Urteils-Kommentar zu Bundesverfassungsgericht Beschluss, 15. Feb. 2025 - 2 BvR 230/25 von der ra.de Redaktion



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Bundesverfassungsgericht Beschluss, 15. Feb. 2025 - 2 BvR 230/25
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Bündnis Sahra Wagenknecht - Vernunft und Gerechtigkeit,
vertreten durch die Vorsitzende (...),
- Bevollmächtigter: (...) -
gegen
a) die Nichtberücksichtigung der Beschwerdeführerin beziehungsweise
ihrer Spitzenkandidatin Frau Dr. Sahra Wagenknecht durch den
Westdeutschen Rundfunk in der Wahlsendung "ARD Wahlarena"
am 17. Februar 2025, 21.00 Uhr,
b) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen
vom 14. Februar 2025 - 13 B 105/25 -,
c) den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln
vom 5. Februar 2025 - 6 L 81/25 -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterinnen Langenfeld,
Fetzer
und den Richter Offenloch
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 15. Februar 2025 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwerdeführerin zeigt nicht schlüssig auf, durch die angegriffenen Entscheidungen in ihrem Recht auf (abgestufte) Chancengleichheit der Parteien aus Artikel 21 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz verletzt zu werden.
Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Absatz 3 GOBVerfG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Verfassungsbeschwerde des BSW gegen den Ausschluss aus der „ARD Wahlarena“ – Bundesverfassungsgericht weist Beschwerde ab
I. Einleitung
Der Ausschluss einer politischen Partei aus einem TV-Wahlformat kann schwerwiegende Auswirkungen auf den demokratischen Wettbewerb haben. Die Frage, ob öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten politische Parteien zu Wahlsendungen einladen müssen, betrifft das Grundrecht auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG.
Mit Spannung wurde daher die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Nichtberücksichtigung der Partei Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit (BSW) in der von der ARD ausgestrahlten Sendung „Wahlarena 2025“ erwartet. Die Partei sah sich in ihrem Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Diskurs verletzt und hatte sich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen den Ausschluss gewandt.
Das BVerfG wies die Beschwerde jedoch am 15. Februar 2025 zurück (Az. 2 BvR 230/25) und bestätigte damit die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte. Dies wirft grundsätzliche Fragen zum Parteienprivileg, dem Medienprivileg öffentlich-rechtlicher Sender und der verfassungsrechtlichen Chancengleichheit auf.
II. Sachverhalt: Warum wurde das BSW nicht eingeladen?
Die ARD Wahlarena ist ein seit mehreren Wahlperioden etabliertes TV-Format, bei dem Spitzenpolitiker in einer Live-Sendung Fragen von Bürgerinnen und Bürgern beantworten. Die redaktionelle Federführung für das Format lag beim Westdeutschen Rundfunk (WDR).
Für die Sendung am 17. Februar 2025 lud die ARD die Spitzenkandidaten der CDU/CSU (Friedrich Merz), SPD (Olaf Scholz), AfD (Alice Weidel) und Bündnis 90/Die Grünen (Robert Habeck) ein. Das BSW wurde nicht berücksichtigt.
Die Begründung des WDR:
- Es seien nur Parteien mit einer realistischen Kanzlerkandidatur eingeladen worden.
- Das BSW sei eine neu gegründete Partei, die in Umfragen noch nicht auf einem Niveau sei, das eine Gleichstellung mit den eingeladenen Parteien rechtfertige.
- Das Prinzip der abgestuften Chancengleichheit gelte auch für mediale Plattformen und sei entsprechend zu berücksichtigen.
Das BSW sah darin eine Ungleichbehandlung und reichte zunächst Eilanträge beim Verwaltungsgericht Köln (VG Köln) und dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) ein. Beide Gerichte lehnten die Anträge mit Verweis auf die abgestufte Chancengleichheit im Wahlrecht ab.
III. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das BVerfG wies die Verfassungsbeschwerde zurück (Beschluss v. 15.02.2025, Az. 2 BvR 230/25) und nahm sie nicht zur Entscheidung an.
Das Gericht stellte fest:
-
Keine Verletzung der Chancengleichheit nach Art. 21 Abs. 1 GG
- Das BSW konnte nicht überzeugend darlegen, dass die Entscheidung der ARD den Grundsatz der Chancengleichheit verletze.
- Der Ausschluss beruhte auf einer sachlichen Begründung – nämlich dem Fehlen einer realistischen Kanzlerkandidatur.
-
Das Prinzip der abgestuften Chancengleichheit gilt auch für Wahlkampfberichterstattung
- Die Einladungspolitik von Medienhäusern unterliegt zwar staatlicher Neutralitätspflicht, jedoch gibt es kein generelles Recht jeder Partei auf mediale Gleichbehandlung.
- Medien dürfen Parteien nach ihrer politischen Relevanz auswählen, sofern dies nicht willkürlich erfolgt.
-
Kein Anspruch auf eine Einladung zu jeder Wahlsendung
- Die BSW-Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht könne ihre Wahlkampfbotschaft über andere Formate und Kanäle verbreiten.
- Auch in der Vergangenheit seien kleinere oder neue Parteien nicht automatisch in große Wahlsendungen eingeladen worden.
Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wurde auch der Eilantrag des BSW gegenstandslos.
IV. Verfassungsrechtliche Einordnung: Wann liegt eine Verletzung der Chancengleichheit vor?
Die Entscheidung des BVerfG steht in einer Reihe von Urteilen zur Chancengleichheit im politischen Wettbewerb.
1. Das Prinzip der abgestuften Chancengleichheit
Das Grundgesetz garantiert Parteien Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG). Allerdings ist diese nicht absolut, sondern abgestuft:
- Große Parteien mit Kanzleranspruch genießen eine weitere mediale Reichweite, da sie das höchste Regierungsamt anstreben.
- Neue oder kleinere Parteien erhalten nur dann einen Platz in TV-Formaten, wenn sie eine vergleichbare politische Relevanz haben.
2. Entscheidungsspielraum der öffentlich-rechtlichen Medien
Öffentlich-rechtliche Sender unterliegen dem Neutralitätsgebot des Staates, sind jedoch nicht zur absoluten Gleichbehandlung aller Parteien verpflichtet.
-
Urteil des BVerfG zur Wahlkampfberichterstattung (BVerfGE 47, 198 – Deutschlandfunk-Fall):
- Öffentlich-rechtliche Sender müssen vielfältige politische Meinungen abbilden.
- Jedoch dürfen sie nach journalistischen Maßstäben auswählen.
-
Vergleichbare Entscheidungen zur Wahlwerbung:
- Parteien haben einen Anspruch auf gleichmäßige Wahlwerbung in öffentlich-rechtlichen Sendern (BVerfGE 73, 118 – Wahlwerbespots).
- Talkshows oder Wahlarenen sind jedoch redaktionell gestaltete Formate, in denen eine gewisse Selektion zulässig ist.
3. Grenzen der Berichterstattungspflicht
Der WDR durfte sich auf die journalistische Entscheidungshoheit berufen. Entscheidend ist dabei:
- War die Auswahl willkürlich oder diskriminierend?
- Nein, da sachliche Kriterien wie die Kanzlerkandidatur zugrunde lagen.
- Gab es einen Anspruch des BSW auf Einladung?
- Nein, da kein generelles Recht auf Teilnahme an jeder Wahlsendung besteht.
V. Fazit: Rechtmäßige Entscheidung oder Einschränkung des demokratischen Diskurses?
Die Entscheidung des BVerfG bestätigt die bestehende Rechtsprechung zur Chancengleichheit im Wahlkampf. Während das Prinzip der abgestuften Chancengleichheit auch für Medienangebote gilt, besteht kein absoluter Anspruch jeder Partei auf Teilnahme an einer Wahlsendung.
Dennoch zeigt der Fall, dass mediale Ausschlüsse im Wahlkampf für kleinere Parteien problematisch sein können. Eine demokratische Debatte sollte daher stets Mindermeinungen berücksichtigen, um eine breite politische Diskussion zu ermöglichen.
Für zukünftige Fälle bleibt die Frage nach der Verhältnismäßigkeit derartiger Ausschlüsse bestehen. Gerade für neue Parteien ist die mediale Sichtbarkeit entscheidend – und eine zu enge Auswahl könnte das Parteiensystem zugunsten etablierter Akteure verzerren.
Praxishinweis für Parteien und Medienrechtler
- Parteien sollten frühzeitig Rechtsmittel gegen Ausschlüsse einlegen, um im Wahlkampf nicht ins Hintertreffen zu geraten.
- Medienanstalten sollten transparente Kriterien für die Einladung zu Wahlsendungen entwickeln, um Willkürvorwürfen vorzubeugen.
- Gerichte müssen im Einzelfall genau prüfen, ob journalistische Entscheidungen die demokratische Chancengleichheit unangemessen einschränken.
Die Debatte um die mediale Chancengleichheit im Wahlkampf ist damit noch nicht beendet.
VI. Eigene Meinung: Demokratie braucht Debatte – aber wo zieht man die Grenze?
Die gestrige Bundestagswahl 2025 hat es gezeigt: Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat den Einzug in den Bundestag denkbar knapp verpasst. Gerade in einem solchen Fall stellt sich die Frage: Hätte eine Einladung zur ARD Wahlarena das Blatt wenden können?
Einerseits war der Ausschluss des BSW aus der Sendung eine fragwürdige Entscheidung. Das Bündnis war zwar neu, hatte aber realistische Chancen auf den Bundestagseinzug. Die Sendung war nicht nur eine Kanzlerkandidaten-Debatte, sondern auch eine Plattform zur Meinungsbildung. Hier hätte man argumentieren können: Lieber eine Stimme zu viel als eine zu wenig – schließlich entscheiden die Wähler und nicht die Redaktionen, welche Partei relevant ist.
Andererseits kann man nicht jede Dorf-und-Wiesen-Partei einladen. Die ARD muss irgendwo eine Grenze ziehen – und man stelle sich vor, jede parteiunabhängige Wählergruppe aus Hintertupfingen würde auf eine Einladung klagen. „Warum darf Frau Wagenknecht mitmachen, aber nicht die Freien Bauern aus Oberhessen?“ Eine solche Logik würde am Ende dazu führen, dass eine Sendung, die eigentlich 120 Minuten dauern sollte, erst endet, wenn der Bundestag schon wieder neu gewählt wird.
Trotzdem bleibt ein fader Beigeschmack. Es wirkt fast so, als habe man dem BSW bewusst eine Plattform verwehrt, um das Parteiengefüge nicht noch mehr aufzuwirbeln. Ein fairer Wahlkampf lebt vom Austausch unterschiedlicher Positionen – und wenn eine Partei mit realistischen Chancen in den Bundestag einziehen könnte, sollte sie zumindest die Möglichkeit haben, sich in einer zentralen politischen Sendung zu präsentieren.
Hätte das BSW die 5 %-Hürde geknackt, wäre die Debatte heute noch viel größer. Vielleicht wäre es an der Zeit, die Einladungspolitik für öffentlich-rechtliche Wahlsendungen transparenter zu gestalten. Eine klare, rechtssichere Regelung – etwa eine Mindesthürde in Umfragen oder bereits errungene Mandate – könnte helfen, willkürliche Entscheidungen zu vermeiden.
Kurzum: Der Ausschluss war vielleicht nicht illegal, aber demokratisch optimal war er auch nicht.






Annotations
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Bündnis Sahra Wagenknecht - Vernunft und Gerechtigkeit,
vertreten durch die Vorsitzende (...),
- Bevollmächtigter: (...) -
gegen
a) die Nichtberücksichtigung der Beschwerdeführerin beziehungsweise
ihrer Spitzenkandidatin Frau Dr. Sahra Wagenknecht durch den
Westdeutschen Rundfunk in der Wahlsendung "ARD Wahlarena"
am 17. Februar 2025, 21.00 Uhr,
b) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen
vom 14. Februar 2025 - 13 B 105/25 -,
c) den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln
vom 5. Februar 2025 - 6 L 81/25 -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterinnen Langenfeld,
Fetzer
und den Richter Offenloch
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 15. Februar 2025 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwerdeführerin zeigt nicht schlüssig auf, durch die angegriffenen Entscheidungen in ihrem Recht auf (abgestufte) Chancengleichheit der Parteien aus Artikel 21 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz verletzt zu werden.
Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Absatz 3 GOBVerfG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.