Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Beschluss, 22. Jan. 2013 - 4 L 1/13

ECLI:ECLI:DE:OVGST:2013:0122.4L1.13.0A
bei uns veröffentlicht am22.01.2013

Gründe

1

Die Anträge der Klägerin auf Zulassung der Berufung (I.) und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zur Stellung des Antrages zur Zulassung der Berufung (II.) haben jeweils keinen Erfolg

2

I. 1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat die Klägerin nicht in hinreichender Weise aufgezeigt.

3

Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist immer schon dann erfüllt, wenn im Zulassungsverfahren ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird. Schlüssige Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn mit dem Zulassungsantrag substanziiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufzeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (so BVerfG, Beschl. v. 20. Dezember 2010 - 1 BvR 2011/10 -, zit. nach JURIS).

4

Diese Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor. Die Klägerin hat die Feststellung des Verwaltungsgerichts, sie habe keinen Anspruch gem. § 35a Abs. 1 SGB VIII auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme zur Therapie ihrer Rechenschwäche, nicht hinreichend in Zweifel gezogen.

5

Nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII in der ab 14. Dezember 2006 geltenden Fassung haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Bei Vorliegen beider Voraussetzungen geht das Gesetz von einer „seelischen Behinderung“ aus. Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne des SGB VIII sind dabei Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit „hoher“ Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).

6

a) Es ist schon fraglich, ob im Falle der Klägerin die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII gegeben sind.

7

Der bislang zuständige 3. Senat des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt geht mit der herrschenden Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass allein das Vorliegen einer Teilleistungsstörung wie der Rechenstörung (Dyskalkulie) als solche nicht die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII erfüllt. Hinzukommen muss, dass es als Sekundärfolge der Rechenstörung zu einer seelischen Störung oder psychosomatischen Reaktion des Kindes oder Jugendlichen kommt, so dass deshalb seine seelische Gesundheit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht (sog. sekundäre Neurotisierung, vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 18. April 2012 - 3 L 716/09 -, n.v.; OVG Sachsen, Beschl. v. 29. Januar 2010 - 1 A 143/09 -; VGH Hessen, Urt. v. 20. August 2009 - 10 A 1799/08 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 26. März 2007 - 7 E 10212/07 -, jeweils zit. nach JURIS; Kunkel, SGB VIII, 4. A., § 35a Rdnr. 12, 19; vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 28. Oktober 2011 - 12 A 1174/11 -; VGH Bayern, Beschl. v. 3. Februar 2011 - 12 ZB 09.1918 - zu Lese- und Rechtschreibschwäche, jeweils zit. nach JURIS). Denn Dyskalkulie sei eine geistige Leistungsstörung. Es handele sich insoweit um abgegrenzte Ausfälle von Hirnleistungen, die aus dem Rahmen der Gesamtintelligenz und der übrigen Leistungen herausfallen. In Kapitel V, Ziffer F 81.2 der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10, www.dimdi.de) werde die Dyskalkulie beschrieben als eine „…Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden.“ Ein Abweichen der seelischen Gesundheit i.S.v. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII von dem für das Lebensalter typischen Zustand verlange daher zusätzlich zu dieser geistigen Teilleistungsstörung die Feststellung hierin begründeter Sekundärfolgen im seelischen Bereich.

8

Ob mit der Rechtsprechung einzelner Verwaltungsgerichte und Literaturstimmen (z.B. VG Göttingen, Urt. v. 22. Februar 2007 - 2 A 351/05 -, zit. nach JURIS; Jahn, SGB VIII, § 35a Rdnr. 6; vgl. auch Wiesner, Kinder- und Jugendhilfe, 4. A., § 35a, Rdnr. 14) schon Dyskalkulie selbst als seelische Störung i.S.d. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII einzustufen ist, kann aber ebenso offen bleiben wie die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob das Verwaltungsgericht die herrschende Rechtsprechung fehlerhaft angewandt hat.

9

b) Denn das Verwaltungsgericht hat jedenfalls rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII nicht erfüllt seien.

10

(1) In Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der ständigen Rechtsprechung des bisher zuständigen 3. Senats ist eine Teilhabebeeinträchtigung i.S.d. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII (nur) dann gegeben, wenn die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit des Betroffenen zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung erwarten lässt. Dabei ist eine derartige Teilhabebeeinträchtigung beispielsweise anzunehmen bei einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, bei einer totalen Schul- und Lernverweigerung, bei einem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt oder bei einer Vereinzelung in der Schule, nicht aber bereits bei bloßen Schulproblemen oder Schulängsten, die andere Kinder oder Jugendliche teilen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11. August 2005 - 5 C 18.04 -; Urt. v. 26. November 1998 - 5 C 38.97 -, jeweils zit. nach JURIS; zuletzt OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 18. April 2012 - 3 L 716/09 -, n.v.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 15. Juli 2011 - 12 A 1168/11 -; VGH Bayern, Beschl. v. 29. November 2010 - 12 ZB 09.2199 -; VGH Hessen, Urt. v. 4. Mai 2010 - 10 A 1623/09 -; OVG Sachsen, Beschl. v. 29. Januar 2010 - 1 A 143/09 -; OVG Niedersachsen, Beschl. v. 4. Februar 2009 - 4 LC 514/07 -; OVG Thüringen, Beschl. v. 10. Juni 2009 - 3 EO 136/09 -, jeweils zit. nach JURIS m.w.N; Münchener Kommentar zum BGB, 6. A., Bd. 8, SGB VIII, § 35a Rdnr. 3; Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, § 35a Rdnr. 39, 40; Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, § 35a Rdnr. 33, 40; Jung, SGB VIII, 2. A., § 35a Rdnr. 7, 8; vgl. auch Jahn, SGB VIII, § 35a Rdnr. 5, 7, 8; Hauck, SGB VIII, § 35a Rdnr. 29, 64: nachhaltige Beeinträchtigung der sozialen Funktionstüchtigkeit). Während die Beurteilung, ob die seelische Gesundheit im Sinne von § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht, regelmäßig Aufgabe von Ärzten oder Psychotherapeuten ist, fällt die Einschätzung, ob die Teilhabe des jungen Menschen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist bzw. eine solche Beeinträchtigung droht, in die Kompetenz sozialpädagogischer Fachlichkeit und somit in den Aufgabenbereich des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 15. Juli 2011 - 12 A 1168/11 -; OVG Niedersachsen, Beschl. v. 25. März 2010 - 4 LA 43/09 -, jeweils zit. nach JURIS; Jahn, SGB VIII, § 35a Rdnr. 8). Bei dem Begriff der Teilhabebeeinträchtigung handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der voller gerichtlichen Prüfung unterliegt (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 23. Januar 2012 - 12 B 1582/11 -; OVG Sachsen, Beschl. v. 9. Juni 2009 - 1 B 288/09 -; VGH Bayern, Beschl. v. 7. Dezember 2010 - 12 CE 10.2326 -, jeweils zit. nach JURIS).

11

Die von der Klägerin insoweit erhobenen Einwendungen sind nicht durchgreifend.

12

Es handelt sich bei den genannten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht um eine veraltete und überholte Rechtsprechung. Dass in § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII nunmehr ausdrücklich darauf abgestellt wird, dass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist und der Begriff der „Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft“ in den maßgeblichen Bestimmungen nicht mehr ausdrücklich verwandt wird, lässt die Maßgeblichkeit dieser Rechtsprechung nicht entfallen. Dies ergibt sich schon aus der weitergehenden Verwendung des Begriffes „Eingliederungshilfe“ in § 35a SGB VIII und aus § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 53 Abs. 3 Satz 1 SGB XII, wonach es besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist, u.a. die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern.

13

Dass § 35a SGB VIII im Gegensatz zu § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII nicht auf eine „wesentliche“ Behinderung abstellt, führt ebenso wenig zu einer anderen Auslegung des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII wie der Hinweis der Klägerin auf die „Internationale Klassifikation für Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der Weltgesundheitsorganisation, auf den von ihr angenommenen Willen des Gesetzgebers, dass es für eine Behinderung genügen solle, wenn sich eine Funktionsbeeinträchtigung nur in einem Lebensbereich auswirke, sowie auf den Zweck des SGB VIII und das „erklärte Ziel des Gesetzgebers“. Vor allem ist weder erkennbar oder substanziiert vorgetragen, dass die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts inzwischen internationalen Vorgaben widerspricht. Nicht zu folgen ist auch dem von der Klägerin zitierten Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 26. Februar 2008 (- 1 K 1469/07 -), wonach der Begriff der „Beeinträchtigung“ lediglich dazu dient, Bagatellfälle vom Anwendungsbereich der Norm auszuschließen.

14

Ohne Erfolg wendet die Klägerin weiter ein, das Verwaltungsgericht habe die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts falsch auf den vorliegenden Sachverhalt angewandt, weil das Bundesverwaltungsgericht die Frage, an welcher Schwelle eine relevante Beeinträchtigung beginne, nicht erörtert habe; jedenfalls sei es nicht gerechtfertigt, eine (drohende) Teilhabebeeinträchtigung nur dann anzunehmen, wenn diese eine besonders gravierende Intensität habe. Nach der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und nach der in Bezug genommenen obergerichtlichen Rechtsprechung steht dagegen fest, dass nicht jegliche Teilhabebeeinträchtigung in einem der relevanten Lebensbereiche ausreicht, sondern das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII nur dann zu bejahen ist, wenn die (drohende) Teilhabebeeinträchtigung eine besonders gravierende Intensität aufweist. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht - wovon das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen ist - durch die in seiner Entscheidung vom 26. November 1998 beispielhaft angeführten Beeinträchtigungen nochmals hervorgehoben und damit zugleich deutlich gemacht, welche Maßstäbe hinsichtlich Art und Umfang relevanter Teilhabebeeinträchtigungen anzulegen sind. Dass einzelne Verwaltungsgerichte - zumal außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt - (womöglich) eine andere Rechtsauffassung vertreten, ist danach unerheblich (so auch OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 18. April 2012 - 3 L 716/09 -, n.v.).

15

(2) Zu Recht hat das Verwaltungsgericht auch das Vorliegen einer bestehenden oder drohenden Teilhabebeeinträchtigung gem. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII bei der Klägerin verneint.

16

Das Gericht ist in Anlegung der oben dargelegten Maßstäbe in nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass die Selbstzweifel der Klägerin und ihr schwaches Selbstwertgefühl sowie die Versagensängste nicht über bloße Schulprobleme und Schulängste, die andere Kinder teilten, hinausgingen. In nachvollziehbarer Weise hat das Verwaltungsgericht insbesondere unter Bezugnahme auf eine persönliche Vorsprache der Klägerin und ihrer Mutter am 7. April 2009 sowie auf Stellungnahmen der Kinderärztin vom 28. März 2009 und der Klassenlehrerin vom 31. März 2009 festgestellt, dass bei der Klägerin keine nachhaltige Einschränkung der sozialen Funktionsfähigkeit vorliege oder drohe. Auch die sonstigen Unterlagen enthielten keine Hinweise für eine soziale Ausgrenzung der Klägerin im Schulalltag und es lasse sich ihnen nichts für eine Selbstisolation der Klägerin, emotionale Blockaden oder eine depressive Symptomatik erkennen. Dass ihre alltäglichen Probleme im Umgang mit Geld oder beim Lesen der Uhr zu einem Rückzug aus sozialen Kontakten innerhalb und/oder außerhalb der Schule geführt hätten oder dies zu erwarten sei, mache sie selbst nicht geltend.

17

Die Klägerin ist in ihrer Zulassungsbegründung und dem ergänzenden Schriftsatz vom 17. Mai 2011 dieser Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht substanziiert entgegengetreten.

18

Die von der Klägerin gerügte Feststellung des Verwaltungsgerichts, die Klägerin leide nicht „an wesentlichen Erkrankungen“, bezieht sich ersichtlich auf neben der Dyskalkulie bestehende Erkrankungen.

19

Soweit die Klägerin geltend macht, ihre vom Verwaltungsgericht geschilderten Probleme (Selbstzweifel, schwaches Selbstwertgefühl, Versagensängste, Schwierigkeiten im Umgang mit Geld oder beim Lesen der Uhr) seien sämtlich Anzeichen einer Teilhabebeeinträchtigung und das Gericht habe die Anforderungen an die Tatbestandsvoraussetzung der drohenden Teilhabebeeinträchtigung überspannt, wendet sie sich lediglich erneut gegen die oben dargestellte höchst- und obergerichtliche Rechtsprechung zur Auslegung des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII.

20

Auch der Schulpsychologe im Landesverwaltungsamt Dipl-Psych. N. hat in seiner Stellungnahme vom 6. Juli 2009 keine Einschätzung zu einer bestehenden oder eventuell „drohenden“ Behinderung abgegeben. Seine von der Klägerin zitierten Ausführungen zu einer „Manifestierung der Lernstörung mit ihren stark einschränkenden Anteilen für die Persönlichkeitsentwicklung“ bzw. zur Einschränkung der „Möglichkeiten der schulischen und beruflichen Entwicklung“ lassen keine Rückschlüsse auf eine bestehende oder zu erwartende Teilhabebeeinträchtigung gem. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII zu.

21

Dass das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII deshalb nicht für erfüllt angesehen hat, weil es an der Feststellung einer psychischen Störung der Klägerin durch einen dafür qualifizierten Diagnostiker i.S.d. § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII fehle, ist jedenfalls im Ergebnis nicht zu beanstanden. Denn das Gericht hat schon - wie oben dargelegt - bei der Prüfung des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII hinreichend erläutert, dass bei der Klägerin eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auch nicht absehbar zu erwarten sei. Danach kommt es entgegen der Auffassung der Klägerin ebenfalls nicht darauf an, ob die Verwendung des Begriffs „psychische Störung“ durch das Verwaltungsgericht eine unzureichende Differenzierung offenbart.

22

Ohne Erfolg macht die Klägerin schließlich geltend, im Gegensatz zur Ansicht des Verwaltungsgerichts sei das Verfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden, weil ihr im Ergebnis nicht i.S.d. § 14 Abs. 5 Satz 6 SGB IX mehrere (unabhängige) Gutachter von der Beklagten benannt worden seien. Unabhängig davon, ob und in welchem Umfang eine solche Verpflichtung besteht, ist im Rahmen der von der Klägerin erhobenen Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1, § 113 Abs. 5 VwGO) nicht zu prüfen, ob der Träger der öffentlichen Jugendhilfe seiner verfahrensrechtlichen Verpflichtung nachgekommen ist. Denn über das Vorliegen des eingeklagten Anspruchs ist angesichts des Streitgegenstandes der Verpflichtungsklage ohne Rücksicht auf etwaige Mängel des Verwaltungsverfahrens zu entscheiden (so BVerwG, Urt. v. 18. Oktober 2012 - 5 C 15/11 -, zit. nach JURIS zu § 35a Abs. 1a SGB VIII).

23

c) Ob das Verwaltungsgericht, das für seine Prüfung auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung und nicht den der letzten Verwaltungsentscheidung abgestellt hat, damit den maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 8. Juni 1995 - 5 C 30/93 -; OVG Niedersachsen, Beschl. v. 19. Januar 2011 - 4 LB 154/10 -; VGH Hessen, Urt. v. 4. Mai 2010 - 10 A 1623/09 -, jeweils zit. nach JURIS) gewählt hat, muss nicht abschließend geklärt werden. Abgesehen davon, dass die Klägerin insoweit keine Einwendung erhoben hat, ist nicht ersichtlich, dass zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung eine andere Einschätzung geboten war.

24

2. Die Rechtssache weist keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf.

25

Es kann offen bleiben, ob der Vortrag der Klägerin, die sich ohne weitere Differenzierung lediglich auf das Vorliegen „besonderer Schwierigkeiten der Rechtssache“ beruft, den Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO genügt (vgl. dazu OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 18. April 2012 - 3 L 716/09 -, n.v.).

26

Die von der Klägerin insoweit allein aufgeführten Differenzen zur Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte und zu vereinzelten Literaturstimmen sind angesichts des oben dargelegten Meinungsstandes in der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung nicht ausreichend anzunehmen, dass die Rechtssache in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursacht.

27

3. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO hat der Klägerin ebenfalls nicht aufgezeigt. Eine solche Bedeutung ist nur dann gegeben, wenn die Rechtssache eine rechtliche oder tatsächliche Frage aufwirft, die für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich und im Sinne der Rechtseinheit oder zur Fortbildung des Rechts klärungsbedürftig ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 1. Februar 2008 - 2 BvR 2575/07 -; Beschl. v. 29. Juli 2010 - 1 BvR 1634/04 -; jeweils zit. nach JURIS m.w.N.).

28

Die Klägerin hat zwar mehrere Rechtsfragen formuliert. Jedoch behauptet sie lediglich eine grundsätzliche Behauptung der Rechtssache, ohne dass sie die Entscheidungserheblichkeit und die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragen substanziiert darlegt. Der bloße Verweis auf die von ihr zu § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten Rechtsprechungsdifferenzen ist von vornherein nicht ausreichend. Denn nicht jede Divergenz der angefochtenen Entscheidung zur Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte, zumal wenn sie dem Zuständigkeitsbereich eines anderen Oberverwaltungsgerichts angehören, begründet ohne weiteres eine grundsätzliche Bedeutung i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Ausreichende Ausführungen insoweit erfolgten auch nicht in dem Schriftsatz vom 17. Mai 2011.

29

Darüber hinaus sind die Fragen, soweit sie die Auslegung des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII betreffen, nicht entscheidungserheblich, und, soweit sie die Auslegung des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII betreffen, angesichts der ständigen Rechtsprechung des bisher zuständigen Senats und der sonstigen höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung als bereits geklärt anzusehen.

30

4. Verfahrensfehler i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO sind nicht gegeben.

31

Die von der Klägerin gerügte Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 86 VwGO) sowie die ebenfalls von ihr gerügte Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots beziehen sich allein auf eine von ihr für notwendig gehaltene Sachverhaltsaufklärung zum Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwGO. Auf das Vorliegen dieses Tatbestandsmerkmals kommt es aber - wie oben unter 1. im Einzelnen dargelegt - nicht entscheidungserheblich an, weil die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII nicht erfüllt ist.

32

Es kann danach offen bleiben, ob der Zulassungsantrag insoweit überhaupt den Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO genügt. Denn grundsätzlich hätte es in der Antragsbegründungsschrift auch Ausführungen dazu bedurft, dass ohne die von der Klägerin geltend gemachte Verletzung rechtlichen Gehörs bzw. unterbliebene weiteren Aufklärung des Sachverhaltes - namentlich bei einer Beweisaufnahme - voraussichtlich eine im Ergebnis andere, für die Klägerin positive Entscheidung ergangen wäre (vgl. dazu OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 18. April 2012 - 3 L 716/09 -, n.v.).

33

II. Die Rechtsverfolgung durch die Klägerin bot keine hinreichende Aussicht auf Erfolg i.S.d. § 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO.

34

Eine hinreichende Aussicht auf Erfolg ist nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats nur dann gegeben, wenn der klägerische Rechtsstandpunkt ohne Überspannung der Anforderungen zutreffend oder bei schwieriger Rechtslage zumindest vertretbar erscheint. Dabei dürfen schwierige, bislang ungeklärte Rechts- und Tatsachenfragen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden. Zwar muss Prozesskostenhilfe nicht immer schon dann gewährt werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage noch nicht höchstrichterlich geklärt ist. Die Ablehnung der Gewährung kann ungeachtet des Fehlens einschlägiger höchstrichterlicher Rechtsprechung gerechtfertigt sein, wenn die Rechtsfrage angesichts der gesetzlichen Regelung oder im Hinblick auf Auslegungshilfen, die von bereits vorliegender Rechtsprechung bereitgestellt werden, ohne Schwierigkeiten beantwortet werden kann. Ist dies dagegen nicht der Fall und steht eine höchstrichterliche Klärung noch aus, so ist es mit dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit nicht zu vereinbaren, der unbemittelten Partei wegen fehlender Erfolgsaussichten ihres Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten (so BVerfG, Beschl. v. 19. Februar 2008 - 1 BvR 1807/07 -; Beschl. v. 14. Juni 2006 - 2 BvR 626/06 -, jeweils zit. nach JURIS).

35

Ausgehend von diesen Maßstäben waren von vornherein keine hinreichenden Erfolgsaussichten für einen Zulassungsantrag gegeben.

36

III. Die Kostenentscheidung für das Rechtsmittelverfahren beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.

37

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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Gründe I. 1 Die Klägerin begehrt die Erstattung bzw. Übernahme der Kosten einer Dyskalkulietherapie im Rahmen der Jugendhilfe. 2 Die 2004 geborene Klägerin leidet unter einer Rechenschwäche (Dyskalkulie). Sie besuchte ab August 2011 die Grund

Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Beschluss, 11. Apr. 2013 - 4 L 25/13

bei uns veröffentlicht am 11.04.2013

Gründe 1 Der am (…) 2001 geborene Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten für eine Dyskalkulietherapie. 2 Nachdem er im August 2008 in die Grundschule N. in A-Stadt eingeschult

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(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

1.
ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
2.
daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieser Vorschrift sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. § 27 Absatz 4 gilt entsprechend.

(1a) Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Stellungnahme

1.
eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,
2.
eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, eines Psychotherapeuten mit einer Weiterbildung für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen oder
3.
eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt,
einzuholen. Die Stellungnahme ist auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen. Dabei ist auch darzulegen, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. Enthält die Stellungnahme auch Ausführungen zu Absatz 1 Satz 1 Nummer 2, so sollen diese vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe im Rahmen seiner Entscheidung angemessen berücksichtigt werden. Die Hilfe soll nicht von der Person oder dem Dienst oder der Einrichtung, der die Person angehört, die die Stellungnahme abgibt, erbracht werden.

(2) Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall

1.
in ambulanter Form,
2.
in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen,
3.
durch geeignete Pflegepersonen und
4.
in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet.

(3) Aufgabe und Ziele der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie Art und Form der Leistungen richten sich nach Kapitel 6 des Teils 1 des Neunten Buches sowie § 90 und den Kapiteln 3 bis 6 des Teils 2 des Neunten Buches, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden und sich aus diesem Buch nichts anderes ergibt.

(4) Ist gleichzeitig Hilfe zur Erziehung zu leisten, so sollen Einrichtungen, Dienste und Personen in Anspruch genommen werden, die geeignet sind, sowohl die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen als auch den erzieherischen Bedarf zu decken. Sind heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind, in Tageseinrichtungen für Kinder zu gewähren und lässt der Hilfebedarf es zu, so sollen Einrichtungen in Anspruch genommen werden, in denen behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam betreut werden.

(1) Werden Leistungen zur Teilhabe beantragt, stellt der Rehabilitationsträger innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrages bei ihm fest, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist; bei den Krankenkassen umfasst die Prüfung auch die Leistungspflicht nach § 40 Absatz 4 des Fünften Buches. Stellt er bei der Prüfung fest, dass er für die Leistung insgesamt nicht zuständig ist, leitet er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zu und unterrichtet hierüber den Antragsteller. Muss für eine solche Feststellung die Ursache der Behinderung geklärt werden und ist diese Klärung in der Frist nach Satz 1 nicht möglich, soll der Antrag unverzüglich dem Rehabilitationsträger zugeleitet werden, der die Leistung ohne Rücksicht auf die Ursache der Behinderung erbringt. Wird der Antrag bei der Bundesagentur für Arbeit gestellt, werden bei der Prüfung nach den Sätzen 1 und 2 keine Feststellungen nach § 11 Absatz 2a Nummer 1 des Sechsten Buches und § 22 Absatz 2 des Dritten Buches getroffen.

(2) Wird der Antrag nicht weitergeleitet, stellt der Rehabilitationsträger den Rehabilitationsbedarf anhand der Instrumente zur Bedarfsermittlung nach § 13 unverzüglich und umfassend fest und erbringt die Leistungen (leistender Rehabilitationsträger). Muss für diese Feststellung kein Gutachten eingeholt werden, entscheidet der leistende Rehabilitationsträger innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang. Ist für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs ein Gutachten erforderlich, wird die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens getroffen. Wird der Antrag weitergeleitet, gelten die Sätze 1 bis 3 für den Rehabilitationsträger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist, entsprechend; die Frist beginnt mit dem Antragseingang bei diesem Rehabilitationsträger. In den Fällen der Anforderung einer gutachterlichen Stellungnahme bei der Bundesagentur für Arbeit nach § 54 gilt Satz 3 entsprechend.

(3) Ist der Rehabilitationsträger, an den der Antrag nach Absatz 1 Satz 2 weitergeleitet worden ist, nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung insgesamt nicht zuständig, kann er den Antrag im Einvernehmen mit dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger an diesen weiterleiten, damit von diesem als leistendem Rehabilitationsträger über den Antrag innerhalb der bereits nach Absatz 2 Satz 4 laufenden Fristen entschieden wird und unterrichtet hierüber den Antragsteller.

(4) Die Absätze 1 bis 3 gelten sinngemäß, wenn der Rehabilitationsträger Leistungen von Amts wegen erbringt. Dabei tritt an die Stelle des Tages der Antragstellung der Tag der Kenntnis des voraussichtlichen Rehabilitationsbedarfs.

(5) Für die Weiterleitung des Antrages ist § 16 Absatz 2 Satz 1 des Ersten Buches nicht anzuwenden, wenn und soweit Leistungen zur Teilhabe bei einem Rehabilitationsträger beantragt werden.

(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts (Anfechtungsklage) sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts (Verpflichtungsklage) begehrt werden.

(2) Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt vom Beklagten als Träger der Jugendhilfe die Übernahme der Kosten für heilpädagogisches Reiten in der Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Juli 2010.

2

Der am 16. Mai 2000 geborene Kläger leidet seit seiner Geburt an klassischem frühkindlichem (Kanner-)Autismus. Seit Mai 2004 nimmt er an einer heilpädagogischen Reittherapie teil. Die Kosten hierfür trug der Beklagte zunächst als Träger der Sozialhilfe im Rahmen der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe. Nach Vorlage der ärztlichen Bescheinigung des Kinder- und Jugendarztes Dr. med. H. des Sozialpädiatrischen Zentrums in T. vom 16. Oktober 2008, wonach frühkindlicher Autismus eine seelische Behinderung darstellt, gewährte der Beklagte rückwirkend ab dem 1. Januar 2008 bis zum 31. Dezember 2009 das heilpädagogische Reiten als Leistung der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe.

3

Den unter dem 16. November 2009 gestellten Folgeantrag des Klägers für Fördereinheiten der heilpädagogischen Reittherapie ab 1. Januar 2010 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 5. Januar 2010 ab. Daraufhin trugen die Eltern des Klägers seit Januar 2010 die Kosten des heilpädagogischen Reitens. Der Beklagte begründete die Ablehnung im Wesentlichen damit, dass es sich bei der Übernahme der Kosten um eine freiwillige Leistung gehandelt habe. Das heilpädagogische Reiten sei eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation, gehöre als solche aber nicht zu den in der Heilmittel-Richtlinie aufgenommenen verordnungsfähigen Heilmitteln. Als freiwillige Leistung werde die Hilfe für eine heilpädagogische Reittherapie generell nach zwei Jahren beendet. Den hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies der Rechtsausschuss des Beklagten unter Bezugnahme auf § 55 Abs. 2 Nr. 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX - zurück. Diese Vorschrift beschränke den Anspruch auf heilpädagogische Leistungen im Rahmen der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe auf Kinder, die noch nicht eingeschult seien. Zu diesem Personenkreis gehöre der Kläger nicht. Er besuche eine Förderschule. Das vom Kläger angerufene Verwaltungsgericht ist dieser Rechtsauffassung gefolgt und hat dessen Klage abgewiesen.

4

Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung des Klägers stattgegeben und den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verpflichtet, dem Kläger vom 1. Januar bis zum 31. Juli 2010 wöchentlich eine Therapieeinheit heilpädagogisches Reiten zu bewilligen. Der Kläger erfülle die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VIII -. Es sei davon auszugehen, dass es sich bei dem klassischen frühkindlichen (Kanner-)Autismus um eine Abweichung der seelischen Gesundheit vom lebensaltertypischen Zustand für mehr als sechs Monate handele. Dem Kläger sei wegen seines frühkindlichen Autismus, der mit einer schweren Kommunikationsstörung und fehlendem Sprechvermögen verbunden sei, der Zugang zur Gesellschaft in erheblichem Umfang versperrt. Das heilpädagogische Reiten sei keine Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation, sondern eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Dass der Kläger in dem in Rede stehenden Zeitraum eingeschult gewesen sei, stehe der Bewilligung dieser Leistung nicht entgegen. Die Vorschriften des § 55 Abs. 2 Nr. 2 und § 56 SGB IX seien nicht dahin zu verstehen, dass die Bewilligung von heilpädagogischen Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nur für noch nicht eingeschulte Kinder vorgesehen werde. Nichts lasse darauf schließen, dass der Gesetzgeber angenommen habe, behinderte Kinder, die eine ihrer Behinderung entsprechende Schule besuchten, würden dort in dem erforderlichen Maß auch heilpädagogisch betreut. Das heilpädagogische Reiten sei für den Kläger in dem in Rede stehenden Zeitraum eine geeignete und erforderliche Eingliederungshilfe gewesen.

5

Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX.

6

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.

Entscheidungsgründe

7

Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Die entscheidungstragende Annahme des Oberverwaltungsgerichts, dass der Anspruch eines eingeschulten Kindes auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form des heilpädagogischen Reitens nicht durch § 35a Abs. 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VIII - i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB XII - i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX - ausgeschlossen werde, steht mit Bundesrecht in Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

8

Der vom Kläger - wie nach Erörterung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt worden ist - der Sache nach von Beginn an geltend gemachte Anspruch auf Übernahme der vom 1. Januar bis zum 31. Juli 2010 verauslagten Aufwendungen für eine Therapieeinheit heilpädagogischen Reitens pro Woche folgt aus § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII.

9

Diese Vorschrift verleiht einen Anspruch auf Übernahme der erforderlichen Aufwendungen für selbst beschaffte Hilfen. Das sind Hilfen, die - wie hier - vom Leistungsberechtigten abweichend von § 36a Abs. 1 und 2 SGB VIII selbst beschafft werden, ohne dass eine Entscheidung des Trägers der Jugendhilfe oder eine Zulassung durch diesen vorangegangen ist. Der Übernahmeanspruch setzt nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII voraus, dass der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat (Nr. 1), die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen (Nr. 2) und die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat (Nr. 3).

10

Die Beteiligten gehen, wie in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erörtert, zu Recht übereinstimmend davon aus, dass der Kläger den Beklagten mit seinem unter dem 16. November 2009 gestellten "Folgeantrag für Fördereinheiten der heilpädagogischen Reittherapie ab 1. Januar 2010" rechtzeitig (vgl. Urteil vom 11. August 2005 - BVerwG 5 C 18.04 - BVerwGE 124, 83 <86 ff.> = Buchholz 436.511 § 35a KJHG/SGB VIII Nr. 4 S. 10 ff.) vor Beginn des Zeitraums, für den die Übernahme der Aufwendungen beantragt wurde, von dem Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat. Des Weiteren steht zwischen den Beteiligten zu Recht nicht im Streit, dass beim Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe der vom Oberverwaltungsgericht zuerkannte Bedarf von einer wöchentlichen Therapieeinheit heilpädagogischen Reitens unaufschiebbar war. Zu entscheiden ist allein darüber, ob dem Kläger in dem in Rede stehenden Zeitraum gemäß § 35a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 1 SGB IX ein Anspruch auf Gewährung heilpädagogischer Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zustand. Das ist der Fall.

11

1. Nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2).

12

Im Rahmen der vom Kläger erhobenen Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1, § 113 Abs. 5 VwGO) ist dagegen nicht zu prüfen, ob der Träger der öffentlichen Jugendhilfe seiner verfahrensrechtlichen Verpflichtung nach § 35a Abs. 1a SGB VIII nachgekommen ist und hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 die Stellungnahme eines der dort in Nr. 1 bis 3 abschließend bezeichneten Ärzte oder Psychotherapeuten eingeholt hat. Denn über das Vorliegen des eingeklagten Anspruchs ist angesichts des Streitgegenstandes der Verpflichtungsklage ohne Rücksicht auf etwaige Mängel des Verwaltungsverfahrens zu entscheiden (vgl. Urteil vom 31. Juli 1984 - BVerwG 9 C 156.83 - Buchholz 402.25 § 6 AsylVfG Nr. 4 S. 3<7> m.w.N.).

13

Das Oberverwaltungsgericht hat zu Recht dahin erkannt, dass die materiellen Anspruchsvoraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vorlagen. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.

14

Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wich die seelische Gesundheit des seit seiner Geburt an klassischem frühkindlichem (Kanner-)Autismus leidenden Klägers länger als sechs Monate von dem lebensaltertypischen Zustand ab. Das Oberverwaltungsgericht hat sich im Rahmen seiner aus § 86 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO folgenden Verpflichtung zur Spruchreifmachung insoweit auf die bei den Akten befindlichen ärztlichen Bescheinigungen des Kinder- und Jugendarztes Dr. med. H. des Sozialpädiatrischen Zentrums in T. vom 16. Oktober 2008 und vom 10. Juni 2011 sowie dessen Schreiben vom 19. November 2010 gestützt und sich die dortigen Feststellungen zu Eigen gemacht. Dies ist, auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass dieser Arzt nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts nicht zu den in § 35a Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 bis 3 SGB VIII bezeichneten Ärzten oder Psychotherapeuten gehört, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Verfahrensvorschrift des § 35a Abs. 1a SGB VIII verpflichtet allein den Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die Stellungnahme eines entsprechenden Arztes oder Psychotherapeuten einzuholen. Des Weiteren hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass dem Kläger aufgrund seines frühkindlichen Autismus mit schwerer Kommunikationsstörung und dem fehlenden Sprechvermögen der Zugang zur Gesellschaft in erheblichem Umfang versperrt ist. Die genannten Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts sind mangels zulässiger und begründeter Verfahrensrügen für den Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindend.

15

2. § 35a Abs. 2 SGB VIII ordnet an, dass die Hilfe nach dem Bedarf im Einzelfall in ambulanter Form, in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen, durch geeignete Pflegepersonen und in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet wird. Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Leistungen richten sich gemäß § 35a Abs. 3 SGB VIII nach § 53 Abs. 3 und 4 Satz 1 sowie den §§ 54, 56 und 57 SGB XII, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden.

16

a) Das heilpädagogische Reiten ist im konkreten Fall der Art nach eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX) und keine Leistung zur medizinischen Rehabilitation (§ 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 26 SGB IX). Das Oberverwaltungsgericht ist bei der Abgrenzung dieser beiden Leistungsarten von einem zutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen (aa). Diesen Maßstab hat es auch rechtsfehlerfrei angewandt (bb).

17

aa) Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, d.h. zur sozialen Rehabilitation, und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sind anhand der Bedürfnisse, die mit der Leistung befriedigt werden sollen, voneinander abzugrenzen (vgl. BSG, Urteile vom 19. Mai 2009 - B 8 SO 32/07 R - SozR 4-3500 § 54 SGB XII Nr. 5 Rn. 17 und vom 29. September 2009 - B 8 SO 19/08 R - SozR 4-3500 § 54 SGB XII Nr. 6 Rn. 21). Entscheidend ist, welches konkrete Ziel mit der fraglichen Leistung in erster Linie verfolgt wird, d.h. welcher Leistungszweck im Vordergrund steht (BSG, Urteile vom 31. März 1998 - B 1 KR 12/96 - FEVS 49, 184 <188> und vom 3. September 2003 - B 1 KR 34/01 R - SozR 4-2500 § 18 SGB V Nr. 1 Rn. 10). Dies ist aufgrund einer Gesamtwürdigung der Bedürfnisse und Heilungschancen des einzelnen Behandlungsfalles zu bestimmen, wobei die Art der Erkrankung und ihr Bezug zu den eingesetzten Mitteln sowie die damit verbundenen Nah- und Fernziele eine Rolle spielen (vgl. BSG, Urteil vom 31. März 1998 a.a.O.).

18

Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 55 Abs. 1 SGB IX setzen an den sozialen Folgen einer Krankheit bzw. Behinderung an und dienen deren Überwindung (vgl. BSG, Urteil vom 31. März 1998 a.a.O.). Sie sollen die Auswirkungen der Krankheit bzw. Behinderung auf die Lebensgestaltung auffangen oder abmildern (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2003 a.a.O. Rn. 11). Ihr Ziel ist es einerseits, den Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung in (Teil-)Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt sind, den Zugang zur Gesellschaft zu ermöglichen, andererseits aber auch den Personen, die in die Gesellschaft integriert sind, die Teilhabe zu sichern, wenn sich abzeichnet, dass sie von gesellschaftlichen Ereignissen und Bezügen abgeschnitten werden. Dem behinderten Menschen soll der Kontakt mit seiner Umwelt, nicht nur mit Familie und Nachbarschaft, sowie die Teilnahme am öffentlichen und kulturellen Leben ermöglicht und hierdurch die Begegnung und der Umgang mit nichtbehinderten Menschen gefördert werden (vgl. BSG, Urteil vom 19. Mai 2009 a.a.O. Rn. 16 f.). Des Weiteren zielen die Leistungen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft darauf, den behinderten Menschen soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen (vgl. § 55 Abs. 1 SGB IX).

19

Leistungen der medizinischen Rehabilitation nach § 26 SGB IX knüpfen an der Krankheit selbst und ihren Ursachen an. Sie dienen dazu, Behinderungen, einschließlich chronischer Krankheiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, eine Verschlimmerung zu verhüten (Abs. 1 Nr. 1) oder Einschränkungen der Erwerbstätigkeit und Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern, eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug von laufenden Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern (Abs. 1 Nr. 2). Für die Einordnung als medizinische Behandlung ist nicht entscheidend, ob die gestellten Ziele objektiv erreichbar sind (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2003 a.a.O.).

20

bb) Das Oberverwaltungsgericht hat in Anwendung dieser rechtlichen Maßstäbe auf der Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen zu Recht eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft bejaht. Das heilpädagogische Reiten knüpft nach den für den Senat bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts im konkreten Fall an die sozialen Folgen des frühkindlichen Autismus (z.B. Abkapselung und Beziehungsarmut) an. Es soll dem Kläger vorrangig den Zugang zur Gesellschaft, der ihm wegen seines Autismus mit schwerer Kommunikationsstörung und fehlendem Sprechvermögen in erheblichem Umfang versperrt ist, ermöglichen bzw. - soweit vorhanden - sichern. Ziel des heilpädagogischen Reitens ist es, den Kläger über den Kontakt zum Pferd und die nonverbale Kommunikation mit diesem emotional zu befähigen, sich zunehmend auch auf andere Personen, etwa die Heilpädagogin, Kinder auf dem Reiterhof oder seine Klassenkameraden einzulassen und mit ihnen zu kommunizieren.

21

b) Der Anspruch auf Gewährung des heilpädagogischen Reitens als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist nicht deshalb gemäß § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX ausgeschlossen, weil der Kläger in dem in Rede stehenden Zeitraum eingeschult war und eine seiner Behinderung entsprechende Förderschule besuchte.

22

Nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX sind Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 55 Abs. 1 SGB IX insbesondere heilpädagogische Leistungen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind. Die Vorschrift ist entgegen der Ansicht des Beklagten nicht dahin zu verstehen, dass sie die Gewährung heilpädagogischer Leistungen als jugendhilferechtliche Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft für eingeschulte Kinder oder Jugendliche ausschließt. Die grammatikalische Auslegung zwingt nicht zu einem derartigen Normverständnis. Die Anwendung der anderen Auslegungskriterien weist eindeutig in die entgegengesetzte Richtung.

23

(aa) Dem Wortlaut des § 55 Abs. 2 SGB IX kann nicht ausschließlich oder zumindest hinreichend deutlich entnommen werden, dass es sich bei dem in Nr. 2 genannten Leistungstatbestand um einen in der Weise speziellen Tatbestand handelt, dass er den Rückgriff auf die allgemeine Regelung des § 55 Abs. 1 SGB IX versperrt.

24

Aus der Verwendung des Wortes "insbesondere" ergibt sich, dass § 55 Abs. 2 SGB IX von einem beispielhaften, offenen Leistungskatalog ausgeht (vgl. Urteil vom 22. Oktober 2009 - BVerwG 5 C 19.08 - BVerwGE 135, 159 = Buchholz 436.511 § 10 KJHG/SGB VIII Nr. 4 jeweils Rn. 14). Die Stellung des Wortes "insbesondere" ist auch für eine Auslegung dahin offen, dass es sich auf die in Absatz 2 ausdrücklich genannten Maßnahmen in ihrer Gesamtheit bezieht mit der Folge, dass sich die Beispielhaftigkeit nicht nur auf die in Nr. 2 genannten heilpädagogischen Leistungen, sondern auch auf den dort bezeichneten Personenkreis ("Kinder, die noch nicht eingeschult sind") erstreckt.

25

(bb) Für eine Auslegung, dass der Anspruch eingeschulter Kinder oder Jugendlicher auf Gewährung heilpädagogischer Leistungen als jugendhilferechtliche Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft dem Anwendungsbereich des § 55 Abs. 1 SGB IX unterfällt, spricht vor allem die Gesetzessystematik, die zugleich die Zielsetzung der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe widerspiegelt.

26

Nach der gesetzgeberischen Konzeption ist das Leistungssystem der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe auf Offenheit und Lückenlosigkeit angelegt, da anders eine wirksame Erfüllung der in § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 53 Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB XII normierten Aufgabe der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe nicht möglich und sicherzustellen wäre. Diese Aufgabe besteht darin, eine drohende seelische Behinderung von Kindern oder Jugendlichen zu verhüten oder ihre seelische Behinderung und deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die betroffenen Kinder oder Jugendlichen in die Gesellschaft einzugliedern, wozu insbesondere gehört, ihnen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Aus dem sozialhilferechtlichen Bedarfsdeckungsgrundsatz, der im Bereich der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe in § 35a Abs. 2 SGB VIII (vgl. "Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall ... geleistet") verankert ist, folgt, dass grundsätzlich der gesamte im konkreten Einzelfall anzuerkennende Hilfebedarf seelisch behinderter oder von einer solchen Behinderung bedrohter Kinder oder Jugendlicher abzudecken ist (vgl. Urteil vom 19. Oktober 2011 - BVerwG 5 C 6.11 - Buchholz 436.511 § 10 KJHG/SGB VIII Nr. 6 Rn. 12 m.w.N.). Das erfordert, dass sich der Träger der öffentlichen Jugendhilfe bzw. im Fall der selbstbeschafften Hilfe der Leistungsberechtigte der Art und Form nach aller Leistungen und Hilfen bedienen kann, die zur Deckung des konkreten und individuellen eingliederungsrechtlichen Bedarfs geeignet und erforderlich sind.

27

Die Offenheit des Leistungssystems hat in der Normstruktur des § 55 SGB IX insoweit ihren Niederschlag gefunden, als die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft in Absatz 1 generalklauselartig umschrieben und in Absatz 2 anhand eines nicht abschließenden Beispielskatalogs konkretisiert werden. Die systematische Gesamtschau mit den weiteren von § 35a Abs. 3 SGB VIII in Bezug genommenen Leistungstatbeständen unterstützt diesen Befund. Diese enthalten ebenfalls in der Regel - wie sich aus der jeweiligen Verwendung des Wortes "insbesondere" ergibt - beispielhafte Aufzählungen (vgl. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, § 26 Abs. 2 und 3 SGB IX, § 33 Abs. 3 und 6 SGB IX). Als weiterer in dieselbe Richtung weisender systematischer Aspekt tritt hinzu, dass § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII - wie das Wort "neben" belegt - die verschiedenen Leistungsarten der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe selbständig nebeneinander stellt.

28

Aus dem Nebeneinander der Leistungsarten wird zugleich deutlich, dass der eingliederungsrechtliche Bedarf an heilpädagogischen Leistungen für den Zeitraum der Beschulung in § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung, auf den auch für seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Kinder oder Jugendliche zurückzugreifen ist (vgl. Urteil vom 18. Oktober 2012 - BVerwG 5 C 21.11 - zur Veröffentlichung vorgesehen), nicht abschließend und erschöpfend geregelt ist. Nach ihrer tatbestandlichen Ausgestaltung deckt diese Vorschrift nur den eingliederungsrechtlichen Bedarf ab, der durch den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bedingt ist. Danach sind heilpädagogische Maßnahmen zu gewähren, wenn diese erforderlich und geeignet sind, seelisch behinderten oder von einer solchen Behinderung bedrohten Kindern oder Jugendlichen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Mangels seines abschließenden Charakters bietet § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung keine tragfähige Grundlage für die Annahme, dass bei eingeschulten Kindern oder Jugendlichen ein Anspruch auf Eingliederungshilfe im Interesse der sozialen Integration nicht aus § 55 Abs. 1 SGB IX hergeleitet werden kann. Ein anderes Verständnis liefe auch der auf Offenheit und Lückenlosigkeit gerichteten Zielsetzung der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe zuwider. Besteht zugunsten eines eingeschulten Kindes oder Jugendlichen im Einzelfall ein eingliederungsrechtlicher Bedarf an heilpädagogischen Leistungen und dient die gebotene Leistung nicht einer angemessenen Schulbildung, könnte dieser Bedarf ansonsten weder auf der Grundlage des § 55 Abs. 1 SGB IX, noch unter Heranziehung des § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII oder anderer Bestimmungen befriedigt werden. Dies stände mit der aufgezeigten Konzeption des Leistungssystems der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe nicht im Einklang.

29

(cc) Die Entstehungsgeschichte bekräftigt dieses Auslegungsergebnis. Die Vorschriften des § 55 Abs. 2 Nr. 2 und § 56 SGB IX sollen nach der Vorstellung des Gesetzgebers die Regelungen des § 40 Abs. 1 Nr. 2a Bundessozialhilfegesetz - BSHG - i.V.m. § 11 Eingliederungshilfe-Verordnung zeitgerecht fortentwickeln, ohne deren Regelungsgehalt im Kern zu ändern (vgl. BTDrucks 14/5074 S. 111, 14/5531 S. 9 und 14/5800 S. 29). Während § 39 Abs. 1 BSHG - ähnlich § 55 Abs. 1 SGB IX - einen generalklauselartigen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe regelte, nannte § 40 Abs. 1 BSHG die im Rahmen der Eingliederungshilfe besonders bedeutsamen Maßnahmen. Demzufolge wollte der Gesetzgeber bereits mit der Einführung des § 40 Abs. 1 Nr. 2a BSHG durch das 3. BSHG-Änderungsgesetz vom 25. März 1974 (BGBl I S. 777), mit der die "heilpädagogischen Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind", erstmals einer ausdrücklichen formellgesetzlichen Regelung zugeführt wurden, lediglich die Bedeutung dieser Maßnahmen für die Effektivität der Eingliederungshilfe für Kinder, die von Geburt oder der frühen Kindheit an behindert sind, besonders hervorheben. Zu diesem Zweck löste er in § 40 Abs. 1 Nr. 2a BSHG die "heilpädagogischen Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind", von der Ausrichtung auf den Schulbesuch und stellte diesen Leistungstatbestand selbständig neben den Leistungstatbestand des § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG, der eine derartige Ausrichtung enthielt. § 11 Eingliederungshilfe-Verordnung bestimmte, dass heilpädagogische Maßnahmen im Sinne des § 40 Abs. 1 Nr. 2a BSHG auch gewährt werden, wenn die Behinderung eine spätere Schulbildung oder eine Ausbildung für einen angemessenen Beruf oder für eine sonstige angemessene Tätigkeit voraussichtlich nicht zulassen wird. Damit wurde klargestellt, dass die heilpädagogischen Möglichkeiten auch in schweren Behinderungsfällen ausgeschöpft werden sollen, wenn durch sie nur ganz allgemein die Möglichkeiten zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft verbessert werden können oder die Pflegebedürftigkeit um einiges gemildert werden kann (vgl. BTDrucks 7/308 S. 14 und BRDrucks 743/74 S. 4 f. sowie Urteil vom 30. Mai 2002 - BVerwG 5 C 36.01 - Buchholz 436.01 § 12 EingliederungshilfeVO Nr. 1 S. 3 f.). Es fehlt an jedem Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber § 40 Abs. 1 Nr. 2a BSHG i.V.m. § 11 Eingliederungshilfe-Verordnung als eine den Rückgriff auf die allgemeine Regelung des § 39 Abs. 1 BSHG sperrende Ausschlussregelung verstanden wissen wollte. Ebenso wenig ist den Gesetzesmaterialien ein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die heilpädagogischen Leistungen im Zeitraum der Beschulung in § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG i.V.m. § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung einer abschließenden und erschöpfenden Regelung zuführen wollte.

(1) Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

1.
ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
2.
daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieser Vorschrift sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. § 27 Absatz 4 gilt entsprechend.

(1a) Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Stellungnahme

1.
eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,
2.
eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, eines Psychotherapeuten mit einer Weiterbildung für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen oder
3.
eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt,
einzuholen. Die Stellungnahme ist auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen. Dabei ist auch darzulegen, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. Enthält die Stellungnahme auch Ausführungen zu Absatz 1 Satz 1 Nummer 2, so sollen diese vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe im Rahmen seiner Entscheidung angemessen berücksichtigt werden. Die Hilfe soll nicht von der Person oder dem Dienst oder der Einrichtung, der die Person angehört, die die Stellungnahme abgibt, erbracht werden.

(2) Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall

1.
in ambulanter Form,
2.
in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen,
3.
durch geeignete Pflegepersonen und
4.
in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet.

(3) Aufgabe und Ziele der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie Art und Form der Leistungen richten sich nach Kapitel 6 des Teils 1 des Neunten Buches sowie § 90 und den Kapiteln 3 bis 6 des Teils 2 des Neunten Buches, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden und sich aus diesem Buch nichts anderes ergibt.

(4) Ist gleichzeitig Hilfe zur Erziehung zu leisten, so sollen Einrichtungen, Dienste und Personen in Anspruch genommen werden, die geeignet sind, sowohl die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen als auch den erzieherischen Bedarf zu decken. Sind heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind, in Tageseinrichtungen für Kinder zu gewähren und lässt der Hilfebedarf es zu, so sollen Einrichtungen in Anspruch genommen werden, in denen behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam betreut werden.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 23. Januar 2004 - 3 A 120/02 - und der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 14. Juni 2004 - 11 LA 79/04 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur Entscheidung an das Verwaltungsgericht Lüneburg zurückverwiesen.

...

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 Euro festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, in denen dem Rechtsschutzbegehren des Beschwerdeführers gegen die Auferlegung von Gebühren für eine polizeiliche Ingewahrsamnahme im Anschluss an eine Versammlung mit der Begründung der Erfolg versagt wird, die inzidente Prüfung der Rechtmäßigkeit der dem Heranziehungsbescheid zugrunde liegenden polizeilichen Ingewahrsamnahme sei den Verwaltungsgerichten verwehrt.

I.

2

1. Dem Ausgangsverfahren liegen folgende Vorschriften des einfachen Rechts zugrunde:

3

a) Aus dem Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz in der Fassung vom 20. Februar 1998 (GVBl vom 4. März 1998, S. 101 <107> - NGefAG a.F.):

4

§ 17 NGefAG a.F.

5

(Platzverweisung)

6

(1) Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können zur Abwehr einer Gefahr jede Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten. ...

7

§ 18 NdsGefAG a.F.

8

(Gewahrsam)

9

(1) Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies

...

10

2. unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung

...

11

b) einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit

12

zu verhindern, oder

13

3. unerlässlich ist, um eine Platzverweisung nach § 17 durchzusetzen.

14

15

§ 19 NGefAG a.F.

16

(Richterliche Entscheidung)

17

(1) Wird eine Person auf Grund des § 13 Abs. 2 Satz 2, des § 16 Abs. 3 oder des § 18 festgehalten, so haben die Verwaltungsbehörden oder die Polizei unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsbeschränkung herbeizuführen. Der Herbeiführung der richterlichen Entscheidung bedarf es nicht, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes der Maßnahme ergehen wird.

18

(2) Ist die Freiheitsbeschränkung vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung beendet, so kann die festgehaltene Person ... innerhalb eines Monats nach Beendigung der Freiheitsbeschränkung die Feststellung beantragen, dass die Freiheitsbeschränkung rechtswidrig gewesen ist, wenn diese länger als acht Stunden angedauert hat oder für die Feststellung ein sonstiges berechtigtes Interesse besteht. Der Antrag kann bei dem nach Absatz 3 Satz 2 zuständigen Amtsgericht schriftlich oder durch Erklärung zu Protokoll der Geschäftstelle dieses Gerichts gestellt werden. Die Entscheidung des Amtsgerichts ist mit sofortiger Beschwerde anfechtbar. Gegen die Entscheidung des Landgerichts ist die weitere sofortige Beschwerde nur statthaft, wenn das Landgericht sie wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage zulässt.

19

(3) Für die Entscheidung nach Absatz 1 ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Person festgehalten wird. Für die Entscheidung nach Absatz 2 ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Person in Gewahrsam genommen wurde. …

20

b) Aus dem Niedersächsischen Verwaltungskostengesetz (GVBl vom 7. Mai 1962, S. 43 ff., geändert durch Art. 5 des Haushaltsbegleitgesetzes 1997 vom 13. Dezember 1996, GVBl vom 20. Dezember 1996, S. 494, in Verbindung mit Art. 11 Abs. 2 des Gesetzes zur Verbesserung der kommunalen Handlungsfähigkeit, GVBl vom 28. Mai 1996, S. 242 <244> - NVwKostG):

21

§ 3

22

(1) Die einzelnen Amtshandlungen, für die Gebühren erhoben werden sollen, und die Höhe der Gebühren sind in Gebührenordnungen zu bestimmen.

23

24

§ 11

25

(1) Kosten, die dadurch entstanden sind, dass die Behörde die Sache unrichtig behandelt hat, sind zu erlassen.

26

27

§ 14

28

(1) Für die Benutzung öffentlicher Einrichtungen und Gegenstände, die sich im Eigentum oder in der Verwaltung des Landes befinden, können Benutzungsgebühren erhoben werden.

29

30

(2) Im übrigen finden die Vorschriften dieses Gesetzes über Kosten entsprechende Anwendung.

31

c) § 1 der Verordnung über die Gebühren und Auslagen für Amtshandlungen und Leistungen vom 5. Juni 1997 (GVBl vom 12. Juni 1997, S. 171 - Allgemeine Gebührenordnung) bestimmt:

32

§ 1

33

(1) Für Amtshandlungen der Landesverwaltung ... sind Gebühren und Pauschbeträge für Auslagen nach dieser Verordnung und dem nachstehenden Kostentarif (Anlage) zu erheben. …

34

Nrn. 67.1 und 67.2 der Anlage zu der Allgemeinen Gebührenordnung lauten (GVBl vom 12. Juni 1997, S. 172 <220>):

35

- Unterbringung im Polizeigewahrsam je angefangener Tag (24 Stunden) 38 DM

36

- Beförderung von in Gewahrsam genommenen oder hilflosen Personen mit Polizeifahrzeugen 70 DM

37

2. Am 3./4. März 2001 fand im Landkreis Lüchow-Dannenberg an einem Bahnübergang in Pisselberg die Versammlung unter dem Motto "Nacht im Gleisbett" gegen den Transport von Atommüll in das Brennelemente-Zwischenlager Gorleben (Castor-Transport) statt. Die Versammlung wurde am Abend des 3. März 2001 wegen der Gefahr eines Verstoßes gegen das Betretungsverbot der Gleise gemäß §§ 62, 63 der Eisenbahn-, Bau- und Betriebsordnung aufgelöst, als sich ein Teil der Demonstranten den Gleisen näherte. In der Folge versuchten mehrere Gruppen von Demonstranten einige hundert Meter von dem Bahnübergang entfernt, die Gleise zu besetzen. Sie wurden mit einem Platzverweis belegt, in Gewahrsam genommen und für eine Identitätsfeststellung zur Polizeiinspektion in Lüchow gebracht. Im Verlauf dieser Geschehnisse wurde auch der Beschwerdeführer nach dem polizeilichen Kurzbericht um 21:40 Uhr in Gewahrsam genommen, gegen 23:55 Uhr mit einem Dienstfahrzeug nach Lüchow transportiert und um 2:34 Uhr des Folgetages wieder entlassen. Eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit der polizeilichen Maßnahmen wurde nicht herbeigeführt.

38

3. Mit Heranziehungsbescheid vom 4. September 2001 wurden dem Beschwerdeführer gegenüber gemäß §§ 3 Abs. 1, 14 NVwKostG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 AllGO in Verbindung mit Nrn. 67.1. und 67.2. der Anlage zu der Allgemeinen Gebührenordnung Kosten für die Unterbringung in Gewahrsam und die Beförderung in Höhe von insgesamt 108 DM festgesetzt.

39

4. Mit angegriffenem Urteil vom 23. Januar 2004 wies das Verwaltungsgericht die Klage des Beschwerdeführers auf Aufhebung des Heranziehungsbescheides ab. Das Verwaltungsgericht sei nicht zuständig, die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme inzident als Vorfrage im Rahmen der Prüfung des Heranziehungsbescheides zu prüfen. Der Gesetzgeber habe sich wegen der Sach- und Ortsnähe der Amtsgerichte für eine abdrängende Sonderzuweisung nach § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO an die ordentlichen Gerichte entschieden. Mache der Beschwerdeführer von diesen verfahrensrechtlichen Möglichkeiten keinen Gebrauch, liege das in seinem Risikobereich, mit der Folge, dass er wegen der umfassenden Rechtsschutzkonzentration auf die ordentliche Gerichtsbarkeit nicht nachträglich in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme erreichen könne. Ob, wie der Beschwerdeführer vorgetragen habe, dem Richtervorbehalt nicht genüge getan worden sei, ihm gegenüber kein Platzverweis ergangen sei, der seine Ingewahrsamnahme gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 3 NGefAG a.F. gerechtfertigt hätte, und seine Ingewahrsamnahme auch nicht unerlässlich im Sinne von § 18 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b NGefAG a.F. gewesen sei, dürfe das Verwaltungsgericht nicht prüfen. Zwar könne eine gegen Art. 8 GG verstoßende Maßnahme keine Kostenansprüche begründen. Dies hätten auch die Verwaltungsgerichte bei Überprüfung des Heranziehungsbescheides zu beachten. Allerdings sei das Verwaltungsgericht in dem von dem Veranstalter der Versammlung "Nacht im Gleisbett" angestrengten Verfahren gegen die Auflösung der Versammlung am 3. März 2001 und die anschließende Räumung der Gleise durch die Polizei zu dem Ergebnis gelangt, dass die Auflösung der Versammlung und die Räumung der Gleise rechtmäßig gewesen seien.

40

5. Mit angegriffenem Beschluss vom 14. Juni 2004 lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag auf Zulassung der Berufung unter Bezugnahme auf eine vorangehende Entscheidung im Prozesskostenhilfeverfahren ab. Für die Beantwortung der Rechtsfrage, ob das Verwaltungsgericht eine behauptete Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme als Vorfrage im Rahmen der Kontrolle des Heranziehungsbescheides inzident prüfen müsse, bedürfe es keines Berufungsverfahrens, weil sie durch Auslegung der einschlägigen Vorschriften hinreichend beantwortet werden könne beziehungsweise nicht entscheidungserheblich sei. Es entspreche einer sinnvollen Ordnung der Rechtswege, dass verschiedene Gerichte nicht aufgrund desselben Sachverhalts über dieselbe Rechtsfrage befänden. Für die Verwaltungsgerichte werde innerhalb der Schrittfolge Grundrechtsschutz, Ingewahrsamnahme und Heranziehungsbescheid der Prüfungsrahmen nur hinsichtlich des mittleren Schrittes aufgehoben, nicht jedoch hinsichtlich der beiden anderen Schritte. Entsprechend habe das Verwaltungsgericht mit einbezogen, dass die Räumung der Gleise rechtmäßig gewesen und die Blockade der Gleise nicht durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gedeckt sei.

41

6. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seines Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.

42

7. Die Rechtsnachfolgerin der Gegnerin des Ausgangsverfahrens, die Polizeidirektion Lüneburg, hat zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen. Dagegen hat das Niedersächsische Justizministerium von einer Stellungnahme abgesehen. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

II.

43

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist.

44

1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen zur Reichweite der Gewährleistung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG bereits entschieden und dabei auch die zu berücksichtigenden Grundsätze entwickelt (vgl. BVerfGE 51, 176 <185>; 96, 27 <39>; 101, 106 <122 f.>; 104, 220 <232>; speziell zu § 124 Abs. 2 VwGO: BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 -, NVwZ 2000, S. 1163 <1164>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. März 2001 - 1 BvR 1653/99 -, NVwZ 2001, S. 552 <553>; BVerfGK 10, 208 <213>; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. Januar 2009 - 1 BvR 2524/06 -, NVwZ 2009, S. 515 <516>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. September 2009 - 1 BvR 814/09 -, NJW 2009, S. 3642 <3643>).

45

2. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt aus Art. 19 Abs. 4 GG.

46

a) Das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG garantiert demjenigen den Rechtsweg, der geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in eigenen Rechten verletzt zu sein. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet auf diese Weise nicht einen bestimmten Rechtsweg. Vielmehr wird dem einzelnen Bürger durch dieses Grundrecht lediglich garantiert, dass ihn beeinträchtigende hoheitliche Maßnahmen in irgendeinem gerichtlichen Verfahren überprüft werden können. In diesem Sinne enthält Art. 19 Abs. 4 GG ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Verletzungen der Individualsphäre durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 51, 176 <185>; 67, 43 <58>; 96, 27 <39>; 101, 106 <122 f.>). Dieser Rechtsschutz darf sich dabei nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpfen, sondern muss zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch ein mit zureichender Entscheidungsmacht ausgestattetes Gericht führen (vgl. BVerfGE 60, 253 <297>; 67, 43 <58>; 101, 106 <123>).

47

Der Rechtsweg, den Art. 19 Abs. 4 GG dem Einzelnen gewährleistet, bedarf allerdings der gesetzlichen Ausgestaltung. Rechtsschutz ist eine staatliche Leistung, deren Voraussetzungen erst geschaffen, deren Art näher bestimmt und deren Umfang im Einzelnen festgelegt werden müssen. Art. 19 Abs. 4 GG gibt dem Gesetzgeber dabei nur die Zielrichtung und die Grundzüge der Regelung vor, lässt ihm im Übrigen aber einen beträchtlichen Gestaltungsspielraum. Doch darf er die Notwendigkeit einer umfassenden Nachprüfung des Verwaltungshandelns in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht und eine dem Rechtsschutzbegehren angemessene Entscheidungsart und Entscheidungswirkung nicht verfehlen (vgl. BVerfGE 101, 106 <123 f.>).

48

Dabei fordert Art. 19 Abs. 4 GG zwar keinen Instanzenzug (vgl. BVerfGE 78, 88 <99>; 87, 48 <61>). Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen (vgl. BVerfGE 78, 88 <98 f.>; 96, 27 <39>; 104, 220 <232>). Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbar ist eine den Zugang zu einem Rechtsmittel erschwerende Auslegung und Anwendung der einschlägigen Verfahrensvorschriften, wenn sie sachlich nicht zu rechtfertigen ist, sich damit als objektiv willkürlich erweist und dadurch den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar erschwert (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. November 2008 - 1 BvR 2587/06 -, NJW 2009, S. 572 <573>). Das Gleiche gilt, wenn das Prozessrecht - wie hier in den §§ 124, 124a VwGO - den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gibt, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten. Dieses Gebot wiederum beansprucht Geltung nicht nur hinsichtlich der Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, sondern in entsprechender Weise ebenso für die Auslegung und Anwendung der Zulassungsgründe selbst (vgl. BVerfGK 10, 208 <213>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. September 2009 - 1 BvR 814/09 -, NJW 2009, S. 3642).

49

b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht gerecht. Die von dem Verwaltungsgericht gefundene Auslegung der maßgeblichen landesrechtlichen Vorschriften ist mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar. Indem sich das Verwaltungsgericht weigerte, im Rahmen der Kontrolle des Heranziehungsbescheides inzident die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Ingewahrsamnahme zu überprüfen, hat es seine Pflicht zu einer in rechtlicher Hinsicht umfassenden Nachprüfung des Verwaltungshandelns verletzt.

50

aa) Der Landesgesetzgeber hat sich mit § 19 Abs. 3 NGefAbwG a.F. dafür entschieden, den Amtsgerichten im Wege der abdrängenden Sonderzuweisung nach § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO den Rechtsschutz unmittelbar gegen die Ingewahrsamnahme anzuvertrauen, dagegen die nachgelagerte Prüfung der Rechtmäßigkeit des auf der Ingewahrsamnahme beruhenden Heranziehungsbescheides und, auf das Versammlungsrecht bezogen, die vorgelagerte Prüfung der Rechtmäßigkeit der Auflösung der Versammlung bei den Verwaltungsgerichten zu belassen. Diese gesetzgeberische Entscheidung führt bei einer Kette von Hoheitsakten im Ergebnis zu einer Rechtswegspaltung. Eine solche Rechtswegspaltung hat indes nicht automatisch zur Folge, dass es einem angerufenen Gericht verwehrt ist, Vorfragen zu prüfen, die, wären sie Hauptfrage, in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Gerichts fielen.

51

Gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG, der über § 83 Satz 1 VwGO auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit Anwendung findet, gilt der Grundsatz, dass das Gericht des zulässigen Rechtsweges den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten entscheidet. Dies bedeutet nach allgemeinem Verständnis, dass das Gericht des zulässigen Rechtsweges auch rechtswegfremde, entscheidungserhebliche Vorfragen prüft und über sie entscheidet (vgl. zur Intention des Gesetzgebers: Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vom 27. April 1990, BTDrucks 11/7030, S. 37; aus der Literatur: Kissel/Mayer, GVG, 5. Aufl. 2008, § 13 Rn. 17; Wittschier, in: Musielak, ZPO und Nebengesetze, 7. Aufl. 2009, § 17 GVG Rn. 1; Reimer, in: Posser/Wolff, Beck`scher Online-Kommentar VwGO, § 40, Rn. 228; Zimmermann, in: Münchener Kommentar, ZPO und Nebengesetze, 3. Aufl. 2008, § 17 GVG Rn. 2).

52

Bei der Frage der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Ingewahrsamnahme handelt es sich um eine solche entscheidungserhebliche Vorfrage im Sinne von § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG. Sie betrifft die Auslegung und Anwendung des in § 18 NGefAG a.F. geregelten Gewahrsams. Unmittelbarer Prüfungsgegenstand in dem verwaltungsgerichtlichen Ausgangsverfahren ist der gemäß §§ 3 Abs. 1, 14 NVwKostG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 AllGO in Verbindung mit Nrn. 67.1 und Nr. 67.2 der Anlage erlassene Heranziehungsbescheid. Im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit des staatlichen Zahlungsanspruchs in Form des Heranziehungsbescheides ist nach § 11 Abs. 1 NVwKostG auch die Rechtmäßigkeit der zugrunde liegenden Amtshandlung zu untersuchen, da die Vorschrift einen Kostenerlass bei "unrichtiger Sachbehandlung" vorsieht. Dieser Kostenerlass gilt auch für rechtswidrige Realakte (vgl. speziell für das niedersächsische Landesrecht: Loeser, NVwKostG, Lfg. 1999, § 1, S. 17, und § 11, S. 2 ff.).

53

Etwas anderes kann das Verwaltungsgericht verfassungsrechtlich tragfähig nicht allein darauf stützen, dass der niedersächsische Landesgesetzgeber mit § 19 Abs. 3 Satz 1 und 2 NGefAbwG a.F. in Verbindung mit § 19 Abs. 1 und 2 NGefAG a.F. neben dem präventiven, gegen die noch andauernde Freiheitsentziehung gerichteten Rechtsschutz auch den nachträglichen, auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsbeschränkung abzielenden Rechtsschutz nach deren Beendigung den Amtsgerichten zugewiesen hat. § 19 Abs. 3 Satz 1 und 2 NGefAG a.F. ordnet seinem Wortlaut nach auch nicht andeutungsweise an, dass mit der Zuweisung der Überprüfung des freiheitsbeeinträchtigenden Hoheitsaktes an die Amtsgerichte im Falle eines weiteren daran anknüpfenden Hoheitsaktes, der vor den Verwaltungsgerichten angegriffen werden muss, letzteren ausnahmsweise die inzidente Prüfung des freiheitsbeeinträchtigenden Hoheitsaktes verwehrt sein soll. Aus der Gesetzesbegründung bei Einführung der Regelung ist ein solcher Ausschluss ebenfalls nicht herzuleiten (vgl. Gesetzentwurf der Landesregierung für ein Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung vom 16. Oktober 1979, LTDrucks 9/1090, S. 81). Dass der Gesetzgeber die Frage der Rechtmäßigkeit einer Ingewahrsamnahme auch dort, wo sie nur Vorfrage ist, immer einem vorgelagerten eigenen Rechtsschutzverfahren vor den ordentlichen Gerichten vorbehalten wollte und unter dem Gesichtspunkt des Gebots effektiven Rechtsschutzes zumutbar vorbehalten konnte, legt das Verwaltungsgericht auch sonst nicht in einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Weise dar. Ohne hinreichenden Grund weicht es somit von dem Gebot, den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden, ab.

54

bb) Soweit das Verwaltungsgericht darauf verweist, dass einer Inzidentprüfung der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Ingewahrsamnahme durch die Verwaltungsgerichte Erwägungen der Prozessökonomie entgegenstünden, genügen diese Ausführungen den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Das Verwaltungsgericht sieht dabei das Amtsgericht als das gegenüber den Verwaltungsgerichten insoweit sach- und ortsnähere Gericht an. Es hat dem Beschwerdeführer vorgehalten, dass es in dessen Risikobereich falle, wenn er von der Rechtsschutzmöglichkeit vor den Amtsgerichten nach § 19 Abs. 2 Satz 1 NGefAG a.F. keinen Gebrauch mache. Dieser Einwand greift indes nicht durch.

55

Von einer zurechenbaren Versäumung eigener Rechtsverteidigung kann nur dort gesprochen werden, wo der Regelungsgehalt und die Folgen eines Hoheitsaktes innerhalb der für die Einlegung des Rechtsbehelfs vorgesehenen Frist erkennbar sind (vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Rn. 239 ). Das einschlägige Landesrecht schließt die Inzidentprüfung der polizeilichen Ingewahrsamnahme durch die Verwaltungsgerichte im Rahmen der Kontrolle nachgelagerter Hoheitsakte weder für den Einzelnen erkennbar aus noch ordnet es - wie in anderen Bereichen für gestuftes behördliches Handeln - auf der Grundlage eines formalisierten Verfahrens eine materielle Präklusion der gegen die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme gerichteten Einwände an. Der Hoheitsakt der polizeilichen Ingewahrsamnahme entfaltet daher für den später erlassenen Heranziehungsbescheid keine wie auch immer geartete Vorwirkung (vgl. § 11 Abs. 1 NVwKostG). Dementsprechend muss sich der betroffene Bürger, wendet er sich gegen den später erlassenen Heranziehungsbescheid, nicht entgegenhalten lassen, dass er zuvor von der Rechtsschutzmöglichkeit gegen die polizeiliche Ingewahrsamnahme keinen Gebrauch gemacht hat.

56

Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht auch nicht geprüft, ob dem Beschwerdeführer nach der damals geltenden gesetzlichen Ausgestaltung des Rechtswegs diese Rechtsschutzmöglichkeit tatsächlich offen stand. Die Vorschrift des § 19 Abs. 2 Satz 1 NGefAG a.F. eröffnete den Rechtsweg zu den Amtsgerichten nur für den Fall, dass die Freiheitsbeschränkung entweder länger als acht Stunden andauerte oder für die Feststellung ein "sonstiges berechtigtes Interesse" bestand. Innerhalb der Monatsfrist kam ein solcher Feststellungsantrag jedoch nicht in Betracht, weil der Beschwerdeführer die hierfür gesetzlich speziell ausgeformte Sachentscheidungsvoraussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses nicht erfüllte (vgl. zu den Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit dieser speziellen Anforderungen: OLG Celle, Beschluss vom 13. Januar 2003 - 17 W 40/02 - unter Berufung auf: BVerfGE 104, 220 <235>; im Anschluss daran: Gesetzentwurf der Landesregierung für ein Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung vom 16. Oktober 1979, LTDrucks 9/1090, S. 81). Weder dauerte die polizeiliche Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers länger als acht Stunden, noch legt das Verwaltungsgericht näher dar, dass der Beschwerdeführer ein gesichertes "sonstiges berechtigtes Interesse" im Sinne der Vorschrift des § 19 Abs. 2 Satz 1 NGefAG a.F. an einer gerichtlichen Feststellung hätte geltend machen können. Der Hinweis des Verwaltungsgerichts auf eine seiner Ansicht nach vorrangige Entscheidung der Amtsgerichte geht damit ins Leere.

57

cc) Die weiteren Erwägungen des Verwaltungsgerichts erweisen sich verfassungsrechtlich ebenfalls als nicht tragfähig. Da Rechtsschutz nach § 19 Abs. 2 Satz 1 NGefAG a.F nicht in Betracht kam, greift dementsprechend der vom Verwaltungsgericht geltend gemachte Einwand bezüglich der - gegenüber den Verwaltungsgerichten herausgehobenen - Sach- und Ortsnähe der Amtsgerichte nicht durch. Auch der von dem Verwaltungsgericht in der Sache vertretene Standpunkt, dem Grundrechtsschutz werde dadurch Genüge getan, dass zwar nicht die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme, wohl aber die Rechtmäßigkeit der Auflösung der Versammlung, die der Ingewahrsamnahme vorausging, geprüft werde, trägt nicht. Die Prüfung, ob die Auflösung der Versammlung gemäß dem Versammlungsgesetz des Bundes rechtmäßig war, vermag den Verzicht auf die Prüfung, ob die Ingewahrsamnahme nach niedersächsischem Polizeirecht rechtmäßig war, nicht zu kompensieren. Beide Maßnahmen unterfallen jeweils unterschiedlichen Regelungsregimen, die sich gegenseitig ausschließen. Das Versammlungsgesetz geht in seinem Anwendungsbereich als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor (vgl. BVerfGK 4, 154 <158>). Auch decken sich die Tatbestandsvoraussetzungen für die Auflösung nicht annähernd mit denjenigen für die Ingewahrsamnahme. Diese setzt in formeller Hinsicht voraus, dass entweder nach § 19 Abs. 1 Satz 1 NGefAG a.F unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung herbeigeführt wird beziehungsweise dass nach § 19 Abs. 1 Satz 2 NGefAG a.F ausnahmsweise auf die Einhaltung des Richtervorbehalts verzichtet werden kann. In materieller Hinsicht ist für eine rechtmäßige Ingewahrsamnahme erforderlich, dass sie gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b NGefAG a.F unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit zu verhindern, oder dass sie gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 3 NGefAG a.F unerlässlich ist, um eine Platzverweisung nach § 17 NGefAG a.F durchzusetzen. Schließlich ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, insbesondere im Hinblick auf die Dauer der Maßnahme, vorzunehmen (vgl. 4 Abs. 3 NGefAG a.F).

58

c) Auch die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Das Oberverwaltungsgericht hat den Zugang des Beschwerdeführers zum Berufungsrechtszug dadurch in unzumutbarer Weise erschwert, dass es die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in sachlich nicht zu rechtfertigender und damit willkürlicher Art und Weise abgelehnt hat.

59

Von grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist eine Rechtssache immer dann, wenn es maßgebend auf eine konkrete, über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage ankommt, deren Klärung im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts geboten erscheint.

60

Ausgehend hiervon hat das Oberverwaltungsgericht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage zum Zeitpunkt der Entscheidung in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise verneint. Insbesondere durfte es die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage nicht, worauf es seine Entscheidung maßgeblich stützt, unter Verweis auf den (eigenen) im Prozesskostenhilfeverfahren unter anderen Verfahrensbeteiligten ergangenen Beschluss vom 21. November 2003 - 11 PA 345/03 - (NVwZ 2004, S. 760 <760 f.>) verneinen. Aufgrund seines lediglich summarischen Charakters darf das Prozesskostenhilfeverfahren nicht dazu benutzt werden, über ungeklärte Rechtsfragen abschließend vorweg zu entscheiden. Ein Fachgericht, das § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass auch schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfe-Verfahren "durchentschieden" werden können, verkennt die Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit (vgl. BVerfGE 81, 347 <358 f.>).

61

Die von dem Oberverwaltungsgericht in dem Prozesskostenhilfebeschluss als Referenz herangezogene Rechtsprechung belegt auch nicht, dass die Rechtsfrage anderweitig einer gerichtlichen Klärung zugeführt worden wäre. Der zitierte Beschluss aus der Zivilgerichtsbarkeit (vgl. OLG Schl.-H., Beschluss vom 25. April 2001 - 2 W 29/01 -, NVwZ Beilage Nr. I 3 2002, S. 47) stellt lediglich in Bezug auf die nicht eindeutig formulierte Vorschrift des § 13 Abs. 2 FrhEntzG a.F. klar, dass die Amtsgerichte die Prüfungskompetenz für den auf nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der erledigten Freiheitsentziehung abzielenden Rechtsschutz besitzen. Zu der hier maßgeblichen, weitergehenden Rechtsfrage, ob den Verwaltungsgerichten im Rahmen der Kontrolle eines Heranziehungsbescheides die inzidente Prüfung der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Ingewahrsamnahme verwehrt ist, äußert sich der Beschluss indes nicht. Gleiches gilt für das als Referenz aufgeführte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwGE 62, 317 <321 ff.>), in welchem lediglich dem Rechtsschutz nach § 13 Abs. 2 a.F. FrhEntzG der Vorrang vor den (parallelen) Rechtsschutzmöglichkeiten nach der Verwaltungsgerichtsordnung eingeräumt wird. Zu der hier maßgeblichen, weitergehenden Rechtsfrage verhält sich das Urteil ebenfalls nicht.

62

Das Oberverwaltungsgericht konnte sich auch nicht darauf stützen, dass die Rechtsfrage sich ohne Weiteres aus Anwendung anerkannter Auslegungsmethoden ergab, da der von dem Verwaltungsgericht - unter Berücksichtigung des genannten Prozesskostenhilfebeschlusses seines Obergerichts - vertretene Rechtsstandpunkt, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, zu den gesetzlichen Vorgaben und auch sonst anerkannten Auslegungsmethoden in Widerspruch stand.

63

Nach alledem durfte das Oberverwaltungsgericht die Rechtsfrage mit dieser Argumentation nicht als geklärt ansehen und den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung ablehnen. Mit der angegriffenen Entscheidung hat das Oberverwaltungsgericht den vom Gesetzgeber für Fragen von grundsätzlicher Bedeutung vorgesehenen Rechtsschutz im Berufungsverfahren in sachlich nicht zu rechtfertigender und damit willkürlicher Weise verkürzt.

64

d) Die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen beruhen auf den festgestellten Verfassungsverstößen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen zu einer anderen für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangen werden.

65

3. Auf die vom Beschwerdeführer behaupteten Verstöße gegen weitere Grundrechte kommt es demnach nicht mehr an.

66

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

67

5. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG.

68

Diese Entscheidung ist nach § 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG unanfechtbar.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

1.
ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
2.
daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieser Vorschrift sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. § 27 Absatz 4 gilt entsprechend.

(1a) Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Stellungnahme

1.
eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,
2.
eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, eines Psychotherapeuten mit einer Weiterbildung für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen oder
3.
eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt,
einzuholen. Die Stellungnahme ist auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen. Dabei ist auch darzulegen, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. Enthält die Stellungnahme auch Ausführungen zu Absatz 1 Satz 1 Nummer 2, so sollen diese vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe im Rahmen seiner Entscheidung angemessen berücksichtigt werden. Die Hilfe soll nicht von der Person oder dem Dienst oder der Einrichtung, der die Person angehört, die die Stellungnahme abgibt, erbracht werden.

(2) Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall

1.
in ambulanter Form,
2.
in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen,
3.
durch geeignete Pflegepersonen und
4.
in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet.

(3) Aufgabe und Ziele der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie Art und Form der Leistungen richten sich nach Kapitel 6 des Teils 1 des Neunten Buches sowie § 90 und den Kapiteln 3 bis 6 des Teils 2 des Neunten Buches, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden und sich aus diesem Buch nichts anderes ergibt.

(4) Ist gleichzeitig Hilfe zur Erziehung zu leisten, so sollen Einrichtungen, Dienste und Personen in Anspruch genommen werden, die geeignet sind, sowohl die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen als auch den erzieherischen Bedarf zu decken. Sind heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind, in Tageseinrichtungen für Kinder zu gewähren und lässt der Hilfebedarf es zu, so sollen Einrichtungen in Anspruch genommen werden, in denen behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam betreut werden.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(2) Ein in der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisantrag kann nur durch einen Gerichtsbeschluß, der zu begründen ist, abgelehnt werden.

(3) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

(4) Die Beteiligten sollen zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Schriftsätze einreichen. Hierzu kann sie der Vorsitzende unter Fristsetzung auffordern. Die Schriftsätze sind den Beteiligten von Amts wegen zu übermitteln.

(5) Den Schriftsätzen sind die Urkunden oder elektronischen Dokumente, auf die Bezug genommen wird, in Abschrift ganz oder im Auszug beizufügen. Sind die Urkunden dem Gegner bereits bekannt oder sehr umfangreich, so genügt die genaue Bezeichnung mit dem Anerbieten, Einsicht bei Gericht zu gewähren.

(1) Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

1.
ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
2.
daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieser Vorschrift sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. § 27 Absatz 4 gilt entsprechend.

(1a) Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Stellungnahme

1.
eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,
2.
eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, eines Psychotherapeuten mit einer Weiterbildung für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen oder
3.
eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt,
einzuholen. Die Stellungnahme ist auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen. Dabei ist auch darzulegen, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. Enthält die Stellungnahme auch Ausführungen zu Absatz 1 Satz 1 Nummer 2, so sollen diese vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe im Rahmen seiner Entscheidung angemessen berücksichtigt werden. Die Hilfe soll nicht von der Person oder dem Dienst oder der Einrichtung, der die Person angehört, die die Stellungnahme abgibt, erbracht werden.

(2) Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall

1.
in ambulanter Form,
2.
in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen,
3.
durch geeignete Pflegepersonen und
4.
in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet.

(3) Aufgabe und Ziele der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie Art und Form der Leistungen richten sich nach Kapitel 6 des Teils 1 des Neunten Buches sowie § 90 und den Kapiteln 3 bis 6 des Teils 2 des Neunten Buches, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden und sich aus diesem Buch nichts anderes ergibt.

(4) Ist gleichzeitig Hilfe zur Erziehung zu leisten, so sollen Einrichtungen, Dienste und Personen in Anspruch genommen werden, die geeignet sind, sowohl die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen als auch den erzieherischen Bedarf zu decken. Sind heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind, in Tageseinrichtungen für Kinder zu gewähren und lässt der Hilfebedarf es zu, so sollen Einrichtungen in Anspruch genommen werden, in denen behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam betreut werden.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

(1) Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Prozesskostenhilfe sowie § 569 Abs. 3 Nr. 2 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend. Einem Beteiligten, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann auch ein Steuerberater, Steuerbevollmächtigter, Wirtschaftsprüfer oder vereidigter Buchprüfer beigeordnet werden. Die Vergütung richtet sich nach den für den beigeordneten Rechtsanwalt geltenden Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes.

(2) Die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach den §§ 114 bis 116 der Zivilprozessordnung einschließlich der in § 118 Absatz 2 der Zivilprozessordnung bezeichneten Maßnahmen, der Beurkundung von Vergleichen nach § 118 Absatz 1 Satz 3 der Zivilprozessordnung und der Entscheidungen nach § 118 Absatz 2 Satz 4 der Zivilprozessordnung obliegt dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des jeweiligen Rechtszugs, wenn der Vorsitzende ihm das Verfahren insoweit überträgt. Liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe hiernach nicht vor, erlässt der Urkundsbeamte die den Antrag ablehnende Entscheidung; anderenfalls vermerkt der Urkundsbeamte in den Prozessakten, dass dem Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Prozesskostenhilfe gewährt werden kann und in welcher Höhe gegebenenfalls Monatsraten oder Beträge aus dem Vermögen zu zahlen sind.

(3) Dem Urkundsbeamten obliegen im Verfahren über die Prozesskostenhilfe ferner die Bestimmung des Zeitpunkts für die Einstellung und eine Wiederaufnahme der Zahlungen nach § 120 Absatz 3 der Zivilprozessordnung sowie die Änderung und die Aufhebung der Bewilligung der Prozesskostenhilfe nach den §§ 120a und 124 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 der Zivilprozessordnung.

(4) Der Vorsitzende kann Aufgaben nach den Absätzen 2 und 3 zu jedem Zeitpunkt an sich ziehen. § 5 Absatz 1 Nummer 1, die §§ 6, 7, 8 Absatz 1 bis 4 und § 9 des Rechtspflegergesetzes gelten entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Rechtspflegers der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle tritt.

(5) § 87a Absatz 3 gilt entsprechend.

(6) Gegen Entscheidungen des Urkundsbeamten nach den Absätzen 2 und 3 kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe die Entscheidung des Gerichts beantragt werden.

(7) Durch Landesgesetz kann bestimmt werden, dass die Absätze 2 bis 6 für die Gerichte des jeweiligen Landes nicht anzuwenden sind.

(1) Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Für die grenzüberschreitende Prozesskostenhilfe innerhalb der Europäischen Union gelten ergänzend die §§ 1076 bis 1078.

(2) Mutwillig ist die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung, wenn eine Partei, die keine Prozesskostenhilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände von der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung absehen würde, obwohl eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts können vorbehaltlich des § 99 Abs. 2 und des § 133 Abs. 1 dieses Gesetzes sowie des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angefochten werden.

(2) Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt für Entscheidungen des beauftragten oder ersuchten Richters oder des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle § 151 entsprechend.