
(weggefallen)
2.
(weggefallen)
3.
die Aufhebung von Verwaltungsakten (§ 330 Absatz 2, 3 Satz 1 und 4);
4.
die vorläufige Zahlungseinstellung nach § 331 mit der Maßgabe, dass die Träger auch zur teilweisen Zahlungseinstellung berechtigt sind, wenn sie von Tatsachen Kenntnis erhalten, die zu einem geringeren Leistungsanspruch führen;
5.
die Erstattung von Beiträgen zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung (§ 335 Absatz 1, 2 und 5); § 335 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 5 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 1 ist nicht anwendbar, wenn in einem Kalendermonat für mindestens einen Tag rechtmäßig Bürgergeld nach § 19 Absatz 1 Satz 1 gewährt wurde; in den Fällen des § 335 Absatz 1 Satz 2 und Absatz 5 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 2 besteht kein Beitragserstattungsanspruch.

(3) Liegen die in § 44 Absatz 1 Satz 1 des Zehnten Buches genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vor, weil dieser auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Verwaltungsaktes

1.
durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist oder
2.
in ständiger Rechtsprechung anders als durch den für die jeweilige Leistungsart zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgelegt worden ist,
so ist der Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen. Bei der Unwirksamkeit einer Satzung oder einer anderen im Rang unter einem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschrift, die nach § 22a Absatz 1 und dem dazu ergangenen Landesgesetz erlassen worden ist, ist abweichend von Satz 1 auf die Zeit nach der Entscheidung durch das Landessozialgericht abzustellen.

(4) Der Verwaltungsakt, mit dem über die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch abschließend entschieden wurde, ist mit Wirkung für die Zukunft ganz aufzuheben, wenn in den tatsächlichen Verhältnissen der leistungsberechtigten Person Änderungen eintreten, aufgrund derer nach Maßgabe des § 41a vorläufig zu entscheiden wäre.

(5) Verstirbt eine leistungsberechtigte Person oder eine Person, die mit der leistungsberechtigten Person in häuslicher Gemeinschaft lebt, bleiben im Sterbemonat allein die dadurch eintretenden Änderungen in den bereits bewilligten Leistungsansprüchen der leistungsberechtigten Person und der mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen unberücksichtigt; die §§ 48 und 50 Absatz 2 des Zehnten Buches sind insoweit nicht anzuwenden. § 118 Absatz 3 bis 4a des Sechsten Buches findet mit der Maßgabe entsprechend Anwendung, dass Geldleistungen, die für die Zeit nach dem Monat des Todes der leistungsberechtigten Person überwiesen wurden, als unter Vorbehalt erbracht gelten.

(6) § 50 Absatz 1 des Zehnten Buches ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass Gutscheine in Geld zu erstatten sind. Die leistungsberechtigte Person kann die Erstattungsforderung auch durch Rückgabe des Gutscheins erfüllen, soweit dieser nicht in Anspruch genommen wurde. Eine Erstattung der Leistungen nach § 28 erfolgt nicht, soweit eine Aufhebungsentscheidung allein wegen dieser Leistungen zu treffen wäre. Satz 3 gilt nicht im Fall des Widerrufs einer Bewilligungsentscheidung nach § 29 Absatz 5 Satz 2.

(7) § 28 des Zehnten Buches gilt mit der Maßgabe, dass der Antrag unverzüglich nach Ablauf des Monats, in dem die Ablehnung oder Erstattung der anderen Leistung bindend geworden ist, nachzuholen ist.

(8) Für die Vollstreckung von Ansprüchen der in gemeinsamen Einrichtungen zusammenwirkenden Träger nach diesem Buch gilt das Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz des Bundes; im Übrigen gilt § 66 des Zehnten Buches.

(9) § 1629a des Bürgerlichen Gesetzbuchs gilt mit der Maßgabe, dass sich die Haftung eines Kindes auf das Vermögen beschränkt, das bei Eintritt der Volljährigkeit den Betrag von 15 000 Euro übersteigt.

(10) Erstattungsansprüche nach § 50 des Zehnten Buches, die auf die Aufnahme einer bedarfsdeckenden sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zurückzuführen sind, sind in monatlichen Raten in Höhe von 10 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs zu tilgen. Dies gilt nicht, wenn vor Tilgung der gesamten Summe erneute Hilfebedürftigkeit eintritt.

(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

1.
die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2.
der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3.
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4.
der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum auf Grund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes.

(2) Der Verwaltungsakt ist im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 bleibt unberührt.

(3) Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Satz 1 gilt entsprechend, soweit einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zugrunde liegt, der nach § 45 nicht zurückgenommen werden kann.

(4) § 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 gelten entsprechend. § 45 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1.

(1) Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(2) Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit

1.
er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2.
der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3.
er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

(3) Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung kann nach Absatz 2 nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Satz 1 gilt nicht, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung vorliegen. Bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach Absatz 2 zurückgenommen werden, wenn

1.
die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 gegeben sind oder
2.
der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs erlassen wurde.
In den Fällen des Satzes 3 kann ein Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren zurückgenommen werden, wenn diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde. War die Frist von zehn Jahren am 15. April 1998 bereits abgelaufen, gilt Satz 4 mit der Maßgabe, dass der Verwaltungsakt nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben wird.

(4) Nur in den Fällen von Absatz 2 Satz 3 und Absatz 3 Satz 2 wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Behörde muss dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

(5) § 44 Abs. 3 gilt entsprechend.

(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die

1.
das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
2.
erwerbsfähig sind,
3.
hilfebedürftig sind und
4.
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
Ausgenommen sind
1.
Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2.
Ausländerinnen und Ausländer,
a)
die kein Aufenthaltsrecht haben oder
b)
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
und ihre Familienangehörigen,
3.
Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

(2) Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Dienstleistungen und Sachleistungen werden ihnen nur erbracht, wenn dadurch Hemmnisse bei der Eingliederung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten beseitigt oder vermindert werden. Zur Deckung der Bedarfe nach § 28 erhalten die dort genannten Personen auch dann Leistungen für Bildung und Teilhabe, wenn sie mit Personen in einem Haushalt zusammenleben, mit denen sie nur deshalb keine Bedarfsgemeinschaft bilden, weil diese aufgrund des zu berücksichtigenden Einkommens oder Vermögens selbst nicht leistungsberechtigt sind.

(3) Zur Bedarfsgemeinschaft gehören

1.
die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten,
2.
die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines unverheirateten erwerbsfähigen Kindes, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und die im Haushalt lebende Partnerin oder der im Haushalt lebende Partner dieses Elternteils,
3.
als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten
a)
die nicht dauernd getrennt lebende Ehegattin oder der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte,
b)
die nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartnerin oder der nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartner,
c)
eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.
4.
die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können.

(3a) Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner

1.
länger als ein Jahr zusammenleben,
2.
mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,
3.
Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder
4.
befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.

(4) Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend von Satz 1 erhält Leistungen nach diesem Buch,

1.
wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches) untergebracht ist oder
2.
wer in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.
Die Sätze 1 und 3 Nummer 2 gelten für Bewohner von Räumlichkeiten im Sinne des § 42a Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 des Zwölften Buches entsprechend.

(4a) (weggefallen)

(5) Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Satz 1 gilt auch für Auszubildende, deren Bedarf sich nach § 61 Absatz 2, § 62 Absatz 3, § 123 Nummer 2 sowie § 124 Nummer 2 des Dritten Buches bemisst.

(6) Absatz 5 Satz 1 ist nicht anzuwenden auf Auszubildende,

1.
die aufgrund von § 2 Absatz 1a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben,
2.
deren Bedarf sich nach den §§ 12, 13 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 oder nach § 13 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bemisst und die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz
a)
erhalten oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten oder
b)
beantragt haben und über deren Antrag das zuständige Amt für Ausbildungsförderung noch nicht entschieden hat; lehnt das zuständige Amt für Ausbildungsförderung die Leistungen ab, findet Absatz 5 mit Beginn des folgenden Monats Anwendung, oder
3.
die eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule oder ein Abendgymnasium besuchen, sofern sie aufgrund des § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Mai 2012 und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 3. März 2011 sowie der Bescheid der Beklagten vom 28. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. August 2010 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 6. Juli 2010 bis 4. Oktober 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu zahlen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 6.7.2010 bis 4.10.2010.

2

Die 1988 geborene Klägerin bulgarischer Staatsangehörigkeit reiste am 28.7.2009 mit einem bulgarischen Reisepass über den Grenzübergang Gradina (Bulgarien) aus und zu einem späteren, nicht exakt bekannten Zeitpunkt in die Bundesrepublik ein. Einwohnermelderechtlich wurde sie erstmals am 8.4.2010 "aus Bulgarien kommend" in Stuttgart erfasst. In der Zeit vor dem 8.4.2010 verfügte sie nicht über eine Arbeitserlaubnis und war nicht als Beschäftigte (bei einer Einzugsstelle oder der Minijobzentrale) gemeldet. Die Klägerin war seit Januar 2010 schwanger und wurde am 27.10.2010 von einem Mädchen entbunden. Am 6.7.2010 beantragte sie bei dem Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Bei Antragstellung gab sie an, Vater des erwarteten Kindes sei ihr Lebensgefährte. Zu diesem Zeitpunkt hatte dieser als griechischer Staatsangehöriger einen mehr als achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland zurückgelegt. Die Klägerin wies durch eine Urkunde des Jugendamts vom 20.7.2010 die Anerkennung der Vaterschaft nach. Über eine von ihr am 21.7.2010 bei der BA beantragte Erteilung einer Arbeitsgenehmigung-EU ohne Bezug zu einer konkreten Beschäftigung wurde zunächst nicht entschieden.

3

Der Beklagte lehnte den Antrag auf Leistungen nach dem SGB II ab (Bescheid vom 28.7.2010; Widerspruchsbescheid vom 10.8.2010). Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 3.3.2011). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 16.5.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Klägerin verfüge über einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet. Nach allen Erkenntnissen des Verfahrens habe sie bereits im Streitzeitraum beabsichtigt, in Deutschland zu bleiben. Ihr Aufenthalt sei auch in einer Weise verfestigt gewesen, dass von seiner Dauerhaftigkeit auszugehen sei. Die Anmietung einer Wohnung mit dem Lebensgefährten sei geplant gewesen. Das erwartete Kind habe von seiner Geburt an die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben dürfen, weil sein Vater einen mehr als achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland zurückgelegt habe. Die Klägerin sei nicht aus Rechtsgründen iS von § 8 Abs 2 SGB II als erwerbsunfähig einzustufen gewesen. Auch ein Unionsbürger, der noch nicht die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit genieße, sondern einer Arbeitserlaubnis bedürfe, sei zumindest dann erwerbsfähig iS von § 8 SGB II, wenn der Erlaubnisvorbehalt allein aus Nachrangigkeitsgründen bestehe und daher zumindest eine Arbeitserlaubnis-EU erteilt werden könne. Dies sei bei der Klägerin der Fall.

4

Der Leistungsanspruch sei jedoch nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II ausgeschlossen, weil die Klägerin im streitigen Zeitraum allenfalls aus Gründen der Arbeitsuche aufenthaltsberechtigt gewesen sei. Andere Aufenthaltsgründe lägen nicht vor. Insbesondere sei die Klägerin in Deutschland nicht als oder wie eine Arbeitnehmerin beschäftigt gewesen. Im Hinblick auf ihr Kind habe die Klägerin kein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige erwerben können, weil sie erst ab Geburt des Kindes "Verwandte" iS von § 3 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU gewesen sei. Ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot aus Art 4 iVm Art 70 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 liege nicht vor. Dieses trete hinter die Regelung in Art 24 Abs 2 der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) zurück. Zur Sozialhilfe iS des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG zählten auch die Regelleistung und die Leistungen für Unterkunft und Heizung nach den §§ 20, 22 SGB II sowie - im Fall der Klägerin - die Mehrbedarfsleistungen für Schwangere. Diesen Leistungen fehle der spezifische Bezug zum Arbeitsmarkt, der einen Vorrang der VO (EG) Nr 883/2004 gegenüber der FreizügRL begründe. § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II iVm Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG sei als speziellere Regelung anwendbar. Auch ein Verstoß des § 7 Abs 1 S 2 SGB II gegen die Regelungen des EFA sei nicht ersichtlich, weil Bulgarien nicht Signatarstaat sei.

5

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin, das Berufungsurteil trage dem Schutz des ungeborenen Lebens nicht ausreichend Rechnung. Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zu den aufenthaltsrechtlichen Vorwirkungen der bevorstehenden Vaterschaft eines bereits im Bundesgebiet lebenden Ausländers hinsichtlich seines ungeborenen Kindes sei übertragbar. Dies folge aus dem Schutz der Familie nach Art 6 Abs 1 GG und der aus Art 2 Abs 2 S 1 und Art 1 Abs 1 GG abzuleitenden Schutzpflicht für die Gesundheit der werdenden Mutter und des ungeborenen Kindes. Es sei dem Vater zu ermöglichen, den in § 1615f BGB festgelegten Unterhalt als Naturalunterhalt zu erbringen. Dass der Unionsgesetzgeber eine solche Situation nicht vorhergesehen habe, führe allenfalls dazu, dass sich das Aufenthaltsrecht nicht aus dem Sekundär- sondern dem Primärrecht ergebe. Die werdende Mutter habe in der Zeit der Schwangerschaft einen aufenthaltsrechtlich geschützten Anspruch auf Beistand durch den "werdenden" Vater. Leistungsansprüche im Rahmen der sozialen Koordinierung seien durch die Unionsbürger-Richtlinie nicht ausgeschlossen, weil der EuGH soziale Ansprüche aus dem Freizügigkeitsregime und aus den Regelungen über die sozialrechtliche Koordinierung als konkurrierende behandele.

6

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Stuttgart vom 3. März 2011 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Mai 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. August 2010 zu verurteilen, ihr Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 6. Juli 2010 bis 4. Oktober 2010 zu gewähren.

7

Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

8

Die Klägerin könne über die Schwangerschaft keine Eigenschaft als Familienangehörige konstruieren. Zwar stünden sich - vor Erklärung des Vorbehalts der Bundesregierung - aus Rumänien und Bulgarien stammende EU-Bürger bei Leistungen nach dem SGB II schlechter als Ausländer, die gleichzeitig EFA-Staatsangehörige seien. Dieses unterschiedliche Ergebnis verstoße jedoch nicht gegen Unionsrecht, weil es durch die (befristet) eingeschränkte Freizügigkeit bulgarischer Staatsangehöriger gerechtfertigt sei, die insoweit auch das ansonsten unionsrechtlich geltende Diskriminierungsverbot einschränke.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Die Vorinstanzen und der Beklagte haben einen Anspruch der Klägerin auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu Unrecht verneint.

10

1. Streitgegenstand sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, die der Beklagte mit Bescheid vom 28.7.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.8.2010 abgelehnt hat. Die Klägerin hat den streitigen Zeitraum ausdrücklich auf die Zeit vom 6.7.2010 bis 4.10.2010 beschränkt.

11

2. Die Klägerin erfüllte im streitigen Zeitraum sämtliche Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 S 1 Nr 1 bis 4 SGB II und war auch nicht nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II von den SGB II-Leistungen ausgeschlossen.

12

Leistungen nach dem SGB II erhalten nach § 7 Abs 1 S 1 SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Die Klägerin bewegte sich innerhalb der Altersgrenzen des § 7 Abs 1 Nr 1 SGB II und war nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG(§ 163 SGG) hilfebedürftig nach § 7 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB II.

13

3. Die Klägerin war auch erwerbsfähig iS von § 7 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB II iVm § 8 SGB II. Nach § 8 Abs 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf (nicht) absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. IS von § 8 Abs 1 SGB II können Ausländerinnen und Ausländer nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte(§ 8 Abs 2 SGB II) .

14

Nach den Feststellungen des LSG standen körperliche Gründe iS von § 8 Abs 1 SGB II einer Erwerbsfähigkeit nicht entgegen. Das Berufungsgericht ist weiter zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin nicht iS von § 8 Abs 2 SGB II als erwerbsunfähig anzusehen war. Zwar bleibt für EU-Bürger der zum 1.1.2007 beigetretenen Staaten Bulgarien und Rumänien (vgl Vertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumänien zur Europäischen Union vom 25.4.2005 ) die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 45 AEUV) für eine Übergangsfrist von sieben Jahren bis zum 31.12.2013 in der Weise beschränkt, dass die bestehenden nationalen Regelungen für den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt für ausländische Staatsangehörige auch für diese neuen EU-Bürger beibehalten wurden. Staatsangehörige dieser Länder können sich nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU als Art 2 des ZuwanderungsG vom 30.7.2004 ; vgl § 1 Abs 2 Nr 1 AufenthG) grundsätzlich frei innerhalb der EU bewegen, benötigen zur Beschäftigungsaufnahme in Deutschland in der Übergangszeit aber weiterhin eine Arbeitsgenehmigung-EU (§ 284 Abs 1 S 2 SGB III idF des Gesetzes vom 7.12.2006, BGBl I 2814).

15

Die Klägerin war nicht im Besitz einer Arbeitsgenehmigung. Es ist jedoch ausreichend, dass ihr vorbehaltlich der Vorlage eines konkreten, überprüfbaren Stellenangebots eines künftigen Arbeitgebers im streitigen Zeitraum die Aufnahme einer Beschäftigung hätte erlaubt werden können. Soweit das SG eine Erwerbsfähigkeit ohne weitere Ermittlungen mit der Begründung verneint hat, dass keine konkrete und realisierbare Möglichkeit zur Erteilung einer Arbeitsgenehmigung/EU bestanden habe, unterstellt es zu Unrecht, dass in jedem Einzelfall eine konkret-rechtliche Möglichkeit der Beschäftigungsaufnahme geprüft werden muss. Für die Annahme, dass eine Beschäftigung iS des § 8 Abs 2 SGB II erlaubt ist oder erlaubt werden könnte, reicht es jedoch aus, wenn die Aufnahme einer Tätigkeit im Sinne einer rechtlich-theoretischen Möglichkeit mit einer Zustimmung zur Beschäftigungsaufnahme durch die BA erlaubt sein könnte, auch wenn dies bezogen auf einen konkreten Arbeitsplatz durch die Verfügbarkeit geeigneter bevorrechtigter Bewerber(§ 39 Abs 2 AufenthG) verhindert wird. Unabhängig hiervon ist Unionsbürgern, also auch Rumänen und Bulgaren, Vorrang gegenüber Drittstaatsangehörigen einzuräumen ("Gemeinschaftsprivileg" HK-AuslR/Clodius, 1. Aufl 2008, Anhang zum FreizügG/§ 284 SGB III RdNr 19). Dass auf eine abstrakt-rechtliche Möglichkeit der Erteilung einer Arbeitsgenehmigung abzustellen ist, ergibt sich nunmehr auch aus dem mit Wirkung zum 1.4.2011 (BGBl I 453) eingefügten § 8 Abs 2 S 2 SGB II. Dieser bestimmt, dass die rechtliche Möglichkeit, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 AufenthG aufzunehmen, ausreichend ist(BT-Drucks 15/1749 S 31 "Klarstellung"; BT-Drucks 15/1516 S 52).

16

Einen solchen - gegenüber deutschen Staatsangehörigen und uneingeschränkt freizügigkeitsberechtigten EU-Bürgern - nachrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt hatte die Klägerin im streitigen Zeitraum, weil ihr eine Arbeitsgenehmigung/EU nach § 284 Abs 3 SGB III iVm § 39 Abs 2 Nr 1 AufenthG, etwa für eine Tätigkeit als Hilfskraft(vgl hierzu auch Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 13 RdNr 44), hätte erteilt werden können. Staatsangehörige aus den neuen EU-Beitrittsländern, die - wie die Klägerin - seit längerer Zeit in Deutschland wohnen, sind nicht als "Neueinreisende" iS von § 284 Abs 4 SGB III (mit "Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland") anzusehen, für die weitergehende Beschränkungen gelten(Dienelt aaO).

17

4. Die Klägerin verfügte im streitigen Zeitraum auch über einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet iS von § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB II.

18

Nach § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB II iVm § 30 Abs 3 S 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Diese Definition gilt für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs, soweit sich nicht aus seinen besonderen Teilen etwas anderes ergibt (§ 37 SGB I). Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen (BSG SozR 3-1200 § 30 Nr 5 S 8). Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist. Mit einem Abstellen auf den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse im Gebiet der Bundesrepublik soll - auch im Sinne einer Missbrauchsabwehr - ausgeschlossen werden, dass ein Wohnsitz zur Erlangung von Sozialleistungen im Wesentlichen nur formal begründet, dieser jedoch tatsächlich weder genutzt noch beibehalten werden soll (Schlegel in jurisPK-SGB I, 2. Aufl 2012, § 30 RdNr 24 mit Verweis auf BT-Drucks 7/3786 S 5 zu § 30; zur Begründung eines Wohnsitzes "nach den faktischen Verhältnissen" iS von Art 1 lit j VO (EG) 883/2004 unter Einbeziehung der Definition in Art 11 VO (EG) Nr 987/2009 und Abgrenzung zur "legal residence in Directive 2004/38" Frings, Grundsicherungsleistungen für Unionsbürger unter dem Einfluss der VO (EG) Nr 883/2004 in ZAR, 2012, 317 ff, 322).

19

Jedenfalls für den Bereich des SGB II läuft es der Vereinheitlichung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts zuwider, wenn unter Berufung auf eine sog Einfärbungslehre vor allem des früheren 4. Senats des BSG (vgl hierzu BSG SozR 3-1200 § 30 Nr 21 S 45 ff; ähnlich BSG SozR 3-2600 § 56 Nr 7 S 31 ff; anders für die Familienversicherung nach § 10 SGB V: BSGE 80, 209 ff, 211 f = BSG SozR 3-2500 § 10 Nr 12 S 52 f) dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmende Tatbestandsmerkmale im Sinne von rechtlichen Erfordernissen zum Aufenthaltsstatus aufgestellt werden (vgl Schlegel in jurisPK-SGB I, 2. Aufl 2012, § 30 RdNr 26, 50 ff)und damit einzelnen Personengruppen der Zugang zu existenzsichernden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts versperrt wird. Zudem hat der Gesetzgeber diese Rechtsprechung nur in Teilbereichen, etwa beim Kinder-, Erziehungs- und Elterngeld, aufgegriffen und einen Anspruch von einem definierten Aufenthaltsstatus abhängig gemacht (vgl zB § 1 Abs 7 BEEG; § 1 Abs 6 BErzGG idF bis zum 31.12.2006; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Differenzierungskriterien: BVerfGE 111, 176 ff = SozR 4-7833 § 1 Nr 4). Ein diesen Regelungen entsprechendes, also zu dem gewöhnlichen Aufenthalt hinzutretendes Anspruchsmerkmal im Sinne des Innehabens einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU bzw eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem AufenthG fehlt im SGB II. Vielmehr hat der Gesetzgeber mit § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II in einer anderen Regelungssystematik ein Ausschlusskriterium von SGB II-Leistungen nur für diejenigen Ausländer vorgesehen, deren "Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt".

20

Unabhängig hiervon liegt eine fehlende Dauerhaftigkeit des Aufenthalts im Sinne einer nicht vorhandenen Zukunftsoffenheit bei Unionsbürgern regelmäßig nicht vor, weil ihr Aufenthalt nicht nach einer bereits vorliegenden Entscheidung der dafür allein zuständigen Ausländerbehörde auflösend befristet oder auflösend bedingt ist. Zwar verfügte die Klägerin - anders als in den vom 14. Senat des BSG entschiedenen Fallgestaltungen (BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21 RdNr 13; BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 28 RdNr 17) -offenbar (Feststellungen des LSG hierzu fehlen) nicht über eine Freizügigkeitsbescheinigung (§ 5 FreizügG/EU; entfallen durch Art 1 des Gesetzes zur Änderung des FreizügigkeitsG/EU und weitere aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vom 21.1.2013 ). Einer solchen Bescheinigung kommt aber lediglich deklaratorische Bedeutung zu, weil sich das Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergibt (BT-Drucks 15/420 S 101; BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 28 RdNr 17; BVerwGE 110, 40, 53: subjektiv-öffentliches Unionsbürgerrecht unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme). Auch bei Staatsangehörigen aus den neuen Mitgliedstaaten kann der Aufenthalt während der Übergangsphase nur unter den Voraussetzungen der §§ 5 Abs 5, 6 und 7 FreizügG/EU wegen des Wegfalls, des Verlustes oder des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts, also nach Durchführung eines Verwaltungsverfahren, beendet werden(Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 2. Aufl 2011, § 13 RdNr 57, 61; OVG Bremen Beschluss vom 21.1.2011 - 1 B 242/10, juris-RdNr 4). Das Aufenthaltsrecht besteht, solange der Aufnahmemitgliedstaat nicht durch einen nationalen Rechtsakt festgestellt hat, dass der Unionsbürger bestimmte vorbehaltene Bedingungen iS des Art 21 AEUV nicht erfüllt (Harms in Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 1. Aufl 2008, § 2 FreizügG RdNr 4 mwN).

21

Auch § 13 FreizügG/EU steht der Vermutung einer Freizügigkeit nicht entgegen. Danach findet, soweit ua nach Maßgabe des Vertrags vom 25.4.2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (BGBl II 1146) abweichende Regelungen anwendbar sind, das FreizügG/EU Anwendung, wenn die Beschäftigung durch die BA gemäß § 284 Abs 1 SGB III genehmigt wurde. Trotz des unklaren Wortlauts des § 13 FreizügG/EU schränkt der Umstand, dass die Beitrittsverträge nationale Übergangsmaßnahmen im Hinblick auf den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt innerhalb eines längstens sieben Jahre dauernden Zeitraums durch die Mitgliedstaaten zulassen, nicht grundsätzlich das Freizügigkeitsrecht der neuen Unionsbürger ein(OVG Hamburg Beschluss vom 21.1.2011 - 1 B 242/10, juris-RdNr 4; HK-AuslR/Geyer, 1. Aufl 2008, § 13 FreizügG RdNr 2).

22

5. Der Anspruch auf SGB II-Leistungen ist auch nicht nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II ausgeschlossen. Ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II sind danach ua Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts (Nr 1) und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen (Nr 2). Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) greift der Anspruchsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II schon deshalb nicht, weil die Klägerin unmittelbar nach Verlassen Bulgariens Ende Juli 2009 nach Deutschland eingereist ist und sich seitdem im Bundesgebiet aufgehalten hat, bevor sie im April 2010 einwohnermelderechtlich erfasst wurde.

23

6. a) Auch § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II schließt einen Anspruch der Klägerin nicht aus, weil sich ihr Aufenthaltsrecht im streitigen Zeitraum nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergab. Die Ausschlussregelung erfordert - zur Umsetzung des Willens des Gesetzgebers bei Unionsbürgern regelmäßig eine "fiktive Prüfung" des Grundes bzw der Gründe ihrer Aufenthaltsberechtigung. Bereits das Vorhandensein der Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts aus einem anderen Grund als dem Zweck der Arbeitsuche hindert die von der Rechtsprechung des BSG geforderte positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II. Ein solcher Fall liegt hier vor, weil sich aus der bevorstehenden Geburt des Kindes der Klägerin ein anderes Aufenthaltsrecht ergeben konnte.

24

b) Unbesehen des subjektiv-öffentlichen Unionsbürgerrechts nach der RL 2004/38/EG und dem deutschen FreizügG/EU erfordert eine dem Willen des Gesetzgebers entsprechende Anwendung des Ausschlusstatbestandes des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II eine "fiktive Prüfung", ob - im Falle von Unionsbürgern - ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche bestand oder daneben auch andere Aufenthaltszwecke den Aufenthalt des Unionsbürgers im Inland rechtfertigen konnten. Dies ergibt sich aus der für die Auslegung der Vorschrift wesentlichen Entstehungsgeschichte der Ausschlussregelung.

25

Den Gesetzesmaterialien zu § 7 Abs 1 S 2 SGB II ist zu entnehmen, dass von der "Option" des Art 24 Abs 2 iVm Art 14 Abs 4 der RL 2004/38/EG auch im Bereich des SGB II Gebrauch gemacht werden sollte(BT-Drucks 16/5065 S 234; siehe auch BT-Drucks 16/688 S 13). Trotz des Kontextes, in welchem die Regelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II erlassen wurde, nämlich der Erweiterung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern zu einer allgemeinen Freizügigkeit für alle Unionsbürger durch die RL 2004/38/EG, wollte der bundesdeutsche Gesetzgeber neben den von Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG unstreitig erfassten Sozialhilfeleistungen auch SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausschließen. Deren Einordnung als Sozialhilfeleistungen iS von Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG ist allerdings fraglich. Die beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG haben die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts entsprechend ihrer Aufnahme in den Anhang der VO (EG) Nr 883/2004 als "besondere beitragsunabhängige Geldleistungen" nach Art 4 iVm Art 70 VO (EG) Nr 883/2004, nicht jedoch als Leistungen der "sozialen Fürsorge" iS von Art 3 Abs 5a) VO (EG) Nr 883/2004 angesehen. Sie haben darauf hingewiesen, dass durch das Erfordernis der Erwerbsfähigkeit ein Bezug zu den Leistungen bei Arbeitslosigkeit bestehe (BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21 RdNr 29; BSGE 107, 206 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 22 RdNr 20 f; vgl auch EuGH Urteil vom 4.9.2009 - Rs C-22/08 - SozR 4-6035 Art 39 Nr 5, RdNr 43; siehe aber auch BVerwG Urteil vom 31.5.2012 - 10 C 8/12 juris RdNr 25 mwN, zur Einordnung von SGB II-Leistungen als aufenthaltsrechtlich schädliche Sozialhilfeleistungen iS des Art 7 Abs 1 Buchst b der RL 2004/38/EG, wobei dies "nicht zwingend deckungsgleich" mit dem in Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG genannten Begriff der Sozialhilfe sein müsse; kritisch hierzu Breidenbach in ZAR 2011, 235 ff).

26

Ungeachtet der insofern bestehenden Zweifel an der europarechtlichen Zulässigkeit des nicht nach dem Grad der Verbindung des arbeitsuchenden Unionsbürgers zum Arbeitsmarkt des Aufnahmestaats und seinem beruflich möglichen Zugang zum Arbeitsmarkt differenzierenden sowie zeitlich unbefristeten Ausschlusses der arbeitsuchenden Unionsbürger von SGB II-Leistungen ist § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II als Ausschlussregelung von existenzsichernden Sozialleistungen jedenfalls eng auszulegen. Auch aus dem Aufbau der Norm ist abzuleiten, dass positiv feststellt werden muss, dass dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland zusteht (BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 28).

27

c) Jedenfalls nicht erfasst von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II werden Unionsbürger, bei denen die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU oder ggf dem begrenzt subsidiär anwendbaren AufenthG (siehe hierzu unten) aus anderen Gründen als dem Zweck der Arbeitsuche vorliegen. Insofern ist der Regelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II immanent, dass der Ausschluss nur Unionsbürger trifft, die sich ausschließlich und ggf schon vor einer Meldung beim Jobcenter auch eigeninitiativ um eine Beschäftigung bemüht haben, nicht jedoch diejenigen erfasst, die sich auch auf ein anderes Aufenthaltsrecht berufen können.

28

Da Unionsbürger für die Einreise keines Visums und für den Aufenthalt keines Aufenthaltstitels (§ 2 Abs 4 S 1 FreizügG/EU) bedürfen, kann bei ihnen der ausländerrechtlich anerkannte Aufenthaltszweck nicht unmittelbar einem entsprechenden Dokument mit möglicher Tatbestandswirkung für das SGB II entnommen werden. Vor dem Hintergrund einer - bis zur Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlusts einer Freizügigkeitsberechtigung - bestehenden Freizügigkeitsvermutung von Unionsbürgern und der bereits damit verbundenen Vermutung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts (vgl Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 12 RdNr 34) kann bei dieser Personengruppe nicht darauf abgestellt werden, ob das Aufenthaltsrecht in einem Aufenthaltstitel dokumentiert ist. Zwar kann ein in einer ggf bis zum 28.1.2013 deklaratorisch erteilten Bescheinigung gemäß § 5 Abs 1 FreizügG/EU (aF) angegebener Aufenthaltszweck ein wesentliches Indiz für den Aufenthaltsgrund sein. Unionsbürger sind jedoch nicht verpflichtet, die Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts durch eine entsprechende Bescheinigung nachzuweisen (BVerwG Urteil vom 16.11.2010 - 1 C 17/09, BVerwGE 138, 122 ff). Entscheidend ist das Vorliegen der Voraussetzungen für ein weiteres Aufenthaltsrecht. Auch soweit der Aufenthalt aus einem anderen materiell bestehenden Aufenthaltsrecht als dem Zweck der Arbeitsuche nicht beendet werden könnte, hindert dies sozialrechtlich die positive Feststellung eines "Aufenthaltsrechts allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II.

29

Seine Feststellung, die Klägerin sei im streitigen Zeitraum "ab dem 6.7.2010 in Deutschland allenfalls aus Gründen der Arbeitsuche aufenthaltsberechtigt", hat das Berufungsgericht vorrangig damit begründet, dass ein Aufenthaltsrecht wegen einer fortwirkenden Arbeitnehmereigenschaft nicht bestanden habe (vgl zu dem hierfür regelmäßig angenommen Zeitraum von sechs Monaten: § 2 Abs 3 S 1 Nr 2 iVm § 2 Abs 3 S 2 FreizügG/EU; EuGH Urteil vom 4.6.2009 - C-22/08, C-23/08 - SozR 4-6035 Art 39 Nr 5, RdNr 32; BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 18). Ob sich die Klägerin bis zum Beginn des streitigen Zeitraums auf ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche berufen konnte, hat das LSG nicht erörtert. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist ein arbeitsuchender EU-Bürger solange freizügigkeitsberechtigt, wie er mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht, wobei das Gemeinschaftsrecht die Länge des angemessenen Zeitraums nicht regelt. Allerdings ist es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, dem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der zum Zweck der Stellensuche in sein Gebiet eingereist ist, auszuweisen, wenn dieser nach sechs Monaten keine Stelle gefunden hat, sofern der Betroffene nicht nachweist, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht (EuGH Urteil vom 26.2.1991 - C-292/89 ; so auch Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 2 FreizügG/EU RdNr 56).

30

Auch wenn die Klägerin wegen des im streitigen Zeitraum hinzutretenden SGB II-Antrags und der damit verbundenen Verpflichtung, alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen und aktiv an allen Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit mitwirken (§ 2 Abs 1 S 1 und 2 SGB II), als Arbeitsuchende anzusehen ist, hindert dies nicht die Annahme eines Aufenthaltsrechts auch aus einem anderen Aufenthaltsgrund (vgl zum zulässigen Wechsel der Aufenthaltszwecke während des Aufenthalts: HK-AuslR/Geyer, 2008, § 5 FreizügG/EU RdNr 3). Auch der Verlust des Freizügigkeitsrechts kann erst festgestellt werden, wenn die Freizügigkeitsberechtigung nicht aus anderen Gründen besteht (Huber, AufenthaltsG, 2010, § 5 FreizügG/EU RdNr 15). Ein solches bereits vor SGB II-Antragstellung hinzugetretenes weiteres Aufenthaltsrecht der Klägerin im Bundesgebiet liegt hier vor.

31

d) Die Klägerin konnte sich nach den besonderen Einzelfallumständen in dem hier streitigen Zeitraum wegen der zu erwartenden Geburt des Kindes auch auf ein anderes Aufenthaltsrecht iS des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II berufen.

32

§ 11 Abs 1 S 5 FreizügG/EU in der bis zum 30.6.2011 geltenden Fassung vom 19.8.2007 (BGBl I 1970) bestimmt, dass das - grundsätzlich nur noch für Drittstaatsangehörige geltende - AufenthG weiterhin auch auf Unionsbürger Anwendung findet, wenn es eine günstigere Regelung vermittelt als das FreizügG/EU. Bei dem anzustellenden Günstigkeitsvergleich ist keine abstrakt wertende Betrachtung in Bezug auf die gesamte Rechtsstellung anzustellen. Vielmehr knüpft der Vergleich iS einer den konkreten Einzelfall in den Blick nehmenden Betrachtung an einzelne Merkmale an (Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 11 RdNr 28).

33

Nach dem insoweit anwendbaren § 7 Abs 1 S 3 AufenthG kann - unabhängig von der ansonsten geforderten Bindung der Aufenthaltserlaubnis an konkrete, im AufenthG genannte Aufenthaltszwecke(§ 7 Abs 1 S 2 AufenthG) - in begründeten Fällen im Wege einer Ermessensentscheidung eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen von diesem Gesetz nicht genannten Aufenthaltszweck erteilt werden. Allerdings ist das LSG zu Recht davon ausgegangen, dass eheähnlich zusammenlebende heterosexuelle Paare weder aus dem Auffangtatbestand des § 7 Abs 1 S 3 AufenthG noch aus dem europäischem Recht ein Aufenthaltsrecht zur Familienzusammenführung ableiten können, weil der Familiennachzug in § 3 FreizügG/EU und den §§ 27 ff AufenthG abschließend geregelt ist. Da nichteheliche Lebensgemeinschaften von den ausdrücklichen Regelungen gerade nicht erfasst sind, ist die Anwendung von § 7 Abs 1 S 3 AufenthG grundsätzlich gesperrt(vgl BVerwG Urteil vom 27.2.1996 - 1 C 41/93 - BVerwGE 100, 287 ff; Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 7 AufentG RdNr 20).

34

Die - hier im Rahmen der Ausschlussklausel des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II - bei Unionsbürgern nur zu prüfenden Voraussetzungen eines anderen Aufenthaltsrechts sind aber wegen der bevorstehenden Geburt des Kindes gegeben. Insofern handelt es sich um ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen, das aus dem Zusammenleben der Partner mit einem gemeinsamen Kind oder dem Kind eines Partners folgt. Diese Personengruppen bilden jeweils eine Familie iS des Art 6 GG und der §§ 27 Abs 1, 28 Abs 1, 29 und 32 AufenthG und können sich auch auf den Schutz aus Art 8 der Konvention des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(MRK) berufen (vgl auch Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 7 AufenthG RdNr 20).

35

Eine solche Konstellation, die einen anderen Aufenthaltszweck als denjenigen der Arbeitsuche vermitteln kann, kann auch in einer bevorstehenden Familiengründung liegen. Insofern wird in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zum AufenthG angenommen, dass der bevorstehenden Geburt eines Kindes aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen für den Aufenthaltsstatus eines Elternteils zukommen können. Die anstehende Vaterschaft eines bereits im Bundesgebiet lebenden Ausländers hinsichtlich des ungeborenen Kindes einer deutschen, aber auch ausländischen Staatsangehörigen kann aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen im Sinne eines Abschiebungshindernisses begründen, wenn entweder der Schutz der Familie nach Art 6 Abs 1 GG und die aus Art 2 Abs 2 S 1 und Art 1 Abs 1 GG abzuleitende Schutzpflicht für die Gesundheit der werdenden Mutter und des Kindes dies gebieten, oder wenn beide Elternteile bereits in Verhältnissen leben, welche eine gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung sicher erwarten lassen und eine (vorübergehende) Ausreise zur Durchführung eines Sichtvermerkverfahrens nicht zumutbar ist. Dies gilt zumindest mit der Vaterschaftsanerkennung und der Zustimmung der Mutter (§§ 1592 Nr 2, 1595 Abs 1 BGB) sowie einer gemeinsamen Sorgerechtserklärung (OVG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 23.2.2012 - 2 S 94.11, 2 M 70.2 M 70.11 - RdNr 3 ff; Sächsisches OVG Beschluss vom 2.10.2009 - 3 B 482/09 - InfAuslR 2010, 27 ff: vgl auch VG Dresden Beschluss vom 11.6.2008 - 3 L 279/08 - RdNr 10 zum Abschiebungsschutz für eine werdende ausländische Mutter). Insofern tritt die staatliche Verpflichtung aus Art 6 Abs 1 GG iVm Abs 2 GG ein (OVG Hamburg Beschluss vom 14.8.2008 - 4 Bs 84/08 - InfAuslR 2009, 16 ff). Von der Schutzpflicht des Staates aus Art 6 GG ist insbesondere die Rechtsposition des Kindes sowie dessen Anspruch auf Ermöglichung bzw Aufrechterhaltung eines familiären Bezugs zu beiden Elternteilen von Geburt an betroffen (BVerfG FamRZ 2006, 187 ff; BVerfG NVwZ 2006, 682, 683 zum Familienschutz; BVerfGE 80, 81 ff).

36

Diese aufenthaltsrechtlichen Vorwirkungen einer bevorstehenden Familiengründung bestanden auch im Falle der Klägerin. Es wäre ihr weniger als vier Monate vor dem errechneten Geburtstermin nicht mehr zumutbar gewesen, sich von dem Vater des Kindes unter zumindest vorübergehender Aufgabe des familiären Zusammenhalts und mit dem Risiko einer zeitgerechten Rückkehr zur Geburt zu trennen. Auch in der hier vorliegenden Fallgestaltung soll verhindert werden, dass ein Kind in dem ersten Jahr nach seiner Geburt entgegen Art 6 Abs 1 GG von der Erziehungsleistung eines seiner Elternteile ausgeschlossen wird. Für die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art 6 GG und damit auch ihre Vorwirkungen ist dabei nicht vorrangig auf formal-rechtliche familiäre Bindungen, sondern auf die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern im Wege einer Einzelfallbetrachtung abzustellen (BVerfG FamRZ 2006, 187 ff, RdNr 18 mwN). Nach den Feststellungen des LSG hat die Klägerin bereits bei Antragstellung angegeben, dass ihr Kind von dem Lebensgefährten sei, mit dem die Anmietung einer gemeinsamen Wohnung geplant sei. Es ergab sich daher schon für die Zeit vor der Anerkennung der Vaterschaft eine vorwirkende Schutzwirkung, die ein Aufenthaltsrecht der Klägerin wegen des bevorstehenden familiären Zusammenlebens begründen konnte.

37

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. November 2009 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Revisionsverfahren.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1.3.2009 bis zum 11.11.2009. Zwischen den Beteiligten ist insbesondere streitig, ob der Kläger als französischer Staatsangehöriger von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist, weil sich sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt.

2

Der 1971 geborene Kläger reiste am 18.12.2007 in die Bundesrepublik ein. Der französische Träger der Arbeitslosenversicherung hatte ihm zuvor auf dem Vordruck E 303 bescheinigt, dass er unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit habe. Seit diesem Tag wohnt er in Berlin. Der Kläger meldete sich am 28.1.2008 bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) arbeitslos und bezog zunächst bis zum 17.3.2008 Arbeitslosengeld. In der Folgezeit erhielt er ab dem 28.4.2008 und - bis auf wenige Tage Unterbrechung - bis zum 28.2.2009 Arbeitslosengeld II (Alg II). Seit dem 2.6.2008 ist er im Besitz einer Bescheinigung nach § 5 des Gesetzes über die Allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern(Freizügigkeitsgesetz/EU ).

3

Vom 1.2.2008 bis zum 23.6.2008 übte der Kläger eine Tätigkeit als Handwerkshelfer mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 7,5 Stunden und einem monatlichen Entgelt von 100 Euro aus. Das Arbeitsverhältnis endete nach einer Kündigung durch den Arbeitgeber. Zum 1.1.2009 meldete der Kläger ein Gewerbe "An- u. Verkauf, Trödel-Kafé, Kaffeeausschank" an. Da jedoch kein Vertrag über die Anmietung der Geschäftsräume zustande kam, zerschlug sich das Geschäftsgründungsvorhaben am 5.1.2009. Die Abmeldung des Gewerbes erfolgte erst im April 2009 "rückwirkend" zum 1.1.2009.

4

Am 9.2.2009 stellte der Kläger bei dem Beklagten einen Fortzahlungsantrag für den Zeitraum ab dem 1.3.2009. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31.3.2009 und Widerspruchsbescheid vom 27.7.2009 mit der Begründung ab, der Kläger sei nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II inzwischen von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen, weil er alleine wegen seiner Eigenschaft als Arbeitsuchender freizügigkeitsberechtigt sei. Nach dem Ende seiner Beschäftigung sei er gemäß § 2 Abs 3 Satz 2 FreizügG/EU nur für die Dauer von weiteren sechs Monaten leistungsberechtigt nach dem SGB II gewesen.

5

Die Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts vom 20.10.2009). Auf die Berufung des Klägers haben sich die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) am 11.11.2009 hinsichtlich der Kosten der Unterkunft verglichen. Im Übrigen hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, dem Kläger Alg II in Form der Regelleistung für die Zeit vom 1.3.2009 bis zum 11.11.2009 dem Grunde nach zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei leistungsberechtigt nach dem SGB II. Dem stehe der Leistungsausschluss in § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II nicht entgegen. Zwar ergebe sich das Aufenthaltsrecht des Klägers im streitigen Zeitraum alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche (§ 2 Abs 2 Nr 1 Alt 2 FreizügG/EU). Ein Wegfall dieses Aufenthaltsrechts komme nur dann in Betracht, wenn aufgrund objektiver Umstände davon auszugehen sei, dass der Unionsbürger keinerlei ernsthafte Absichten verfolge, eine Beschäftigung aufzunehmen. Davon könne im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden. Auch könne letztlich dahinstehen, ob der Leistungsausschluss wegen Verstoßes gegen europäisches Gemeinschaftsrecht unanwendbar sei. Dies hänge maßgeblich davon ab, ob Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II als "Sozialhilfe" im Sinne von Art 24 Abs 2 der so genannten Unionsbürgerrichtlinie ( Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004, ABl 2004 L Nr 158, 77) anzusehen seien. Diese Frage bedürfe hier aber keiner abschließenden Entscheidung, weil der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II für solche Hilfebedürftigen einschränkend auszulegen sei, die durch das Europäische Fürsorgeabkommen( vom 11.12.1953 BGBl II 1956, 564) begünstigt würden. Nach Art 1 EFA habe der Kläger danach Anspruch auf "Fürsorge" wie ein deutscher Staatsangehöriger, der sich im Inland gewöhnlich aufhalte. Als Leistungen der Fürsorge seien nach dem Außerkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) am 31.12.2004 nicht nur die im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), sondern auch die im SGB II für Hilfebedürftige geregelten Leistungen anzusehen. Unerheblich sei, dass die Bundesrepublik Deutschland entgegen der sich aus Art 16 Abs a) und b) des EFA ergebenden Verpflichtung dem Generalsekretär des Europarates das Außerkrafttreten des BSHG bislang nicht mitgeteilt habe, weil die im Anhang I des Abkommens genannte Aufzählung der entsprechenden Fürsorgegesetze lediglich eine klarstellende Bedeutung zukomme. Auch sei nicht entscheidungserheblich, ob das EFA zur Vermeidung von Wanderungsbewegungen aus einem Sozialleistungssystem in ein anderes nur auf diejenigen Ausländer Anwendung finde, die sich zur Zeit des Eintritts der Hilfebedürftigkeit bereits in dem um Hilfe angegangenen Staat erlaubt aufhielten, weil der Kläger zum Zeitpunkt der Einreise noch über ausreichende Mittel zur Existenzsicherung verfügte habe.

6

Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner vom LSG zugelassenen Revision. Er rügt eine Verletzung des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II und weist darauf hin, dass der Leistungsausschluss der Umsetzung des in Art 24 Abs 2 UBRL geregelten Vorbehalts diene. Diese Regelungen seien neuer und damit vorrangig vor dem EFA aus dem Jahr 1953. Zwar handele es sich bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II um "Sozialhilfe" iS des Art 24 Abs 2 UBRL. Das SGB II könne aber neben dem SGB XII gleichwohl nicht als "weiteres" Nachfolgegesetz zum BSHG angesehen werden. Denn im Wesentlichen habe das SGB II die Nachfolge der zuvor im Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) geregelten Arbeitslosenhilfe (Alhi) angetreten. Die Alhi aber sei dem EFA nicht unterfallen. Im Übrigen finde das EFA nur auf die im Anhang von den Vertragsstaaten gemeldeten nationalen Fürsorgegesetze Anwendung.

7

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. November 2009 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Oktober 2009 zurückzuweisen.

8

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Er hält das mit der Revision angegriffene Urteil für zutreffend und weist ergänzend darauf hin, dass ein Anspruch auch dann bestünde, wenn er nicht durch das EFA begünstigt würde. Denn der Leistungsausschluss verstoße auch gegen europäisches Primärrecht. Bei den Leistungen nach dem SGB II handele es sich um finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern sollen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sei insoweit das Gleichbehandlungsgebot zu beachten.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision ist unbegründet.

11

Das LSG hat zutreffend entschieden, dass dem Kläger für den Zeitraum vom 1.3.2009 bis zum 11.11.2009 ein Anspruch auf Gewährung der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zusteht. Der Kläger erfüllt die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II(dazu unter 2). Seinem Anspruch steht der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II nicht entgegen(dazu unter 3).

12

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 31.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.7.2009, mit dem der Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit ab dem 1.3.2009 abgelehnt hat. Der streitige Zeitraum erstreckt sich in Fällen ablehnender Verwaltungsentscheidungen bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht (vgl nur Urteil des Senats vom 7.5.2009 - B 14 AS 41/07 R - juris mwN), hier also bis zum 11.11.2009. Die Beteiligten haben darüber hinaus den Streitgegenstand im Berufungsverfahren zulässigerweise beschränkt, indem sie über die Kosten der Unterkunft einen Teilvergleich abgeschlossen haben (vgl zur Zulässigkeit einer solchen Begrenzung des Streitgegenstandes nur BSGE 97, 217, 223 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 19 sowie zuletzt Urteil des Senats vom 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R -, zur Veröffentlichung vorgesehen).

13

2. Der Kläger erfüllt nach den Feststellungen des LSG die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II. Er ist gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 2 iVm § 8 SGB II erwerbsfähig und - nach den den Senat bindenden Feststellungen des LSG(§ 163 Sozialgerichtsgesetz) - auch hilfebedürftig gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 3 iVm § 9 SGB II. Der Kläger verfügt gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II iVm § 30 Abs 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) auch über einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist bereits Ende 2007 in die Bundesrepublik eingereist. Seitdem hält er sich hier unter Umständen auf, die erkennen lassen, dass er nicht nur vorübergehend verweilt. Offen bleiben kann hier, ob der an tatsächlichen Umständen zu messende Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes bei Ausländern durch zusätzliche rechtliche Voraussetzungen eingeschränkt wird (BSG SozR 3-2600 § 56 Nr 7 S 34). Zur alten Rechtslage bis zum 1.4.2006 hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, dass Ausländer, die tatsächlich dauerhaft im Inland verweilen, nur dann einen gewöhnlichen Aufenthalt haben, wenn sie sich berechtigterweise hier aufhalten (BSG aaO; BSGE 65, 261, 263 f = SozR 7833 § 1 Nr 7; vgl - speziell zu § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II - auch BSGE 98, 243, 246 f = SozR 4-4200 § 12 Nr 4, jeweils RdNr 19; Valgolio in Hauck/Noftz, Stand Juni 2010, § 7 SGB II RdNr 95; kritisch zu der Verrechtlichung des rein tatsächlichen Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 7 RdNr 11).

14

Dass der Kläger sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält, ergibt sich bereits daraus, dass er über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU verfügt(aA Hessisches LSG, FEVS 59, 110, 115 f). Gegen eine Rechtmäßigkeit des Aufenthalts spricht auch nicht, dass dieser Bescheinigung nach dem Wortlaut der Vorschrift ("… über das Aufenthaltsrecht ausgestellt") nur deklaratorischer Charakter im Hinblick auf das sich unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergebende Freizügigkeitsrecht zukommt (vgl nur statt aller Geyer in HK-AuslR, 2008, § 5 FreizügG/EU RdNr 1)und es sich um keinen Aufenthaltstitel handelt (vgl § 2 Abs 4 Satz 1 FreizügG/EU). Denn es entspricht der gesetzlichen Konzeption des Freizügigkeitsrechts, von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen, solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs 5 FreizügG/EU festzustellen und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht einzuziehen(so auch die gesetzliche Begründung zum Zuwanderungsgesetz, vgl BT-Drucks 15/420, 106; vgl auch die Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II in der Fassung vom 20.1.2010, Ziffer 7.2d, sowie Ziffer 5.5.1.3. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 26.10.2009, GMBl 2009, 1270). Die Ausreisepflicht nach § 7 Abs 1 Satz 1 FreizügG/EU wird erst mit dieser Verlustfeststellung begründet.

15

3. Der Kläger ist auch nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II zunächst Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige noch auf Grund des § 2 Abs 3 des FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, des Weiteren Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen sowie zuletzt Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG).

16

Der Kläger ist als französischer Staatsangehöriger Ausländer im Sinne dieser Vorschrift. Er ist aber nicht leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG und hält sich nach den Feststellungen des LSG bereits seit Ende des Jahres 2007 in der Bundesrepublik auf. Er ist auch nicht deswegen nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, weil sich sein Aufenthaltsrecht alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt(dazu unter a). Denn dieser Leistungsausschluss ist auf den Kläger als Staatsangehörigen eines Vertragsstaates des EFA vom 11.12.1953 (BGBl II 1956, 564) nicht anwendbar (dazu unter b).

17

a) Das Aufenthaltsrecht des Klägers ergibt sich gemäß § 2 Abs 2 Nr 1 Alt 2 FreizügG/EU alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche. Denn auf ein anderes Aufenthaltsrecht, das - wie sich aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt ("Aufenthaltsrecht […] allein aus dem Zweck der Arbeitsuche"; vgl auch BT-Drucks 16/688, 13) - den Leistungsausschluss von vornherein entfallen lassen würde, kann sich der Kläger nicht berufen.

18

Der Kläger ist insbesondere nicht als Arbeitnehmer, Selbstständiger oder Nicht-Erwerbstätiger freizügigkeitsberechtigt. Auch steht ihm (noch) kein Daueraufenthaltsrecht zu. Als "Arbeitnehmer" im Sinne von § 2 Abs 2 Nr 1 Alt 1 FreizügG/EU ist der Kläger nicht (mehr) aufenthaltsberechtigt. Während seiner Tätigkeit als Handwerkshelfer war er es, weil auch derjenige Arbeitnehmer im Sinne des Freizügigkeitsrechts ist, der nur über ein geringfügiges, das Existenzminimum nicht deckendes, Einkommen verfügt. Nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art 39 EG (hier anwendbar in der Fassung des Vertrages von Nizza, BGBl II 2001, 1666 - der Vertrag von Lissabon ist erst zum 1.12.2009 in Kraft getreten, BGBl II 2009, 1223) fällt jeder Arbeitnehmer, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt - mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt - unter die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (vgl ua EuGH, Rs 139/85 [Kempf], Slg 1986, 1741 [Rz 9 ff]; Rs 53/81 [Levin], Slg 1982, 1035 [Rz 17]; C-213/05 [Geven], Slg 2007, I-6347 [Rz 16]; so nun auch Ziffer 2.2.1.1. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift des BMI zum FreizügG/EU; vgl zum gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff ausführlich Epe in GK-AufenthG, § 2 FreizügG/EU RdNr 31 ff mwN). Zwar blieb dem Kläger gemäß § 2 Abs 3 Satz 2 FreizügG/EU seine Erwerbstätigeneigenschaft und damit sein Freizügigkeitsrecht "als Arbeitnehmer" für die Dauer von sechs Monaten nach der arbeitgeberseitigen Kündigung erhalten. Dieser Zeitraum war aber bereits abgelaufen, als er für den hier streitgegenständlichen Zeitraum Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes beantragte.

19

Dem Kläger stand auch zu keinem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht als selbstständig Tätiger nach § 2 Abs 1 Nr 2 FreizügG/EU zu. Dies setzt voraus, dass eine Tätigkeit als Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich ausgeübt wird (vgl Art 7 Abs 1 Buchst a Alt 2 UBRL). Zwar ist auch insoweit nicht erforderlich, dass der Gewinn aus der selbstständigen Tätigkeit das notwendige Existenzminimum deckt (vgl zuletzt zB OVG Bremen Beschluss vom 21.6.2010 - 1 B 137/10 - juris). Voraussetzung ist aber nach Art 43 EGV, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit auf unbestimmte Zeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich ausgeübt wird (EuGH, C-221/89 [Factortame], Slg 1991, I-3905 [Rz 20]), sodass alleine ein formaler Akt (EuGH, aaO, Rz 21; Bröhmer in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl 2007, Art 43 EG RdNr 12), wie die Registrierung eines Gewerbes nicht ausreichend ist. Ein weitergehendes Stadium aber hat die selbstständige Tätigkeit des Klägers nicht erreicht.

20

Der Kläger ist darüber hinaus nicht als Nicht-Erwerbstätiger, zu denen freizügigkeitsberechtigte Arbeitsuchende nicht zählen, nach § 2 Abs 2 Nr 5 iVm § 4 Satz 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt, weil es ihm insoweit an ausreichenden Existenzmitteln fehlt. Schließlich hat der Kläger auch noch kein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs 2 Nr 7 iVm § 4a FreizügG/EU erworben.

21

b) Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II ist allerdings hier deswegen nicht anwendbar, weil der Kläger sich auf das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 EFA berufen kann(ebenso LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 14.1.2008 - L 8 SO 88/07 ER - FEVS 59, 369, 373 ff; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 14.1.2010 - L 14 AS 1565/09 B ER - juris; SG Berlin Urteil vom 25.3.2010 - S 26 AS 8114/08 - juris; Brühl/Schoch in LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 7 RdNr 35; Valgolio in Hauck/Noftz, § 7 SGB II RdNr 128, Stand Juni 2010; aA Bayerisches LSG Beschluss vom 4.5.2009 - L 16 AS 130/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 23.12.2009 - L 34 AS 1350/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 25.11.2008 - L 5 B 801/08 AS ER - juris; SG Reutlingen Urteil vom 29.4.2008 - S 2 AS 2952/07 - juris; Schumacher in Oestreicher, SGB II/SGB XII, Stand Februar 2010, § 7 SGB II, RdNr 11a; offen gelassen von LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 26.2.2010 - L 6 B 154/09 AS ER - juris; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 16.7.2008 - L 19 B 111/08 AS ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 11.1.2010 - L 25 AS 1831/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 30.5.2008 - L 14 B 282/08 AS ER - juris).

22

Nach Art 1 des Abkommens, das unter anderem die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich (und daneben Belgien, Dänemark, Estland, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, die Türkei und Großbritannien) unterzeichnet haben, ist jeder der Vertragschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.

23

Bei dieser Vorschrift handelt es sich um unmittelbar geltendes Bundesrecht (dazu unter aa), dessen Anwendbarkeit im konkreten Fall insbesondere kein jüngeres und deshalb vorrangig anzuwendendes Recht entgegensteht (dazu unter bb). Darüber hinaus steht seiner Anwendung nicht entgegen, dass inzwischen an die Stelle des Abkommens europäisches Koordinationsrecht getreten wäre (dazu unter cc). Auch liegen im Einzelnen die Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgebots nach Art 1 EFA vor. Denn bei der beanspruchten Regelleistung nach § 20 SGB II handelt es sich um Fürsorge im Sinne des EFA(dd). Die Vorschrift des § 20 SGB II findet in Ermangelung eines von der Bundesrepublik abgegebenen Vorbebehalts auch auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten Anwendung(ee). Der Kläger hält sich in der Bundesrepublik zudem erlaubt im Sinne von Art 1 EFA auf (ff). Das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 EFA findet schließlich auch nicht alleine auf solche Staatsangehörige anderer Vertragsstaaten Anwendung, die sich bereits vor Eintritt der Hilfebedürftigkeit im Aufenthaltsstaat aufgehalten haben (gg).

24

aa) Der Kläger kann sich auf Art 1 EFA als unmittelbar geltendes Bundesrecht berufen. Der Bundestag hat mit dem mit Zustimmung des Bundesrats beschlossenen Gesetz vom 15.5.1956 (BGBl II 563) dem Europäischen Fürsorgeabkommen zugestimmt (vgl Art 59 Abs 2 Satz 1 Grundgesetz ) und dadurch dessen Inhalt insoweit in innerstaatlich anwendbares, Rechte und Pflichten des Einzelnen begründendes (revisibles) Bundesrecht transformiert, als die Vertragsbestimmungen nach Wortlaut, Zweck und Inhalt wie innerstaatliche Gesetzesvorschriften rechtliche Wirkungen auszulösen geeignet sind (vgl BVerfGE 29, 348, 360; BVerwGE 44, 156, 160). Dies trifft auf den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 1 des EFA zu (so auch Bundesverwaltungsgericht Urteil vom 18.5.2000 - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200, 201; Urteil vom 14.3.1985 - 5 C 145/83 - BVerwGE 71, 139, 142; LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 14.1.2008 - L 8 SO 88/07 ER - FEVS 59, 369; OVG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 13.12.1999 - 16 A 5587/97 - juris; vgl auch Bayerischer VGH, FEVS 48, 74 ff; OVG Lüneburg, FEVS 49, 118, 119; Hessischer VGH, FEVS 51, 190 ff; Schraml, Das Sozialhilferecht der Ausländerinnen und Ausländer, 1992, S 75; Schuler, Der Einfluss des Europäischen Fürsorgeabkommens auf den sozialhilfe- und aufenthaltsrechtlichen Status der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer in Barwig/Lörcher/Schumacher , Familiennachzug von Ausländern auf dem Hintergrund völkerrechtlicher Verträge, S 67, 69; aA Kokott, Die Staatsangehörigkeit als Unterschiedsmerkmal für soziale Rechte von Ausländern in Hailbronner , Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts, S 25, 33).

25

bb) Entgegen der Ansicht der Revision ist das EFA auch nicht in dem Sinne "überholt", dass seiner Anwendung neuere, denselben Sachverhalt regelnde gesetzliche Vorschriften entgegenstehen. Das Völkervertragsrecht wird gemäß Art 59 Abs 2 GG im Range von Bundesgesetzen umgesetzt. Aus dieser Rangzuweisung folgt, dass deutsche Gerichte das EFA wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben (so BVerfGE 111, 307 ff zur Europäischen Menschenrechtskonvention ). Innerstaatliches Recht ist grundsätzlich so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht. Dies entspricht dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (vgl BVerfG aaO sowie BVerfGE 58, 1, 34; 59, 63, 89). Das einfache (Sozial-)Recht bietet darüber hinaus mit § 30 Abs 2 SGB I eine Vorschrift zur Lösung von möglichen Konflikten zwischen nationalem Recht und (transformiertem) Völkerrecht. § 30 Abs 2 SGB I beschränkt sich nicht auf die Regelung des gewöhnlichen Aufenthalts, sondern beinhaltet einen allgemeinen Rechtsgrundsatz(BSG, InfAuslR 2001, 181, 182; BSGE 52, 210, 213 = SozR 6180 Art 13 Nr 3 S 10). Bereits aus diesem Grund steht der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II entgegen der Ansicht der Revision der Verpflichtung zur Gleichbehandlung nach dem EFA nicht entgegen.

26

Im Übrigen hat das LSG zu Recht darauf hingewiesen, dass Art 1 EFA im Hinblick auf den persönlichen Anwendungsbereich spezieller ist. Die Vorschrift richtet sich gerade nicht an alle Ausländer (deren Aufenthaltsrecht sich aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt), sondern nur an Staatsangehörige der Vertragsstaaten. Darüber hinaus sind Gesetze auch dann im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden, wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender völkerrechtlicher Vertrag. Es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will (vgl BVerfGE 74, 358, 370 sowie - speziell zum EFA - BVerwGE 111, 200, 211). Ein solcher gesetzgeberischer Wille des späteren Gesetzgebers zur Abweichung vom EFA ist hier nicht erkennbar. Des Weiteren überzeugt auch das Argument der Revision nicht, § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II sei deshalb vorrangig vor dem EFA, weil § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II der Umsetzung des Art 24 Abs 2 UBRL diene(BT-Drucks 16/688 S 13), einer Vorschrift, an der sowohl Frankreich als auch die Bundesrepublik beteiligt waren (so aber auch LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 15.4.2010 - L 13 AS 1124/10 ER-B - juris). Es ist nichts dafür ersichtlich, dass diejenigen Mitglieder des Rats der Europäischen Union, die zugleich Vertragsstaaten des EFA sind, mit der in Art 24 Abs 2 UBRL eingeräumten Möglichkeit der nur beschränkten Leistung von Sozialhilfe an Freizügigkeitsberechtigte zugleich für ihren Zuständigkeitsbereich ein Abkommen des Europarats außer Kraft setzen wollten.

27

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das EFA selbst den Konfliktfall bereits regelt: Nach Art 18 EFA stehen die Bestimmungen des Abkommens solchen nationalen Vorschriften nicht entgegen, die für die Beteiligten günstiger sind. Dass eine Abweichung vom EFA zu Lasten des durch das EFA geschützten Personenkreises damit nicht zulässig ist, liegt dabei auf der Hand. Wenn die Bundesrepublik die sich aus dem EFA ergebenden Verpflichtungen nicht mehr tragen will, steht ihr nach Art 24 EFA die Möglichkeit offen, das Abkommen innerhalb der dort genannten Frist zu kündigen. Hiervon hat sie bislang keinen Gebrauch gemacht.

28

cc) Der Anwendbarkeit des EFA steht das koordinierende Sekundärrecht der Europäischen Union nicht entgegen (so aber Bayerisches LSG Beschluss vom 12.3.2008 - L 7 B 1104/07 AS ER - FEVS 60, 178).Gemeinschaftsrechtlicher Maßstab für den hier streitgegenständlichen Zeitraum (1.3.2009 bis 11.11.2009) ist die Kollisionsregel des Art 6 der "alten" Wanderarbeitnehmerverordnung EWG Nr 1408/71, weil die Nachfolgeverordnung (EG) Nr 883/2004 vom 29.4.2004 (ABl 2004 Nr L 166, 1 ff) gemäß deren Art 91 Satz 2 erst ab dem Inkrafttreten einer Durchführungsverordnung galt. Die Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist aber erst am 1.5.2010 in Kraft (Art 97 der VO Nr 987/2009) getreten. Nach der Kollisionsregel in Art 6 EWGV 1408/71 tritt die Verordnung im Rahmen ihres persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs an die Stelle bestimmter (völkerrechtlicher) Abkommen über die soziale Sicherheit.

29

Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unterfallen entweder gemäß Art 4 Abs 2a EWGV 1408/71 iVm dem Anhang IIA, Buchst E - entgegen dem Anwendungsausschluss für die Sozialhilfe nach Art 4 Abs 4 EWGV 1408/71 und mit konstitutiver Wirkung (vgl EuGH, Rs C-20/96 [Snares], Slg 1997, I-6082 [Rz 30]; differenzierend Rs C-215/99 [Jauch], Slg 2001, I-1901 [Rz 21] = SozR 3-6050 Art 10a Nr 1 S 5 f) - als so genannte besondere beitragsunabhängige Geldleistungen (so genannte "Mischleistungen", dazu ausführlich Beschorner, ZESAR 2009, 320 ff) bzw - soweit dem Grunde nach die Voraussetzungen nach § 24 Abs 1 SGB II vorliegen - als Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Art 4 Abs 1 Buchst g EWGV 1408/71 dem sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung.

30

Ob auch der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung eröffnet ist, bedarf dagegen keiner Entscheidung. Denn die Kollisionsregel des Art 6 EWGV 1408/71 greift hier ohnehin nicht ein. Die Kollisionsregel des Art 6 EWGV 1408/71 ist nämlich nur anwendbar auf "Abkommen über die soziale Sicherheit", worunter nach der Begriffsbestimmung des Art 1 Buchst k) EWGV 1408/71 nur Vereinbarungen für die in Art 4 Abs 1 und 2 der Verordnung bezeichneten Zweige und Systeme zu verstehen sind. Art 4 Abs 2a VO 1408/71 ist dort gerade nicht genannt.

31

Darüber hinaus gilt die Kollisionsregel des Art 6 EWGV ohnehin nicht schrankenlos. Vielmehr kann es gemeinschaftsrechtlich geboten sein, eine Günstigkeitsprüfung vorzunehmen (EuGH, Rs C-227/89 [Rönfeldt], Slg 1991, I-323 [Rz 29] = SozR 3-6030 Art 48 Nr 3 S 8; ausführlich Steinmeyer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 6 VO 1408/71 RdNr 10 ff). Weiterhin erscheint es zweifelhaft, ob Abkommen des Europarats überhaupt unter die Kollisionsregel fallen (vgl insoweit Steinmeyer, aaO, Art 7 VO 1408/71 RdNr 1; allerdings zu der ausdrücklich in die Verordnung aufgenommenen Ausnahmeregelung des Art 7 Abs 1 Buchst b im Hinblick auf das sog Vorläufige Europäische Abkommen vom 11.12.1953 über die soziale Sicherheit). Hinzu kommt, dass nichts dafür spricht, dass die EWGV 1408/71, für die sich vor allem die Notwendigkeit der Klärung des Verhältnisses zwischen Koordinationsrecht und Sozialversicherungsabkommen ergab, ein internationales Fürsorgeabkommen außer Kraft setzen wollte. Hier greift vielmehr der Anwendungsausschluss auf die Sozialhilfe nach Art 4 Abs 4 VO 1408/71.

32

dd) Bei der hier noch streitgegenständlichen (siehe oben 1.) Regelleistung nach § 20 SGB II handelt es sich um "Fürsorge" im Sinne von Art 1 EFA. Ausweislich der Begriffsbestimmung in Art 2 Abs a Nr i EFA meint "Fürsorge" im Sinne des Abkommens jede Fürsorge, die jeder der Vertragschließenden nach den in dem jeweiligen Teile seines Gebietes geltenden Rechtsvorschriften gewährt und wonach Personen ohne ausreichende Mittel die Mittel für ihren Lebensbedarf sowie die Betreuung erhalten, die ihre Lage erfordert. Ausgenommen sind beitragsfreie Renten und Leistungen zugunsten der Kriegsopfer und der Besatzungsgeschädigten. Nach Art 2 Abs b EFA sind die Rechtsvorschriften, die in den Gebieten der Vertragschließenden, auf die dieses Abkommen Anwendung findet, in Kraft sind, sowie die von den Vertragschließenden formulierten Vorbehalte in den Anhängen I und II zum Abkommen aufgeführt.

33

Die Regelleistung nach § 20 SGB II als Bestandteil der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach diesem Gesetz stellt ein solches, im Falle der Bedürftigkeit gewährtes "Mittel für den Lebensbedarf" dar(vgl auch Urteil des Senats vom 31.10.2007 - B 14/11b AS 5/07 R - BSGE 99, 170 = SozR 4-4200 § 24 Nr 1, wo im Hinblick auf das SGB II von einer "steuerfinanzierten Fürsorgeleistung" die Rede ist; vgl auch BT-Drucks 15/1516 S 56: "nachrangige Fürsorgeleistung"). Denn das SGB II ist - anders als bis zum 1.1.2005 die Alhi als Lohnersatzleistung (vgl zuletzt § 195 SGB III) - ein bedarfsabhängiges Leistungssystem (vgl Urteil des Senats vom 31.10.2007 - B 14 AS 30/07 R - SozR 4-4200 § 24 Nr 2). Darüber hinaus ist die Fürsorgegesetzgebung in der Bundesrepublik nach dem Außerkrafttreten des BSHG zum 1.1.2005 auch nicht auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII (idR iVm § 42 Satz 1 SGB XII) beschränkt. Sozialhilfe und Grundsicherung für Arbeitsuchende unterscheiden sich zwar nach ihrem Adressatenkreis. Das SGB II verliert dadurch aber nicht seinen Charakter als Fürsorgegesetz.

34

Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Umstand, dass im Anhang I zum EFA in der Fassung der Erklärung des ständigen Vertreters der Bundesrepublik Deutschland an den Generalsekretär des Europarats vom 26.10.2001 als anzuwendende Fürsorgegesetze noch immer (und entgegen der Verpflichtung der Bundesrepublik zur Mitteilung geänderter bzw neuer Rechtsvorschriften gemäß Art 16 Abs a und b EFA) das BSHG in der Fassung der Bekanntmachung vom 23.3.1994 (BGBl I 646, 2975), "zuletzt" geändert durch Art 12 des Gesetzes vom 13.9.2001 (BGBl I 2376, 2398), und die §§ 27, 32 bis 35 und 41 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII), jeweils iVm § 39 SGB VIII, sowie die §§ 3, 19 und 69 des Infektionsschutzgesetzes genannt werden. Denn die Aufzählung der Fürsorgegesetze in der Anlage I ist nicht konstitutiv (so auch BVerwG Urteil vom 18.5.2000 - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200, 206; LSG Niedersachsen-Bremen, FEVS 59, 369, 374; Mangold/Pattar, VSSR 2008, 243, 261; aA Bayerisches LSG Beschluss vom 4.5.2009 - L 16 AS 130/09 B ER - juris, sowie Schumacher in Oestreicher, SGB II/SGB XII, Stand Februar 2010, § 7 SGB II, RdNr 11a). Dies entspricht auch der Rechtsansicht der Bundesregierung bei Ratifizierung des Abkommens (vgl die Denkschrift des BMI und des Bundesministers des Auswärtigen zum Europäischen Fürsorgeabkommen und dem Zusatzprotokoll, BT-Drucks 2/1882, 23: "Die Aufführung der Fürsorgegesetze im Anhang I dient der Klarstellung, damit sich die übrigen Vertragschließenden den notwendigen Überblick verschaffen können." Vgl darüber hinaus den am 21.11.2001 vom Ministerkomitee des Europarats verabschiedeten "Explanatory Report" zum EFA, Rz 49). Dafür spricht zuletzt Art 2 Abs a Nr ii EFA. Hiernach haben die Begriffe "Staatsangehörige" und "Gebiet" die Bedeutung, die ihnen von den Vertragschließenden in gesonderten Erklärungen zugewiesen werden. Demgegenüber definiert Art 2 Abs a Nr i EFA den Begriff der Fürsorge eigenständig (Mangold/Pattar, aaO, 260).

35

ee) Die Bundesrepublik Deutschland hat bis jetzt keinen Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung des SGB II auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten abgegeben (vgl Art 16 Abs b Satz 2 EFA). Nach dem bislang abgegebenen Vorbehalt übernimmt die Bundesrepublik Deutschland keine Verpflichtung, die im BSHG "in der jeweils geltenden Fassung" vorgesehene Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage (vgl § 30 BSHG) und die dort vorgesehene Hilfe zur Überwindung besonderer sozialen Schwierigkeiten (vgl § 72 BSHG) an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zu gewähren, ohne gleichwohl auszuschließen, dass diese Hilfen in geeigneten Fällen gewährt werden können (vgl Neubekanntmachung des Anhangs II zum EFA, BGBl II 2001, 1098). Es bedarf an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob dieser Vorbehalt nach dem Außerkrafttreten des BSHG durch Gesetz vom 27.12.2003 (BGBl I 3022) mit Wirkung vom 1.1.2005 "dynamisch" im Sinne einer Anwendung auf die Nachfolgegesetzgebung anzuwenden ist. Denn bereits im Hinblick auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 2. Abschnitt des BSHG hatte sich die Bundesrepublik gerade nicht die Möglichkeit der Ungleichbehandlung der Staatsangehörigen der Vertragsstaaten vorbehalten. Mit der Regelleistung nach § 20 SGB II beansprucht der Kläger aber alleine eine solche, den Lebensunterhalt sichernde, Hilfe.

36

ff) Der Kläger hält sich auch "erlaubt" im Sinne des Art 1 EFA in der Bundesrepublik auf. Dabei kann an dieser Stelle dahinstehen, ob - wie es der Rechtsprechung des BVerwG zum BSHG entsprach (vgl nur BVerwGE 71, 139, 143 ff) - sich das Merkmal des erlaubten Aufenthalts nach Art 11 Abs a Satz 1 EFA bestimmt und dem Anhang insoweit konstitutive Wirkung zukommt. Bedenken könnten sich unter anderem deshalb ergeben, weil die - nach der Schlussformel des Abkommens im Gegensatz zur deutschen Fassung - verbindliche englische Fassung des EFA zwischen "lawfully present" nach Art 1 EFA und - enger - "lawfully resident" im Sinne der Rückschaffungsvorschriften nach Art 6 EFA unterscheidet. Art 11 definiert aber nur den Begriff "residence". Beides wird im Deutschen mit Aufenthalt übersetzt (wobei dann bei Art 6 EFA auf einen "gewöhnlichen" Aufenthalt abgestellt wird). Nach dem Abkommenstext spricht also einiges dafür, dass zwischen dem sozialrechtlichen Gleichbehandlungsgebot und dem Ausweisungsschutz im Hinblick auf die Qualität "des Aufenthalts" differenziert werden sollte.

37

Diese Frage bedarf aber deshalb keiner Entscheidung, weil sich der Kläger auch bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des BVerwG "erlaubt" in der Bundesrepublik aufhielt. Nach Art 11 Abs a Satz 1 EFA gilt der Aufenthalt eines Ausländers im Gebiet eines der Vertragschließenden solange als erlaubt im Sinne des Abkommens, als der Beteiligte im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis oder einer anderen in den Rechtsvorschriften des betreffenden Staates vorgesehenen Erlaubnis ist, auf Grund welcher ihm der Aufenthalt in diesem Gebiet gestattet ist. Dabei kam dem im Anhang III zum EFA angeführten Verzeichnis der Urkunden, die als Nachweis des Aufenthalts im Sinne des Art 11 EFA anerkannt werden, nach der Rechtsprechung des BVerwG ein rechtsbegründender (konstitutiver) Charakter in der Weise zu, dass mit den dort aufgeführten Urkunden die Erlaubnistatbestände abschließend genannt seien, aufgrund derer der Aufenthalt des ausländischen Staatsangehörigen im Sinne des Abkommens als erlaubt gelte (BVerwGE 71, 139, 144). Auch nach der Rechtsprechung des BVerwG war es aber als unerheblich anzusehen, wenn die Bezeichnung eines Aufenthaltstitels lediglich redaktionell angepasst wurde (BVerwG, aaO). Indiz für eine lediglich andere Bezeichnung kann dabei auch das völkervertragliche Verhalten der Bundesrepublik Deutschland sein. Denn wenn sie den Generalsekretär des Europarates von einer Änderung ihrer Gesetzgebung nicht unterrichtet hat, obwohl sie nach Art 16 Abs a EFA hierzu verpflichtet gewesen wäre, ist sie augenscheinlich davon ausgegangen, die gesetzliche Änderung berühre nicht den Inhalt des Anhangs III (BVerwGE 111, 200, 204).

38

Der Kläger verfügt über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU. Im Anhang III des EFA ist demgegenüber noch von einer "Aufenthaltserlaubnis für Angehörige eines Mitgliedstaats der EWG" die Rede (BGBl II 2001, 1100). Dies entspricht der Rechtslage nach § 1 Abs 4 des Gesetzes über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (AufenthG/EWG) in der Fassung des Gesetzes vom 9.7.1990 (BGBl I 1354), aufgehoben mit Wirkung vom 1.1.2005 durch das Zuwanderungsgesetz 2004 vom 30.7.2004 (BGBl I 1950). Nach dieser Vorschrift erhielten freizügigkeitsberechtigte Angehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften eine so genannte Aufenthaltserlaubnis-EG. Eines Aufenthaltstitels bedarf es nach § 2 Abs 4 Satz 1 FreizügG/EU, Art 8 UBRL nicht mehr. An die Stelle der Aufenthaltserlaubnis-EG ist insoweit die Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU getreten. Der Aufenthalt des Klägers "gilt" aus diesem Grund als erlaubt im Sinne des Art 11 EFA. Dies entspricht auch der Praxis der Ausländerbehörden, wonach von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen ist, bis eine Verlustfeststellung mit entsprechender Einziehung der Aufenthaltsbescheinigung nach § 5 Abs 5 FreizügG/EU erfolgt(vgl bereits oben 2.).

39

gg) Der Senat vermag schließlich auch keinen rechtlichen Ansatzpunkt dafür zu erkennen, das EFA nur auf diejenigen Ausländer anzuwenden, die sich zur Zeit des Eintritts der Hilfebedürftigkeit bereits in dem um Hilfe angegangenen Staat erlaubt aufhielten und mithin nicht auf diejenigen, die als bereits bedürftige Personen in einen Vertragsstaat einreisten (so aber LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 8.1.2010 - L 34 AS 2082/09 B ER, L 34 AS 2086/09 B PKH -, unter Verweis auf OVG Berlin Beschluss vom 22.4.2003 - 6 S 9.03 - FEVS 55, 186, 190). Mithin kommt es nicht darauf an, ob dem Kläger ein irgendwie geartetes "missbräuchliches Verhalten" vorgeworfen werden kann, als er etwas mehr als vier Monate nach seiner Einreise (nämlich nach Auslaufen seines Anspruchs auf Gewährung von Arbeitslosengeld nach dem SGB III) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II beantragt hat. Der gesetzliche Rahmen des BSHG (und nunmehr des SGB XII) war ein gänzlich anderer. Nach § 120 Abs 1 Satz 1 BSHG war Ausländern, die sich in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich aufhielten, Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Nach § 120 Abs 3 Satz 1 BSHG(jetzt § 23 Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGB XII in der Fassung des Gesetzes vom 2.12.2006, BGBl I 2670) hatten Ausländer, die sich in die Bundesrepublik Deutschland begeben haben, um Sozialhilfe zu erlangen, keinen Anspruch. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung entsprach es offenbar allgemeiner Ansicht, § 120 Abs 3 Satz 1 BSHG auch auf vom EFA geschützte Personen anzuwenden(so OVG Berlin aaO unter Verweis auf die Denkschrift zum EFA, BT-Drucks 2/1882, 23; vgl auch Hamburgisches OVG Beschluss vom 8.2.1989 - Bs IV 8/89 -, NVwZ-RR 1990, 141 ff; OVG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 25.4.1985 - 8 A 266/84 -, NDV 1985, 367 ff; aA VG Würzburg Urteil vom 21.2.1990 - W 3 K 88.1363 -, NDV 1990, 187 ff).

40

Es überzeugt nicht, eine - etwa § 23 Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGB XII vergleichbare - Regelung in das SGB II "hineinzulesen", wobei eine auf diese Weise vorgenommene Geltungserweiterung (Analogie) insbesondere auch vor dem Hintergrund des § 31 SGB I bedenklich erscheint. Im Übrigen dürfte die praktische Bedeutung eines solchen Anspruchsverlustes gering sein, weil das BVerwG jedenfalls im Rahmen der Vorgängernorm (§ 120 Abs 1 Satz 1 Halbs 1 BSHG in der Fassung vom 24.5.1983, BGBl I 613) einen finalen Zusammenhang im Sinne einer "prägenden Bedeutung" zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe (BVerwG Urteil vom 4.6.1992 - 5 C 22/87 - FEVS 43, 113 ff) verlangt hat. Schließlich hat auch die zu Art 1 EFA teilweise vertretene Ansicht, einen Aufenthalt zeitlich vor dem Eintritt der Hilfebedürftigkeit zu fordern (siehe oben), in dem Abkommen selbst keinen Ausdruck gefunden. Denn Art 1 EFA stellt allein auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts ab, nicht aber auf eine bestimmte zeitliche Abfolge.

41

Da der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II auf den Kläger mithin bereits aufgrund der vorrangigen Geltung des Gleichbehandlungsgebotes nach Art 1 EFA keine Anwendung findet, bedarf es an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob der Leistungsausschluss zudem wegen Verstoßes gegen gemeinschaftsrechtliche Vorgaben unanwendbar ist.

42

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober 2013 insoweit aufgehoben, als er zur Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 11. Oktober 2010 bis 7. November 2011 verurteilt worden ist.

Insoweit wird die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20. November 2012 zurückgewiesen.

Die Beigeladene wird verurteilt, den Klägern Hilfe zum Lebensunterhalt für den Zeitraum vom 11. Oktober 2010 bis 7. November 2011 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beigeladene hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. Ansonsten haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Im Streit steht die Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Kläger im Zeitraum vom 11.10.2010 bis 7.11.2011.

2

Die Kläger sind rumänische Staatsangehörige. Die Kläger zu 1 und 2 zogen 2008 mit ihren beiden gemeinsamen Kindern - geboren 1992 und im Februar 1995 (Kläger zu 3) - von Rumänien bzw über Belgien nach Deutschland. Sie verfügen seit November 2008 über eine Freizügigkeitsbescheinigung/EU und die Kläger zu 1 und 2 seit Ende 2011 (nach dreijährigem Aufenthalt) über eine unbefristete Arbeitsberechtigung. Der Kläger zu 1 hatte in Rumänien eine Schlosserlehre absolviert, war dann zur Armee eingezogen worden und arbeitete 1993 bis 1995 als Taxifahrer sowie anschließend als Tagelöhner in der Landwirtschaft. Ein von ihm 1992/1993 in Deutschland gestellter Asylantrag wurde abschlägig beschieden. Seine Ehefrau ging in Rumänien keiner Erwerbstätigkeit nach. Sie übt seit dem 8.11.2012 eine mit 200 Euro netto monatlich geringfügig entlohnte Beschäftigung aus. Bis Ende 2010 verkauften die Kläger zu 1 und 2 die Obdachlosenzeitung "Fifty-Fifty" zu einem Abgabepreis von 1,80 Euro und einem "Einkaufspreis" von 0,90 Euro. Der Differenzbetrag von rund je 120 Euro im Monat verblieb bei ihnen. Der Kläger zu 1 hatte vom 13.10.2008 bis 29.10.2009 ein Gewerbe angemeldet ("Abbruch- und Entkernungsarbeiten, Hilfsarbeiten auf Baustellen"), das er jedoch nicht betrieb und mit dem er auch keine Einkünfte erzielte. Für die beiden Söhne erhielten die Eheleute Kindergeld in Höhe von je 184 Euro. Die Söhne besuchten in Deutschland die Schule.

3

Erstmals Ende 2009 lehnte der Beklagte die Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bindend ab. Ein erneuter Antrag der Kläger vom 11.10.2010, den sie mit der Einreise zur Arbeitsuche begründeten, wurde vom Beklagten ebenfalls abschlägig beschieden (Bescheid vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2010). Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes hiergegen verpflichtete das LSG den Beklagten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 17.5.2011 bis maximal zum 17.11.2011 zu erbringen. Dies führte der Beklagte durch Bescheide vom 14.6., 7.7., 26.7. und 1.8.2011 aus. Ebenso vollzog sich das Verfahren nach einem weiteren Antrag der Kläger vom 7.11.2011 (ablehnender Bescheid vom 15.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2011, Ausführungsbescheide des Beklagten vom 22.6.2012 nach dem Erlass einer einstweiligen Anordnung des LSG für den Zeitraum vom 23.11.2011 bis 30.6.2012). Am 14.1.2013, der Höhe nach geändert durch Bescheid vom 5.2.2013, bewilligte der Beklagte den Klägern die begehrten Leistungen ab dem 1.11.2012, also seit dem Monat der Aufnahme der Beschäftigung durch die Klägerin zu 2.

4

Die gegen den Bescheid vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2010 erhobene Klage hat das SG durch Urteil vom 20.11.2012 unter Hinweis darauf, dass die Kläger nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen seien, abgewiesen. Auf die Berufung der Kläger hat das LSG dieses Urteil geändert und den Beklagten unter Änderung der benannten Bescheide verurteilt, den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften für den Zeitraum vom 11.10.2010 bis 7.11.2011 zu bewilligen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 SGB II greife im Falle der Kläger nicht. Sie verfügten über kein materielles Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland. Der Sohn der Kläger zu 1 und 2 (Kläger zu 3) sei im streitigen Zeitraum Schüler gewesen. Die Kläger zu 1 und 2 seien keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Das vom Kläger zu 1 angemeldete Gewerbe sei nie betrieben und es seien keine Einkünfte daraus erzielt worden. Der Verkauf der Obdachlosenzeitung stelle keine Beschäftigung dar, die zu einem Status als Arbeitnehmer geführt haben könne. Es handele sich dabei um eine untergeordnete Tätigkeit, die nicht in einem Arbeitsverhältnis verrichtet worden sei. Die Kläger zu 1 und 2 seien auch nicht arbeitsuchend gewesen, denn sie hätten allein wegen der Sprachbarrieren keine Chance auf Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt gehabt. Daher komme es auch nicht darauf an, dass die Kläger vor dem 1.10.2011 über eine unbefristete Freizügigkeitsberechtigung/EU verfügt hätten. Auf einen EU-Bürger ohne materielles Aufenthaltsrecht finde der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II keine Anwendung. Dies erschließe sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, die auf den Aufenthaltszweck "allein zur Arbeitsuche" abstelle. Eine erweiternde Auslegung im Sinne des Erst-Recht-Schlusses komme wegen des Ausnahmecharakters des Ausschlusses nicht in Betracht. Die Vorschrift sei nicht analogiefähig. Es liege keine unbeabsichtigte Regelungslücke vor. Dass der aus dem mangelnden Aufenthaltsrecht folgende Ausweisungsgrund nicht vollzogen werde, sei kein Grund, EU-Bürger von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in erweiternder Auslegung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II auszuschließen(Urteil des LSG vom 10.10.2013).

5

Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und begründet sie damit, dass das Urteil des LSG § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II verletze. Die dortige Auslegung der Vorschrift führe dazu, dass ausgerechnet Personen, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht oder kaum integrierbar seien, vom Leistungsausschluss für arbeitsuchende Unionsbürger nicht betroffen würden.

6

Er beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober 2013 aufzuheben und die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20. November 2012 zurückzuweisen.

7

Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Beigeladene zu verurteilen, ihnen Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII im Zeitraum vom 11. Oktober 2010 bis 7. November 2011 zu gewähren.

8

Sie halten die Ausführungen des LSG für zutreffend. Zwar sei nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Alimanovic nun klargestellt, dass der in § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II formulierte Leistungsausschluss europarechtskonform sei. Dies betreffe jedoch nicht die Kläger. Bei ihnen liege es näher, einen Vergleich zu der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Dano zu ziehen, wonach wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu erbringen seien. Insoweit mangele es jedoch an einer einfachgesetzlichen Regelung im deutschen Recht.

9

Die Beigeladene hat keinen eigenen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

10

Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG, soweit es den Beklagten zur Leistungserbringung verurteilt hat, begründet. Die Beigeladene ist verpflichtet, die Existenzsicherung der Kläger nach den Vorschriften des SGB XII zu gewährleisten.

11

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (2.). Sie können jedoch Hilfe zum Lebensunterhalt von der Beigeladenen nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII beanspruchen (3.).

12

1. Streitgegenstand ist die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, die der Beklagte durch Bescheid vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2010 abgelehnt hat. Der streitige Zeitraum beginnt mit der Antragstellung am 11.10.2010, als dem "Türöffner" für das Verwaltungsverfahren (zuletzt BSG vom 24.4.2015 - B 4 AS 22/14 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 71 RdNr 17), und endet, da die Kläger ihr Begehren im zweitinstanzlichen Gerichtsverfahren bis zu diesem Zeitpunkt beschränkt haben, mit der erneuten Antragstellung am 7.11.2011. Die die Entscheidungen des LSG im vorläufigen Rechtsschutz ausführenden Bescheide des Beklagten sind, wie das LSG zutreffend befunden hat, nicht nach § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden(vgl BSG vom 27.6.2013 - B 10 EG 2/12 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 21 RdNr 20 mwN; s auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 96 RdNr 4b unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BSG).

13

Unschädlich ist auch, dass die Kläger im Berufungsverfahren, trotz der Beiladung der Stadt Gelsenkirchen, nicht zumindest hilfsweise deren Verurteilung oder Verpflichtung zur Leistungserbringung nach dem SGB XII beantragt haben. Im Falle der - hier vom LSG vorgenommenen notwendigen Beiladung nach § 75 Abs 2 2. Alt SGG (unechte notwendige Beiladung) - ist zumindest davon auszugehen, dass die Kläger hilfsweise die Verurteilung der Beigeladenen begehren (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 75 RdNr 18a; weitergehend BSG vom 28.5.2015 - B 7 AY 4/12 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen - RdNr 10). Denn nach § 75 Abs 5 SGG darf der beigeladene Träger verurteilt werden, obwohl er nicht verklagt ist. Mit der Vorschrift des § 75 Abs 2 2. Alt iVm Abs 5 SGG unterstellt der Gesetzgeber, dass der Kläger zwar in erster Linie die Verurteilung des beklagten Trägers, hilfsweise jedoch auch die jedes anderen in Frage kommenden Trägers begehrt. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Kläger diese Verurteilung ausdrücklich ablehnt ( BSG vom 15.1.1959 - 4 RJ 111/57 - BSGE 9, 67, 70; BSG vom 2.11.2000 - B 11 AL 25/00 R - RdNr 25). Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Bei dem im Revisionsverfahren gestellten Hilfsantrag auf Verurteilung der Beigeladenen handelt es sich aus diesen Gründen auch nicht um eine an sich im Revisionsverfahren nach § 168 S 1 SGG nicht mehr zulässige Klageänderung im Sinne der Klageerweiterung(vgl hierzu BSG vom 30.1.1985 - 2 RU 69/83 - SozR 1500 § 168 Nr 3; BSG vom 4.2.1965 - 11/1 RA 312/63 - SozR Nr 27 zu § 75 SGG; s auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 168 RdNr 2c und § 75 RdNr 12a).

14

Ebenso wenig wird die Zulässigkeit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage dadurch berührt, dass die Kläger bereits vorläufige Leistungen erhalten haben. Dies war zum einen nur für einen Teil des hier streitigen Zeitraums der Fall (BSG vom 16.5.2012 - B 4 AS 105/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 30 RdNr 12 zur Unzulässigkeit bei dem Ausscheiden jeglichen Zahlungsanspruchs). Zum anderen hat sich der Rechtsstreit nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch nicht teilweise dadurch erledigt, dass für den Fall der nunmehr beantragten hilfsweisen Verurteilung der Beigeladenen die Leistungserbringung des Sozialhilfeträgers bereits (teilweise) als erfüllt iS des § 107 Abs 1 SGB X gilt(BSG vom 8.8.1990 - 11 RAr 79/88 - SozR 3-1300 § 104 Nr 3 S 4 f; BSG vom 9.9.1993 - 7/9b RAr 28/92 - BSGE 73, 83, 84 f = SozR 3-4100 § 58 Nr 5 S 11; BSG vom 16.5.2012 - B 4 AS 105/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 30 RdNr 12).

15

2. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gegen den Beklagten. Sie sind unabhängig von der bestehenden Hilfebedürftigkeit iS des § 7 Abs 1 S 1 Nr 3 iVm § 9 SGB II, ihres gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland(§ 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB II; vgl zum Begriff des "gewöhnlichen Aufenthalts" BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34 RdNr 17 ff)und der Erfüllung der Altersgrenzen des § 7 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB II im streitigen Zeitraum zumindest durch die Kläger zu 1 und 2 sowie deren Erwerbsfähigkeit(§ 7 Abs 1 S 1 Nr 2 iVm § 8 SGB II - auch nach § 8 Abs 2 SGB II, weil ihnen als Rumänen trotz seinerzeit nur eingeschränkter Arbeitnehmerfreizügigkeit als EU-Ausländern die Aufnahme einer Beschäftigung hätte erlaubt werden können, vgl BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 14 ff)von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aufgrund von § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 und 2 SGB II(idF vom 28.8.2007 durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007, BGBl I 1970, 2008) ausgeschlossen. Danach sind von den benannten Leistungen ausgenommen 1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts und 2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt und ihre Familienangehörigen.

16

a) Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 und 2 SGB II unterfallen die Kläger nicht einer Ausnahme von der Leistungsberechtigung nach § 7 Abs 1 S 1 SGB II. Sie haben sich im streitigen Zeitraum vom 11.10.2010 bis 7.11.2011 bereits mehr als drei Monate in Deutschland aufgehalten, denn sie sind im Herbst des Jahres 2008 eingereist. Ihr Aufenthaltsrecht ergibt sich auch nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. So sind die Kläger zu 1 und 2 zwar zur Arbeitsuche in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Für den hier streitigen Zeitraum folgt hieraus jedoch kein materielles Aufenthaltsrecht mehr. Sie waren nicht mehr arbeitsuchend iS des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II.

17

Der Begriff der "Arbeitsuche" ist im vorliegenden Kontext freizügigkeitsrechtlich geprägt. Der Gesetzgeber hat in § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II - anders als in § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II - zwar nicht ausdrücklich Bezug auf die Regelungen des FreizügG/EU genommen. Aus der Verknüpfung mit dem "Aufenthaltsrecht" folgt jedoch bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift, dass die dortigen Regelungen sowie die der RL 2004/38/EG zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals der "Arbeitsuche" heranzuziehen sind. Dies wird durch den Gesetzentwurf zur Änderung des S 2 des § 7 Abs 1 SGB II(BT-Drucks 16/5065 S 234; Änderung des SGB II zum 28.8.2007 durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007, BGBl I 1970, 2008) bestätigt. Danach sollten mit den Neuregelungen in § 7 Abs 1 S 2 SGB II die Unionsbürgerrichtlinie RL 2004/38/EG im Leistungsrecht umgesetzt und insbesondere von der Möglichkeit des Leistungsausschlusses nach Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG Gebrauch gemacht werden. Diese Norm regelt, dass vom Grundsatz der Gleichbehandlung aller Unionsbürger abgewichen werden kann, wenn die betreffende Person weder Arbeitnehmer, noch Selbstständiger oder deren Familienangehöriger ist und sie diesen Status nicht erhalten konnte (vgl hierzu Art 7 Abs 3 Buchst b und c RL 2004/38/EG). Sofern sie als Arbeitsuchende in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates eingereist ist, sieht die Richtlinie durch Art 14 Abs 4 Buchst b RL 2004/38/EG solange eine Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts als Arbeitsuchende vor, solange sie nachweisen kann, dass sie weiterhin Arbeit sucht und sie eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. Diese Regelung hat der Gesetzgeber zwischenzeitlich (mW ab dem 9.12.2014, BGBl I 1922) ins FreizügG/EU übernommen. In dessen § 2 Abs 2 S 1 Nr 1a FreizügG/EU ist nunmehr geregelt, dass freizügigkeitsberechtigt Unionsbürger sind, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Der dies tragende Grundgedanke der Aussicht auf Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist jedoch wegen der Gründung des Normtextes des § 7 Abs 1 S 2 SGB II auf der RL 2004/38/EG auch bereits im streitigen Zeitraum zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Arbeitsuche heranzuziehen.

18

Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs ist die Annahme des LSG revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass sich die Freizügigkeitsberechtigung der Kläger zu 1 und 2 im streitigen Zeitraum nicht mehr allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergab. Auf Grundlage der Anhörung der Kläger in der mündlichen Verhandlung sowie beigezogener Auskünfte und Beratungsvermerke der BA ist das LSG zu dem Ergebnis gelangt, dass sie im streitigen Zeitraum keine realistische Chance auf Erlangung eines Arbeitsplatzes hatten. Die Kläger zu 1 und 2 verfügten nicht über eine verwertbare berufliche Qualifikation oder Ausbildung, nennenswerte Berufserfahrung und deutsche Sprachkenntnisse. Diese fehlenden Kenntnisse stellten ein erhebliches Hindernis bei der Arbeitsuche dar. Zudem war zu berücksichtigen, dass ihre Berechtigung, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, im streitigen Zeitraum zusätzlich noch durch das Erfordernis einer Arbeitsgenehmigung-EU iS des § 284 SGB III(in den hier einschlägigen Fassungen vom 7.12.2006 BGBl I 2814 und vom 20.12.2011 mWv 1.5.2011 BGBl I 2854) iVm der Arbeitserlaubnis-EU nach § 39 Abs 2 S 1 Nr 1 Buchst b AufenthG(in den hier einschlägigen Fassungen vom 25.2.2008, BGBl I 162 und 20.12.2011, mWv 1.5.2011 BGBl I 2854, 2921) - für Unionsbürger aus Rumänien in der ersten Beitrittszeit - beschränkt war. Danach brauchte die BA der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung nur zuzustimmen, wenn für die Beschäftigung deutsche Arbeitnehmer sowie Ausländer, die diesen hinsichtlich der Arbeitsaufnahme rechtlich gleichgestellt waren, oder andere Ausländer, die nach dem Recht der Europäischen Union einen Anspruch auf vorrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt hatten, nicht zur Verfügung standen. Die begründete Aussicht, dass diese beim Fehlen jeglicher Qualifikation der Arbeitsuchenden, wie vorliegend, zur Verfügung stehen, hat das LSG ohne Rechtsfehler negiert. Da die Kläger sich zu Beginn des hier streitigen Zeitraums zudem bereits mehr als zwei Jahre in Deutschland aufgehalten hatten, ohne eine Erwerbstätigkeit ausgeübt zu haben, unterliegt der vom LSG weiter gezogene Schluss der objektiv nicht bestehenden Aussicht der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit keinen durchgreifenden Zweifeln (vgl zum zeitlichen Umfang der materiellen Freizügigkeitsberechtigung der Arbeitsuche: EuGH Rs Antonissen vom 26.2.1991 - C-292/89 RdNr 21; s auch Devetzi, EuR 2014, 638, 642; Lehmann, ZAR 2015, 212, 215; Thym, NJW 2015, 130, 133).

19

b) Die Kläger waren jedoch, auch wenn sie nicht den ausdrücklich normierten Ausnahmen des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 und 2 SGB II unterfallen, gleichwohl von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Denn sie verfügten über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des FreizügG/EU oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht. Damit unterfielen sie "erst-recht" dem Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 SGB II. Die Vorschrift ist insoweit planwidrig lückenhaft, als sie nicht ausdrücklich den Ausschluss auch derjenigen normiert, die über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht verfügen, weil sie einen Leistungsausschluss schon für solche Ausländer anordnet, die sich auf eine solche materielle Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des FreizügG/EU berufen können.

20

Der "Erst-Recht-Schluss" ist eine Untergruppe oder ein Spezialfall des Analogieschlusses. Die analoge Anwendung einfachgesetzlicher Vorschriften ist eine anerkannte Methode der richterlichen Rechtsfortbildung und verfassungsrechtlich unter Beachtung der Schranken des Art 20 Abs 3 GG zulässig. Denn hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar war (BVerfG vom 3.4.1990 - 1 BvR 1186/89 - BVerfGE 82, 6, 11). Daher setzt der Analogieschluss voraus, dass das Gesetz - hier im Hinblick auf eine bestimmte Personengruppe - lückenhaft, also angesichts der erkennbaren Regelungsabsicht des Gesetzgebers "planwidrig" unvollständig ist (vgl dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl 1991, S 373, 375; s nur BSG vom 25.6.2009 - B 10 EG 8/08 R - BSGE 103, 291 = SozR 4-7837 § 2 Nr 2 RdNr 31 mwN). Es muss an der nach dem Regelungsplan des Gesetzes zu erwartenden Regel mangeln (BVerwG vom 11.9.2008 - 2 B 43/08 - Buchholz 237.7 § 23 NWLBG Nr 1 mwN). Dem "Erst-Recht-Schluss" selbst liegt dabei die Erwägung zugrunde, die analoge Anwendung sei immer dann gerechtfertigt, wenn die rechtspolitischen Gründe (Normzwecke) einer Vorschrift bei einem nicht geregelten Lebenssachverhalt noch stärker gegeben sind als bei dem geregelten Normtatbestand (vgl nur Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 8. Aufl 2015, RdNr 898). Dies ist hier im Hinblick auf Unionsbürger oder Ausländer, die über keine Freizügigkeitsberechtigung oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht verfügen, der Fall, wie sich aus der Entstehungsgeschichte der Ausschlussregelung, ihrem systematischen Zusammenhang sowie dem Sinn und Zweck der benannten Vorschrift erschließt (vgl zur Feststellung des Regelungsplans des Gesetzgebers bei einer Unvollständigkeit des Gesetzes, Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl 1991, S 373).

21

(aa) Nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II in der ab dem 1.1.2005 geltenden Fassung des Gesetzes zur optionalen Trägerschaft von Kommunen nach dem SGB II (vom 30.7.2004, BGBl I 2014) waren Ausländer unter den Voraussetzungen des § 8 Abs 2 SGB II leistungsberechtigt. Ein Ausschluss oder eine Beschränkung der Leistungsberechtigung für Unionsbürger waren mithin nicht vorgesehen. Mit der Neufassung des § 7 Abs 1 S 2 SGB II durch das Gesetz zur Änderung des 2. Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (vom 24.3.2006, BGBl I 558) ergänzt durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (vom 19.8.2007, BGBl I 2008) erfolgte dann ein grundlegender Paradigmenwechsel. Es sollte von der Option des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG Gebrauch gemacht werden (BT-Drucks 16/5065 S 234). Für Unionsbürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, sollte eine weitere leistungsrechtliche Hürde geschaffen werden, sofern sie wegen des vorbehaltlosen Aufenthalts in den ersten drei Monaten oder allein zum Zweck der Arbeitsuche freizügigkeitsberechtigt sind (BT-Drucks 16/5065 S 234; BT-Drucks 16/688 S 13). Leistungsberechtigt sollten sie nur sein, wenn sie über eine von § 7 Abs 1 S 2 SGB II nicht erfasste Freizügigkeitsberechtigung oder ein sonstiges Aufenthaltsrecht verfügen. Hieraus folgt umgekehrt, dass nicht freizügigkeits- oder aufenthaltsberechtigte Unionsbürger nach dem gesetzgeberischen Plan von vornherein nicht leistungsberechtigt sein sollten.

22

(bb) Dies entspricht auch der Binnensystematik und der Verknüpfung des § 7 Abs 1 S 2 SGB II mit dem im Gesetzentwurf unter Bezug genommenen Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG. Danach ist der Aufnahmemitgliedstaat - unter Hintanstellung des Gleichbehandlungsgrundsatzes - nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art 14 Abs 4 Buchst b RL 2004/38/EG (Zeitraum der Arbeitsuche, s unter 2.a) einen Anspruch auf Sozialhilfe (…) zu gewähren. Das Gleichbehandlungsgebot, also auch die Verpflichtung zur Gleichbehandlung bei der Gewährung existenzsichernder Leistungen, gilt mithin umgekehrt grundsätzlich nur dann, wenn eine Freizügigkeitsberechtigung des Unionsbürgers im Sinne der Richtlinie gegeben ist. Zugleich wird im Hinblick auf den Aufenthalt in den ersten drei Monaten und zur Arbeitsuche durch den Hinweis auf Art 14 Abs 4 Buchst b RL 2004/38/EG eine Ausnahme normiert. Mit der Einfügung der Nr 1 und 2 in den S 2 des § 7 Abs 1 SGB II sollte demnach von den unionsrechtlich eröffneten Ausschlussgründen auch bei Bestehen einer Freizügigkeitsberechtigung Gebrauch gemacht werden. Hierin fügt sich die Systematik der Rückausnahmen in § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II für freizügigkeitsberechtigte Arbeitnehmer und Selbstständige sowie ihre Familienangehörigen ein. Dementsprechend haben die beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG im Hinblick auf Nr 2 des § 7 Abs 1 S 2 SGB II bisher schon unter Bezug auf § 11 FreizügG/EU (Regelung der Anwendung des AufenthG) angenommen, dass in Fällen, in denen ein anderes Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG - auch neben dem zum Zwecke der Arbeitsuche - besteht, etwa aus anderen familiären Gründen, der Ausschluss ebenfalls nicht eingreift(BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 30 ff; BSG vom 25.1.2012 - B 14 AS 138/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 28, RdNr 20 ff).

23

Dass der Gesetzgeber es planwidrig unterlassen hat, auch die nicht freizügigkeits- oder aufenthaltsberechtigten Ausländer ausdrücklich von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auszuschließen, belegt auch die nachfolgende Kontrollüberlegung zu dem System der Eingliederungsleistungen im SGB II. Nach der Grundkonzeption des SGB II ist es Ziel dieser Leistungen, dass leistungsberechtigte Personen ohne eine Erwerbstätigkeit bei der Aufnahme einer solchen unterstützt werden, also Arbeit zu finden und, wenn sie bisher erfolglos Arbeit gesucht haben, dies mit einer Unterstützung durch Eingliederungsleistungen erfolgreich zu tun. Wenn ein EU-Ausländer aber Leistungen nach §§ 16 ff SGB II für eine erfolgreiche Arbeitsuche erhält, liegen die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II (wieder) vor. Dass ein solcher Zirkelschluss vom Gesetzgeber gewollt war, kann nicht angenommen werden. Es ist daher vielmehr davon auszugehen, dass es seinem Plan entsprach, in den Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 SGB II auch die Ausländer einzubeziehen, die keine oder objektiv ohne Erfolgsaussichten Arbeit suchen.

24

(cc) Auch wäre es sinnwidrig und würde der sozialpolitischen Zweckrichtung der Regelung widersprechen, hätten gerade nicht materiell freizügigkeits- oder aufenthaltsberechtigte Ausländer einen Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weil sie nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift nicht von Leistungen ausgeschlossen sind. Sie sind vielmehr, weil ihre Leistungsberechtigung im eigentlichen Sinne nicht gewollt war, "erst-recht" von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen. Mit der Ausschlussregelung sollte ein Zuzug von Ausländern in den SGB II-Leistungsbezug verhindert werden, soweit keine Verpflichtung zur Gleichbehandlung mit Inländern besteht (vgl BT-Drucks 16/5065 S 234). Nur wer als Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt ist - über das Aufenthaltsrecht in den ersten drei Monaten und zur Arbeitsuche hinaus - sollte daher einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen aus dem SGB II erhalten, etwa aufstockend neben der Tätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger, während der nachgehenden Statuserhaltung oder als deren Familienangehörige. Nach Ablauf der ersten drei Monate des Aufenthalts sei, so die Begründung im Gesetzentwurf, das weitere Aufenthaltsrecht vom Aufenthaltszweck abhängig und damit auch die Leistungsberechtigung nach dem SGB II. So sollte sichergestellt werden, dass durch die Neuregelung im Freizügigkeitsgesetz/EU - die RL 2004/38/EG umsetzend - keine Regelungslücke entsteht (vgl BT-Drucks 16/5065 S 234). Die materielle Freizügigkeits- oder Aufenthaltsberechtigung kann damit nicht hinweggedacht werden, ohne dass die Ausschlussregelung ihren Sinn verlöre.

25

c) Die Kläger konnten sich nicht auf eine materielle Freizügigkeitsberechtigung berufen.

26

(aa) Die Kläger waren nicht als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigt. Der Begriff des Arbeitnehmers in § 7 Abs 1 S 2 SGB II ist, wie die Wortverbindung in dessen Nr 1 zum FreizügG/EU bereits zeigt, ebenfalls europarechtlich geprägt; durch dieses Gesetz wird die, die Freizügigkeitsrechte der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen innerhalb der Union regelnde RL 2004/38/EG - auf Grundlage der Europäischen Verträge - in das nationale Recht umgesetzt (Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, Vorbemerkung 0.1.2 zum Freizügigkeitsgesetz/EU). Eine kodifizierte Definition des Arbeitnehmerbegriffs findet sich im Europarecht zwar nicht. Es ist daher auf die Ausprägung dessen zurückzugreifen, die er auf Grundlage der Rechtsprechung des EuGH erfahren hat. Die Arbeitnehmereigenschaft wird danach bei der Ausübung einer tatsächlichen und echten Tätigkeit als gegeben angesehen, was gestützt auf objektive Kriterien und in einer Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen, festzustellen ist (EuGH Rs Ninni-Orasche vom 6.11.2003 - C-413/01 RdNr 24; EuGH vom 21.2.2013 - C-46/12 RdNr 39 ff; Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, § 2 FreizügG/EU RdNr 37; Tewocht in Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 9. Edition, Stand XI/2015, § 2 FreizügG/EU RdNr 18 ff). Um Arbeitnehmer zu sein, muss die betreffende Person während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringen, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Dabei sind nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses (EuGH Rs Genc vom 4.2.2010 - C-14/09 RdNr 27). Dies bedeutet, dass eine Integration in den Betrieb des Arbeitgebers gegeben sein muss, bei der die betreffende Person unter der Weisung oder Aufsicht eines Dritten steht, der die zu erbringenden Leistungen und/oder die Arbeitszeiten vorschreibt und dessen Anordnungen durch den Arbeitnehmer zu befolgen sind (vgl Hoffmann in Hofmann/Hoffmann, HK-AuslR, 1. Aufl 2008, § 2 FreizügG/EU RdNr 8). Unter Anwendung dieses Maßstabs und auf Grundlage seiner Feststellungen hat das LSG vorliegend die Arbeitnehmereigenschaft der Kläger zu 1 und 2 zutreffend verneint.

27

Die Kläger zu 1 und 2 haben die Obdachlosenzeitung "Fifty-Fifty" verkauft. Das LSG hat festgestellt, dass damit ein wirtschaftlicher Güteraustausch nicht verbunden gewesen sei, jedenfalls sei dies nicht der prägende Hauptzweck der Tätigkeit gewesen. Vielmehr habe es sich um eine dem Betteln gleichgestellte Tätigkeit gehandelt, die - nach einem Hinweis in dieser Zeitung - unter genehmigungsfreiem Gemeingebrauch des öffentlichen Straßenraumes erfolgte. Die Kläger zu 1 und 2 unterlagen auch nicht den Weisungen der karitativen Organisationen, die diese Zeitung herausgeben. Sie "kauften" die Zeitschriften bei den Herausgebern zum Zwecke des Straßenverkaufs und konnten - ohne weitere Weisungen zu deren Vertrieb - den Differenzbetrag zum Verkaufspreis zur eigenen Verfügung behalten.

28

(bb) Eine selbstständige Erwerbstätigkeit ist - ebenfalls unter Berücksichtigung der europarechtlichen Implikationen - jede Art der wirtschaftlichen Tätigkeit, die in eigener Verantwortung und weisungsfrei erfolgt (Tewocht in Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 9. Edition, Stand XI/2015, § 2 FreizügG/EU RdNr 32). Eine Gewinnerzielungsabsicht muss nicht vorrangiges oder einziges Ziel sein, sie muss aber vorhanden sein. Rein karitative Tätigkeiten fallen nicht hierunter; die Tätigkeit muss daher erwerbsorientiert sein, wobei alle Tätigkeiten erfasst werden, sofern sie mit einer entgeltlichen Gegenleistung verbunden sind und eine Teilnahme am Wirtschaftsleben darstellen (EuGH Rs Sodemare vom 17.6.1997 - C-70/95 RdNr 25; vgl auch Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, § 2 FreizügG/EU RdNr 78; Müller-Graff in Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl 2012, Art 49 AEUV RdNr 13). Der Selbstständige, der sich auf das Freizügigkeitsrecht der Niederlassungsfreiheit im Sinne der Art 49 ff AEUV berufen kann, muss auch tatsächlich eine wirtschaftliche Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit ausüben (EuGH Rs Factortame vom 25.7.1991 - C-221/89 RdNr 34; Tewocht in Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 9. Edition, Stand XI/2015, § 2 FreizügG/EU RdNr 33)und damit wirtschaftlich in einen anderen Mitgliedstaat integriert sein (Brinkmann in Huber, AufenthG, 1. Aufl 2010, § 2 FreizügG/EU RdNr 29).

29

Diese Voraussetzungen sind nach den zuvor dargelegten Bedingungen, unter denen die Kläger zu 1 und 2 dem Verkauf der Obdachlosenzeitung nachgegangen sind, nicht gegeben. Aber auch mit dem von dem Kläger zu 1 angemeldeten Gewerbebetrieb: "Abbruch- und Entkernungsarbeiten, Hilfsarbeiten auf Baustellen" erfüllte er nicht die Voraussetzungen um den Status als niedergelassener selbstständiger Erwerbstätiger erlangt zu haben. Er hat ausweislich der Feststellungen des LSG erklärt, das Gewerbe nie betrieben und auch keinen Gewinn erzielt zu haben. Abgesehen davon, dass er allein mit der Anmeldung des Gewerbebetriebes nicht am wirtschaftlichen Leben teilgenommen hat, war diese offensichtlich unter Zugrundelegung der getroffenen Feststellungen nicht erwerbsorientiert.

30

(cc) Damit entfällt zugleich der nachgehende Schutz als Arbeitnehmer oder Selbstständiger iS des § 2 Abs 3 FreizügG/EU für die Kläger zu 1 und 2. Danach bleibt für Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätige die Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs 1 FreizügG/EU unberührt ua bei(2.) unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbstständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbstständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit (S 1). Bei weniger als einem Jahr Beschäftigung gilt dies auch, jedoch nur während der Dauer von sechs Monaten nach der Beendigung der Tätigkeit (S 2). Ebenso wenig haben folglich die Familienangehörigen eine vom Status als Arbeitnehmer oder Selbstständiger abgeleitete Freizügigkeitsberechtigung iS des § 2 FreizügG/EU innegehabt.

31

(dd) Die Kläger waren auch nicht als nichterwerbstätige Unionsbürger iS des § 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Danach haben nicht erwerbstätige Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und ihre Lebenspartner, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, das Recht nach § 2 Abs 1 FreizügG/EU, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Zwar hat das LSG keine Feststellungen zum Krankenversicherungsschutz der Kläger getroffen. Dass sie nicht über ausreichende Existenzmittel verfügten, zeigt sich jedoch bereits daran, dass sie hilfebedürftig iS des § 7 Abs 1 Nr 3 iVm § 9 SGB II waren(vgl zum Maßstab der "nicht ausreichenden Existenzmittel": Thym, NJW 2015, 130, 132).

32

(ee) Anhaltspunkte für ein anderes Aufenthaltsrecht im Sinne des AufenthG sind ebenfalls nicht ersichtlich oder vorgebracht (vgl zum Vorliegen eines anderen Aufenthaltsrechts nur: BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 30 ff; BSG vom 25.1.2012 - B 14 AS 138/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 28, RdNr 20 ff).

33

(ff) Der fehlenden materiellen Freizügigkeitsberechtigung steht auch nicht entgegen, dass die Kläger zu 1 und 2 nach den bindenden Feststellungen des LSG im Besitz einer Freizügigkeitsbescheinigung/EU nach § 5 Abs 1 FreizügG/EU idF des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union(vom 19.8.2007, BGBl I 1970) waren. Das Ausstellen einer solchen Bescheinigung, die mit Wirkung zum 29.1.2013 im Übrigen abgeschafft worden ist (Streichung des § 5 Abs 1 FreizügG/EU in der vorbenannten Fassung durch das Gesetz zur Änderung des FreizügG/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vom 21.1.2013, BGBl I 86), lässt keine Rückschlüsse auf das Bestehen einer materiellen Freizügigkeitsberechtigung zu.

34

Ihre Ausstellung hatte allein deklaratorische Bedeutung (BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 20; Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, § 5 FreizügG/EU RdNr 4; noch offengelassen BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 13; s jedoch BSG vom 25.1.2012 - B 14 AS 138/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 28 RdNr 17). Auch solange § 5 Abs 1 FreizügG/EU idF vom 19.8.2007 noch in Kraft war, erfolgte die Prüfung der Freizügigkeitsberechtigung nach den Kriterien des § 2 FreizügG/EU. Das Freizügigkeitsrecht wurde und wird originär durch den EG-Vertrag/EUV/AEUV und seine Durchführungsbestimmungen begründet und nicht durch die Ausstellung der Aufenthaltskarte (EuGH Rs Dias vom 21.7.2011 - C-325/09 - RdNr 48; s auch VG Augsburg vom 5.6.2008 - Au 1 S 08.450 - juris-RdNr 35, 36). So war umgekehrt in der Vergangenheit die Ausstellung der Bescheinigung über das Freizügigkeitsrecht keine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Unionsbürgers im Bundesgebiet. Aufgrund der generellen Freizügigkeitsvermutung muss der Aufenthalt desjenigen Unionsbürgers, der schon bei seiner Einreise ins Bundesgebiet keinen Freizügigkeitstatbestand erfüllt hat, solange als rechtmäßig angesehen werden, bis die zuständige Ausländerbehörde das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts in entsprechender Anwendung des § 5 Abs 5 FreizügG/EU in der bis Januar 2013 geltenden Fassung oder nunmehr aufgrund von § 5 Abs 4 FreizügG/EU bzw der Missbrauchstatbestände in § 2 Abs 7 FreizügG/EU festgestellt hat. Erst die ausländerbehördliche Nichtbestehens- bzw Verlustfeststellung führt zur sofortigen Ausreisepflicht nach § 7 Abs 1 FreizügG/EU. Bis dahin darf sich ein Unionsbürger unabhängig vom Vorliegen einer materiellen Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 FreizügG/EU aufgrund der generellen Freizügigkeitsvermutung im Bundesgebiet aufhalten, ohne ausreisepflichtig zu sein(vgl BT-Drucks 16/5065 S 211 zu Art 2 Nr 8 Buchst a Doppelbuchst aa).

35

(d) Diese Auslegung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 und 2 SGB II ist auch europarechtskonform. Der EuGH hat sowohl in der Rechtssache Dano (vom 11.11.2014 - C-333/13) als auch in der Rechtssache Alimanovic (vom 15.9.2015 - C-67/14) in den hier gegebenen Fallkonstellationen die Zulässigkeit der Verknüpfung des Ausschlusses von Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten von existenzsichernden Leistungen mit dem Bestehen eines Aufenthaltsrechts im Sinne der RL 2004/38/EG ausdrücklich anerkannt. Nach seiner Rechtsprechung sind Art 24 Abs 1 der RL 2004/38/EG iVm ihrem Art 7 Abs 1 Buchst b und Art 4 VO 883/2004/EG dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter "besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen" im Sinne des Art 70 Abs 2 VO 883/2004/EG ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, sofern den betreffenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38/EG zusteht (EuGH Rs Dano vom 11.11.2014 - C-333/13 RdNr 84). In der Rechtssache Alimanovic hat der EuGH insoweit betont, dass Unionsbürger anderer EU-Staaten, die nach Deutschland eingereist sind, um Arbeit zu suchen, vom deutschen Gesetzgeber vom Bezug von Alg II oder Sozialgeld ausgeschlossen werden können, selbst wenn diese Leistungen als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen im Sinne des Art 70 VO 883/2004/EG eingeordnet werden (EuGH Rs Alimanovic vom 15.9.2015 - C-67/14 RdNr 63). Beim Alg II und Sozialgeld handele es sich um Leistungen der "Sozialhilfe" im Sinne des Art 24 Abs 2 der RL 2004/38/EG. Danach haben die Aufnahmestaaten jedoch keine Verpflichtung zur Gleichbehandlung ihrer Staatsangehörigen und solcher anderer EU-Mitgliedstaaten im Hinblick auf einen Anspruch auf Sozialhilfe, wenn Letztere nicht Arbeitnehmer oder Selbstständige sind oder ihnen dieser Status erhalten geblieben ist bzw Familienangehörige dieser sind (s hierzu auch Kingreen in NVwZ 2015, 1503, 1505 f; Padé in jM 2015, 414, 415).

36

3. Den Klägern steht jedoch ein Recht auf Existenzsicherung durch Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII gemäß § 23 Abs 1 S 3 SGB XII in gesetzlicher Höhe gegen die Beigeladene zu.

37

a) Die Kläger waren leistungsberechtigt im Sinne des Sozialhilferechts, weil sie im streitigen Zeitraum ihren Lebensunterhalt nicht iS des § 19 Abs 1 SGB XII iVm § 27 Abs 1 SGB XII aus eigenen Kräften und Mitteln decken konnten.

38

Nach § 19 Abs 1 SGB XII ist Personen Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten können. Dies war bei den Klägern, wie eingangs dargelegt, im streitigen Zeitraum der Fall. Ihr Bedarf im sozialhilferechtlichen Sinne ist dem Grunde nach zwar teilweise dadurch gedeckt worden, dass sie - durch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zugesprochene SGB II-Leistungen - den leistungslosen Zeitraum überstanden haben (vgl BSG vom 29.9.2009 - B 8 SO 16/08 R - BSGE 104, 213 = SozR 4-1300 § 44 Nr 20, RdNr 14 mwN). Insoweit greift für einen Teil des streitigen Zeitraums die Erfüllungsfiktion des § 107 SGB X ein.

39

b) Einem Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII stand auch eine mangelnde Kenntnis der Beigeladenen von der Bedürftigkeit der Kläger im streitigen Zeitraum nicht entgegen. Die Kläger haben zwar "nur" Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bei dem Beklagten beantragt. Die nach § 18 Abs 1 SGB XII erforderliche Kenntnis der Beigeladenen von dem Bedarf der Kläger liegt jedoch gleichwohl vor. Die Beigeladene muss sich insoweit die Kenntnis des Beklagten aufgrund des Antrags auf SGB II-Leistungen nach der gefestigten Rechtsprechung des BSG zurechnen lassen (BSG vom 2.12.2014 - B 14 AS 66/13 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 42 RdNr 25; BSG vom 13.2.2014 - B 8 SO 58/13 B - SozR 4-3500 § 25 Nr 4 RdNr 8; BSG vom 26.8.2008 - B 8/9b SO 18/07 R - SozR 4-3500 § 18 Nr 1 RdNr 22 ff).

40

c) Ebenso wenig waren die Kläger nach § 21 S 1 SGB XII von der Hilfe zum Lebensunterhalt ausgeschlossen. § 21 S 1 SGB XII bestimmt, dass Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten. Die Kläger waren im streitigen Zeitraum nicht dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II, weil sie dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II unterfielen. Dies führt dazu, sie dem System des SGB XII zuzuweisen. Die Erwerbsfähigkeit zumindest der Kläger zu 1 und 2 steht dem nicht entgegen.

41

Schon der Wortlaut des § 21 S 1 SGB XII stellt nicht ausschließlich auf das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit ab, sondern berücksichtigt einen Leistungsanspruch nach dem SGB II dem Grunde nach. Ist mithin ein Erwerbsfähiger wegen des Vorliegens der Voraussetzungen eines Leistungsausschlusses nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II, folgt hieraus nicht zwangsläufig ein Leistungsausschluss nach dem SGB XII (BSG vom 25.9.2014 - B 8 SO 6/13 R - BSGE = SozR 4-4200 § 44a Nr 1, RdNr 11). Die "Systemabgrenzung" erfordert vielmehr eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Leistungsausschlüsse (Eicher in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 21 RdNr 26, 34; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB XII, § 21 RdNr 46, Stand I/2014; so im Ergebnis auch Coseriu in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 23 RdNr 64). Im Grundsatz gilt für die Systemzuweisung aufgrund der Erwerbszentriertheit des SGB II, dass derjenige, der von dem auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ausgerichteten Leistungssystem des SGB II ausgeschlossen werden soll, dem System des SGB XII zugewiesen wird.

42

Auf dieser Grundlage hat das BSG bereits für andere in § 7 SGB II geregelte Leistungsausschlüsse ausdrücklich entschieden, dass die "Anwendungssperre" des § 21 S 1 SGB XII nicht greift(vgl Eicher in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 21 RdNr 34 ff). Dies gilt nach der Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate sowohl für den Leistungsausschluss wegen einer den Regelbedarf unterschreitenden ausländischen Rentenleistung als auch den Leistungsausschluss eines Erwerbsfähigen wegen der Unterbringung in einer stationären Einrichtung oder in einem Krankenhaus nach § 7 Abs 4 S 1 SGB II. Sie sind iS des § 21 SGB XII nach dem SGB II dem Grunde nach nicht mehr leistungsberechtigt und bei Bedürftigkeit auf "die auf gleicher Grundlage wie im SGB II bemessenen und daher vom Umfang im Wesentlichen identischen Leistungen der Sozialhilfe" verwiesen(BSG vom 16.5.2012 - B 4 AS 105/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 30 RdNr 20; BSG vom 2.12.2014 - B 14 AS 66/13 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 42 RdNr 10, 24; vgl auch BSG vom 19.8.2015 - B 14 AS 1/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen - RdNr 47: vorzeitige Altersrente nach Aufforderung durch den Grundsicherungsträger). In gleicher Weise hat der für das Sozialhilferecht zuständige 8. Senat des BSG für den Leistungsausschluss bei Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneten Freiheitsentziehung entschieden. Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 4 S 2 SGB II unterfallen, können grundsätzlich Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII beanspruchen(BSG vom 12.12.2013 - B 8 SO 24/12 R - SozR 4-3500 § 67 Nr 1 RdNr 20).

43

Bezogen auf den Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 SGB II gilt nichts anderes(Berlit in Berlit/Conradis/Sartorius, Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl 2013, Kap 12 RdNr 54; Eicher in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 21 RdNr 35). Der Ausschluss von Personen, die nicht oder nicht mehr über eine Freizügigkeitsberechtigung zur Arbeitsuche verfügen, vom erwerbszentrierten Leistungssystem des SGB II führt dazu, die Sperrwirkung des § 21 SGB XII entfallen zu lassen.

44

d) Allerdings steht dem Rechtsanspruch der Kläger auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII ein Ausschluss aufgrund der Regelung des § 23 Abs 3 S 1 SGB XII entgegen.

45

(aa) Die Kläger sind zwar nicht iS des § 23 Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGB XII eingereist, um Sozialhilfe zu erlangen. Es mangelt hier insoweit an dem finalen Zusammenhang zwischen Einreise und Sozialhilfebezug (vgl BSG vom 18.11.2014 - B 8 SO 9/13 R - BSGE = SozR 4-3500 § 25 Nr 5, RdNr 25). Dieser Zusammenhang liegt vor, wenn der Zweck, Sozialhilfe zu erlangen, den Einreiseentschluss geprägt hat. Wie das BVerwG dies bereits zu der wortgleichen Vorschrift des § 120 Abs 3 S 1 BSHG entschieden hat, bezeichnet schon die Konjunktion "um (…) zu (…)" ein ziel- und zweckgerichtetes Handeln und damit eine Zweck-Mittel-Relation, in der die Einreise das Mittel und die Inanspruchnahme von Sozialhilfe den mit ihr verfolgten Zweck bildet(vgl BVerwG vom 4.6.1992 - 5 C 22/87 - BVerwGE 90, 212, 214; im Anschluss daran etwa LSG Berlin-Brandenburg vom 10.9.2009 - L 23 SO 117/06 - juris-RdNr 27 f; LSG Nordrhein-Westfalen vom 12.1.2009 - L 20 B 58/08 AY - juris-RdNr 25 ff; LSG Niedersachsen-Bremen vom 27.11.2008 - L 8 SO 173/08 ER - juris-RdNr 20 f). Dabei wird diese Zweck-Mittel-Relation jedoch auch dann als gegeben angesehen, wenn die Einreise des Ausländers auf verschiedenen Motiven beruht, der Zweck der Inanspruchnahme für den Einreiseentschluss jedoch von prägender Bedeutung gewesen, also nicht nur neben vorrangigen anderen Zwecken billigend in Kauf genommen worden ist (Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, § 23 RdNr 46, Stand VI/2012).

46

So liegt der Fall nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG hier nicht. Es ist keine Zweck-Mittel-Relation im eben dargelegten Sinne gegeben, denn die Kläger zu 1 und 2 sind zur Arbeitsuche eingereist. Das LSG hat dies - wenn auch die Erfolgsaussichten der Arbeitsuche für den hier streitigen Zeitraum verneinend - ausdrücklich festgestellt. So haben die Kläger zu 1 und 2, wie das LSG unter Hinweis auf die Beratungsvermerke in den Akten ausgeführt hat, mehrfach Deutschkurse beantragt und sich auch sonst um Eingliederungsleistungen bemüht. Sie haben auch nicht schon bei der Einreise oder kurz danach, sondern erstmals nach rund einem Jahr ihres Aufenthalts in Deutschland und dann erneut rund noch einmal ein weiteres Jahr später existenzsichernde Leistungen beantragt. Der Kläger zu 3 folgt dem als Familienangehöriger.

47

(bb) Die Kläger unterfallen auch nicht dem Wortlaut der Alt 2 des § 23 Abs 3 S 1 SGB XII. Sie verfügten - wie unter 2.a) dargelegt - im streitigen Zeitraum nicht mehr über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche. Dies ist nach dem Wortlaut des § 23 Abs 3 SGB XII jedoch Voraussetzung für den Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII. Der Ausschluss tritt danach nur dann ein, wenn ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche im streitigen Zeitraum tatsächlich gegeben ist.

48

(cc) Ebenso wie oben zum Leistungsausschluss im SGB II dargelegt, sind jedoch auch nach § 23 Abs 3 S 1 SGB XII nichtfreizügigkeits- oder aufenthaltsberechtigte Ausländer von den existenzsichernden Leistungen der Sozialhilfe ausgenommen(offengelassen BSG vom 18.11.2014 - B 8 SO 9/13 R - BSGE = SozR 4-3500 § 25 Nr 5, RdNr 25; aA Herbst in Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und der Sozialhilfe, Band 1 Teil II, Stand VIII/2013, § 23 SGB XII RdNr 47b; Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, § 23 RdNr 54d, Stand VI/2012).

49

Im Entwurf des Gesetzes zur Änderung des SGB XII und anderer Gesetze vom 25.9.2006 (BT-Drucks 16/2711 S 10) wird darauf hingewiesen, dass die Einfügung der Alt 2 in § 23 Abs 3 S 1 SGB XII einen der Regelung im SGB II entsprechenden Leistungsausschluss für Ausländer normiere und damit zugleich sicherstelle, dass Ausländer, die nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II keinen Anspruch auf Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende hätten, auch aus dem SGB XII keine Ansprüche herleiten könnten. § 7 Abs 1 S 2 SGB II in der damaligen Fassung lautete: Ausgenommen sind Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt [und] ihre Familienangehörigen (…)(idF des Gesetzes zur Änderung des SGB II und anderer Gesetze vom 24.3.2006, BGBl I 558 mWv 1.4.2006). Es sollte damit Art 24 Abs 2 iVm Art 14 Abs 4 Buchst b der RL 2004/38/EG umgesetzt werden (BT-Drucks 16/2711 S 10). Nach Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG ist der Aufnahmemitgliedstaat - unter Hintanstellung des Gleichbehandlungsgrundsatzes - nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art 14 Abs 4 Buchst b RL 2004/38/EG (Zeitraum der Arbeitsuche, s unter 2.a) einen Anspruch auf Sozialhilfe (…) zu gewähren. Die dort vorgenommene Abgrenzung zwischen den gleich zu behandelnden Personengruppen und denen, die aus europarechtlicher Sicht von den Aufnahmestaaten von der Sozialhilfe ausgeschlossen werden dürfen, erfolgt, indem der Personenkreis der Freizügigkeitsberechtigten, die der Gleichbehandlung unterfallen, positiv benannt wird. Im Umkehrschluss ergibt sich, dass neben denen, die freizügigkeitsberechtigt wegen der Arbeitsuche sind und denen der Aufnahmestaat gleichwohl keine Sozialhilfeleistungen zu erbringen braucht, dies auch für die Nichtfreizügigkeitsberechtigten gilt. Sie unterfallen nicht dem Gleichbehandlungsgebot.

50

Soweit spätere Versuche, eine weitergehende Anpassung der Rechtslage des SGB II an das SGB XII zu bewirken, nicht erfolgreich waren (s nur BT-Drucks 16/2711 S 16; BT-Drucks 16/2753 S 1, 2; BT-Drucks 16/5527 S 15, 23; BT-Drucks 16/239 S 13, 17), sprechen diese Versuche und die Reaktionen hierauf nicht für das Erfordernis einer anderen Wertung im Hinblick auf den "Erst-Recht-Schluss" im SGB XII als im SGB II. Die zuvor beschriebene Anpassung des § 23 Abs 3 S 1 SGB XII war ausreichend, um die gewünschte Parallele zum SGB II für die hier zu beurteilenden Fälle zu ermöglichen. Insbesondere bedurfte es keiner Reaktion auf die Änderung des § 7 Abs 1 S 2 SGB II durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007 (BGBl I, 1970 mWv 28.8.2007). Die Umstrukturierung des S 2 und die Einfügung der Nr 1 in § 7 Abs 1 S 2 SGB II ist für das SGB XII ohne Bedeutung.

51

e) Zwar ist Rechtsfolge des Ausschlusses nach § 23 Abs 3 S 1 SGB XII, dass trotz des tatsächlichen Aufenthalts im Inland kein Rechtsanspruch auf ua Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs 1 S 1 SGB XII besteht. In einem solchen Fall des Ausschlusses können jedoch nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII Leistungen der Sozialhilfe gewährt werden, wenn dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Ausschlussregelung, denn sie nimmt lediglich Bezug auf den "Anspruch" auf Sozialhilfe. Dementsprechend hat bereits das BVerwG zu der Vorschrift des § 120 Abs 3 S 1 Alt 1 BSHG befunden, dass Ausländer, die dem Leistungsausschluss unterfielen, weil sie eingereist seien, um Sozialhilfe zu erlangen, lediglich von einem Rechtsanspruch ua auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 120 Abs 1 S 1 BSHG ausgeschlossen seien(BVerwG vom 10.12.1987 - 5 C 32/85 - BVerwGE 78, 314, 316 f; Schellhorn/Jirasek/Seipp, Kommentar zum BSHG, 16. Aufl 2002, § 25 RdNr 10, § 120 RdNr 16; so auch Krahmer in LPK-BSHG, 6. Aufl 2003, § 25 RdNr 7; Birk in ders, § 120 RdNr 47). Insoweit gilt für die Regelung des § 23 Abs 3 S 1 SGB XII, die der Gesetzgeber in Kenntnis der Rechtsprechung des BVerwG im Wesentlichen inhaltsgleich ausgestaltet hat(BT-Drucks 15/1514 S 58), nichts anderes (vgl BSG vom 18.11.2014 - B 8 SO 9/13 R - BSGE = SozR 4-3500 § 25 Nr 5, RdNr 28; s auch Adolph in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 23 SGB XII RdNr 76, Stand XII/2008; Birk in LPK-SGB XII, 10. Aufl 2015, § 23 RdNr 20; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl 2014, § 23 RdNr 42; differenzierend Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, § 23 RdNr 50, Stand VI/2012, der einen Rechtsanspruch auf die im Einzelfall gebotenen Leistungen annimmt, um zu einem Gleichklang mit § 1a AsylbLG zu gelangen).

52

Der Ausschluss nur von dem Rechtsanspruch auf die in S 1 des § 23 Abs 1 SGB XII benannten Leistungen erschließt sich auch aus dem - im Übrigen gegenüber § 120 BSHG unveränderten - systematischen Verhältnis der Regelungen der Sätze 1 und 3 in Abs 1 des § 23 SGB XII zueinander. Durch § 23 Abs 1 S 1 SGB XII erhält der Ausländer ausschließlich unter der Voraussetzung, dass er sich tatsächlich im Inland aufhält, einen Rechtsanspruch auf Leistungen der Sozialhilfe nach einem reduzierten Leistungskatalog, aber der Höhe nach uneingeschränkt. Hiervon sollen diejenigen, die die Ausschlusstatbestände des § 23 Abs 3 S 1 SGB XII erfüllen, ausgeschlossen werden, nicht jedoch von dem der Sozialhilfe systemimmanenten grundsätzlichen Anspruch auf Hilfe bei bedrohter Existenzsicherung(s hierzu BVerwG vom 14.3.1985 - 5 C 145/83 - BVerwGE 71, 139; BVerwG vom 10.12.1987 - 5 C 32/85 - BVerwGE 78, 314, 317 ff). Diesem Personenkreis sollen daher nur nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens Leistungen der Sozialhilfe erbracht werden können, aber eben auch solche Leistungen, die nach S 1 des § 23 Abs 1 SGB XII vom Rechtsanspruch ausgenommen worden sind, soweit im Einzelfall geboten.

53

f) Das Ermessen des Sozialhilfeträgers ist jedoch in einem Fall wie dem vorliegenden, dem Grunde und der Höhe nach hinsichtlich der Hilfe zum Lebensunterhalt auf Null reduziert. Dies ist immer dann der Fall, wenn sich das Aufenthaltsrecht des ausgeschlossenen Ausländers verfestigt hat - regelmäßig ab einem sechsmonatigen Aufenthalt in Deutschland. Dies folgt aus der Systematik des § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB XII im Verhältnis zu § 23 Abs 1 S 1 und 3 SGB XII sowie verfassungsrechtlichen Erwägungen.

54

So bezieht sich der ausdrückliche Ausschluss der Alt 2 des § 23 Abs 3 S 1 SGB XII auf den im Freizügigkeitsgesetz/EU zeitlich begrenzten Vorgang der Arbeitsuche. Unter 2.a) ist bereits dargelegt worden, dass die Freizügigkeitsberechtigung zum Zwecke der Arbeitsuche nach dem Ablauf von sechs Monaten gemäß § 2 Abs 1a FreizügG/EU idF des Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften vom 2.12.2014 (BGBl I 1922) endet, wenn nicht weiterhin eine begründete Aussicht auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit besteht. Diese Begrenzung der Freizügigkeitsberechtigung zur Arbeitsuche dient nach den Gesetzesmaterialien der Umsetzung von Unionsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH, der entschieden habe, dass die Mitgliedstaaten berechtigt seien, das Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche auf einen angemessenen Zeitraum zu begrenzen, wobei der EuGH von einem Zeitraum von sechs Monaten ausgegangen sei (BT-Drucks 18/2581 S 15 zu Art 1 Nr 1 Buchst b; vgl dazu bereits BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 29). Mit dem auf den konkreten Einzelfall abstellenden Zusatz - "darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden" - nimmt die Neuregelung lediglich die Formulierung in Art 14 Abs 4 Buchst b RL 2004/38/EG auf, enthält jedoch mit der allgemein geltenden zeitlichen Begrenzung - "für bis zu sechs Monate" - eine Typisierung. Für diese typisierte Dauer einer Arbeitsuche von sechs Monaten nach der Einreise liegt eine Aufenthaltsverfestigung noch nicht vor, weil hinter der zeitlichen Begrenzung die Erwartung steht, es handele sich um einen angemessenen Zeitraum, die Erfolgsaussichten einer Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat ohne Aufenthaltsverfestigung zu prüfen.

55

Werden diese Erwartungen enttäuscht und bleibt der tatsächliche Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nach Ablauf von sechs Monaten bestehen, tritt im Regelfall eine Aufenthaltsverfestigung ein, der nach geltendem Recht ausländerbehördlich entgegengetreten werden kann. Bestand nie eine Freizügigkeitsberechtigung wegen eines Aufenthalts zur Arbeitsuche oder besteht diese nach Ablauf von sechs Monaten mangels begründeter Aussichten, eingestellt zu werden, nicht mehr, kann durch die Ausländerbehörde der Verlust der Freizügigkeitsberechtigung durch Verwaltungsakt festgestellt werden (Verlustfeststellung nach § 5 Abs 4 S 1 FreizügG/EU). Erst die förmliche Verlustfeststellung begründet nach § 7 Abs 1 S 1 FreizügG/EU die sofortige Ausreisepflicht, wenn nicht Rechtsschutz in Anspruch genommen wird(vgl BT-Drucks 16/5065 S 211 zu Art 2 Nr 8 Buchst a Doppelbuchst aa). In tatsächlicher Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass von der rechtlichen Möglichkeit der Verlustfeststellung nur in geringem Umfang Gebrauch gemacht wird (Thym, NZS 2014, 81, 87; BT-Drucks 17/13322 S 19). Zur Prüfung der Voraussetzungen einer Verlustfeststellung kann die zuständige Ausländerbehörde im Übrigen nach § 5 Abs 2 S 1 FreizügG/EU bereits frühzeitig, nämlich drei Monate nach der Einreise, verlangen, dass die Voraussetzungen nach § 2 Abs 1 FreizüG/EU glaubhaft gemacht werden.

56

Ist hiernach typisierend von einer Aufenthaltsverfestigung auszugehen, ist die Ermessenausübung jedoch daran zu messen, dass der Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt im Sozialhilferecht ansonsten weder nach dem Grund der Einreise, noch nach Berechtigung oder Dauer des Aufenthalts fragt. Bei der Leistungsgewährung nach dem SGB XII kommt es in erster Linie auf die Tatsache einer gegenwärtigen Hilfebedürftigkeit an (BSG vom 10.11.2011 - B 8 SO 12/10 R - SozR 4-3500 § 30 Nr 4 RdNr 26; BVerwG vom 2.6.1965 - V C 63.64 - BVerwGE 21, 208, 211; vgl auch Berlit in Berlit/Conradis/Sartorius, Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl 2013, Kap 7 RdNr 24). Es reicht nach dem Wortlaut des § 23 Abs 1 S 1 SGB XII allein der tatsächliche Aufenthalt in Deutschland aus. Dem Leistungsberechtigten, der über kein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche mehr verfügt und "erst-recht" von dem Rechtsanspruch auf "Sozialhilfeleistungen" iS des § 23 Abs 1 S 1 SGB XII ausgeschlossen ist, mangelt es wie jedem anderen Ausländer, der sich tatsächlich im Inland aufhält - zunächst einmal ohne Freizügigkeits- oder Aufenthaltsberechtigung - an einer Aufenthaltsperspektive. Um den Gleichklang mit Letzterem zu erreichen, ist es folgerichtig, zumindest im Hinblick auf die Hilfe zum Lebensunterhalt durch eine Ermessensreduktion, bei verfestigtem Aufenthalt zu denselben Leistungen zu gelangen. Dieses nach Ablauf von regelmäßig sechs Monaten durch ein Vollzugsdefizit des Ausländerrechts bewirkte Faktum eines verfestigten tatsächlichen Aufenthalts des Unionsbürgers im Inland ist unter Berücksichtigung auch der verfassungsrechtlichen Vorgaben kein zulässiges Kriterium, die Entscheidung über die Gewährung existenzsichernder Leistungen dem Grunde und der Höhe nach in das Ermessen des Sozialhilfeträgers zu stellen.

57

Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zum AsylbLG (vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134) im Anschluss und in Weiterentwicklung der grundlegenden Entscheidung vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12)Grundlagen und Umfang des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums näher ausgeformt. Wenn Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlten, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen oder durch Zuwendungen Dritter zu erlangen seien, sei der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür Hilfebedürftigen zur Verfügung stünden. Als Menschenrecht - und dies ist hier entscheidend - stehe dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, gleichermaßen zu (BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134, 159 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 RdNr 89, unter Hinweis auf BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12). Eine pauschale Differenzierung nach dem Aufenthaltsstatus hat das BVerfG im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung der existenzsichernden Leistungen ausdrücklich abgelehnt (BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134, 164 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 RdNr 99). Insoweit komme es für eine abweichende Bedarfsbestimmung darauf an, ob etwa wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfeempfängern mit Daueraufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden könnten. Hierbei sei etwa zu berücksichtigen, ob durch die Kürze des Aufenthalts Minderbedarfe durch Mehrbedarfe kompensiert werden könnten, die typischerweise gerade unter den Bedingungen eines nur vorübergehenden Aufenthalts anfielen. Dies lässt sich während des Bestehens eines Aufenthaltsrechts allein zum Zwecke der Arbeitsuche über die Ermessensleistung des § 23 Abs 1 S 3 SGB XII regulieren, nicht jedoch bei verfestigtem Aufenthalt. Denn ließen sich - so das BVerfG - tatsächlich spezifische Minderbedarfe bei einem nur kurzfristigen, nicht auf Dauer angelegten Aufenthalt feststellen, und wolle der Gesetzgeber die existenznotwendigen Leistungen für eine Personengruppe deshalb gesondert bestimmen, müsse er sicherstellen, dass die gesetzliche Umschreibung dieser Gruppe hinreichend zuverlässig tatsächlich nur diejenigen erfasse, die sich regelmäßig nur kurzfristig in Deutschland aufhielten. Eine Beschränkung auf etwaige Minderbedarfe für Kurzaufenthalte komme dann nicht mehr in Betracht, wenn der tatsächliche Aufenthalt die Spanne eines Kurzaufenthalts deutlich überschritten habe. Für diese Fälle sei ein zeitnaher Übergang zu den existenzsichernden Leistungen für Normalfälle vorzusehen (BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134, 164 ff = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 RdNr 99 ff). Dies begründet im Regelfall eine Ermessensreduktion auf Null und damit eine Anpassung der Hilfe zum Lebensunterhalt für diejenigen, die sich nicht nur kurzfristig im Inland aufhalten. Denn im Übrigen weist das BVerfG darauf hin, dass eine Regelung zur Existenzsicherung vor der Verfassung nur Bestand habe, wenn Bedarfe durch Anspruchsnormen gesichert würden (BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134, 162 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 RdNr 96).

58

Tatsächliche Hinweise darauf, dass von einer Ermessensreduzierung trotz des Zeitablaufs ausnahmsweise abzusehen ist, sind den Feststellungen des LSG nicht zu entnehmen. Derartige Umstände können insbesondere vorliegen, wenn die tatsächlichen Lebensumstände des Unionsbürgers darauf schließen lassen, dass er nicht auf Dauer im Inland verweilen wird. Gleiches gilt, wenn die Ausländerbehörde bereits konkrete Schritte zur Beendigung des Aufenthalts eingeleitet hat. Demgegenüber haben sich die Kläger im streitigen Zeitraum bereits mehr als zwei Jahre in Deutschland aufgehalten, ohne dass derartige Maßnahmen im Raum standen.

59

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die

1.
das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
2.
erwerbsfähig sind,
3.
hilfebedürftig sind und
4.
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
Ausgenommen sind
1.
Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2.
Ausländerinnen und Ausländer,
a)
die kein Aufenthaltsrecht haben oder
b)
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
und ihre Familienangehörigen,
3.
Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

(2) Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Dienstleistungen und Sachleistungen werden ihnen nur erbracht, wenn dadurch Hemmnisse bei der Eingliederung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten beseitigt oder vermindert werden. Zur Deckung der Bedarfe nach § 28 erhalten die dort genannten Personen auch dann Leistungen für Bildung und Teilhabe, wenn sie mit Personen in einem Haushalt zusammenleben, mit denen sie nur deshalb keine Bedarfsgemeinschaft bilden, weil diese aufgrund des zu berücksichtigenden Einkommens oder Vermögens selbst nicht leistungsberechtigt sind.

(3) Zur Bedarfsgemeinschaft gehören

1.
die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten,
2.
die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines unverheirateten erwerbsfähigen Kindes, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und die im Haushalt lebende Partnerin oder der im Haushalt lebende Partner dieses Elternteils,
3.
als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten
a)
die nicht dauernd getrennt lebende Ehegattin oder der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte,
b)
die nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartnerin oder der nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartner,
c)
eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.
4.
die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können.

(3a) Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner

1.
länger als ein Jahr zusammenleben,
2.
mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,
3.
Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder
4.
befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.

(4) Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend von Satz 1 erhält Leistungen nach diesem Buch,

1.
wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches) untergebracht ist oder
2.
wer in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.
Die Sätze 1 und 3 Nummer 2 gelten für Bewohner von Räumlichkeiten im Sinne des § 42a Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 des Zwölften Buches entsprechend.

(4a) (weggefallen)

(5) Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Satz 1 gilt auch für Auszubildende, deren Bedarf sich nach § 61 Absatz 2, § 62 Absatz 3, § 123 Nummer 2 sowie § 124 Nummer 2 des Dritten Buches bemisst.

(6) Absatz 5 Satz 1 ist nicht anzuwenden auf Auszubildende,

1.
die aufgrund von § 2 Absatz 1a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben,
2.
deren Bedarf sich nach den §§ 12, 13 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 oder nach § 13 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bemisst und die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz
a)
erhalten oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten oder
b)
beantragt haben und über deren Antrag das zuständige Amt für Ausbildungsförderung noch nicht entschieden hat; lehnt das zuständige Amt für Ausbildungsförderung die Leistungen ab, findet Absatz 5 mit Beginn des folgenden Monats Anwendung, oder
3.
die eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule oder ein Abendgymnasium besuchen, sofern sie aufgrund des § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. November 2009 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Revisionsverfahren.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1.3.2009 bis zum 11.11.2009. Zwischen den Beteiligten ist insbesondere streitig, ob der Kläger als französischer Staatsangehöriger von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist, weil sich sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt.

2

Der 1971 geborene Kläger reiste am 18.12.2007 in die Bundesrepublik ein. Der französische Träger der Arbeitslosenversicherung hatte ihm zuvor auf dem Vordruck E 303 bescheinigt, dass er unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit habe. Seit diesem Tag wohnt er in Berlin. Der Kläger meldete sich am 28.1.2008 bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) arbeitslos und bezog zunächst bis zum 17.3.2008 Arbeitslosengeld. In der Folgezeit erhielt er ab dem 28.4.2008 und - bis auf wenige Tage Unterbrechung - bis zum 28.2.2009 Arbeitslosengeld II (Alg II). Seit dem 2.6.2008 ist er im Besitz einer Bescheinigung nach § 5 des Gesetzes über die Allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern(Freizügigkeitsgesetz/EU ).

3

Vom 1.2.2008 bis zum 23.6.2008 übte der Kläger eine Tätigkeit als Handwerkshelfer mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 7,5 Stunden und einem monatlichen Entgelt von 100 Euro aus. Das Arbeitsverhältnis endete nach einer Kündigung durch den Arbeitgeber. Zum 1.1.2009 meldete der Kläger ein Gewerbe "An- u. Verkauf, Trödel-Kafé, Kaffeeausschank" an. Da jedoch kein Vertrag über die Anmietung der Geschäftsräume zustande kam, zerschlug sich das Geschäftsgründungsvorhaben am 5.1.2009. Die Abmeldung des Gewerbes erfolgte erst im April 2009 "rückwirkend" zum 1.1.2009.

4

Am 9.2.2009 stellte der Kläger bei dem Beklagten einen Fortzahlungsantrag für den Zeitraum ab dem 1.3.2009. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31.3.2009 und Widerspruchsbescheid vom 27.7.2009 mit der Begründung ab, der Kläger sei nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II inzwischen von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen, weil er alleine wegen seiner Eigenschaft als Arbeitsuchender freizügigkeitsberechtigt sei. Nach dem Ende seiner Beschäftigung sei er gemäß § 2 Abs 3 Satz 2 FreizügG/EU nur für die Dauer von weiteren sechs Monaten leistungsberechtigt nach dem SGB II gewesen.

5

Die Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts vom 20.10.2009). Auf die Berufung des Klägers haben sich die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) am 11.11.2009 hinsichtlich der Kosten der Unterkunft verglichen. Im Übrigen hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, dem Kläger Alg II in Form der Regelleistung für die Zeit vom 1.3.2009 bis zum 11.11.2009 dem Grunde nach zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei leistungsberechtigt nach dem SGB II. Dem stehe der Leistungsausschluss in § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II nicht entgegen. Zwar ergebe sich das Aufenthaltsrecht des Klägers im streitigen Zeitraum alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche (§ 2 Abs 2 Nr 1 Alt 2 FreizügG/EU). Ein Wegfall dieses Aufenthaltsrechts komme nur dann in Betracht, wenn aufgrund objektiver Umstände davon auszugehen sei, dass der Unionsbürger keinerlei ernsthafte Absichten verfolge, eine Beschäftigung aufzunehmen. Davon könne im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden. Auch könne letztlich dahinstehen, ob der Leistungsausschluss wegen Verstoßes gegen europäisches Gemeinschaftsrecht unanwendbar sei. Dies hänge maßgeblich davon ab, ob Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II als "Sozialhilfe" im Sinne von Art 24 Abs 2 der so genannten Unionsbürgerrichtlinie ( Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004, ABl 2004 L Nr 158, 77) anzusehen seien. Diese Frage bedürfe hier aber keiner abschließenden Entscheidung, weil der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II für solche Hilfebedürftigen einschränkend auszulegen sei, die durch das Europäische Fürsorgeabkommen( vom 11.12.1953 BGBl II 1956, 564) begünstigt würden. Nach Art 1 EFA habe der Kläger danach Anspruch auf "Fürsorge" wie ein deutscher Staatsangehöriger, der sich im Inland gewöhnlich aufhalte. Als Leistungen der Fürsorge seien nach dem Außerkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) am 31.12.2004 nicht nur die im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), sondern auch die im SGB II für Hilfebedürftige geregelten Leistungen anzusehen. Unerheblich sei, dass die Bundesrepublik Deutschland entgegen der sich aus Art 16 Abs a) und b) des EFA ergebenden Verpflichtung dem Generalsekretär des Europarates das Außerkrafttreten des BSHG bislang nicht mitgeteilt habe, weil die im Anhang I des Abkommens genannte Aufzählung der entsprechenden Fürsorgegesetze lediglich eine klarstellende Bedeutung zukomme. Auch sei nicht entscheidungserheblich, ob das EFA zur Vermeidung von Wanderungsbewegungen aus einem Sozialleistungssystem in ein anderes nur auf diejenigen Ausländer Anwendung finde, die sich zur Zeit des Eintritts der Hilfebedürftigkeit bereits in dem um Hilfe angegangenen Staat erlaubt aufhielten, weil der Kläger zum Zeitpunkt der Einreise noch über ausreichende Mittel zur Existenzsicherung verfügte habe.

6

Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner vom LSG zugelassenen Revision. Er rügt eine Verletzung des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II und weist darauf hin, dass der Leistungsausschluss der Umsetzung des in Art 24 Abs 2 UBRL geregelten Vorbehalts diene. Diese Regelungen seien neuer und damit vorrangig vor dem EFA aus dem Jahr 1953. Zwar handele es sich bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II um "Sozialhilfe" iS des Art 24 Abs 2 UBRL. Das SGB II könne aber neben dem SGB XII gleichwohl nicht als "weiteres" Nachfolgegesetz zum BSHG angesehen werden. Denn im Wesentlichen habe das SGB II die Nachfolge der zuvor im Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) geregelten Arbeitslosenhilfe (Alhi) angetreten. Die Alhi aber sei dem EFA nicht unterfallen. Im Übrigen finde das EFA nur auf die im Anhang von den Vertragsstaaten gemeldeten nationalen Fürsorgegesetze Anwendung.

7

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. November 2009 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Oktober 2009 zurückzuweisen.

8

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Er hält das mit der Revision angegriffene Urteil für zutreffend und weist ergänzend darauf hin, dass ein Anspruch auch dann bestünde, wenn er nicht durch das EFA begünstigt würde. Denn der Leistungsausschluss verstoße auch gegen europäisches Primärrecht. Bei den Leistungen nach dem SGB II handele es sich um finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern sollen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sei insoweit das Gleichbehandlungsgebot zu beachten.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Revision ist unbegründet.

11

Das LSG hat zutreffend entschieden, dass dem Kläger für den Zeitraum vom 1.3.2009 bis zum 11.11.2009 ein Anspruch auf Gewährung der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zusteht. Der Kläger erfüllt die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II(dazu unter 2). Seinem Anspruch steht der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II nicht entgegen(dazu unter 3).

12

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 31.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.7.2009, mit dem der Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit ab dem 1.3.2009 abgelehnt hat. Der streitige Zeitraum erstreckt sich in Fällen ablehnender Verwaltungsentscheidungen bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht (vgl nur Urteil des Senats vom 7.5.2009 - B 14 AS 41/07 R - juris mwN), hier also bis zum 11.11.2009. Die Beteiligten haben darüber hinaus den Streitgegenstand im Berufungsverfahren zulässigerweise beschränkt, indem sie über die Kosten der Unterkunft einen Teilvergleich abgeschlossen haben (vgl zur Zulässigkeit einer solchen Begrenzung des Streitgegenstandes nur BSGE 97, 217, 223 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 19 sowie zuletzt Urteil des Senats vom 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R -, zur Veröffentlichung vorgesehen).

13

2. Der Kläger erfüllt nach den Feststellungen des LSG die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II. Er ist gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 2 iVm § 8 SGB II erwerbsfähig und - nach den den Senat bindenden Feststellungen des LSG(§ 163 Sozialgerichtsgesetz) - auch hilfebedürftig gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 3 iVm § 9 SGB II. Der Kläger verfügt gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II iVm § 30 Abs 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) auch über einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist bereits Ende 2007 in die Bundesrepublik eingereist. Seitdem hält er sich hier unter Umständen auf, die erkennen lassen, dass er nicht nur vorübergehend verweilt. Offen bleiben kann hier, ob der an tatsächlichen Umständen zu messende Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes bei Ausländern durch zusätzliche rechtliche Voraussetzungen eingeschränkt wird (BSG SozR 3-2600 § 56 Nr 7 S 34). Zur alten Rechtslage bis zum 1.4.2006 hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, dass Ausländer, die tatsächlich dauerhaft im Inland verweilen, nur dann einen gewöhnlichen Aufenthalt haben, wenn sie sich berechtigterweise hier aufhalten (BSG aaO; BSGE 65, 261, 263 f = SozR 7833 § 1 Nr 7; vgl - speziell zu § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II - auch BSGE 98, 243, 246 f = SozR 4-4200 § 12 Nr 4, jeweils RdNr 19; Valgolio in Hauck/Noftz, Stand Juni 2010, § 7 SGB II RdNr 95; kritisch zu der Verrechtlichung des rein tatsächlichen Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 7 RdNr 11).

14

Dass der Kläger sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält, ergibt sich bereits daraus, dass er über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU verfügt(aA Hessisches LSG, FEVS 59, 110, 115 f). Gegen eine Rechtmäßigkeit des Aufenthalts spricht auch nicht, dass dieser Bescheinigung nach dem Wortlaut der Vorschrift ("… über das Aufenthaltsrecht ausgestellt") nur deklaratorischer Charakter im Hinblick auf das sich unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergebende Freizügigkeitsrecht zukommt (vgl nur statt aller Geyer in HK-AuslR, 2008, § 5 FreizügG/EU RdNr 1)und es sich um keinen Aufenthaltstitel handelt (vgl § 2 Abs 4 Satz 1 FreizügG/EU). Denn es entspricht der gesetzlichen Konzeption des Freizügigkeitsrechts, von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen, solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs 5 FreizügG/EU festzustellen und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht einzuziehen(so auch die gesetzliche Begründung zum Zuwanderungsgesetz, vgl BT-Drucks 15/420, 106; vgl auch die Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II in der Fassung vom 20.1.2010, Ziffer 7.2d, sowie Ziffer 5.5.1.3. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 26.10.2009, GMBl 2009, 1270). Die Ausreisepflicht nach § 7 Abs 1 Satz 1 FreizügG/EU wird erst mit dieser Verlustfeststellung begründet.

15

3. Der Kläger ist auch nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II zunächst Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige noch auf Grund des § 2 Abs 3 des FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, des Weiteren Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen sowie zuletzt Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG).

16

Der Kläger ist als französischer Staatsangehöriger Ausländer im Sinne dieser Vorschrift. Er ist aber nicht leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG und hält sich nach den Feststellungen des LSG bereits seit Ende des Jahres 2007 in der Bundesrepublik auf. Er ist auch nicht deswegen nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, weil sich sein Aufenthaltsrecht alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt(dazu unter a). Denn dieser Leistungsausschluss ist auf den Kläger als Staatsangehörigen eines Vertragsstaates des EFA vom 11.12.1953 (BGBl II 1956, 564) nicht anwendbar (dazu unter b).

17

a) Das Aufenthaltsrecht des Klägers ergibt sich gemäß § 2 Abs 2 Nr 1 Alt 2 FreizügG/EU alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche. Denn auf ein anderes Aufenthaltsrecht, das - wie sich aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt ("Aufenthaltsrecht […] allein aus dem Zweck der Arbeitsuche"; vgl auch BT-Drucks 16/688, 13) - den Leistungsausschluss von vornherein entfallen lassen würde, kann sich der Kläger nicht berufen.

18

Der Kläger ist insbesondere nicht als Arbeitnehmer, Selbstständiger oder Nicht-Erwerbstätiger freizügigkeitsberechtigt. Auch steht ihm (noch) kein Daueraufenthaltsrecht zu. Als "Arbeitnehmer" im Sinne von § 2 Abs 2 Nr 1 Alt 1 FreizügG/EU ist der Kläger nicht (mehr) aufenthaltsberechtigt. Während seiner Tätigkeit als Handwerkshelfer war er es, weil auch derjenige Arbeitnehmer im Sinne des Freizügigkeitsrechts ist, der nur über ein geringfügiges, das Existenzminimum nicht deckendes, Einkommen verfügt. Nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art 39 EG (hier anwendbar in der Fassung des Vertrages von Nizza, BGBl II 2001, 1666 - der Vertrag von Lissabon ist erst zum 1.12.2009 in Kraft getreten, BGBl II 2009, 1223) fällt jeder Arbeitnehmer, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt - mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt - unter die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (vgl ua EuGH, Rs 139/85 [Kempf], Slg 1986, 1741 [Rz 9 ff]; Rs 53/81 [Levin], Slg 1982, 1035 [Rz 17]; C-213/05 [Geven], Slg 2007, I-6347 [Rz 16]; so nun auch Ziffer 2.2.1.1. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift des BMI zum FreizügG/EU; vgl zum gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff ausführlich Epe in GK-AufenthG, § 2 FreizügG/EU RdNr 31 ff mwN). Zwar blieb dem Kläger gemäß § 2 Abs 3 Satz 2 FreizügG/EU seine Erwerbstätigeneigenschaft und damit sein Freizügigkeitsrecht "als Arbeitnehmer" für die Dauer von sechs Monaten nach der arbeitgeberseitigen Kündigung erhalten. Dieser Zeitraum war aber bereits abgelaufen, als er für den hier streitgegenständlichen Zeitraum Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes beantragte.

19

Dem Kläger stand auch zu keinem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht als selbstständig Tätiger nach § 2 Abs 1 Nr 2 FreizügG/EU zu. Dies setzt voraus, dass eine Tätigkeit als Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich ausgeübt wird (vgl Art 7 Abs 1 Buchst a Alt 2 UBRL). Zwar ist auch insoweit nicht erforderlich, dass der Gewinn aus der selbstständigen Tätigkeit das notwendige Existenzminimum deckt (vgl zuletzt zB OVG Bremen Beschluss vom 21.6.2010 - 1 B 137/10 - juris). Voraussetzung ist aber nach Art 43 EGV, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit auf unbestimmte Zeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich ausgeübt wird (EuGH, C-221/89 [Factortame], Slg 1991, I-3905 [Rz 20]), sodass alleine ein formaler Akt (EuGH, aaO, Rz 21; Bröhmer in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl 2007, Art 43 EG RdNr 12), wie die Registrierung eines Gewerbes nicht ausreichend ist. Ein weitergehendes Stadium aber hat die selbstständige Tätigkeit des Klägers nicht erreicht.

20

Der Kläger ist darüber hinaus nicht als Nicht-Erwerbstätiger, zu denen freizügigkeitsberechtigte Arbeitsuchende nicht zählen, nach § 2 Abs 2 Nr 5 iVm § 4 Satz 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt, weil es ihm insoweit an ausreichenden Existenzmitteln fehlt. Schließlich hat der Kläger auch noch kein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs 2 Nr 7 iVm § 4a FreizügG/EU erworben.

21

b) Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II ist allerdings hier deswegen nicht anwendbar, weil der Kläger sich auf das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 EFA berufen kann(ebenso LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 14.1.2008 - L 8 SO 88/07 ER - FEVS 59, 369, 373 ff; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 14.1.2010 - L 14 AS 1565/09 B ER - juris; SG Berlin Urteil vom 25.3.2010 - S 26 AS 8114/08 - juris; Brühl/Schoch in LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 7 RdNr 35; Valgolio in Hauck/Noftz, § 7 SGB II RdNr 128, Stand Juni 2010; aA Bayerisches LSG Beschluss vom 4.5.2009 - L 16 AS 130/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 23.12.2009 - L 34 AS 1350/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 25.11.2008 - L 5 B 801/08 AS ER - juris; SG Reutlingen Urteil vom 29.4.2008 - S 2 AS 2952/07 - juris; Schumacher in Oestreicher, SGB II/SGB XII, Stand Februar 2010, § 7 SGB II, RdNr 11a; offen gelassen von LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 26.2.2010 - L 6 B 154/09 AS ER - juris; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 16.7.2008 - L 19 B 111/08 AS ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 11.1.2010 - L 25 AS 1831/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 30.5.2008 - L 14 B 282/08 AS ER - juris).

22

Nach Art 1 des Abkommens, das unter anderem die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich (und daneben Belgien, Dänemark, Estland, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, die Türkei und Großbritannien) unterzeichnet haben, ist jeder der Vertragschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.

23

Bei dieser Vorschrift handelt es sich um unmittelbar geltendes Bundesrecht (dazu unter aa), dessen Anwendbarkeit im konkreten Fall insbesondere kein jüngeres und deshalb vorrangig anzuwendendes Recht entgegensteht (dazu unter bb). Darüber hinaus steht seiner Anwendung nicht entgegen, dass inzwischen an die Stelle des Abkommens europäisches Koordinationsrecht getreten wäre (dazu unter cc). Auch liegen im Einzelnen die Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgebots nach Art 1 EFA vor. Denn bei der beanspruchten Regelleistung nach § 20 SGB II handelt es sich um Fürsorge im Sinne des EFA(dd). Die Vorschrift des § 20 SGB II findet in Ermangelung eines von der Bundesrepublik abgegebenen Vorbebehalts auch auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten Anwendung(ee). Der Kläger hält sich in der Bundesrepublik zudem erlaubt im Sinne von Art 1 EFA auf (ff). Das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 EFA findet schließlich auch nicht alleine auf solche Staatsangehörige anderer Vertragsstaaten Anwendung, die sich bereits vor Eintritt der Hilfebedürftigkeit im Aufenthaltsstaat aufgehalten haben (gg).

24

aa) Der Kläger kann sich auf Art 1 EFA als unmittelbar geltendes Bundesrecht berufen. Der Bundestag hat mit dem mit Zustimmung des Bundesrats beschlossenen Gesetz vom 15.5.1956 (BGBl II 563) dem Europäischen Fürsorgeabkommen zugestimmt (vgl Art 59 Abs 2 Satz 1 Grundgesetz ) und dadurch dessen Inhalt insoweit in innerstaatlich anwendbares, Rechte und Pflichten des Einzelnen begründendes (revisibles) Bundesrecht transformiert, als die Vertragsbestimmungen nach Wortlaut, Zweck und Inhalt wie innerstaatliche Gesetzesvorschriften rechtliche Wirkungen auszulösen geeignet sind (vgl BVerfGE 29, 348, 360; BVerwGE 44, 156, 160). Dies trifft auf den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 1 des EFA zu (so auch Bundesverwaltungsgericht Urteil vom 18.5.2000 - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200, 201; Urteil vom 14.3.1985 - 5 C 145/83 - BVerwGE 71, 139, 142; LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 14.1.2008 - L 8 SO 88/07 ER - FEVS 59, 369; OVG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 13.12.1999 - 16 A 5587/97 - juris; vgl auch Bayerischer VGH, FEVS 48, 74 ff; OVG Lüneburg, FEVS 49, 118, 119; Hessischer VGH, FEVS 51, 190 ff; Schraml, Das Sozialhilferecht der Ausländerinnen und Ausländer, 1992, S 75; Schuler, Der Einfluss des Europäischen Fürsorgeabkommens auf den sozialhilfe- und aufenthaltsrechtlichen Status der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer in Barwig/Lörcher/Schumacher , Familiennachzug von Ausländern auf dem Hintergrund völkerrechtlicher Verträge, S 67, 69; aA Kokott, Die Staatsangehörigkeit als Unterschiedsmerkmal für soziale Rechte von Ausländern in Hailbronner , Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts, S 25, 33).

25

bb) Entgegen der Ansicht der Revision ist das EFA auch nicht in dem Sinne "überholt", dass seiner Anwendung neuere, denselben Sachverhalt regelnde gesetzliche Vorschriften entgegenstehen. Das Völkervertragsrecht wird gemäß Art 59 Abs 2 GG im Range von Bundesgesetzen umgesetzt. Aus dieser Rangzuweisung folgt, dass deutsche Gerichte das EFA wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben (so BVerfGE 111, 307 ff zur Europäischen Menschenrechtskonvention ). Innerstaatliches Recht ist grundsätzlich so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht. Dies entspricht dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (vgl BVerfG aaO sowie BVerfGE 58, 1, 34; 59, 63, 89). Das einfache (Sozial-)Recht bietet darüber hinaus mit § 30 Abs 2 SGB I eine Vorschrift zur Lösung von möglichen Konflikten zwischen nationalem Recht und (transformiertem) Völkerrecht. § 30 Abs 2 SGB I beschränkt sich nicht auf die Regelung des gewöhnlichen Aufenthalts, sondern beinhaltet einen allgemeinen Rechtsgrundsatz(BSG, InfAuslR 2001, 181, 182; BSGE 52, 210, 213 = SozR 6180 Art 13 Nr 3 S 10). Bereits aus diesem Grund steht der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II entgegen der Ansicht der Revision der Verpflichtung zur Gleichbehandlung nach dem EFA nicht entgegen.

26

Im Übrigen hat das LSG zu Recht darauf hingewiesen, dass Art 1 EFA im Hinblick auf den persönlichen Anwendungsbereich spezieller ist. Die Vorschrift richtet sich gerade nicht an alle Ausländer (deren Aufenthaltsrecht sich aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt), sondern nur an Staatsangehörige der Vertragsstaaten. Darüber hinaus sind Gesetze auch dann im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden, wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender völkerrechtlicher Vertrag. Es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will (vgl BVerfGE 74, 358, 370 sowie - speziell zum EFA - BVerwGE 111, 200, 211). Ein solcher gesetzgeberischer Wille des späteren Gesetzgebers zur Abweichung vom EFA ist hier nicht erkennbar. Des Weiteren überzeugt auch das Argument der Revision nicht, § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II sei deshalb vorrangig vor dem EFA, weil § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II der Umsetzung des Art 24 Abs 2 UBRL diene(BT-Drucks 16/688 S 13), einer Vorschrift, an der sowohl Frankreich als auch die Bundesrepublik beteiligt waren (so aber auch LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 15.4.2010 - L 13 AS 1124/10 ER-B - juris). Es ist nichts dafür ersichtlich, dass diejenigen Mitglieder des Rats der Europäischen Union, die zugleich Vertragsstaaten des EFA sind, mit der in Art 24 Abs 2 UBRL eingeräumten Möglichkeit der nur beschränkten Leistung von Sozialhilfe an Freizügigkeitsberechtigte zugleich für ihren Zuständigkeitsbereich ein Abkommen des Europarats außer Kraft setzen wollten.

27

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das EFA selbst den Konfliktfall bereits regelt: Nach Art 18 EFA stehen die Bestimmungen des Abkommens solchen nationalen Vorschriften nicht entgegen, die für die Beteiligten günstiger sind. Dass eine Abweichung vom EFA zu Lasten des durch das EFA geschützten Personenkreises damit nicht zulässig ist, liegt dabei auf der Hand. Wenn die Bundesrepublik die sich aus dem EFA ergebenden Verpflichtungen nicht mehr tragen will, steht ihr nach Art 24 EFA die Möglichkeit offen, das Abkommen innerhalb der dort genannten Frist zu kündigen. Hiervon hat sie bislang keinen Gebrauch gemacht.

28

cc) Der Anwendbarkeit des EFA steht das koordinierende Sekundärrecht der Europäischen Union nicht entgegen (so aber Bayerisches LSG Beschluss vom 12.3.2008 - L 7 B 1104/07 AS ER - FEVS 60, 178).Gemeinschaftsrechtlicher Maßstab für den hier streitgegenständlichen Zeitraum (1.3.2009 bis 11.11.2009) ist die Kollisionsregel des Art 6 der "alten" Wanderarbeitnehmerverordnung EWG Nr 1408/71, weil die Nachfolgeverordnung (EG) Nr 883/2004 vom 29.4.2004 (ABl 2004 Nr L 166, 1 ff) gemäß deren Art 91 Satz 2 erst ab dem Inkrafttreten einer Durchführungsverordnung galt. Die Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist aber erst am 1.5.2010 in Kraft (Art 97 der VO Nr 987/2009) getreten. Nach der Kollisionsregel in Art 6 EWGV 1408/71 tritt die Verordnung im Rahmen ihres persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs an die Stelle bestimmter (völkerrechtlicher) Abkommen über die soziale Sicherheit.

29

Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unterfallen entweder gemäß Art 4 Abs 2a EWGV 1408/71 iVm dem Anhang IIA, Buchst E - entgegen dem Anwendungsausschluss für die Sozialhilfe nach Art 4 Abs 4 EWGV 1408/71 und mit konstitutiver Wirkung (vgl EuGH, Rs C-20/96 [Snares], Slg 1997, I-6082 [Rz 30]; differenzierend Rs C-215/99 [Jauch], Slg 2001, I-1901 [Rz 21] = SozR 3-6050 Art 10a Nr 1 S 5 f) - als so genannte besondere beitragsunabhängige Geldleistungen (so genannte "Mischleistungen", dazu ausführlich Beschorner, ZESAR 2009, 320 ff) bzw - soweit dem Grunde nach die Voraussetzungen nach § 24 Abs 1 SGB II vorliegen - als Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Art 4 Abs 1 Buchst g EWGV 1408/71 dem sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung.

30

Ob auch der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung eröffnet ist, bedarf dagegen keiner Entscheidung. Denn die Kollisionsregel des Art 6 EWGV 1408/71 greift hier ohnehin nicht ein. Die Kollisionsregel des Art 6 EWGV 1408/71 ist nämlich nur anwendbar auf "Abkommen über die soziale Sicherheit", worunter nach der Begriffsbestimmung des Art 1 Buchst k) EWGV 1408/71 nur Vereinbarungen für die in Art 4 Abs 1 und 2 der Verordnung bezeichneten Zweige und Systeme zu verstehen sind. Art 4 Abs 2a VO 1408/71 ist dort gerade nicht genannt.

31

Darüber hinaus gilt die Kollisionsregel des Art 6 EWGV ohnehin nicht schrankenlos. Vielmehr kann es gemeinschaftsrechtlich geboten sein, eine Günstigkeitsprüfung vorzunehmen (EuGH, Rs C-227/89 [Rönfeldt], Slg 1991, I-323 [Rz 29] = SozR 3-6030 Art 48 Nr 3 S 8; ausführlich Steinmeyer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 6 VO 1408/71 RdNr 10 ff). Weiterhin erscheint es zweifelhaft, ob Abkommen des Europarats überhaupt unter die Kollisionsregel fallen (vgl insoweit Steinmeyer, aaO, Art 7 VO 1408/71 RdNr 1; allerdings zu der ausdrücklich in die Verordnung aufgenommenen Ausnahmeregelung des Art 7 Abs 1 Buchst b im Hinblick auf das sog Vorläufige Europäische Abkommen vom 11.12.1953 über die soziale Sicherheit). Hinzu kommt, dass nichts dafür spricht, dass die EWGV 1408/71, für die sich vor allem die Notwendigkeit der Klärung des Verhältnisses zwischen Koordinationsrecht und Sozialversicherungsabkommen ergab, ein internationales Fürsorgeabkommen außer Kraft setzen wollte. Hier greift vielmehr der Anwendungsausschluss auf die Sozialhilfe nach Art 4 Abs 4 VO 1408/71.

32

dd) Bei der hier noch streitgegenständlichen (siehe oben 1.) Regelleistung nach § 20 SGB II handelt es sich um "Fürsorge" im Sinne von Art 1 EFA. Ausweislich der Begriffsbestimmung in Art 2 Abs a Nr i EFA meint "Fürsorge" im Sinne des Abkommens jede Fürsorge, die jeder der Vertragschließenden nach den in dem jeweiligen Teile seines Gebietes geltenden Rechtsvorschriften gewährt und wonach Personen ohne ausreichende Mittel die Mittel für ihren Lebensbedarf sowie die Betreuung erhalten, die ihre Lage erfordert. Ausgenommen sind beitragsfreie Renten und Leistungen zugunsten der Kriegsopfer und der Besatzungsgeschädigten. Nach Art 2 Abs b EFA sind die Rechtsvorschriften, die in den Gebieten der Vertragschließenden, auf die dieses Abkommen Anwendung findet, in Kraft sind, sowie die von den Vertragschließenden formulierten Vorbehalte in den Anhängen I und II zum Abkommen aufgeführt.

33

Die Regelleistung nach § 20 SGB II als Bestandteil der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach diesem Gesetz stellt ein solches, im Falle der Bedürftigkeit gewährtes "Mittel für den Lebensbedarf" dar(vgl auch Urteil des Senats vom 31.10.2007 - B 14/11b AS 5/07 R - BSGE 99, 170 = SozR 4-4200 § 24 Nr 1, wo im Hinblick auf das SGB II von einer "steuerfinanzierten Fürsorgeleistung" die Rede ist; vgl auch BT-Drucks 15/1516 S 56: "nachrangige Fürsorgeleistung"). Denn das SGB II ist - anders als bis zum 1.1.2005 die Alhi als Lohnersatzleistung (vgl zuletzt § 195 SGB III) - ein bedarfsabhängiges Leistungssystem (vgl Urteil des Senats vom 31.10.2007 - B 14 AS 30/07 R - SozR 4-4200 § 24 Nr 2). Darüber hinaus ist die Fürsorgegesetzgebung in der Bundesrepublik nach dem Außerkrafttreten des BSHG zum 1.1.2005 auch nicht auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII (idR iVm § 42 Satz 1 SGB XII) beschränkt. Sozialhilfe und Grundsicherung für Arbeitsuchende unterscheiden sich zwar nach ihrem Adressatenkreis. Das SGB II verliert dadurch aber nicht seinen Charakter als Fürsorgegesetz.

34

Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Umstand, dass im Anhang I zum EFA in der Fassung der Erklärung des ständigen Vertreters der Bundesrepublik Deutschland an den Generalsekretär des Europarats vom 26.10.2001 als anzuwendende Fürsorgegesetze noch immer (und entgegen der Verpflichtung der Bundesrepublik zur Mitteilung geänderter bzw neuer Rechtsvorschriften gemäß Art 16 Abs a und b EFA) das BSHG in der Fassung der Bekanntmachung vom 23.3.1994 (BGBl I 646, 2975), "zuletzt" geändert durch Art 12 des Gesetzes vom 13.9.2001 (BGBl I 2376, 2398), und die §§ 27, 32 bis 35 und 41 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII), jeweils iVm § 39 SGB VIII, sowie die §§ 3, 19 und 69 des Infektionsschutzgesetzes genannt werden. Denn die Aufzählung der Fürsorgegesetze in der Anlage I ist nicht konstitutiv (so auch BVerwG Urteil vom 18.5.2000 - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200, 206; LSG Niedersachsen-Bremen, FEVS 59, 369, 374; Mangold/Pattar, VSSR 2008, 243, 261; aA Bayerisches LSG Beschluss vom 4.5.2009 - L 16 AS 130/09 B ER - juris, sowie Schumacher in Oestreicher, SGB II/SGB XII, Stand Februar 2010, § 7 SGB II, RdNr 11a). Dies entspricht auch der Rechtsansicht der Bundesregierung bei Ratifizierung des Abkommens (vgl die Denkschrift des BMI und des Bundesministers des Auswärtigen zum Europäischen Fürsorgeabkommen und dem Zusatzprotokoll, BT-Drucks 2/1882, 23: "Die Aufführung der Fürsorgegesetze im Anhang I dient der Klarstellung, damit sich die übrigen Vertragschließenden den notwendigen Überblick verschaffen können." Vgl darüber hinaus den am 21.11.2001 vom Ministerkomitee des Europarats verabschiedeten "Explanatory Report" zum EFA, Rz 49). Dafür spricht zuletzt Art 2 Abs a Nr ii EFA. Hiernach haben die Begriffe "Staatsangehörige" und "Gebiet" die Bedeutung, die ihnen von den Vertragschließenden in gesonderten Erklärungen zugewiesen werden. Demgegenüber definiert Art 2 Abs a Nr i EFA den Begriff der Fürsorge eigenständig (Mangold/Pattar, aaO, 260).

35

ee) Die Bundesrepublik Deutschland hat bis jetzt keinen Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung des SGB II auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten abgegeben (vgl Art 16 Abs b Satz 2 EFA). Nach dem bislang abgegebenen Vorbehalt übernimmt die Bundesrepublik Deutschland keine Verpflichtung, die im BSHG "in der jeweils geltenden Fassung" vorgesehene Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage (vgl § 30 BSHG) und die dort vorgesehene Hilfe zur Überwindung besonderer sozialen Schwierigkeiten (vgl § 72 BSHG) an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zu gewähren, ohne gleichwohl auszuschließen, dass diese Hilfen in geeigneten Fällen gewährt werden können (vgl Neubekanntmachung des Anhangs II zum EFA, BGBl II 2001, 1098). Es bedarf an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob dieser Vorbehalt nach dem Außerkrafttreten des BSHG durch Gesetz vom 27.12.2003 (BGBl I 3022) mit Wirkung vom 1.1.2005 "dynamisch" im Sinne einer Anwendung auf die Nachfolgegesetzgebung anzuwenden ist. Denn bereits im Hinblick auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 2. Abschnitt des BSHG hatte sich die Bundesrepublik gerade nicht die Möglichkeit der Ungleichbehandlung der Staatsangehörigen der Vertragsstaaten vorbehalten. Mit der Regelleistung nach § 20 SGB II beansprucht der Kläger aber alleine eine solche, den Lebensunterhalt sichernde, Hilfe.

36

ff) Der Kläger hält sich auch "erlaubt" im Sinne des Art 1 EFA in der Bundesrepublik auf. Dabei kann an dieser Stelle dahinstehen, ob - wie es der Rechtsprechung des BVerwG zum BSHG entsprach (vgl nur BVerwGE 71, 139, 143 ff) - sich das Merkmal des erlaubten Aufenthalts nach Art 11 Abs a Satz 1 EFA bestimmt und dem Anhang insoweit konstitutive Wirkung zukommt. Bedenken könnten sich unter anderem deshalb ergeben, weil die - nach der Schlussformel des Abkommens im Gegensatz zur deutschen Fassung - verbindliche englische Fassung des EFA zwischen "lawfully present" nach Art 1 EFA und - enger - "lawfully resident" im Sinne der Rückschaffungsvorschriften nach Art 6 EFA unterscheidet. Art 11 definiert aber nur den Begriff "residence". Beides wird im Deutschen mit Aufenthalt übersetzt (wobei dann bei Art 6 EFA auf einen "gewöhnlichen" Aufenthalt abgestellt wird). Nach dem Abkommenstext spricht also einiges dafür, dass zwischen dem sozialrechtlichen Gleichbehandlungsgebot und dem Ausweisungsschutz im Hinblick auf die Qualität "des Aufenthalts" differenziert werden sollte.

37

Diese Frage bedarf aber deshalb keiner Entscheidung, weil sich der Kläger auch bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des BVerwG "erlaubt" in der Bundesrepublik aufhielt. Nach Art 11 Abs a Satz 1 EFA gilt der Aufenthalt eines Ausländers im Gebiet eines der Vertragschließenden solange als erlaubt im Sinne des Abkommens, als der Beteiligte im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis oder einer anderen in den Rechtsvorschriften des betreffenden Staates vorgesehenen Erlaubnis ist, auf Grund welcher ihm der Aufenthalt in diesem Gebiet gestattet ist. Dabei kam dem im Anhang III zum EFA angeführten Verzeichnis der Urkunden, die als Nachweis des Aufenthalts im Sinne des Art 11 EFA anerkannt werden, nach der Rechtsprechung des BVerwG ein rechtsbegründender (konstitutiver) Charakter in der Weise zu, dass mit den dort aufgeführten Urkunden die Erlaubnistatbestände abschließend genannt seien, aufgrund derer der Aufenthalt des ausländischen Staatsangehörigen im Sinne des Abkommens als erlaubt gelte (BVerwGE 71, 139, 144). Auch nach der Rechtsprechung des BVerwG war es aber als unerheblich anzusehen, wenn die Bezeichnung eines Aufenthaltstitels lediglich redaktionell angepasst wurde (BVerwG, aaO). Indiz für eine lediglich andere Bezeichnung kann dabei auch das völkervertragliche Verhalten der Bundesrepublik Deutschland sein. Denn wenn sie den Generalsekretär des Europarates von einer Änderung ihrer Gesetzgebung nicht unterrichtet hat, obwohl sie nach Art 16 Abs a EFA hierzu verpflichtet gewesen wäre, ist sie augenscheinlich davon ausgegangen, die gesetzliche Änderung berühre nicht den Inhalt des Anhangs III (BVerwGE 111, 200, 204).

38

Der Kläger verfügt über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU. Im Anhang III des EFA ist demgegenüber noch von einer "Aufenthaltserlaubnis für Angehörige eines Mitgliedstaats der EWG" die Rede (BGBl II 2001, 1100). Dies entspricht der Rechtslage nach § 1 Abs 4 des Gesetzes über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (AufenthG/EWG) in der Fassung des Gesetzes vom 9.7.1990 (BGBl I 1354), aufgehoben mit Wirkung vom 1.1.2005 durch das Zuwanderungsgesetz 2004 vom 30.7.2004 (BGBl I 1950). Nach dieser Vorschrift erhielten freizügigkeitsberechtigte Angehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften eine so genannte Aufenthaltserlaubnis-EG. Eines Aufenthaltstitels bedarf es nach § 2 Abs 4 Satz 1 FreizügG/EU, Art 8 UBRL nicht mehr. An die Stelle der Aufenthaltserlaubnis-EG ist insoweit die Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU getreten. Der Aufenthalt des Klägers "gilt" aus diesem Grund als erlaubt im Sinne des Art 11 EFA. Dies entspricht auch der Praxis der Ausländerbehörden, wonach von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen ist, bis eine Verlustfeststellung mit entsprechender Einziehung der Aufenthaltsbescheinigung nach § 5 Abs 5 FreizügG/EU erfolgt(vgl bereits oben 2.).

39

gg) Der Senat vermag schließlich auch keinen rechtlichen Ansatzpunkt dafür zu erkennen, das EFA nur auf diejenigen Ausländer anzuwenden, die sich zur Zeit des Eintritts der Hilfebedürftigkeit bereits in dem um Hilfe angegangenen Staat erlaubt aufhielten und mithin nicht auf diejenigen, die als bereits bedürftige Personen in einen Vertragsstaat einreisten (so aber LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 8.1.2010 - L 34 AS 2082/09 B ER, L 34 AS 2086/09 B PKH -, unter Verweis auf OVG Berlin Beschluss vom 22.4.2003 - 6 S 9.03 - FEVS 55, 186, 190). Mithin kommt es nicht darauf an, ob dem Kläger ein irgendwie geartetes "missbräuchliches Verhalten" vorgeworfen werden kann, als er etwas mehr als vier Monate nach seiner Einreise (nämlich nach Auslaufen seines Anspruchs auf Gewährung von Arbeitslosengeld nach dem SGB III) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II beantragt hat. Der gesetzliche Rahmen des BSHG (und nunmehr des SGB XII) war ein gänzlich anderer. Nach § 120 Abs 1 Satz 1 BSHG war Ausländern, die sich in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich aufhielten, Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Nach § 120 Abs 3 Satz 1 BSHG(jetzt § 23 Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGB XII in der Fassung des Gesetzes vom 2.12.2006, BGBl I 2670) hatten Ausländer, die sich in die Bundesrepublik Deutschland begeben haben, um Sozialhilfe zu erlangen, keinen Anspruch. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung entsprach es offenbar allgemeiner Ansicht, § 120 Abs 3 Satz 1 BSHG auch auf vom EFA geschützte Personen anzuwenden(so OVG Berlin aaO unter Verweis auf die Denkschrift zum EFA, BT-Drucks 2/1882, 23; vgl auch Hamburgisches OVG Beschluss vom 8.2.1989 - Bs IV 8/89 -, NVwZ-RR 1990, 141 ff; OVG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 25.4.1985 - 8 A 266/84 -, NDV 1985, 367 ff; aA VG Würzburg Urteil vom 21.2.1990 - W 3 K 88.1363 -, NDV 1990, 187 ff).

40

Es überzeugt nicht, eine - etwa § 23 Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGB XII vergleichbare - Regelung in das SGB II "hineinzulesen", wobei eine auf diese Weise vorgenommene Geltungserweiterung (Analogie) insbesondere auch vor dem Hintergrund des § 31 SGB I bedenklich erscheint. Im Übrigen dürfte die praktische Bedeutung eines solchen Anspruchsverlustes gering sein, weil das BVerwG jedenfalls im Rahmen der Vorgängernorm (§ 120 Abs 1 Satz 1 Halbs 1 BSHG in der Fassung vom 24.5.1983, BGBl I 613) einen finalen Zusammenhang im Sinne einer "prägenden Bedeutung" zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe (BVerwG Urteil vom 4.6.1992 - 5 C 22/87 - FEVS 43, 113 ff) verlangt hat. Schließlich hat auch die zu Art 1 EFA teilweise vertretene Ansicht, einen Aufenthalt zeitlich vor dem Eintritt der Hilfebedürftigkeit zu fordern (siehe oben), in dem Abkommen selbst keinen Ausdruck gefunden. Denn Art 1 EFA stellt allein auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts ab, nicht aber auf eine bestimmte zeitliche Abfolge.

41

Da der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II auf den Kläger mithin bereits aufgrund der vorrangigen Geltung des Gleichbehandlungsgebotes nach Art 1 EFA keine Anwendung findet, bedarf es an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob der Leistungsausschluss zudem wegen Verstoßes gegen gemeinschaftsrechtliche Vorgaben unanwendbar ist.

42

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

1.
die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2.
der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3.
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4.
der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum auf Grund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes.

(2) Der Verwaltungsakt ist im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 bleibt unberührt.

(3) Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Satz 1 gilt entsprechend, soweit einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zugrunde liegt, der nach § 45 nicht zurückgenommen werden kann.

(4) § 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 gelten entsprechend. § 45 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. September 2013 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab 1.2.2013.

2

Der 1955 geborene erwerbsfähige Kläger, griechischer Staatsangehöriger, lebt seit 17.10.2011 ohne weitere Familienangehörige wieder in Deutschland und war bei der Firma C. T. in S. als Lagerist/Fahrer sozialversicherungspflichtig vom 20.12.2011 bis 17.2.2012 beschäftigt. Der Beklagte erbrachte dem Kläger zunächst vom 1.8.2012 bis 31.1.2013 SGB II-Leistungen (Bescheid vom 31.8.2012), lehnte die weitere Bewilligung auf den Antrag des einkommens- und vermögenslosen Klägers vom 17.1.2013 jedoch mit der Begründung ab, dass dieser ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche habe und damit der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II eingreife(Bescheid vom 21.1.2013; Widerspruchsbescheid vom 18.2.2013).

3

Das SG hat den Beklagten verurteilt, "dem Kläger über den 31.01.2013 hinaus weiterhin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren" (Gerichtsbescheid vom 19.6.2013). In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG haben sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt, "dass der Senat über den noch offenen Bescheid vom 21. Januar 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Februar 2013 erstinstanzlich entscheidet". Sodann hat das LSG den Bescheid des Beklagten vom 21.1.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.2.2013 aufgehoben und den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben, "soweit das Sozialgericht dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts über den 31. Juli 2013 hinaus zugesprochen hat". Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 20.9.2013). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ua ausgeführt, auf den Kläger, der "zu den leistungsberechtigten Personen nach § 7 Abs 1 S 1 SGB II" gehöre, finde der Ausschluss von der Leistungsberechtigung nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II keine Anwendung, obgleich er sich nicht (mehr) auf den Arbeitnehmerstatus nach § 2 Abs 3 S 2 FreizügG/EU berufen könne. § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II kollidiere mit der VO (EG) 883/2004, weil das Gleichbehandlungsgebot aus Art 4 iVm Art 70 VO (EG) 883/2004 eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ausschließe. Auf die Berufung des Beklagten sei der Gerichtsbescheid des SG aufzuheben, soweit dieses SGB II-Leistungen unbefristet über den 31.7.2013 hinaus zugesprochen habe. Nach § 41 Abs 1 S 4 SGB II könnten SGB II-Leistungen - von besonderen, hier weder ersichtlichen noch geltend gemachten Ausnahmefällen abgesehen - jeweils nur für sechs Monate bewilligt werden. Der bereits erstinstanzlich angefochtene Ablehnungsbescheid vom 21.1.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.2.2013 werde aufgehoben. Mit Einverständnis der Beteiligten habe der Senat über "diesen verbliebenen Prozessrest" im Berufungsverfahren entschieden.

4

Hiergegen wendet sich der Beklagte mit der vom LSG zugelassenen Revision. Er macht geltend, der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II kollidiere nicht mit der VO (EG) 883/2004. Das Europäische Fürsorgeabkommen vom 11.12.1953 (EFA) sei nach Erklärung des Vorbehalts bezüglich der Leistungen nach dem SGB II durch die Regierung der Bundesrepublik Deutschland am 19.12.2011 ab diesem Zeitpunkt nicht mehr anspruchsbegründend.

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Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 19. Juni 2013 und das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. September 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

7

Er macht geltend, bei den geltend gemachten SGB II-Ansprüchen handele es sich nicht um Sozialhilfeleistungen, sondern nach deren Zielsetzung um Hilfen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt, weshalb Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG nicht eröffnet sei.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Die bisherigen Feststellungen des LSG lassen keine Entscheidung darüber zu, ob der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum vom 1.2.2013 bis 31.7.2013 weiterhin einen Anspruch auf SGB II-Leistungen hatte.

9

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des LSG vom 20.9.2013, der Gerichtsbescheid des SG Frankfurt am Main vom 19.6.2013 sowie der Bescheid des Beklagten vom 21.1.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.2.2013, soweit der Beklagte verurteilt worden ist, dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1.2.2013 bis 31.7.2013 zu erbringen. Insofern ist dem Tenor des angefochtenen Urteils, der unter Heranziehung der Entscheidungsgründe auszulegen ist (BSG Urteil vom 8.2.2007 - B 9b SO 5/05 R - juris RdNr 14), zu entnehmen, dass das Berufungsgericht den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid aufgehoben und die Klage abgewiesen hat, soweit das SG SGB II-Leistungen auch für die Zeit ab 1.7.2013 zugesprochen hat. Zwar kann sich, sofern ein Träger der Grundsicherung SGB II-Leistungen gänzlich ablehnt, der streitige Zeitraum - je nach Klageantrag - bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht erstrecken (BSG Urteil vom 16.5.2012 - B 4 AS 105/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 30 RdNr 13: stRspr seit BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 14/06 R - BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, RdNr 30). Der Kläger hat sich jedoch nicht im Wege einer Revision gegen die nach dem Tenor der Entscheidung ausdrückliche, seinen geltend gemachten Anspruch (möglicherweise) begrenzende Entscheidung des Berufungsgerichts gewandt. Im Übrigen verfolgt der Kläger sein Begehren in zulässiger Weise mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG).

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Mit ausdrücklicher Zustimmung der Beteiligten hat das LSG auch über den bei sachgerechter Auslegung des Klagebegehrens (§ 123 SGG) bereits erstinstanzlich sinngemäß gestellten Antrag auf Aufhebung des die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ablehnenden Bescheids vom 21.1.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.2.2013 entschieden. Den Gründen des Gerichtsbescheids vom 19.6.2013 kann allerdings nicht entnommen werden, dass sich das erstinstanzliche Gericht der Notwendigkeit einer Entscheidung über die Aufhebung des Ablehnungsbescheids bewusst war. Das LSG konnte aber auch ohne Urteilsergänzungsverfahren nach § 140 SGG mit Zustimmung der Beteiligten über diesen noch nicht durch erstinstanzliches Urteil beschiedenen "Prozessrest" durch "Heraufholen" in die nächste Instanz entscheiden(vgl zB BSG Urteil vom 10.12.2013 - B 13 R 91/11 R - SozR 4-2600 § 249b Nr 1 RdNr 16).

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2. a) Trotz der knappen Feststellungen des LSG ist davon auszugehen, dass der Kläger in dem streitigen Zeitraum vom 1.2.2013 bis 31.7.2013 dem Grunde nach die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs 1 S 1 SGB II erfüllte; insbesondere war auch ein gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet (§ 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB II) zu bejahen (vgl zum gewöhnlichen Aufenthalt Urteil des Senats vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 17 ff). Zwar kommt dem vom LSG im Zusammenhang mit der Bejahung eines gewöhnlichen Aufenthalts gewürdigten Umstand, dass die dem Kläger im August 2012 erteilte Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Abs 1 FreizügG/EU(entfallen durch das mit Wirkung zum 29.1.2013 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vom 21.1.2013 ) "nicht nachträglich eingeschränkt worden" sei, keine ausschlaggebende Bedeutung zu (BSG Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 20). Das Berufungsgericht hat aber auch festgestellt, dass der Kläger "laut Meldebestätigung" seit dem 17.10.2011 wieder in Deutschland lebe, sodass nach den tatsächlichen Umständen der Zeitdauer eines den Feststellungen des LSG zu entnehmenden durchgehenden Aufenthalts, einer vorangegangenen - wenngleich kurzen - Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet und der Anmietung einer Wohnung im Bundesgebiet ein gewöhnlicher Aufenthalt für den streitigen Zeitraum zu bejahen ist (vgl auch zum gewöhnlichen Aufenthalt nach der Kollisionsnorm des Art 11 Abs 3 Buchst e VO (EG) 883/2004 die in Art 11 Abs 1 VO (EG) 987/2009 aufgeführten Kriterien).

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b) Der Senat kann aber nicht abschließend darüber befinden, ob der Kläger dem Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 SGB II unterfällt. Ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II sind danach ua Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts (Nr 1) und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen (Nr 2). Der Ausschlussgrund des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II kommt wegen des durchgehenden Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet seit Oktober 2011 von vornherein nicht in Betracht.

13

Es fehlen aber ausreichende Feststellungen zu den Voraussetzungen der Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II. Diese sind hier auch deshalb erforderlich, weil sich der Kläger - bezogen auf die SGB II-Leistungen - nach Erklärung des Vorbehalts durch die Bundesregierung am 19.12.2011 nicht mehr auf das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 EFA berufen kann (vgl hierzu Urteil des Senats vom 3.12.2015 - B 4 AS 43/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 18 ff). Nach der Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG erfordert die Anwendbarkeit der Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II eine Prüfung des Grundes bzw der Gründe für eine im streitigen Leistungszeitraum (weiterhin) bestehende materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht nach den - im Wege eines Günstigkeitsvergleichs - anwendbaren Regelungen des Aufenthaltsgesetzes(§ 11 Abs 1 S 11 FreizügG/EU; vgl hierzu BSG Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 34 RdNr 31 ff mwN). Bereits das Vorliegen der Voraussetzungen für ein mögliches anderes (im Falle des § 11 Abs 1 S 11 FreizügG/EU im Ermessenswege zu erteilendes) bzw bestehendes Aufenthaltsrecht als ein solches aus dem Zweck der Arbeitsuche hindert sozialrechtlich die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II(BSG Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 31 ff; BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 17 ff) bzw lässt den Leistungsausschluss "von vornherein" entfallen (BSG Urteil vom 25.1.2012 - B 14 AS 138/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 28 RdNr 20 f).

14

Über den Wortlaut der genannten Regelung hinaus sind diejenigen Unionsbürger "erst-recht" von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II auszunehmen, die über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung oder kein Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG in Deutschland verfügen. Die Vorschrift des § 7 Abs 1 S 2 SGB II ist insoweit planwidrig lückenhaft, als sie nicht ausdrücklich den Ausschluss auch derjenigen normiert, die über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht verfügen, weil sie einen Leistungsausschluss schon für solche Ausländer anordnet, die sich auf eine solche materielle Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des FreizügG/EU berufen können(vgl ausführlich Urteil des Senats vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 19 ff). Diese Auslegung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II ist nach den Entscheidungen des EuGH in der Rechtssache Dano(Urteil vom 11.11.2014 - C-333/13 - NZS 2015, 20 ff) und in der Rechtssache Alimanovic (Urteil vom 15.9.2015 - C-67/14 - SGb 2015, 638 ff) europarechtskonform (vgl auch Urteil des Senats vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 35). Nach der Entscheidung in der Rechtssache Alimanovic ist weiter als geklärt anzusehen, dass der in Ausfüllung von Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG in § 7 Abs 1 S 2 SGB II normierte, ausnahmslose Ausschluss von SGB II-Leistungen auch bereits im Bundesgebiet beschäftigt gewesene Unionsbürger erfasst, die weniger als ein Jahr gearbeitet haben. Haben diese - wie hier der Kläger - nach Ablauf der Aufrechterhaltung ihrer Erwerbstätigeneigenschaft für den Zeitraum von sechs Monaten erneut ein Aufenthaltsrecht nur (noch) zur Arbeitsuche, steht der spätere Ausschluss von SGB II-Leistungen (vgl Frage 2 des Vorlagebeschlusses des Senats vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R) ohne eine individuelle Prüfung der Dauer des gewöhnlichen Aufenthalts der erneut Arbeitsuchenden im Bundesgebiet sowie anderer Umstände nach dieser Entscheidung des EuGH im Einklang mit Art 4 der VO (EG) 883/2004 und Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG (EuGH Urteil vom 15.9.2015 - Rs C-67/14 - SGb 2015, 638 ff).

15

c) Die demnach erforderliche Prüfung der bei dem Kläger - ggf neben einem im streitigen Zeitraum noch vorhandenen Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche (vgl zu den Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche: BSG Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 29 ff mwN; BSG Urteil vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 16 ff mwN) - möglichen anderen materiellen Aufenthaltsrechte hat das LSG nicht durchgeführt. Ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt hat das Berufungsgericht ausgeführt, dass der Kläger sich nicht mehr auf ein (fortwirkendes) Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer nach § 2 FreizügG/EU berufen könne. Zwar trifft dies zu, weil die Erwerbstätigeneigenschaft des Klägers nach § 2 Abs 3 S 2 FreizügG/EU iVm Art 7 Abs 3 Buchst c) RL 2004/38/EG für die Zeit ab 1.2.2013 nicht mehr aufrechterhalten geblieben ist (vgl EuGH Urteil vom 4.6.2009 - Rs C-22/0 und /C-23/08 - Slg 2009, I-4585 = SozR 4-6035 Art 39 Nr 5 RdNr 31; EuGH Urteil vom 15.9.2015 - Rs C-67/14 - SGb 2015, 638 ff RdNr 55 f).

16

Unabhängig von einer fortbestehenden Freizügigkeitsberechtigung des Klägers als Arbeitsuchender - er hat nach seiner Einreise in das Bundesgebiet im Oktober 2011 für einen kurzen Zeitraum vom 20.12.2011 bis 17.2.2012 eine Beschäftigung ausgeübt und war im streitigen Zeitraum schon mehr als ein Jahr arbeitslos - ist jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen, dass er über ein anderes Aufenthaltsrecht, etwa als selbstständig Tätiger (§ 2 Abs 1 Nr 2 FreizügG/EU) oder ein Daueraufenthaltsrecht verfügte. Ein Daueraufenthaltsrecht setzt nach § 2 Abs 2 Nr 7 FreizügG/EU iVm § 4a Abs 1 S 1 FreizügG/EU voraus, dass sich Unionsbürger seit fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. Mit dem Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts wird auf die materiellen Freizügigkeitsvoraussetzungen abgestellt und somit unionsrechtlich vorausgesetzt, dass der Betreffende während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art 7 Abs 1 RL 2004/38/EG erfüllt hat (BVerwG Urteil vom 31.5.2012 - 10 C 8/12 - InfAuslR 2012, 348 ff; BVerwG Urteil vom 16.7.2015 - 1 C 22/14 - juris RdNr 17).

17

Der erforderliche fünfjährige rechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet war - ausgehend von einer erneuten Einreise in das Bundesgebiet seit Oktober 2011 im streitigen Zeitraum des Jahres 2013 - allerdings noch nicht gegeben. Da das LSG jedoch festgestellt hat, dass der Kläger "wieder" in Deutschland lebe, könnte gleichwohl ein Daueraufenthaltsrecht unter Berücksichtigung früherer Aufenthaltszeiten bestehen. Insofern regelt § 4a Abs 6 FreizügG/EU in Konkretisierung des Begriffs des ständigen Aufenthalts in § 4a Abs 1 S 1 FreizügG/EU ua, dass der ständige Aufenthalt nicht durch Abwesenheitszeiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr berührt wird. Diese Abwesenheitszeiten werden für den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts für unschädlich erklärt (Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, § 4a FreizügG/EU RdNr 18; Brinkmann in Huber, AufenthG, 2010, § 4a FreizügG/EU RdNr 13).

18

3. a) Der Rechtsstreit ist demnach schon wegen der fehlenden Feststellungen des LSG zum Vorliegen der Voraussetzungen der Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 SGB II an das LSG zurückzuverweisen. Kommt es im wiedereröffneten Berufungsverfahren zu dem Ergebnis, dass der Kläger von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen war, wird es - nach Beiladung des Sozialhilfeträgers - über einen Anspruch des Klägers auf existenzsichernde Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII entscheiden müssen (zur Notwendigkeit der Beiladung des Sozialhilfeträgers bereits bei "ernsthafter Möglichkeit" eines anderen Leistungsverpflichteten: BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 14/06 R - BSGE 97, 242, 244 f = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, RdNr 11; BSG Urteil vom 25.4.2013 - B 8 SO 16/11 R - RdNr 10). Insofern ist der Senat gehindert, über den vorliegenden Rechtsstreit bindend für das LSG zu entscheiden (§ 170 Abs 5 SGG), weil anderenfalls das rechtliche Gehör (§ 62 SGG) des Beizuladenden verletzt würde (BSG Urteil vom 2.2.2010 - B 8 SO 20/08 R - FEVS 61, 534 ff mwN).

19

Das LSG wird gleichwohl davon ausgehen können, dass der Sozialhilfeträger die nach § 18 Abs 1 SGB XII(in der seither unverändert gebliebenen Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003, BGBl I 3022) für einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach den §§ 27 ff SGB XII erforderliche Kenntnis von der Bedürftigkeit und den Bedarf des Klägers bereits mit seinem Antrag auf SGB II-Leistungen bei dem Beklagten vom 17.1.2013 erlangt hat (vgl Urteil des Senats vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 39 mwN). Auch steht § 21 S 1 SGB XII, der bestimmt, dass Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten, einer Leistungsberechtigung des Klägers nicht entgegen(vgl hierzu ausführlich Urteil des Senats vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 40 ff mwN).

20

b) Da die Bundesregierung bezogen auf die Vorschriften der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII keinen Vorbehalt erklärt hat, sind Sozialhilfeleistungen in Form der Hilfe zum Lebensunterhalt im Wege einer Gleichbehandlung mit inländischen Staatsangehörigen weiterhin zu erbringen, soweit die Anwendungsvoraussetzungen nach dem EFA vorliegen. Die Ausschlussregelung des § 23 Abs 3 S 1 SGB XII findet dann keine Anwendung auf den Kläger(vgl zum SGB II: BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 23 ff; vgl zum Gleichbehandlungsanspruch: BVerwG Urteil vom 18.5.2000 - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200 ff, 201; BVerwG Urteil vom 14.3.1985 - 5 C 145/83 - BVerwGE 71, 139 ff, 142; vgl zur Anwendbarkeit des Art 1 EFA im SGB XII und zur Reichweite des erklärten Vorbehalts: Urteil des Senats vom 3.12.2015 - B 4 AS 43/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 24 mwN).

21

Eine Gleichstellung mit deutschen Staatsangehörigen nach Art 1 EFA erfordert allerdings einen erlaubten Aufenthalt des Staatsangehörigen aus dem Vertragsstaat im Bundesgebiet, dessen Vorliegen hier im Falle des Klägers noch zu prüfen ist. Nach Art 11 Abs a S 1 EFA gilt der Aufenthalt eines Ausländers im Gebiet eines der Vertragschließenden solange als erlaubt, als der Beteiligte im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis oder einer anderen in den Rechtsvorschriften des betreffenden Staates vorgesehenen Erlaubnis ist, aufgrund welcher ihm der Aufenthalt in diesem Gebiet gestattet ist. Nach der historischen Konzeption des EFA kommt den im Anhang III (nach Art 19 EFA Bestandteil des Abkommens) verzeichneten Urkunden, die als Nachweis eines erlaubten Aufenthalts iS des Art 11 EFA anerkannt werden, grundsätzlich ein rechtsbegründender Charakter zu (BVerwG Urteil vom 14.3.1985 - 5 C 145/83 - BVerwGE 71, 139 ff, 144; BVerwG Urteil vom 18.5.2000 - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200 ff, 203; Bayerischer VGH Urteil vom 6.3.2001 - 12 ZE 01.425; VGH Baden-Württemberg Beschluss vom 14.9.1998 - 7 S 1874/98 - ZfSH/SGB 1998, 747 ff; OVG Bremen Urteil vom 18.12.2013 - S 3 A 205/12 - juris RdNr 54; offengelassen BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 36).

22

Die im Anhang III (weiterhin) erfassten Urkunden ("Aufenthaltsgenehmigung nach § 5 des Ausländergesetzes vom 9. Juli 1990, auf besonderem Blatt erteilt oder im Ausweis eingetragen. Aufenthaltserlaubnis für Angehörige eines Mitgliedstaats der EWG. Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis, nachgewiesen durch eine entsprechende Bescheinigung oder durch Eintragung in Ausweis: "Ausländerbehördlich erfasst" ) geben allerdings die seit längerer Zeit nicht mehr geltende Rechtslage nach § 1 Abs 4 des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (AufenthG/EWG) in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9.7.1990 (BGBl I 1354, 1379), aufgehoben mit Wirkung vom 1.1.2005 durch das Zuwanderungsgesetz 2004 vom 30.7.2004 (BGBl I 1950), wieder. Die Bundesrepublik Deutschland hat es bisher versäumt, den Generalsekretär des Europarats über eine Änderung der nationalen Gesetzgebung zu unterrichten und mitzuteilen, welche Urkunden - nach der Umsetzung der RL 2004/38/EG durch das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) vom 30.7.2004 (BGBl I 1950, 1986) - als Nachweis eines erlaubten Aufenthalts im Sinne des EFA anzusehen sind.

23

Bei einer derartigen Unterlassung erfolgt grundsätzlich eine Anpassung der Interpretation von völkerrechtlichen Abkommen im Sinne einer Auseinandersetzung mit der Vergleichbarkeit des jeweils im Streit stehenden Aufenthaltsstatus (vgl zB OVG Bremen Urteil vom 18.12.2013 - S 3 A 205/12 - juris RdNr 54 ff; BVerwG Urteil vom 18.5.2010 - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200 ff, 204 zur Anpassung bei "redaktionellen Etikettenwechsel" ohne materielle Änderung des Aufenthaltserlaubnistatbestandes). Insofern ist der 14. Senat des BSG im Falle eines Unionsbürgers mit einem von den Vorinstanzen festgestellten Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche (§ 2 Abs 2 Nr 1a FreizügG/EU nF)- auch in Anknüpfung an die Praxis der Ausländerbehörden - davon ausgegangen, dass durch eine Freizügigkeitsbescheinigung ein erlaubter Aufenthalt im Sinne des EFA nachgewiesen werden könne. Dies hat er ua damit begründet, dass insoweit an die Stelle der Aufenthaltserlaubnis-EG die Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU getreten sei(BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 17, 37 f).

24

Der Kläger verfügt hier lediglich über eine anlässlich eines früheren Antrags auf SGB II-Leistungen angeforderte "Aufenthaltsbescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU" vom 29.8.2012, mit der schon mangels Aktualität der Bescheinigung ein im streitigen Leistungszeitraum rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne einer weiterhin bestehenden Freizügigkeitsberechtigung (§ 2 FreizügG/EU)nicht unterstellt werden kann. Zudem ist die vormals gesetzlich vorgesehene Möglichkeit der Dokumentation eines sich unmittelbar aus Unionsrecht ergebenden Aufenthaltsrechts (vgl Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, § 5 FreizügG/EU RdNr 9)mit der Streichung der nach alter Rechtslage unverzüglich von Amts wegen ausgestellten Bescheinigung nach § 5 Abs 1 FreizügG/EU mit Wirkung ab 29.1.2013 durch das FreizügG/EU2004uaÄndG ersatzlos entfallen. Zwar hat der Gesetzgeber zur Aufhebung des § 5 Abs 1 FreizügG/EU auf eine "Senkung des Verwaltungsaufwandes" verwiesen und zutreffend ausgeführt, dass das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger unmittelbar aus dem Unionsrecht "fließt"(vgl BT-Drucks 17/10746, S 11). Gleichzeitig fehlt es aber nunmehr an einer für die Sozialbehörden und die Sozialgerichtsbarkeit praktikablen Handhabe zum Nachweis eines (weiterhin) rechtmäßigen Aufenthalts von Unionsbürgern im Bundesgebiet (vgl hierzu die Hinweise des Generalanwalts Villalón - Rs C-308/14 - vom 6.10.2015, juris RdNr 80 auf die Regelungen des Art 8 RL 2004/38/EG, "die es erlauben, die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts eines Unionsbürgers, der nicht Angehöriger des Aufnahmemitgliedstaats ist, anhand einer Bescheinigung nachzuweisen, für deren Ausstellung die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats bereits geprüft haben, dass insbesondere die Voraussetzungen von Art 7 [RL 2004/38/EG] erfüllt sind"; zur Einordnung der vormaligen Freizügigkeitsbescheinigung als Beweismittel für den Unionsbürger im Rechtsverkehr vgl auch Harms in Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms/Kreuzer, ZuwG, 2. Aufl 2008, § 5 FreizügG/EU RdNr 3).

25

Der Senat geht davon aus, dass - in Anlehnung an die vormalige Anknüpfung an § 1 Abs 4 AufenthG/EWG - eine (weiterhin bestehende) materielle Freizügigkeitsberechtigung für einen erlaubten Aufenthalt im Sinne des EFA vorausgesetzt wird(vgl auch zum Grundsatz der "souveränitätsschonenden Auslegung": BVerwG Urteil vom 14.3.1985 - 5 C 145/83 - BVerwGE 71, 139 ff, 144). Fehlt eine solche im streitigen Zeitraum, wäre dem Kläger jedenfalls Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII als Ermessensleistung zu erbringen. Im Falle eines verfestigten Aufenthalts des Klägers ist das Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG in dem Sinne auf Null reduziert, dass regelmäßig Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist (vgl hierzu im Einzelnen Urteil des Senats vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 53 ff).

26

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt.

(1) Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, ist Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach diesem Buch zu leisten. Die Vorschriften des Vierten Kapitels bleiben unberührt. Im Übrigen kann Sozialhilfe geleistet werden, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Die Einschränkungen nach Satz 1 gelten nicht für Ausländer, die im Besitz einer Niederlassungserlaubnis oder eines befristeten Aufenthaltstitels sind und sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten. Rechtsvorschriften, nach denen außer den in Satz 1 genannten Leistungen auch sonstige Sozialhilfe zu leisten ist oder geleistet werden soll, bleiben unberührt.

(2) Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes erhalten keine Leistungen der Sozialhilfe.

(3) Ausländer und ihre Familienangehörigen erhalten keine Leistungen nach Absatz 1 oder nach dem Vierten Kapitel, wenn

1.
sie weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch auf Grund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2.
sie kein Aufenthaltsrecht haben oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder
3.
sie eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen.
Satz 1 Nummer 1 und 3 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Hilfebedürftigen Ausländern, die Satz 1 unterfallen, werden bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen nach Satz 3. Hierüber und über die Möglichkeit der Leistungen nach Absatz 3a sind die Leistungsberechtigten zu unterrichten. Die Überbrückungsleistungen umfassen:
1.
Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege,
2.
Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe nach § 35 und § 35a, einschließlich der Bedarfe nach § 30 Absatz 7,
3.
die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen und
4.
Leistungen nach § 50 Nummer 1 bis 3.
Soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, werden Leistungsberechtigten nach Satz 3 zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Absatz 1 gewährt; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. Abweichend von Satz 1 Nummer 2 erhalten Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach Absatz 1 Satz 1 und 2, wenn sie sich seit mindestens fünf Jahren ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. Die Frist nach Satz 7 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des tatsächlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Ausländerrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

(3a) Neben den Überbrückungsleistungen werden auf Antrag auch die angemessenen Kosten der Rückreise übernommen. Satz 1 gilt entsprechend, soweit die Personen allein durch die angemessenen Kosten der Rückreise die in Absatz 3 Satz 5 Nummer 1 und 2 genannten Bedarfe nicht aus eigenen Mitteln oder mit Hilfe Dritter decken können. Die Leistung ist als Darlehen zu erbringen.

(4) Ausländer, denen Sozialhilfe geleistet wird, sind auf für sie zutreffende Rückführungs- und Weiterwanderungsprogramme hinzuweisen; in geeigneten Fällen ist auf eine Inanspruchnahme solcher Programme hinzuwirken.

(5) Hält sich ein Ausländer entgegen einer räumlichen Beschränkung im Bundesgebiet auf oder wählt er seinen Wohnsitz entgegen einer Wohnsitzauflage oder einer Wohnsitzregelung nach § 12a des Aufenthaltsgesetzes im Bundesgebiet, darf der für den Aufenthaltsort örtlich zuständige Träger nur die nach den Umständen des Einzelfalls gebotene Leistung erbringen. Unabweisbar geboten ist regelmäßig nur eine Reisebeihilfe zur Deckung des Bedarfs für die Reise zu dem Wohnort, an dem ein Ausländer seinen Wohnsitz zu nehmen hat. In den Fällen des § 12a Absatz 1 und 4 des Aufenthaltsgesetzes ist regelmäßig eine Reisebeihilfe zu dem Ort im Bundesgebiet zu gewähren, an dem der Ausländer die Wohnsitznahme begehrt und an dem seine Wohnsitznahme zulässig ist. Der örtlich zuständige Träger am Aufenthaltsort informiert den bislang örtlich zuständigen Träger darüber, ob Leistungen nach Satz 1 bewilligt worden sind. Die Sätze 1 und 2 gelten auch für Ausländer, die eine räumlich nicht beschränkte Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 23a, 24 Absatz 1 oder § 25 Absatz 4 oder 5 des Aufenthaltsgesetzes besitzen, wenn sie sich außerhalb des Landes aufhalten, in dem der Aufenthaltstitel erstmals erteilt worden ist. Satz 5 findet keine Anwendung, wenn der Wechsel in ein anderes Land zur Wahrnehmung der Rechte zum Schutz der Ehe und Familie nach Artikel 6 des Grundgesetzes oder aus vergleichbar wichtigen Gründen gerechtfertigt ist.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober 2013 insoweit aufgehoben, als er zur Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 11. Oktober 2010 bis 7. November 2011 verurteilt worden ist.

Insoweit wird die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20. November 2012 zurückgewiesen.

Die Beigeladene wird verurteilt, den Klägern Hilfe zum Lebensunterhalt für den Zeitraum vom 11. Oktober 2010 bis 7. November 2011 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beigeladene hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. Ansonsten haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Im Streit steht die Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Kläger im Zeitraum vom 11.10.2010 bis 7.11.2011.

2

Die Kläger sind rumänische Staatsangehörige. Die Kläger zu 1 und 2 zogen 2008 mit ihren beiden gemeinsamen Kindern - geboren 1992 und im Februar 1995 (Kläger zu 3) - von Rumänien bzw über Belgien nach Deutschland. Sie verfügen seit November 2008 über eine Freizügigkeitsbescheinigung/EU und die Kläger zu 1 und 2 seit Ende 2011 (nach dreijährigem Aufenthalt) über eine unbefristete Arbeitsberechtigung. Der Kläger zu 1 hatte in Rumänien eine Schlosserlehre absolviert, war dann zur Armee eingezogen worden und arbeitete 1993 bis 1995 als Taxifahrer sowie anschließend als Tagelöhner in der Landwirtschaft. Ein von ihm 1992/1993 in Deutschland gestellter Asylantrag wurde abschlägig beschieden. Seine Ehefrau ging in Rumänien keiner Erwerbstätigkeit nach. Sie übt seit dem 8.11.2012 eine mit 200 Euro netto monatlich geringfügig entlohnte Beschäftigung aus. Bis Ende 2010 verkauften die Kläger zu 1 und 2 die Obdachlosenzeitung "Fifty-Fifty" zu einem Abgabepreis von 1,80 Euro und einem "Einkaufspreis" von 0,90 Euro. Der Differenzbetrag von rund je 120 Euro im Monat verblieb bei ihnen. Der Kläger zu 1 hatte vom 13.10.2008 bis 29.10.2009 ein Gewerbe angemeldet ("Abbruch- und Entkernungsarbeiten, Hilfsarbeiten auf Baustellen"), das er jedoch nicht betrieb und mit dem er auch keine Einkünfte erzielte. Für die beiden Söhne erhielten die Eheleute Kindergeld in Höhe von je 184 Euro. Die Söhne besuchten in Deutschland die Schule.

3

Erstmals Ende 2009 lehnte der Beklagte die Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bindend ab. Ein erneuter Antrag der Kläger vom 11.10.2010, den sie mit der Einreise zur Arbeitsuche begründeten, wurde vom Beklagten ebenfalls abschlägig beschieden (Bescheid vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2010). Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes hiergegen verpflichtete das LSG den Beklagten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 17.5.2011 bis maximal zum 17.11.2011 zu erbringen. Dies führte der Beklagte durch Bescheide vom 14.6., 7.7., 26.7. und 1.8.2011 aus. Ebenso vollzog sich das Verfahren nach einem weiteren Antrag der Kläger vom 7.11.2011 (ablehnender Bescheid vom 15.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2011, Ausführungsbescheide des Beklagten vom 22.6.2012 nach dem Erlass einer einstweiligen Anordnung des LSG für den Zeitraum vom 23.11.2011 bis 30.6.2012). Am 14.1.2013, der Höhe nach geändert durch Bescheid vom 5.2.2013, bewilligte der Beklagte den Klägern die begehrten Leistungen ab dem 1.11.2012, also seit dem Monat der Aufnahme der Beschäftigung durch die Klägerin zu 2.

4

Die gegen den Bescheid vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2010 erhobene Klage hat das SG durch Urteil vom 20.11.2012 unter Hinweis darauf, dass die Kläger nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen seien, abgewiesen. Auf die Berufung der Kläger hat das LSG dieses Urteil geändert und den Beklagten unter Änderung der benannten Bescheide verurteilt, den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften für den Zeitraum vom 11.10.2010 bis 7.11.2011 zu bewilligen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 SGB II greife im Falle der Kläger nicht. Sie verfügten über kein materielles Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland. Der Sohn der Kläger zu 1 und 2 (Kläger zu 3) sei im streitigen Zeitraum Schüler gewesen. Die Kläger zu 1 und 2 seien keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Das vom Kläger zu 1 angemeldete Gewerbe sei nie betrieben und es seien keine Einkünfte daraus erzielt worden. Der Verkauf der Obdachlosenzeitung stelle keine Beschäftigung dar, die zu einem Status als Arbeitnehmer geführt haben könne. Es handele sich dabei um eine untergeordnete Tätigkeit, die nicht in einem Arbeitsverhältnis verrichtet worden sei. Die Kläger zu 1 und 2 seien auch nicht arbeitsuchend gewesen, denn sie hätten allein wegen der Sprachbarrieren keine Chance auf Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt gehabt. Daher komme es auch nicht darauf an, dass die Kläger vor dem 1.10.2011 über eine unbefristete Freizügigkeitsberechtigung/EU verfügt hätten. Auf einen EU-Bürger ohne materielles Aufenthaltsrecht finde der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II keine Anwendung. Dies erschließe sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, die auf den Aufenthaltszweck "allein zur Arbeitsuche" abstelle. Eine erweiternde Auslegung im Sinne des Erst-Recht-Schlusses komme wegen des Ausnahmecharakters des Ausschlusses nicht in Betracht. Die Vorschrift sei nicht analogiefähig. Es liege keine unbeabsichtigte Regelungslücke vor. Dass der aus dem mangelnden Aufenthaltsrecht folgende Ausweisungsgrund nicht vollzogen werde, sei kein Grund, EU-Bürger von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in erweiternder Auslegung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II auszuschließen(Urteil des LSG vom 10.10.2013).

5

Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und begründet sie damit, dass das Urteil des LSG § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II verletze. Die dortige Auslegung der Vorschrift führe dazu, dass ausgerechnet Personen, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht oder kaum integrierbar seien, vom Leistungsausschluss für arbeitsuchende Unionsbürger nicht betroffen würden.

6

Er beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober 2013 aufzuheben und die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20. November 2012 zurückzuweisen.

7

Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Beigeladene zu verurteilen, ihnen Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII im Zeitraum vom 11. Oktober 2010 bis 7. November 2011 zu gewähren.

8

Sie halten die Ausführungen des LSG für zutreffend. Zwar sei nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Alimanovic nun klargestellt, dass der in § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II formulierte Leistungsausschluss europarechtskonform sei. Dies betreffe jedoch nicht die Kläger. Bei ihnen liege es näher, einen Vergleich zu der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Dano zu ziehen, wonach wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu erbringen seien. Insoweit mangele es jedoch an einer einfachgesetzlichen Regelung im deutschen Recht.

9

Die Beigeladene hat keinen eigenen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

10

Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG, soweit es den Beklagten zur Leistungserbringung verurteilt hat, begründet. Die Beigeladene ist verpflichtet, die Existenzsicherung der Kläger nach den Vorschriften des SGB XII zu gewährleisten.

11

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (2.). Sie können jedoch Hilfe zum Lebensunterhalt von der Beigeladenen nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII beanspruchen (3.).

12

1. Streitgegenstand ist die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, die der Beklagte durch Bescheid vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2010 abgelehnt hat. Der streitige Zeitraum beginnt mit der Antragstellung am 11.10.2010, als dem "Türöffner" für das Verwaltungsverfahren (zuletzt BSG vom 24.4.2015 - B 4 AS 22/14 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 71 RdNr 17), und endet, da die Kläger ihr Begehren im zweitinstanzlichen Gerichtsverfahren bis zu diesem Zeitpunkt beschränkt haben, mit der erneuten Antragstellung am 7.11.2011. Die die Entscheidungen des LSG im vorläufigen Rechtsschutz ausführenden Bescheide des Beklagten sind, wie das LSG zutreffend befunden hat, nicht nach § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden(vgl BSG vom 27.6.2013 - B 10 EG 2/12 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 21 RdNr 20 mwN; s auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 96 RdNr 4b unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BSG).

13

Unschädlich ist auch, dass die Kläger im Berufungsverfahren, trotz der Beiladung der Stadt Gelsenkirchen, nicht zumindest hilfsweise deren Verurteilung oder Verpflichtung zur Leistungserbringung nach dem SGB XII beantragt haben. Im Falle der - hier vom LSG vorgenommenen notwendigen Beiladung nach § 75 Abs 2 2. Alt SGG (unechte notwendige Beiladung) - ist zumindest davon auszugehen, dass die Kläger hilfsweise die Verurteilung der Beigeladenen begehren (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 75 RdNr 18a; weitergehend BSG vom 28.5.2015 - B 7 AY 4/12 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen - RdNr 10). Denn nach § 75 Abs 5 SGG darf der beigeladene Träger verurteilt werden, obwohl er nicht verklagt ist. Mit der Vorschrift des § 75 Abs 2 2. Alt iVm Abs 5 SGG unterstellt der Gesetzgeber, dass der Kläger zwar in erster Linie die Verurteilung des beklagten Trägers, hilfsweise jedoch auch die jedes anderen in Frage kommenden Trägers begehrt. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Kläger diese Verurteilung ausdrücklich ablehnt ( BSG vom 15.1.1959 - 4 RJ 111/57 - BSGE 9, 67, 70; BSG vom 2.11.2000 - B 11 AL 25/00 R - RdNr 25). Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Bei dem im Revisionsverfahren gestellten Hilfsantrag auf Verurteilung der Beigeladenen handelt es sich aus diesen Gründen auch nicht um eine an sich im Revisionsverfahren nach § 168 S 1 SGG nicht mehr zulässige Klageänderung im Sinne der Klageerweiterung(vgl hierzu BSG vom 30.1.1985 - 2 RU 69/83 - SozR 1500 § 168 Nr 3; BSG vom 4.2.1965 - 11/1 RA 312/63 - SozR Nr 27 zu § 75 SGG; s auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 168 RdNr 2c und § 75 RdNr 12a).

14

Ebenso wenig wird die Zulässigkeit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage dadurch berührt, dass die Kläger bereits vorläufige Leistungen erhalten haben. Dies war zum einen nur für einen Teil des hier streitigen Zeitraums der Fall (BSG vom 16.5.2012 - B 4 AS 105/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 30 RdNr 12 zur Unzulässigkeit bei dem Ausscheiden jeglichen Zahlungsanspruchs). Zum anderen hat sich der Rechtsstreit nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch nicht teilweise dadurch erledigt, dass für den Fall der nunmehr beantragten hilfsweisen Verurteilung der Beigeladenen die Leistungserbringung des Sozialhilfeträgers bereits (teilweise) als erfüllt iS des § 107 Abs 1 SGB X gilt(BSG vom 8.8.1990 - 11 RAr 79/88 - SozR 3-1300 § 104 Nr 3 S 4 f; BSG vom 9.9.1993 - 7/9b RAr 28/92 - BSGE 73, 83, 84 f = SozR 3-4100 § 58 Nr 5 S 11; BSG vom 16.5.2012 - B 4 AS 105/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 30 RdNr 12).

15

2. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gegen den Beklagten. Sie sind unabhängig von der bestehenden Hilfebedürftigkeit iS des § 7 Abs 1 S 1 Nr 3 iVm § 9 SGB II, ihres gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland(§ 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB II; vgl zum Begriff des "gewöhnlichen Aufenthalts" BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34 RdNr 17 ff)und der Erfüllung der Altersgrenzen des § 7 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB II im streitigen Zeitraum zumindest durch die Kläger zu 1 und 2 sowie deren Erwerbsfähigkeit(§ 7 Abs 1 S 1 Nr 2 iVm § 8 SGB II - auch nach § 8 Abs 2 SGB II, weil ihnen als Rumänen trotz seinerzeit nur eingeschränkter Arbeitnehmerfreizügigkeit als EU-Ausländern die Aufnahme einer Beschäftigung hätte erlaubt werden können, vgl BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 14 ff)von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aufgrund von § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 und 2 SGB II(idF vom 28.8.2007 durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007, BGBl I 1970, 2008) ausgeschlossen. Danach sind von den benannten Leistungen ausgenommen 1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts und 2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt und ihre Familienangehörigen.

16

a) Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 und 2 SGB II unterfallen die Kläger nicht einer Ausnahme von der Leistungsberechtigung nach § 7 Abs 1 S 1 SGB II. Sie haben sich im streitigen Zeitraum vom 11.10.2010 bis 7.11.2011 bereits mehr als drei Monate in Deutschland aufgehalten, denn sie sind im Herbst des Jahres 2008 eingereist. Ihr Aufenthaltsrecht ergibt sich auch nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. So sind die Kläger zu 1 und 2 zwar zur Arbeitsuche in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Für den hier streitigen Zeitraum folgt hieraus jedoch kein materielles Aufenthaltsrecht mehr. Sie waren nicht mehr arbeitsuchend iS des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II.

17

Der Begriff der "Arbeitsuche" ist im vorliegenden Kontext freizügigkeitsrechtlich geprägt. Der Gesetzgeber hat in § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II - anders als in § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II - zwar nicht ausdrücklich Bezug auf die Regelungen des FreizügG/EU genommen. Aus der Verknüpfung mit dem "Aufenthaltsrecht" folgt jedoch bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift, dass die dortigen Regelungen sowie die der RL 2004/38/EG zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals der "Arbeitsuche" heranzuziehen sind. Dies wird durch den Gesetzentwurf zur Änderung des S 2 des § 7 Abs 1 SGB II(BT-Drucks 16/5065 S 234; Änderung des SGB II zum 28.8.2007 durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007, BGBl I 1970, 2008) bestätigt. Danach sollten mit den Neuregelungen in § 7 Abs 1 S 2 SGB II die Unionsbürgerrichtlinie RL 2004/38/EG im Leistungsrecht umgesetzt und insbesondere von der Möglichkeit des Leistungsausschlusses nach Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG Gebrauch gemacht werden. Diese Norm regelt, dass vom Grundsatz der Gleichbehandlung aller Unionsbürger abgewichen werden kann, wenn die betreffende Person weder Arbeitnehmer, noch Selbstständiger oder deren Familienangehöriger ist und sie diesen Status nicht erhalten konnte (vgl hierzu Art 7 Abs 3 Buchst b und c RL 2004/38/EG). Sofern sie als Arbeitsuchende in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates eingereist ist, sieht die Richtlinie durch Art 14 Abs 4 Buchst b RL 2004/38/EG solange eine Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts als Arbeitsuchende vor, solange sie nachweisen kann, dass sie weiterhin Arbeit sucht und sie eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. Diese Regelung hat der Gesetzgeber zwischenzeitlich (mW ab dem 9.12.2014, BGBl I 1922) ins FreizügG/EU übernommen. In dessen § 2 Abs 2 S 1 Nr 1a FreizügG/EU ist nunmehr geregelt, dass freizügigkeitsberechtigt Unionsbürger sind, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Der dies tragende Grundgedanke der Aussicht auf Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist jedoch wegen der Gründung des Normtextes des § 7 Abs 1 S 2 SGB II auf der RL 2004/38/EG auch bereits im streitigen Zeitraum zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Arbeitsuche heranzuziehen.

18

Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs ist die Annahme des LSG revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass sich die Freizügigkeitsberechtigung der Kläger zu 1 und 2 im streitigen Zeitraum nicht mehr allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergab. Auf Grundlage der Anhörung der Kläger in der mündlichen Verhandlung sowie beigezogener Auskünfte und Beratungsvermerke der BA ist das LSG zu dem Ergebnis gelangt, dass sie im streitigen Zeitraum keine realistische Chance auf Erlangung eines Arbeitsplatzes hatten. Die Kläger zu 1 und 2 verfügten nicht über eine verwertbare berufliche Qualifikation oder Ausbildung, nennenswerte Berufserfahrung und deutsche Sprachkenntnisse. Diese fehlenden Kenntnisse stellten ein erhebliches Hindernis bei der Arbeitsuche dar. Zudem war zu berücksichtigen, dass ihre Berechtigung, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, im streitigen Zeitraum zusätzlich noch durch das Erfordernis einer Arbeitsgenehmigung-EU iS des § 284 SGB III(in den hier einschlägigen Fassungen vom 7.12.2006 BGBl I 2814 und vom 20.12.2011 mWv 1.5.2011 BGBl I 2854) iVm der Arbeitserlaubnis-EU nach § 39 Abs 2 S 1 Nr 1 Buchst b AufenthG(in den hier einschlägigen Fassungen vom 25.2.2008, BGBl I 162 und 20.12.2011, mWv 1.5.2011 BGBl I 2854, 2921) - für Unionsbürger aus Rumänien in der ersten Beitrittszeit - beschränkt war. Danach brauchte die BA der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung nur zuzustimmen, wenn für die Beschäftigung deutsche Arbeitnehmer sowie Ausländer, die diesen hinsichtlich der Arbeitsaufnahme rechtlich gleichgestellt waren, oder andere Ausländer, die nach dem Recht der Europäischen Union einen Anspruch auf vorrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt hatten, nicht zur Verfügung standen. Die begründete Aussicht, dass diese beim Fehlen jeglicher Qualifikation der Arbeitsuchenden, wie vorliegend, zur Verfügung stehen, hat das LSG ohne Rechtsfehler negiert. Da die Kläger sich zu Beginn des hier streitigen Zeitraums zudem bereits mehr als zwei Jahre in Deutschland aufgehalten hatten, ohne eine Erwerbstätigkeit ausgeübt zu haben, unterliegt der vom LSG weiter gezogene Schluss der objektiv nicht bestehenden Aussicht der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit keinen durchgreifenden Zweifeln (vgl zum zeitlichen Umfang der materiellen Freizügigkeitsberechtigung der Arbeitsuche: EuGH Rs Antonissen vom 26.2.1991 - C-292/89 RdNr 21; s auch Devetzi, EuR 2014, 638, 642; Lehmann, ZAR 2015, 212, 215; Thym, NJW 2015, 130, 133).

19

b) Die Kläger waren jedoch, auch wenn sie nicht den ausdrücklich normierten Ausnahmen des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 und 2 SGB II unterfallen, gleichwohl von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Denn sie verfügten über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des FreizügG/EU oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht. Damit unterfielen sie "erst-recht" dem Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 SGB II. Die Vorschrift ist insoweit planwidrig lückenhaft, als sie nicht ausdrücklich den Ausschluss auch derjenigen normiert, die über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht verfügen, weil sie einen Leistungsausschluss schon für solche Ausländer anordnet, die sich auf eine solche materielle Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des FreizügG/EU berufen können.

20

Der "Erst-Recht-Schluss" ist eine Untergruppe oder ein Spezialfall des Analogieschlusses. Die analoge Anwendung einfachgesetzlicher Vorschriften ist eine anerkannte Methode der richterlichen Rechtsfortbildung und verfassungsrechtlich unter Beachtung der Schranken des Art 20 Abs 3 GG zulässig. Denn hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar war (BVerfG vom 3.4.1990 - 1 BvR 1186/89 - BVerfGE 82, 6, 11). Daher setzt der Analogieschluss voraus, dass das Gesetz - hier im Hinblick auf eine bestimmte Personengruppe - lückenhaft, also angesichts der erkennbaren Regelungsabsicht des Gesetzgebers "planwidrig" unvollständig ist (vgl dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl 1991, S 373, 375; s nur BSG vom 25.6.2009 - B 10 EG 8/08 R - BSGE 103, 291 = SozR 4-7837 § 2 Nr 2 RdNr 31 mwN). Es muss an der nach dem Regelungsplan des Gesetzes zu erwartenden Regel mangeln (BVerwG vom 11.9.2008 - 2 B 43/08 - Buchholz 237.7 § 23 NWLBG Nr 1 mwN). Dem "Erst-Recht-Schluss" selbst liegt dabei die Erwägung zugrunde, die analoge Anwendung sei immer dann gerechtfertigt, wenn die rechtspolitischen Gründe (Normzwecke) einer Vorschrift bei einem nicht geregelten Lebenssachverhalt noch stärker gegeben sind als bei dem geregelten Normtatbestand (vgl nur Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 8. Aufl 2015, RdNr 898). Dies ist hier im Hinblick auf Unionsbürger oder Ausländer, die über keine Freizügigkeitsberechtigung oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht verfügen, der Fall, wie sich aus der Entstehungsgeschichte der Ausschlussregelung, ihrem systematischen Zusammenhang sowie dem Sinn und Zweck der benannten Vorschrift erschließt (vgl zur Feststellung des Regelungsplans des Gesetzgebers bei einer Unvollständigkeit des Gesetzes, Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl 1991, S 373).

21

(aa) Nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II in der ab dem 1.1.2005 geltenden Fassung des Gesetzes zur optionalen Trägerschaft von Kommunen nach dem SGB II (vom 30.7.2004, BGBl I 2014) waren Ausländer unter den Voraussetzungen des § 8 Abs 2 SGB II leistungsberechtigt. Ein Ausschluss oder eine Beschränkung der Leistungsberechtigung für Unionsbürger waren mithin nicht vorgesehen. Mit der Neufassung des § 7 Abs 1 S 2 SGB II durch das Gesetz zur Änderung des 2. Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (vom 24.3.2006, BGBl I 558) ergänzt durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (vom 19.8.2007, BGBl I 2008) erfolgte dann ein grundlegender Paradigmenwechsel. Es sollte von der Option des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG Gebrauch gemacht werden (BT-Drucks 16/5065 S 234). Für Unionsbürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, sollte eine weitere leistungsrechtliche Hürde geschaffen werden, sofern sie wegen des vorbehaltlosen Aufenthalts in den ersten drei Monaten oder allein zum Zweck der Arbeitsuche freizügigkeitsberechtigt sind (BT-Drucks 16/5065 S 234; BT-Drucks 16/688 S 13). Leistungsberechtigt sollten sie nur sein, wenn sie über eine von § 7 Abs 1 S 2 SGB II nicht erfasste Freizügigkeitsberechtigung oder ein sonstiges Aufenthaltsrecht verfügen. Hieraus folgt umgekehrt, dass nicht freizügigkeits- oder aufenthaltsberechtigte Unionsbürger nach dem gesetzgeberischen Plan von vornherein nicht leistungsberechtigt sein sollten.

22

(bb) Dies entspricht auch der Binnensystematik und der Verknüpfung des § 7 Abs 1 S 2 SGB II mit dem im Gesetzentwurf unter Bezug genommenen Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG. Danach ist der Aufnahmemitgliedstaat - unter Hintanstellung des Gleichbehandlungsgrundsatzes - nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art 14 Abs 4 Buchst b RL 2004/38/EG (Zeitraum der Arbeitsuche, s unter 2.a) einen Anspruch auf Sozialhilfe (…) zu gewähren. Das Gleichbehandlungsgebot, also auch die Verpflichtung zur Gleichbehandlung bei der Gewährung existenzsichernder Leistungen, gilt mithin umgekehrt grundsätzlich nur dann, wenn eine Freizügigkeitsberechtigung des Unionsbürgers im Sinne der Richtlinie gegeben ist. Zugleich wird im Hinblick auf den Aufenthalt in den ersten drei Monaten und zur Arbeitsuche durch den Hinweis auf Art 14 Abs 4 Buchst b RL 2004/38/EG eine Ausnahme normiert. Mit der Einfügung der Nr 1 und 2 in den S 2 des § 7 Abs 1 SGB II sollte demnach von den unionsrechtlich eröffneten Ausschlussgründen auch bei Bestehen einer Freizügigkeitsberechtigung Gebrauch gemacht werden. Hierin fügt sich die Systematik der Rückausnahmen in § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II für freizügigkeitsberechtigte Arbeitnehmer und Selbstständige sowie ihre Familienangehörigen ein. Dementsprechend haben die beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG im Hinblick auf Nr 2 des § 7 Abs 1 S 2 SGB II bisher schon unter Bezug auf § 11 FreizügG/EU (Regelung der Anwendung des AufenthG) angenommen, dass in Fällen, in denen ein anderes Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG - auch neben dem zum Zwecke der Arbeitsuche - besteht, etwa aus anderen familiären Gründen, der Ausschluss ebenfalls nicht eingreift(BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 30 ff; BSG vom 25.1.2012 - B 14 AS 138/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 28, RdNr 20 ff).

23

Dass der Gesetzgeber es planwidrig unterlassen hat, auch die nicht freizügigkeits- oder aufenthaltsberechtigten Ausländer ausdrücklich von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auszuschließen, belegt auch die nachfolgende Kontrollüberlegung zu dem System der Eingliederungsleistungen im SGB II. Nach der Grundkonzeption des SGB II ist es Ziel dieser Leistungen, dass leistungsberechtigte Personen ohne eine Erwerbstätigkeit bei der Aufnahme einer solchen unterstützt werden, also Arbeit zu finden und, wenn sie bisher erfolglos Arbeit gesucht haben, dies mit einer Unterstützung durch Eingliederungsleistungen erfolgreich zu tun. Wenn ein EU-Ausländer aber Leistungen nach §§ 16 ff SGB II für eine erfolgreiche Arbeitsuche erhält, liegen die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II (wieder) vor. Dass ein solcher Zirkelschluss vom Gesetzgeber gewollt war, kann nicht angenommen werden. Es ist daher vielmehr davon auszugehen, dass es seinem Plan entsprach, in den Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 SGB II auch die Ausländer einzubeziehen, die keine oder objektiv ohne Erfolgsaussichten Arbeit suchen.

24

(cc) Auch wäre es sinnwidrig und würde der sozialpolitischen Zweckrichtung der Regelung widersprechen, hätten gerade nicht materiell freizügigkeits- oder aufenthaltsberechtigte Ausländer einen Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weil sie nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift nicht von Leistungen ausgeschlossen sind. Sie sind vielmehr, weil ihre Leistungsberechtigung im eigentlichen Sinne nicht gewollt war, "erst-recht" von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen. Mit der Ausschlussregelung sollte ein Zuzug von Ausländern in den SGB II-Leistungsbezug verhindert werden, soweit keine Verpflichtung zur Gleichbehandlung mit Inländern besteht (vgl BT-Drucks 16/5065 S 234). Nur wer als Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt ist - über das Aufenthaltsrecht in den ersten drei Monaten und zur Arbeitsuche hinaus - sollte daher einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen aus dem SGB II erhalten, etwa aufstockend neben der Tätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger, während der nachgehenden Statuserhaltung oder als deren Familienangehörige. Nach Ablauf der ersten drei Monate des Aufenthalts sei, so die Begründung im Gesetzentwurf, das weitere Aufenthaltsrecht vom Aufenthaltszweck abhängig und damit auch die Leistungsberechtigung nach dem SGB II. So sollte sichergestellt werden, dass durch die Neuregelung im Freizügigkeitsgesetz/EU - die RL 2004/38/EG umsetzend - keine Regelungslücke entsteht (vgl BT-Drucks 16/5065 S 234). Die materielle Freizügigkeits- oder Aufenthaltsberechtigung kann damit nicht hinweggedacht werden, ohne dass die Ausschlussregelung ihren Sinn verlöre.

25

c) Die Kläger konnten sich nicht auf eine materielle Freizügigkeitsberechtigung berufen.

26

(aa) Die Kläger waren nicht als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigt. Der Begriff des Arbeitnehmers in § 7 Abs 1 S 2 SGB II ist, wie die Wortverbindung in dessen Nr 1 zum FreizügG/EU bereits zeigt, ebenfalls europarechtlich geprägt; durch dieses Gesetz wird die, die Freizügigkeitsrechte der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen innerhalb der Union regelnde RL 2004/38/EG - auf Grundlage der Europäischen Verträge - in das nationale Recht umgesetzt (Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, Vorbemerkung 0.1.2 zum Freizügigkeitsgesetz/EU). Eine kodifizierte Definition des Arbeitnehmerbegriffs findet sich im Europarecht zwar nicht. Es ist daher auf die Ausprägung dessen zurückzugreifen, die er auf Grundlage der Rechtsprechung des EuGH erfahren hat. Die Arbeitnehmereigenschaft wird danach bei der Ausübung einer tatsächlichen und echten Tätigkeit als gegeben angesehen, was gestützt auf objektive Kriterien und in einer Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen, festzustellen ist (EuGH Rs Ninni-Orasche vom 6.11.2003 - C-413/01 RdNr 24; EuGH vom 21.2.2013 - C-46/12 RdNr 39 ff; Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, § 2 FreizügG/EU RdNr 37; Tewocht in Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 9. Edition, Stand XI/2015, § 2 FreizügG/EU RdNr 18 ff). Um Arbeitnehmer zu sein, muss die betreffende Person während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringen, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Dabei sind nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses (EuGH Rs Genc vom 4.2.2010 - C-14/09 RdNr 27). Dies bedeutet, dass eine Integration in den Betrieb des Arbeitgebers gegeben sein muss, bei der die betreffende Person unter der Weisung oder Aufsicht eines Dritten steht, der die zu erbringenden Leistungen und/oder die Arbeitszeiten vorschreibt und dessen Anordnungen durch den Arbeitnehmer zu befolgen sind (vgl Hoffmann in Hofmann/Hoffmann, HK-AuslR, 1. Aufl 2008, § 2 FreizügG/EU RdNr 8). Unter Anwendung dieses Maßstabs und auf Grundlage seiner Feststellungen hat das LSG vorliegend die Arbeitnehmereigenschaft der Kläger zu 1 und 2 zutreffend verneint.

27

Die Kläger zu 1 und 2 haben die Obdachlosenzeitung "Fifty-Fifty" verkauft. Das LSG hat festgestellt, dass damit ein wirtschaftlicher Güteraustausch nicht verbunden gewesen sei, jedenfalls sei dies nicht der prägende Hauptzweck der Tätigkeit gewesen. Vielmehr habe es sich um eine dem Betteln gleichgestellte Tätigkeit gehandelt, die - nach einem Hinweis in dieser Zeitung - unter genehmigungsfreiem Gemeingebrauch des öffentlichen Straßenraumes erfolgte. Die Kläger zu 1 und 2 unterlagen auch nicht den Weisungen der karitativen Organisationen, die diese Zeitung herausgeben. Sie "kauften" die Zeitschriften bei den Herausgebern zum Zwecke des Straßenverkaufs und konnten - ohne weitere Weisungen zu deren Vertrieb - den Differenzbetrag zum Verkaufspreis zur eigenen Verfügung behalten.

28

(bb) Eine selbstständige Erwerbstätigkeit ist - ebenfalls unter Berücksichtigung der europarechtlichen Implikationen - jede Art der wirtschaftlichen Tätigkeit, die in eigener Verantwortung und weisungsfrei erfolgt (Tewocht in Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 9. Edition, Stand XI/2015, § 2 FreizügG/EU RdNr 32). Eine Gewinnerzielungsabsicht muss nicht vorrangiges oder einziges Ziel sein, sie muss aber vorhanden sein. Rein karitative Tätigkeiten fallen nicht hierunter; die Tätigkeit muss daher erwerbsorientiert sein, wobei alle Tätigkeiten erfasst werden, sofern sie mit einer entgeltlichen Gegenleistung verbunden sind und eine Teilnahme am Wirtschaftsleben darstellen (EuGH Rs Sodemare vom 17.6.1997 - C-70/95 RdNr 25; vgl auch Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, § 2 FreizügG/EU RdNr 78; Müller-Graff in Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl 2012, Art 49 AEUV RdNr 13). Der Selbstständige, der sich auf das Freizügigkeitsrecht der Niederlassungsfreiheit im Sinne der Art 49 ff AEUV berufen kann, muss auch tatsächlich eine wirtschaftliche Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit ausüben (EuGH Rs Factortame vom 25.7.1991 - C-221/89 RdNr 34; Tewocht in Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 9. Edition, Stand XI/2015, § 2 FreizügG/EU RdNr 33)und damit wirtschaftlich in einen anderen Mitgliedstaat integriert sein (Brinkmann in Huber, AufenthG, 1. Aufl 2010, § 2 FreizügG/EU RdNr 29).

29

Diese Voraussetzungen sind nach den zuvor dargelegten Bedingungen, unter denen die Kläger zu 1 und 2 dem Verkauf der Obdachlosenzeitung nachgegangen sind, nicht gegeben. Aber auch mit dem von dem Kläger zu 1 angemeldeten Gewerbebetrieb: "Abbruch- und Entkernungsarbeiten, Hilfsarbeiten auf Baustellen" erfüllte er nicht die Voraussetzungen um den Status als niedergelassener selbstständiger Erwerbstätiger erlangt zu haben. Er hat ausweislich der Feststellungen des LSG erklärt, das Gewerbe nie betrieben und auch keinen Gewinn erzielt zu haben. Abgesehen davon, dass er allein mit der Anmeldung des Gewerbebetriebes nicht am wirtschaftlichen Leben teilgenommen hat, war diese offensichtlich unter Zugrundelegung der getroffenen Feststellungen nicht erwerbsorientiert.

30

(cc) Damit entfällt zugleich der nachgehende Schutz als Arbeitnehmer oder Selbstständiger iS des § 2 Abs 3 FreizügG/EU für die Kläger zu 1 und 2. Danach bleibt für Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätige die Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs 1 FreizügG/EU unberührt ua bei(2.) unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbstständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbstständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit (S 1). Bei weniger als einem Jahr Beschäftigung gilt dies auch, jedoch nur während der Dauer von sechs Monaten nach der Beendigung der Tätigkeit (S 2). Ebenso wenig haben folglich die Familienangehörigen eine vom Status als Arbeitnehmer oder Selbstständiger abgeleitete Freizügigkeitsberechtigung iS des § 2 FreizügG/EU innegehabt.

31

(dd) Die Kläger waren auch nicht als nichterwerbstätige Unionsbürger iS des § 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Danach haben nicht erwerbstätige Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und ihre Lebenspartner, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, das Recht nach § 2 Abs 1 FreizügG/EU, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Zwar hat das LSG keine Feststellungen zum Krankenversicherungsschutz der Kläger getroffen. Dass sie nicht über ausreichende Existenzmittel verfügten, zeigt sich jedoch bereits daran, dass sie hilfebedürftig iS des § 7 Abs 1 Nr 3 iVm § 9 SGB II waren(vgl zum Maßstab der "nicht ausreichenden Existenzmittel": Thym, NJW 2015, 130, 132).

32

(ee) Anhaltspunkte für ein anderes Aufenthaltsrecht im Sinne des AufenthG sind ebenfalls nicht ersichtlich oder vorgebracht (vgl zum Vorliegen eines anderen Aufenthaltsrechts nur: BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 30 ff; BSG vom 25.1.2012 - B 14 AS 138/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 28, RdNr 20 ff).

33

(ff) Der fehlenden materiellen Freizügigkeitsberechtigung steht auch nicht entgegen, dass die Kläger zu 1 und 2 nach den bindenden Feststellungen des LSG im Besitz einer Freizügigkeitsbescheinigung/EU nach § 5 Abs 1 FreizügG/EU idF des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union(vom 19.8.2007, BGBl I 1970) waren. Das Ausstellen einer solchen Bescheinigung, die mit Wirkung zum 29.1.2013 im Übrigen abgeschafft worden ist (Streichung des § 5 Abs 1 FreizügG/EU in der vorbenannten Fassung durch das Gesetz zur Änderung des FreizügG/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vom 21.1.2013, BGBl I 86), lässt keine Rückschlüsse auf das Bestehen einer materiellen Freizügigkeitsberechtigung zu.

34

Ihre Ausstellung hatte allein deklaratorische Bedeutung (BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 20; Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, § 5 FreizügG/EU RdNr 4; noch offengelassen BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 13; s jedoch BSG vom 25.1.2012 - B 14 AS 138/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 28 RdNr 17). Auch solange § 5 Abs 1 FreizügG/EU idF vom 19.8.2007 noch in Kraft war, erfolgte die Prüfung der Freizügigkeitsberechtigung nach den Kriterien des § 2 FreizügG/EU. Das Freizügigkeitsrecht wurde und wird originär durch den EG-Vertrag/EUV/AEUV und seine Durchführungsbestimmungen begründet und nicht durch die Ausstellung der Aufenthaltskarte (EuGH Rs Dias vom 21.7.2011 - C-325/09 - RdNr 48; s auch VG Augsburg vom 5.6.2008 - Au 1 S 08.450 - juris-RdNr 35, 36). So war umgekehrt in der Vergangenheit die Ausstellung der Bescheinigung über das Freizügigkeitsrecht keine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Unionsbürgers im Bundesgebiet. Aufgrund der generellen Freizügigkeitsvermutung muss der Aufenthalt desjenigen Unionsbürgers, der schon bei seiner Einreise ins Bundesgebiet keinen Freizügigkeitstatbestand erfüllt hat, solange als rechtmäßig angesehen werden, bis die zuständige Ausländerbehörde das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts in entsprechender Anwendung des § 5 Abs 5 FreizügG/EU in der bis Januar 2013 geltenden Fassung oder nunmehr aufgrund von § 5 Abs 4 FreizügG/EU bzw der Missbrauchstatbestände in § 2 Abs 7 FreizügG/EU festgestellt hat. Erst die ausländerbehördliche Nichtbestehens- bzw Verlustfeststellung führt zur sofortigen Ausreisepflicht nach § 7 Abs 1 FreizügG/EU. Bis dahin darf sich ein Unionsbürger unabhängig vom Vorliegen einer materiellen Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 FreizügG/EU aufgrund der generellen Freizügigkeitsvermutung im Bundesgebiet aufhalten, ohne ausreisepflichtig zu sein(vgl BT-Drucks 16/5065 S 211 zu Art 2 Nr 8 Buchst a Doppelbuchst aa).

35

(d) Diese Auslegung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 und 2 SGB II ist auch europarechtskonform. Der EuGH hat sowohl in der Rechtssache Dano (vom 11.11.2014 - C-333/13) als auch in der Rechtssache Alimanovic (vom 15.9.2015 - C-67/14) in den hier gegebenen Fallkonstellationen die Zulässigkeit der Verknüpfung des Ausschlusses von Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten von existenzsichernden Leistungen mit dem Bestehen eines Aufenthaltsrechts im Sinne der RL 2004/38/EG ausdrücklich anerkannt. Nach seiner Rechtsprechung sind Art 24 Abs 1 der RL 2004/38/EG iVm ihrem Art 7 Abs 1 Buchst b und Art 4 VO 883/2004/EG dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter "besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen" im Sinne des Art 70 Abs 2 VO 883/2004/EG ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, sofern den betreffenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38/EG zusteht (EuGH Rs Dano vom 11.11.2014 - C-333/13 RdNr 84). In der Rechtssache Alimanovic hat der EuGH insoweit betont, dass Unionsbürger anderer EU-Staaten, die nach Deutschland eingereist sind, um Arbeit zu suchen, vom deutschen Gesetzgeber vom Bezug von Alg II oder Sozialgeld ausgeschlossen werden können, selbst wenn diese Leistungen als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen im Sinne des Art 70 VO 883/2004/EG eingeordnet werden (EuGH Rs Alimanovic vom 15.9.2015 - C-67/14 RdNr 63). Beim Alg II und Sozialgeld handele es sich um Leistungen der "Sozialhilfe" im Sinne des Art 24 Abs 2 der RL 2004/38/EG. Danach haben die Aufnahmestaaten jedoch keine Verpflichtung zur Gleichbehandlung ihrer Staatsangehörigen und solcher anderer EU-Mitgliedstaaten im Hinblick auf einen Anspruch auf Sozialhilfe, wenn Letztere nicht Arbeitnehmer oder Selbstständige sind oder ihnen dieser Status erhalten geblieben ist bzw Familienangehörige dieser sind (s hierzu auch Kingreen in NVwZ 2015, 1503, 1505 f; Padé in jM 2015, 414, 415).

36

3. Den Klägern steht jedoch ein Recht auf Existenzsicherung durch Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII gemäß § 23 Abs 1 S 3 SGB XII in gesetzlicher Höhe gegen die Beigeladene zu.

37

a) Die Kläger waren leistungsberechtigt im Sinne des Sozialhilferechts, weil sie im streitigen Zeitraum ihren Lebensunterhalt nicht iS des § 19 Abs 1 SGB XII iVm § 27 Abs 1 SGB XII aus eigenen Kräften und Mitteln decken konnten.

38

Nach § 19 Abs 1 SGB XII ist Personen Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten können. Dies war bei den Klägern, wie eingangs dargelegt, im streitigen Zeitraum der Fall. Ihr Bedarf im sozialhilferechtlichen Sinne ist dem Grunde nach zwar teilweise dadurch gedeckt worden, dass sie - durch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zugesprochene SGB II-Leistungen - den leistungslosen Zeitraum überstanden haben (vgl BSG vom 29.9.2009 - B 8 SO 16/08 R - BSGE 104, 213 = SozR 4-1300 § 44 Nr 20, RdNr 14 mwN). Insoweit greift für einen Teil des streitigen Zeitraums die Erfüllungsfiktion des § 107 SGB X ein.

39

b) Einem Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII stand auch eine mangelnde Kenntnis der Beigeladenen von der Bedürftigkeit der Kläger im streitigen Zeitraum nicht entgegen. Die Kläger haben zwar "nur" Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bei dem Beklagten beantragt. Die nach § 18 Abs 1 SGB XII erforderliche Kenntnis der Beigeladenen von dem Bedarf der Kläger liegt jedoch gleichwohl vor. Die Beigeladene muss sich insoweit die Kenntnis des Beklagten aufgrund des Antrags auf SGB II-Leistungen nach der gefestigten Rechtsprechung des BSG zurechnen lassen (BSG vom 2.12.2014 - B 14 AS 66/13 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 42 RdNr 25; BSG vom 13.2.2014 - B 8 SO 58/13 B - SozR 4-3500 § 25 Nr 4 RdNr 8; BSG vom 26.8.2008 - B 8/9b SO 18/07 R - SozR 4-3500 § 18 Nr 1 RdNr 22 ff).

40

c) Ebenso wenig waren die Kläger nach § 21 S 1 SGB XII von der Hilfe zum Lebensunterhalt ausgeschlossen. § 21 S 1 SGB XII bestimmt, dass Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten. Die Kläger waren im streitigen Zeitraum nicht dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II, weil sie dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II unterfielen. Dies führt dazu, sie dem System des SGB XII zuzuweisen. Die Erwerbsfähigkeit zumindest der Kläger zu 1 und 2 steht dem nicht entgegen.

41

Schon der Wortlaut des § 21 S 1 SGB XII stellt nicht ausschließlich auf das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit ab, sondern berücksichtigt einen Leistungsanspruch nach dem SGB II dem Grunde nach. Ist mithin ein Erwerbsfähiger wegen des Vorliegens der Voraussetzungen eines Leistungsausschlusses nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II, folgt hieraus nicht zwangsläufig ein Leistungsausschluss nach dem SGB XII (BSG vom 25.9.2014 - B 8 SO 6/13 R - BSGE = SozR 4-4200 § 44a Nr 1, RdNr 11). Die "Systemabgrenzung" erfordert vielmehr eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Leistungsausschlüsse (Eicher in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 21 RdNr 26, 34; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB XII, § 21 RdNr 46, Stand I/2014; so im Ergebnis auch Coseriu in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 23 RdNr 64). Im Grundsatz gilt für die Systemzuweisung aufgrund der Erwerbszentriertheit des SGB II, dass derjenige, der von dem auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ausgerichteten Leistungssystem des SGB II ausgeschlossen werden soll, dem System des SGB XII zugewiesen wird.

42

Auf dieser Grundlage hat das BSG bereits für andere in § 7 SGB II geregelte Leistungsausschlüsse ausdrücklich entschieden, dass die "Anwendungssperre" des § 21 S 1 SGB XII nicht greift(vgl Eicher in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 21 RdNr 34 ff). Dies gilt nach der Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate sowohl für den Leistungsausschluss wegen einer den Regelbedarf unterschreitenden ausländischen Rentenleistung als auch den Leistungsausschluss eines Erwerbsfähigen wegen der Unterbringung in einer stationären Einrichtung oder in einem Krankenhaus nach § 7 Abs 4 S 1 SGB II. Sie sind iS des § 21 SGB XII nach dem SGB II dem Grunde nach nicht mehr leistungsberechtigt und bei Bedürftigkeit auf "die auf gleicher Grundlage wie im SGB II bemessenen und daher vom Umfang im Wesentlichen identischen Leistungen der Sozialhilfe" verwiesen(BSG vom 16.5.2012 - B 4 AS 105/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 30 RdNr 20; BSG vom 2.12.2014 - B 14 AS 66/13 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 42 RdNr 10, 24; vgl auch BSG vom 19.8.2015 - B 14 AS 1/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen - RdNr 47: vorzeitige Altersrente nach Aufforderung durch den Grundsicherungsträger). In gleicher Weise hat der für das Sozialhilferecht zuständige 8. Senat des BSG für den Leistungsausschluss bei Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneten Freiheitsentziehung entschieden. Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 4 S 2 SGB II unterfallen, können grundsätzlich Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII beanspruchen(BSG vom 12.12.2013 - B 8 SO 24/12 R - SozR 4-3500 § 67 Nr 1 RdNr 20).

43

Bezogen auf den Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 SGB II gilt nichts anderes(Berlit in Berlit/Conradis/Sartorius, Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl 2013, Kap 12 RdNr 54; Eicher in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 21 RdNr 35). Der Ausschluss von Personen, die nicht oder nicht mehr über eine Freizügigkeitsberechtigung zur Arbeitsuche verfügen, vom erwerbszentrierten Leistungssystem des SGB II führt dazu, die Sperrwirkung des § 21 SGB XII entfallen zu lassen.

44

d) Allerdings steht dem Rechtsanspruch der Kläger auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII ein Ausschluss aufgrund der Regelung des § 23 Abs 3 S 1 SGB XII entgegen.

45

(aa) Die Kläger sind zwar nicht iS des § 23 Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGB XII eingereist, um Sozialhilfe zu erlangen. Es mangelt hier insoweit an dem finalen Zusammenhang zwischen Einreise und Sozialhilfebezug (vgl BSG vom 18.11.2014 - B 8 SO 9/13 R - BSGE = SozR 4-3500 § 25 Nr 5, RdNr 25). Dieser Zusammenhang liegt vor, wenn der Zweck, Sozialhilfe zu erlangen, den Einreiseentschluss geprägt hat. Wie das BVerwG dies bereits zu der wortgleichen Vorschrift des § 120 Abs 3 S 1 BSHG entschieden hat, bezeichnet schon die Konjunktion "um (…) zu (…)" ein ziel- und zweckgerichtetes Handeln und damit eine Zweck-Mittel-Relation, in der die Einreise das Mittel und die Inanspruchnahme von Sozialhilfe den mit ihr verfolgten Zweck bildet(vgl BVerwG vom 4.6.1992 - 5 C 22/87 - BVerwGE 90, 212, 214; im Anschluss daran etwa LSG Berlin-Brandenburg vom 10.9.2009 - L 23 SO 117/06 - juris-RdNr 27 f; LSG Nordrhein-Westfalen vom 12.1.2009 - L 20 B 58/08 AY - juris-RdNr 25 ff; LSG Niedersachsen-Bremen vom 27.11.2008 - L 8 SO 173/08 ER - juris-RdNr 20 f). Dabei wird diese Zweck-Mittel-Relation jedoch auch dann als gegeben angesehen, wenn die Einreise des Ausländers auf verschiedenen Motiven beruht, der Zweck der Inanspruchnahme für den Einreiseentschluss jedoch von prägender Bedeutung gewesen, also nicht nur neben vorrangigen anderen Zwecken billigend in Kauf genommen worden ist (Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, § 23 RdNr 46, Stand VI/2012).

46

So liegt der Fall nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG hier nicht. Es ist keine Zweck-Mittel-Relation im eben dargelegten Sinne gegeben, denn die Kläger zu 1 und 2 sind zur Arbeitsuche eingereist. Das LSG hat dies - wenn auch die Erfolgsaussichten der Arbeitsuche für den hier streitigen Zeitraum verneinend - ausdrücklich festgestellt. So haben die Kläger zu 1 und 2, wie das LSG unter Hinweis auf die Beratungsvermerke in den Akten ausgeführt hat, mehrfach Deutschkurse beantragt und sich auch sonst um Eingliederungsleistungen bemüht. Sie haben auch nicht schon bei der Einreise oder kurz danach, sondern erstmals nach rund einem Jahr ihres Aufenthalts in Deutschland und dann erneut rund noch einmal ein weiteres Jahr später existenzsichernde Leistungen beantragt. Der Kläger zu 3 folgt dem als Familienangehöriger.

47

(bb) Die Kläger unterfallen auch nicht dem Wortlaut der Alt 2 des § 23 Abs 3 S 1 SGB XII. Sie verfügten - wie unter 2.a) dargelegt - im streitigen Zeitraum nicht mehr über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche. Dies ist nach dem Wortlaut des § 23 Abs 3 SGB XII jedoch Voraussetzung für den Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII. Der Ausschluss tritt danach nur dann ein, wenn ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche im streitigen Zeitraum tatsächlich gegeben ist.

48

(cc) Ebenso wie oben zum Leistungsausschluss im SGB II dargelegt, sind jedoch auch nach § 23 Abs 3 S 1 SGB XII nichtfreizügigkeits- oder aufenthaltsberechtigte Ausländer von den existenzsichernden Leistungen der Sozialhilfe ausgenommen(offengelassen BSG vom 18.11.2014 - B 8 SO 9/13 R - BSGE = SozR 4-3500 § 25 Nr 5, RdNr 25; aA Herbst in Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und der Sozialhilfe, Band 1 Teil II, Stand VIII/2013, § 23 SGB XII RdNr 47b; Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, § 23 RdNr 54d, Stand VI/2012).

49

Im Entwurf des Gesetzes zur Änderung des SGB XII und anderer Gesetze vom 25.9.2006 (BT-Drucks 16/2711 S 10) wird darauf hingewiesen, dass die Einfügung der Alt 2 in § 23 Abs 3 S 1 SGB XII einen der Regelung im SGB II entsprechenden Leistungsausschluss für Ausländer normiere und damit zugleich sicherstelle, dass Ausländer, die nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II keinen Anspruch auf Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende hätten, auch aus dem SGB XII keine Ansprüche herleiten könnten. § 7 Abs 1 S 2 SGB II in der damaligen Fassung lautete: Ausgenommen sind Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt [und] ihre Familienangehörigen (…)(idF des Gesetzes zur Änderung des SGB II und anderer Gesetze vom 24.3.2006, BGBl I 558 mWv 1.4.2006). Es sollte damit Art 24 Abs 2 iVm Art 14 Abs 4 Buchst b der RL 2004/38/EG umgesetzt werden (BT-Drucks 16/2711 S 10). Nach Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG ist der Aufnahmemitgliedstaat - unter Hintanstellung des Gleichbehandlungsgrundsatzes - nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art 14 Abs 4 Buchst b RL 2004/38/EG (Zeitraum der Arbeitsuche, s unter 2.a) einen Anspruch auf Sozialhilfe (…) zu gewähren. Die dort vorgenommene Abgrenzung zwischen den gleich zu behandelnden Personengruppen und denen, die aus europarechtlicher Sicht von den Aufnahmestaaten von der Sozialhilfe ausgeschlossen werden dürfen, erfolgt, indem der Personenkreis der Freizügigkeitsberechtigten, die der Gleichbehandlung unterfallen, positiv benannt wird. Im Umkehrschluss ergibt sich, dass neben denen, die freizügigkeitsberechtigt wegen der Arbeitsuche sind und denen der Aufnahmestaat gleichwohl keine Sozialhilfeleistungen zu erbringen braucht, dies auch für die Nichtfreizügigkeitsberechtigten gilt. Sie unterfallen nicht dem Gleichbehandlungsgebot.

50

Soweit spätere Versuche, eine weitergehende Anpassung der Rechtslage des SGB II an das SGB XII zu bewirken, nicht erfolgreich waren (s nur BT-Drucks 16/2711 S 16; BT-Drucks 16/2753 S 1, 2; BT-Drucks 16/5527 S 15, 23; BT-Drucks 16/239 S 13, 17), sprechen diese Versuche und die Reaktionen hierauf nicht für das Erfordernis einer anderen Wertung im Hinblick auf den "Erst-Recht-Schluss" im SGB XII als im SGB II. Die zuvor beschriebene Anpassung des § 23 Abs 3 S 1 SGB XII war ausreichend, um die gewünschte Parallele zum SGB II für die hier zu beurteilenden Fälle zu ermöglichen. Insbesondere bedurfte es keiner Reaktion auf die Änderung des § 7 Abs 1 S 2 SGB II durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007 (BGBl I, 1970 mWv 28.8.2007). Die Umstrukturierung des S 2 und die Einfügung der Nr 1 in § 7 Abs 1 S 2 SGB II ist für das SGB XII ohne Bedeutung.

51

e) Zwar ist Rechtsfolge des Ausschlusses nach § 23 Abs 3 S 1 SGB XII, dass trotz des tatsächlichen Aufenthalts im Inland kein Rechtsanspruch auf ua Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs 1 S 1 SGB XII besteht. In einem solchen Fall des Ausschlusses können jedoch nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII Leistungen der Sozialhilfe gewährt werden, wenn dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Ausschlussregelung, denn sie nimmt lediglich Bezug auf den "Anspruch" auf Sozialhilfe. Dementsprechend hat bereits das BVerwG zu der Vorschrift des § 120 Abs 3 S 1 Alt 1 BSHG befunden, dass Ausländer, die dem Leistungsausschluss unterfielen, weil sie eingereist seien, um Sozialhilfe zu erlangen, lediglich von einem Rechtsanspruch ua auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 120 Abs 1 S 1 BSHG ausgeschlossen seien(BVerwG vom 10.12.1987 - 5 C 32/85 - BVerwGE 78, 314, 316 f; Schellhorn/Jirasek/Seipp, Kommentar zum BSHG, 16. Aufl 2002, § 25 RdNr 10, § 120 RdNr 16; so auch Krahmer in LPK-BSHG, 6. Aufl 2003, § 25 RdNr 7; Birk in ders, § 120 RdNr 47). Insoweit gilt für die Regelung des § 23 Abs 3 S 1 SGB XII, die der Gesetzgeber in Kenntnis der Rechtsprechung des BVerwG im Wesentlichen inhaltsgleich ausgestaltet hat(BT-Drucks 15/1514 S 58), nichts anderes (vgl BSG vom 18.11.2014 - B 8 SO 9/13 R - BSGE = SozR 4-3500 § 25 Nr 5, RdNr 28; s auch Adolph in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 23 SGB XII RdNr 76, Stand XII/2008; Birk in LPK-SGB XII, 10. Aufl 2015, § 23 RdNr 20; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl 2014, § 23 RdNr 42; differenzierend Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, § 23 RdNr 50, Stand VI/2012, der einen Rechtsanspruch auf die im Einzelfall gebotenen Leistungen annimmt, um zu einem Gleichklang mit § 1a AsylbLG zu gelangen).

52

Der Ausschluss nur von dem Rechtsanspruch auf die in S 1 des § 23 Abs 1 SGB XII benannten Leistungen erschließt sich auch aus dem - im Übrigen gegenüber § 120 BSHG unveränderten - systematischen Verhältnis der Regelungen der Sätze 1 und 3 in Abs 1 des § 23 SGB XII zueinander. Durch § 23 Abs 1 S 1 SGB XII erhält der Ausländer ausschließlich unter der Voraussetzung, dass er sich tatsächlich im Inland aufhält, einen Rechtsanspruch auf Leistungen der Sozialhilfe nach einem reduzierten Leistungskatalog, aber der Höhe nach uneingeschränkt. Hiervon sollen diejenigen, die die Ausschlusstatbestände des § 23 Abs 3 S 1 SGB XII erfüllen, ausgeschlossen werden, nicht jedoch von dem der Sozialhilfe systemimmanenten grundsätzlichen Anspruch auf Hilfe bei bedrohter Existenzsicherung(s hierzu BVerwG vom 14.3.1985 - 5 C 145/83 - BVerwGE 71, 139; BVerwG vom 10.12.1987 - 5 C 32/85 - BVerwGE 78, 314, 317 ff). Diesem Personenkreis sollen daher nur nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens Leistungen der Sozialhilfe erbracht werden können, aber eben auch solche Leistungen, die nach S 1 des § 23 Abs 1 SGB XII vom Rechtsanspruch ausgenommen worden sind, soweit im Einzelfall geboten.

53

f) Das Ermessen des Sozialhilfeträgers ist jedoch in einem Fall wie dem vorliegenden, dem Grunde und der Höhe nach hinsichtlich der Hilfe zum Lebensunterhalt auf Null reduziert. Dies ist immer dann der Fall, wenn sich das Aufenthaltsrecht des ausgeschlossenen Ausländers verfestigt hat - regelmäßig ab einem sechsmonatigen Aufenthalt in Deutschland. Dies folgt aus der Systematik des § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB XII im Verhältnis zu § 23 Abs 1 S 1 und 3 SGB XII sowie verfassungsrechtlichen Erwägungen.

54

So bezieht sich der ausdrückliche Ausschluss der Alt 2 des § 23 Abs 3 S 1 SGB XII auf den im Freizügigkeitsgesetz/EU zeitlich begrenzten Vorgang der Arbeitsuche. Unter 2.a) ist bereits dargelegt worden, dass die Freizügigkeitsberechtigung zum Zwecke der Arbeitsuche nach dem Ablauf von sechs Monaten gemäß § 2 Abs 1a FreizügG/EU idF des Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften vom 2.12.2014 (BGBl I 1922) endet, wenn nicht weiterhin eine begründete Aussicht auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit besteht. Diese Begrenzung der Freizügigkeitsberechtigung zur Arbeitsuche dient nach den Gesetzesmaterialien der Umsetzung von Unionsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH, der entschieden habe, dass die Mitgliedstaaten berechtigt seien, das Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche auf einen angemessenen Zeitraum zu begrenzen, wobei der EuGH von einem Zeitraum von sechs Monaten ausgegangen sei (BT-Drucks 18/2581 S 15 zu Art 1 Nr 1 Buchst b; vgl dazu bereits BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 29). Mit dem auf den konkreten Einzelfall abstellenden Zusatz - "darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden" - nimmt die Neuregelung lediglich die Formulierung in Art 14 Abs 4 Buchst b RL 2004/38/EG auf, enthält jedoch mit der allgemein geltenden zeitlichen Begrenzung - "für bis zu sechs Monate" - eine Typisierung. Für diese typisierte Dauer einer Arbeitsuche von sechs Monaten nach der Einreise liegt eine Aufenthaltsverfestigung noch nicht vor, weil hinter der zeitlichen Begrenzung die Erwartung steht, es handele sich um einen angemessenen Zeitraum, die Erfolgsaussichten einer Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat ohne Aufenthaltsverfestigung zu prüfen.

55

Werden diese Erwartungen enttäuscht und bleibt der tatsächliche Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nach Ablauf von sechs Monaten bestehen, tritt im Regelfall eine Aufenthaltsverfestigung ein, der nach geltendem Recht ausländerbehördlich entgegengetreten werden kann. Bestand nie eine Freizügigkeitsberechtigung wegen eines Aufenthalts zur Arbeitsuche oder besteht diese nach Ablauf von sechs Monaten mangels begründeter Aussichten, eingestellt zu werden, nicht mehr, kann durch die Ausländerbehörde der Verlust der Freizügigkeitsberechtigung durch Verwaltungsakt festgestellt werden (Verlustfeststellung nach § 5 Abs 4 S 1 FreizügG/EU). Erst die förmliche Verlustfeststellung begründet nach § 7 Abs 1 S 1 FreizügG/EU die sofortige Ausreisepflicht, wenn nicht Rechtsschutz in Anspruch genommen wird(vgl BT-Drucks 16/5065 S 211 zu Art 2 Nr 8 Buchst a Doppelbuchst aa). In tatsächlicher Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass von der rechtlichen Möglichkeit der Verlustfeststellung nur in geringem Umfang Gebrauch gemacht wird (Thym, NZS 2014, 81, 87; BT-Drucks 17/13322 S 19). Zur Prüfung der Voraussetzungen einer Verlustfeststellung kann die zuständige Ausländerbehörde im Übrigen nach § 5 Abs 2 S 1 FreizügG/EU bereits frühzeitig, nämlich drei Monate nach der Einreise, verlangen, dass die Voraussetzungen nach § 2 Abs 1 FreizüG/EU glaubhaft gemacht werden.

56

Ist hiernach typisierend von einer Aufenthaltsverfestigung auszugehen, ist die Ermessenausübung jedoch daran zu messen, dass der Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt im Sozialhilferecht ansonsten weder nach dem Grund der Einreise, noch nach Berechtigung oder Dauer des Aufenthalts fragt. Bei der Leistungsgewährung nach dem SGB XII kommt es in erster Linie auf die Tatsache einer gegenwärtigen Hilfebedürftigkeit an (BSG vom 10.11.2011 - B 8 SO 12/10 R - SozR 4-3500 § 30 Nr 4 RdNr 26; BVerwG vom 2.6.1965 - V C 63.64 - BVerwGE 21, 208, 211; vgl auch Berlit in Berlit/Conradis/Sartorius, Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl 2013, Kap 7 RdNr 24). Es reicht nach dem Wortlaut des § 23 Abs 1 S 1 SGB XII allein der tatsächliche Aufenthalt in Deutschland aus. Dem Leistungsberechtigten, der über kein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche mehr verfügt und "erst-recht" von dem Rechtsanspruch auf "Sozialhilfeleistungen" iS des § 23 Abs 1 S 1 SGB XII ausgeschlossen ist, mangelt es wie jedem anderen Ausländer, der sich tatsächlich im Inland aufhält - zunächst einmal ohne Freizügigkeits- oder Aufenthaltsberechtigung - an einer Aufenthaltsperspektive. Um den Gleichklang mit Letzterem zu erreichen, ist es folgerichtig, zumindest im Hinblick auf die Hilfe zum Lebensunterhalt durch eine Ermessensreduktion, bei verfestigtem Aufenthalt zu denselben Leistungen zu gelangen. Dieses nach Ablauf von regelmäßig sechs Monaten durch ein Vollzugsdefizit des Ausländerrechts bewirkte Faktum eines verfestigten tatsächlichen Aufenthalts des Unionsbürgers im Inland ist unter Berücksichtigung auch der verfassungsrechtlichen Vorgaben kein zulässiges Kriterium, die Entscheidung über die Gewährung existenzsichernder Leistungen dem Grunde und der Höhe nach in das Ermessen des Sozialhilfeträgers zu stellen.

57

Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zum AsylbLG (vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134) im Anschluss und in Weiterentwicklung der grundlegenden Entscheidung vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12)Grundlagen und Umfang des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums näher ausgeformt. Wenn Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlten, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen oder durch Zuwendungen Dritter zu erlangen seien, sei der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür Hilfebedürftigen zur Verfügung stünden. Als Menschenrecht - und dies ist hier entscheidend - stehe dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, gleichermaßen zu (BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134, 159 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 RdNr 89, unter Hinweis auf BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12). Eine pauschale Differenzierung nach dem Aufenthaltsstatus hat das BVerfG im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung der existenzsichernden Leistungen ausdrücklich abgelehnt (BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134, 164 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 RdNr 99). Insoweit komme es für eine abweichende Bedarfsbestimmung darauf an, ob etwa wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfeempfängern mit Daueraufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden könnten. Hierbei sei etwa zu berücksichtigen, ob durch die Kürze des Aufenthalts Minderbedarfe durch Mehrbedarfe kompensiert werden könnten, die typischerweise gerade unter den Bedingungen eines nur vorübergehenden Aufenthalts anfielen. Dies lässt sich während des Bestehens eines Aufenthaltsrechts allein zum Zwecke der Arbeitsuche über die Ermessensleistung des § 23 Abs 1 S 3 SGB XII regulieren, nicht jedoch bei verfestigtem Aufenthalt. Denn ließen sich - so das BVerfG - tatsächlich spezifische Minderbedarfe bei einem nur kurzfristigen, nicht auf Dauer angelegten Aufenthalt feststellen, und wolle der Gesetzgeber die existenznotwendigen Leistungen für eine Personengruppe deshalb gesondert bestimmen, müsse er sicherstellen, dass die gesetzliche Umschreibung dieser Gruppe hinreichend zuverlässig tatsächlich nur diejenigen erfasse, die sich regelmäßig nur kurzfristig in Deutschland aufhielten. Eine Beschränkung auf etwaige Minderbedarfe für Kurzaufenthalte komme dann nicht mehr in Betracht, wenn der tatsächliche Aufenthalt die Spanne eines Kurzaufenthalts deutlich überschritten habe. Für diese Fälle sei ein zeitnaher Übergang zu den existenzsichernden Leistungen für Normalfälle vorzusehen (BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134, 164 ff = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 RdNr 99 ff). Dies begründet im Regelfall eine Ermessensreduktion auf Null und damit eine Anpassung der Hilfe zum Lebensunterhalt für diejenigen, die sich nicht nur kurzfristig im Inland aufhalten. Denn im Übrigen weist das BVerfG darauf hin, dass eine Regelung zur Existenzsicherung vor der Verfassung nur Bestand habe, wenn Bedarfe durch Anspruchsnormen gesichert würden (BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134, 162 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 RdNr 96).

58

Tatsächliche Hinweise darauf, dass von einer Ermessensreduzierung trotz des Zeitablaufs ausnahmsweise abzusehen ist, sind den Feststellungen des LSG nicht zu entnehmen. Derartige Umstände können insbesondere vorliegen, wenn die tatsächlichen Lebensumstände des Unionsbürgers darauf schließen lassen, dass er nicht auf Dauer im Inland verweilen wird. Gleiches gilt, wenn die Ausländerbehörde bereits konkrete Schritte zur Beendigung des Aufenthalts eingeleitet hat. Demgegenüber haben sich die Kläger im streitigen Zeitraum bereits mehr als zwei Jahre in Deutschland aufgehalten, ohne dass derartige Maßnahmen im Raum standen.

59

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die

1.
das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
2.
erwerbsfähig sind,
3.
hilfebedürftig sind und
4.
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
Ausgenommen sind
1.
Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2.
Ausländerinnen und Ausländer,
a)
die kein Aufenthaltsrecht haben oder
b)
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
und ihre Familienangehörigen,
3.
Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

(2) Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Dienstleistungen und Sachleistungen werden ihnen nur erbracht, wenn dadurch Hemmnisse bei der Eingliederung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten beseitigt oder vermindert werden. Zur Deckung der Bedarfe nach § 28 erhalten die dort genannten Personen auch dann Leistungen für Bildung und Teilhabe, wenn sie mit Personen in einem Haushalt zusammenleben, mit denen sie nur deshalb keine Bedarfsgemeinschaft bilden, weil diese aufgrund des zu berücksichtigenden Einkommens oder Vermögens selbst nicht leistungsberechtigt sind.

(3) Zur Bedarfsgemeinschaft gehören

1.
die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten,
2.
die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines unverheirateten erwerbsfähigen Kindes, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und die im Haushalt lebende Partnerin oder der im Haushalt lebende Partner dieses Elternteils,
3.
als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten
a)
die nicht dauernd getrennt lebende Ehegattin oder der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte,
b)
die nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartnerin oder der nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartner,
c)
eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.
4.
die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können.

(3a) Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner

1.
länger als ein Jahr zusammenleben,
2.
mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,
3.
Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder
4.
befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.

(4) Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend von Satz 1 erhält Leistungen nach diesem Buch,

1.
wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches) untergebracht ist oder
2.
wer in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.
Die Sätze 1 und 3 Nummer 2 gelten für Bewohner von Räumlichkeiten im Sinne des § 42a Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 des Zwölften Buches entsprechend.

(4a) (weggefallen)

(5) Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Satz 1 gilt auch für Auszubildende, deren Bedarf sich nach § 61 Absatz 2, § 62 Absatz 3, § 123 Nummer 2 sowie § 124 Nummer 2 des Dritten Buches bemisst.

(6) Absatz 5 Satz 1 ist nicht anzuwenden auf Auszubildende,

1.
die aufgrund von § 2 Absatz 1a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben,
2.
deren Bedarf sich nach den §§ 12, 13 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 oder nach § 13 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bemisst und die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz
a)
erhalten oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten oder
b)
beantragt haben und über deren Antrag das zuständige Amt für Ausbildungsförderung noch nicht entschieden hat; lehnt das zuständige Amt für Ausbildungsförderung die Leistungen ab, findet Absatz 5 mit Beginn des folgenden Monats Anwendung, oder
3.
die eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule oder ein Abendgymnasium besuchen, sofern sie aufgrund des § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben.

Tenor

I. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Gilt das Gleichbehandlungsgebot des Art 4 VO (EG) 883/2004 - mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art 70 Abs 4 VO (EG) 883/2004 - auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im Sinne von Art 70 Abs 1, 2 VO (EG) 883/2004?

2. Falls 1) bejaht wird: Sind - gegebenenfalls in welchem Umfang - Einschränkungen des Gleichbehandlungsgebots des Art 4 VO (EG) 883/2004 durch Bestimmungen in nationalen Rechtsvorschriften in Umsetzung des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG möglich, nach denen der Zugang zu diesen Leistungen ausnahmslos nicht besteht, wenn sich ein Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers in dem anderen Mitgliedstaat allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt?

3. Steht Art 45 Abs 2 AEUV in Verbindung mit Art 18 AEUV einer nationalen Bestimmung entgegen, die Unionsbürgern, die sich als Arbeitsuchende auf die Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts berufen können, eine Sozialleistung, die der Existenzsicherung dient und gleichzeitig auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert, ausnahmslos für die Zeit eines Aufenthaltsrechts nur zur Arbeitsuche und unabhängig von der Verbindung mit dem Aufnahmestaat verweigert?

II. Der Rechtsstreit wird ausgesetzt.

Gründe

1

A. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

2

I. Streitgegenstand
Streitig ist die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für den Monat Mai 2012.

3

II. Sachverhalt
Die Kläger sind schwedische Staatsangehörige. Die 1966 in Bosnien geborene Klägerin zu 1) reiste im Juni 2010 erneut mit ihren Kindern, der im Mai 1994 geborenen Klägerin zu 2) und den in den Jahren 1998 und 1999 geborenen Klägern zu 3) und 4), in die Bundesrepublik ein. Die Kinder sind in Deutschland geboren. Den Klägern wurde am 1.7.2010 eine Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU erteilt. Nach ihrer Einreise bezog die Klägerin zu 1) Kindergeld für die Kläger zu 2) bis 4). Die erwerbsfähigen Klägerinnen zu 1) und 2) waren seit Juni 2010 in kürzeren Beschäftigungen bzw Arbeitsgelegenheiten von weniger als einem Jahr tätig, jedoch nicht mehr in der Zeit ab Mai 2011. Im Übrigen bezogen sämtliche Kläger SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die zuletzt für die Zeit vom 1.12.2011 bis 31.5.2012 bewilligt wurden (Bescheid vom 9.9.2011, Änderungsbescheide vom 26.11.2011 und 9.12.2011). Die Klägerinnen zu 1) und 2) erhielten Alg II; die Kläger zu 3) und 4) Sozialgeld für nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Bei der Leistungsbewilligung ging das beklagte Jobcenter (SGB II-Leistungsträger) davon aus, dass die Ausschlussregelung für arbeitsuchende Unionsbürger (§ 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II)nicht anwendbar gewesen sei, weil sie bei den Klägern als schwedische Staatsangehörige durch das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) verdrängt worden sei.

4

Unter Hinweis auf den von der Bundesrepublik im November 2011 erklärten Vorbehalt zum EFA hob der Beklagte die Bewilligung für den Monat Mai 2012 für die Klägerin zu 1) und ihre minderjährigen Kinder in vollem Umfang auf (Bescheid vom 2.4.2012; Widerspruchsbescheid vom 29.6.2012). Das SG hat diesen Aufhebungsbescheid aufgehoben (Urteil vom 19.12.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Kläger könnten auch im Mai 2012 weiterhin SGB II-Leistungen beanspruchen. Eine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen sei nicht eingetreten. Zwar könnten sich die Klägerinnen zu 1) und 2) nach Beendigung der Beschäftigungen Mitte 2011 in dem streitigen Aufhebungsmonat Mai 2012 ausschließlich auf ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche berufen. Der deutsche Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II greife jedoch nicht, weil Art 4 VO (EG) 883/2004 jede Ungleichbehandlung von Unionsbürgern gegenüber den eigenen Staatsangehörigen bei den hier vorliegenden besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen untersage. Ein Wertungswiderspruch zu dem nur eingeschränkt möglichen Bezug von "Sozialhilfeleistungen" nach der FreizügigkeitsRL 2004/38/EG (insbesondere deren Art 24 Abs 2) bestehe nicht. Zudem verdränge das speziellere Gleichbehandlungsgebot nach Art 1 EFA weiterhin die Ausschlussregelung, weil der von der Bundesregierung erklärte Vorbehalt nicht durch ein Gesetz nach Art 59 Abs 2 S 1 GG in innerstaatliches Recht transformiert bzw wirksam gemacht worden sei.

5

Mit seiner Sprungrevision macht das beklagte Jobcenter geltend, der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II verstoße nicht gegen EG-Recht, weil es sich bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II um "Sozialhilfeleistungen" im Sinne des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG handele und ein Leistungsausschluss für Arbeitsuchende hiernach möglich sei. Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts hätten nicht den Zweck, den Arbeitsmarkzugang zu erleichtern, sondern dienten der Existenzsicherung. Zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt sehe das SGB II für Arbeitsuchende in den §§ 16 ff SGB II weitere Leistungen vor, die gesondert erbracht würden. § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II verstoße nicht gegen die VO (EG) Nr 883/2004. Der Leistungsausschluss verstoße auch nicht gegen das EFA, weil der von der Bundesregierung erklärte Vorbehalt wirksam sei. Wegen der fehlenden Beteiligung mehrerer Völkerrechtssubjekte könne der einseitige Vorbehalt der Bundesregierung nicht als Vertrag im Sinne des Art 59 Abs 2 S 1 GG angesehen werden und sei verfassungsgemäß.

6

Der Beklagte beantragt,
das Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.

8

III. Nationaler Rechtsrahmen

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1. Anspruchsvoraussetzungen für SGB II-Leistungen
Die Verwaltungsakte, mit denen das beklagte Jobcenter den Klägern die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1.12.2011 bis 31.5.2012 bewilligte, waren bei ihrem Erlass rechtmäßig. Die Klägerinnen zu 1) und 2) erfüllten im Bewilligungszeitraum sämtliche Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs 1 S 1 SGB II; hieraus leiteten sich die Ansprüche der minderjährigen Kläger zu 3) und 4) ab. Der Anspruchsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II stand ihrem Anspruch zunächst nicht entgegen, weil dieser durch Art 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens verdrängt wurde.

10

Nach der innerstaatlichen Regelung des § 19 Abs 1 SGB II erhalten erwerbsfähige Leistungsberechtigte Alg II (Satz 1). Nichterwerbsfähige minderjährige Leistungsberechtigte, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten Sozialgeld (Satz 2). § 7 SGB II(idF der Bekanntmachung der Neufassung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch vom 13.5.2011, BGBl I 850 ff) bestimmt die Leistungsberechtigten wie folgt:

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§ 7 Leistungsberechtigte
 (1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die
 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
 2. erwerbsfähig sind,
 3. hilfebedürftig sind und
 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben
 (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Ausgenommen sind
 1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
 2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen, …
 (2) Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. ..
 (3) Zur Bedarfsgemeinschaft gehören
 1. die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten,
 2. die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines unverheirateten erwerbsfähigen Kindes, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, …

12

Da die minderjährigen Kläger zu 3) und 4) die Altersgrenze des § 7 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB II noch nicht erreicht hatten, ergibt sich bei ihnen eine abgeleitete Anspruchsberechtigung auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Gestalt des Sozialgeldes(§ 7 Abs 2 und 3 SGB II). Bei den Klägerinnen zu 1) und 2) lagen im gesamten Bewilligungszeitraum vom 1.12.2011 bis 31.5.2012 die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs 1 S 1 SGB II vor. Sie waren hilfebedürftig und erwerbsfähig. Nach § 7 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB II iVm § 8 Abs 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf (nicht) absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Zur Erwerbsfähigkeit von Ausländerinnen und Ausländern bestimmt § 8 Abs 2 SGB II, dass diese im Sinne von § 8 Abs 1 SGB II nur erwerbstätig sein können, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte (Satz 1). Insofern ist auf die abstrakt-rechtliche Möglichkeit der Erteilung einer Arbeitsgenehmigung abzustellen (§ 8 Abs 2 S 2 SGB II; vgl BSG Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 34 RdNr 15). Als schwedische Staatsangehörige benötigten die Klägerinnen wegen der ihnen zustehenden uneingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit zur Beschäftigungsaufnahme keine Arbeitsgenehmigung.

13

Sämtliche Kläger hatten auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Nach der Rechtsprechung des Senats ist das Vorliegen eines "gewöhnlichen Aufenthalts" in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen ("faktischen") Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen. Ein in anderen innerstaatlichen Sozialgesetzen zu dem gewöhnlichen Aufenthalt hinzutretendes Anspruchsmerkmal des Innehabens einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU bzw - für nicht EU-Bürger - eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem AufenthaltsG enthält § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB II ausdrücklich nicht(vgl im Einzelnen: BSG Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 34 RdNr 17 ff mwN). Den am 1.7.2010 erteilten Freizügigkeitsbescheinigungen (§ 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern vom 30.7.2004 , zuletzt geändert durch Gesetz vom 26.2.2008 ; entfallen durch Art 1 des Gesetzes zur Änderung des FreizügigkeitsG/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vom 21.1.2013 ) kommt nach innerstaatlicher Rechtsprechung eine nur deklaratorische Bedeutung für das sich unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht ergebende Freizügigkeitsrecht zu (BT-Drucks 15/420 S 101; BSG Urteil vom 25.1.2012 - B 14 AS 138/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 28 RdNr 17; BVerwG Urteil vom 10.11.1999 - 6 C 30/98 - BVerwGE 110, 40, 53).

14

2. Leistungsausschluss bei arbeitsuchenden Unionsbürgern und Europäisches Fürsorgeabkommen

15

Der Anspruch der Klägerinnen zu 1 und 2 auf Alg II und damit auch der Kläger zu 3 und 4 auf Sozialgeld war - allein nach Maßgabe der Regelungen des SGB II - in der Zeit vom 1.12.2011 bis 31.5.2012 nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II ausgeschlossen, weil sich ihr Aufenthaltsrecht im streitigen Zeitraum allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergab. Die Anwendbarkeit dieser Ausschlussregelung erfordert eine "fiktive Prüfung" des Grundes bzw der Gründe der Aufenthaltsberechtigung nach dem FreizügG/EU. Das Vorliegen der Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts aus einem anderen Grund als dem Zweck der Arbeitsuche hindert die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II(BSG Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 34 RdNr 22 ff). Aus der Entstehungsgeschichte der Regelung ergibt sich, dass der deutsche Gesetzgeber zeitgleich mit der Erweiterung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern zu einer allgemeinen Freizügigkeit für alle Unionsbürger mit der Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 SGB II von der "Option" des Art 24 Abs 2 iVm Art 14 Abs 4 der RL 2004/38/EG Gebrauch machen wollte(BT-Drucks 16/5065 S 234; siehe auch BT-Drucks 16/688 S 13).

16

Für die Prüfung der Frage, welches Aufenthaltsrecht bei den Klägerinnen zu 1 und 2 in der Zeit vom 1.12.2011 bis 31.5.2012 vorlag, ist § 2 FreizügG/EU von Bedeutung:

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§ 2 FreizügG/EU (Recht auf Einreise und Aufenthalt)
 (1) Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.
 (2) Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind:
 1. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen,…….
 (3) Das Recht nach Absatz 1 bleibt für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige unberührt bei
 1. vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall,
 2. unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit,
 3. Aufnahme einer Berufsausbildung, wenn zwischen der Ausbildung und der früheren Erwerbstätigkeit ein Zusammenhang besteht; der Zusammenhang ist nicht erforderlich, wenn der Unionsbürger seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren hat.
 Bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung bleibt das Recht aus Absatz 1 während der Dauer von sechs Monaten unberührt.

18

Dem Gesamtzusammenhang der für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des SG (§ 163 SGG) ist zu entnehmen, dass sich die Klägerinnen zu 1 und 2 nicht mehr auf ein (fortwirkendes) Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerinnen nach § 2 FreizügG/EU berufen konnten. Sie waren seit Juni 2010 nur in kürzeren Beschäftigungen bzw in Arbeitsgelegenheiten von weniger als einem Jahr tätig und seit Mai 2011 nicht mehr abhängig oder selbständig tätig. Der Senat geht daher davon aus, dass die Erwerbstätigeneigenschaft der Klägerinnen nach § 2 Abs 3 S 2 FreizügG iVm Art 7 Abs 3 Buchst c) RL 2004/38/EG - zumindest im streitigen Aufhebungszeitraum Mai 2012, aber auch schon seit Beginn der SGB II-Bewilligung ab Dezember 2011 - nicht aufrechterhalten geblieben ist(vgl auch EuGH Urteil vom 4.6.2009, Rs C-22/08/C-23/08 - Slg 2009, I-4585 = SozR 4-6035 Art 39 Nr 5 RdNr 31).

19

Nach den gleichfalls für den Senat bindenden Feststellungen des SG waren die Klägerinnen aber weiterhin als Arbeitsuchende iS von § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU anzusehen. Sie haben im Inland kurzzeitige Beschäftigungen ausgeübt bzw an Arbeitsgelegenheiten teilgenommen, weshalb eine Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen um Erwerbstätigkeiten trotz Zeitablaufs von sechs Monaten nicht anzunehmen war (EuGH Urteil vom 26.2.1991, Rs C-292/89 , Slg 1991, I-745-780; EuGH Urteil vom 23.3.2004, Rs C-138/02 - Slg 2004, I-2703; so auch Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, § 2 FreizügG/EU RdNr 61 mwN; Bayerischer VGH Beschluss vom 16.1.2009 - 19 C 08.3271 - InfAuslR 2009, 144).

20

Der innerstaatliche Anspruchsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II fand daher auf die arbeitsuchenden Klägerinnen zu 1 und 2 grundsätzlich Anwendung. Sie hatten in dem Bewilligungszeitraum ab 1.12.2011 dennoch zunächst einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, weil der Anspruchsausschluss durch Art 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (Gesetz zum Europäischen Fürsorgeabkommen vom 11.12.1953 vom 15.5.1956, BGBl II 563) verdrängt wurde. Dies beruhte auf der Umsetzung des Urteils des BSG vom 19.10.2010 (B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21) durch die Jobcenter. Das BSG hatte entschieden, dass die Verpflichtung aus Art 1 EFA, Staatsangehörigen anderer vertragsschließender Staaten, die sich im Staatsgebiet erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie Bundesbürgern "Fürsorgeleistungen" zu leisten, auch die Erbringung von Leistungen der Grundsicherung nach den §§ 19 ff SGB II beinhalte.

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3. Aufhebung der Leistungsbewilligung

22

Im Hinblick auf diese Leistungsbewilligung unter Zugrundelegung von Art 1 EFA ist im Mai 2012 eine Änderung eingetreten, die das beklagte Jobcenter nach § 40 Abs 1 SGB II iVm § 48 Abs 1 S 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) berechtigte, die anfänglich rechtmäßige laufende Bewilligung der SGB II-Leistungen aufzuheben. Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eintritt, ist der Verwaltungsakt nach § 48 Abs 1 S 1 SGB X mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben.

23

Eine solche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen liegt hier darin, dass die Bundesregierung am 19.12.2011 gegen die Anwendung des SGB II im Rahmen des EFA einen Vorbehalt nach Art 16 Abs b EFA angebracht hat. Der Vorbehalt (idF der Bekanntmachung vom 31.1.2012 in BGBl II 144, berichtigt durch Bekanntmachung zum Europäischen Fürsorgeabkommen vom 3.4.2012 in BGBl II 470) hat folgenden Inhalt: "Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland übernimmt keine Verpflichtung, die im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - in der jeweils geltenden Fassung vorgesehenen Leistungen an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zuzuwenden." Auf der Grundlage von Art 16 Abs c EFA ist dieser Vorbehalt den Mitgliedern des Europarates durch Veröffentlichung auf den aktuellen Seiten des Europarates mitgeteilt worden. Der Senat geht nach seiner Vorprüfung im Rahmen des Vorlageverfahrens davon aus, dass der Vorbehalt wirksam ist. Die Erbringung von Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII als Fürsorge im Sinne von Art 1 EFA ist nicht ausgeschlossen. Das innerstaatliche Recht dürfte entsprechend auszulegen sein.

24

B. Vorlagefragen und Entscheidungserheblichkeit

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I. Unionsrechtlicher Rechtsrahmen

26

Es finden die Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in der Fassung des Vertrags von Lissabon vom 13.12.2007 (BGBl II 2008, 1038) Anwendung. Weiter gilt für den vorliegenden Sachverhalt die VO (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, die mit Wirkung zum 1.5.2010, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009, die VO (EWG) Nr 1408/71 abgelöst hat (Art 91 VO 883/2004, Art 97 VO 987/2009). Schließlich ist die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, von Bedeutung.

27

Der Senat setzt das Verfahren nach Art 267 Abs 1 und Abs 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) aus, um eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu den eingangs formulierten Vorlagefragen einzuholen. Der Senat hat Zweifel an der Auslegung des Unionsrechts (Art 267 Abs 2 AEUV).

28

II. Entscheidungserheblichkeit für das Ausgangsverfahren

29

Die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen sind zur Überzeugung des Senats für den Ausgang des Rechtsstreits entscheidungserheblich. Würde die vorgelegte Frage 1 bejaht und die Frage 2 verneint, hätte die Revision des beklagten Jobcenters voraussichtlich keinen Erfolg und die positive Entscheidung des Sozialgerichts würde bestätigt. Würde die Frage 1 verneint, aber die Frage 3 bejaht, wäre die Revision aus anderen Gründen zurückzuweisen. Dagegen wäre die Revision des beklagten Jobcenters voraussichtlich erfolgreich, wenn die Fragen 1 und 3 verneint würden.

30

Der Ausgang des Rechtsstreits hängt davon aus, ob die Ausschlussregelung des Art 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II mit europäischem Primär- und Sekundärrecht vereinbar ist. Nachfolgend werden die Zweifel des Senat an der Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts (Art 267 Abs 2 AEUV), die für das Ausgangsverfahren entscheidungserheblich sind, anhand der Vorlagefragen erläutert. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht darauf hinweisen, dass die Auslegungsfragen Gegenstand zahlreicher und in der Auslegung europäischen Rechts unterschiedlicher sozialgerichtlicher Entscheidungen, zumeist in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sind, die nachfolgend nur exemplarisch wiedergegeben werden können.

31

Ein Anspruch der Kläger auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II könnte (weiterhin) bestanden haben, wenn die Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II auf die Klägerinnen zu 1 und 2 schon wegen Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art 4 VO (EG) 883/2004 unanwendbar war. Als Rechtsfolge des Gleichbehandlungsgebots des Art 4 VO (EG) 883/2004 in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens kommt in Betracht, dass den Angehörigen der benachteiligten Gruppe, also hier den Klägerinnen zu 1) und 2) als Unionsbürgerinnen anderer Mitgliedstaaten, die SGB II-Leistungen unter denselben Bedingungen wie deutschen Staatsangehörigen, also unter vollständigem Wegfall der Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II, zu erbringen sind, solange keine geeignete und nicht diskriminierende Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen worden sind(vgl EuGH Urteil vom 22.6.2011 - Rs C-399/09 , Slg 2011, I-5573 ff).

32

Die Klägerin zu 1) - und damit auch die Kläger zu 2) bis 4) als deren Familienangehörige - unterfallen dem persönlichen Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004. Nach Art 2 Abs 1 VO (EG) 883/2004 gilt diese Verordnung für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten sowie für ihre Familienangehörigen. Unter "Rechtsvorschriften" sind nach Art 1 Buchst I VO(EG) 883/2004 für jeden Mitgliedstaat die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art 3 Abs 1 VO (EG) 883/2004 genannten Zweige der sozialen Sicherheit zu verstehen. Damit wird ein Bezug des Betreffenden zu einem Sozialversicherungs- oder Familienleistungssystem in einem der Mitgliedstaaten gefordert. Wie das SG festgestellt hat, ist der persönliche Anwendungsbereich bereits deshalb eröffnet, weil die Klägerin zu 1) für die weiteren Kläger Kindergeld, also eine Familienleistung im Sinne von Art 3 Abs 1 Buchst j VO (EG) 883/2004 iVm Art 1 Buchst z VO(EG) 883/2004, bezogen hat.

33

Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II sind besondere beitragsunabhängige Geldleistungen im Sinne von Art 70 VO (EG) 883/2004. Durch das Erfordernis der Erwerbsfähigkeit (§ 7 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB II) als Voraussetzung für die Leistungsberechtigung eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft besteht ein Bezug zu den Leistungen bei Arbeitslosigkeit iS des Art 3 Abs 1 Buchst h VO (EG) 883/2004. Anders als die beitragsbezogene Versicherungsleistung des Alg I nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (SGB III) werden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, aber unabhängig von Beschäftigungs-, Mitglieds- oder Beitragszeiten gewährt und haben keine an den bisherigen Verdienst anknüpfende Entgeltersatzfunktion. Die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts hängt allein vom Vorliegen von Bedürftigkeit ab. Es erfolgt eine beitragsunabhängige Finanzierung durch Steuermittel (vgl hierzu ausführlich: BSG Urteil vom 18.1.2011 - B 4 AS 14/10 R - BSGE 107, 206 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 22, RdNr 17 ff mwN; BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 29).

34

Ob das Gleichbehandlungsgebot nach Art 4 VO (EG) 883/2004 nach seinem sachlichen Anwendungsbereich - mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art 70 Abs 4 VO (EG) 883/2004 - auch auf besondere beitragsunabhängige Geldleistungen anwendbar ist, hängt davon ab, wie der Begriff der "Rechtsvorschriften" in Art 4 VO (EG) 883/2004 auszulegen ist. Es sind verschiedene Auslegungen denkbar. Insofern wird dieser Begriff in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung dahin verstanden, dass nur die Rechtsvorschriften iS der Legaldefinition des Art 1 lit I VO (EG) 883/2004 erfasst sind und sich das Gleichbehandlungsgebot nur auf die im Einzelnen aufgeführten Zweige der sozialen Sicherheit nach Art 3 Abs 1 VO (EG) 883/2004 bezieht (vgl zB LSG Rheinland-Pfalz Beschluss vom 21.8.2012 - L 3 AS 250/12 B ER - NZS 2013, 34 ff, juris RdNr 21 ff). Für diese Ansicht spricht, dass sich der Begriff der Rechtsvorschriften in Art 1 Buchst j VO (EWG) 1408/71 nach der abweichenden Systematik der Regelungen zu den beitragsunabhängigen Sonderleistungen nach der früheren VO (EWG) 1408/71 - neben den in Art 4 Abs 1 und 2 dieser Verordnung genannten Zweige und Systeme der sozialen Sicherheit - ausdrücklich auf die in Art 4 Abs 2a der VO (EWG) 1408/71 näher definierten beitragsunabhängigen Sonderleistungen bezog. Die nunmehr in Art 3 Abs 3 VO (EG) 883/2004 enthaltene Bezugnahme auf Art 70 VO (EG) 883/2004 beinhaltet nach dieser Ansicht, dass eine Sozialrechtskoordinierung bei den besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen ausschließlich nach den Bestimmungen des Art 70 VO (EG) 883/2004 nur eingeschränkt und ohne Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgebots des Art 4 VO (EG) 883/2004 stattfindet.

35

Nach anderer Auffassung unterfallen auch nach der VO (EG) 883/2004 - wie zuvor nach der (EWG) 1408/71 - sämtliche beitragsunabhängigen besonderen Geldleistungen mit Ausnahme der in Art 70 Abs 3 VO (EG) 883/2004 direkt genannten Ausschlüsse uneingeschränkt dem sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung, also auch dessen Art 4 VO (EG) 883/2004 (vgl zB Bayrisches LSG Urteil vom 19.6.2013 - L 16 AS 847/12 - juris RdNr 60 ff, anhängig BSG B 14 AS 51/13 R). Zu dieser Ansicht neigt auch das vorlegende Gericht. Hierfür spricht, dass mit der Einbeziehung sämtlicher Unionsbürger durch die Neuformulierung des persönlichen Anwendungsbereichs der Verordnung nicht gleichzeitig hinter den Stand der Koordinierung besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen nach der VO (EWG) 1408/71 zurückgegangen werden sollte. Hierfür spricht auch, dass Art 70 Abs 3 VO (EG) 883/2004 den Ausschluss nur der "Rechtsvorschriften” des Titels III beinhaltet. Der EuGH hat - in anderem Zusammenhang - in einer aktuellen Entscheidung zudem ausgeführt, dass der in der VO (EWG) 1408/71 an verschiedenen Stellen verwendete Begriff der "Rechtsvorschriften" nicht nur nach seinem Wortlaut, sondern auch nach seinem Kontext und den jeweiligen Zielen auszulegen sei (EuGH Urteil vom 10.10.2013 - Rs C-321/12 , ABl EU 2013, Nr C 344, 33 f).

36

III. zur Frage 2

37

Wenn eine Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgebots des Art 4 VO (EG) 883/2004 auch auf beitragsunabhängige besondere Geldleistungen zu bejahen ist, ist die nationale Regelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II unmittelbar diskriminierend. Nach Art 4 VO (EG) haben Personen, wie die Klägerinnen, die in den Anwendungsbereich der VO fallen, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates vorbehaltlich abweichender Regelungen der VO. § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II knüpft für den Anspruchsausschluss arbeitsuchender Unionsbürger unmittelbar an die Staatsangehörigkeit an. Während deutsche Arbeitsuchende regelmäßig einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II haben, ist ein solcher Anspruch für andere Unionsbürger für die Dauer ihres Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche ausgeschlossen.Das deutsche Recht lässt keine Auslegung dergestalt zu, dass arbeitsuchenden Unionsbürgern, etwa im vorliegenden Fall einer weitgehenden sozialen Integration der gesamten Familie in Deutschland, dennoch SGB II-Leistungen erbracht werden könnten. Vor diesem Hintergrund bezieht sich die zweite Vorlagefrage auf die Tragweite des Gleichbehandlungsgebots des Art 4 VO (EG) 883/2004, aber auch des Diskriminierungsverbots des Art 18 AEUV, bei beitragsunabhängigen besonderen Geldleistungen.

38

Die Fragestellung bezieht sich zunächst auf die Auslegung der in Art 4 VO (EG) 883/2004 enthaltenen Formulierung "sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist". Mit Hinweis auf deren Wortlaut wird diese Einschränkung in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung zT so verstanden, dass sich Abweichungen vom Gleichbehandlungsgebot ausschließlich aus der Verordnung selbst ergeben können, etwaige Rechtfertigungsgründe für eine Ungleichbehandlung also ausdrücklich in der VO (EG) 883/2004 selbst festgelegt sein müssen (vgl zB Hessisches LSG Beschluss vom 30.9.2013 - L 6 AS 433/13 B ER - juris RdNr 33 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Nach dieser Ansicht ist eine Ungleichbehandlung in Anwendung des Art 70 Abs 4 VO (EG) 883/2004 nur insofern möglich, als die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen nicht exportierbar sind.

39

Es wird jedoch auch die Auffassung vertreten, dass bei beitragsunabhängigen besonderen Geldleistungen Einschränkungen des Gleichbehandlungsgebots des Art 4 VO (EG) 883/2004 in Umsetzung der Regelung des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG möglich sind (LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 23.5.2012 - L 9 AS 347/12 B ER - juris RdNr 35 ff). Insofern wird die gleichfalls dem europäischen Sekundärrecht zuzuordnende Regelung des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG von anderen Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit als "anderweitige Bestimmung" iS des Art 4 VO (EG) 883/2004 angesehen. Alternativ wird davon ausgegangen, dass die in Art 70 Abs 4 VO (EG) 883/2004 enthaltene Formulierung, nach welcher der Mitgliedstaat die beitragsunabhängigen besonderen Geldleistungen "nach dessen Rechtsvorschriften gewährt", eine "anderweitige Bestimmung" iS des Art 4 VO (EG) 883/2004 und Abweichung vom strikten Gleichbehandlungsgebot ermöglicht. Insofern hält der Senat für klärungsbedürftig, ob der in Art 70 Abs 4 VO (EG) 883/2004 enthaltene Begriff "nach dessen Rechtsvorschriften" ausschließlich regelt, dass auch dann nur die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Anwendung finden, wenn die betreffende Person nach den Regelungen der Art 11 ff VO (EG) 883/2004 eigentlich den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats unterliegt (vgl Otting in Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, Art 70 VO 883/2004 RdNr 26, Stand 4/2012). Nach anderer Auslegung beinhaltet die Formulierung des Art 70 Abs 4 VO (EG) 883/2004, wonach die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen "nach dessen Rechtsvorschriften gewährt werden", gleichzeitig eine Abweichungsmöglichkeit vom Gleichbehandlungsgebot des Art 4 VO (EG) 883/2004, also eine "Öffnungsklausel" für eine Leistungsgewährung besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen nach nationalen Rechtsvorschriften.

40

Geht man davon aus, dass Art 70 Abs 4 VO (EG) 883/2004 bei beitragsunabhängigen besonderen Geldleistungen eine Abweichung vom Gleichbehandlungsgebot ermöglicht, soweit die Einschränkung selbst im Einklang mit Gemeinschaftsrecht steht (so wohl EuGH Urteil vom 19.9.2013, Rs C-140/12 , Abl EU 2013, C 344, 26), ist nach Auffassung des Senats weiter klärungsbedürftig, ob eine nationale Regelung wie die des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II als zulässige Umsetzung des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG angesehen werden kann.

41

Nach Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG ist der jeweilige Aufnahmestaat abweichend von dem Gleichbehandlungsgebot des Art 24 Abs 1 RL 2004/38/EG nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art 14 Abs 4 Buchst b) RL 2004/38/EG einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren. Insofern geht der Senat unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Brey (EuGH Urteil vom 19.9.2013 - Rs C-140/12 - ABl EU 2013, C 344, 26), die einen wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger betraf, davon aus, dass - wegen der unterschiedlichen Zielsetzungen der VO (EG) 883/2004 und der RL 2004/38/EG - die Charakterisierung als besondere beitragsunabhängige Geldleistung nach Art 70 VO (EG) 883/2004 einer Einordnung als Sozialhilfe im Sinne von Art 24 Abs 2 der RL 2004/38/EG nicht entgegensteht (vgl bereits BVerwG Urteil vom 31.5.2012 - 10 C 8/12 - juris RdNr 25 mwN; zweifelnd noch Urteil des Senats vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 34). Weiter sind die hier allein streitigen SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach ihrer Ausgestaltung auch "Sozialhilfeleistungen" im Sinne der RL 2004/38/EG. Dieser Begriff bezieht sich nach der Entscheidung des EuGH in Sachen Brey auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfesysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben kann, die dieser Staat gewähren kann. Weitere Erfordernisse hat der EuGH in seiner Entscheidung in Sachen Brey (EuGH Urteil vom 19.9.2013 - Rs C-140/12 - ABl EU 2013, C 344, 26, RdNr 61) nicht formuliert.

42

Bezogen auf die zweite Vorlagefrage hält es der Senat vor diesem Hintergrund für klärungsbedürftig, ob ein ausnahmsloser Ausschluss von Sozialhilfeleistungen möglich ist, wenn sich ein Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Aus der Entstehungsgeschichte des Art 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II ergibt sich, dass der deutsche Gesetzgeber von der Ermächtigung des Art 24 Abs 2 iVm Art 14 Abs 4 der RL 2004/38/EG auch im Bereich des SGB II für die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts Gebrauch machen wollte (siehe BT-Drucks 16/688 S 13), um einer unangemessenen Inanspruchnahme der SGB II-Leistungen durch Arbeitsuchende aus anderen Mitgliedstaaten entgegenzuwirken. Dies betrifft Unionsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben und deren Aufenthalt nicht beendet werden kann bzw wird, die als Arbeitsuchende jedoch nicht (mehr) über ausreichende Existenzmittel im Sinne des Art 7 Abs 1 Buchst b RL 2004/38/EG verfügen. Für die Möglichkeit eines Ausschlusses spricht, dass die existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II für einen zeitlich begrenzten Zeitraum nur dieses Aufenthaltsrechts nicht erbracht werden. Auch können Arbeitslose, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben, ihren Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten in einen anderen Mitgliedstaat mitnehmen (Art 64 VO 883/2004).

43

Die in Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG enthaltene Formulierung "oder ggf für einen längeren Zeitraum" könnte allerdings auch so auszulegen sein, dass nationale Regelungen bei einem Ausschluss Arbeitsuchender von Sozialhilfeleistungen für mehr als drei Monate eine Einzelfallprüfung zulassen müssen. Insofern erscheint dem Senat unabhängig von dem Kriterium einer schon bestehenden Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt (vgl hierzu 3) klärungsbedürftig, ob eine verhältnismäßige Ausgestaltung der Ausschlussregelung für Arbeitsuchende im Sinne des Diskriminierungsverbots des Art 18 AEUV erfordert, dass besondere Umstände, etwa - wie im vorliegenden Fall - die gesamte Dauer eines (auch früheren) Aufenthalts im anderen Mitgliedstaat und eine weitgehende Integration auch bei arbeitsuchenden Unionsbürgern zu berücksichtigen sind. Im vorliegenden Fall hängt die Entscheidung des Rechtsstreits auch von dieser Fragestellung ab.

44

3. Unabhängig von einem möglichen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art 4 VO (EG) 883/2004 könnten - in der hier vorliegenden Fallkonstellation - die spezifischen Freizügigkeitsrechte der Klägerinnen zu 1) und 2) als im Mai 2012 Arbeitsuchende ihrem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II entgegenstehen. In seinem Urteil vom 4.6.2009 (C-22/08, C-23/08 - Slg 2009, I-4585 = SozR 4-6035 Art 39 Nr 5 RdNr 31) hat der EuGH unter Bezugnahme auf seine bisherige Rechtsprechung ausgeführt, dass es angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und der Auslegung, die das Recht der Unionsbürger auf Gleichbehandlung in der Rechtsprechung erfahren habe, nicht mehr möglich sei, vom Anwendungsbereich des Art 39 Abs 2 EG (nunmehr Art 45 Abs 2 AEUV) im Lichte des Art 12 EG (nunmehr Art 18 AEUV; vgl EuGH Urteil vom 25.10.2012 - Rs C-367/11 -ABl EU 2012, C 399, 6 - zur Veröffentlichung in Slg 2012 vorgesehen, RdNr 23) eine finanzielle Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern solle. Es sei jedoch legitim, dass ein Mitgliedstaat eine solche Beihilfe erst leiste, nachdem das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt worden sei (aaO mwN). Insofern hält der Senat für klärungsbedürftig, ob die nationale Regelung gegen europäisches Primärrecht verstößt, weil sie eine solche Prüfung für die Dauer eines Aufenthaltsrechts als Arbeitsuchende nicht ermöglicht. Dies dürfte davon abhängen, ob bei einem alleinigen Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche generell eine ausreichende Verbindung zum Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats verneint werden kann.

45

Die dritte Vorlagefrage geht davon aus, dass sich bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II - auch wenn diese "Sozialhilfeleistungen" im Sinne von Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG sind - nach der vom deutschen Gesetzgeber festgelegten Ausgestaltung des Systems existenzsichernder Leistungen aus Steuermitteln gleichzeitig auch um Leistungen handelt, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern (vgl Schlussanträge des Berichterstatters Colomer in der Rs C-22/08 vom 12.3.2009, Slg 2009, I-4585, RdNr 57; anders das vor der Entscheidung Brey ergangene Urteil des EuGH vom 4.6.2009 in der Rs C-22/08, C 23/08 , Slg 2009, I-4585, RdNr 45; aA Vorlagebeschluss des SG Leipzig vom 3.6.2013 - S 17 AS 2198/12 - juris RdNr 64 ff). Dabei versteht der Senat die bisherige Rechtsprechung des EuGH so, dass diese Leistungen nicht eigens oder ausschließlich auf die Eingliederung des Empfängers in den Arbeitsmarkt gerichtet sein müssen. Ausreichend dürfte sein, dass die Sozialleistung den Zugang zum Arbeitsleben erleichtert (vgl EuGH Urteil vom 23.3.2004 in der Rs C-138/02 - Slg 2004, I-2703, RdNr 68; EuGH Urteil vom 25.10.2012 - Rs C-367/11 ABl EU 2012, C 399, 6 - zur Veröffentlichung in Slg vorgesehen, RdNr 25 mwN). Dabei ist der nationale Gesetzgeber bei der Ausgestaltung von Sozialleistungen europarechtlich grundsätzlich nicht auf ein bestimmtes sozialpolitisches Konzept festgelegt (vgl EuGH Urteil vom 14.12.1995 - C-317/93 - Slg 1995, I-4625 ff, RdNr 33 = SozR 3-6083 Art 4 Nr 11; vgl auch den vierten Erwägungsgrund der VO 883/2004).

46

Mit der kompletten Neustrukturierung der existenzsichernden Leistungen seit dem Jahre 2005 hat sich der bundesdeutsche Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit bei existenzsichernden Leistungen, die aus Steuermitteln finanziert werden, für eine stärkere Aktivierung erwerbsfähiger Personen im Sinne einer Arbeitsmarktintegration entschieden. Für die Anspruchsberechtigung nach dem SGB II wird primär auf die Erwerbsfähigkeit der bedürftigen Personen abgestellt, die das maßgebliche Abgrenzungskriterium für eine Zuordnung zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II darstellt (BT-Drucks 17/1940 S 20 zu Nr 8). Da nach § 8 Abs 1 SGB II bereits erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf (nicht) absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, ist die weitaus überwiegende Zahl der auf existenzsichernde Leistungen angewiesenen Personen dem SGB II zugeordnet. Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII) erhalten seit 2005 nur noch diejenigen, die nicht nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind (§ 21 SGB XII).

47

Für die Einordnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II als Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, spricht daher zunächst die Anspruchsvoraussetzung der Erwerbsfähigkeit (vgl EuGH Urteil vom 4.6.2009, Rs C-22/08, C-23/08 - Slg 2009 I-4585, RdNr 43 f). Die Zuordnung zu dem Leistungssystem des SGB II und die damit verbundene Zuständigkeit der mit der Arbeitsmarkintegration erfahrenen Jobcenter erleichtert den Zugang zum Arbeitsmarkt. Weiter enthält das SGB II in einem gesonderten Kapitel die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit, die spezielle, für die Personengruppe der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nach dem SGB II vorgesehene Leistungen enthalten (zB Einstiegsgeld nach § 16b SGB II "wenn dies zur Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt erforderlich ist"; Arbeitsgelegenheiten nach § 16d SGB II "zur Erlangung oder Wiedererlangung ihrer Beschäftigungsfähigkeit, die für eine Eingliederung in Arbeit erforderlich ist"; Förderung von Arbeitsverhältnissen durch Zuschüsse zum Arbeitsentgelt an Arbeitgeber für die Beschäftigung zugewiesener erwerbsfähiger Leistungsberechtigter nach § 16e SGB II).

48

Vor dem Hintergrund einer Einordnung der SGB II-Leistungen als solche Sozialleistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern, hält der Senat für klärungsbedürftig, ob die Ausschlussklausel des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II mit europäischem Primärrecht konform ist. Gegen die Verhältnismäßigkeit der Regelung könnte insofern sprechen, dass gerade bei guten Aussichten der Arbeitsuche und Vermittlung, also weiterhin - über drei bzw sechs Monate hinaus - bestehendem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche, der Ausschluss von den SGB II-Leistungen ohne gesetzlich fixierte Endgrenze fortbesteht. Es ist fraglich, ob eine zulässige Typisierung vorliegt, wenn die nationale Regelung davon ausgeht, dass für eine nicht im vorhinein eindeutig festgelegte Zeit regelmäßig keine ausreichende Verbindung zum innerstaatlichen Arbeitsmarkt bestehen kann. Für Unionsbürger mit einem Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche lässt die Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II keine einzelfallbezogene Berücksichtigung einer dennoch bestehenden Verbindung mit dem zum innerstaatlichen Arbeitsmarkt bzw einer sonstigen tatsächlichen Verbindung zum Aufnahmemitgliedstaat(EuGH Urteil vom 21.7.2011 - Rs C-503/09 - Slg 2011, I-6497, RdNr 104) zu. Der Ausgangssachverhalt verdeutlicht dies. Die Klägerinnen waren bereits früher im Bundesgebiet wirtschaftlich aktiv, hatten eine langjährige Verbindung zu Deutschland und haben unmittelbar nach Ablauf des hier streitigen Zeitraums eine berufliche Tätigkeit aufgenommen. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass sie trotz ihres aufenthaltsrechtlichen Status als arbeitsuchende Unionsbürger durchgehend bereits eine tatsächliche Verbindung mit dem Arbeitsmarkt in Deutschland hatten. Auch die dritte Vorlagefrage ist daher für den Rechtsstreit entscheidungserheblich.

(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

1.
die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2.
der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3.
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4.
der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum auf Grund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes.

(2) Der Verwaltungsakt ist im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 bleibt unberührt.

(3) Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Satz 1 gilt entsprechend, soweit einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zugrunde liegt, der nach § 45 nicht zurückgenommen werden kann.

(4) § 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 gelten entsprechend. § 45 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1.

(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die

1.
das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
2.
erwerbsfähig sind,
3.
hilfebedürftig sind und
4.
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
Ausgenommen sind
1.
Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2.
Ausländerinnen und Ausländer,
a)
die kein Aufenthaltsrecht haben oder
b)
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
und ihre Familienangehörigen,
3.
Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

(2) Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Dienstleistungen und Sachleistungen werden ihnen nur erbracht, wenn dadurch Hemmnisse bei der Eingliederung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten beseitigt oder vermindert werden. Zur Deckung der Bedarfe nach § 28 erhalten die dort genannten Personen auch dann Leistungen für Bildung und Teilhabe, wenn sie mit Personen in einem Haushalt zusammenleben, mit denen sie nur deshalb keine Bedarfsgemeinschaft bilden, weil diese aufgrund des zu berücksichtigenden Einkommens oder Vermögens selbst nicht leistungsberechtigt sind.

(3) Zur Bedarfsgemeinschaft gehören

1.
die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten,
2.
die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines unverheirateten erwerbsfähigen Kindes, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und die im Haushalt lebende Partnerin oder der im Haushalt lebende Partner dieses Elternteils,
3.
als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten
a)
die nicht dauernd getrennt lebende Ehegattin oder der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte,
b)
die nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartnerin oder der nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartner,
c)
eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.
4.
die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können.

(3a) Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner

1.
länger als ein Jahr zusammenleben,
2.
mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,
3.
Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder
4.
befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.

(4) Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend von Satz 1 erhält Leistungen nach diesem Buch,

1.
wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches) untergebracht ist oder
2.
wer in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.
Die Sätze 1 und 3 Nummer 2 gelten für Bewohner von Räumlichkeiten im Sinne des § 42a Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 des Zwölften Buches entsprechend.

(4a) (weggefallen)

(5) Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Satz 1 gilt auch für Auszubildende, deren Bedarf sich nach § 61 Absatz 2, § 62 Absatz 3, § 123 Nummer 2 sowie § 124 Nummer 2 des Dritten Buches bemisst.

(6) Absatz 5 Satz 1 ist nicht anzuwenden auf Auszubildende,

1.
die aufgrund von § 2 Absatz 1a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben,
2.
deren Bedarf sich nach den §§ 12, 13 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 oder nach § 13 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bemisst und die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz
a)
erhalten oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten oder
b)
beantragt haben und über deren Antrag das zuständige Amt für Ausbildungsförderung noch nicht entschieden hat; lehnt das zuständige Amt für Ausbildungsförderung die Leistungen ab, findet Absatz 5 mit Beginn des folgenden Monats Anwendung, oder
3.
die eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule oder ein Abendgymnasium besuchen, sofern sie aufgrund des § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Mai 2012 und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 3. März 2011 sowie der Bescheid der Beklagten vom 28. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. August 2010 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 6. Juli 2010 bis 4. Oktober 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu zahlen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 6.7.2010 bis 4.10.2010.

2

Die 1988 geborene Klägerin bulgarischer Staatsangehörigkeit reiste am 28.7.2009 mit einem bulgarischen Reisepass über den Grenzübergang Gradina (Bulgarien) aus und zu einem späteren, nicht exakt bekannten Zeitpunkt in die Bundesrepublik ein. Einwohnermelderechtlich wurde sie erstmals am 8.4.2010 "aus Bulgarien kommend" in Stuttgart erfasst. In der Zeit vor dem 8.4.2010 verfügte sie nicht über eine Arbeitserlaubnis und war nicht als Beschäftigte (bei einer Einzugsstelle oder der Minijobzentrale) gemeldet. Die Klägerin war seit Januar 2010 schwanger und wurde am 27.10.2010 von einem Mädchen entbunden. Am 6.7.2010 beantragte sie bei dem Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Bei Antragstellung gab sie an, Vater des erwarteten Kindes sei ihr Lebensgefährte. Zu diesem Zeitpunkt hatte dieser als griechischer Staatsangehöriger einen mehr als achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland zurückgelegt. Die Klägerin wies durch eine Urkunde des Jugendamts vom 20.7.2010 die Anerkennung der Vaterschaft nach. Über eine von ihr am 21.7.2010 bei der BA beantragte Erteilung einer Arbeitsgenehmigung-EU ohne Bezug zu einer konkreten Beschäftigung wurde zunächst nicht entschieden.

3

Der Beklagte lehnte den Antrag auf Leistungen nach dem SGB II ab (Bescheid vom 28.7.2010; Widerspruchsbescheid vom 10.8.2010). Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 3.3.2011). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 16.5.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Klägerin verfüge über einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet. Nach allen Erkenntnissen des Verfahrens habe sie bereits im Streitzeitraum beabsichtigt, in Deutschland zu bleiben. Ihr Aufenthalt sei auch in einer Weise verfestigt gewesen, dass von seiner Dauerhaftigkeit auszugehen sei. Die Anmietung einer Wohnung mit dem Lebensgefährten sei geplant gewesen. Das erwartete Kind habe von seiner Geburt an die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben dürfen, weil sein Vater einen mehr als achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland zurückgelegt habe. Die Klägerin sei nicht aus Rechtsgründen iS von § 8 Abs 2 SGB II als erwerbsunfähig einzustufen gewesen. Auch ein Unionsbürger, der noch nicht die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit genieße, sondern einer Arbeitserlaubnis bedürfe, sei zumindest dann erwerbsfähig iS von § 8 SGB II, wenn der Erlaubnisvorbehalt allein aus Nachrangigkeitsgründen bestehe und daher zumindest eine Arbeitserlaubnis-EU erteilt werden könne. Dies sei bei der Klägerin der Fall.

4

Der Leistungsanspruch sei jedoch nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II ausgeschlossen, weil die Klägerin im streitigen Zeitraum allenfalls aus Gründen der Arbeitsuche aufenthaltsberechtigt gewesen sei. Andere Aufenthaltsgründe lägen nicht vor. Insbesondere sei die Klägerin in Deutschland nicht als oder wie eine Arbeitnehmerin beschäftigt gewesen. Im Hinblick auf ihr Kind habe die Klägerin kein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige erwerben können, weil sie erst ab Geburt des Kindes "Verwandte" iS von § 3 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU gewesen sei. Ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot aus Art 4 iVm Art 70 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 liege nicht vor. Dieses trete hinter die Regelung in Art 24 Abs 2 der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) zurück. Zur Sozialhilfe iS des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG zählten auch die Regelleistung und die Leistungen für Unterkunft und Heizung nach den §§ 20, 22 SGB II sowie - im Fall der Klägerin - die Mehrbedarfsleistungen für Schwangere. Diesen Leistungen fehle der spezifische Bezug zum Arbeitsmarkt, der einen Vorrang der VO (EG) Nr 883/2004 gegenüber der FreizügRL begründe. § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II iVm Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG sei als speziellere Regelung anwendbar. Auch ein Verstoß des § 7 Abs 1 S 2 SGB II gegen die Regelungen des EFA sei nicht ersichtlich, weil Bulgarien nicht Signatarstaat sei.

5

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin, das Berufungsurteil trage dem Schutz des ungeborenen Lebens nicht ausreichend Rechnung. Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zu den aufenthaltsrechtlichen Vorwirkungen der bevorstehenden Vaterschaft eines bereits im Bundesgebiet lebenden Ausländers hinsichtlich seines ungeborenen Kindes sei übertragbar. Dies folge aus dem Schutz der Familie nach Art 6 Abs 1 GG und der aus Art 2 Abs 2 S 1 und Art 1 Abs 1 GG abzuleitenden Schutzpflicht für die Gesundheit der werdenden Mutter und des ungeborenen Kindes. Es sei dem Vater zu ermöglichen, den in § 1615f BGB festgelegten Unterhalt als Naturalunterhalt zu erbringen. Dass der Unionsgesetzgeber eine solche Situation nicht vorhergesehen habe, führe allenfalls dazu, dass sich das Aufenthaltsrecht nicht aus dem Sekundär- sondern dem Primärrecht ergebe. Die werdende Mutter habe in der Zeit der Schwangerschaft einen aufenthaltsrechtlich geschützten Anspruch auf Beistand durch den "werdenden" Vater. Leistungsansprüche im Rahmen der sozialen Koordinierung seien durch die Unionsbürger-Richtlinie nicht ausgeschlossen, weil der EuGH soziale Ansprüche aus dem Freizügigkeitsregime und aus den Regelungen über die sozialrechtliche Koordinierung als konkurrierende behandele.

6

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Stuttgart vom 3. März 2011 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Mai 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. August 2010 zu verurteilen, ihr Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 6. Juli 2010 bis 4. Oktober 2010 zu gewähren.

7

Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

8

Die Klägerin könne über die Schwangerschaft keine Eigenschaft als Familienangehörige konstruieren. Zwar stünden sich - vor Erklärung des Vorbehalts der Bundesregierung - aus Rumänien und Bulgarien stammende EU-Bürger bei Leistungen nach dem SGB II schlechter als Ausländer, die gleichzeitig EFA-Staatsangehörige seien. Dieses unterschiedliche Ergebnis verstoße jedoch nicht gegen Unionsrecht, weil es durch die (befristet) eingeschränkte Freizügigkeit bulgarischer Staatsangehöriger gerechtfertigt sei, die insoweit auch das ansonsten unionsrechtlich geltende Diskriminierungsverbot einschränke.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Die Vorinstanzen und der Beklagte haben einen Anspruch der Klägerin auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu Unrecht verneint.

10

1. Streitgegenstand sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, die der Beklagte mit Bescheid vom 28.7.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.8.2010 abgelehnt hat. Die Klägerin hat den streitigen Zeitraum ausdrücklich auf die Zeit vom 6.7.2010 bis 4.10.2010 beschränkt.

11

2. Die Klägerin erfüllte im streitigen Zeitraum sämtliche Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 S 1 Nr 1 bis 4 SGB II und war auch nicht nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II von den SGB II-Leistungen ausgeschlossen.

12

Leistungen nach dem SGB II erhalten nach § 7 Abs 1 S 1 SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Die Klägerin bewegte sich innerhalb der Altersgrenzen des § 7 Abs 1 Nr 1 SGB II und war nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG(§ 163 SGG) hilfebedürftig nach § 7 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB II.

13

3. Die Klägerin war auch erwerbsfähig iS von § 7 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB II iVm § 8 SGB II. Nach § 8 Abs 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf (nicht) absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. IS von § 8 Abs 1 SGB II können Ausländerinnen und Ausländer nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte(§ 8 Abs 2 SGB II) .

14

Nach den Feststellungen des LSG standen körperliche Gründe iS von § 8 Abs 1 SGB II einer Erwerbsfähigkeit nicht entgegen. Das Berufungsgericht ist weiter zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin nicht iS von § 8 Abs 2 SGB II als erwerbsunfähig anzusehen war. Zwar bleibt für EU-Bürger der zum 1.1.2007 beigetretenen Staaten Bulgarien und Rumänien (vgl Vertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumänien zur Europäischen Union vom 25.4.2005 ) die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 45 AEUV) für eine Übergangsfrist von sieben Jahren bis zum 31.12.2013 in der Weise beschränkt, dass die bestehenden nationalen Regelungen für den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt für ausländische Staatsangehörige auch für diese neuen EU-Bürger beibehalten wurden. Staatsangehörige dieser Länder können sich nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU als Art 2 des ZuwanderungsG vom 30.7.2004 ; vgl § 1 Abs 2 Nr 1 AufenthG) grundsätzlich frei innerhalb der EU bewegen, benötigen zur Beschäftigungsaufnahme in Deutschland in der Übergangszeit aber weiterhin eine Arbeitsgenehmigung-EU (§ 284 Abs 1 S 2 SGB III idF des Gesetzes vom 7.12.2006, BGBl I 2814).

15

Die Klägerin war nicht im Besitz einer Arbeitsgenehmigung. Es ist jedoch ausreichend, dass ihr vorbehaltlich der Vorlage eines konkreten, überprüfbaren Stellenangebots eines künftigen Arbeitgebers im streitigen Zeitraum die Aufnahme einer Beschäftigung hätte erlaubt werden können. Soweit das SG eine Erwerbsfähigkeit ohne weitere Ermittlungen mit der Begründung verneint hat, dass keine konkrete und realisierbare Möglichkeit zur Erteilung einer Arbeitsgenehmigung/EU bestanden habe, unterstellt es zu Unrecht, dass in jedem Einzelfall eine konkret-rechtliche Möglichkeit der Beschäftigungsaufnahme geprüft werden muss. Für die Annahme, dass eine Beschäftigung iS des § 8 Abs 2 SGB II erlaubt ist oder erlaubt werden könnte, reicht es jedoch aus, wenn die Aufnahme einer Tätigkeit im Sinne einer rechtlich-theoretischen Möglichkeit mit einer Zustimmung zur Beschäftigungsaufnahme durch die BA erlaubt sein könnte, auch wenn dies bezogen auf einen konkreten Arbeitsplatz durch die Verfügbarkeit geeigneter bevorrechtigter Bewerber(§ 39 Abs 2 AufenthG) verhindert wird. Unabhängig hiervon ist Unionsbürgern, also auch Rumänen und Bulgaren, Vorrang gegenüber Drittstaatsangehörigen einzuräumen ("Gemeinschaftsprivileg" HK-AuslR/Clodius, 1. Aufl 2008, Anhang zum FreizügG/§ 284 SGB III RdNr 19). Dass auf eine abstrakt-rechtliche Möglichkeit der Erteilung einer Arbeitsgenehmigung abzustellen ist, ergibt sich nunmehr auch aus dem mit Wirkung zum 1.4.2011 (BGBl I 453) eingefügten § 8 Abs 2 S 2 SGB II. Dieser bestimmt, dass die rechtliche Möglichkeit, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 AufenthG aufzunehmen, ausreichend ist(BT-Drucks 15/1749 S 31 "Klarstellung"; BT-Drucks 15/1516 S 52).

16

Einen solchen - gegenüber deutschen Staatsangehörigen und uneingeschränkt freizügigkeitsberechtigten EU-Bürgern - nachrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt hatte die Klägerin im streitigen Zeitraum, weil ihr eine Arbeitsgenehmigung/EU nach § 284 Abs 3 SGB III iVm § 39 Abs 2 Nr 1 AufenthG, etwa für eine Tätigkeit als Hilfskraft(vgl hierzu auch Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 13 RdNr 44), hätte erteilt werden können. Staatsangehörige aus den neuen EU-Beitrittsländern, die - wie die Klägerin - seit längerer Zeit in Deutschland wohnen, sind nicht als "Neueinreisende" iS von § 284 Abs 4 SGB III (mit "Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland") anzusehen, für die weitergehende Beschränkungen gelten(Dienelt aaO).

17

4. Die Klägerin verfügte im streitigen Zeitraum auch über einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet iS von § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB II.

18

Nach § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB II iVm § 30 Abs 3 S 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Diese Definition gilt für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs, soweit sich nicht aus seinen besonderen Teilen etwas anderes ergibt (§ 37 SGB I). Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen (BSG SozR 3-1200 § 30 Nr 5 S 8). Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist. Mit einem Abstellen auf den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse im Gebiet der Bundesrepublik soll - auch im Sinne einer Missbrauchsabwehr - ausgeschlossen werden, dass ein Wohnsitz zur Erlangung von Sozialleistungen im Wesentlichen nur formal begründet, dieser jedoch tatsächlich weder genutzt noch beibehalten werden soll (Schlegel in jurisPK-SGB I, 2. Aufl 2012, § 30 RdNr 24 mit Verweis auf BT-Drucks 7/3786 S 5 zu § 30; zur Begründung eines Wohnsitzes "nach den faktischen Verhältnissen" iS von Art 1 lit j VO (EG) 883/2004 unter Einbeziehung der Definition in Art 11 VO (EG) Nr 987/2009 und Abgrenzung zur "legal residence in Directive 2004/38" Frings, Grundsicherungsleistungen für Unionsbürger unter dem Einfluss der VO (EG) Nr 883/2004 in ZAR, 2012, 317 ff, 322).

19

Jedenfalls für den Bereich des SGB II läuft es der Vereinheitlichung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts zuwider, wenn unter Berufung auf eine sog Einfärbungslehre vor allem des früheren 4. Senats des BSG (vgl hierzu BSG SozR 3-1200 § 30 Nr 21 S 45 ff; ähnlich BSG SozR 3-2600 § 56 Nr 7 S 31 ff; anders für die Familienversicherung nach § 10 SGB V: BSGE 80, 209 ff, 211 f = BSG SozR 3-2500 § 10 Nr 12 S 52 f) dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmende Tatbestandsmerkmale im Sinne von rechtlichen Erfordernissen zum Aufenthaltsstatus aufgestellt werden (vgl Schlegel in jurisPK-SGB I, 2. Aufl 2012, § 30 RdNr 26, 50 ff)und damit einzelnen Personengruppen der Zugang zu existenzsichernden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts versperrt wird. Zudem hat der Gesetzgeber diese Rechtsprechung nur in Teilbereichen, etwa beim Kinder-, Erziehungs- und Elterngeld, aufgegriffen und einen Anspruch von einem definierten Aufenthaltsstatus abhängig gemacht (vgl zB § 1 Abs 7 BEEG; § 1 Abs 6 BErzGG idF bis zum 31.12.2006; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Differenzierungskriterien: BVerfGE 111, 176 ff = SozR 4-7833 § 1 Nr 4). Ein diesen Regelungen entsprechendes, also zu dem gewöhnlichen Aufenthalt hinzutretendes Anspruchsmerkmal im Sinne des Innehabens einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU bzw eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem AufenthG fehlt im SGB II. Vielmehr hat der Gesetzgeber mit § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II in einer anderen Regelungssystematik ein Ausschlusskriterium von SGB II-Leistungen nur für diejenigen Ausländer vorgesehen, deren "Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt".

20

Unabhängig hiervon liegt eine fehlende Dauerhaftigkeit des Aufenthalts im Sinne einer nicht vorhandenen Zukunftsoffenheit bei Unionsbürgern regelmäßig nicht vor, weil ihr Aufenthalt nicht nach einer bereits vorliegenden Entscheidung der dafür allein zuständigen Ausländerbehörde auflösend befristet oder auflösend bedingt ist. Zwar verfügte die Klägerin - anders als in den vom 14. Senat des BSG entschiedenen Fallgestaltungen (BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21 RdNr 13; BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 28 RdNr 17) -offenbar (Feststellungen des LSG hierzu fehlen) nicht über eine Freizügigkeitsbescheinigung (§ 5 FreizügG/EU; entfallen durch Art 1 des Gesetzes zur Änderung des FreizügigkeitsG/EU und weitere aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vom 21.1.2013 ). Einer solchen Bescheinigung kommt aber lediglich deklaratorische Bedeutung zu, weil sich das Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergibt (BT-Drucks 15/420 S 101; BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 28 RdNr 17; BVerwGE 110, 40, 53: subjektiv-öffentliches Unionsbürgerrecht unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme). Auch bei Staatsangehörigen aus den neuen Mitgliedstaaten kann der Aufenthalt während der Übergangsphase nur unter den Voraussetzungen der §§ 5 Abs 5, 6 und 7 FreizügG/EU wegen des Wegfalls, des Verlustes oder des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts, also nach Durchführung eines Verwaltungsverfahren, beendet werden(Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 2. Aufl 2011, § 13 RdNr 57, 61; OVG Bremen Beschluss vom 21.1.2011 - 1 B 242/10, juris-RdNr 4). Das Aufenthaltsrecht besteht, solange der Aufnahmemitgliedstaat nicht durch einen nationalen Rechtsakt festgestellt hat, dass der Unionsbürger bestimmte vorbehaltene Bedingungen iS des Art 21 AEUV nicht erfüllt (Harms in Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 1. Aufl 2008, § 2 FreizügG RdNr 4 mwN).

21

Auch § 13 FreizügG/EU steht der Vermutung einer Freizügigkeit nicht entgegen. Danach findet, soweit ua nach Maßgabe des Vertrags vom 25.4.2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (BGBl II 1146) abweichende Regelungen anwendbar sind, das FreizügG/EU Anwendung, wenn die Beschäftigung durch die BA gemäß § 284 Abs 1 SGB III genehmigt wurde. Trotz des unklaren Wortlauts des § 13 FreizügG/EU schränkt der Umstand, dass die Beitrittsverträge nationale Übergangsmaßnahmen im Hinblick auf den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt innerhalb eines längstens sieben Jahre dauernden Zeitraums durch die Mitgliedstaaten zulassen, nicht grundsätzlich das Freizügigkeitsrecht der neuen Unionsbürger ein(OVG Hamburg Beschluss vom 21.1.2011 - 1 B 242/10, juris-RdNr 4; HK-AuslR/Geyer, 1. Aufl 2008, § 13 FreizügG RdNr 2).

22

5. Der Anspruch auf SGB II-Leistungen ist auch nicht nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II ausgeschlossen. Ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II sind danach ua Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts (Nr 1) und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen (Nr 2). Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) greift der Anspruchsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II schon deshalb nicht, weil die Klägerin unmittelbar nach Verlassen Bulgariens Ende Juli 2009 nach Deutschland eingereist ist und sich seitdem im Bundesgebiet aufgehalten hat, bevor sie im April 2010 einwohnermelderechtlich erfasst wurde.

23

6. a) Auch § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II schließt einen Anspruch der Klägerin nicht aus, weil sich ihr Aufenthaltsrecht im streitigen Zeitraum nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergab. Die Ausschlussregelung erfordert - zur Umsetzung des Willens des Gesetzgebers bei Unionsbürgern regelmäßig eine "fiktive Prüfung" des Grundes bzw der Gründe ihrer Aufenthaltsberechtigung. Bereits das Vorhandensein der Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts aus einem anderen Grund als dem Zweck der Arbeitsuche hindert die von der Rechtsprechung des BSG geforderte positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II. Ein solcher Fall liegt hier vor, weil sich aus der bevorstehenden Geburt des Kindes der Klägerin ein anderes Aufenthaltsrecht ergeben konnte.

24

b) Unbesehen des subjektiv-öffentlichen Unionsbürgerrechts nach der RL 2004/38/EG und dem deutschen FreizügG/EU erfordert eine dem Willen des Gesetzgebers entsprechende Anwendung des Ausschlusstatbestandes des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II eine "fiktive Prüfung", ob - im Falle von Unionsbürgern - ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche bestand oder daneben auch andere Aufenthaltszwecke den Aufenthalt des Unionsbürgers im Inland rechtfertigen konnten. Dies ergibt sich aus der für die Auslegung der Vorschrift wesentlichen Entstehungsgeschichte der Ausschlussregelung.

25

Den Gesetzesmaterialien zu § 7 Abs 1 S 2 SGB II ist zu entnehmen, dass von der "Option" des Art 24 Abs 2 iVm Art 14 Abs 4 der RL 2004/38/EG auch im Bereich des SGB II Gebrauch gemacht werden sollte(BT-Drucks 16/5065 S 234; siehe auch BT-Drucks 16/688 S 13). Trotz des Kontextes, in welchem die Regelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II erlassen wurde, nämlich der Erweiterung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern zu einer allgemeinen Freizügigkeit für alle Unionsbürger durch die RL 2004/38/EG, wollte der bundesdeutsche Gesetzgeber neben den von Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG unstreitig erfassten Sozialhilfeleistungen auch SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausschließen. Deren Einordnung als Sozialhilfeleistungen iS von Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG ist allerdings fraglich. Die beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG haben die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts entsprechend ihrer Aufnahme in den Anhang der VO (EG) Nr 883/2004 als "besondere beitragsunabhängige Geldleistungen" nach Art 4 iVm Art 70 VO (EG) Nr 883/2004, nicht jedoch als Leistungen der "sozialen Fürsorge" iS von Art 3 Abs 5a) VO (EG) Nr 883/2004 angesehen. Sie haben darauf hingewiesen, dass durch das Erfordernis der Erwerbsfähigkeit ein Bezug zu den Leistungen bei Arbeitslosigkeit bestehe (BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21 RdNr 29; BSGE 107, 206 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 22 RdNr 20 f; vgl auch EuGH Urteil vom 4.9.2009 - Rs C-22/08 - SozR 4-6035 Art 39 Nr 5, RdNr 43; siehe aber auch BVerwG Urteil vom 31.5.2012 - 10 C 8/12 juris RdNr 25 mwN, zur Einordnung von SGB II-Leistungen als aufenthaltsrechtlich schädliche Sozialhilfeleistungen iS des Art 7 Abs 1 Buchst b der RL 2004/38/EG, wobei dies "nicht zwingend deckungsgleich" mit dem in Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG genannten Begriff der Sozialhilfe sein müsse; kritisch hierzu Breidenbach in ZAR 2011, 235 ff).

26

Ungeachtet der insofern bestehenden Zweifel an der europarechtlichen Zulässigkeit des nicht nach dem Grad der Verbindung des arbeitsuchenden Unionsbürgers zum Arbeitsmarkt des Aufnahmestaats und seinem beruflich möglichen Zugang zum Arbeitsmarkt differenzierenden sowie zeitlich unbefristeten Ausschlusses der arbeitsuchenden Unionsbürger von SGB II-Leistungen ist § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II als Ausschlussregelung von existenzsichernden Sozialleistungen jedenfalls eng auszulegen. Auch aus dem Aufbau der Norm ist abzuleiten, dass positiv feststellt werden muss, dass dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland zusteht (BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 28).

27

c) Jedenfalls nicht erfasst von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II werden Unionsbürger, bei denen die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU oder ggf dem begrenzt subsidiär anwendbaren AufenthG (siehe hierzu unten) aus anderen Gründen als dem Zweck der Arbeitsuche vorliegen. Insofern ist der Regelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II immanent, dass der Ausschluss nur Unionsbürger trifft, die sich ausschließlich und ggf schon vor einer Meldung beim Jobcenter auch eigeninitiativ um eine Beschäftigung bemüht haben, nicht jedoch diejenigen erfasst, die sich auch auf ein anderes Aufenthaltsrecht berufen können.

28

Da Unionsbürger für die Einreise keines Visums und für den Aufenthalt keines Aufenthaltstitels (§ 2 Abs 4 S 1 FreizügG/EU) bedürfen, kann bei ihnen der ausländerrechtlich anerkannte Aufenthaltszweck nicht unmittelbar einem entsprechenden Dokument mit möglicher Tatbestandswirkung für das SGB II entnommen werden. Vor dem Hintergrund einer - bis zur Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlusts einer Freizügigkeitsberechtigung - bestehenden Freizügigkeitsvermutung von Unionsbürgern und der bereits damit verbundenen Vermutung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts (vgl Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 12 RdNr 34) kann bei dieser Personengruppe nicht darauf abgestellt werden, ob das Aufenthaltsrecht in einem Aufenthaltstitel dokumentiert ist. Zwar kann ein in einer ggf bis zum 28.1.2013 deklaratorisch erteilten Bescheinigung gemäß § 5 Abs 1 FreizügG/EU (aF) angegebener Aufenthaltszweck ein wesentliches Indiz für den Aufenthaltsgrund sein. Unionsbürger sind jedoch nicht verpflichtet, die Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts durch eine entsprechende Bescheinigung nachzuweisen (BVerwG Urteil vom 16.11.2010 - 1 C 17/09, BVerwGE 138, 122 ff). Entscheidend ist das Vorliegen der Voraussetzungen für ein weiteres Aufenthaltsrecht. Auch soweit der Aufenthalt aus einem anderen materiell bestehenden Aufenthaltsrecht als dem Zweck der Arbeitsuche nicht beendet werden könnte, hindert dies sozialrechtlich die positive Feststellung eines "Aufenthaltsrechts allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II.

29

Seine Feststellung, die Klägerin sei im streitigen Zeitraum "ab dem 6.7.2010 in Deutschland allenfalls aus Gründen der Arbeitsuche aufenthaltsberechtigt", hat das Berufungsgericht vorrangig damit begründet, dass ein Aufenthaltsrecht wegen einer fortwirkenden Arbeitnehmereigenschaft nicht bestanden habe (vgl zu dem hierfür regelmäßig angenommen Zeitraum von sechs Monaten: § 2 Abs 3 S 1 Nr 2 iVm § 2 Abs 3 S 2 FreizügG/EU; EuGH Urteil vom 4.6.2009 - C-22/08, C-23/08 - SozR 4-6035 Art 39 Nr 5, RdNr 32; BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 18). Ob sich die Klägerin bis zum Beginn des streitigen Zeitraums auf ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche berufen konnte, hat das LSG nicht erörtert. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist ein arbeitsuchender EU-Bürger solange freizügigkeitsberechtigt, wie er mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht, wobei das Gemeinschaftsrecht die Länge des angemessenen Zeitraums nicht regelt. Allerdings ist es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, dem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der zum Zweck der Stellensuche in sein Gebiet eingereist ist, auszuweisen, wenn dieser nach sechs Monaten keine Stelle gefunden hat, sofern der Betroffene nicht nachweist, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht (EuGH Urteil vom 26.2.1991 - C-292/89 ; so auch Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 2 FreizügG/EU RdNr 56).

30

Auch wenn die Klägerin wegen des im streitigen Zeitraum hinzutretenden SGB II-Antrags und der damit verbundenen Verpflichtung, alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen und aktiv an allen Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit mitwirken (§ 2 Abs 1 S 1 und 2 SGB II), als Arbeitsuchende anzusehen ist, hindert dies nicht die Annahme eines Aufenthaltsrechts auch aus einem anderen Aufenthaltsgrund (vgl zum zulässigen Wechsel der Aufenthaltszwecke während des Aufenthalts: HK-AuslR/Geyer, 2008, § 5 FreizügG/EU RdNr 3). Auch der Verlust des Freizügigkeitsrechts kann erst festgestellt werden, wenn die Freizügigkeitsberechtigung nicht aus anderen Gründen besteht (Huber, AufenthaltsG, 2010, § 5 FreizügG/EU RdNr 15). Ein solches bereits vor SGB II-Antragstellung hinzugetretenes weiteres Aufenthaltsrecht der Klägerin im Bundesgebiet liegt hier vor.

31

d) Die Klägerin konnte sich nach den besonderen Einzelfallumständen in dem hier streitigen Zeitraum wegen der zu erwartenden Geburt des Kindes auch auf ein anderes Aufenthaltsrecht iS des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II berufen.

32

§ 11 Abs 1 S 5 FreizügG/EU in der bis zum 30.6.2011 geltenden Fassung vom 19.8.2007 (BGBl I 1970) bestimmt, dass das - grundsätzlich nur noch für Drittstaatsangehörige geltende - AufenthG weiterhin auch auf Unionsbürger Anwendung findet, wenn es eine günstigere Regelung vermittelt als das FreizügG/EU. Bei dem anzustellenden Günstigkeitsvergleich ist keine abstrakt wertende Betrachtung in Bezug auf die gesamte Rechtsstellung anzustellen. Vielmehr knüpft der Vergleich iS einer den konkreten Einzelfall in den Blick nehmenden Betrachtung an einzelne Merkmale an (Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 11 RdNr 28).

33

Nach dem insoweit anwendbaren § 7 Abs 1 S 3 AufenthG kann - unabhängig von der ansonsten geforderten Bindung der Aufenthaltserlaubnis an konkrete, im AufenthG genannte Aufenthaltszwecke(§ 7 Abs 1 S 2 AufenthG) - in begründeten Fällen im Wege einer Ermessensentscheidung eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen von diesem Gesetz nicht genannten Aufenthaltszweck erteilt werden. Allerdings ist das LSG zu Recht davon ausgegangen, dass eheähnlich zusammenlebende heterosexuelle Paare weder aus dem Auffangtatbestand des § 7 Abs 1 S 3 AufenthG noch aus dem europäischem Recht ein Aufenthaltsrecht zur Familienzusammenführung ableiten können, weil der Familiennachzug in § 3 FreizügG/EU und den §§ 27 ff AufenthG abschließend geregelt ist. Da nichteheliche Lebensgemeinschaften von den ausdrücklichen Regelungen gerade nicht erfasst sind, ist die Anwendung von § 7 Abs 1 S 3 AufenthG grundsätzlich gesperrt(vgl BVerwG Urteil vom 27.2.1996 - 1 C 41/93 - BVerwGE 100, 287 ff; Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 7 AufentG RdNr 20).

34

Die - hier im Rahmen der Ausschlussklausel des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II - bei Unionsbürgern nur zu prüfenden Voraussetzungen eines anderen Aufenthaltsrechts sind aber wegen der bevorstehenden Geburt des Kindes gegeben. Insofern handelt es sich um ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen, das aus dem Zusammenleben der Partner mit einem gemeinsamen Kind oder dem Kind eines Partners folgt. Diese Personengruppen bilden jeweils eine Familie iS des Art 6 GG und der §§ 27 Abs 1, 28 Abs 1, 29 und 32 AufenthG und können sich auch auf den Schutz aus Art 8 der Konvention des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(MRK) berufen (vgl auch Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 7 AufenthG RdNr 20).

35

Eine solche Konstellation, die einen anderen Aufenthaltszweck als denjenigen der Arbeitsuche vermitteln kann, kann auch in einer bevorstehenden Familiengründung liegen. Insofern wird in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zum AufenthG angenommen, dass der bevorstehenden Geburt eines Kindes aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen für den Aufenthaltsstatus eines Elternteils zukommen können. Die anstehende Vaterschaft eines bereits im Bundesgebiet lebenden Ausländers hinsichtlich des ungeborenen Kindes einer deutschen, aber auch ausländischen Staatsangehörigen kann aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen im Sinne eines Abschiebungshindernisses begründen, wenn entweder der Schutz der Familie nach Art 6 Abs 1 GG und die aus Art 2 Abs 2 S 1 und Art 1 Abs 1 GG abzuleitende Schutzpflicht für die Gesundheit der werdenden Mutter und des Kindes dies gebieten, oder wenn beide Elternteile bereits in Verhältnissen leben, welche eine gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung sicher erwarten lassen und eine (vorübergehende) Ausreise zur Durchführung eines Sichtvermerkverfahrens nicht zumutbar ist. Dies gilt zumindest mit der Vaterschaftsanerkennung und der Zustimmung der Mutter (§§ 1592 Nr 2, 1595 Abs 1 BGB) sowie einer gemeinsamen Sorgerechtserklärung (OVG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 23.2.2012 - 2 S 94.11, 2 M 70.2 M 70.11 - RdNr 3 ff; Sächsisches OVG Beschluss vom 2.10.2009 - 3 B 482/09 - InfAuslR 2010, 27 ff: vgl auch VG Dresden Beschluss vom 11.6.2008 - 3 L 279/08 - RdNr 10 zum Abschiebungsschutz für eine werdende ausländische Mutter). Insofern tritt die staatliche Verpflichtung aus Art 6 Abs 1 GG iVm Abs 2 GG ein (OVG Hamburg Beschluss vom 14.8.2008 - 4 Bs 84/08 - InfAuslR 2009, 16 ff). Von der Schutzpflicht des Staates aus Art 6 GG ist insbesondere die Rechtsposition des Kindes sowie dessen Anspruch auf Ermöglichung bzw Aufrechterhaltung eines familiären Bezugs zu beiden Elternteilen von Geburt an betroffen (BVerfG FamRZ 2006, 187 ff; BVerfG NVwZ 2006, 682, 683 zum Familienschutz; BVerfGE 80, 81 ff).

36

Diese aufenthaltsrechtlichen Vorwirkungen einer bevorstehenden Familiengründung bestanden auch im Falle der Klägerin. Es wäre ihr weniger als vier Monate vor dem errechneten Geburtstermin nicht mehr zumutbar gewesen, sich von dem Vater des Kindes unter zumindest vorübergehender Aufgabe des familiären Zusammenhalts und mit dem Risiko einer zeitgerechten Rückkehr zur Geburt zu trennen. Auch in der hier vorliegenden Fallgestaltung soll verhindert werden, dass ein Kind in dem ersten Jahr nach seiner Geburt entgegen Art 6 Abs 1 GG von der Erziehungsleistung eines seiner Elternteile ausgeschlossen wird. Für die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art 6 GG und damit auch ihre Vorwirkungen ist dabei nicht vorrangig auf formal-rechtliche familiäre Bindungen, sondern auf die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern im Wege einer Einzelfallbetrachtung abzustellen (BVerfG FamRZ 2006, 187 ff, RdNr 18 mwN). Nach den Feststellungen des LSG hat die Klägerin bereits bei Antragstellung angegeben, dass ihr Kind von dem Lebensgefährten sei, mit dem die Anmietung einer gemeinsamen Wohnung geplant sei. Es ergab sich daher schon für die Zeit vor der Anerkennung der Vaterschaft eine vorwirkende Schutzwirkung, die ein Aufenthaltsrecht der Klägerin wegen des bevorstehenden familiären Zusammenlebens begründen konnte.

37

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die

1.
das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
2.
erwerbsfähig sind,
3.
hilfebedürftig sind und
4.
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
Ausgenommen sind
1.
Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2.
Ausländerinnen und Ausländer,
a)
die kein Aufenthaltsrecht haben oder
b)
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
und ihre Familienangehörigen,
3.
Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

(2) Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Dienstleistungen und Sachleistungen werden ihnen nur erbracht, wenn dadurch Hemmnisse bei der Eingliederung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten beseitigt oder vermindert werden. Zur Deckung der Bedarfe nach § 28 erhalten die dort genannten Personen auch dann Leistungen für Bildung und Teilhabe, wenn sie mit Personen in einem Haushalt zusammenleben, mit denen sie nur deshalb keine Bedarfsgemeinschaft bilden, weil diese aufgrund des zu berücksichtigenden Einkommens oder Vermögens selbst nicht leistungsberechtigt sind.

(3) Zur Bedarfsgemeinschaft gehören

1.
die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten,
2.
die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines unverheirateten erwerbsfähigen Kindes, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und die im Haushalt lebende Partnerin oder der im Haushalt lebende Partner dieses Elternteils,
3.
als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten
a)
die nicht dauernd getrennt lebende Ehegattin oder der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte,
b)
die nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartnerin oder der nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartner,
c)
eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.
4.
die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können.

(3a) Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner

1.
länger als ein Jahr zusammenleben,
2.
mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,
3.
Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder
4.
befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.

(4) Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend von Satz 1 erhält Leistungen nach diesem Buch,

1.
wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches) untergebracht ist oder
2.
wer in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.
Die Sätze 1 und 3 Nummer 2 gelten für Bewohner von Räumlichkeiten im Sinne des § 42a Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 des Zwölften Buches entsprechend.

(4a) (weggefallen)

(5) Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Satz 1 gilt auch für Auszubildende, deren Bedarf sich nach § 61 Absatz 2, § 62 Absatz 3, § 123 Nummer 2 sowie § 124 Nummer 2 des Dritten Buches bemisst.

(6) Absatz 5 Satz 1 ist nicht anzuwenden auf Auszubildende,

1.
die aufgrund von § 2 Absatz 1a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben,
2.
deren Bedarf sich nach den §§ 12, 13 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 oder nach § 13 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bemisst und die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz
a)
erhalten oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten oder
b)
beantragt haben und über deren Antrag das zuständige Amt für Ausbildungsförderung noch nicht entschieden hat; lehnt das zuständige Amt für Ausbildungsförderung die Leistungen ab, findet Absatz 5 mit Beginn des folgenden Monats Anwendung, oder
3.
die eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule oder ein Abendgymnasium besuchen, sofern sie aufgrund des § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Mai 2012 und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 3. März 2011 sowie der Bescheid der Beklagten vom 28. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. August 2010 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 6. Juli 2010 bis 4. Oktober 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu zahlen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 6.7.2010 bis 4.10.2010.

2

Die 1988 geborene Klägerin bulgarischer Staatsangehörigkeit reiste am 28.7.2009 mit einem bulgarischen Reisepass über den Grenzübergang Gradina (Bulgarien) aus und zu einem späteren, nicht exakt bekannten Zeitpunkt in die Bundesrepublik ein. Einwohnermelderechtlich wurde sie erstmals am 8.4.2010 "aus Bulgarien kommend" in Stuttgart erfasst. In der Zeit vor dem 8.4.2010 verfügte sie nicht über eine Arbeitserlaubnis und war nicht als Beschäftigte (bei einer Einzugsstelle oder der Minijobzentrale) gemeldet. Die Klägerin war seit Januar 2010 schwanger und wurde am 27.10.2010 von einem Mädchen entbunden. Am 6.7.2010 beantragte sie bei dem Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Bei Antragstellung gab sie an, Vater des erwarteten Kindes sei ihr Lebensgefährte. Zu diesem Zeitpunkt hatte dieser als griechischer Staatsangehöriger einen mehr als achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland zurückgelegt. Die Klägerin wies durch eine Urkunde des Jugendamts vom 20.7.2010 die Anerkennung der Vaterschaft nach. Über eine von ihr am 21.7.2010 bei der BA beantragte Erteilung einer Arbeitsgenehmigung-EU ohne Bezug zu einer konkreten Beschäftigung wurde zunächst nicht entschieden.

3

Der Beklagte lehnte den Antrag auf Leistungen nach dem SGB II ab (Bescheid vom 28.7.2010; Widerspruchsbescheid vom 10.8.2010). Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 3.3.2011). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 16.5.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Klägerin verfüge über einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet. Nach allen Erkenntnissen des Verfahrens habe sie bereits im Streitzeitraum beabsichtigt, in Deutschland zu bleiben. Ihr Aufenthalt sei auch in einer Weise verfestigt gewesen, dass von seiner Dauerhaftigkeit auszugehen sei. Die Anmietung einer Wohnung mit dem Lebensgefährten sei geplant gewesen. Das erwartete Kind habe von seiner Geburt an die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben dürfen, weil sein Vater einen mehr als achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland zurückgelegt habe. Die Klägerin sei nicht aus Rechtsgründen iS von § 8 Abs 2 SGB II als erwerbsunfähig einzustufen gewesen. Auch ein Unionsbürger, der noch nicht die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit genieße, sondern einer Arbeitserlaubnis bedürfe, sei zumindest dann erwerbsfähig iS von § 8 SGB II, wenn der Erlaubnisvorbehalt allein aus Nachrangigkeitsgründen bestehe und daher zumindest eine Arbeitserlaubnis-EU erteilt werden könne. Dies sei bei der Klägerin der Fall.

4

Der Leistungsanspruch sei jedoch nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II ausgeschlossen, weil die Klägerin im streitigen Zeitraum allenfalls aus Gründen der Arbeitsuche aufenthaltsberechtigt gewesen sei. Andere Aufenthaltsgründe lägen nicht vor. Insbesondere sei die Klägerin in Deutschland nicht als oder wie eine Arbeitnehmerin beschäftigt gewesen. Im Hinblick auf ihr Kind habe die Klägerin kein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige erwerben können, weil sie erst ab Geburt des Kindes "Verwandte" iS von § 3 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU gewesen sei. Ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot aus Art 4 iVm Art 70 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 liege nicht vor. Dieses trete hinter die Regelung in Art 24 Abs 2 der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) zurück. Zur Sozialhilfe iS des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG zählten auch die Regelleistung und die Leistungen für Unterkunft und Heizung nach den §§ 20, 22 SGB II sowie - im Fall der Klägerin - die Mehrbedarfsleistungen für Schwangere. Diesen Leistungen fehle der spezifische Bezug zum Arbeitsmarkt, der einen Vorrang der VO (EG) Nr 883/2004 gegenüber der FreizügRL begründe. § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II iVm Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG sei als speziellere Regelung anwendbar. Auch ein Verstoß des § 7 Abs 1 S 2 SGB II gegen die Regelungen des EFA sei nicht ersichtlich, weil Bulgarien nicht Signatarstaat sei.

5

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin, das Berufungsurteil trage dem Schutz des ungeborenen Lebens nicht ausreichend Rechnung. Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zu den aufenthaltsrechtlichen Vorwirkungen der bevorstehenden Vaterschaft eines bereits im Bundesgebiet lebenden Ausländers hinsichtlich seines ungeborenen Kindes sei übertragbar. Dies folge aus dem Schutz der Familie nach Art 6 Abs 1 GG und der aus Art 2 Abs 2 S 1 und Art 1 Abs 1 GG abzuleitenden Schutzpflicht für die Gesundheit der werdenden Mutter und des ungeborenen Kindes. Es sei dem Vater zu ermöglichen, den in § 1615f BGB festgelegten Unterhalt als Naturalunterhalt zu erbringen. Dass der Unionsgesetzgeber eine solche Situation nicht vorhergesehen habe, führe allenfalls dazu, dass sich das Aufenthaltsrecht nicht aus dem Sekundär- sondern dem Primärrecht ergebe. Die werdende Mutter habe in der Zeit der Schwangerschaft einen aufenthaltsrechtlich geschützten Anspruch auf Beistand durch den "werdenden" Vater. Leistungsansprüche im Rahmen der sozialen Koordinierung seien durch die Unionsbürger-Richtlinie nicht ausgeschlossen, weil der EuGH soziale Ansprüche aus dem Freizügigkeitsregime und aus den Regelungen über die sozialrechtliche Koordinierung als konkurrierende behandele.

6

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Stuttgart vom 3. März 2011 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Mai 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. August 2010 zu verurteilen, ihr Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 6. Juli 2010 bis 4. Oktober 2010 zu gewähren.

7

Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

8

Die Klägerin könne über die Schwangerschaft keine Eigenschaft als Familienangehörige konstruieren. Zwar stünden sich - vor Erklärung des Vorbehalts der Bundesregierung - aus Rumänien und Bulgarien stammende EU-Bürger bei Leistungen nach dem SGB II schlechter als Ausländer, die gleichzeitig EFA-Staatsangehörige seien. Dieses unterschiedliche Ergebnis verstoße jedoch nicht gegen Unionsrecht, weil es durch die (befristet) eingeschränkte Freizügigkeit bulgarischer Staatsangehöriger gerechtfertigt sei, die insoweit auch das ansonsten unionsrechtlich geltende Diskriminierungsverbot einschränke.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Die Vorinstanzen und der Beklagte haben einen Anspruch der Klägerin auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu Unrecht verneint.

10

1. Streitgegenstand sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, die der Beklagte mit Bescheid vom 28.7.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.8.2010 abgelehnt hat. Die Klägerin hat den streitigen Zeitraum ausdrücklich auf die Zeit vom 6.7.2010 bis 4.10.2010 beschränkt.

11

2. Die Klägerin erfüllte im streitigen Zeitraum sämtliche Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 S 1 Nr 1 bis 4 SGB II und war auch nicht nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II von den SGB II-Leistungen ausgeschlossen.

12

Leistungen nach dem SGB II erhalten nach § 7 Abs 1 S 1 SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Die Klägerin bewegte sich innerhalb der Altersgrenzen des § 7 Abs 1 Nr 1 SGB II und war nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG(§ 163 SGG) hilfebedürftig nach § 7 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB II.

13

3. Die Klägerin war auch erwerbsfähig iS von § 7 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB II iVm § 8 SGB II. Nach § 8 Abs 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf (nicht) absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. IS von § 8 Abs 1 SGB II können Ausländerinnen und Ausländer nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte(§ 8 Abs 2 SGB II) .

14

Nach den Feststellungen des LSG standen körperliche Gründe iS von § 8 Abs 1 SGB II einer Erwerbsfähigkeit nicht entgegen. Das Berufungsgericht ist weiter zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin nicht iS von § 8 Abs 2 SGB II als erwerbsunfähig anzusehen war. Zwar bleibt für EU-Bürger der zum 1.1.2007 beigetretenen Staaten Bulgarien und Rumänien (vgl Vertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumänien zur Europäischen Union vom 25.4.2005 ) die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 45 AEUV) für eine Übergangsfrist von sieben Jahren bis zum 31.12.2013 in der Weise beschränkt, dass die bestehenden nationalen Regelungen für den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt für ausländische Staatsangehörige auch für diese neuen EU-Bürger beibehalten wurden. Staatsangehörige dieser Länder können sich nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU als Art 2 des ZuwanderungsG vom 30.7.2004 ; vgl § 1 Abs 2 Nr 1 AufenthG) grundsätzlich frei innerhalb der EU bewegen, benötigen zur Beschäftigungsaufnahme in Deutschland in der Übergangszeit aber weiterhin eine Arbeitsgenehmigung-EU (§ 284 Abs 1 S 2 SGB III idF des Gesetzes vom 7.12.2006, BGBl I 2814).

15

Die Klägerin war nicht im Besitz einer Arbeitsgenehmigung. Es ist jedoch ausreichend, dass ihr vorbehaltlich der Vorlage eines konkreten, überprüfbaren Stellenangebots eines künftigen Arbeitgebers im streitigen Zeitraum die Aufnahme einer Beschäftigung hätte erlaubt werden können. Soweit das SG eine Erwerbsfähigkeit ohne weitere Ermittlungen mit der Begründung verneint hat, dass keine konkrete und realisierbare Möglichkeit zur Erteilung einer Arbeitsgenehmigung/EU bestanden habe, unterstellt es zu Unrecht, dass in jedem Einzelfall eine konkret-rechtliche Möglichkeit der Beschäftigungsaufnahme geprüft werden muss. Für die Annahme, dass eine Beschäftigung iS des § 8 Abs 2 SGB II erlaubt ist oder erlaubt werden könnte, reicht es jedoch aus, wenn die Aufnahme einer Tätigkeit im Sinne einer rechtlich-theoretischen Möglichkeit mit einer Zustimmung zur Beschäftigungsaufnahme durch die BA erlaubt sein könnte, auch wenn dies bezogen auf einen konkreten Arbeitsplatz durch die Verfügbarkeit geeigneter bevorrechtigter Bewerber(§ 39 Abs 2 AufenthG) verhindert wird. Unabhängig hiervon ist Unionsbürgern, also auch Rumänen und Bulgaren, Vorrang gegenüber Drittstaatsangehörigen einzuräumen ("Gemeinschaftsprivileg" HK-AuslR/Clodius, 1. Aufl 2008, Anhang zum FreizügG/§ 284 SGB III RdNr 19). Dass auf eine abstrakt-rechtliche Möglichkeit der Erteilung einer Arbeitsgenehmigung abzustellen ist, ergibt sich nunmehr auch aus dem mit Wirkung zum 1.4.2011 (BGBl I 453) eingefügten § 8 Abs 2 S 2 SGB II. Dieser bestimmt, dass die rechtliche Möglichkeit, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 AufenthG aufzunehmen, ausreichend ist(BT-Drucks 15/1749 S 31 "Klarstellung"; BT-Drucks 15/1516 S 52).

16

Einen solchen - gegenüber deutschen Staatsangehörigen und uneingeschränkt freizügigkeitsberechtigten EU-Bürgern - nachrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt hatte die Klägerin im streitigen Zeitraum, weil ihr eine Arbeitsgenehmigung/EU nach § 284 Abs 3 SGB III iVm § 39 Abs 2 Nr 1 AufenthG, etwa für eine Tätigkeit als Hilfskraft(vgl hierzu auch Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 13 RdNr 44), hätte erteilt werden können. Staatsangehörige aus den neuen EU-Beitrittsländern, die - wie die Klägerin - seit längerer Zeit in Deutschland wohnen, sind nicht als "Neueinreisende" iS von § 284 Abs 4 SGB III (mit "Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland") anzusehen, für die weitergehende Beschränkungen gelten(Dienelt aaO).

17

4. Die Klägerin verfügte im streitigen Zeitraum auch über einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet iS von § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB II.

18

Nach § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB II iVm § 30 Abs 3 S 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Diese Definition gilt für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs, soweit sich nicht aus seinen besonderen Teilen etwas anderes ergibt (§ 37 SGB I). Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen (BSG SozR 3-1200 § 30 Nr 5 S 8). Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist. Mit einem Abstellen auf den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse im Gebiet der Bundesrepublik soll - auch im Sinne einer Missbrauchsabwehr - ausgeschlossen werden, dass ein Wohnsitz zur Erlangung von Sozialleistungen im Wesentlichen nur formal begründet, dieser jedoch tatsächlich weder genutzt noch beibehalten werden soll (Schlegel in jurisPK-SGB I, 2. Aufl 2012, § 30 RdNr 24 mit Verweis auf BT-Drucks 7/3786 S 5 zu § 30; zur Begründung eines Wohnsitzes "nach den faktischen Verhältnissen" iS von Art 1 lit j VO (EG) 883/2004 unter Einbeziehung der Definition in Art 11 VO (EG) Nr 987/2009 und Abgrenzung zur "legal residence in Directive 2004/38" Frings, Grundsicherungsleistungen für Unionsbürger unter dem Einfluss der VO (EG) Nr 883/2004 in ZAR, 2012, 317 ff, 322).

19

Jedenfalls für den Bereich des SGB II läuft es der Vereinheitlichung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts zuwider, wenn unter Berufung auf eine sog Einfärbungslehre vor allem des früheren 4. Senats des BSG (vgl hierzu BSG SozR 3-1200 § 30 Nr 21 S 45 ff; ähnlich BSG SozR 3-2600 § 56 Nr 7 S 31 ff; anders für die Familienversicherung nach § 10 SGB V: BSGE 80, 209 ff, 211 f = BSG SozR 3-2500 § 10 Nr 12 S 52 f) dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmende Tatbestandsmerkmale im Sinne von rechtlichen Erfordernissen zum Aufenthaltsstatus aufgestellt werden (vgl Schlegel in jurisPK-SGB I, 2. Aufl 2012, § 30 RdNr 26, 50 ff)und damit einzelnen Personengruppen der Zugang zu existenzsichernden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts versperrt wird. Zudem hat der Gesetzgeber diese Rechtsprechung nur in Teilbereichen, etwa beim Kinder-, Erziehungs- und Elterngeld, aufgegriffen und einen Anspruch von einem definierten Aufenthaltsstatus abhängig gemacht (vgl zB § 1 Abs 7 BEEG; § 1 Abs 6 BErzGG idF bis zum 31.12.2006; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Differenzierungskriterien: BVerfGE 111, 176 ff = SozR 4-7833 § 1 Nr 4). Ein diesen Regelungen entsprechendes, also zu dem gewöhnlichen Aufenthalt hinzutretendes Anspruchsmerkmal im Sinne des Innehabens einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU bzw eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem AufenthG fehlt im SGB II. Vielmehr hat der Gesetzgeber mit § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II in einer anderen Regelungssystematik ein Ausschlusskriterium von SGB II-Leistungen nur für diejenigen Ausländer vorgesehen, deren "Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt".

20

Unabhängig hiervon liegt eine fehlende Dauerhaftigkeit des Aufenthalts im Sinne einer nicht vorhandenen Zukunftsoffenheit bei Unionsbürgern regelmäßig nicht vor, weil ihr Aufenthalt nicht nach einer bereits vorliegenden Entscheidung der dafür allein zuständigen Ausländerbehörde auflösend befristet oder auflösend bedingt ist. Zwar verfügte die Klägerin - anders als in den vom 14. Senat des BSG entschiedenen Fallgestaltungen (BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21 RdNr 13; BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 28 RdNr 17) -offenbar (Feststellungen des LSG hierzu fehlen) nicht über eine Freizügigkeitsbescheinigung (§ 5 FreizügG/EU; entfallen durch Art 1 des Gesetzes zur Änderung des FreizügigkeitsG/EU und weitere aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vom 21.1.2013 ). Einer solchen Bescheinigung kommt aber lediglich deklaratorische Bedeutung zu, weil sich das Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergibt (BT-Drucks 15/420 S 101; BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 28 RdNr 17; BVerwGE 110, 40, 53: subjektiv-öffentliches Unionsbürgerrecht unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme). Auch bei Staatsangehörigen aus den neuen Mitgliedstaaten kann der Aufenthalt während der Übergangsphase nur unter den Voraussetzungen der §§ 5 Abs 5, 6 und 7 FreizügG/EU wegen des Wegfalls, des Verlustes oder des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts, also nach Durchführung eines Verwaltungsverfahren, beendet werden(Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 2. Aufl 2011, § 13 RdNr 57, 61; OVG Bremen Beschluss vom 21.1.2011 - 1 B 242/10, juris-RdNr 4). Das Aufenthaltsrecht besteht, solange der Aufnahmemitgliedstaat nicht durch einen nationalen Rechtsakt festgestellt hat, dass der Unionsbürger bestimmte vorbehaltene Bedingungen iS des Art 21 AEUV nicht erfüllt (Harms in Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 1. Aufl 2008, § 2 FreizügG RdNr 4 mwN).

21

Auch § 13 FreizügG/EU steht der Vermutung einer Freizügigkeit nicht entgegen. Danach findet, soweit ua nach Maßgabe des Vertrags vom 25.4.2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (BGBl II 1146) abweichende Regelungen anwendbar sind, das FreizügG/EU Anwendung, wenn die Beschäftigung durch die BA gemäß § 284 Abs 1 SGB III genehmigt wurde. Trotz des unklaren Wortlauts des § 13 FreizügG/EU schränkt der Umstand, dass die Beitrittsverträge nationale Übergangsmaßnahmen im Hinblick auf den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt innerhalb eines längstens sieben Jahre dauernden Zeitraums durch die Mitgliedstaaten zulassen, nicht grundsätzlich das Freizügigkeitsrecht der neuen Unionsbürger ein(OVG Hamburg Beschluss vom 21.1.2011 - 1 B 242/10, juris-RdNr 4; HK-AuslR/Geyer, 1. Aufl 2008, § 13 FreizügG RdNr 2).

22

5. Der Anspruch auf SGB II-Leistungen ist auch nicht nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II ausgeschlossen. Ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II sind danach ua Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts (Nr 1) und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen (Nr 2). Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) greift der Anspruchsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II schon deshalb nicht, weil die Klägerin unmittelbar nach Verlassen Bulgariens Ende Juli 2009 nach Deutschland eingereist ist und sich seitdem im Bundesgebiet aufgehalten hat, bevor sie im April 2010 einwohnermelderechtlich erfasst wurde.

23

6. a) Auch § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II schließt einen Anspruch der Klägerin nicht aus, weil sich ihr Aufenthaltsrecht im streitigen Zeitraum nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergab. Die Ausschlussregelung erfordert - zur Umsetzung des Willens des Gesetzgebers bei Unionsbürgern regelmäßig eine "fiktive Prüfung" des Grundes bzw der Gründe ihrer Aufenthaltsberechtigung. Bereits das Vorhandensein der Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts aus einem anderen Grund als dem Zweck der Arbeitsuche hindert die von der Rechtsprechung des BSG geforderte positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II. Ein solcher Fall liegt hier vor, weil sich aus der bevorstehenden Geburt des Kindes der Klägerin ein anderes Aufenthaltsrecht ergeben konnte.

24

b) Unbesehen des subjektiv-öffentlichen Unionsbürgerrechts nach der RL 2004/38/EG und dem deutschen FreizügG/EU erfordert eine dem Willen des Gesetzgebers entsprechende Anwendung des Ausschlusstatbestandes des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II eine "fiktive Prüfung", ob - im Falle von Unionsbürgern - ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche bestand oder daneben auch andere Aufenthaltszwecke den Aufenthalt des Unionsbürgers im Inland rechtfertigen konnten. Dies ergibt sich aus der für die Auslegung der Vorschrift wesentlichen Entstehungsgeschichte der Ausschlussregelung.

25

Den Gesetzesmaterialien zu § 7 Abs 1 S 2 SGB II ist zu entnehmen, dass von der "Option" des Art 24 Abs 2 iVm Art 14 Abs 4 der RL 2004/38/EG auch im Bereich des SGB II Gebrauch gemacht werden sollte(BT-Drucks 16/5065 S 234; siehe auch BT-Drucks 16/688 S 13). Trotz des Kontextes, in welchem die Regelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II erlassen wurde, nämlich der Erweiterung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern zu einer allgemeinen Freizügigkeit für alle Unionsbürger durch die RL 2004/38/EG, wollte der bundesdeutsche Gesetzgeber neben den von Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG unstreitig erfassten Sozialhilfeleistungen auch SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausschließen. Deren Einordnung als Sozialhilfeleistungen iS von Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG ist allerdings fraglich. Die beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG haben die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts entsprechend ihrer Aufnahme in den Anhang der VO (EG) Nr 883/2004 als "besondere beitragsunabhängige Geldleistungen" nach Art 4 iVm Art 70 VO (EG) Nr 883/2004, nicht jedoch als Leistungen der "sozialen Fürsorge" iS von Art 3 Abs 5a) VO (EG) Nr 883/2004 angesehen. Sie haben darauf hingewiesen, dass durch das Erfordernis der Erwerbsfähigkeit ein Bezug zu den Leistungen bei Arbeitslosigkeit bestehe (BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21 RdNr 29; BSGE 107, 206 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 22 RdNr 20 f; vgl auch EuGH Urteil vom 4.9.2009 - Rs C-22/08 - SozR 4-6035 Art 39 Nr 5, RdNr 43; siehe aber auch BVerwG Urteil vom 31.5.2012 - 10 C 8/12 juris RdNr 25 mwN, zur Einordnung von SGB II-Leistungen als aufenthaltsrechtlich schädliche Sozialhilfeleistungen iS des Art 7 Abs 1 Buchst b der RL 2004/38/EG, wobei dies "nicht zwingend deckungsgleich" mit dem in Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG genannten Begriff der Sozialhilfe sein müsse; kritisch hierzu Breidenbach in ZAR 2011, 235 ff).

26

Ungeachtet der insofern bestehenden Zweifel an der europarechtlichen Zulässigkeit des nicht nach dem Grad der Verbindung des arbeitsuchenden Unionsbürgers zum Arbeitsmarkt des Aufnahmestaats und seinem beruflich möglichen Zugang zum Arbeitsmarkt differenzierenden sowie zeitlich unbefristeten Ausschlusses der arbeitsuchenden Unionsbürger von SGB II-Leistungen ist § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II als Ausschlussregelung von existenzsichernden Sozialleistungen jedenfalls eng auszulegen. Auch aus dem Aufbau der Norm ist abzuleiten, dass positiv feststellt werden muss, dass dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland zusteht (BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 28).

27

c) Jedenfalls nicht erfasst von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II werden Unionsbürger, bei denen die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU oder ggf dem begrenzt subsidiär anwendbaren AufenthG (siehe hierzu unten) aus anderen Gründen als dem Zweck der Arbeitsuche vorliegen. Insofern ist der Regelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II immanent, dass der Ausschluss nur Unionsbürger trifft, die sich ausschließlich und ggf schon vor einer Meldung beim Jobcenter auch eigeninitiativ um eine Beschäftigung bemüht haben, nicht jedoch diejenigen erfasst, die sich auch auf ein anderes Aufenthaltsrecht berufen können.

28

Da Unionsbürger für die Einreise keines Visums und für den Aufenthalt keines Aufenthaltstitels (§ 2 Abs 4 S 1 FreizügG/EU) bedürfen, kann bei ihnen der ausländerrechtlich anerkannte Aufenthaltszweck nicht unmittelbar einem entsprechenden Dokument mit möglicher Tatbestandswirkung für das SGB II entnommen werden. Vor dem Hintergrund einer - bis zur Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlusts einer Freizügigkeitsberechtigung - bestehenden Freizügigkeitsvermutung von Unionsbürgern und der bereits damit verbundenen Vermutung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts (vgl Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 12 RdNr 34) kann bei dieser Personengruppe nicht darauf abgestellt werden, ob das Aufenthaltsrecht in einem Aufenthaltstitel dokumentiert ist. Zwar kann ein in einer ggf bis zum 28.1.2013 deklaratorisch erteilten Bescheinigung gemäß § 5 Abs 1 FreizügG/EU (aF) angegebener Aufenthaltszweck ein wesentliches Indiz für den Aufenthaltsgrund sein. Unionsbürger sind jedoch nicht verpflichtet, die Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts durch eine entsprechende Bescheinigung nachzuweisen (BVerwG Urteil vom 16.11.2010 - 1 C 17/09, BVerwGE 138, 122 ff). Entscheidend ist das Vorliegen der Voraussetzungen für ein weiteres Aufenthaltsrecht. Auch soweit der Aufenthalt aus einem anderen materiell bestehenden Aufenthaltsrecht als dem Zweck der Arbeitsuche nicht beendet werden könnte, hindert dies sozialrechtlich die positive Feststellung eines "Aufenthaltsrechts allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II.

29

Seine Feststellung, die Klägerin sei im streitigen Zeitraum "ab dem 6.7.2010 in Deutschland allenfalls aus Gründen der Arbeitsuche aufenthaltsberechtigt", hat das Berufungsgericht vorrangig damit begründet, dass ein Aufenthaltsrecht wegen einer fortwirkenden Arbeitnehmereigenschaft nicht bestanden habe (vgl zu dem hierfür regelmäßig angenommen Zeitraum von sechs Monaten: § 2 Abs 3 S 1 Nr 2 iVm § 2 Abs 3 S 2 FreizügG/EU; EuGH Urteil vom 4.6.2009 - C-22/08, C-23/08 - SozR 4-6035 Art 39 Nr 5, RdNr 32; BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 18). Ob sich die Klägerin bis zum Beginn des streitigen Zeitraums auf ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche berufen konnte, hat das LSG nicht erörtert. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist ein arbeitsuchender EU-Bürger solange freizügigkeitsberechtigt, wie er mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht, wobei das Gemeinschaftsrecht die Länge des angemessenen Zeitraums nicht regelt. Allerdings ist es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, dem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der zum Zweck der Stellensuche in sein Gebiet eingereist ist, auszuweisen, wenn dieser nach sechs Monaten keine Stelle gefunden hat, sofern der Betroffene nicht nachweist, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht (EuGH Urteil vom 26.2.1991 - C-292/89 ; so auch Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 2 FreizügG/EU RdNr 56).

30

Auch wenn die Klägerin wegen des im streitigen Zeitraum hinzutretenden SGB II-Antrags und der damit verbundenen Verpflichtung, alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen und aktiv an allen Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit mitwirken (§ 2 Abs 1 S 1 und 2 SGB II), als Arbeitsuchende anzusehen ist, hindert dies nicht die Annahme eines Aufenthaltsrechts auch aus einem anderen Aufenthaltsgrund (vgl zum zulässigen Wechsel der Aufenthaltszwecke während des Aufenthalts: HK-AuslR/Geyer, 2008, § 5 FreizügG/EU RdNr 3). Auch der Verlust des Freizügigkeitsrechts kann erst festgestellt werden, wenn die Freizügigkeitsberechtigung nicht aus anderen Gründen besteht (Huber, AufenthaltsG, 2010, § 5 FreizügG/EU RdNr 15). Ein solches bereits vor SGB II-Antragstellung hinzugetretenes weiteres Aufenthaltsrecht der Klägerin im Bundesgebiet liegt hier vor.

31

d) Die Klägerin konnte sich nach den besonderen Einzelfallumständen in dem hier streitigen Zeitraum wegen der zu erwartenden Geburt des Kindes auch auf ein anderes Aufenthaltsrecht iS des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II berufen.

32

§ 11 Abs 1 S 5 FreizügG/EU in der bis zum 30.6.2011 geltenden Fassung vom 19.8.2007 (BGBl I 1970) bestimmt, dass das - grundsätzlich nur noch für Drittstaatsangehörige geltende - AufenthG weiterhin auch auf Unionsbürger Anwendung findet, wenn es eine günstigere Regelung vermittelt als das FreizügG/EU. Bei dem anzustellenden Günstigkeitsvergleich ist keine abstrakt wertende Betrachtung in Bezug auf die gesamte Rechtsstellung anzustellen. Vielmehr knüpft der Vergleich iS einer den konkreten Einzelfall in den Blick nehmenden Betrachtung an einzelne Merkmale an (Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 11 RdNr 28).

33

Nach dem insoweit anwendbaren § 7 Abs 1 S 3 AufenthG kann - unabhängig von der ansonsten geforderten Bindung der Aufenthaltserlaubnis an konkrete, im AufenthG genannte Aufenthaltszwecke(§ 7 Abs 1 S 2 AufenthG) - in begründeten Fällen im Wege einer Ermessensentscheidung eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen von diesem Gesetz nicht genannten Aufenthaltszweck erteilt werden. Allerdings ist das LSG zu Recht davon ausgegangen, dass eheähnlich zusammenlebende heterosexuelle Paare weder aus dem Auffangtatbestand des § 7 Abs 1 S 3 AufenthG noch aus dem europäischem Recht ein Aufenthaltsrecht zur Familienzusammenführung ableiten können, weil der Familiennachzug in § 3 FreizügG/EU und den §§ 27 ff AufenthG abschließend geregelt ist. Da nichteheliche Lebensgemeinschaften von den ausdrücklichen Regelungen gerade nicht erfasst sind, ist die Anwendung von § 7 Abs 1 S 3 AufenthG grundsätzlich gesperrt(vgl BVerwG Urteil vom 27.2.1996 - 1 C 41/93 - BVerwGE 100, 287 ff; Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 7 AufentG RdNr 20).

34

Die - hier im Rahmen der Ausschlussklausel des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II - bei Unionsbürgern nur zu prüfenden Voraussetzungen eines anderen Aufenthaltsrechts sind aber wegen der bevorstehenden Geburt des Kindes gegeben. Insofern handelt es sich um ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen, das aus dem Zusammenleben der Partner mit einem gemeinsamen Kind oder dem Kind eines Partners folgt. Diese Personengruppen bilden jeweils eine Familie iS des Art 6 GG und der §§ 27 Abs 1, 28 Abs 1, 29 und 32 AufenthG und können sich auch auf den Schutz aus Art 8 der Konvention des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(MRK) berufen (vgl auch Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 7 AufenthG RdNr 20).

35

Eine solche Konstellation, die einen anderen Aufenthaltszweck als denjenigen der Arbeitsuche vermitteln kann, kann auch in einer bevorstehenden Familiengründung liegen. Insofern wird in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zum AufenthG angenommen, dass der bevorstehenden Geburt eines Kindes aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen für den Aufenthaltsstatus eines Elternteils zukommen können. Die anstehende Vaterschaft eines bereits im Bundesgebiet lebenden Ausländers hinsichtlich des ungeborenen Kindes einer deutschen, aber auch ausländischen Staatsangehörigen kann aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen im Sinne eines Abschiebungshindernisses begründen, wenn entweder der Schutz der Familie nach Art 6 Abs 1 GG und die aus Art 2 Abs 2 S 1 und Art 1 Abs 1 GG abzuleitende Schutzpflicht für die Gesundheit der werdenden Mutter und des Kindes dies gebieten, oder wenn beide Elternteile bereits in Verhältnissen leben, welche eine gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung sicher erwarten lassen und eine (vorübergehende) Ausreise zur Durchführung eines Sichtvermerkverfahrens nicht zumutbar ist. Dies gilt zumindest mit der Vaterschaftsanerkennung und der Zustimmung der Mutter (§§ 1592 Nr 2, 1595 Abs 1 BGB) sowie einer gemeinsamen Sorgerechtserklärung (OVG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 23.2.2012 - 2 S 94.11, 2 M 70.2 M 70.11 - RdNr 3 ff; Sächsisches OVG Beschluss vom 2.10.2009 - 3 B 482/09 - InfAuslR 2010, 27 ff: vgl auch VG Dresden Beschluss vom 11.6.2008 - 3 L 279/08 - RdNr 10 zum Abschiebungsschutz für eine werdende ausländische Mutter). Insofern tritt die staatliche Verpflichtung aus Art 6 Abs 1 GG iVm Abs 2 GG ein (OVG Hamburg Beschluss vom 14.8.2008 - 4 Bs 84/08 - InfAuslR 2009, 16 ff). Von der Schutzpflicht des Staates aus Art 6 GG ist insbesondere die Rechtsposition des Kindes sowie dessen Anspruch auf Ermöglichung bzw Aufrechterhaltung eines familiären Bezugs zu beiden Elternteilen von Geburt an betroffen (BVerfG FamRZ 2006, 187 ff; BVerfG NVwZ 2006, 682, 683 zum Familienschutz; BVerfGE 80, 81 ff).

36

Diese aufenthaltsrechtlichen Vorwirkungen einer bevorstehenden Familiengründung bestanden auch im Falle der Klägerin. Es wäre ihr weniger als vier Monate vor dem errechneten Geburtstermin nicht mehr zumutbar gewesen, sich von dem Vater des Kindes unter zumindest vorübergehender Aufgabe des familiären Zusammenhalts und mit dem Risiko einer zeitgerechten Rückkehr zur Geburt zu trennen. Auch in der hier vorliegenden Fallgestaltung soll verhindert werden, dass ein Kind in dem ersten Jahr nach seiner Geburt entgegen Art 6 Abs 1 GG von der Erziehungsleistung eines seiner Elternteile ausgeschlossen wird. Für die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art 6 GG und damit auch ihre Vorwirkungen ist dabei nicht vorrangig auf formal-rechtliche familiäre Bindungen, sondern auf die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern im Wege einer Einzelfallbetrachtung abzustellen (BVerfG FamRZ 2006, 187 ff, RdNr 18 mwN). Nach den Feststellungen des LSG hat die Klägerin bereits bei Antragstellung angegeben, dass ihr Kind von dem Lebensgefährten sei, mit dem die Anmietung einer gemeinsamen Wohnung geplant sei. Es ergab sich daher schon für die Zeit vor der Anerkennung der Vaterschaft eine vorwirkende Schutzwirkung, die ein Aufenthaltsrecht der Klägerin wegen des bevorstehenden familiären Zusammenlebens begründen konnte.

37

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. November 2009 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Revisionsverfahren.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1.3.2009 bis zum 11.11.2009. Zwischen den Beteiligten ist insbesondere streitig, ob der Kläger als französischer Staatsangehöriger von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist, weil sich sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt.

2

Der 1971 geborene Kläger reiste am 18.12.2007 in die Bundesrepublik ein. Der französische Träger der Arbeitslosenversicherung hatte ihm zuvor auf dem Vordruck E 303 bescheinigt, dass er unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit habe. Seit diesem Tag wohnt er in Berlin. Der Kläger meldete sich am 28.1.2008 bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) arbeitslos und bezog zunächst bis zum 17.3.2008 Arbeitslosengeld. In der Folgezeit erhielt er ab dem 28.4.2008 und - bis auf wenige Tage Unterbrechung - bis zum 28.2.2009 Arbeitslosengeld II (Alg II). Seit dem 2.6.2008 ist er im Besitz einer Bescheinigung nach § 5 des Gesetzes über die Allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern(Freizügigkeitsgesetz/EU ).

3

Vom 1.2.2008 bis zum 23.6.2008 übte der Kläger eine Tätigkeit als Handwerkshelfer mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 7,5 Stunden und einem monatlichen Entgelt von 100 Euro aus. Das Arbeitsverhältnis endete nach einer Kündigung durch den Arbeitgeber. Zum 1.1.2009 meldete der Kläger ein Gewerbe "An- u. Verkauf, Trödel-Kafé, Kaffeeausschank" an. Da jedoch kein Vertrag über die Anmietung der Geschäftsräume zustande kam, zerschlug sich das Geschäftsgründungsvorhaben am 5.1.2009. Die Abmeldung des Gewerbes erfolgte erst im April 2009 "rückwirkend" zum 1.1.2009.

4

Am 9.2.2009 stellte der Kläger bei dem Beklagten einen Fortzahlungsantrag für den Zeitraum ab dem 1.3.2009. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31.3.2009 und Widerspruchsbescheid vom 27.7.2009 mit der Begründung ab, der Kläger sei nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II inzwischen von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen, weil er alleine wegen seiner Eigenschaft als Arbeitsuchender freizügigkeitsberechtigt sei. Nach dem Ende seiner Beschäftigung sei er gemäß § 2 Abs 3 Satz 2 FreizügG/EU nur für die Dauer von weiteren sechs Monaten leistungsberechtigt nach dem SGB II gewesen.

5

Die Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts vom 20.10.2009). Auf die Berufung des Klägers haben sich die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) am 11.11.2009 hinsichtlich der Kosten der Unterkunft verglichen. Im Übrigen hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, dem Kläger Alg II in Form der Regelleistung für die Zeit vom 1.3.2009 bis zum 11.11.2009 dem Grunde nach zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei leistungsberechtigt nach dem SGB II. Dem stehe der Leistungsausschluss in § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II nicht entgegen. Zwar ergebe sich das Aufenthaltsrecht des Klägers im streitigen Zeitraum alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche (§ 2 Abs 2 Nr 1 Alt 2 FreizügG/EU). Ein Wegfall dieses Aufenthaltsrechts komme nur dann in Betracht, wenn aufgrund objektiver Umstände davon auszugehen sei, dass der Unionsbürger keinerlei ernsthafte Absichten verfolge, eine Beschäftigung aufzunehmen. Davon könne im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden. Auch könne letztlich dahinstehen, ob der Leistungsausschluss wegen Verstoßes gegen europäisches Gemeinschaftsrecht unanwendbar sei. Dies hänge maßgeblich davon ab, ob Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II als "Sozialhilfe" im Sinne von Art 24 Abs 2 der so genannten Unionsbürgerrichtlinie ( Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004, ABl 2004 L Nr 158, 77) anzusehen seien. Diese Frage bedürfe hier aber keiner abschließenden Entscheidung, weil der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II für solche Hilfebedürftigen einschränkend auszulegen sei, die durch das Europäische Fürsorgeabkommen( vom 11.12.1953 BGBl II 1956, 564) begünstigt würden. Nach Art 1 EFA habe der Kläger danach Anspruch auf "Fürsorge" wie ein deutscher Staatsangehöriger, der sich im Inland gewöhnlich aufhalte. Als Leistungen der Fürsorge seien nach dem Außerkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) am 31.12.2004 nicht nur die im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), sondern auch die im SGB II für Hilfebedürftige geregelten Leistungen anzusehen. Unerheblich sei, dass die Bundesrepublik Deutschland entgegen der sich aus Art 16 Abs a) und b) des EFA ergebenden Verpflichtung dem Generalsekretär des Europarates das Außerkrafttreten des BSHG bislang nicht mitgeteilt habe, weil die im Anhang I des Abkommens genannte Aufzählung der entsprechenden Fürsorgegesetze lediglich eine klarstellende Bedeutung zukomme. Auch sei nicht entscheidungserheblich, ob das EFA zur Vermeidung von Wanderungsbewegungen aus einem Sozialleistungssystem in ein anderes nur auf diejenigen Ausländer Anwendung finde, die sich zur Zeit des Eintritts der Hilfebedürftigkeit bereits in dem um Hilfe angegangenen Staat erlaubt aufhielten, weil der Kläger zum Zeitpunkt der Einreise noch über ausreichende Mittel zur Existenzsicherung verfügte habe.

6

Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner vom LSG zugelassenen Revision. Er rügt eine Verletzung des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II und weist darauf hin, dass der Leistungsausschluss der Umsetzung des in Art 24 Abs 2 UBRL geregelten Vorbehalts diene. Diese Regelungen seien neuer und damit vorrangig vor dem EFA aus dem Jahr 1953. Zwar handele es sich bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II um "Sozialhilfe" iS des Art 24 Abs 2 UBRL. Das SGB II könne aber neben dem SGB XII gleichwohl nicht als "weiteres" Nachfolgegesetz zum BSHG angesehen werden. Denn im Wesentlichen habe das SGB II die Nachfolge der zuvor im Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) geregelten Arbeitslosenhilfe (Alhi) angetreten. Die Alhi aber sei dem EFA nicht unterfallen. Im Übrigen finde das EFA nur auf die im Anhang von den Vertragsstaaten gemeldeten nationalen Fürsorgegesetze Anwendung.

7

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. November 2009 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Oktober 2009 zurückzuweisen.

8

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Er hält das mit der Revision angegriffene Urteil für zutreffend und weist ergänzend darauf hin, dass ein Anspruch auch dann bestünde, wenn er nicht durch das EFA begünstigt würde. Denn der Leistungsausschluss verstoße auch gegen europäisches Primärrecht. Bei den Leistungen nach dem SGB II handele es sich um finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern sollen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sei insoweit das Gleichbehandlungsgebot zu beachten.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Revision ist unbegründet.

11

Das LSG hat zutreffend entschieden, dass dem Kläger für den Zeitraum vom 1.3.2009 bis zum 11.11.2009 ein Anspruch auf Gewährung der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zusteht. Der Kläger erfüllt die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II(dazu unter 2). Seinem Anspruch steht der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II nicht entgegen(dazu unter 3).

12

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 31.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.7.2009, mit dem der Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit ab dem 1.3.2009 abgelehnt hat. Der streitige Zeitraum erstreckt sich in Fällen ablehnender Verwaltungsentscheidungen bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht (vgl nur Urteil des Senats vom 7.5.2009 - B 14 AS 41/07 R - juris mwN), hier also bis zum 11.11.2009. Die Beteiligten haben darüber hinaus den Streitgegenstand im Berufungsverfahren zulässigerweise beschränkt, indem sie über die Kosten der Unterkunft einen Teilvergleich abgeschlossen haben (vgl zur Zulässigkeit einer solchen Begrenzung des Streitgegenstandes nur BSGE 97, 217, 223 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 19 sowie zuletzt Urteil des Senats vom 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R -, zur Veröffentlichung vorgesehen).

13

2. Der Kläger erfüllt nach den Feststellungen des LSG die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II. Er ist gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 2 iVm § 8 SGB II erwerbsfähig und - nach den den Senat bindenden Feststellungen des LSG(§ 163 Sozialgerichtsgesetz) - auch hilfebedürftig gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 3 iVm § 9 SGB II. Der Kläger verfügt gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II iVm § 30 Abs 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) auch über einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist bereits Ende 2007 in die Bundesrepublik eingereist. Seitdem hält er sich hier unter Umständen auf, die erkennen lassen, dass er nicht nur vorübergehend verweilt. Offen bleiben kann hier, ob der an tatsächlichen Umständen zu messende Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes bei Ausländern durch zusätzliche rechtliche Voraussetzungen eingeschränkt wird (BSG SozR 3-2600 § 56 Nr 7 S 34). Zur alten Rechtslage bis zum 1.4.2006 hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, dass Ausländer, die tatsächlich dauerhaft im Inland verweilen, nur dann einen gewöhnlichen Aufenthalt haben, wenn sie sich berechtigterweise hier aufhalten (BSG aaO; BSGE 65, 261, 263 f = SozR 7833 § 1 Nr 7; vgl - speziell zu § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II - auch BSGE 98, 243, 246 f = SozR 4-4200 § 12 Nr 4, jeweils RdNr 19; Valgolio in Hauck/Noftz, Stand Juni 2010, § 7 SGB II RdNr 95; kritisch zu der Verrechtlichung des rein tatsächlichen Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 7 RdNr 11).

14

Dass der Kläger sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält, ergibt sich bereits daraus, dass er über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU verfügt(aA Hessisches LSG, FEVS 59, 110, 115 f). Gegen eine Rechtmäßigkeit des Aufenthalts spricht auch nicht, dass dieser Bescheinigung nach dem Wortlaut der Vorschrift ("… über das Aufenthaltsrecht ausgestellt") nur deklaratorischer Charakter im Hinblick auf das sich unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergebende Freizügigkeitsrecht zukommt (vgl nur statt aller Geyer in HK-AuslR, 2008, § 5 FreizügG/EU RdNr 1)und es sich um keinen Aufenthaltstitel handelt (vgl § 2 Abs 4 Satz 1 FreizügG/EU). Denn es entspricht der gesetzlichen Konzeption des Freizügigkeitsrechts, von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen, solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs 5 FreizügG/EU festzustellen und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht einzuziehen(so auch die gesetzliche Begründung zum Zuwanderungsgesetz, vgl BT-Drucks 15/420, 106; vgl auch die Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II in der Fassung vom 20.1.2010, Ziffer 7.2d, sowie Ziffer 5.5.1.3. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 26.10.2009, GMBl 2009, 1270). Die Ausreisepflicht nach § 7 Abs 1 Satz 1 FreizügG/EU wird erst mit dieser Verlustfeststellung begründet.

15

3. Der Kläger ist auch nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II zunächst Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige noch auf Grund des § 2 Abs 3 des FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, des Weiteren Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen sowie zuletzt Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG).

16

Der Kläger ist als französischer Staatsangehöriger Ausländer im Sinne dieser Vorschrift. Er ist aber nicht leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG und hält sich nach den Feststellungen des LSG bereits seit Ende des Jahres 2007 in der Bundesrepublik auf. Er ist auch nicht deswegen nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, weil sich sein Aufenthaltsrecht alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt(dazu unter a). Denn dieser Leistungsausschluss ist auf den Kläger als Staatsangehörigen eines Vertragsstaates des EFA vom 11.12.1953 (BGBl II 1956, 564) nicht anwendbar (dazu unter b).

17

a) Das Aufenthaltsrecht des Klägers ergibt sich gemäß § 2 Abs 2 Nr 1 Alt 2 FreizügG/EU alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche. Denn auf ein anderes Aufenthaltsrecht, das - wie sich aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt ("Aufenthaltsrecht […] allein aus dem Zweck der Arbeitsuche"; vgl auch BT-Drucks 16/688, 13) - den Leistungsausschluss von vornherein entfallen lassen würde, kann sich der Kläger nicht berufen.

18

Der Kläger ist insbesondere nicht als Arbeitnehmer, Selbstständiger oder Nicht-Erwerbstätiger freizügigkeitsberechtigt. Auch steht ihm (noch) kein Daueraufenthaltsrecht zu. Als "Arbeitnehmer" im Sinne von § 2 Abs 2 Nr 1 Alt 1 FreizügG/EU ist der Kläger nicht (mehr) aufenthaltsberechtigt. Während seiner Tätigkeit als Handwerkshelfer war er es, weil auch derjenige Arbeitnehmer im Sinne des Freizügigkeitsrechts ist, der nur über ein geringfügiges, das Existenzminimum nicht deckendes, Einkommen verfügt. Nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art 39 EG (hier anwendbar in der Fassung des Vertrages von Nizza, BGBl II 2001, 1666 - der Vertrag von Lissabon ist erst zum 1.12.2009 in Kraft getreten, BGBl II 2009, 1223) fällt jeder Arbeitnehmer, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt - mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt - unter die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (vgl ua EuGH, Rs 139/85 [Kempf], Slg 1986, 1741 [Rz 9 ff]; Rs 53/81 [Levin], Slg 1982, 1035 [Rz 17]; C-213/05 [Geven], Slg 2007, I-6347 [Rz 16]; so nun auch Ziffer 2.2.1.1. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift des BMI zum FreizügG/EU; vgl zum gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff ausführlich Epe in GK-AufenthG, § 2 FreizügG/EU RdNr 31 ff mwN). Zwar blieb dem Kläger gemäß § 2 Abs 3 Satz 2 FreizügG/EU seine Erwerbstätigeneigenschaft und damit sein Freizügigkeitsrecht "als Arbeitnehmer" für die Dauer von sechs Monaten nach der arbeitgeberseitigen Kündigung erhalten. Dieser Zeitraum war aber bereits abgelaufen, als er für den hier streitgegenständlichen Zeitraum Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes beantragte.

19

Dem Kläger stand auch zu keinem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht als selbstständig Tätiger nach § 2 Abs 1 Nr 2 FreizügG/EU zu. Dies setzt voraus, dass eine Tätigkeit als Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich ausgeübt wird (vgl Art 7 Abs 1 Buchst a Alt 2 UBRL). Zwar ist auch insoweit nicht erforderlich, dass der Gewinn aus der selbstständigen Tätigkeit das notwendige Existenzminimum deckt (vgl zuletzt zB OVG Bremen Beschluss vom 21.6.2010 - 1 B 137/10 - juris). Voraussetzung ist aber nach Art 43 EGV, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit auf unbestimmte Zeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich ausgeübt wird (EuGH, C-221/89 [Factortame], Slg 1991, I-3905 [Rz 20]), sodass alleine ein formaler Akt (EuGH, aaO, Rz 21; Bröhmer in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl 2007, Art 43 EG RdNr 12), wie die Registrierung eines Gewerbes nicht ausreichend ist. Ein weitergehendes Stadium aber hat die selbstständige Tätigkeit des Klägers nicht erreicht.

20

Der Kläger ist darüber hinaus nicht als Nicht-Erwerbstätiger, zu denen freizügigkeitsberechtigte Arbeitsuchende nicht zählen, nach § 2 Abs 2 Nr 5 iVm § 4 Satz 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt, weil es ihm insoweit an ausreichenden Existenzmitteln fehlt. Schließlich hat der Kläger auch noch kein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs 2 Nr 7 iVm § 4a FreizügG/EU erworben.

21

b) Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II ist allerdings hier deswegen nicht anwendbar, weil der Kläger sich auf das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 EFA berufen kann(ebenso LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 14.1.2008 - L 8 SO 88/07 ER - FEVS 59, 369, 373 ff; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 14.1.2010 - L 14 AS 1565/09 B ER - juris; SG Berlin Urteil vom 25.3.2010 - S 26 AS 8114/08 - juris; Brühl/Schoch in LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 7 RdNr 35; Valgolio in Hauck/Noftz, § 7 SGB II RdNr 128, Stand Juni 2010; aA Bayerisches LSG Beschluss vom 4.5.2009 - L 16 AS 130/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 23.12.2009 - L 34 AS 1350/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 25.11.2008 - L 5 B 801/08 AS ER - juris; SG Reutlingen Urteil vom 29.4.2008 - S 2 AS 2952/07 - juris; Schumacher in Oestreicher, SGB II/SGB XII, Stand Februar 2010, § 7 SGB II, RdNr 11a; offen gelassen von LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 26.2.2010 - L 6 B 154/09 AS ER - juris; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 16.7.2008 - L 19 B 111/08 AS ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 11.1.2010 - L 25 AS 1831/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 30.5.2008 - L 14 B 282/08 AS ER - juris).

22

Nach Art 1 des Abkommens, das unter anderem die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich (und daneben Belgien, Dänemark, Estland, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, die Türkei und Großbritannien) unterzeichnet haben, ist jeder der Vertragschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.

23

Bei dieser Vorschrift handelt es sich um unmittelbar geltendes Bundesrecht (dazu unter aa), dessen Anwendbarkeit im konkreten Fall insbesondere kein jüngeres und deshalb vorrangig anzuwendendes Recht entgegensteht (dazu unter bb). Darüber hinaus steht seiner Anwendung nicht entgegen, dass inzwischen an die Stelle des Abkommens europäisches Koordinationsrecht getreten wäre (dazu unter cc). Auch liegen im Einzelnen die Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgebots nach Art 1 EFA vor. Denn bei der beanspruchten Regelleistung nach § 20 SGB II handelt es sich um Fürsorge im Sinne des EFA(dd). Die Vorschrift des § 20 SGB II findet in Ermangelung eines von der Bundesrepublik abgegebenen Vorbebehalts auch auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten Anwendung(ee). Der Kläger hält sich in der Bundesrepublik zudem erlaubt im Sinne von Art 1 EFA auf (ff). Das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 EFA findet schließlich auch nicht alleine auf solche Staatsangehörige anderer Vertragsstaaten Anwendung, die sich bereits vor Eintritt der Hilfebedürftigkeit im Aufenthaltsstaat aufgehalten haben (gg).

24

aa) Der Kläger kann sich auf Art 1 EFA als unmittelbar geltendes Bundesrecht berufen. Der Bundestag hat mit dem mit Zustimmung des Bundesrats beschlossenen Gesetz vom 15.5.1956 (BGBl II 563) dem Europäischen Fürsorgeabkommen zugestimmt (vgl Art 59 Abs 2 Satz 1 Grundgesetz ) und dadurch dessen Inhalt insoweit in innerstaatlich anwendbares, Rechte und Pflichten des Einzelnen begründendes (revisibles) Bundesrecht transformiert, als die Vertragsbestimmungen nach Wortlaut, Zweck und Inhalt wie innerstaatliche Gesetzesvorschriften rechtliche Wirkungen auszulösen geeignet sind (vgl BVerfGE 29, 348, 360; BVerwGE 44, 156, 160). Dies trifft auf den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 1 des EFA zu (so auch Bundesverwaltungsgericht Urteil vom 18.5.2000 - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200, 201; Urteil vom 14.3.1985 - 5 C 145/83 - BVerwGE 71, 139, 142; LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 14.1.2008 - L 8 SO 88/07 ER - FEVS 59, 369; OVG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 13.12.1999 - 16 A 5587/97 - juris; vgl auch Bayerischer VGH, FEVS 48, 74 ff; OVG Lüneburg, FEVS 49, 118, 119; Hessischer VGH, FEVS 51, 190 ff; Schraml, Das Sozialhilferecht der Ausländerinnen und Ausländer, 1992, S 75; Schuler, Der Einfluss des Europäischen Fürsorgeabkommens auf den sozialhilfe- und aufenthaltsrechtlichen Status der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer in Barwig/Lörcher/Schumacher , Familiennachzug von Ausländern auf dem Hintergrund völkerrechtlicher Verträge, S 67, 69; aA Kokott, Die Staatsangehörigkeit als Unterschiedsmerkmal für soziale Rechte von Ausländern in Hailbronner , Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts, S 25, 33).

25

bb) Entgegen der Ansicht der Revision ist das EFA auch nicht in dem Sinne "überholt", dass seiner Anwendung neuere, denselben Sachverhalt regelnde gesetzliche Vorschriften entgegenstehen. Das Völkervertragsrecht wird gemäß Art 59 Abs 2 GG im Range von Bundesgesetzen umgesetzt. Aus dieser Rangzuweisung folgt, dass deutsche Gerichte das EFA wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben (so BVerfGE 111, 307 ff zur Europäischen Menschenrechtskonvention ). Innerstaatliches Recht ist grundsätzlich so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht. Dies entspricht dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (vgl BVerfG aaO sowie BVerfGE 58, 1, 34; 59, 63, 89). Das einfache (Sozial-)Recht bietet darüber hinaus mit § 30 Abs 2 SGB I eine Vorschrift zur Lösung von möglichen Konflikten zwischen nationalem Recht und (transformiertem) Völkerrecht. § 30 Abs 2 SGB I beschränkt sich nicht auf die Regelung des gewöhnlichen Aufenthalts, sondern beinhaltet einen allgemeinen Rechtsgrundsatz(BSG, InfAuslR 2001, 181, 182; BSGE 52, 210, 213 = SozR 6180 Art 13 Nr 3 S 10). Bereits aus diesem Grund steht der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II entgegen der Ansicht der Revision der Verpflichtung zur Gleichbehandlung nach dem EFA nicht entgegen.

26

Im Übrigen hat das LSG zu Recht darauf hingewiesen, dass Art 1 EFA im Hinblick auf den persönlichen Anwendungsbereich spezieller ist. Die Vorschrift richtet sich gerade nicht an alle Ausländer (deren Aufenthaltsrecht sich aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt), sondern nur an Staatsangehörige der Vertragsstaaten. Darüber hinaus sind Gesetze auch dann im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden, wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender völkerrechtlicher Vertrag. Es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will (vgl BVerfGE 74, 358, 370 sowie - speziell zum EFA - BVerwGE 111, 200, 211). Ein solcher gesetzgeberischer Wille des späteren Gesetzgebers zur Abweichung vom EFA ist hier nicht erkennbar. Des Weiteren überzeugt auch das Argument der Revision nicht, § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II sei deshalb vorrangig vor dem EFA, weil § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II der Umsetzung des Art 24 Abs 2 UBRL diene(BT-Drucks 16/688 S 13), einer Vorschrift, an der sowohl Frankreich als auch die Bundesrepublik beteiligt waren (so aber auch LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 15.4.2010 - L 13 AS 1124/10 ER-B - juris). Es ist nichts dafür ersichtlich, dass diejenigen Mitglieder des Rats der Europäischen Union, die zugleich Vertragsstaaten des EFA sind, mit der in Art 24 Abs 2 UBRL eingeräumten Möglichkeit der nur beschränkten Leistung von Sozialhilfe an Freizügigkeitsberechtigte zugleich für ihren Zuständigkeitsbereich ein Abkommen des Europarats außer Kraft setzen wollten.

27

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das EFA selbst den Konfliktfall bereits regelt: Nach Art 18 EFA stehen die Bestimmungen des Abkommens solchen nationalen Vorschriften nicht entgegen, die für die Beteiligten günstiger sind. Dass eine Abweichung vom EFA zu Lasten des durch das EFA geschützten Personenkreises damit nicht zulässig ist, liegt dabei auf der Hand. Wenn die Bundesrepublik die sich aus dem EFA ergebenden Verpflichtungen nicht mehr tragen will, steht ihr nach Art 24 EFA die Möglichkeit offen, das Abkommen innerhalb der dort genannten Frist zu kündigen. Hiervon hat sie bislang keinen Gebrauch gemacht.

28

cc) Der Anwendbarkeit des EFA steht das koordinierende Sekundärrecht der Europäischen Union nicht entgegen (so aber Bayerisches LSG Beschluss vom 12.3.2008 - L 7 B 1104/07 AS ER - FEVS 60, 178).Gemeinschaftsrechtlicher Maßstab für den hier streitgegenständlichen Zeitraum (1.3.2009 bis 11.11.2009) ist die Kollisionsregel des Art 6 der "alten" Wanderarbeitnehmerverordnung EWG Nr 1408/71, weil die Nachfolgeverordnung (EG) Nr 883/2004 vom 29.4.2004 (ABl 2004 Nr L 166, 1 ff) gemäß deren Art 91 Satz 2 erst ab dem Inkrafttreten einer Durchführungsverordnung galt. Die Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist aber erst am 1.5.2010 in Kraft (Art 97 der VO Nr 987/2009) getreten. Nach der Kollisionsregel in Art 6 EWGV 1408/71 tritt die Verordnung im Rahmen ihres persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs an die Stelle bestimmter (völkerrechtlicher) Abkommen über die soziale Sicherheit.

29

Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unterfallen entweder gemäß Art 4 Abs 2a EWGV 1408/71 iVm dem Anhang IIA, Buchst E - entgegen dem Anwendungsausschluss für die Sozialhilfe nach Art 4 Abs 4 EWGV 1408/71 und mit konstitutiver Wirkung (vgl EuGH, Rs C-20/96 [Snares], Slg 1997, I-6082 [Rz 30]; differenzierend Rs C-215/99 [Jauch], Slg 2001, I-1901 [Rz 21] = SozR 3-6050 Art 10a Nr 1 S 5 f) - als so genannte besondere beitragsunabhängige Geldleistungen (so genannte "Mischleistungen", dazu ausführlich Beschorner, ZESAR 2009, 320 ff) bzw - soweit dem Grunde nach die Voraussetzungen nach § 24 Abs 1 SGB II vorliegen - als Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Art 4 Abs 1 Buchst g EWGV 1408/71 dem sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung.

30

Ob auch der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung eröffnet ist, bedarf dagegen keiner Entscheidung. Denn die Kollisionsregel des Art 6 EWGV 1408/71 greift hier ohnehin nicht ein. Die Kollisionsregel des Art 6 EWGV 1408/71 ist nämlich nur anwendbar auf "Abkommen über die soziale Sicherheit", worunter nach der Begriffsbestimmung des Art 1 Buchst k) EWGV 1408/71 nur Vereinbarungen für die in Art 4 Abs 1 und 2 der Verordnung bezeichneten Zweige und Systeme zu verstehen sind. Art 4 Abs 2a VO 1408/71 ist dort gerade nicht genannt.

31

Darüber hinaus gilt die Kollisionsregel des Art 6 EWGV ohnehin nicht schrankenlos. Vielmehr kann es gemeinschaftsrechtlich geboten sein, eine Günstigkeitsprüfung vorzunehmen (EuGH, Rs C-227/89 [Rönfeldt], Slg 1991, I-323 [Rz 29] = SozR 3-6030 Art 48 Nr 3 S 8; ausführlich Steinmeyer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 6 VO 1408/71 RdNr 10 ff). Weiterhin erscheint es zweifelhaft, ob Abkommen des Europarats überhaupt unter die Kollisionsregel fallen (vgl insoweit Steinmeyer, aaO, Art 7 VO 1408/71 RdNr 1; allerdings zu der ausdrücklich in die Verordnung aufgenommenen Ausnahmeregelung des Art 7 Abs 1 Buchst b im Hinblick auf das sog Vorläufige Europäische Abkommen vom 11.12.1953 über die soziale Sicherheit). Hinzu kommt, dass nichts dafür spricht, dass die EWGV 1408/71, für die sich vor allem die Notwendigkeit der Klärung des Verhältnisses zwischen Koordinationsrecht und Sozialversicherungsabkommen ergab, ein internationales Fürsorgeabkommen außer Kraft setzen wollte. Hier greift vielmehr der Anwendungsausschluss auf die Sozialhilfe nach Art 4 Abs 4 VO 1408/71.

32

dd) Bei der hier noch streitgegenständlichen (siehe oben 1.) Regelleistung nach § 20 SGB II handelt es sich um "Fürsorge" im Sinne von Art 1 EFA. Ausweislich der Begriffsbestimmung in Art 2 Abs a Nr i EFA meint "Fürsorge" im Sinne des Abkommens jede Fürsorge, die jeder der Vertragschließenden nach den in dem jeweiligen Teile seines Gebietes geltenden Rechtsvorschriften gewährt und wonach Personen ohne ausreichende Mittel die Mittel für ihren Lebensbedarf sowie die Betreuung erhalten, die ihre Lage erfordert. Ausgenommen sind beitragsfreie Renten und Leistungen zugunsten der Kriegsopfer und der Besatzungsgeschädigten. Nach Art 2 Abs b EFA sind die Rechtsvorschriften, die in den Gebieten der Vertragschließenden, auf die dieses Abkommen Anwendung findet, in Kraft sind, sowie die von den Vertragschließenden formulierten Vorbehalte in den Anhängen I und II zum Abkommen aufgeführt.

33

Die Regelleistung nach § 20 SGB II als Bestandteil der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach diesem Gesetz stellt ein solches, im Falle der Bedürftigkeit gewährtes "Mittel für den Lebensbedarf" dar(vgl auch Urteil des Senats vom 31.10.2007 - B 14/11b AS 5/07 R - BSGE 99, 170 = SozR 4-4200 § 24 Nr 1, wo im Hinblick auf das SGB II von einer "steuerfinanzierten Fürsorgeleistung" die Rede ist; vgl auch BT-Drucks 15/1516 S 56: "nachrangige Fürsorgeleistung"). Denn das SGB II ist - anders als bis zum 1.1.2005 die Alhi als Lohnersatzleistung (vgl zuletzt § 195 SGB III) - ein bedarfsabhängiges Leistungssystem (vgl Urteil des Senats vom 31.10.2007 - B 14 AS 30/07 R - SozR 4-4200 § 24 Nr 2). Darüber hinaus ist die Fürsorgegesetzgebung in der Bundesrepublik nach dem Außerkrafttreten des BSHG zum 1.1.2005 auch nicht auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII (idR iVm § 42 Satz 1 SGB XII) beschränkt. Sozialhilfe und Grundsicherung für Arbeitsuchende unterscheiden sich zwar nach ihrem Adressatenkreis. Das SGB II verliert dadurch aber nicht seinen Charakter als Fürsorgegesetz.

34

Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Umstand, dass im Anhang I zum EFA in der Fassung der Erklärung des ständigen Vertreters der Bundesrepublik Deutschland an den Generalsekretär des Europarats vom 26.10.2001 als anzuwendende Fürsorgegesetze noch immer (und entgegen der Verpflichtung der Bundesrepublik zur Mitteilung geänderter bzw neuer Rechtsvorschriften gemäß Art 16 Abs a und b EFA) das BSHG in der Fassung der Bekanntmachung vom 23.3.1994 (BGBl I 646, 2975), "zuletzt" geändert durch Art 12 des Gesetzes vom 13.9.2001 (BGBl I 2376, 2398), und die §§ 27, 32 bis 35 und 41 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII), jeweils iVm § 39 SGB VIII, sowie die §§ 3, 19 und 69 des Infektionsschutzgesetzes genannt werden. Denn die Aufzählung der Fürsorgegesetze in der Anlage I ist nicht konstitutiv (so auch BVerwG Urteil vom 18.5.2000 - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200, 206; LSG Niedersachsen-Bremen, FEVS 59, 369, 374; Mangold/Pattar, VSSR 2008, 243, 261; aA Bayerisches LSG Beschluss vom 4.5.2009 - L 16 AS 130/09 B ER - juris, sowie Schumacher in Oestreicher, SGB II/SGB XII, Stand Februar 2010, § 7 SGB II, RdNr 11a). Dies entspricht auch der Rechtsansicht der Bundesregierung bei Ratifizierung des Abkommens (vgl die Denkschrift des BMI und des Bundesministers des Auswärtigen zum Europäischen Fürsorgeabkommen und dem Zusatzprotokoll, BT-Drucks 2/1882, 23: "Die Aufführung der Fürsorgegesetze im Anhang I dient der Klarstellung, damit sich die übrigen Vertragschließenden den notwendigen Überblick verschaffen können." Vgl darüber hinaus den am 21.11.2001 vom Ministerkomitee des Europarats verabschiedeten "Explanatory Report" zum EFA, Rz 49). Dafür spricht zuletzt Art 2 Abs a Nr ii EFA. Hiernach haben die Begriffe "Staatsangehörige" und "Gebiet" die Bedeutung, die ihnen von den Vertragschließenden in gesonderten Erklärungen zugewiesen werden. Demgegenüber definiert Art 2 Abs a Nr i EFA den Begriff der Fürsorge eigenständig (Mangold/Pattar, aaO, 260).

35

ee) Die Bundesrepublik Deutschland hat bis jetzt keinen Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung des SGB II auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten abgegeben (vgl Art 16 Abs b Satz 2 EFA). Nach dem bislang abgegebenen Vorbehalt übernimmt die Bundesrepublik Deutschland keine Verpflichtung, die im BSHG "in der jeweils geltenden Fassung" vorgesehene Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage (vgl § 30 BSHG) und die dort vorgesehene Hilfe zur Überwindung besonderer sozialen Schwierigkeiten (vgl § 72 BSHG) an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zu gewähren, ohne gleichwohl auszuschließen, dass diese Hilfen in geeigneten Fällen gewährt werden können (vgl Neubekanntmachung des Anhangs II zum EFA, BGBl II 2001, 1098). Es bedarf an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob dieser Vorbehalt nach dem Außerkrafttreten des BSHG durch Gesetz vom 27.12.2003 (BGBl I 3022) mit Wirkung vom 1.1.2005 "dynamisch" im Sinne einer Anwendung auf die Nachfolgegesetzgebung anzuwenden ist. Denn bereits im Hinblick auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 2. Abschnitt des BSHG hatte sich die Bundesrepublik gerade nicht die Möglichkeit der Ungleichbehandlung der Staatsangehörigen der Vertragsstaaten vorbehalten. Mit der Regelleistung nach § 20 SGB II beansprucht der Kläger aber alleine eine solche, den Lebensunterhalt sichernde, Hilfe.

36

ff) Der Kläger hält sich auch "erlaubt" im Sinne des Art 1 EFA in der Bundesrepublik auf. Dabei kann an dieser Stelle dahinstehen, ob - wie es der Rechtsprechung des BVerwG zum BSHG entsprach (vgl nur BVerwGE 71, 139, 143 ff) - sich das Merkmal des erlaubten Aufenthalts nach Art 11 Abs a Satz 1 EFA bestimmt und dem Anhang insoweit konstitutive Wirkung zukommt. Bedenken könnten sich unter anderem deshalb ergeben, weil die - nach der Schlussformel des Abkommens im Gegensatz zur deutschen Fassung - verbindliche englische Fassung des EFA zwischen "lawfully present" nach Art 1 EFA und - enger - "lawfully resident" im Sinne der Rückschaffungsvorschriften nach Art 6 EFA unterscheidet. Art 11 definiert aber nur den Begriff "residence". Beides wird im Deutschen mit Aufenthalt übersetzt (wobei dann bei Art 6 EFA auf einen "gewöhnlichen" Aufenthalt abgestellt wird). Nach dem Abkommenstext spricht also einiges dafür, dass zwischen dem sozialrechtlichen Gleichbehandlungsgebot und dem Ausweisungsschutz im Hinblick auf die Qualität "des Aufenthalts" differenziert werden sollte.

37

Diese Frage bedarf aber deshalb keiner Entscheidung, weil sich der Kläger auch bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des BVerwG "erlaubt" in der Bundesrepublik aufhielt. Nach Art 11 Abs a Satz 1 EFA gilt der Aufenthalt eines Ausländers im Gebiet eines der Vertragschließenden solange als erlaubt im Sinne des Abkommens, als der Beteiligte im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis oder einer anderen in den Rechtsvorschriften des betreffenden Staates vorgesehenen Erlaubnis ist, auf Grund welcher ihm der Aufenthalt in diesem Gebiet gestattet ist. Dabei kam dem im Anhang III zum EFA angeführten Verzeichnis der Urkunden, die als Nachweis des Aufenthalts im Sinne des Art 11 EFA anerkannt werden, nach der Rechtsprechung des BVerwG ein rechtsbegründender (konstitutiver) Charakter in der Weise zu, dass mit den dort aufgeführten Urkunden die Erlaubnistatbestände abschließend genannt seien, aufgrund derer der Aufenthalt des ausländischen Staatsangehörigen im Sinne des Abkommens als erlaubt gelte (BVerwGE 71, 139, 144). Auch nach der Rechtsprechung des BVerwG war es aber als unerheblich anzusehen, wenn die Bezeichnung eines Aufenthaltstitels lediglich redaktionell angepasst wurde (BVerwG, aaO). Indiz für eine lediglich andere Bezeichnung kann dabei auch das völkervertragliche Verhalten der Bundesrepublik Deutschland sein. Denn wenn sie den Generalsekretär des Europarates von einer Änderung ihrer Gesetzgebung nicht unterrichtet hat, obwohl sie nach Art 16 Abs a EFA hierzu verpflichtet gewesen wäre, ist sie augenscheinlich davon ausgegangen, die gesetzliche Änderung berühre nicht den Inhalt des Anhangs III (BVerwGE 111, 200, 204).

38

Der Kläger verfügt über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU. Im Anhang III des EFA ist demgegenüber noch von einer "Aufenthaltserlaubnis für Angehörige eines Mitgliedstaats der EWG" die Rede (BGBl II 2001, 1100). Dies entspricht der Rechtslage nach § 1 Abs 4 des Gesetzes über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (AufenthG/EWG) in der Fassung des Gesetzes vom 9.7.1990 (BGBl I 1354), aufgehoben mit Wirkung vom 1.1.2005 durch das Zuwanderungsgesetz 2004 vom 30.7.2004 (BGBl I 1950). Nach dieser Vorschrift erhielten freizügigkeitsberechtigte Angehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften eine so genannte Aufenthaltserlaubnis-EG. Eines Aufenthaltstitels bedarf es nach § 2 Abs 4 Satz 1 FreizügG/EU, Art 8 UBRL nicht mehr. An die Stelle der Aufenthaltserlaubnis-EG ist insoweit die Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU getreten. Der Aufenthalt des Klägers "gilt" aus diesem Grund als erlaubt im Sinne des Art 11 EFA. Dies entspricht auch der Praxis der Ausländerbehörden, wonach von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen ist, bis eine Verlustfeststellung mit entsprechender Einziehung der Aufenthaltsbescheinigung nach § 5 Abs 5 FreizügG/EU erfolgt(vgl bereits oben 2.).

39

gg) Der Senat vermag schließlich auch keinen rechtlichen Ansatzpunkt dafür zu erkennen, das EFA nur auf diejenigen Ausländer anzuwenden, die sich zur Zeit des Eintritts der Hilfebedürftigkeit bereits in dem um Hilfe angegangenen Staat erlaubt aufhielten und mithin nicht auf diejenigen, die als bereits bedürftige Personen in einen Vertragsstaat einreisten (so aber LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 8.1.2010 - L 34 AS 2082/09 B ER, L 34 AS 2086/09 B PKH -, unter Verweis auf OVG Berlin Beschluss vom 22.4.2003 - 6 S 9.03 - FEVS 55, 186, 190). Mithin kommt es nicht darauf an, ob dem Kläger ein irgendwie geartetes "missbräuchliches Verhalten" vorgeworfen werden kann, als er etwas mehr als vier Monate nach seiner Einreise (nämlich nach Auslaufen seines Anspruchs auf Gewährung von Arbeitslosengeld nach dem SGB III) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II beantragt hat. Der gesetzliche Rahmen des BSHG (und nunmehr des SGB XII) war ein gänzlich anderer. Nach § 120 Abs 1 Satz 1 BSHG war Ausländern, die sich in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich aufhielten, Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Nach § 120 Abs 3 Satz 1 BSHG(jetzt § 23 Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGB XII in der Fassung des Gesetzes vom 2.12.2006, BGBl I 2670) hatten Ausländer, die sich in die Bundesrepublik Deutschland begeben haben, um Sozialhilfe zu erlangen, keinen Anspruch. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung entsprach es offenbar allgemeiner Ansicht, § 120 Abs 3 Satz 1 BSHG auch auf vom EFA geschützte Personen anzuwenden(so OVG Berlin aaO unter Verweis auf die Denkschrift zum EFA, BT-Drucks 2/1882, 23; vgl auch Hamburgisches OVG Beschluss vom 8.2.1989 - Bs IV 8/89 -, NVwZ-RR 1990, 141 ff; OVG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 25.4.1985 - 8 A 266/84 -, NDV 1985, 367 ff; aA VG Würzburg Urteil vom 21.2.1990 - W 3 K 88.1363 -, NDV 1990, 187 ff).

40

Es überzeugt nicht, eine - etwa § 23 Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGB XII vergleichbare - Regelung in das SGB II "hineinzulesen", wobei eine auf diese Weise vorgenommene Geltungserweiterung (Analogie) insbesondere auch vor dem Hintergrund des § 31 SGB I bedenklich erscheint. Im Übrigen dürfte die praktische Bedeutung eines solchen Anspruchsverlustes gering sein, weil das BVerwG jedenfalls im Rahmen der Vorgängernorm (§ 120 Abs 1 Satz 1 Halbs 1 BSHG in der Fassung vom 24.5.1983, BGBl I 613) einen finalen Zusammenhang im Sinne einer "prägenden Bedeutung" zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe (BVerwG Urteil vom 4.6.1992 - 5 C 22/87 - FEVS 43, 113 ff) verlangt hat. Schließlich hat auch die zu Art 1 EFA teilweise vertretene Ansicht, einen Aufenthalt zeitlich vor dem Eintritt der Hilfebedürftigkeit zu fordern (siehe oben), in dem Abkommen selbst keinen Ausdruck gefunden. Denn Art 1 EFA stellt allein auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts ab, nicht aber auf eine bestimmte zeitliche Abfolge.

41

Da der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II auf den Kläger mithin bereits aufgrund der vorrangigen Geltung des Gleichbehandlungsgebotes nach Art 1 EFA keine Anwendung findet, bedarf es an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob der Leistungsausschluss zudem wegen Verstoßes gegen gemeinschaftsrechtliche Vorgaben unanwendbar ist.

42

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. Mai 2011 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger für das Revisionsverfahren.

Tatbestand

1

Die Kläger begehren Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für den Zeitraum vom 19.1. bzw 2.2. bis zum 30.9.2009.

2

Die am 24.9.1990 geborene Klägerin zu 1 ist polnische Staatsangehörige. Sie reiste im Oktober 2004 mit ihren Eltern nach Deutschland ein und lebt seitdem ununterbrochen in Berlin. Am 23.7.2008 stellte die Bundesagentur für Arbeit der Klägerin zu 1 eine unbefristete Arbeitsberechtigung-EU für berufliche Tätigkeiten jeder Art aus. Ab dem 14.11.2008 war die Klägerin zu 1 in der Wohnung S Straße 9 gemeldet, wo sie eine Nettokaltmiete in Höhe von 200 Euro und Betriebskostenvorauszahlungen in Höhe von 140 Euro zu leisten hatte. Am 13.1.2009 stellte das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten eine Bescheinigung nach § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) für die Klägerin zu 1 aus. Diese beantragte am 19.1.2009 Leistungen nach dem SGB II. Der Kläger zu 2 wurde am 2.2.2009 geboren, er hat ebenfalls die polnische Staatsbürgerschaft. Die Klägerin zu 1 erhielt seit der Geburt Elterngeld in Höhe von 300 Euro und Kindergeld in Höhe von 164 Euro. Außerdem zahlte der Kindsvater Unterhalt in Höhe von 200 Euro monatlich. Weitere Einnahmen wurden nicht erzielt.

3

Mit Bescheid vom 11.3.2009 lehnte der Beklagte den Leistungsantrag der Klägerin zu 1 mit der Begründung ab, sie sei von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil sie ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland lediglich zur Arbeitsuche habe. Mit Bescheid vom 7.5.2009 bewilligte der Beklagte den Klägern aufgrund eines Beschlusses des Sozialgerichts (SG) vom 30.4.2009 in einem Eilverfahren darlehensweise Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 30.3.2009 bis September 2009. Den gegen die Ablehnung des Leistungsantrags eingelegten Widerspruch der Kläger wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28.5.2009 zurück.

4

Zur Begründung ihrer dagegen beim SG erhobenen Klage führen die Kläger aus, der Vater der Klägerin zu 1 habe seit der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Oktober 2004 als Selbstständiger gearbeitet. Die Eltern der Klägerin zu 1 hätten sich im Jahr 2006 getrennt. Sie habe weiterhin bis zur Geburt ihres Kindes mit ihrem Vater zusammengewohnt. Sie habe nach der Geburt des Klägers zu 2 die Gesamtschule, an der sie die 9. Klasse besucht habe, verlassen, einen Schulabschluss habe sie nicht erreicht. Sie sei während ihrer Schulzeit weder in irgend einer Form beruflich tätig gewesen, noch habe sie in der Zwischenzeit eine Ausbildung aufgenommen. Sie plane aber, den Hauptschulabschluss nachzuholen, sobald ihr Sohn in den Kindergarten komme.

5

Mit dem angegriffenen Urteil vom 24.5.2011 hat das SG der Klage stattgegeben. Die Klägerin zu 1 gehöre zu dem grundsätzlich leistungsberechtigten Personenkreis. Ein Leistungsanspruch scheitere auch nicht daran, dass die Klägerin zu 1 von Leistungen nach dem SGB II als Ausländerin, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, ausgeschlossen sei. Zwar lägen nach dem Wortlaut der Vorschrift die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss vor. Auf sonstige Aufenthaltsrechte könne sich die Klägerin zu 1 nicht berufen. Insbesondere könne sie kein Aufenthaltsrecht von ihren Eltern ableiten, weil sie im streitgegenständlichen Zeitraum nicht mehr mit ihren Eltern zusammengewohnt habe und auch noch kein Daueraufenthaltsrecht erlangt habe, da sie sich noch keine fünf Jahre in Deutschland aufgehalten habe.

6

Die Vorschrift des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II sei jedoch europarechtskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass sie nur dann Anwendung finde, wenn die Arbeitsuche bereits Zweck der Einreise gewesen sei. Die Einreise und die Arbeitsuche würden final verknüpft, auf einen später arbeitsuchend werdenden Unionsbürger, der zu einem anderen Zweck eingereist sei, finde die Vorschrift bei europarechtskonformer Auslegung keine Anwendung.

7

Das SG hat in seinem Urteil die Sprungrevision zugelassen, die der Beklagte eingelegt hat, nachdem die Prozessbevollmächtigte der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG nach Belehrung der Einlegung der Sprungrevision zugestimmt hatte.

8

Der Beklagte ist der Ansicht, § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II stelle nicht auf den Zweck der Einreise, sondern auf den Zweck des Aufenthalts ab. Auch wenn die Klägerin zu 1 im Oktober 2004 nicht zum Zweck der Arbeitsuche in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei, sondern ihre Eltern begleitet habe, so bestehe aber das damalige Aufenthaltsrecht gemäß § 3 Abs 1 FreizügG/EU im hier streitigen Zeitraum nicht mehr und wirke auch nicht fort. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II sei jedenfalls dann auch auf Unionsbürger anwendbar, wenn diese Leistungen begehrten, die nicht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern, sondern den Lebensunterhalt sichern sollten.

9

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. Mai 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

10

Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.

11

Sie halten die angegriffene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

12

Die rechtzeitig eingelegte und auch ansonsten zulässige Revision des Beklagten (§§ 161, 164 Sozialgerichtsgesetz) ist unbegründet. Das SG hat den Beklagten im Ergebnis zu Recht verurteilt, den Klägern dem Grunde nach Leistungen nach dem SGB II als Zuschuss zu gewähren.

13

1. Das beklagte Jobcenter ist gemäß § 70 Nr 1 SGG beteiligtenfähig. Der Kläger zu 2 wird als nicht prozessfähiger Minderjähriger (§ 71 Abs 1 und 2 SGG) durch die Klägerin zu 1 vertreten, die die elterliche Sorge allein ausübt (§ 1629 Abs 1 Satz 3 Bürgerliches Gesetzbuch; vgl BSG Urteil vom 2.7.2009 - B 14 AS 54/08 R - BSGE 104, 48 = SozR 4-1500 § 71 Nr 2 RdNr 21).

14

2. Streitgegenstand des Verfahrens sind Ansprüche der Kläger auf Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende, die der Beklagte mit Bescheid vom 11.3.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.5.2009 abgelehnt hat. Die Kläger haben den streitigen Zeitraum ausdrücklich auf die Zeit ab Antragstellung am 19.1.2009 bis zum 30.9.2009 beschränkt. Das SG hat entsprechend dem Klägerantrag bezüglich dieses Zeitraums entschieden, insoweit ist der Beklagte beschwert. Im Revisionsverfahren haben die Kläger den Antrag bezüglich des Klägers zu 2 weiter dahin begrenzt, dass Leistungen für ihn erst ab dem Tag seiner Geburt geltend gemacht werden.

15

3. Die Kläger haben einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 7 Abs 1 und Abs 3 Nr 4 sowie § 9 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006 (BGBl I 1706) und des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (RL-UmsetzungsG 2007) vom 19.8.2007 (BGBl I 1970). Die Klägerin zu 1 gehört zu dem grundsätzlich leistungsberechtigten Personenkreis (dazu unter a); der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II greift nicht durch(dazu unter b).

16

a) Die Klägerin zu 1 ist Leistungsberechtigte gemäß § 7 Abs 1 Nr 1 bis 4 SGB II. Da sie am 24.9.1990 geboren ist, hatte sie im Zeitpunkt der Antragstellung am 19.1.2009 das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht. Sie ist nach den Feststellungen des SG erwerbsfähig (§ 8 Abs 1 und 2 SGB II) und hilfebedürftig, denn sie bezieht zusammen mit dem Kläger zu 2 lediglich Elterngeld in Höhe von 300 Euro und Kindergeld in Höhe von monatlich 164 Euro sowie Unterhaltszahlungen des Kindsvaters in Höhe von 200 Euro monatlich, was ihren Bedarf nicht vollständig deckt.

17

Die Klägerin zu 1 verfügt gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II iVm § 30 Abs 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) auch über einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Einen gewöhnlichen Aufenthalt hat danach jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Klägerin zu 1 erfüllt in tatsächlicher Hinsicht diese Voraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts, denn sie ist bereits im Oktober 2004 nach Deutschland eingereist und hielt sich somit im Zeitpunkt der Antragstellung ca 4 ¼ Jahre in Deutschland auf und lebt seit der Einreise ununterbrochen in Berlin. Es kann darüber hinaus weiter offenbleiben, ob der Begriff des "gewöhnlichen Aufenthalts" bei Ausländern durch zusätzliche aufenthaltsrechtliche Voraussetzungen eingeschränkt wird. Für den Anwendungsbereich des SGB II besteht jedenfalls kein Anlass, an den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts in rechtlicher Hinsicht weitere Anforderungen zu stellen, wenn - wie vorliegend - eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU erteilt wurde und deren Verlust nicht festgestellt worden ist(vgl näher BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21).

18

b) Die Klägerin zu 1 ist auch nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II zunächst Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige oder aufgrund des § 2 Abs 3 des FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, und des weiteren Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt und ihre Familienangehörigen sowie zuletzt Leistungsberechtigte nach § 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

19

Die Klägerin zu 1 ist als polnische Staatsangehörige Ausländerin im Sinne der genannten Vorschrift. Sie ist nicht leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG und hält sich nach den Feststellungen des SG seit Oktober 2004, also länger als drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland auf. Sie ist aber auch nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, denn ihr Aufenthaltsrecht ergibt sich nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. Sie besitzt vielmehr ein anderes Aufenthaltsrecht, das den Leistungsausschluss von vornherein entfallen lässt (dazu unter aa). Dieses Aufenthaltsrecht ist nicht nachträglich durch Veränderung der persönlichen Lebensbedingungen verloren gegangen (dazu unter bb).

20

aa) Aus dem Wortlaut des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2("Aufenthaltsrecht <…> allein aus dem Zweck der Arbeitsuche"; vgl auch BT-Drucks 16/688, 13) ergibt sich, dass der Leistungsausschluss von vornherein nicht eingreift, wenn sich ein Ausländer auf ein anderes Aufenthaltsrecht als das zum Zweck der Arbeitsuche berufen kann. Aus dem Aufbau der Norm ist abzuleiten, dass positiv festgestellt werden muss, dass ein Ausländer sich allein zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, denn nur dann kann auch der Leistungsausschluss festgestellt werden.

21

Vorliegend hat die Klägerin zu 1 ein (abgeleitetes) Aufenthaltsrecht als Familienangehörige gemäß § 3 FreizügG/EU. Sie ist als 14-jährige Jugendliche und somit als noch nicht 21 Jahre alte Verwandte in absteigender Linie (§ 3 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU)mit ihren Eltern in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Ungeachtet der Frage, ob - wovon die Klägerin zu 1 und der Beklagte ausgehen - sie ihr Aufenthaltsrecht von ihrem Vater als selbstständigem Erwerbstätigen ableiten konnte (§ 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU), bestand jedenfalls für die Familie ein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs 1 und Abs 2 Nr 5 FreizügG/EU iVm § 4 FreizügG/EU. Während das SG es offengelassen hat, ob die Eltern der Klägerin zu 1 tatsächlich einer selbstständigen oder nichtselbstständigen Beschäftigung nachgegangen sind, hat es aber jedenfalls festgestellt, dass bis zum Jahr 2009 weder die Klägerin zu 1 noch ihre Eltern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten hatten. Damit konnten sie auch als nichterwerbstätige Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht in Deutschland begründen. Als Familienangehörige hatte die Klägerin zu 1 das Recht, ihre Eltern bzw ihren Vater zu begleiten oder ihm nachzuziehen (§ 3 Abs 1 Satz 1 FreizügG/EU bzw § 4 FreizügG/EU; vgl HK-AuslR/Hoffmann, 1. Aufl 2008, § 3 FreizügG/EU RdNr5).

22

bb) Dieses vom Zweck der Arbeitsuche unabhängige Aufenthaltsrecht hat die Klägerin zu 1 nicht wieder verloren. Aus den Worten "begleiten" bzw "nachziehen" in § 3 Abs 1 bzw § 4 FreizügG/EU kann nicht der Schluss gezogen werden, dass - wie das SG meint - das Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger nur besteht, wenn der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger, hier die Eltern bzw der Vater, und der begleitende Familienangehörige auf Dauer in einer gemeinsamen Wohnung wohnen(so aber früher Hailbronner, Aufenthaltsbeschränkungen gegenüber EG-Angehörigen, ZAR 1985, 108, 114). Diese Interpretation beruhte auf dem ursprünglich in der Vorläuferregelung (Art 10, 11 VO Nr 1612/68) verwendeten Begriff "Wohnung nehmen". Die Interpretation dieses Begriffs "Wohnung nehmen" in dem Sinne, dass ein gemeinsamer Wohnsitz vorhanden sein musste, war aber bereits nach altem Recht zweifelhaft. Art 10 Abs 1 VO (EWG) Nr 1612/68 verlangte nämlich nicht, dass die Familie in einer Wohnung zusammenlebt. Er enthielt lediglich die Formulierung "dürfen … Wohnung nehmen", was der Übersetzung aus dem englischen bzw französischen Text entspricht ("have the right to install" bzw "ont le droit de s´ínstaller"; siehe dazu Epe in GK-AufenthG, Stand Oktober 2010, § 3 FreizügG/EU RdNr 34). Die Formulierung einer Möglichkeit durch das Verb "dürfen", die eine Wahlfreiheit belässt, legt nahe, dass es sich hier nicht um eine tatbestandlich normierte Voraussetzung handelt. Damit wurde die Begründung einer häuslichen Gemeinschaft wenigstens zum Zeitpunkt des Nachzugs bereits unter Geltung der VO (EWG) Nr 1612/68) als nicht zwingend erforderlich angesehen (so Epe, aaO, RdNr 34; einschränkend Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 3 FreizügG/EU RdNr 12, der die Ansicht vertritt, dass grundsätzlich zunächst eine gemeinsame Wohnung vorhanden sein muss, diese Anforderung aber nur vorübergehend gilt).

23

Dass ein ständiger gemeinsamer Wohnsitz nicht als Tatbestandsmerkmal für das abgeleitete Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger zugrunde gelegt werden kann, ergab sich im Übrigen auch bereits nach altem Recht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), insbesondere in dem Urteil des EuGH vom 17.9.2002 (C-413/99 - Baumbast und R - EuGHE I 2002, 7091). Der EuGH hat dort entschieden, dass aus Art 10 und Art 12 der VO Nr 1612/68 folgt, dass bei einer Scheidung der Eltern die Kinder des ersten Ehemannes weiterhin dazu berechtigt sind, im Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen und dort unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates ihren Schulbesuch fortzusetzen. Es wurde dabei ausdrücklich festgestellt, dass die Tatsache, dass die Kinder des ersten Ehemannes nicht ständig bei diesem wohnen, ihre Rechte nicht berühren.

24

Mit der Neufassung des § 3 Abs 1 FreizügG/EU durch das RL-UmsetzungsG 2007 war diesbezüglich eine Rechtsänderung nicht verbunden. Dementsprechend ist aus den Worten "begleiten" bzw "nachziehen" in § 3 Abs 1 FreizügG/EU weiterhin nicht der Schluss zu ziehen, dass stets eine gemeinsamen Wohnung vorhanden sein muss. Vielmehr ist ein Familienangehöriger nicht verpflichtet, bei dem Freizügigkeitsberechtigten zu wohnen (so HK-AuslR/Hoffmann, aaO, § 3 FreizügG/EU RdNr 4 f mwN; Epe in GK-AufenthG, aaO, § 3 FreizügG/EU RdNr 34 ff mwN; Harich, jurisPR-SozR 24/2011, Anm 1: Arbeitslosengeld II auch im Ausland?).

25

Allein der Umstand, dass die Klägerin zu 1 vor Geburt des Klägers zu 2 aus ihrem Elternhaus ausgezogen ist und eine eigene Wohnung angemietet hat, lässt das abgeleitete Aufenthaltsrecht als Familienangehörige somit nicht entfallen.

26

c) Damit ist auch der Kläger zu 2 leistungsberechtigt, weil er mit der Klägerin zu 1 in Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs 3 Nr 4 SGB II) lebt und aus den genannten Gründen keiner der Ausschlussgründe des § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II eingreift.

27

d) Auf die vom SG vorgenommene europarechtskonforme Auslegung von § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II dahingehend, dass der Leistungsausschluss nur eingreifen soll, wenn bei der Einreise die Arbeitsuche der alleinige Zweck gewesen ist, er dagegen keine Anwendung finden soll, wenn ein Unionsbürger später arbeitsuchend wird, kommt es hier nicht mehr an. Die Verurteilung des Beklagten zur Leistungsgewährung ergibt sich direkt aus § 7 Abs 1 Satz 1 iVm § 9 SGB II und für den Kläger zu 2 aus § 7 Abs 3 Nr 4 SGB II. Da der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II vorliegend überhaupt nicht durchgreift, kann auch die weitergehende Frage offenbleiben, ob im Rahmen des Leistungsausschlusses zwischen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und Leistungen zur Eingliederung in Arbeit zu unterscheiden ist, wie dies etwa auch der nunmehr durch die VO (EG) Nr 988/2009 festgelegte Anhang X zur VO (EG) Nr 883/2004 nahelegt(vgl dazu Harich, aaO, Abschnitt D).

28

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die

1.
das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
2.
erwerbsfähig sind,
3.
hilfebedürftig sind und
4.
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
Ausgenommen sind
1.
Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2.
Ausländerinnen und Ausländer,
a)
die kein Aufenthaltsrecht haben oder
b)
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
und ihre Familienangehörigen,
3.
Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

(2) Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Dienstleistungen und Sachleistungen werden ihnen nur erbracht, wenn dadurch Hemmnisse bei der Eingliederung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten beseitigt oder vermindert werden. Zur Deckung der Bedarfe nach § 28 erhalten die dort genannten Personen auch dann Leistungen für Bildung und Teilhabe, wenn sie mit Personen in einem Haushalt zusammenleben, mit denen sie nur deshalb keine Bedarfsgemeinschaft bilden, weil diese aufgrund des zu berücksichtigenden Einkommens oder Vermögens selbst nicht leistungsberechtigt sind.

(3) Zur Bedarfsgemeinschaft gehören

1.
die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten,
2.
die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines unverheirateten erwerbsfähigen Kindes, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und die im Haushalt lebende Partnerin oder der im Haushalt lebende Partner dieses Elternteils,
3.
als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten
a)
die nicht dauernd getrennt lebende Ehegattin oder der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte,
b)
die nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartnerin oder der nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartner,
c)
eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.
4.
die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können.

(3a) Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner

1.
länger als ein Jahr zusammenleben,
2.
mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,
3.
Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder
4.
befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.

(4) Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend von Satz 1 erhält Leistungen nach diesem Buch,

1.
wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches) untergebracht ist oder
2.
wer in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.
Die Sätze 1 und 3 Nummer 2 gelten für Bewohner von Räumlichkeiten im Sinne des § 42a Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 des Zwölften Buches entsprechend.

(4a) (weggefallen)

(5) Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Satz 1 gilt auch für Auszubildende, deren Bedarf sich nach § 61 Absatz 2, § 62 Absatz 3, § 123 Nummer 2 sowie § 124 Nummer 2 des Dritten Buches bemisst.

(6) Absatz 5 Satz 1 ist nicht anzuwenden auf Auszubildende,

1.
die aufgrund von § 2 Absatz 1a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben,
2.
deren Bedarf sich nach den §§ 12, 13 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 oder nach § 13 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bemisst und die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz
a)
erhalten oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten oder
b)
beantragt haben und über deren Antrag das zuständige Amt für Ausbildungsförderung noch nicht entschieden hat; lehnt das zuständige Amt für Ausbildungsförderung die Leistungen ab, findet Absatz 5 mit Beginn des folgenden Monats Anwendung, oder
3.
die eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule oder ein Abendgymnasium besuchen, sofern sie aufgrund des § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben.

Tenor

Das Verfahren wird ausgesetzt.

Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:

1. Ist Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG so auszulegen, dass er einem Unionsbürger, der sich seit über fünf Jahren nur aufgrund nationalen Rechts rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, in dieser Zeit aber die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG nicht erfüllt hat, ein Recht auf Daueraufenthalt in diesem Mitgliedstaat verleiht?

2. Sind auf den rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne des Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG auch Aufenthaltszeiten des Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat vor dem Beitritt seines Herkunftsstaats zur Europäischen Union anzurechnen?

Gründe

I.

1

Die Kläger sind polnische Staatsangehörige. Sie begehren die Ausstellung von Bescheinigungen über das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts.

2

Die 1960 geborene Klägerin zu 1 reiste 1988 nach Berlin (West) ein. Nach einem erfolglosen Asylverfahren war ihr Aufenthalt von Mai 1990 bis Oktober 2005 aus humanitären Gründen erlaubt. Die Kläger zu 2 und 3 wurden 1996 bzw. 1994 nichtehelich in Berlin geboren und besaßen Aufenthaltstitel, die demjenigen ihrer Mutter, der Klägerin zu 1, angepasst waren. Ihr Vater, ein türkischer Staatsangehöriger, lebt getrennt von den Klägern, übt das Sorgerecht aber gemeinsam mit der Klägerin zu 1 aus.

3

Im August 2005 beantragten die Kläger die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnisse bzw. die Erteilung befristeter Aufenthaltserlaubnisse-EU. Mit Bescheiden vom 26. Oktober 2005 lehnte das beklagte Land die Anträge ab und drohte den Klägern die Abschiebung nach Polen an. Zur Begründung ist ausgeführt, der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse stehe der nicht gesicherte Lebensunterhalt der Kläger entgegen. Aufenthaltsansprüche nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU könnten sie ebenfalls nicht geltend machen, da die Klägerin zu 1 weder Arbeitnehmerin sei noch einen gesicherten Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel nachweisen könne. Die hiergegen eingelegten Widersprüche hatten keinen Erfolg. Im Zuge eines beim Berliner Abgeordnetenhaus durchgeführten Petitionsverfahrens wurden den Klägern im November 2006 befristete Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG erteilt, die seitdem für jeweils sechs Monate verlängert werden.

4

Im Klageverfahren beriefen sich die Kläger auf ein Recht auf Daueraufenthalt nach der Richtlinie 2004/38/EG und begehrten die Ausstellung entsprechender Bescheinigungen. Das Verwaltungsgericht gab den Klagen im Januar 2007 statt. Dabei ging es davon aus, dass Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG jedem Unionsbürger, der sich fünf Jahre rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten habe, ein Daueraufenthaltsrecht gewähre, ohne dass es darauf ankomme, ob er über ausreichende Existenzmittel verfüge. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 28. April 2009 das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klagen abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, die Kläger erfüllten nicht die Anforderungen für das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU. Sie hielten sich zwar seit mehr als fünf Jahren im Bundesgebiet auf. Rechtmäßig im Sinne dieser Vorschrift sei aber nur ein Aufenthalt, der nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU auf einem Freizügigkeitsrecht beruhe. Berücksichtigungsfähig seien hierbei nur Zeiten, in denen der Herkunftsstaat Mitglied der Europäischen Union gewesen sei. Die Kläger seien nach dem Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 nicht freizügigkeitsberechtigt gewesen, da sie als nicht erwerbstätige Unionsbürger nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt hätten (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU). Sie hätten während des gesamten Zeitraums staatliche Sozialleistungen bezogen. Anders als bei Arbeitnehmern und selbstständig Erwerbstätigen seien bei Nichterwerbstätigen Zeiten des Sozialleistungsbezugs nicht als Zeiten rechtmäßigen Aufenthalts zu berücksichtigen. Dies stehe im Einklang mit Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG. Erfülle ein Unionsbürger nicht fünf Jahre die Voraussetzungen des Art. 7 der Richtlinie, erwerbe er kein Daueraufenthaltsrecht. Bei Nichterwerbstätigen verlange Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie, dass sie über ausreichende Existenzmittel verfügten, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssten.

5

Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihren vom Berufungsgericht zugelassenen Revisionen. Sie sind der Auffassung, dass der nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU und Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG geforderte fünfjährige rechtmäßige Aufenthalt nicht voraussetzt, dass der Unionsbürger während dieser Zeit freizügigkeitsberechtigt im Sinne des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU war. Unionsbürger hätten ein allgemeines Freizügigkeitsrecht und benötigten keinen konstitutiven Aufenthaltstitel. Die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts werde durch die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen nicht in Frage gestellt. Für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts sei auch unerheblich, ob während des Aufenthalts ein Grund bestanden habe, der die Ausländerbehörde zu einer Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts berechtigt hätte.

6

Der Beklagte tritt den Revisionen entgegen. Er ist der Auffassung, dass der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts einen Aufenthalt verlangt, der die in der Richtlinie 2004/38/EG genannten Bedingungen erfüllt.

7

Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich am Verfahren beteiligt. Er hält die Revisionen ebenfalls für unbegründet. Seiner Auffassung nach setzt § 4a FreizügG/EU aber nur voraus, dass der Aufenthalt jedenfalls zuletzt nach Freizügigkeitsrecht rechtmäßig war. Insofern gehe die Vorschrift über die Richtlinie 2004/38/EG hinaus.

II.

8

Der Rechtsstreit ist auszusetzen. Es ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) zur Auslegung des Art. 16 der Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (ABl EU Nr. L 158 S. 77) einzuholen (Art. 267 AEUV). Da es um die Auslegung von Unionsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig. Die vorgelegten Fragen zur Auslegung des Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof. Es wird darauf hingewiesen, dass die Fragen Gegenstand eines weiteren - gleichlautenden - Vorabentscheidungsersuchens sind (vgl. Beschluss vom 13. Juli 2010 - BVerwG 1 C 14.09).

9

1. Folgende nationale Vorschriften aus dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) in der Fassung des Art. 2 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (Richtlinienumsetzungsgesetz) vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) bilden den rechtlichen Rahmen dieses Rechtsstreits:

"§ 2 Recht auf Einreise und Aufenthalt

(1) Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.

(2) Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind:

1. bis 4. ...,

5. nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4,

6. und 7. ...

(3) bis (6) ...

§ 4 Nicht erwerbstätige Freizügigkeitsberechtigte

Nicht erwerbstätige Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und ihre Lebenspartner, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, haben das Recht nach § 2 Abs. 1, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. ...

§ 4a Daueraufenthaltsrecht

(1) Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und Lebenspartner, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, haben unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht).

(2) bis (7) ...

§ 5 Bescheinigungen über gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrechte, Aufenthaltskarten

(1) bis (5) ...

(6) Auf Antrag wird Unionsbürgern unverzüglich ihr Daueraufenthalt bescheinigt. ...

(7) ...

§ 11 Anwendung des Aufenthaltsgesetzes

(1) ...

(2) Hat die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 festgestellt, findet das Aufenthaltsgesetz Anwendung, sofern dieses Gesetz keine besonderen Regelungen trifft.

(3) ...

§ 13 Staatsangehörige der Beitrittsstaaten

Soweit nach Maßgabe des Vertrages vom 16. April 2003 über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union (BGBl. 2003 II S. 1408) oder des Vertrages vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (BGBl. 2006 II S. 1146) abweichende Regelungen anwendbar sind, findet dieses Gesetz Anwendung, wenn die Beschäftigung durch die Bundesagentur für Arbeit gemäß § 284 Abs. 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch genehmigt wurde."

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2. Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich. Gegenstand des Verfahrens ist ausschließlich das Begehren der Kläger auf Ausstellung von Bescheinigungen über das Bestehen ihres Daueraufenthaltsrechts. Soweit sie ursprünglich die Verlängerung bzw. Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen beantragt haben, haben sie diese Begehren im Klageverfahren nicht weiterverfolgt. Mit der nachträglichen Erteilung befristeter Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen haben sich die in den ablehnenden Bescheiden des Beklagten mitverfügten Abschiebungsandrohungen erledigt. Die Kläger haben nach nationalem Recht keinen Anspruch auf Ausstellung der begehrten Bescheinigungen (a). Die darauf gerichteten Klagen können daher nur Erfolg haben, wenn die Kläger unmittelbar aus Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG ein Recht auf Daueraufenthalt erworben haben (b).

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a) Nach § 5 Abs. 6 Satz 1 FreizügG/EU wird Unionsbürgern auf Antrag unverzüglich ihr Daueraufenthalt bescheinigt.

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Das Freizügigkeitsgesetz/EU findet hier Anwendung, auch wenn die Kläger die Voraussetzungen des § 13 FreizügG/EU nicht erfüllen. Als polnische Staatsangehörige sind sie seit dem Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 Unionsbürger. Die in den Beitrittsverträgen und -akten festgelegten Übergangsregelungen betreffen den Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie unter bestimmten Voraussetzungen einige Dienstleistungssektoren bis zur Herstellung der vollständigen Freizügigkeit. Ohne Einschränkung freizügigkeitsberechtigt sind dagegen Staatsangehörige, die - wie die Kläger - keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, soweit die weiteren unionsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen (vgl. Nr. 13 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 26. Oktober 2009 - VwV-FreizügG/EU - GMBl S. 1270).

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Dem Begehren der Kläger steht aber entgegen, dass sie die Voraussetzungen des § 4a FreizügG/EU für das Entstehen eines Rechts auf Daueraufenthalt nicht erfüllen. Nach der hier allein in Betracht kommenden Grundnorm des § 4a Abs. 1 FreizügG/EU haben Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und Lebenspartner, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht). In § 2 Abs. 2 FreizügG/EU sind die nach Unionsrecht freizügigkeitsberechtigten Personengruppen aufgezählt. Aus dem Zusatz "unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2" ergibt sich, dass nicht jeder nach nationalem Recht rechtmäßige Aufenthalt ausreicht, sondern das Entstehen des Daueraufenthaltsrechts voraussetzt, dass der Betroffene nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt war, und nur ein einmal entstandenes Daueraufenthaltsrecht durch einen späteren Wegfall der Freizügigkeitsberechtigung nicht mehr berührt wird.

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Dabei kann dahinstehen, ob für das Entstehen des Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU erforderlich ist, dass der Betroffene - wie vom Berufungsgericht angenommen - während des gesamten Zeitraums von fünf Jahren freizügigkeitsberechtigt war, oder ob es - wie vom Vertreter des Bundesinteresses vertreten - ausreicht, wenn der Aufenthalt fünf Jahre lang erlaubt war und jedenfalls zuletzt auf dem Freizügigkeitsrecht beruhte (so auch Nr. 4a.1 der VwV-FreizügG/EU). Denn die Kläger halten sich zwar seit über fünf Jahren ununterbrochen erlaubt im Bundesgebiet auf. Sie waren während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet aber zu keinem Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt.

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Als Rechtsgrundlage einer Freizügigkeitsberechtigung käme hier nur § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU in Betracht. Danach sind nicht erwerbstätige Unionsbürger - wie die Kläger - freizügigkeitsberechtigt, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Diese Voraussetzungen erfüllen die Kläger nach den Feststellungen der Ausländerbehörde in ihren ablehnenden Bescheiden nicht (vgl. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU). Auch das Berufungsgericht ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kläger nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 nie freizügigkeitsberechtigt waren. Damit kommt es bei der Anwendung des nationalen Rechts auch nicht auf die Frage an, ob und unter welchen Voraussetzungen bei Staatsangehörigen neuer Mitgliedstaaten auf den Fünfjahreszeitraum Aufenthaltszeiten vor dem Beitritt ihres Heimatstaats in die Europäische Union anzurechnen sind, da auch in diesem Fall erforderlich wäre, dass der Betroffene mit dem Beitritt - zumindest für eine logische Sekunde - freizügigkeitsberechtigt war.

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b) Enthalten die nationalen Vorschriften für die Kläger keine günstigeren Regelungen (vgl. Art. 37 der Richtlinie 2004/38/EG), kommt es für den Ausgang des Verfahrens darauf an, ob sie unmittelbar aus Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG ein Recht auf Daueraufenthalt erworben haben. Dies hängt zunächst davon ab, ob Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie so auszulegen ist, dass er einem Unionsbürger ein Recht auf Daueraufenthalt verleiht, der sich seit über fünf Jahren nur aufgrund nationalen Rechts rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, in dieser Zeit aber nicht die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie erfüllt (1. Vorlagefrage). Zudem kommt es im vorliegenden Fall darauf an, ob auf den rechtmäßigen Aufenthalt auch Aufenthaltszeiten des Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat vor dem Beitritt seines Herkunftsstaats zur Europäischen Union anzurechnen sind (2. Vorlagefrage). Nach ständiger Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz abzustellen (vgl. Urteile vom 16. Juni 2004 - BVerwG 1 C 20.03 - BVerwGE 121, 86 <88> m.w.N.; vom 7. April 2009 - BVerwG 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329, Leitsatz 3 und Rn. 37 ff. und vom 1. Dezember 2009 - BVerwG 1 C 32.08 - juris Rn. 12). Nichts anderes gilt, wenn - wie hier - im Wege einer allgemeinen Leistungsklage die Ausstellung einer Bescheinigung über ein Daueraufenthaltsrecht begehrt wird. Da der Beitritt Polens im hiernach maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht am 28. April 2009 noch keine fünf Jahre zurücklag, könnten die Klagen mithin nur Erfolg haben, wenn auf die Fünfjahresfrist auch vor dem Beitritt liegende Aufenthaltszeiten anzurechnen sind.

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3. Die vorgelegten Fragen bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof.

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a) Nach Auffassung des vorlegenden Senats sind beide Vorlagefragen zu verneinen mit der Folge, dass die Kläger auch aus dem Unionsrecht kein Recht auf Daueraufenthalt herleiten können.

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Nach Art. 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV - (ex-Art. 18 EGV) hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen, sowie das Recht auf Daueraufenthalt und die Beschränkungen dieser Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit sind in der Richtlinie 2004/38/EG geregelt (Art. 1 der Richtlinie). Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten.

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aa) Der Senat ist der Auffassung, dass auch nach dieser Bestimmung die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts sich nicht nach dem im jeweiligen Aufnahmemitgliedstaat geltenden - möglicherweise günstigeren (vgl. Art. 37 der Richtlinie) - nationalen Recht richtet, sondern nach Unionsrecht. Er sieht sich hierin durch die Ausführungen der Generalanwältin Trstenjak in ihren Schlussanträgen vom 11. Mai 2010 in der beim Gerichtshof anhängigen Rechtssache C-162-09, Secretary of State for Works and Pensions / Lassal (Rn. 88 und 93) bestärkt.

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Für eine unionsrechtliche Sichtweise sprechen neben den klaren Hinweisen in den Erwägungsgründen auch systematische Gründe und die Entstehungsgeschichte der Richtlinie:

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Den der Richtlinie vorangestellten Erwägungsgründen 17 und 18, die zwar keinen eigenständigen Regelungsgehalt haben, bei der Auslegung der Richtlinie aber als Auslegungshilfe herangezogen werden können, ist zu entnehmen, dass das einmal erlangte Recht auf Daueraufenthalt keinen Bedingungen unterworfen ist (es mithin auch beim Bezug von Sozialhilfeleistungen bestehen bleibt), für seinen Erwerb hingegen erforderlich ist, dass der Betroffene sich "gemäß den in der Richtlinie festgelegten Bedingungen" fünf Jahre lang ununterbrochen in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Aus diesem ausdrücklichen Verweis auf die in der Richtlinie festgelegten Bedingungen und damit auf das Unionsrecht ist zu folgern, dass es für das Entstehen des Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG in keinem Fall genügt, wenn der Aufenthalt des Betroffenen - wie hier - immer nur nach Maßgabe nationaler Bestimmungen rechtmäßig war und ist.

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Hierauf deutet auch die der Richtlinie 2004/38/EG immanente Systematik hin, die mit ihrem dreistufigen System aufeinander aufbauender und sich verfestigender Aufenthaltsrechte für Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen ein in sich geschlossenes Regelungswerk für die Einreise und den (Dauer-)Aufenthalt der von ihr erfassten Personen enthält: Auf der ersten Stufe haben Unionsbürger und sie begleitende oder nachziehende Familienangehörige nach Art. 6 der Richtlinie das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten. Hierzu müssen sie lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein und brauchen ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen. Dieses Recht bleibt bei Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats erhalten, solange die Inanspruchnahme nicht unangemessen ist (Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie). Für einen Zeitraum von über drei Monaten besteht - auf der zweiten Stufe - nach Art. 7 der Richtlinie das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, wenn die dort genannten Voraussetzungen erfüllt werden. Ist der Unionsbürger weder Arbeitnehmer noch Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat (Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie), und absolviert er dort auch keine Ausbildung (Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie) ist auf dieser Stufe erforderlich, dass der Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, sodass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen. Außerdem müssen sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie). Dieses Aufenthaltsrecht besteht, solange die Betroffenen die in Art. 7, 12 und 13 genannten Voraussetzungen erfüllen (Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie). In Art. 16 ff. der Richtlinie ist schließlich - auf der dritten und letzten Stufe - das Recht auf Daueraufenthalt geregelt. Nach der allgemeinen Regelung in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen in einem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III (Aufenthaltsrecht) geknüpft und geht nur nach einer mehr als zweijährigen Abwesenheit (Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie) oder nach einer Ausweisung (Art. 27, 28 Abs. 2 der Richtlinie) verloren.

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Dieser der Richtlinie 2004/38/EG zugrunde liegenden Systematik widerspräche es, wenn das Recht auf Daueraufenthalt, das dem Betroffenen die stärkste aufenthaltsrechtliche Position vermittelt, allein durch die Erfüllung nationaler Tatbestände erworben werden könnte, ohne dass die Voraussetzungen für ein längerfristiges unionsrechtliches Aufenthaltsrecht jemals vorgelegen haben.

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Dies zeigt auch die Entstehungsgeschichte des Art. 16 der Richtlinie. Nach dem ursprünglichen Vorschlag der Europäischen Kommission (Art. 14 des Kommissionsentwurfs) vom 23. Mai 2001 (KOM <2001> 257 endg.) sollte der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts bei Unionsbürgern voraussetzen, dass sie sich rechtmäßig vier Jahre lang ununterbrochen im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten haben. Dies wurde auf Nachfrage Dänemarks in den Beratungen von der Kommission dahin präzisiert, dass die Bedingungen nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie in den vier Jahren Aufenthalt, die dem Recht auf Daueraufenthalt vorausgehen, erfüllt werden müssten und sie erst nach dem Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt keine Anwendung mehr fänden (vgl. Protokoll über die Beratungsergebnisse der Gruppe "Freizügigkeit" vom 10. Juli 2002, Ratsdokument 10572/02 S. 36 Fn. 67). Später wurde die Aufenthaltsdauer auf fünf Jahre erhöht und zur Präzisierung des Begriffs "rechtmäßiger Aufenthalt" der 17. Erwägungsgrund um die Formulierung "die sich gemäß den in der Richtlinie festgelegten Bedingungen fünf Jahre ununterbrochen in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben" ergänzt (vgl. 17. Erwägungsgrund im Gemeinsamen Standpunkt Nr. 6/2004 vom Rat festgelegt am 5. Dezember 2003, 2004/C 54 E/02, und Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament gemäß Art. 251 Abs. 2 Unterabs. 2 EG-Vertrag betreffend den vom Rat angenommenen gemeinsamen Standpunkt im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten vom 30. Dezember 2003, SEK <2003> 1293 endg. S. 10, abgedruckt in: Übermittlungsvermerk des Rats der Europäischen Union vom 12. Januar 2004, Ratsdokument 5191/04).

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Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Sinn und Zweck des Daueraufenthaltsrechts. Dieses soll das Gefühl der Unionsbürgerschaft verstärken und zum sozialen Zusammenhalt beitragen (17. Erwägungsgrund). Beide Gedanken gebieten bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts zwar keine Anknüpfung an die unionsrechtlichen Bestimmungen, stehen dem aber auch nicht entgegen.

27

bb) Reicht allein ein nach nationalem Recht rechtmäßiger Aufenthalt für das Entstehen des Daueraufenthaltsrechts nicht aus, stellt sich die weitere Frage, ob bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit auf Unionsebene ausschließlich auf die Richtlinie 2004/38/EG abzustellen ist. Die Frage stellt sich nicht nur in Übergangsfällen hinsichtlich der Berücksichtigung von Aufenthaltszeiten, die vor Umsetzung bzw. Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2004/38/EG liegen und nach den damals geltenden Vorgängerregelungen rechtmäßig waren, sondern auch im Hinblick auf andere unionsrechtliche Aufenthaltsrechte, die durch die Richtlinie 2004/38/EG nicht ersetzt wurden, sondern daneben weiter Bestand haben. Sie bedarf hier indes keiner Entscheidung, da die Kläger sich während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet nie auf ein unionsrechtliches Aufenthalts- oder Freizügigkeitsrecht berufen konnten.

28

Nach den im Revisionsverfahren nicht angegriffenen und damit für den Senat bindenden tatrichterlichen Feststellungen des Berufungsgerichts erfüllten die Kläger nie die Voraussetzungen des Art. 7 der Richtlinie 2004/38/EG für ein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate. Denn sie verfügen jedenfalls seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 als nicht erwerbstätige Unionsbürger nicht über ausreichende Existenzmittel und beziehen Sozialhilfeleistungen. Dabei ist unerheblich, dass dieser Umstand nach Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie nicht automatisch zu einer Ausweisung führen darf. Diese Bestimmung regelt die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen, setzt also ein unionsrechtliches Aufenthalts- oder Freizügigkeitsrecht voraus. Davon zu trennen ist die hier entscheidungserhebliche Frage, ob trotz Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen ein unionsrechtliches Aufenthalts- oder Freizügigkeitsrecht bestand. Dies hängt von der erreichten Aufenthaltsstufe ab: Nach dem Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt - der höchsten Stufe - spielt der Bezug von Sozialhilfeleistungen keine Rolle mehr (Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie). Dagegen hängt das Aufenthaltsrecht für einen Aufenthalt bis zu drei Monaten nach Art. 6 der Richtlinie davon ab, dass Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch genommen werden (Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie). Nach diesem Zeitraum kommt es bis zum Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts darauf an, ob der Nichtbezug von Sozialhilfeleistungen Anspruchsvoraussetzung ist (Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie). Dies ist bei nichterwerbstätigen Unionsbürgern der Fall. Etwas anderes ergibt sich - entgegen der Auffassung der Kläger - auch nicht aus dem Urteil des Gerichtshofs vom 20. September 2001 in der Rechtssache Grzelczyk - C-184/99 - (Slg. 2001, I-06193). Denn diese Entscheidung betrifft ebenfalls nur die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein - im dortigen Verfahren auf der Richtlinie 93/96 beruhendes - Aufenthaltsrecht beim Bezug von Sozialhilfeleistungen entfällt und der Mitgliedstaat aufenthaltsbeendende Maßnahmen ergreifen darf. Soweit der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung davon ausgeht, dass sich ein Unionsbürger hinsichtlich der Leistungen der Sozialhilfe auf das Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit berufen kann, wenn er sich im Aufnahmemitgliedstaat für eine bestimmte Zeit rechtmäßig aufgehalten hat oder eine Aufenthaltserlaubnis besitzt (vgl. EuGH, Urteil vom 15. März 2005 - Rs. C-209/03, Bidar - Slg. 2005, I-02119 Rn. 37), lässt sich auch dieser zum Diskriminierungsverbot ergangenen Rechtsprechung nichts für die hier entscheidungserhebliche Frage entnehmen, ob ein nicht erwerbstätiger Unionsbürger trotz Bezugs von Sozialhilfeleistungen ein Recht auf Daueraufenthalt erwerben kann.

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Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Kläger nach anderen Vorschriften des Unionsrechts ein Aufenthaltsrecht erworben haben, insbesondere scheitert ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Kläger zu 2 und 3 und ein davon abgeleitetes Aufenthaltsrecht der sie betreuenden Klägerin zu 1 nach Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 (vgl. dazu EuGH, Urteile vom 17. September 2002 - Rs. C-413/99, Baumbast und R - Slg. 2002, I-07091 und vom 23. Februar 2010 - Rs. C-480/08, Teixeira) schon daran, dass die Klägerin zu 1 im Bundesgebiet nicht erwerbstätig ist oder dies als Unionsbürgerin auch nie war.

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cc) Ist Voraussetzung für das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG, dass der Unionsbürger sich fünf Jahre ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat und sein Aufenthalt in dieser Zeit nach Maßgabe des Unionsrechts rechtmäßig war, dürften bei Staatsangehörigen neuer Mitgliedstaaten auch vor dem Beitritt liegende Aufenthaltszeiten, während derer der Aufenthalt nur nach nationalem Recht rechtmäßig war, weil kein unionsrechtliches Aufenthalts- oder Freizügigkeitsrecht bestand und bestehen konnte, nicht anzurechnen sein. Ansonsten stünden Neu-Unionsbürger besser als Alt-Unionsbürger.

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b) Der Senat sieht sich allerdings angesichts des beim Gerichtshof bereits anhängigen Vorabentscheidungsersuchens des Supreme Court of the United Kingdom vom 5. November 2009 in der Rechtssache Shirley McCarthy / Secretary of State for the Home Department (Rs. C-434/09 - ABl EU 2010 Nr. C 11 S. 18) an einer eigenen Entscheidung ohne Anrufung des Gerichtshofs gehindert.

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Jenes Vorabentscheidungsersuchen betrifft zwar primär die - hier nicht entscheidungserhebliche - Frage, ob sich ein Unionsbürger, der neben der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats auch die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaats besitzt, in dem er sich sein Leben lang aufgehalten hat, "Berechtigter" im Sinne des Art. 3 der Richtlinie 2004/38/EG ist. In diesem Zusammenhang wurde dem Gerichtshof aber die weitere Frage vorgelegt, ob sich eine "solche Person" im Sinne von Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, wenn sie die Erfordernisse von Art. 7 der Richtlinie nicht erfüllen konnte. Auch wenn man die Formulierung "solche Person" auf den speziellen Fall der dortigen Klägerin bezieht, ist der Fragestellung zu entnehmen, dass der Supreme Court offensichtlich Zweifel hat, ob der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 der Richtlinie stets das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 7 der Richtlinie voraussetzt. Die gleiche Frage stellt sich im vorliegenden Fall. Im Hinblick auf das beim Gerichtshof anhängige Vorabentscheidungsersuchen des obersten Gerichts eines anderen Mitgliedstaats ist daher von einer unionsrechtlichen Zweifelsfrage auszugehen.

(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die

1.
das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
2.
erwerbsfähig sind,
3.
hilfebedürftig sind und
4.
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
Ausgenommen sind
1.
Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2.
Ausländerinnen und Ausländer,
a)
die kein Aufenthaltsrecht haben oder
b)
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
und ihre Familienangehörigen,
3.
Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

(2) Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Dienstleistungen und Sachleistungen werden ihnen nur erbracht, wenn dadurch Hemmnisse bei der Eingliederung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten beseitigt oder vermindert werden. Zur Deckung der Bedarfe nach § 28 erhalten die dort genannten Personen auch dann Leistungen für Bildung und Teilhabe, wenn sie mit Personen in einem Haushalt zusammenleben, mit denen sie nur deshalb keine Bedarfsgemeinschaft bilden, weil diese aufgrund des zu berücksichtigenden Einkommens oder Vermögens selbst nicht leistungsberechtigt sind.

(3) Zur Bedarfsgemeinschaft gehören

1.
die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten,
2.
die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines unverheirateten erwerbsfähigen Kindes, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und die im Haushalt lebende Partnerin oder der im Haushalt lebende Partner dieses Elternteils,
3.
als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten
a)
die nicht dauernd getrennt lebende Ehegattin oder der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte,
b)
die nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartnerin oder der nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartner,
c)
eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.
4.
die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können.

(3a) Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner

1.
länger als ein Jahr zusammenleben,
2.
mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,
3.
Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder
4.
befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.

(4) Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend von Satz 1 erhält Leistungen nach diesem Buch,

1.
wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches) untergebracht ist oder
2.
wer in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.
Die Sätze 1 und 3 Nummer 2 gelten für Bewohner von Räumlichkeiten im Sinne des § 42a Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 des Zwölften Buches entsprechend.

(4a) (weggefallen)

(5) Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Satz 1 gilt auch für Auszubildende, deren Bedarf sich nach § 61 Absatz 2, § 62 Absatz 3, § 123 Nummer 2 sowie § 124 Nummer 2 des Dritten Buches bemisst.

(6) Absatz 5 Satz 1 ist nicht anzuwenden auf Auszubildende,

1.
die aufgrund von § 2 Absatz 1a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben,
2.
deren Bedarf sich nach den §§ 12, 13 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 oder nach § 13 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bemisst und die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz
a)
erhalten oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten oder
b)
beantragt haben und über deren Antrag das zuständige Amt für Ausbildungsförderung noch nicht entschieden hat; lehnt das zuständige Amt für Ausbildungsförderung die Leistungen ab, findet Absatz 5 mit Beginn des folgenden Monats Anwendung, oder
3.
die eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule oder ein Abendgymnasium besuchen, sofern sie aufgrund des § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben.

(1) Ist die Revision unbegründet, so weist das Bundessozialgericht die Revision zurück. Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Gesetzesverletzung, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision ebenfalls zurückzuweisen.

(2) Ist die Revision begründet, so hat das Bundessozialgericht in der Sache selbst zu entscheiden. Sofern dies untunlich ist, kann es das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurückverweisen, welches das angefochtene Urteil erlassen hat.

(3) Die Entscheidung über die Revision braucht nicht begründet zu werden, soweit das Bundessozialgericht Rügen von Verfahrensmängeln nicht für durchgreifend erachtet. Dies gilt nicht für Rügen nach § 202 in Verbindung mit § 547 der Zivilprozeßordnung und, wenn mit der Revision ausschließlich Verfahrensmängel geltend gemacht werden, für Rügen, auf denen die Zulassung der Revision beruht.

(4) Verweist das Bundessozialgericht die Sache bei der Sprungrevision nach § 161 zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück, so kann es nach seinem Ermessen auch an das Landessozialgericht zurückverweisen, das für die Berufung zuständig gewesen wäre. Für das Verfahren vor dem Landessozialgericht gelten dann die gleichen Grundsätze, wie wenn der Rechtsstreit auf eine ordnungsgemäß eingelegte Berufung beim Landessozialgericht anhängig geworden wäre.

(5) Das Gericht, an das die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, hat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen.