Bundesgerichtshof Urteil, 15. März 2016 - II ZR 119/14
vorgehend
Bundesgerichtshof
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 15. März 2016 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Bergmann und den Richter Prof. Dr. Strohn, die Richterin Caliebe, sowie die Richter Born und Sunder
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Tatbestand:
- 1
- Der Kläger ist Verwalter in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen der K. Ltd. (im Folgenden: Schuldnerin). Das Verfahren ist am 27. November 2007 vom Amtsgericht Erfurt eröffnet worden. Die Schuldnerin ist als private company limited by shares (im Folgenden: Limited) in dem für England und Wales zuständigen Handelsregister in Cardiff eingetragen. Eine deutsche Zweigniederlassung ist in dem zunächst vom Amtsgericht Erfurt, jetzt vom Amtsgericht Jena geführten Handelsregister eingetragen. Die Beklagte ist Direktorin der Schuldnerin.
- 2
- Die Schuldnerin war überwiegend in Deutschland tätig. Ihr Unternehmensgegenstand bestand in der Montage von Lüftungsanlagen und damit verbundenen Dienstleistungen.
- 3
- Mit der Behauptung, die Schuldnerin sei spätestens seit dem 1. November 2006 zahlungsunfähig und die Beklagte habe in der Zeit vom 11. Dezember 2006 bis zum 26. Februar 2007 Zahlungen der Schuldnerin in Höhe von 110.151,66 € veranlasst, hat der Kläger die Beklagte auf Ersatz dieses Betrages nebst Zinsen und vorgerichtliche Anwaltskosten in Anspruch genommen.
- 4
- Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
- 5
- Der Senat hat dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung der Art. 49, 54 AEUV und des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren - EuInsVO - in Bezug auf § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG in der Fassung vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG, inhaltsgleich mit der Neufassung) folgende Fragen vorgelegt (Beschluss vom 2. Dezember 2014 - II ZR 119/14, ZInsO 2015, 92):
a) Betrifft eine Klage vor einem deutschen Gericht, mit der ein Direktor einer Limited, über deren Vermögen in Deutschland nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, vom Insolvenzverwalter auf Ersatz von Zahlungen in Anspruch genommen wird, die er vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, aber nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit geleistet hat, das deutsche Insolvenzrecht im Sinne des Art. 4 Abs. 1 EuInsVO ?
b) Verstößt eine Klage der vorstehenden Art gegen die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49, 54 AEUV?
- 6
- Der Gerichtshof hat dazu festgestellt (ZIP 2015, 2468): 1. Art. 4 EuInsVO ist dahin auszulegen, dass in seinen Anwendungsbereich eine Klage vor einem deutschen Gericht fällt, mit der der Direktor einer Gesellschaft englischen oder walisischen Rechts, über deren Vermögen in Deutschland das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, vom Insolvenzverwalter dieser Gesellschaft auf der Grundlage einer nationalen Bestimmung wie § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG aF auf Ersatz von Zahlungen in Anspruch genommen wird, die der Direktor vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, aber nach dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit festgesetzt wurde , geleistet hat. 2. Die Art. 49 AEUV und 54 AEUV stehen der Anwendung einer nationalen Vorschrift wie § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG aF auf den Direktor einer Gesellschaft englischen oder walisischen Rechts, über deren Vermögen in Deutschland das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, nicht entgegen.
Entscheidungsgründe:
- 7
- Die Revision hat keinen Erfolg. Die Beklagte ist verpflichtet, die Klageforderung an den Kläger zu zahlen.
- 8
- I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
- 9
- Die Beklagte sei nach § 64 Abs. 2 GmbHG aF zur Zahlung von 110.151,66 € verpflichtet. Diese Norm sei auf eine Limited, über deren Vermö- gen in Deutschland das Insolvenzverfahren eröffnet worden sei, anwendbar. Das ergebe sich aus Art. 4 Abs. 1 EuInsVO und verstoße nicht gegen den Grundsatz der Niederlassungsfreiheit im Sinne des Art. 49 AEUV.
- 10
- Die Beklagte habe in der Zeit vom 11. Dezember 2006 bis zum 26. Februar 2007 Zahlungen in Höhe von insgesamt 110.151,66 € zu Lasten der Schuldnerin veranlasst, davon 21.083,17 € an sich selbst als Inhaberin des "Auftrags- und Montageservice S. K. ". Den entsprechenden Vortrag des Klägers habe die Beklagte nicht substantiiert bestritten. Das hätte sie aber tun müssen, nachdem sie beim Kläger Einblick in die Geschäftsunterlagen genommen habe.
- 11
- Die Schuldnerin sei ab dem 1. Oktober 2006 zahlungsunfähig. Das ergebe sich aus den vom Kläger vorgelegten Liquiditätsbilanzen zum 1. Oktober und 1. November 2006. Dagegen habe die Beklagte nichts Erhebliches vorgebracht. Jedenfalls habe der Kläger aufgrund von Indizien nachgewiesen, dass die Schuldnerin ihre Zahlungen ab dem 1. Oktober 2006 eingestellt habe. An der Zahlungsunfähigkeit ändere auch der Umstand nichts, dass die Schuldnerin noch Zahlungen in Höhe von 110.151,66 € geleistet habe.
- 12
- Der Anspruch sei nicht verjährt.
- 13
- II. Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Überprüfung stand.
- 14
- 1. Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG aF sind die Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung der Gesellschaft - oder nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens dem Insolvenzverwalter - zum Ersatz von Zahlungen verpflichtet, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder nach Feststellung ihrer Überschuldung geleistet worden sind. Zu Recht hat das Berufungsgericht diese Vorschrift auf die Beklagte als die Direktorin einer Limited angewandt.
- 15
- a) Der Zweck der Vorschrift besteht darin, Masseverkürzungen im Vorfeld des Insolvenzverfahrens zu verhindern und für den Fall, dass der Geschäftsführer seiner Massesicherungspflicht nicht nachkommt, sicherzustellen, dass das Gesellschaftsvermögen wieder aufgefüllt wird, damit es im Insolvenzverfahren zur ranggerechten und gleichmäßigen Befriedigung aller Gesellschaftsgläubiger zur Verfügung steht (ständige Rechtsprechung, siehe etwa BGH, Urteil vom 29. November 1999 - II ZR 273/98, BGHZ 143, 184, 186; Urteil vom 14. Mai 2007 - II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265, 1266; Urteil vom 5. Mai 2008 - II ZR 38/07, ZIP 2008, 1229 Rn. 10; Habersack/Foerster, ZHR 178 [2014], 387, 390 ff.). Damit wird von § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG aF im Regelfall nicht ein Schaden der Gesellschaft erfasst, sondern ein Schaden der künftigen Insolvenzgläubiger. Die verbotswidrigen Zahlungen dienen in der Regel der Erfüllung von Verbindlichkeiten der Gesellschaft und führen bei dieser nur zur Verkürzung der Bilanzsumme, nicht aber zu einem Vermögensschaden. Verringert wird nur die Insolvenzmasse in dem nachfolgenden Insolvenzverfahren, was zu einem Schaden allein der Insolvenzgläubiger führt (BGH, Urteil vom 20. September 2010 - II ZR 78/09, ZIP 2010, 1988 Rn. 14 - Doberlug; Habersack/Schürnbrand, WM 2005, 957, 959; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 18. Aufl., § 64 Rn. 4). Die Haftung nach § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG aF setzt im Regelfall die Eröffnung des Insolvenzverfahrens voraus. Es ist dann Sache des Insolvenzverwalters, den Anspruch geltend zu machen.
- 16
- Dieser Gesetzeszweck trifft auf beide Gesellschaftsformen zu. Sowohl in der Gesellschaft mit beschränkter Haftung als auch in der Limited haften die Gesellschafter grundsätzlich nicht mit ihrem persönlichen Vermögen für die Gesellschaftsschulden. In beiden Gesellschaftsformen werden die Geschäfte von einer dafür verantwortlichen, nicht notwendig auch als Gesellschafter beteiligten Person geführt. Bei beiden Gesellschaftsformen besteht die Gefahr, dass der Geschäftsführer oder der Direktor nach Insolvenzreife Zahlungen zu Lasten der späteren Insolvenzgläubiger leistet und damit die Insolvenzmasse verkürzt. Diese Umstände rechtfertigen es, den Geschäftsführer deutschen Rechts und den Direktor englischen oder walisischen Rechts in Bezug auf die Haftung bei derartigen Zahlungen gleichzubehandeln (zustimmend Servatius, DB 2015, 1087 ff.; Schall, ZIP 2016, 289 ff.; Mankowski, NZG 2016, 281 ff.; von Wilcken, DB 2016, 225 f.; Weller/Hübner, NJW 2016, 225; Schulz, EWiR 2016, 67).
- 17
- b) Diese Rechtsanwendung steht nicht in Widerspruch zum Unionsrecht.
- 18
- Der Gerichtshof der Europäischen Union hat vielmehr festgestellt, dass § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG aF auch auf Direktoren einer Limited anwendbar sei, über deren Vermögen im Inland das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist.
- 19
- 2. Die übrigen Voraussetzungen einer Haftung aus § 64 Abs. 2 GmbHG aF sind erfüllt.
- 20
- Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass die Beklagte die streitigen Zahlungen aus dem Gesellschaftsvermögen zu einer Zeit veranlasst hat, zu der die Schuldnerin schon zahlungsunfähig und damit insolvenzreif war. Es hat dagegen nicht festgestellt, dass die Zahlungen ausnahmsweise mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns im Sinne des § 64 Abs. 2 Satz 2 GmbHG aF vereinbar waren oder aus sonstigen Gründen nicht zu einer Haftung nach § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG aF geführt haben. Das Verschulden des Geschäfts- führers wird bei dieser Sachlage vermutet (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juni 2012 - II ZR 243/11, ZIP 2012, 1557 Rn. 10). Dagegen wehrt sich die Revision nicht. Auch sonst sind insoweit keine Rechtsfehler zu erkennen.
- 21
- Der Anspruch ist auch nicht verjährt. Die Verjährungsfrist beträgt nach § 43 Abs. 4 GmbHG in Verbindung mit § 64 Abs. 2 Satz 3 GmbHG aF fünf Jahre. Angesichts des eindeutigen Wortlauts der Normen kommt entgegen der Auffassung der Revision eine analoge Anwendung der drei- bzw. zehnjährigen Verjährung nach den allgemeinen Bestimmungen der §§ 195, 199 BGB nicht in Betracht. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die Verjährung durch die Einreichung des Prozesskostenhilfegesuchs gehemmt worden ist.
Vorinstanzen:
LG Erfurt, Entscheidung vom 07.09.2012 - 9 O 441/11 -
OLG Jena, Entscheidung vom 17.07.2013 - 2 U 815/12 -
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BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
2. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung der Art. 49, 54 AEUV und des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160, S. 1) - EuInsVO - folgende Fragen vorgelegt:
a) Betrifft eine Klage vor einem deutschen Gericht, mit der ein Direktor einer private company limited by shares englischen oder walisischen Rechts, über deren Vermögen in Deutschland nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, vom Insolvenzverwalter auf Ersatz von Zahlungen in Anspruch genommen wird, die er vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, aber nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit geleistet hat, das deutsche Insolvenzrecht im Sinne des Art. 4 Abs. 1 EuInsVO?
b) Verstößt eine Klage der vorstehenden Art gegen die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49, 54 AEUV?
Gründe:
- 1
- I. Der Kläger ist Verwalter in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen der K. Montage und Dienstleistungen Ltd. (im Folgenden: Schuldnerin). Das Verfahren ist am 27. November 2007 vom Amtsgericht Erfurt eröffnet worden. Die Schuldnerin ist als private company limited by shares (im Folgenden: Limited) in dem für England und Wales zuständigen Handelsregister in Cardiff eingetragen. Eine deutsche Zweigniederlassung ist in dem zunächst vom Amtsgericht Erfurt, jetzt vom Amtsgericht Jena geführten Handelsregister eingetragen. Die Beklagte ist Direktorin der Schuldnerin.
- 2
- Die Schuldnerin war überwiegend in Deutschland tätig. Ihr Unternehmensgegenstand bestand in der Montage von Lüftungsanlagen und damit verbundenen Dienstleistungen.
- 3
- Mit der Behauptung, die Schuldnerin sei spätestens seit dem 1. November 2006 zahlungsunfähig und die Beklagte habe in der Zeit vom 11. Dezember 2006 bis zum 26. Februar 2007 Zahlungen der Schuldnerin in Höhe von 110.151,66 € veranlasst, hat der Kläger die Beklagte auf Ersatz dieses Betra- ges in Anspruch genommen.
- 4
- Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen.
- 5
- II. Vor der Entscheidung über die Revision ist das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1, 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den im Beschlusstenor gestellten Fragen einzuholen. Die Sachentscheidung ist abhängig von der Auslegung des Art. 4 EuInsVO und der Art. 49, 54 AEUV.
- 6
- 1. Die Klage ist bei Anwendung deutschen Rechts begründet.
- 7
- a) Anspruchsgrundlage ist § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG in der bis zum 31. Oktober 2008 geltenden Fassung (identisch mit § 64 Satz 1 GmbHG neuer Fassung). Danach sind die Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung der Gesellschaft zum Ersatz von Zahlungen verpflichtet, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder nach Feststellung ihrer Überschuldung geleistet werden. Davon gilt nach § 64 Abs. 2 Satz 2 GmbHG alter Fassung (ebenso nach § 64 Satz 2 GmbHG neuer Fassung) eine Ausnahme für Zahlungen, die auch nach diesem Zeitpunkt mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar sind.
- 8
- Der Zweck dieser Vorschrift besteht darin, Masseverkürzungen im Vorfeld des Insolvenzverfahrens zu verhindern und für den Fall, dass der Geschäftsführer dieser Massesicherungspflicht nicht nachkommt, sicherzustellen, dass das Gesellschaftsvermögen wieder aufgefüllt wird, damit es im Insolvenzverfahren zur ranggerechten und gleichmäßigen Befriedigung aller Gesellschaftsgläubiger zur Verfügung steht (ständige Rechtsprechung, siehe etwa BGH, Urteil vom 29.11.1999 - II ZR 273/98, BGHZ 143, 184, 186; Urteil vom 14. Mai 2007 - II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265, 1266; Urteil vom 5. Mai 2008 - II ZR 38/07, ZIP 2008, 1229 Rn. 10; Habersack/Foerster, ZHR 178 [2014], 387, 390 ff.). Damit wird von § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG im Regelfall nicht ein Schaden der Gesellschaft erfasst, sondern ein Schaden der künftigen Insolvenzgläubiger. Die verbotswidrigen Zahlungen dienen in der Regel der Erfüllung von Verbindlichkeiten der Gesellschaft und führen bei dieser nur zur Verkürzung der Bilanzsumme, nicht aber zu einem Vermögensschaden. Verringert wird nur die Insolvenzmasse in dem nachfolgenden Insolvenzverfahren, was zu einem Schaden allein der Insolvenzgläubiger führt (BGH, Urteil vom 20. September 2010 - II ZR 78/09, ZIP 2010, 1988 Rn. 14 - Doberlug; Habersack/Schürnbrand, WM 2005, 957, 959; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 18. Aufl., § 64 Rn. 4). Die Haftung nach § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG setzt im Regelfall die Eröffnung des Insolvenzverfahrens voraus. Es ist dann Sache des Insolvenzverwalters, den Anspruch geltend zu machen. Nur ausnahmsweise , etwa wenn der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse abgewiesen oder das Insolvenzverfahren nach Bestätigung eines Insolvenzplans aufgehoben worden ist (BGH, Urteil vom 11. September 2000 - II ZR 370/99, ZIP 2000, 1896, 1897 f.; Urteil vom 7. Juli 2008 - II ZR 26/07, ZIP 2008, 2094 Rn. 8 ff.), kann auch ein Gläubiger oder die Gesellschaft selbst den Anspruch geltend machen. Trotz dieser Ausnahmen ist § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG nach deutschem Rechtsverständnis eine insolvenzrechtliche Norm.
- 9
- Das entspricht auch den Gesetzesmaterialien zu der - inhaltlich identischen - Neufassung des § 64 Satz 1 GmbHG. So heißt es in der Begründung des Regierungsentwurfs des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen vom 25. Juli 2007 - MoMiG (BTDrucks. 16/6140 S. 47) in Bezug auf eine Erweiterung der Norm durch einen zusätzlichen Haftungstatbestand in § 64 Satz 3: "Die in diesem Entwurf vorgenommene Erweiterung des § 64 hat einen starken insolvenzrechtlichen Bezug. Dies erleichtert es, § 64 als insolvenzrechtliche Norm zu qualifizieren und gemäß Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 und 2 Satz 1 der Europäischen Insolvenzverordnung (EuInsVO) auch in Insolvenzverfahren über das Vermögen ausländischer Gesellschaften anzuwenden, deren Tätigkeitsmittelpunkt in Deutschland liegt. Die Neuregelung trägt so dazu bei, die zum Teil geringeren Gründungsvoraussetzungen ausländischer Gesellschaften zu kompensieren, die bei einer Tätig- keit in Deutschland nicht dem strengen Insolvenzrecht ihres Herkunftsstaats unterliegen".
- 10
- b) Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass die Beklagte die streitigen Zahlungen aus dem Gesellschaftsvermögen zu einer Zeit veranlasst hat, zu der die Schuldnerin schon zahlungsunfähig und damit insolvenzreif war. Es hat dagegen nicht festgestellt, dass die Zahlungen ausnahmsweise mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar waren. Das Verschulden des Geschäftsführers wird bei dieser Sachlage vermutet (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juni 2012 - II ZR 243/11, ZIP 2012, 1557 Rn. 10). Dagegen wehrt sich die Beklagte mit der Revision nicht. Auch sonst sind insoweit keine Rechtsfehler zu erkennen.
- 11
- Das Berufungsgericht hat § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG auf die Beklagte angewandt, obwohl die Beklagte keine Geschäftsführerin einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung deutschen Rechts, sondern Direktorin einer Limited im Sinne des englischen und walisischen Rechts ist. Dagegen bestehen nach deutschem Rechtsverständnis keine Bedenken. Denn beide Gesellschaftsformen stimmen darin überein, dass die Gesellschafter grundsätzlich nicht mit ihrem persönlichen Vermögen für die Gesellschaftsschulden haften und dass die Geschäfte von einer dafür verantwortlichen, nicht notwendig auch als Gesellschafter beteiligten Person geführt werden. Bei beiden Gesellschaftsformen besteht die Gefahr, dass der Geschäftsführer oder der Direktor nach Insolvenzreife Zahlungen zu Lasten der späteren Insolvenzgläubiger leistet und damit die Insolvenzmasse verkürzt. Diese Umstände rechtfertigen es - vorbehaltlich der unionsrechtlichen Beurteilung -, den Geschäftsführer deutschen Rechts und den Direktor englischen oder walisischen Rechts in Bezug auf die Haftung bei derartigen Zahlungen gleichzubehandeln.
- 12
- 2. Davon zu unterscheiden ist die Rechtslage nach dem Unionsrecht.
- 13
- a) Gemäß Art. 4 Abs. 1 EuInsVO gilt für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wird. Nach Auffassung des Senats ist der Begriff "Insolvenzrecht" im Sinne dieser Vorschrift autonom auszulegen. Diese Auslegung obliegt dem Gerichtshof der Europäischen Union. Denn sie ist weder ein acte clair noch ein acte éclairé (EuGH, Slg. 2005, I-8151 Rn. 74 - Intermodal Transports).
- 14
- aa) In der Rechtsprechung der deutschen Gerichte und im deutschen Schrifttum ist umstritten, ob § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG (ebenso § 64 Satz 1 GmbHG neuer Fassung) auf Geschäftsführungsorgane von EU-Auslandsgesellschaften wie der Limited, die den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen in Deutschland haben und über deren Vermögen in Deutschland nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, Anwendung findet. Dabei wird darüber gestritten, ob § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG (und § 64 Satz 1 GmbHG neuer Fassung) zum Insolvenz- oder zum Gesellschaftsstatut gehört und ob eine Anwendung der Norm die Niederlassungsfreiheit verletzt.
- 15
- Die herrschende Meinung hält § 64 GmbHG für eine insolvenzrechtliche Vorschrift im Sinne des Art. 4 Abs. 1 EuInsVO (KG, ZIP 2009, 2156, juris Rn. 25 ff.; Weller/Schulz, IPrax 2014, 336; Thole, ZIP 2012, 605, 607; Wais, IPrax 2011, 176; Barthel, ZInsO 2011, 211, 215; Kindler, IPrax 2010, 430, 431; Spahlinger/Wegen in Spahlinger/Wegen, Internationales Gesellschaftsrecht, Rn. 759; Haas in Baumbach/Hueck, GmbHG, 20. Aufl., § 64 Rn. 21; Casper in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, Erg.Band, § 64 Rn. 35; Servatius in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl., IntGesR Rn. 179; Altmeppen in Altmeppen/Roth, GmbHG, 7. Aufl., § 64 Rn. 5; K. Schmidt/Brinkmann, InsO, 18. Aufl., EuInsVO Art. 3 Rn. 42, Art. 4 Rn. 13 f.; K. Schmidt in K. Schmidt/ Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rn. 11.34; MünchKommGmbH/H. F. Müller, § 64 Rn. 131; Kolmann in Saenger/Inhester, GmbHG, 2. Aufl, § 64 Rn. 12 f.). Damit, so wird angenommen, sei sie nach Art. 4 Abs. 1 EuInsVO als Teil des deutschen Insolvenzrechts im Rahmen von nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO eröffneten Insolvenzverfahren anwendbar. Die Niederlassungsfreiheit werde durch die Anwendung des § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG schon deshalb nicht verletzt, weil die Vorschrift insolvenzrechtlicher Natur sei. Im Übrigen regele sie nicht die Voraussetzungen, unter denen eine EU-Auslandsgesellschaft ihren Verwaltungssitz in Deutschland begründen könne , sondern nur die Rechtsfolgen dieser Entscheidung.
- 16
- Die Gegenmeinung (Bitter, WM 2001, 666, 669 Fn. 34; Poertzgen, NZI 2008, 9. 11 Fn. 18; ders., NZI 2013, 809; Ringe/Willemer, NZG 2010, 56 ff.; Bork in Bork/Schäfer, GmbHG, 2. Aufl., § 64 Rn. 3; wohl auch K. Schmidt, ZHR 168 [2004], 637, 654; in der Tendenz ebenso OLG Karlsruhe, ZIP 2010, 2123 f.; offengelassen von OLG Köln, NZI 2012, 52) verortet § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG dagegen im nationalen deutschen Gesellschaftsrecht. Damit komme die Vorschrift auf EU-Auslandsgesellschaften nicht zur Anwendung. Denn der Gerichtshof der Europäischen Union habe entschieden, dass auf die inneren Verhältnisse von Gesellschaften, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union gegründet worden seien, ihre hauptsächliche Tätigkeit aber in einem anderen Mitgliedstaat ausübten, im Rahmen der Niederlassungsfreiheit das Gesellschaftsrecht des Gründungsstaats zur Anwendung komme (EuGH, Slg. 2002, I-9919 = ZIP 2002, 2037 Rn. 52 ff. - Überseering; Slg. 2003, I-10155 = ZIP 2003, 1885 Rn. 95 ff. - Inspire Art). Eine Anwendung des § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG auf Geschäftsführer von EU-Auslandsgesellschaften verstieße damit gegen die Niederlassungsfreiheit im Sinne des Art. 49, 54 AEUV.
- 17
- bb) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat diese Frage noch nicht entschieden. In einem ähnlich gelagerten Fall, in dem es um die Qualifikation der französischen action en comblement de passif social als insolvenzrechtlich im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22. Dezember 2000 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO) ging, hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 22. Februar 1979 (Slg. 1979, 733 - Gourdain ./. Nadler) zwar unter Hinweis darauf, dass nur der Insolvenzverwalter und das Gericht diese Klage im Interesse der Gesamtheit der Gläubiger erheben können und sie dem Ziel dient, den Gläubigern unter Beachtung ihrer grundsätzlichen Gleichrangigkeit Befriedigung zu verschaffen, eine insolvenzrechtliche Eigenschaft der Klage angenommen (ebenso EuGH, Slg. 2009, I-767 = ZIP 2009, 427 Rn. 19). Ferner hat er in seinem Urteil vom 18. Juli 2013 (ABl. EU 2013, Nr. C 260, 14 = ZIP 2013, 1932 Rn. 24 ff.) eine Klage als insolvenzrechtlich im Sinne des Art. 1 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 44/2011 beurteilt, wenn sie unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergeht und in engem Zusammenhang damit steht. Das allein reicht nach Auffassung des erkennenden Senats aber nicht aus, um die hier entscheidungserhebliche Streitfrage im Rahmen des Art. 4 EuInsVO als geklärt anzusehen.
- 18
- cc) Der Senat sieht in § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG eine insolvenzrechtliche Norm auch im unionsrechtlichen Sinn und kommt damit zu einer Anwendbarkeit auf EU-Auslandsgesellschaften wie die Limited.
- 19
- Zwar setzt die Vorschrift nicht zwingend die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens voraus. Dass der Anspruch außerhalb des Insolvenzverfahrens und von einer anderen Person als dem Insolvenzverwalter geltend gemacht werden kann, ist aber - auch nach der oben zitierten Gesetzesbegründung - die Ausnahme. Im Regelfall macht der Insolvenzverwalter im Rahmen des Insolvenzverfahrens den Anspruch geltend. Ebenso spricht der Zweck der Vorschrift, das Vermögen der Gesellschaft gegen Abflüsse zu schützen und so im Interesse der späteren Insolvenzgläubiger die Insolvenzmasse zu erhalten, für ein insolvenzrechtliches Verständnis der Norm.
- 20
- b) Die zweite Vorlagefrage betrifft den Streit darüber, ob eine Anwendung des § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG - auch als Norm des deutschen Insolvenzrechts im Sinne des Art. 4 Abs. 1 EuInsVO - gegen die Niederlassungsfreiheit im Sinne des Art. 49, 54 AEUV verstößt. Dazu wird im deutschen Schrifttum angenommen, dass § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG jedenfalls als eine zulässige Ausnahme von dem Verbot der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit anzusehen sei, weil die Vorschrift in nichtdiskriminierender Weise angewandt werde, mit dem Gläubigerschutz einem zwingenden Allgemeininteresse diene, geeignet sei, die Insolvenzmasse zu sichern oder wieder aufzufüllen und nicht über das hinausgehe, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich sei(Weller/ Schulz, IPRax 2014, 336, 339; siehe auch EuGH, Slg. 2003, I-10155 = ZIP 2003, 1885 Rn. 133 ff. - Inspire Art; anderer Ansicht aber etwa Schall, ZIP 2005, 965, 974).
- 21
- Auch insoweit ist der erkennende Senat der Auffassung, dass § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG nicht die Voraussetzungen, unter denen EU-Auslandsgesellschaften ihren Verwaltungssitz in Deutschland begründen können, sondern allein die Folgen eines Fehlverhaltens des Geschäftsführers nach Eintritt der Insolvenzreife regelt und damit nicht die Niederlassungsfreiheit verletzt.
- 22
- c) Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union erübrigt sich auch nicht wegen des Vorlagebeschlusses des Landgerichts Darmstadt vom 15. Mai 2013 (15 O 29/12, ZIP 2013, 712; Rechtssache C-295/13). Dieser Vorlagebeschluss betrifft allein die Zuständigkeit der deutschen Gerichte für eine Klage nach § 64 GmbHG. Im vorliegenden Fall geht es dagegen um die materiell-rechtliche Anwendbarkeit der Norm. Dass sich die Fragenkreise überschneiden , macht die Vorlage des Senats nicht entbehrlich.
Vorinstanzen:
LG Erfurt, Entscheidung vom 07.09.2012 - 9 O 441/11 -
OLG Jena, Entscheidung vom 17.07.2013 - 2 U 815/12 -
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Tatbestand:
- 1
- Der Beklagte war Vorstand der e. AG (Schuldnerin), die am 10. April 2000 ins Handelsregister eingetragen worden ist. Gegenstand des Geschäftsbetriebs der Schuldnerin war insbesondere die Entwicklung einer Digitalsignatursoftware und deren Vertrieb (sog. Start-UpUnternehmen ). Das Grundkapital der Gesellschaft betrug zuletzt 205.700,00 €. Aktionäre der Schuldnerin waren mit Aktien im Nennwert von jeweils 80.000,00 € der Beklagte und sein (inzwischen verstorbener) Mitvorstand M. und mit 45.700,00 € die I. -Beteiligungsgesellschaft mbH (im Folgenden: I. ). Diese war außerdem stille Gesellschafterin der Schuldnerin mit einer Einlage von 988.916,00 €. Weitere stille Gesellschafterin war seit dem 17. Januar 2001 die t. -Beteiligungs-Gesellschaft mbH der D. bank mit einer Einlage in Höhe von 1,1 Mio. €.
- 2
- Der Beteiligungsvertrag der I. enthält in § 10 folgende "Rangrücktrittsklausel" : "Der BG (I. ) wird seinen Anspruch auf das Auseinandersetzungsguthaben in einem gerichtlichen Insolvenz- oder Vergleichsverfahren des BN (Schuldner) im Range nach den übrigen Insolvenz - oder Vergleichsgläubigern geltend machen, jedoch vor den Forderungen der anderen Gesellschafter sowie verbundenen Unternehmen des BN, und soweit es sich um natürliche Personen handelt, deren Angehörigen."
- 3
- Ausweislich der im August 2001 aufgestellten Bilanz zum 31. Dezember 2000 war die Schuldnerin mit einem Betrag von 327.847,70 DM bilanziell überschuldet. Am 17. August 2001 prüfte ein Wirtschaftsprüfer im Auftrag des Beklagten , der hierzu vom Aufsichtsrat angehalten worden war, den Jahresabschluss und kam dabei zu dem Ergebnis, dass die Schuldnerin zum Abschlussstichtag bilanziell, nicht jedoch "rechtlich überschuldet" gewesen sei, da die Forderung der I. nicht zu passivieren sei. Zahlungsunfähigkeit bestand ausweislich des Gutachtens ebenfalls nicht.
- 4
- In der Zeit vom 7. August bis zum 19. Oktober 2001 veranlasste der Beklagte Lohnsteuerzahlungen sowie Zahlungen der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung in Höhe von insgesamt 82.884,80 €. Am 12. November 2001 beantragte der Beklagte die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin, nachdem die stillen Gesellschafter im Oktober 2001 die Kündigung ihrer Beteiligungen erklärt und die jeweils letzten fälligen Raten auf ihre Beteiligungen nicht mehr gezahlt hatten, was - unstreitig - zur Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin führte.
- 5
- Mit der Klage macht der Insolvenzverwalter den Betrag der oben genannten Zahlungen gemäß §§ 92 Abs. 2 und 3, 93 Abs. 2 und 3 Nr. 6 AktG gegen den Beklagten geltend mit der Begründung, die Schuldnerin sei bereits zum 31. Dezember 2000 nicht nur bilanziell, sondern auch rechnerisch überschuldet gewesen; diese Überschuldungssituation habe auch noch zur Zeit der streitigen Zahlungen angedauert. Der Beklagte hat sich mit der Behauptung verteidigt, eine rechnerische Überschuldung habe im Hinblick auf den von der I. erklärten Rangrücktritt nicht vorgelegen. Zudem seien die von ihm geleisteten Zahlungen mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsführers vereinbar gewesen. Darüber hinaus habe er auch nicht schuldhaft gegen die Insolvenzantragspflicht verstoßen, da er fachmännischen Rat eingeholt habe, aufgrund dessen er davon habe ausgehen dürfen, dass bei - unstreitiger - Zahlungsfähigkeit der Schuldnerin keine Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinn vorgelegen habe.
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- Das Landgericht hat den Beklagten antragsgemäß verurteilt; das Berufungsgericht hat auf die Berufung des Beklagten die Klage abgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision.
Entscheidungsgründe:
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- Die Revision ist unbegründet.
- 8
- I. Das Berufungsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Schuldnerin sei im Zeitpunkt der Zahlungen an die Sozial- und Finanzkassen nicht überschuldet gewesen, da der von der I. erklärte Rangrücktritt ausreichend sei, um ihre Forderung im Überschuldungsstatus der Schuldnerin nicht passivieren zu müssen.
- 9
- II. Gegen die - im Ergebnis - zutreffende Entscheidung des Berufungsgerichts wendet sich die Revision ohne Erfolg.
- 10
- Ob die Erklärung der I. , wie das Berufungsgericht gemeint und die Revision mit beachtlichen Gründen in Zweifel gezogen hat, den Anforderungen entspricht, die der Senat im Urteil vom 8. Januar 2001 (BGHZ 146, 264, 271) an einen sogenannten "qualifizierten Rangrücktritt" gestellt hat, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Der Beklagte haftet nämlich jedenfalls deshalb nicht wegen Verletzung der Massesicherungspflicht nach §§ 92 Abs. 2 und 3, 93 Abs. 2 und 3 Nr. 6 AktG, weil die von ihm geleisteten Zahlungen - selbst wenn die Schuldnerin im Zahlungszeitpunkt im insolvenzrechtlichen Sinn überschuldet gewesen wäre - nicht pflichtwidrig, sondern mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar waren (1). Darüber hinaus hätte der Beklagte gegen eine möglicherweise bestehende Insolvenzantragspflicht nicht schuldhaft verstoßen (2).
- 11
- 1. a) Zu Lasten des Vorstandes einer AG, der in der in § 92 AktG beschriebenen Lage der Gesellschaft Zahlungen aus ihrem Gesellschaftsvermögen leistet, wird - ebenso wie zu Lasten des Geschäftsführers einer GmbH in dieser Situation - vermutet, dass er dabei nicht mit der von einem Vertretungsorgan zu fordernden Sorgfalt gehandelt hat (BGHZ 143, 184, 185; 146, 264, 274 jew.m.w.Nachw.). Nach § 92 Abs. 3 Satz 2 AktG (ebenso wie nach § 64 Abs. 2 Satz 2 GmbHG) kann er diese Vermutung durch den Nachweis widerlegen , dass die von ihm in der Insolvenzsituation bewirkte Leistung mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar war. Dabei hat der Senat wiederholt (s. zuletzt Urt. v. 18. April 2005 - II ZR 61/03, ZIP 2005, 1026, 1029) erwogen, das Bestreben des Vertretungsorgans, durch Zahlungen von Sozialleistungen und Steuern sich einer persönlichen deliktischen Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266 a StGB, aus §§ 34, 69 AO oder der Bestrafung nach § 266 a StGB zu entziehen, sei kein im Rahmen der §§ 92 Abs. 3 AktG, 64 Abs. 2 GmbHG beachtlicher Umstand; vielmehr müsse in einem Fall einer durch die unterschiedlichen Normbefehle ausgelösten Pflichten- kollision das deliktische Verschulden verneint (bzw. i.S. des strafrechtlichen Normbefehls das Verhalten als gerechtfertigt angesehen) werden, wenn sich das Vertretungsorgan - gemessen am Maßstab der den Interessen der Gesamtheit der Gesellschaftsgläubiger dienenden Spezialnormen der §§ 92 Abs. 3 AktG, 64 Abs. 2 GmbHG - normgerecht verhält. Dies hat der Senat damit begründet , dass der Maßstab für ein pflichtgemäßes Verhalten des Vertretungsorgans sich nicht allein nach dessen allgemeinen Verhaltenspflichten bestimme, bei seiner Amtsführung Recht und Gesetz zu wahren; der Maßstab sei vielmehr an dem besonderen Zweck der §§ 92 Abs. 3 AktG, 64 Abs. 2 GmbH auszurichten , die verteilungsfähige Vermögensmasse einer insolvenzreifen Gesellschaft im Interesse der Gesamtheit der Gläubiger zu erhalten und eine zu ihrem Nachteil gehende bevorzugte Befriedigung einzelner Gläubiger zu verhindern (BGHZ 146 aaO 274 f. m.w.Nachw.). Die Befriedigung der Gläubiger soll dem später eingesetzten Insolvenzverwalter überlassen bleiben, der im eröffneten Verfahren für eine gleichmäßige und rangrichtige Bedienung der offenen Forderungen zu sorgen hat. Aus dieser Sicht des mit §§ 92 Abs. 3 AktG, 64 Abs. 2 GmbHG verfolgten Zwecks erschien es dem Senat näher liegend, die in diesen Vorschriften niedergelegten Pflichten als allgemeinem Interesse dienend im Rahmen der Pflichtenkollision des Vertretungsorgans - trotz der fehlenden Strafbewehrung - vorrangig anzusehen, zumal nach der Abschaffung des Vorrangs der Forderungen der Sozial- und Finanzkassen durch die Einführung der Insolvenzordnung keine Rechtfertigung mehr dafür bestehe, der Pflicht zur Erfüllung der dort bestehenden Forderungen deswegen durchschlagende Bedeutung beizumessen, weil sie sich hinsichtlich der Sozialversicherungsforderungen auf die Strafvorschrift des § 266 a StGB zurückführen ließe (vgl. Sen.Urt. v. 18. April 2005 aaO).
- 12
- b) Hieran hält der Senat nach erneuter Überprüfung im Hinblick auf die inzwischen gefestigte Rechtsprechung des 5. Strafsenats des Bundesgerichts- hofes (Beschl. v. 21. September 2005 - 5 StR 263/05, ZIP 2005, 1678 ff.), nach der der vom Senat erwogene Vorrang der im Interesse aller Gläubiger angeordneten Massesicherungspflicht angesichts der Strafandrohung einer Nichtabführung von Sozialabgaben nicht anerkannt werden kann, nicht fest. Mit Rücksicht auf die Einheit der Rechtsordnung kann es dem organschaftlichen Vertreter nicht angesonnen werden, die Massesicherungspflicht nach §§ 92 Abs. 3 AktG, 64 Abs. 2 GmbHG zu erfüllen und fällige Leistungen an die Sozialkassen oder die Steuerbehörden nicht zu erbringen, wenn er sich dadurch strafrechtlicher Verfolgung aussetzt. Sein die entsprechenden sozial- und steuerrechtlichen Vorschriften befolgendes Verhalten muss deswegen im Rahmen der bei §§ 92 Abs. 3 AktG, 64 Abs. 2 GmbHG anzustellenden Prüfung als mit den Pflichten eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar angesehen werden.
- 13
- Danach haftet der Beklagte für die den Gegenstand der Klageforderung bildenden, an die Sozial- und Finanzkassen geleisteten Zahlungen nicht.
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- 2. Eine Haftung des Beklagten scheidet auch deshalb aus, weil er eine - möglicherweise bestehende - Insolvenzantragspflicht nicht schuldhaft verletzt hat. Er hat zu der Frage, ob sich die Schuldnerin in einer Situation befand, in der er zur Stellung des Insolvenzantrags verpflichtet war, unabhängigen, fachlich qualifizierten Rat eingeholt mit dem Ergebnis, dass eine derartige Pflicht für ihn nicht bestand. Auf diesen Rat durfte er sich verlassen.
- 15
- a) Die Haftung des Vorstands wegen Verletzung der Insolvenzantragspflicht nach §§ 92, 93 AktG setzt eben so wie die Haftung des GmbH-Geschäftsführers nach § 64 Abs. 2 GmbHG eine schuldhafte Verletzung der Insolvenzantragspflicht voraus (MünchKommAktG/Hefermehl/Spindler 2. Aufl. § 92 Rdn. 29; Hüffer, AktG 7. Aufl. § 93 Rdn. 14; Schmidt-Leithoff in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG 4. Aufl. § 64 Rdn. 32 ff. jew.m.w.Nachw.). Für die Haftung des Vertretungsorgans reicht die Erkennbarkeit der Insolvenzreife aus; das Verschulden des Vorstands/Geschäftsführers wird vermutet (BGHZ 143, 184, 185; 146, 264, 277 jew.m.w.Nachw.). Den Vorstand/Geschäftsführer trifft die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er seine Insolvenzantragspflicht nicht schuldhaft verletzt hat.
- 16
- b) Diesen Anforderungen, d.h. dem Nachweis seines mangelnden Verschuldens als Organmitglied, hat der Beklagte genügt. Von dem organschaftlichen Vertreter wird erwartet, dass er sich über die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft stets vergewissert. Hierzu gehört insbesondere die Prüfung der Überschuldung und der Zahlungsunfähigkeit. Er handelt daher fahrlässig, wenn er sich nicht rechtzeitig die erforderlichen Informationen und die für die Insolvenzantragspflicht erforderlichen Kenntnisse verschafft (Schmidt-Leithoff aaO Rdn. 19). Dabei muss sich der organschaftliche Vertreter, sollte er nicht über ausreichende persönliche Kenntnisse verfügen, ggf. extern beraten lassen (BGHZ 126, 181, 199, dort zur Prüfung der positiven Fortführungsprognose; OLG Düsseldorf NZG 1999, 944, 946 zur Feststellung der Überschuldung; Hefermehl /Spindler aaO; Mertens in Kölner Komm.z.AktG, 2. Aufl. § 93 Rdn. 99; Hopt in Großkomm.z.AktG, 4. Aufl. § 73 Rdn. 255 m.w.Nachw.; Wiesner in MünchHdb.d.GesR, Bd. 4 2. Aufl. § 26 Rdn. 7 m.w.Nachw.). Dafür reicht selbstverständlich eine schlichte Anfrage bei einer von dem organschaftlichen Vertreter für fachkundig gehaltenen Person nicht aus. Erforderlich ist vielmehr, dass sich das Vertretungsorgan unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen , für die zu klärenden Fragestellungen fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lässt.
- 17
- Einen diesen Anforderungen genügenden Rat hat der Beklagte hier in Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsrat der Schuldnerin eingeholt. Bei einem Start-Up-Unternehmen wie der Schuldnerin, das in der Anlaufphase in aller Regel nur Schulden produziert und - wie hier - von Förderdarlehen abhängig ist, ist eine ständige, intensive Prüfung der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens in besonderem Maße erforderlich. Dem genügend hat der Beklagte nach Aufstellung des Jahresabschlusses im August 2001 und Aufdeckung einer bilanziellen Überschuldung im Zusammenwirken mit dem Aufsichtsrat unverzüglich einem Wirtschaftsprüfer den Auftrag erteilt, den Jahresabschluss zum 31. Dezember 2000 daraufhin zu überprüfen, ob die Gesellschaft nicht nur rechnerisch überschuldet, sondern insolvenzreif war und ein Insolvenzantrag gestellt werden musste. Die Sachkompetenz und Fachkunde eines Wirtschaftsprüfers für eine solche Prüfung steht außer Frage. Dass es sich bei dem Gutachten um ein Gefälligkeitsgutachten gehandelt haben könnte, ist nicht ersichtlich und vom Berufungsgericht auch nicht festgestellt worden.
- 18
- Führt - wie hier - die derart in Auftrag gegebene Prüfung, ob eine Insolvenzsituation vorliegt, zu der fachkundigen und für den organschaftlichen Vertreter bei der gebotenen Plausibilitätskontrolle nachvollziehbaren Feststellung, dass die Gesellschaft weder im Zeitpunkt der Erstellung des Jahresabschlusses noch im Prüfungszeitpunkt im insolvenzrechtlichen Sinn überschuldet und sogar die Zahlungsfähigkeit jedenfalls bis zum Jahresende - selbst ohne Zuführung neuen Fremdkapitals - gesichert war, musste der Beklagte - gemessen an der von ihm geforderten Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters - keinen Insolvenzantrag stellen. Es wäre nicht zu rechtfertigen, einem organschaftlichen Vertreter abzuverlangen, unabhängigen, fachkundigen Rat zur Klärung des Bestehens einer Insolvenzlage einzuholen und es ihm gleichwohl als schuldhaften Verstoß gegen seine Sorgfaltspflichten anzulasten, wenn er sich - trotz fehlender eigener ausreichender Sachkunde - dem fachkundigen Rat entsprechend verhält (vgl. Hopt aaO Fn. 873). Goette Kraemer Strohn Caliebe Reichart
LG Berlin, Entscheidung vom 05.07.2004 - 14 O 198/04 -
KG Berlin, Entscheidung vom 22.12.2005 - 23 U 160/04 -
(1) Die Geschäftsführer haben in den Angelegenheiten der Gesellschaft die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes anzuwenden.
(2) Geschäftsführer, welche ihre Obliegenheiten verletzen, haften der Gesellschaft solidarisch für den entstandenen Schaden.
(3) Insbesondere sind sie zum Ersatz verpflichtet, wenn den Bestimmungen des § 30 zuwider Zahlungen aus dem zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlichen Vermögen der Gesellschaft gemacht oder den Bestimmungen des § 33 zuwider eigene Geschäftsanteile der Gesellschaft erworben worden sind. Auf den Ersatzanspruch finden die Bestimmungen in § 9b Abs. 1 entsprechende Anwendung. Soweit der Ersatz zur Befriedigung der Gläubiger der Gesellschaft erforderlich ist, wird die Verpflichtung der Geschäftsführer dadurch nicht aufgehoben, daß dieselben in Befolgung eines Beschlusses der Gesellschafter gehandelt haben.
(4) Die Ansprüche auf Grund der vorstehenden Bestimmungen verjähren in fünf Jahren.
Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.
(1) Die regelmäßige Verjährungsfrist beginnt, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem
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der Anspruch entstanden ist und - 2.
der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.
(2) Schadensersatzansprüche, die auf der Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit beruhen, verjähren ohne Rücksicht auf ihre Entstehung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Begehung der Handlung, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an.
(3) Sonstige Schadensersatzansprüche verjähren
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ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an und - 2.
ohne Rücksicht auf ihre Entstehung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Begehung der Handlung, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an.
(3a) Ansprüche, die auf einem Erbfall beruhen oder deren Geltendmachung die Kenntnis einer Verfügung von Todes wegen voraussetzt, verjähren ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Entstehung des Anspruchs an.
(4) Andere Ansprüche als die nach den Absätzen 2 bis 3a verjähren ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an.
(5) Geht der Anspruch auf ein Unterlassen, so tritt an die Stelle der Entstehung die Zuwiderhandlung.