Urteils-Kommentar zu Bundesgerichtshof Urteil, 7. Nov. 2024 - III ZR 79/23 von Dirk Streifler

originally published: 23/01/2025 00:02, updated: 23/01/2025 00:08
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Bundesgerichtshof Urteil, 7. Nov. 2024 - III ZR 79/23

Author’s summary by Rechtsanwalt Dirk Streifler - Partner

Das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 7. November 2024 – III ZR 79/23 – markiert eine wegweisende Entscheidung zu den Anforderungen an die Feststellung der subjektiven Tatseite der Beihilfe bei berufstypischen Handlungen sowie zu den Anforderungen an die Beweiswürdigung in zivilrechtlichen Verfahren. Es stellt nicht nur die Bedeutung einer Gesamtabwägung aller Beweisanzeichen in den Vordergrund, sondern bietet auch klare Leitlinien für die Beurteilung von Gehilfenvorsatz im Kontext „neutraler“ beruflicher Handlungen wie Steuerberatung und Buchhaltung.

Das Urteil ist für Rechtsanwälte, Richter sowie Fachleute aus den Bereichen Wirtschaftsstrafrecht und Zivilrecht von hoher praktischer Relevanz, da es grundlegende Prinzipien für die Abgrenzung zwischen strafbarer Beihilfe und bloß berufstypischem Verhalten präzisiert.

I. Ausgangspunkt der Entscheidung

1. Sachverhalt

Die Beklagte, eine Steuerberaterin und Buchhalterin, war seit 2011 für die inzwischen insolvente EN S. GmbH (ENS) tätig. Die Gesellschaft betrieb ein betrügerisches Schneeballsystem, bei dem Kapitalanlegern vorgegaukelt wurde, sie würden in reale Speichertechnologien investieren. Tatsächlich existierten die angeblichen Speichersysteme nicht, und die Auszahlungen an Anleger wurden durch Neuanleger finanziert. Nach der Beanstandung des Geschäftsmodells durch die BaFin im Jahr 2014 und einer Selbstanzeige des Haupttäters wurde die Beklagte strafrechtlich wegen Beihilfe zum Betrug verurteilt. In einem Zivilverfahren forderten Anleger Schadensersatz von der Beklagten. Die Vorinstanzen wiesen die Klage mit der Begründung ab, es könne der Beklagten kein vorsätzliches Verhalten nachgewiesen werden.

2. Rechtsfrage

Im Mittelpunkt des Rechtsstreits stand die Frage, unter welchen Voraussetzungen berufstypische, „neutrale“ Handlungen wie Steuerberatung als Beihilfe zu einer Straftat gewertet werden können. Dabei war insbesondere zu klären, ob das Berufungsgericht die Anforderungen an die Feststellung des Gehilfenvorsatzes rechtsfehlerhaft verängt hat.


II. Entscheidungsgründe des BGH

1. Subjektive Tatseite der Beihilfe

Der BGH stellte klar, dass die Gehilfenhaftung nach strafrechtlichen Grundsätzen zu beurteilen ist, auch wenn sie zivilrechtlich geltend gemacht wird (§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263, § 27 StGB). Dabei unterscheidet der BGH zwei Fallgruppen:

  • Fallgruppe 1: Der Gehilfe weiß, dass die Haupttat ausschließlich auf die Begehung einer Straftat abzielt, und solidarisiert sich mit dem Haupttäter.

  • Fallgruppe 2: Der Gehilfe erkennt das hohe Risiko eines strafbaren Verhaltens des Haupttäters und nimmt es billigend in Kauf.

Im vorliegenden Fall übersahen die Vorinstanzen, dass die zweite Fallgruppe eine bewertende Gesamtschau der Indizien verlangt. Der BGH rügte, dass die Vorinstanzen lediglich auf eine positive Kenntnis der Beklagten abstellten und damit die Maßstäbe verengten. Entscheidend sei, ob die Beklagte angesichts einer Vielzahl von Belastungsindizien das Schneeballsystem für „sehr wahrscheinlich“ hielt und durch ihre Handlungen bewusst förderte.

2. Beweiswürdigung

Ein zentraler Kritikpunkt des BGH war die fehlerhafte Beweiswürdigung der Vorinstanzen. Der BGH hob hervor, dass eine isolierte Betrachtung einzelner Indizien unzureichend ist. Vielmehr muss eine Gesamtabwägung aller Umstände vorgenommen werden. Die Vorinstanzen hatten rechtsfehlerhaft verlangt, dass jedes einzelne Indiz für sich genommen einen zwingenden Schluss zulassen muss. Nach § 286 ZPO genügt jedoch ein „nausreichendes Maß an Sicherheit“, das vernünftige Zweifel ausschließt.

Der BGH bemängelte zudem, dass wesentliche Belastungsindizien wie das Geständnis der Beklagten im Strafverfahren und ihre Kenntnis des „abgekürzten Zahlungswegs“ nicht angemessen in die Beweiswürdigung einbezogen wurden. Diese hätten im Kontext anderer Tatsachen, etwa der auffälligen Zahlungsströme, eine andere Bewertung nahegelegt.


III. Rechtspolitische und praktische Bedeutung

1. Bedeutung für die Feststellung des Vorsatzes

Das Urteil verdeutlicht die hohe Verantwortung von Zivilgerichten bei der Anwendung strafrechtlicher Maßstäbe. Es fordert eine differenzierte Bewertung der subjektiven Tatseite, insbesondere bei berufstypischen Handlungen. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Haftung von Steuerberatern und anderen Berufsgruppen, die in betrügerische Geschäftspraktiken eingebunden sein könnten.

2. Anforderungen an die Beweiswürdigung

Die Entscheidung betont, dass eine isolierte Betrachtung von Indizien unzureichend ist. Dies stellt hohe Anforderungen an die Argumentation und Urteilsbegründung der Gerichte und unterstreicht die Notwendigkeit, den Gesamtkontext zu berücksichtigen.

3. Abgrenzung zu bisherigen Entscheidungen

Das Urteil steht in einer Reihe von Entscheidungen, die sich mit der Abgrenzung zwischen strafbarer Beihilfe und neutralem berufstypischem Verhalten befassen. Der BGH betonte erneut, dass allein die Berufsausübung eine Haftung nicht ausschließt, wenn objektive Indizien auf eine Solidarisierung mit dem Haupttäter hinweisen.


IV. Fazit und Ausblick

Das Urteil des BGH setzt klare Maßstäbe für die Beurteilung von Beihilfehandlungen im Zivilrecht und betont die Bedeutung einer umfassenden Beweiswürdigung. Es bietet wichtige Leitlinien für die Praxis und wird voraussichtlich auch in der Fachliteratur intensiv diskutiert werden. Für die betroffenen Berufsgruppen zeigt das Urteil die Notwendigkeit auf, die Grenzen zulässiger beruflicher Handlungen klar zu beachten, um Haftungsrisiken zu minimieren.

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(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.

(1) Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

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