Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 25. Sept. 2012 - L 7 SB 29/10

ECLI:ECLI:DE:LSGST:2012:0925.L7SB29.10.0A
25.09.2012

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

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Der Kläger begehrt die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung).

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Der ... 1942 geborene Kläger beantragte am 13. Juni 1993 nach einem schweren Arbeitsunfall die Feststellung von Behinderungen. Nach einem Teilbescheid vom 18. Oktober 1993 stellte der Beklagte nach Abschluss des unfallversicherungsrechtlichen Verfahrens der zuständigen Berufsgenossenschaft mit Bescheid vom 11. Januar 1996 folgende Behinderungen fest:

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„Erhebliche Bewegungs- und Belastungseinschränkung des rechten Beines bei schwerer Arthrose im Kniegelenksbereich nach Unterschenkeltrümmerfraktur und nachfolgender Amputation des rechten Fußes oberhalb des Sprunggelenks; Funktionseinschränkung rechtes Schultergelenk bei Ernährungsstörung der Schultermuskulatur und flächenhafter Narbenbildung über dem Schulterblatt nach Fraktur des Schulterblattes rechts; in Fehlstellung verheilte Schlüsselbeinfraktur rechts und ausgedehnten Hautablederungen im rechten Schulterbereich; inkomplette Lähmung, ruhende Knochenmarkentzündung und Operationsnarbenbildung im Bereich des rechten Oberarms sowie Bewegungseinschränkungen des Ellenbogengelenks nach Oberarmmehretagenfraktur; Verlust des Spitz- /Feingriffes und mit Einschränkung von Schlüsselgriff, Faustschluss und der groben Kraft der linken Hand nach offenen Gelenkfrakturen der Finger II und III; Amputation des Zeigefingers sowie Versteifung des Mittelgelenks des III Fingers der linken Hand; Narbenbildung rechter Kopfbereich nach multiplen Kopfplatzwunden (BG Bescheid).“

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Der Grad der Behinderung (GdB) wurde mit 80 bewertet und die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ festgestellt.

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Am 11. September 2001 beantragte der Kläger wegen zwischenzeitlich eingetretener Sehstörungen eine Neufeststellung. Nach Durchführung von medizinischen Ermittlungen stellte der Beklagte zusätzlich eine Sehbehinderung fest (Einzel-GdB 10), lehnte jedoch eine Erhöhung des Gesamt-GdB mit bestandskräftigem Bescheid vom 15. Februar 2002 ab.

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Am 22. Juni 2006 beantragte der Kläger wegen einer Amputation des rechten Beins eine Neufeststellung sowie die Feststellung des Merkzeichens „aG“. Der Beklagte holte Unterlagen der Berufsgenossenschaftlichen Klinik B... ein. Nach einem Schreiben der Klinik vom 29. Juni 2006 war beim Kläger am 21. Juni 2006 eine Oberschenkelamputation rechts sowie eine offene Stumpfbehandlung vorgenommen worden. Im weiteren Verlauf der Behandlung habe er eine Oberschenkelprothese erhalten. Nach einem Schreiben der Klinik vom 16. Oktober 2006 habe der Kläger keine Beschwerden an der Prothese angegeben. Mit Bescheid vom 22. Februar 2007 lehnte der Beklagte die Neufeststellung ab. Hiergegen richtete sich der Widerspruch des Klägers vom 28. Februar 2007: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ seien gegeben. Aufgrund der erheblichen Folgen des Arbeitsunfalls sei er auf den ständigen Gebrauch von zwei Gehstützen angewiesen. Die Prothese gebe dabei keinen hinreichenden Halt. So könne er sich auf unebenem Untergrund nur unter Mühen mit den Gehhilfen über kurze Wegstrecken fortbewegen. Ohne die Gehhilfen komme es zum Einknicken der Prothese und zu einem völligen Verlust der Standfestigkeit. Hierbei wirkten sich insbesondere die Funktionseinschränkungen im oberen Bewegungsapparat sehr nachteilig aus. Wegen dieser Funktionseinschränkungen sei eine längere Wegstrecke von mehr als 100 m nicht zu bewältigen. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 2. Mai 2007 (Ab-Vermerk: 3. Mai 2007) zurück: Es bestehe kein Leidens

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zustand, der die Fortbewegung auf das Schwerste behindere.

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Hiergegen hat der Kläger am 6. Juni 2007 Klage beim Sozialgericht Halle (SG) erhoben und sein Begehren weiterverfolgt. Ergänzend hat er geltend gemacht: Bereits nach kurzen Wegstrecken sei er stark erschöpft und benötige Erholungspausen. Die Überwindung von Treppenstufen sei nur unter allergrößter Kraftanstrengung möglich. Gerade das Zusammenwirken verschiedener körperlicher Behinderungen führe bei ihm zu einer gravierenden Einschränkung der Gehfähigkeit.

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Das SG hat u.a. Befundberichte von der Berufsgenossenschaftlichen Klinik B... vom 4. Juli 2008 sowie vom Facharzt für Chirurgie, plastische Chirurgie, Handchirurgie Dr. B... vom 12. Juli 2008 eingeholt. Privatdozent Dr. S... (Klinik B...) hat angegeben, der Kläger leide dauerhaft unter starken Stumpfschmerzen entsprechend den Stufen 8 bis 10 der Schmerzskala NRS (Höchststufe 10). Seit dem Jahr 2006 seien die Befunde deutlich verbessert; letztmalig habe sich der Kläger am 4. Februar 2008 in der Schmerzambulanz vorgestellt. Es bestehe ein Zustand nach Oberschenkelamputation (rechts), mit prothetischer Versorgung. Dr. B... hat mitgeteilt, dass die verordnete Prothese auf der rechten Seite genutzt werde. Der Gang des Klägers sei verlangsamt, mühsam und rechtsbetont kleinschrittig. Entfernungen von 30 bis 50 m könne er problemlos bewältigen und sich auch selbstständig außerhalb eines Kraftfahrzeuges fortbewegen.

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Der Kläger hat hierzu ergänzend angegeben: Durch eine Umstellung der Schmerzmedikation habe sich die Schmerzbelastung zumindest tagsüber gebessert. In der Nacht und bei längerem Gehen verstärkten sich diese jedoch so erheblich, dass er Schmerzmittel einnehmen müsse. Immer wieder habe die von ihm genutzte Prothese angepasst werden müssen. So habe er aktuell bereits die dritte Prothesenversion erhalten, die immer noch nicht richtig sitze. Auch habe er beim Gehen die Prothese wiederholt „verloren“. Zur Glaubhaftmachung hat der Kläger ein Schreiben von Chefarzt Privatdozent Dr. S... (Klinik B...) vom 16. Oktober 2008 vorgelegt. Hiernach habe eine interdisziplinäre Amputierten- und Prothesenkonferenz vom selben Tage Folgendes ergeben: Der Kläger habe prothesentechnische Probleme. Nach zahlreichen Versuchen, eine passgerechte Gestaltung des Prothesenschafts zu erreichen, sei man nun dazu übergegangen, einen quer- und längsovalen Schafft einzusetzen. Insbesondere die „weichen Weichteile“ am Stumpfende, die sehr verschiebbar seien, verhinderten eine optimale Schaftversorgung. Es solle nochmals eine neue Schaftversorgung vorgenommen werden. Habe diese keinen Erfolg, müsse eine operative Revision in Erwägung gezogen werden.

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Nach einem Erörterungstermin des SG vom 14. Januar 2009 hat der Kläger am 18. Februar 2009 einen Antrag auf Sachverständigengutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gestellt und als Sachverständigen Privatdozent Dr. B... (M...-Klinik, B... K...) benannt. Daraufhin haben der Arzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Rehabilitationswesen (B... K...) Dr. L... ein neurologisches Gutachten vom 24. August 2009 und Privatdozent Dr. B... ein orthopädischen Gutachten vom 28. September 2009 erstattet.

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Dr. L... hat die Ansicht vertreten, dass im Vergleich zu Querschnittsgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten, Doppelunterschenkelamputierten, Hüftexartikulierten und einseitig Oberschenkelamputierten, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können, die Anstrengung des Klägers beim Gehen geringer einzuschätzen sei. So könne er auch nach eigener Bewertung über 100 m mit der Prothese und an Unterarmstützen gehen. Im Gegensatz zu Doppeloberschenkelamputierten könne er das fast gesunde linke Bein für die Kraft und Koordination einsetzen. Bei ihm bestehe jedoch eine unbefriedigende Prothesenversorgung. Insbesondere sei er auf eine komplette Öffnung der Fahrertür angewiesen und benötige Parkplätze mit besonderer Breite.

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Privatdozent Dr. B... hat ausgeführt: Im Rahmen der Untersuchung habe der Kläger angegeben: Noch bis zum Sommer 2006 habe er sich ohne Gehhilfen voll mobil bewegen können. Nunmehr fühle er sich beim Laufen sehr unsicher. Beim Aussteigen benötige er die voll geöffnete Fahrertür, da er die Prothese sowie das linke Bein gleichzeitig nach außen bringen müsse. An guten Tagen könne er ca. 100 m laufen. Die derzeitige Prothese halte schon mal zweieinhalb Stunden. Dann lockere sie sich, ziehe Luft und verursache Geräusche. In diesen Fällen müsse er pausieren und die Prothese neu anlegen. Mit der derzeitigen Schmerzmedikation komme er so über den Tag. Der Kläger erreiche mit beiden Unterarmgehstützen eine Gehgeschwindigkeit, die etwa der Hälfte der normalen Gehgeschwindigkeit entspreche. Es sei von folgenden Diagnosen auszugehen:

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• Gang- und Mobilitätseinschränkung bei Zustand nach Oberschenkelamputation rechts mit ungünstigen Stumpfverhältnissen (Weichteile und knöchern) und dadurch bedingter erschwerter prothetischer Versorgung.

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• Funktionseinschränkung des rechten Schultergürtels bei Zustand nach Fraktur des Schulterblatts und des Schlüsselbeins, eine Störung der Schultermuskulatur sowie flächiger Narbenbildung.

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• Einschränkung der Handfunktion links mehr als rechts, links mit Verlust der Fähigkeit von Spitz-, Fein und Schlüsselbegriff sowie Versteifung des Mittelgelenks III.

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• Anhaltender attackenförmiger Phantomschmerz rechtes Bein sowie belastungsabhängiger Stumpfschmerz mit Einfluss auf die Gehfähigkeit und Mobilität.

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Bei der 45-minütigen Erhebung der Krankengeschichte und, soweit beobachtet, beim Warten bis zum Beginn der Begutachtung habe der Kläger eine weitgehend normale Sitzhaltung ohne auffällige Positionswechsel einhalten können. Eine Entlastung des Gehens durch die Nutzung von Unterarmgehstützen sei erschwert, jedoch eingeschränkt möglich. Nach den Angaben des Klägers sowie aus eigener Verhaltensbeobachtung sei auf eine Begrenzung der Kraft und Ausdauer erst nach Gehstrecken von rund 100 m zu schließen. Zusammenfassend sei von einem Gesamt-GdB von 80 auszugehen. Luftnot als Zeichen körperlicher Erschöpfung habe nicht festgestellt werden können. Die Erschöpfung sei auf eine körperliche Ermüdung im Sinne nachlassender muskulärer Ausdauerfähigkeit zurückzuführen. Da beim Kläger die linke untere Extremität bis auf eine leichte Polyneuropathie funktional gering eingeschränkt sei, könne er mit dem Gehvermögen eines prothetisch versorgten Doppeloberschenkelamputierten nicht gleichgesetzt werden. Unter Inkaufnahme von zumutbaren Schmerzen bzw. Luftnot bzw. Erschöpfung könne er Strecken von ca. 150 bis 200 m zurücklegen. Ihm bereiteten das Besteigen sowie das Verlassen seines Kraftfahrzeugs Schwierigkeiten. Er müsse sich komplett mit beiden Beinen gleichzeitig einschließlich Oberkörper nach außen drehen und das rechte Bein nach außen heben. Hierbei müsse die Fahrertür vollständig geöffnet sein. Er müsse sich dann festhalten, um sicheren Stand zu gewinnen. Unmittelbar danach sei ein „Entlüften des Schaftes“ notwendig, um die Haftung der Prothese am Oberschenkelstumpf zu optimieren. Zusammenfassend seien die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ nicht gegeben. Hiergegen sprächen der Grad der Anstrengung sowie die eintretende Erschöpfung beim Gehen, die geringer seien als bei Querschnittsgelähmten, Doppelschenkelamputierten und vergleichbar aufgeführten Gruppen. Von einer „auf das Schwerste“ bestehenden Einschränkung der Gehfähigkeit könne nicht gesprochen werden. Zweifellos bestünden für den Kläger jedoch erhebliche Schwierigkeiten, das Kraftfahrzeug auf normalen PKW-Stellplätzen zu verlassen.

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Das SG hat die Klage mit Urteil vom 16. April 2010 abgewiesen: Der Kläger sei nur dann dem Personenkreis für das Merkzeichen „aG“ gleichzustellen, wenn er praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeugs an nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung sich weiter fortbewegen könne. Der gleichzusetzende Personenkreis erfasse daher nur solche Schwerbehinderte, deren Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sei und die sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen oder mit entsprechender Hilfeleistung fortbewegen können. Die vorliegenden Befunde sowie medizinischen Einschätzungen ließen keinen Rückschluss zu, dass die Gehfähigkeit des Klägers auf das Schwerste eingeschränkt sei. So fänden sich weder Hinweise für besondere Erschöpfungszustände, Luftnot sowie Schmerzzustände oder funktionale Einschränkungen. Insbesondere die linke untere Extremität, die mit Ausnahme einer leichten Polyneuropathie lediglich geringe funktionale Defizite aufweise, lasse eine Gleichsetzung mit prothetisch versorgten Doppeloberschenkelamputierten oder ähnlichen Fallgruppen nicht zu. So könne der Kläger nach Einschätzung von Privatdozent Dr. B... die ersten 100 m ohne Pause und ohne unzumutbare Beeinträchtigungen bewältigen.

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Gegen das ihm am 21. Mai 2010 zugestellte Urteil hat der Kläger am 9. Juni 2010 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen Anhalt eingelegt und ergänzend geltend gemacht: Es bestünden bereits Bedenken, ob die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizinverordnung für Merkzeichen ab dem 1. Januar 2009 anwendbar sei. Außerdem gehöre er zu der Gruppe von Personen, die „dauerhaft außerstande sind“, ein Kunstbein zu tragen. So habe er bereits das sechste Prothesensystem seit dem Jahr 2006 erhalten. Aufgrund dieser völlig ungenügenden prothetischen Versorgung sei sein Zustand mit dem desjenigen gleichzusetzen, der dauerhaft ein Kunstbein nicht tragen könne. Die Vorinstanz habe seine Multimorbidität gerade im Bereich der oberen Extremitäten nicht hinreichend gewürdigt. Zur Glaubhaftmachung hat der Kläger diverse Rechnungen seiner für ihn arbeitenden orthopädischen Werkstatt vorgelegt. Ferner macht er geltend: Das Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. Dezember 2008 (UN-BRK) sei Bundesgesetz geworden und als Auslegungshilfe auch für das Merkzeichen „aG“ zu beachten. Bereits der grundlegende Denkansatz der bisherigen Rechtsprechung sei fehlerhaft, da die von dem Beklagten herangezogenen Vergleichsgruppen jeweils auch behindert seien. Nach dem neuen Bundesgesetz müsse jedoch der Vergleichsmaßstab der gesunde Mensch sein. Die vom Beklagten erteilte Parkerleichterung helfe nicht weiter, da sie lediglich auf das Land Sachsen-Anhalt beschränkt sei. Der Kläger hat ein unfallchirurgisches Gutachten von Prof. Dr. H... (Berufsgenossenschaftliche Kliniken H...) vom 23. Mai 2011 vorgelegt. Hiernach habe sich seit dem letzten Gutachten vom 6. April 1995 eine wesentliche Veränderung eingestellt. Nach der Oberschenkelamputation rechts betrage die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) 70 v.H. Die komplette Nervenschädigung am rechten Arm sei mit einer MdE von 30 v.H. zu bewerten. Dies rechtfertige eine Gesamt-MdE von 100 v.H. Auf dieser Grundlage hatte die BG Holz und Metall mit Bescheid vom 19. April 2011 beim Kläger eine MdE um 100 v.H. zuerkannt. Dem folgend hob der Beklagte den Bescheid vom 11. Januar 1996 auf und stellte ab dem 1. Januar 2007 einen GdB von 100 sowie das Merkzeichen „G“ fest. Darüber hinaus hat der Kläger ein nervenfachärztliches Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Professor Dr. B... für die Holzberufsgenossenschaft vom 17. Februar 2011 vorgelegt. Hiernach sei auf nervenärztlichem Fachgebiet von einer traumatischen oberen Plexusschädigung an der dominanten Extremität (MdE 40 v.H.) sowie von Schmerzen im Bereich des rechten Oberschenkel (MdE 10 v.H.) auszugehen, was eine Gesamt-MdE auf nervenärztlichem Fachgebiet um 50 rechtfertigte. Diese Verschlimmerung bestehe seit dem Jahr 2007.

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Der Kläger beantragt,

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das Urteil des Sozialgerichts Halle 16. April 2010 sowie den Bescheid des Beklagten vom 22. Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 2007 aufzuheben, den Bescheid vom 16. Juni 2011 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, bei ihm das Merkzeichen „aG“ ab dem 22. Juni 2006 festzustellen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Er hält seine Bescheide sowie das angegriffene Urteil für rechtmäßig.

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Der Senat hat Befundberichte von Dr. H... sowie von der Klinik B... und von der orthopädischen Werksstatt S... eingeholt. Die Firma S... hat unter dem 30. Januar 2011 mitgeteilt: Der Kläger habe einen neuen querovalen Schaft mit HTV Silikoneinsatz erhalten. Dieser werde derzeit mit einem neuen Carbonschaft überarbeitet, um den statischen Aufbau der Prothese zu verändern. Die Haftung der Prothese mit HTV Silikon sei aktuell viel besser. Wegen der über den Tag bestehenden Stumpfveränderungen habe ein optimaler Prothesensitz jedoch immer noch nicht erreicht werden können.

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Der Kläger hat in einem Erörterungstermin vom 14. April 2011 angegeben: Der Beinstumpf verändere sich bei Gebrauch, was die Stabilität der Prothese aufhebe. Immer wieder bleibe er mit der Prothese hängen. Beispielsweise könne er auch kein Fahrrad fahren.

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Der vom Senat beauftragte Sachverständige, Facharzt für Orthopädie, Sportmedizin und Chirotherapie Dr. S... hat in seinem Gutachten vom 4. Juni 2012 (Untersuchungstermin 30. Mai 2012) ausgeführt: Nach einer Oberschenkelamputation rechts (21. Juni 2006) sowie einer Stumpfrevision (28. März 2007) komme der Kläger trotz zahlreicher Prothesenanpassungen mit dieser Versorgung schlecht zurecht. Er habe angegeben, er sei ständig unsicher beim Laufen und habe dauerhafte Stumpfschmerzen. Am Stumpf habe sich ein Sporn entwickelt, der die Nutzung der Prothese nochmals erschwere. Beim Kläger zeige sich ein Schonhinken rechts an zwei Unterarmgehstützen mit Oberschenkelprothese rechts. Das linke Bein könne voll belastet werden. Der Einbeinstand links sei unsicher, jedoch gut möglich. Das Ablegen der Oberbekleidung unter Beinbekleidung sei etwas verlangsamt, jedoch ohne fremde Hilfe möglich. Ohne Unterarmgehstützen bestehe ein unsicheres Gangbild bei nur wenigen Schritten. Der Kläger sei in der Lage, sich außerhalb eines Fahrzeuges eigenständig zu bewegen. Hierzu benötige er allerdings zwei Unterarmgehstützen. Für das Ein- und Aussteigen sei er auf das vollständige Öffnen der Türen angewiesen. Dies erfordere Parkmöglichkeiten auf Flächen mit besonderer Breite. Verstärkt werde die Beeinträchtigung durch die Schwäche des rechten Armes beim Benutzen der Unterarmgehstützen durch die Arthrose der rechten Schulter und die obere traumatische Plexusläsion. Mit zwei Unterarmgehstützen sei das Gangbild sicher, jedoch die Gehgeschwindigkeit um die Hälfte der normalen Geschwindigkeit eines Gleichaltrigen reduziert. Gehstrecken auf ebenem Gelände von über 100 m seien aufgrund der heutigen Untersuchung noch bedenkenlos zumutbar. Die Beeinträchtigung der Gehfähigkeit des Klägers sei mit einem Querschnittsgelähmten, einem Doppeloberschenkelamputierten oder einem Doppelunterschenkelamputierten nicht vergleichbar. Anlässlich der Begutachtung zeigte sich ein ausreichender Prothesenhalt. Eine in ungewöhnlich hohem Maße auf die Gehfähigkeit auswirkende funktionelle Störung des Bewegungsapparates bestehe nicht. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ seien nicht gegeben.

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Der Kläger hat gegen das Sachverständigengutachten geltend gemacht: Der Sachverständige habe keine ausreichenden Ausführungen zu erforderlichen Pausen und Wegestrecken gemacht. Auch fehle es an Ausführungen dazu, wie sich die Schmerzbelastung auf seine Fortbewegung konkret auswirke. Rechtlich verlange Art. 9 UN-BRK geeignete Maßnahmen für die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen. Hieraus lasse sich ein persönlicher Anspruch des Einzelnen ableiten, mögliche Barrieren wie z.B. die Sicherung erforderlicher Parkmöglichkeiten für einen Behinderten zu gewährleisten. Dies gelte erst recht nach Art. 20, 30 UN-BRK. Hiernach seien die Vertragsstaaten verpflichtet, wirksame Maßnahmen zu treffen, dass der Mensch mit Behinderungen persönlich mobil und unabhängig sei. Nur durch die Gewährung der Parkerleichterung sei es dem Kläger möglich, seine Teilhabeansprüche durchzusetzen.

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Der Sachverständige hat hierzu am 5. September 2012 entgegnet: Die Arthrose des Klägers in der rechten Schulter sowie die obere traumatische Plexusläsion sei als zusätzliche Beeinträchtigung in der Nutzung der Unterarmgehstützen beachtet worden. Gleichwohl sei der Kläger in der Lage, sich mittels der beiden Unterarmgehstützen, wenn auch in der Geschwindigkeit reduziert, ca. 100 m am Stück fortzubewegen. Diese ihm zumutbare Gehstrecke von über 100 m ergebe sich aus den Untersuchungsbefunden sowie der klinischen und bildgebenden Diagnostik. Bei der Begutachtung seien - wie üblich - die Auswirkungen des Schmerzes mitberücksichtigt worden.

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Die Verwaltungsakte des Beklagten hat vorgelegen und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung ist zulässig, insbesondere sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 SGG).

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Das Urteil des SG ist zutreffend. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“. Denn er ist nicht außergewöhnlich gehbehindert.

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Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ ist § 69 Abs. 4 des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen „aG“ einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen im Sinne von § 46 Abs. 1 Nr. 11 Straßenverkehrsordnung (StVO) nach sich, wobei Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung die in der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) enthaltenen Regelungen sind. Nach Abschnitt II Nr. 1 VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Dazu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind. Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 erster Halbsatz VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (vgl. BSG, Urteil vom 29. März 2007, B 9 a SB 5/05 R, zitiert nach juris). Entscheidend ist dabei nicht, über welche Gehstrecken ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen Kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist, nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 4. November 2010, L 11 SB 78/09, zitiert nach juris).

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Ob für die Prüfung des Vorliegens einer außergewöhnlichen Gehbehinderung ergänzend die im Wesentlichen inhaltsgleichen Bestimmungen in Teil D Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der seit dem 01. Januar 2009 geltende Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 in ihrer jeweils geltenden Fassung heranzuziehen sind, kann dahinstehen. Denn ungeachtet der Frage, ob die Regelungen der VersMedV zum Merkzeichen „aG“ rechtswirksam erlassen worden sind (vgl. hierzu verneinend: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Juli 2010, L 8 SB 3119/08, zitiert nach juris), liegen die gesundheitlichen Voraussetzungen für den von dem Kläger begehrten Nachteilsausgleich auch unter Berücksichtigung dieser Regelungen nicht vor. Der Kläger gehört nicht zum ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten. Insbesondere ist seine schlecht sitzende Prothese am rechten Bein begrifflich nicht im Sinne einer dauerhaften Unmöglichkeit, ein Kunstbein zu nutzen, auszulegen. Die dauerhafte Unmöglichkeit ein Kunstbein zu tragen, setzt voraus, dass der davon Betroffene Behinderte die Prothese praktisch überhaupt nicht nutzen kann und darauf verzichten muss. Diese Qualität erreichen die Prothesenschwierigkeiten des Klägers bei weitem nicht. So haben zwar zahlreiche Prothesenanpassungen erfolgen müssen, die zumindest teilweise positive Ergebnisse erbracht haben (vgl. Stellungnahme der ausführenden Orthopädiewerkstatt). Eine völlige oder weitgehende Verhinderung des Einsatzes der rechten Beinprothese liegt beim Kläger jedoch nicht vor.

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Auch eine Gleichstellung des Klägers mit dem vorgenannten Personenkreis ist nicht möglich. Sein Gehvermögen ist nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt bzw. er kann sich nicht nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in der straßenverkehrsrechtlichen Verwaltungsvorschrift bzw. in der Anlage zu § 2 VersMedV genannten Personen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen. Dies ergibt sich aus den übereinstimmenden medizinischen Einschätzungen der Sachverständigen Dr. L... und Privatdozent Dr. B... in erster Instanz sowie dem Sachverständigen Dr. S... im Berufungsverfahren.

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Beide Sachverständigen haben mit nachvollziehbarer Begründung die Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ übereinstimmend verneint. Gegen eine auf das schwerste eingeschränkte Gehfähigkeit des Klägers spricht zum einen die ihm noch zumutbare Gehleistung von mindestens 100 m am Stück ohne wesentliche Pausen und Erschöpfungszustände und insbesondere das praktisch voll einsatzfähige linke Bein. Zwar haben beide Sachverständigen die für den Kläger geltenden Erschwerungsgründe (schlechte Prothesenversorgung sowie Hand- und Schulterbehinderung) gewürdigt, jedoch eine Gleichsetzung mit dem in Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO genannten Beispielsgruppen (z.B.: Doppelunterschenkelamputierte) als nicht gegeben angesehen. Auch konnten beide Gutachter die vom Kläger angegebenen schnellen Erschöpfungszustände und die Notwendigkeit auf kürzesten Strecken Pausen einlegen zu müssen, so nicht bestätigen. Die Notwendigkeit, beide Unterarmgehstützen einzusetzen, erschwerten seine Gehfähigkeit, rechtfertigten jedoch nicht die Annahme einer schwersten Geheinschränkung im Sinne des Merkzeichens „aG“. Hierfür ist die dem Kläger zumutbare und mögliche Gehstrecke ohne Pause zu groß.

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Nach dem glaubhaften Sachvortrag des Klägers sowie den Bewertungen beider Sachverständiger hat er zwar Schwierigkeiten beim Ein- und Aussteigen, da er mittels zweier Gehhilfen das Fahrzeug verlassen muss. Wegen seiner schlecht sitzenden Prothese, seiner zusätzlichen Behinderungen im Hand- und Schulterbereich, die den Einsatz beider Stützhilfen erforderlich machen, muss er die Tür auf der Fahrerseite komplett öffnen. Dieses Erfordernis rechtfertigt aber noch nicht die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“. Zwar ist dem Kläger einzuräumen, dass die mit der Anerkennung des Merkzeichens „aG“ verbundenen erweiterten Möglichkeiten, einen für ihn geeigneten Parkplatz zu finden, für seine Behinderung eine spürbare Erleichterung bedeuten würde. Auf der Grundlage der Ermächtigung in § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) hat der Verordnungsgeber in § 45 Abs. 1b Nr. 2 StVO den Straßenverkehrsbehörden die Befugnis eingeräumt, die notwendigen Anordnungen im Zusammenhang mit der Kennzeichnung von Parkmöglichkeiten für schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung oder anderer - hier nicht in Frage kommender - Beeinträchtigungen zu treffen; die Anlage 2 Abschnitt 3 zur StVO sieht hierfür die Ergänzung der Zeichen 314 (Parken) und 315 (Parken auf Gehwegen) um ein Zusatzzeichen mit Rollstuhlfahrersinnbild vor. Diese Behindertenparkplätze müssen gemäß Abschnitt IX Rdnr. 18 zu § 45 Abs. 1 bis 14 VwV-StVO i. V. m. DIN 18024-1 so gebaut werden, dass an der Längsseite des Fahrzeugs eine Bewegungsfläche mit einer Breite von 1,50 m bleibt. Damit ist bei einem Behindertenparkplatz immer gewährleistet, dass der Kläger sein Fahrzeug so einparken kann, dass sich die Fahrertüre unabhängig von anderen Fahrzeugen, die vorschriftsmäßig parken, bis zum Anschlag öffnen lässt. Darüber hinaus hätte der Kläger mit dem Merkzeichen „aG“ die Möglichkeit, Parkerleichterungen in Form von Befreiungen von Haltverboten nach Abschnitt I zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO zu erlangen. Die dadurch verfügbaren zusätzlichen Parkplätze wären zwar nicht zwangsläufig behindertengerecht, würden aber seine Möglichkeiten, einen für ihn geeigneten Parkplatz zu finden, erhöhen (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 29. Februar 2012, L 16 SB 151/11, zitiert nach juris).

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Der unbestrittene Bedarf auf eine möglichst weit geöffnete Fahrertür rechtfertigt jedoch nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung allein noch nicht die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“. Das BSG hat in einem vergleichbaren Fall - in dem der Kläger wie hier nur ein- und aussteigen konnte, wenn die Wagentür vollständig geöffnet war - (Urteil vom 03.02.1988; Az. 9/9a RVs 19/86 = SozR 3870 § 3 Nr. 28) entschieden, dass das Merkzeichen „aG“ nicht zuerkannt werden könne. Der Gesetzgeber hat durch die Formulierung in § 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung insoweit straßenverkehrsrechtliche Vorschriften für maßgeblich erklärt. Zum Ausgleich von Nachteilen beim Ein- und Aussteigen hat der Bundesminister für Verkehr die Ausnahmegenehmigung nicht geschaffen. Sie ist vielmehr dazu gedacht, den Schwerbehinderten mit dem Pkw möglichst nahe an sein jeweiliges Ziel fahren zu lassen. Der Nachteilsausgleich solle allein die neben der Personenkraftwagenbenutzung unausweichlich anfallende tatsächliche Wegstrecke soweit wie möglich verkürzen. Dies bedeute zugleich, dass der Personenkreis eng zu fassen sei. Denn mit der Ausweitung des Personenkreises steigt die Anzahl der Benutzer. Diesem Umstand kann nur begrenzt mit einer Vermehrung entsprechender Parkplätze begegnet werden, denn mit jeder Vermehrung der Parkflächen wird dem gesamten Personenkreis eine durchschnittlich längere Wegstrecke zugemutet, weil ortsnaher Parkraum nicht beliebig geschaffen werden kann. Dieser besondere Bedarf des Klägers an einer weit geöffneten Fahrer- oder Beifahrertür wird jedoch in erster Linie durch die besondere Beschaffenheit des Parkraums und nicht durch die eingeschränkte Gehfähigkeit verursacht (vgl. LSG Berlin, Urteil vom 20. April 2004 L 13 SB 30/03, zitiert nach juris). Bloße Schwierigkeiten beim Verlassen des Kraftfahrzeuges bleiben für die Feststellung des Merkzeichens „aG“ ohne Bedeutung (BSG, Urteil vom 5. Juli 2007, B 9/9a SB 5/06 R Rdnr. 21, zitiert nach juris). Diese sind im Übrigen auch von der Art und Ausstattung des Fahrzeuges abhängig (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 29. Februar 2012, L 16 SB 151/11, zitiert nach juris).

40

Der Senat hält diese Rechtsprechung für zutreffend und schließt sich ihr an. Sowohl die Parkmöglichkeiten für schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung als auch die Befreiungen von Haltverboten für diesen Personenkreis verfolgen in erster Linie den Zweck, möglichst kurze Gehstrecken vom Parkplatz bis zum Ziel zu ermöglichen. Dieser Zweck ist nur zu erreichen, wenn der Kreis der Berechtigten so eng wie möglich gezogen wird weil ein besetzter Behindertenparkplatz für denjenigen, der einen Parkplatz sucht, ebenso wenig wert ist wie gar keiner. Deshalb müssen bei der Überlegung, ob ein schwerbehinderter Mensch, der den in Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO genannten Gruppen von Schwerstgehbehinderten nicht gleichzustellen ist. aber Schwierigkeiten beim Ein- und Aussteigen aus dem Pkw hat, das Merkzeichen „aG“ erhalten soll, nicht nur dessen Vorteile bei der Benutzung von Behindertenparkplätzen sondern auch die aus der Ausweitung des Benutzerkreises resultierenden Nachteile berücksichtigt werden (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 29. Februar 2012 a.a.O.).

41

Darüber hinaus hätte der Kläger die Möglichkeit, durch Benutzung eines Fahrzeugs mit Schiebetür auf der Fahrerseite die Schwierigkeiten beim Ein- und Aussteigen zu umgehen. Fahrzeuge mit Schiebetür auf der Fahrerseite sind zwar ab Werk kaum verfügbar (vgl. bis 2009 z.B. Peugeot 1007), jedoch ist ein Umbau sonstiger Wagen durch Spezialfirmen möglich und kann unter bestimmten Voraussetzungen auch von der Sozialversicherung oder der Sozialhilfe finanziert werden (vgl. § 55 Abs. 2 Nr. 1 und § 33 Abs. 8 Nr. 1 SGB IX i. V. m. § 7 Kraftfahrzeughilfe-Verordnung). Im Gegensatz zu Schwerstgehbehinderten könnte der Kläger durch die Wahl eines Fahrzeugs mit Schiebetüren bzw. einen entsprechenden Umbau viele Probleme beim Aus- und Einsteigen vollständig lösen. (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 29. Februar 2012, L 16 SB 151/11, zitiert nach juris).

42

Die vom Kläger erstrebten Vorteile aus der Benutzung von Behindertenparkplätzen dürften jedenfalls wesentlich geringer als für diejenigen Personengruppen sein, die sich nur wenige Meter zu Fuß fortbewegen können und deshalb dringender auf einen möglichst nahe gelegenen Parkplatz angewiesen sind. Eine Aufweichung dieser zweifellos strengen Kriterien würde den Kreis der Berechtigten erheblich ausweiten, wenn allein die Notwendigkeit, die Türe vollständig beim Ein- und Aussteigen zu öffnen, ausreichen würde, um einen Anspruch auf das Merkzeichen „aG“ auszulösen; insbesondere wäre dann zu erwarten, dass auch viele Menschen mit Wirbelsäulenproblemen oder Adipositas in den Genuss dieses Merkzeichens gelangen würden, was die Chancen der Schwerstgehbehinderten, einen günstig gelegenen Parkplatz zu erhalten, drastisch verringern könnte (vgl. Bayerisches Landessozialgericht a.a.O.). Dies wäre auch rechtspolitisch nicht wünschenswert. Der Senat sieht deshalb keinen Anlass, von der Rechtsprechung des BSG abzuweichen.

43

Der Rechtsauffassung des Klägers, einen Feststellungsanspruch für das Merkzeichen „aG“ aus der UN-BRK herzuleiten, kann sich der Senat nicht anschließen. Auch wenn die UN-BRK den Rang eines einfachen Bundesgesetzes erhalten hat, kann sich hieraus ein Leistungsanspruch erst ableiten, wenn die Auslegung dieses Gesetzes geeignet und hinreichend bestimmt ist, um eine derart individuelle, rechtliche Wirkung für den Einzelfall zu entfalten (vgl. grundlegend BSG, Urteil vom 6. März 2012, B 1 KR 10/11 R). Soweit die UN-BRK in Art. 20 die Vertragsstaaten verpflichtet, wirksame Maßnahmen zu treffen, um für Menschen mit Behinderungen die persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit sicherzustellen, bedarf diese Absichtserklärung jeweils der Umsetzung durch den Gesetzgeber. Der UN-BRK sind bezogen auf Parkerleichterungen für Behinderte keine unmittelbaren Leistungsansprüche zu entnehmen (im Gegensatz z.B. Art. 30 Abs. 4 UN-BRK). Hierfür fehlt es an einer bestimmbaren Aufzählung von konkreten und verpflichtenden Einzelmaßnahmen. Derartige Leistungsansprüche sollten vielmehr dem nationalen Gesetzgeber überlassen bleiben, dem in diesem Zusammenhang ein erheblicher Gestaltungsspielraum verblieben ist (vgl. für das Merkzeichen „H“ (hilflos) zutreffend Sozialgericht Dortmund, Urteil vom 14. Oktober 2011, S 51 SB 3287/10, zitiert nach juris).

44

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

45

Die Revision war nicht zu zulassen, weil Zulassungsgründe nicht gegeben sind. Der Hinweis des Klägers auf eine mögliche Verletzung der UN-BRK begründet keinen Revisionsgrund. So hat das der 1. Senat des BSG in seinem Urteil vom 6. März 2012 (B 1 KR 10/11 R, zitiert nach juris) einen Leistungsanspruch auf das Arzneimittel C... aus Art. 25 UN-BRK verneint (vgl. auch Beschluss vom 10. Mai 2012, B 1 KR 78/11 B). Nachdem die UN-BRK den Rang eines Bundesgesetzes erhalten hat, muss der Rechtsanwender - wie bei jedem anderen Gesetz - im Wege methodischer Auslegung prüfen, ob ein Leistungsanspruch besteht. Von daher ist nach Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Zusammenhang der Norm unter Beachtung der Gesetzesmaterialien festzustellen, ob sich ein konkreter Leistungsanspruch begründen lässt. Dies ist aus den bereits oben genannten Gründen nicht der Fall. Das Urteil des BSG vom 24 Mai 2012, B 9 V 2/11 R, zitiert nach juris steht dem nicht entgegen. In diesem Urteil hat der für das Schwerbehindertenrecht zuständige 9. Senat des BSG aus der UN-BRK allenfalls eine Auslegungshilfe für § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG abgeleitet. Damit ist jedoch gerade kein genereller Leistungsanspruch verbunden. Die UN-BRK enthält auch in Art. 20 UN-BRK keinen Hinweis, in welcher Form Behinderten gesonderter Parkraum zu gewähren ist. Die in Art. 20 a UN-BRK getroffene Formulierung, Menschen mit Behinderung die persönliche Mobilität zu erleichtern, bleibt dabei eine unverbindliche Absichtserklärung des Gesetzgebers. Sie vermag keine Auslegung zu rechtfertigen, die die strengen Anspruchsvoraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ entscheidend aufweichen würde.


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Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 25. Sept. 2012 - L 7 SB 29/10 zitiert 19 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 151


(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. (2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerh

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 143


Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.

Straßenverkehrs-Ordnung - StVO 2013 | § 45 Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen


(1) Die Straßenverkehrsbehörden können die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Das gleiche Recht haben sie1.zur Durchführung von A

Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB 9 2018 | § 55 Unterstützte Beschäftigung


(1) Ziel der Unterstützten Beschäftigung ist es, Leistungsberechtigten mit besonderem Unterstützungsbedarf eine angemessene, geeignete und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu ermöglichen und zu erhalten. Unterstützte Beschäftigung umfasst

Straßenverkehrs-Ordnung - StVO 2013 | § 46 Ausnahmegenehmigung und Erlaubnis


(1) Die Straßenverkehrsbehörden können in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen genehmigen1.von den Vorschriften über die Straßenbenutzung (§ 2);2.vorbehaltlich Absatz 2a Satz 1 Nummer 3 vom Verbot, eine Autobah

Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV | § 2 Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“


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Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB 9 2018 | § 33 Pflichten der Personensorgeberechtigten


Eltern, Vormünder, Pfleger und Betreuer, die bei den ihnen anvertrauten Personen Beeinträchtigungen (§ 2 Absatz 1) wahrnehmen oder durch die in § 34 genannten Personen hierauf hingewiesen werden, sollen im Rahmen ihres Erziehungs- oder Betreuungsauft

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(1) Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur wird ermächtigt, soweit es zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen erforderlich ist, Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bun

Asylbewerberleistungsgesetz - AsylbLG | § 7 Einkommen und Vermögen


(1) Einkommen und Vermögen, über das verfügt werden kann, sind von dem Leistungsberechtigten und seinen Familienangehörigen, die im selben Haushalt leben, vor Eintritt von Leistungen nach diesem Gesetz aufzubrauchen. § 20 des Zwölften Buches Sozialge

Schwerbehindertenausweisverordnung - SchwbAwV | § 3 Weitere Merkzeichen


(1) Im Ausweis sind auf der Rückseite folgende Merkzeichen einzutragen: 1.aGwenn der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 229 Absatz 3 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist, 2.Hwenn der schwerbehinderte Mensch hilflos

Kraftfahrzeughilfe-Verordnung - KfzHV | § 7 Behinderungsbedingte Zusatzausstattung


Für eine Zusatzausstattung, die wegen der Behinderung erforderlich ist, ihren Einbau, ihre technische Überprüfung und die Wiederherstellung ihrer technischen Funktionsfähigkeit werden die Kosten in vollem Umfang übernommen. Dies gilt auch für eine Zu

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bei uns veröffentlicht am 24.05.2012

Tenor Auf die Revision der Beigeladenen wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. April 2011 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts

Bundessozialgericht Beschluss, 10. Mai 2012 - B 1 KR 78/11 B

bei uns veröffentlicht am 10.05.2012

Tenor Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. August 2011 wird zurückgewiesen.

Bundessozialgericht Urteil, 06. März 2012 - B 1 KR 10/11 R

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Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 23. Juli 2010 - L 8 SB 3119/08

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4 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 25. Sept. 2012 - L 7 SB 29/10.

Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Beschluss, 21. Sept. 2015 - L 7 SB 48/14 B ER

bei uns veröffentlicht am 21.09.2015

Tenor Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 20. Mai 2014 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten. Gründe I. 1 Umstritten ist im Verfahren des eins

Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 16. Juni 2015 - L 7 SB 12/14

bei uns veröffentlicht am 16.06.2015

Tenor Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen. Tatbestand 1 Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens aG (außerge

Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 10. Juli 2013 - L 7 SB 17/10

bei uns veröffentlicht am 10.07.2013

Tenor Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen. Tatbestand 1 Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit des Entzugs des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Ge

Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 10. Juli 2013 - L 7 SB 52/11

bei uns veröffentlicht am 10.07.2013

Tenor Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen. Tatbestand 1 Umstritten ist, ob bei der Klägerin die gesundheitlichen

Referenzen

Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

(1) Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur wird ermächtigt, soweit es zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen erforderlich ist, Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates über Folgendes zu erlassen:

1.
die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr, insbesondere über
a)
den Inhalt und die Gültigkeitsdauer von Fahrerlaubnissen, insbesondere unterschieden nach Fahrerlaubnisklassen, über die Probezeit sowie über Auflagen und Beschränkungen zu Fahrerlaubnissen,
b)
die erforderliche Befähigung und Eignung von Personen für ihre Teilnahme am Straßenverkehr, das Mindestalter und die sonstigen Anforderungen und Voraussetzungen zur Teilnahme am Straßenverkehr,
c)
die Ausbildung und die Fortbildung von Personen zur Herstellung und zum Erhalt der Voraussetzungen nach Buchstabe b und die sonstigen Maßnahmen, um die sichere Teilnahme von Personen am Straßenverkehr zu gewährleisten, insbesondere hinsichtlich Personen, die nur bedingt geeignet oder ungeeignet oder nicht befähigt zur Teilnahme am Straßenverkehr sind,
d)
die Prüfung und Beurteilung des Erfüllens der Voraussetzungen nach den Buchstaben b und c,
e)
Ausnahmen von einzelnen Anforderungen und Inhalten der Zulassung von Personen, insbesondere von der Fahrerlaubnispflicht und von einzelnen Erteilungsvoraussetzungen,
2.
das Verhalten im Verkehr, auch im ruhenden Verkehr,
3.
das Verhalten der Beteiligten nach einem Verkehrsunfall, das geboten ist, um
a)
den Verkehr zu sichern und Verletzten zu helfen,
b)
Feststellungen zu ermöglichen, die zur Geltendmachung oder Abwehr von zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen erforderlich sind, insbesondere Feststellungen zur Person der Beteiligten, zur Art ihrer Beteiligung, zum Unfallhergang und zum Versicherer der unfallbeteiligten Fahrzeuge,
4.
die Bezeichnung von im Fahreignungsregister zu speichernden Straftaten und Ordnungswidrigkeiten
a)
für die Maßnahmen nach den Regelungen der Fahrerlaubnis auf Probe nebst der Bewertung dieser Straftaten und Ordnungswidrigkeiten als schwerwiegend oder weniger schwerwiegend,
b)
für die Maßnahmen des Fahreignungsbewertungssystems, wobei
aa)
bei der Bezeichnung von Straftaten deren Bedeutung für die Sicherheit im Straßenverkehr zugrunde zu legen ist,
bb)
Ordnungswidrigkeiten mit Punkten bewertet werden und bei der Bezeichnung und Bewertung von Ordnungswidrigkeiten deren jeweilige Bedeutung für die Sicherheit des Straßenverkehrs und die Höhe des angedrohten Regelsatzes der Geldbuße oder eines Regelfahrverbotes zugrunde zu legen sind,
5.
die Anforderungen an
a)
Bau, Einrichtung, Ausrüstung, Beschaffenheit, Prüfung und Betrieb von Fahrzeugen,
b)
die in oder auf Fahrzeugen einzubauenden oder zu verwendenden Fahrzeugteile, insbesondere Anlagen, Bauteile, Instrumente, Geräte und sonstige Ausrüstungsgegenstände, einschließlich deren Prüfung,
6.
die Zulassung von Fahrzeugen zum Straßenverkehr, insbesondere über
a)
die Voraussetzungen für die Zulassung, die Vorgaben für das Inbetriebsetzen zulassungspflichtiger und zulassungsfreier Fahrzeuge, die regelmäßige Untersuchung der Fahrzeuge sowie über die Verantwortung, die Pflichten und die Rechte der Halter,
b)
Ausnahmen von der Pflicht zur Zulassung sowie Ausnahmen von einzelnen Anforderungen nach Buchstabe a,
7.
die Einrichtung einer zentralen Stelle zur Erarbeitung und Evaluierung von verbindlichen Prüfvorgaben bei regelmäßigen Fahrzeuguntersuchungen,
8.
die zur Verhütung von Belästigungen anderer, zur Verhütung von schädlichen Umwelteinwirkungen im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes oder zur Unterstützung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung erforderlichen Maßnahmen,
9.
die Maßnahmen
a)
über den Straßenverkehr, die zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit oder zu Verteidigungszwecken erforderlich sind,
b)
zur Durchführung von Großraum- und Schwertransporten,
c)
im Übrigen, die zur Erhaltung der Sicherheit und Ordnung auf öffentlichen Straßen oder zur Verhütung einer über das verkehrsübliche Maß hinausgehenden Abnutzung der Straßen erforderlich sind, insbesondere bei Großveranstaltungen,
10.
das Anbieten zum Verkauf, das Veräußern, das Verwenden, das Erwerben oder das sonstige Inverkehrbringen von Fahrzeugen und Fahrzeugteilen,
11.
die Kennzeichnung und die Anforderungen an die Kennzeichnung von Fahrzeugen und Fahrzeugteilen,
12.
den Nachweis über die Entsorgung oder den sonstigen Verbleib von Fahrzeugen und Fahrzeugteilen, auch nach ihrer Außerbetriebsetzung,
13.
die Ermittlung, das Auffinden und die Sicherstellung von gestohlenen, verlorengegangenen oder sonst abhanden gekommenen Fahrzeugen, Fahrzeugkennzeichen sowie Führerscheinen und Fahrzeugpapieren einschließlich ihrer Vordrucke, soweit nicht die Strafverfolgungsbehörden hierfür zuständig sind,
14.
die Überwachung der gewerbsmäßigen Vermietung von Kraftfahrzeugen und Anhängern an Selbstfahrer,
15.
die Beschränkung des Straßenverkehrs einschließlich des ruhenden Verkehrs
a)
zugunsten schwerbehinderter Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung, mit beidseitiger Amelie oder Phokomelie oder vergleichbaren Funktionseinschränkungen sowie zugunsten blinder Menschen,
b)
zugunsten der Bewohner städtischer Quartiere mit erheblichem Parkraummangel,
c)
zur Erforschung des Unfallgeschehens, des Verkehrsverhaltens, der Verkehrsabläufe oder zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen,
16.
die Einrichtung von Sonderfahrspuren für Linienomnibusse und Taxen,
17.
die Einrichtung und Nutzung von fahrzeugführerlosen Parksystemen im niedrigen Geschwindigkeitsbereich auf Parkflächen,
18.
allgemeine Ausnahmen von den Verkehrsvorschriften nach Abschnitt I oder von auf Grund dieser Verkehrsvorschriften erlassener Rechtsverordnungen zur Durchführung von Versuchen, die eine Weiterentwicklung dieser Rechtsnormen zum Gegenstand haben.
Rechtsverordnungen nach Satz 1 Nummer 18 über allgemeine Ausnahmen von Verkehrsvorschriften nach diesem Gesetz sind für die Dauer von längstens fünf Jahren zu befristen; eine einmalige Verlängerung der Geltungsdauer um längstens fünf Jahre ist zulässig. Rechtsverordnungen können nicht nach Satz 1 erlassen werden über solche Regelungsgegenstände, über die Rechtsverordnungen nach Absatz 2 erlassen werden dürfen. Die Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen nach Satz 1 umfasst auch den straßenverkehrsrechtlichen Schutz von Maßnahmen zur Rettung aus Gefahren für Leib und Leben von Menschen oder den Schutz zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche Unfallbeteiligter.

(2) Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur wird ermächtigt, soweit es zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen erforderlich ist, Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundesrates über Folgendes zu erlassen:

1.
die Typgenehmigung von Fahrzeugen, Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge, sofern sie unionsrechtlichen Vorgaben unterliegt, über die Fahrzeugeinzelgenehmigung, sofern ihr nach Unionrecht eine Geltung in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zukommt, sowie über das Anbieten zum Verkauf, das Inverkehrbringen, die Inbetriebnahme, das Veräußern oder die Einfuhr von derart genehmigten oder genehmigungspflichtigen Fahrzeugen, Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge, insbesondere über
a)
die Systematisierung von Fahrzeugen,
b)
die technischen und baulichen Anforderungen an Fahrzeuge, Systeme, Bauteile und selbstständige technische Einheiten, einschließlich der durchzuführenden Prüfverfahren zur Feststellung der Konformität,
c)
die Sicherstellung der Übereinstimmung von Fahrzeugen, Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge mit einem genehmigten Typ bei ihrer Herstellung,
d)
den Zugang zu technischen Informationen sowie zu Reparatur- und Wartungsinformationen,
e)
die Bewertung, Benennung und Überwachung von technischen Diensten,
f)
die Kennzeichnung und Verpackung von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für Fahrzeuge oder
g)
die Zulassung von Teilen und Ausrüstungen, von denen eine ernste Gefahr für das einwandfreie Funktionieren wesentlicher Systeme von Fahrzeugen ausgehen kann,
2.
die Marktüberwachung von Fahrzeugen, Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge,
3.
die Pflichten der Hersteller und ihrer Bevollmächtigten, der Einführer sowie der Händler im Rahmen
a)
des Typgenehmigungsverfahrens im Sinne der Nummer 1,
b)
des Fahrzeugeinzelgenehmigungsverfahrens im Sinne der Nummer 1 oder
c)
des Anbietens zum Verkauf, des Inverkehrbringens, der Inbetriebnahme, des Veräußerns, der Einfuhr sowie der Marktüberwachung von Fahrzeugen, Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge oder
4.
die Technologien, Strategien und andere Mittel, für die festgestellt ist, dass
a)
sie die Leistungen der Fahrzeuge, Systeme, Bauteile oder selbstständigen technischen Einheiten für Fahrzeuge bei Prüfverfahren unter ordnungsgemäßen Betriebsbedingungen verfälschen oder
b)
ihre Verwendung im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens oder des Fahrzeugeinzelgenehmigungsverfahrens im Sinne der Nummer 1 aus anderen Gründen nicht zulässig ist.

(3) In Rechtsverordnungen nach Absatz 1 oder Absatz 2 können hinsichtlich der dort genannten Gegenstände jeweils auch geregelt werden:

1.
die Erteilung, Beschränkung oder Entziehung von Rechten, die sonstigen Maßnahmen zur Anordnung oder Umsetzung, die Anerkennung ausländischer Berechtigungen oder Maßnahmen, die Verwaltungsverfahren einschließlich der erforderlichen Nachweise sowie die Zuständigkeiten und die Ausnahmebefugnisse der vollziehenden Behörden im Einzelfall,
2.
Art, Inhalt, Herstellung, Gestaltung, Lieferung, Ausfertigung, Beschaffenheit und Gültigkeit von Kennzeichen, Plaketten, Urkunden, insbesondere von Führerscheinen, und sonstigen Bescheinigungen,
3.
die Anerkennung, Zulassung, Registrierung, Akkreditierung, Begutachtung, Beaufsichtigung oder Überwachung von natürlichen oder juristischen Personen des Privatrechts oder von sonstigen Einrichtungen im Hinblick auf ihre Tätigkeiten
a)
der Prüfung, Untersuchung, Beurteilung und Begutachtung von Personen, Fahrzeugen oder Fahrzeugteilen sowie der Herstellung und Lieferung nach Nummer 2,
b)
des Anbietens von Maßnahmen zur Herstellung oder zum Erhalt der Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b oder
c)
der Prüfung und Zertifizierung von Qualitätssicherungssystemen,
einschließlich der jeweiligen Voraussetzungen, insbesondere der Anforderungen an die natürlichen oder juristischen Personen des Privatrechts oder an die Einrichtungen, an ihre Träger und an ihre verantwortlichen oder ausführenden Personen, einschließlich der Vorgabe eines Erfahrungsaustausches sowie einschließlich der Verarbeitung von personenbezogenen Daten über die die Tätigkeiten ausführenden oder hieran teilnehmenden Personen durch die zuständigen Behörden, durch die natürlichen oder juristischen Personen des Privatrechts oder durch die Einrichtungen in dem Umfang, der für ihre jeweilige Tätigkeit und deren Qualitätssicherung erforderlich ist,
4.
Emissionsgrenzwerte unter Berücksichtigung der technischen Entwicklung zum Zeitpunkt des Erlasses der jeweiligen Rechtsverordnung,
5.
die Mitwirkung natürlicher oder juristischer Personen des Privatrechts bei der Aufgabenwahrnehmung in Form ihrer Beauftragung, bei der Durchführung von bestimmten Aufgaben zu helfen (Verwaltungshilfe), oder in Form der Übertragung bestimmter Aufgaben nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 5, 6, 7 oder 9 Buchstabe b oder Absatz 2 auf diese Personen (Beleihung), insbesondere
a)
die Bestimmung der Aufgaben und die Art und Weise der Aufgabenerledigung,
b)
die Anforderungen an diese Personen und ihre Überwachung einschließlich des Verfahrens und des Zusammenwirkens der zuständigen Behörden bei der Überwachung oder
c)
die Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch diese Personen, insbesondere die Übermittlung solcher Daten an die zuständige Behörde,
6.
die Übertragung der Wahrnehmung von einzelnen Aufgaben auf die Bundesanstalt für Straßenwesen oder das Kraftfahrt-Bundesamt oder
7.
die notwendige Versicherung der natürlichen oder juristischen Personen des Privatrechts oder der sonstigen Einrichtungen in den Fällen der Nummer 3 oder Nummer 5 zur Deckung aller im Zusammenhang mit den dort genannten Tätigkeiten entstehenden Ansprüche sowie die Freistellung der für die Anerkennung, Zulassung, Registrierung, Akkreditierung, Begutachtung, Beaufsichtigung, Überwachung, Beauftragung oder Aufgabenübertragung zuständigen Bundes- oder Landesbehörde von Ansprüchen Dritter wegen Schäden, die diese Personen oder Einrichtungen verursachen.

(4) Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 2, 5 und 8 oder Absatz 2, jeweils auch in Verbindung mit Absatz 3, können auch erlassen werden

1.
zur Abwehr von Gefahren, die vom Verkehr auf öffentlichen Straßen ausgehen,
2.
zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen, die von Fahrzeugen ausgehen, oder
3.
zum Schutz der Verbraucher.
Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 2, 5 und 8, auch in Verbindung mit Absatz 3, können auch erlassen werden
1.
zum Schutz der Bevölkerung in Fußgängerbereichen oder verkehrsberuhigten Bereichen, der Wohnbevölkerung oder der Erholungssuchenden vor Emissionen, die vom Verkehr auf öffentlichen Straßen ausgehen, insbesondere zum Schutz vor Lärm oder vor Abgasen,
2.
für Sonderregelungen an Sonn- und Feiertagen oder
3.
für Sonderregelungen über das Parken in der Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr.

(5) Rechtsverordnungen nach Absatz 1 oder 2 können auch zur Durchführung von Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union und zur Durchführung von zwischenstaatlichen Vereinbarungen im Anwendungsbereich dieses Gesetzes erlassen werden.

(6) Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 5 oder 8 oder nach Absatz 2, sofern sie jeweils in Verbindung mit Absatz 4 Satz 1 Nummer 2 oder Satz 2 Nummer 1 erlassen werden, oder Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 12 werden vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur und vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit gemeinsam erlassen. Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 11, 13 oder 14 oder nach Absatz 3 Nummer 2 in Verbindung mit Absatz 1 Nummer 1 oder 6 können auch zum Zweck der Bekämpfung von Straftaten erlassen werden. Im Fall des Satzes 2 werden diese Rechtsverordnungen vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur und vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat gemeinsam erlassen. Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 2, 5 oder 8 oder nach Absatz 2, sofern sie jeweils in Verbindung mit Absatz 4 Satz 1 Nummer 3 erlassen werden, werden vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur und vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz gemeinsam erlassen.

(7) Keiner Zustimmung des Bundesrates bedürfen Rechtsverordnungen

1.
zur Durchführung der Vorschriften nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 5 in Verbindung mit Absatz 3 oder
2.
über allgemeine Ausnahmen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 18, auch in Verbindung mit den Absätzen 3 bis 6.
Vor ihrem Erlass sind die zuständigen obersten Landesbehörden zu hören.

(8) Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates, jedoch unbeschadet des Absatzes 6,

1.
sofern Verordnungen nach diesem Gesetz geändert oder abgelöst werden, Verweisungen in Gesetzen und Rechtsverordnungen auf diese geänderten oder abgelösten Vorschriften durch Verweisungen auf die jeweils inhaltsgleichen neuen Vorschriften zu ersetzen,
2.
in den auf Grund des Absatzes 1 oder 2, jeweils auch in Verbindung mit den Absätzen 3 bis 7 erlassenen Rechtsverordnungen enthaltene Verweisungen auf Vorschriften in Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union zu ändern, soweit es zur Anpassung an Änderungen jener Vorschriften erforderlich ist, oder
3.
Vorschriften der auf Grund des Absatzes 1 oder 2, jeweils auch in Verbindung mit den Absätzen 3 bis 7 erlassenen Rechtsverordnungen zu streichen oder in ihrem Wortlaut einem verbleibenden Anwendungsbereich anzupassen, sofern diese Vorschriften durch den Erlass entsprechender Vorschriften in unmittelbar im Anwendungsbereich dieses Gesetzes geltenden Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union unanwendbar geworden oder in ihrem Anwendungsbereich beschränkt worden sind.

(9) In den Rechtsverordnungen nach Absatz 1, jeweils auch in Verbindung mit den Absätzen 3 bis 6, kann mit Zustimmung des Bundesrates die jeweilige Ermächtigung ganz oder teilweise auf die Landesregierungen übertragen werden, um besonderen regionalen Bedürfnissen angemessen Rechnung zu tragen. Soweit eine nach Satz 1 erlassene Rechtsverordnung die Landesregierungen zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt, sind diese befugt, die Ermächtigung durch Rechtsverordnung ganz oder teilweise auf andere Landesbehörden zu übertragen.

(1) Im Ausweis sind auf der Rückseite folgende Merkzeichen einzutragen:

1.aGwenn der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 229 Absatz 3 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist,

2.Hwenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33b des Einkommensteuergesetzes oder entsprechender Vorschriften ist,

3.BIwenn der schwerbehinderte Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist,

4.GIwenn der schwerbehinderte Mensch gehörlos im Sinne des § 228 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist,

5.RFwenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt,

6.1. Kl.wenn der schwerbehinderte Mensch die im Verkehr mit Eisenbahnen tariflich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Benutzung der 1. Wagenklasse mit Fahrausweis der 2. Wagenklasse erfüllt,
7.Gwenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 229 Absatz 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist,
8.TBIwenn der schwerbehinderte Mensch wegen einer Störung der Hörfunktion mindestens einen Grad der Behinderung von 70 und wegen einer Störung des Sehvermögens einen Grad der Behinderung von 100 hat.

(2) Ist der schwerbehinderte Mensch zur Mitnahme einer Begleitperson im Sinne des § 229 Absatz 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch berechtigt, sind auf der Vorderseite des Ausweises das Merkzeichen „B“ und der Satz „Die Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson ist nachgewiesen“ einzutragen.

(1) Die Straßenverkehrsbehörden können in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen genehmigen

1.
von den Vorschriften über die Straßenbenutzung (§ 2);
2.
vorbehaltlich Absatz 2a Satz 1 Nummer 3 vom Verbot, eine Autobahn oder eine Kraftfahrstraße zu betreten oder mit dort nicht zugelassenen Fahrzeugen zu benutzen (§ 18 Absatz 1 und 9);
3.
von den Halt- und Parkverboten (§ 12 Absatz 4);
4.
vom Verbot des Parkens vor oder gegenüber von Grundstücksein- und -ausfahrten (§ 12 Absatz 3 Nummer 3);
4a.
von der Vorschrift, an Parkuhren nur während des Laufens der Uhr, an Parkscheinautomaten nur mit einem Parkschein zu halten (§ 13 Absatz 1);
4b.
von der Vorschrift, im Bereich eines Zonenhaltverbots (Zeichen 290.1 und 290.2) nur während der dort vorgeschriebenen Zeit zu parken (§ 13 Absatz 2);
4c.
von den Vorschriften über das Abschleppen von Fahrzeugen (§ 15a);
5.
von den Vorschriften über Höhe, Länge und Breite von Fahrzeug und Ladung (§ 18 Absatz 1 Satz 2, § 22 Absatz 2 bis 4);
5a.
von dem Verbot der unzulässigen Mitnahme von Personen (§ 21);
5b.
von den Vorschriften über das Anlegen von Sicherheitsgurten und das Tragen von Schutzhelmen (§ 21a);
6.
vom Verbot, Tiere von Kraftfahrzeugen und andere Tiere als Hunde von Fahrrädern aus zu führen (§ 28 Absatz 1 Satz 3 und 4);
7.
vom Sonn- und Feiertagsfahrverbot (§ 30 Absatz 3);
8.
vom Verbot, Hindernisse auf die Straße zu bringen (§ 32 Absatz 1);
9.
von den Verboten, Lautsprecher zu betreiben, Waren oder Leistungen auf der Straße anzubieten (§ 33 Absatz 1 Nummer 1 und 2);
10.
vom Verbot der Werbung und Propaganda in Verbindung mit Verkehrszeichen (§ 33 Absatz 2 Satz 2) nur für die Flächen von Leuchtsäulen, an denen Haltestellenschilder öffentlicher Verkehrsmittel angebracht sind;
11.
von den Verboten oder Beschränkungen, die durch Vorschriftzeichen (Anlage 2), Richtzeichen (Anlage 3), Verkehrseinrichtungen (Anlage 4) oder Anordnungen (§ 45 Absatz 4) erlassen sind;
12.
von dem Nacht- und Sonntagsparkverbot (§ 12 Absatz 3a).
Vom Verbot, Personen auf der Ladefläche oder in Laderäumen mitzunehmen (§ 21 Absatz 2), können für die Dienstbereiche der Bundeswehr, der auf Grund des Nordatlantik-Vertrages errichteten internationalen Hauptquartiere, der Bundespolizei und der Polizei deren Dienststellen, für den Katastrophenschutz die zuständigen Landesbehörden, Ausnahmen genehmigen. Dasselbe gilt für die Vorschrift, dass vorgeschriebene Sicherheitsgurte angelegt sein oder Schutzhelme getragen werden müssen (§ 21a).

(1a) Die Straßenverkehrsbehörden können zur Bevorrechtigung elektrisch betriebener Fahrzeuge allgemein durch Zusatzzeichen Ausnahmen von Verkehrsbeschränkungen, Verkehrsverboten oder Verkehrsumleitungen nach § 45 Absatz 1 Nummer 3, Absatz 1a und 1b Nummer 5 erste Alternative zulassen. Das gleiche Recht haben sie für die Benutzung von Busspuren durch elektrisch betriebene Fahrzeuge. Die Anforderungen des § 3 Absatz 1 des Elektromobilitätsgesetzes sind zu beachten.

(2) Die zuständigen obersten Landesbehörden oder die nach Landesrecht bestimmten Stellen können von allen Vorschriften dieser Verordnung Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Antragsteller genehmigen. Vom Sonn- und Feiertagsfahrverbot (§ 30 Absatz 3) können sie darüber hinaus für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken Ausnahmen zulassen, soweit diese im Rahmen unterschiedlicher Feiertagsregelung in den Ländern (§ 30 Absatz 4) notwendig werden. Erstrecken sich die Auswirkungen der Ausnahme über ein Land hinaus und ist eine einheitliche Entscheidung notwendig, ist das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur zuständig; die Ausnahme erlässt dieses Bundesministerium durch Verordnung.

(2a) Abweichend von Absatz 1 und 2 Satz 1 kann für mit Zeichen 330.1 und 330.2 gekennzeichnete Autobahnen in der Baulast des Bundes das Fernstraßen-Bundesamt in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller folgende Ausnahmen genehmigen:

1.
Ausnahmen vom Verbot, an nicht gekennzeichneten Anschlussstellen ein- oder auszufahren (§ 18 Absatz 2 und 10 Satz 1), im Benehmen mit der nach Landesrecht zuständigen Straßenverkehrsbehörde;
2.
Ausnahmen vom Verbot zu halten (§ 18 Absatz 8);
3.
Ausnahmen vom Verbot, eine Autobahn zu betreten oder mit dort nicht zugelassenen Fahrzeugen zu benutzen (§ 18 Absatz 1 und 9);
4.
Ausnahmen vom Verbot, Werbung und Propaganda durch Bild, Schrift, Licht oder Ton zu betreiben (§ 33 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und Satz 2);
5.
Ausnahmen von der Regelung, dass ein Autohof nur einmal angekündigt werden darf (Zeichen 448.1);
6.
Ausnahmen von den Verboten oder Beschränkungen, die durch Vorschriftzeichen (Anlage 2), Richtzeichen (Anlage 3), Verkehrseinrichtungen (Anlage 4) oder Anordnungen (§ 45 Absatz 4) erlassen sind (Absatz 1 Satz 1 Nummer 11).
Wird neben einer Ausnahmegenehmigung nach Satz 1 Nummer 3 auch eine Erlaubnis nach § 29 Absatz 3 oder eine Ausnahmegenehmigung nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 5 beantragt, ist die Verwaltungsbehörde zuständig, die die Erlaubnis nach § 29 Absatz 3 oder die Ausnahmegenehmigung nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 5 erlässt. Werden Anlagen nach Satz 1 Nummer 4 mit Wirkung auf den mit Zeichen 330.1 und 330.2 gekennzeichneten Autobahnen in der Baulast des Bundes im Widerspruch zum Verbot, Werbung und Propaganda durch Bild, Schrift, Licht oder Ton zu betreiben (§ 33 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und Satz 2), errichtet oder geändert, wird über deren Zulässigkeit
1.
von der Baugenehmigungsbehörde, wenn ein Land hierfür ein bauaufsichtliches Verfahren vorsieht, oder
2.
von der zuständigen Genehmigungsbehörde, wenn ein Land hierfür ein anderes Verfahren vorsieht,
im Benehmen mit dem Fernstraßen-Bundesamt entschieden. Das Fernstraßen-Bundesamt kann verlangen, dass ein Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gestellt wird. Sieht ein Land kein eigenes Genehmigungsverfahren für die Zulässigkeit nach Satz 3 vor, entscheidet das Fernstraßen-Bundesamt.

(3) Ausnahmegenehmigung und Erlaubnis können unter dem Vorbehalt des Widerrufs erteilt werden und mit Nebenbestimmungen (Bedingungen, Befristungen, Auflagen) versehen werden. Erforderlichenfalls kann die zuständige Behörde die Beibringung eines Sachverständigengutachtens auf Kosten des Antragstellers verlangen. Die Bescheide sind mitzuführen und auf Verlangen zuständigen Personen auszuhändigen. Bei Erlaubnissen nach § 29 Absatz 3 und Ausnahmegenehmigungen nach § 46 Absatz 1 Nummer 5 genügt das Mitführen fernkopierter Bescheide oder von Ausdrucken elektronisch erteilter und signierter Bescheide sowie deren digitalisierte Form auf einem Speichermedium, wenn diese derart mitgeführt wird, dass sie bei einer Kontrolle auf Verlangen zuständigen Personen lesbar gemacht werden kann.

(4) Ausnahmegenehmigungen und Erlaubnisse der zuständigen Behörde sind für den Geltungsbereich dieser Verordnung wirksam, sofern sie nicht einen anderen Geltungsbereich nennen.

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 18. Juni 2008 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

 
Zwischen den Beteiligten sind die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) streitig.
Bei dem 1932 geborenen Kläger wurde mit Bescheid des Versorgungsamts Heilbronn vom 24.10.2002 ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 seit 16.11.2000 festgestellt. Der Bescheid erging in Ausführung des im Rechtsstreit S 1 SB 168/02 (Sozialgericht Heilbronn -SG -) im September 2002 von den Beteiligten geschlossenen Vergleichs.
Am 02.07.2007 beantragte der Kläger beim Landratsamt Heilbronn (LRA) die Erhöhung des GdB und die Feststellung der Nachteilsausgleiche G und aG. Nach medizinischer Sachaufklärung, insbesondere der Einholung eines Befundberichts von dem Internisten Dr. M. vom 30.07.2007 (Beurteilung u.a.: Mit Handstock in der Ebene sicher gehfähig; bei chronischem Schmerzsyndrom/Lumboischialgie Gehstrecke eingeschränkt), lehnte das LRA den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 16.08.2007 mangels wesentlicher Verschlimmerung der gesundheitlichen Verhältnisse ab. Auch die Voraussetzungen für die Feststellung der Nachteilsausgleiche G und aG seien nicht erfüllt.
Dagegen legte der Kläger am 23.08.2007 Widerspruch ein und machte einen höheren GdB geltend und verwies auf die Beeinträchtigung seines Gehvermögens. Zudem bestehe ein erheblicher Gesichtsfeldausfall im Bereich des linken Auges, wodurch sein unsicherer Gang mangels fehlender räumlicher Wahrnehmung noch verstärkt werde. Der Kläger legte den endgültigen Entlassungsbericht des C.-Krankenhauses B. M. vom 06.05.2004 (stationäre Behandlung vom 03.05. bis 07.05.2004 mit Arthroskopie der linken Schulter), den Untersuchungsbericht der Neurochirurgischen Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums W. vom 07.10.2005 (Diagnose u.a.: Bandscheibenvorfall LWK 3/4 mediolateral rechts; Angaben des Klägers: freie Gehstrecke von einer halben Stunde, dann folgten Schmerzen in der unteren Lendenwirbelsäule ohne Ausstrahlung; neurologischer Befund u.a.: leicht unsicheres Gangbild), den Bericht der Neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums W. über seine stationäre Behandlung vom 23.11. bis 01.12.2005 (Diagnosen u.a.: Perineales Schmerzsyndrom, leichtgradige sensomotorische axonal betonte Polyneuropathie unklarer Äthiologie, Bandscheibenvorfall LWK 3/4 rechts), und den Bericht der St. V.-Kliniken K. - Augenklinik - vom 16.01.2007 über seine stationäre Behandlung vom 10.01. bis 11.01.2007 (Diagnosen: Minimale Hypo- und Exotropie, primär chronisches Offenwinkelglaukom, LA glaukomatöse Optikusatrophie, RA Z. n. Trabekulektomie) vor. Das LRA holte von der A.-Klinik S. in M. bei F. den Bericht vom 11.10.2007 über die stationäre Rehabilitationsbehandlung des Klägers vom 11.04.2007 bis 02.05.2007 ein. Die Hüft-, Knie-, Sprung- und Zehengelenke wurden darin als gut beweglich beschrieben. Nach seinen Angaben mache ihm immer wieder eine Ischialgie zu schaffen. Morgens benötige er noch eine relativ lange Anlaufzeit, um in die „Gänge“ zu kommen. Wenn er „eingelaufen“ sei, käme er zufriedenstellend zurecht. Ferner holte das LRA von dem Orthopäden Dr. L. den Befundbericht vom 16.10.2007 ein. Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 18.12.2007 stellte der Beklagte mit Teil-Abhilfebescheid vom 11.01.2008 einen GdB von 80 seit 02.07.2007 und den Nachteilsausgleich G fest. Die Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches aG wurden weiterhin verneint. Als Funktionsbeeinträchtigungen wurden eine
„chronische Bronchitis, eine chronische Harnwegsentzündung, eine chronische Harnblasenentzündung, eine chronische Entzündung der Prostata, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, eine Spinalkanalstenose, eine Claudicatio spinalis, ein Restless-Legs-Syndrom, ein chronisches Schmerzsyndrom, eine Sehbehinderung, eine chronische Magenschleimhautentzündung und eine Funktionsbehinderung beider Schultergelenke“
berücksichtigt. Nachdem der Kläger mit der nur teilweisen Abhilfe seines Widerspruchs nicht einverstanden war, wies das Regierungspräsidium Stuttgart - Landesversorgungsamt - den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 23.01.2008 zurück. Der Kläger erfülle die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellungen des Nachteilsausgleiches aG nicht, weil er nicht außergewöhnlich gehbehindert sei. Die ihm noch mögliche Gehstrecke - 200 bis 300 m bzw. eine halbe Stunde Gehzeit - stelle keine außergewöhnliche Gehbehinderung dar.
Am 31.01.2008 erhob der Kläger Klage zum SG, mit der er den Nachteilsausgleich aG geltend machte. Zur Begründung brachte er vor, er sei als polymorbider Mensch, der an mehreren Erkrankungen leide, auf einen Parkplatz in greifbarer Nähe angewiesen, da er ansonsten - er lebe in einer ländlichen Gegend - nicht nur von jeglicher außerhäuslicher Aktivität ausgeschlossen sei. Auch Arztbesuche seien ihm dann unmöglich gemacht. Hinzu käme das nur teilweise durch Medikamente gemilderte Restless-Legs-Syndrom, das auch tagsüber das Schrittbild im Sinne eines taumelnden Ganges verändere. Ein Gehen ohne Gehhilfe würde daher unweigerlich zu Stürzen führen.
Das SG hörte den Internisten Dr. M. schriftlich als sachverständigen Zeugen. Dieser schilderte im März 2008 die von ihm diagnostizierten Erkrankungen, insbesondere ein chronisches Schmerzsyndrom, eine multifunktionelle Gangstörung, ein Restless-Legs-Syndrom, eine Polyneuropathie, eine tiefe Beinvenenthrombose rechts 8/07 (seither Macumartherapie) und eine COPD, und gab an, es bestehe beim Kläger bei Multimorbidität eine Gangstörung mit je nach Intensität des Schmerzsyndroms wechselnder Gehfähigkeit. Bestenfalls bestehe Gehfähigkeit in der Ebene mit Handstock für schätzungsweise wenige 100 m. Es gäbe jedoch phasenweise Schmerzausprägungen mit vollständiger Immobilität. Wie häufig dies auftrete, könne er jedoch nicht beurteilen. Sein letzter Hausbesuch bei einem solchen Zustand sei im Februar 2004 gewesen. Nach den Beurteilungskriterien liege keine dauerhafte außergewöhnliche Gehbehinderung vor.
Mit Gerichtsbescheid vom 18.06.2008 wies das SG die Klage ab. Der Kläger, der nicht zu dem ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten gehöre, sei diesem auch nicht gleichzustellen. Der Kläger könne sich nicht nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung von den ersten Schritten an außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen.
10 
Dagegen hat der Kläger am 01.07.2008 Berufung eingelegt, mit der er an seinem Ziel festhält. Er wiederholt sein bisheriges Vorbringen und trägt zusätzlich vor, sein unsicherer Gang bei eingeschränktem bzw. nicht vorhandenem räumlichen Sehen bewirkten eine erhöhte Sturzgefahr. Inzwischen sei er gezwungen, einen Rollator zu benutzen. Der Kläger legt die ärztliche Bescheinigung seines Hausarztes, des Internisten Dr. N., vom 10.07.2008 vor, worin es heißt, der Kläger sei unter Schmerzen und mit Ausstattung einer Gehhilfe in der Lage, eine Gehstrecke von höchstens 50 m zu leisten. Ferner übersandte der Kläger den Untersuchungsbericht des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. W. vom 01.07.2008 (Diagnosen: V.a. persistierenden Lagerungsschwindel, kombinierte Gangstörung, Restless-Legs-Syndrom) und das Attest der Fachärztin für Augenheilkunde Dr. A.-S. vom 04.07.2008.
11 
Der Beklagte hat unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. W.. vom 26.09.2008 geltend gemacht, dass keine Gesichtspunkte erkennbar seien, die für eine außergewöhnliche Gehbehinderung des Klägers sprächen.
12 
Der Senat hat von dem Orthopäden Dr. W... das orthopädisch-traumatologische Gutachten vom 18.02.2009 eingeholt. Dieser hat den Kläger ambulant untersucht und ist in seinem schriftlichen Gutachten vom 18.02.2009 unter Berücksichtigung der Ergebnisse des radiologischen Zusatzgutachtens von Dr. R. vom 30.03.2009 zu dem Ergebnis gekommen, dass beim Kläger eine ausgeprägte degenerative lumbale Spinalkanalstenose mit Claudicatio spinalis und ein degeneratives Rotatorenmanschettensyndrom beidseits bestehen. Die Spinalkanalstenose verursache schwerwiegende Funktionsbeeinträchtigungen der Lendenwirbelsäule sowie der unteren Extremitäten. Das Zusammenwirken der Claudicatio spinalis infolge der degenerativen Lumbalkanalstenose sowie der bestehenden Polyneuropathie und des Restless-Legs-Syndroms und die gestörte Sehfähigkeit ließen eine außergewöhnliche Gehbehinderung wahrscheinlich erscheinen. An dieser Beurteilung hat der Sachverständige auch in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 08.09.2009 festgehalten. Bei seiner Untersuchung des Klägers am 13.02.2009 sei das Gehen sowohl vom Wartebereich ins Untersuchungszimmer als auch das Aufstehen und Gehen innerhalb des Untersuchungsraums nach der Anamneseerhebung während der Untersuchung trotz Zuhilfenahme eines Gehstocks in der rechten Hand nur unter großen Anstrengungen, kleinschrittig, unsicher und verlangsamt möglich gewesen.
13 
Zur weiteren Klärung des medizinischen Sachverhalts hat der Senat den Neurologen Dr. D. mit der Erstattung eines fachärztlichen Gutachtens beauftragt. Dieser ist nach ambulanter Untersuchung des Klägers in seinem Gutachten vom 27.11.2009 zu der Beurteilung gelangt, auf neurologischem Gebiet lasse sich praktisch kein krankhafter Befund erheben. Es liege auch keine wesentliche Polyneuropathie vor. Geschildert werde ein Restless-Legs-Syndrom. Die Funktionsbeeinträchtigung durch die deutlichen degenerativen Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule mit engem Spinalkanal würde er aus neurologischer Sicht als mittelgradig einschätzen. Dabei sei berücksichtigt, dass ein Teil der Gehbeeinträchtigung und Gangunsicherheit und der Schilderung der Beschwerden des Klägers durch eine nicht organische funktionelle Ausgestaltung bedingt sei, die durch ausreichende Willensanstrengung überwunden werden könne. Er gehe daher im Gegensatz zu Dr. W... davon aus, dass sich der Kläger wegen der Schwere seines Leidens nicht dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen könne und dass die Beeinträchtigung keineswegs mit den ausdrücklich genannten außergewöhnlich Gehbehinderten vergleichbar sei. Der Kläger habe zwar bei den ersten Schritten beim Gehen möglicherweise deutlichere Schmerzen und benötige dafür größere Anstrengung, er sei dann aber mit großer Wahrscheinlichkeit in der Lage, mit einiger, aber keineswegs sehr großer Anstrengung einige 100 m mit dem Gehstock oder dem Rollator zurückzulegen.
14 
Der Kläger hält die Beurteilung von Dr. W... für zutreffend und bringt vor, dieser sei schon ohne Einbeziehung seiner weiteren Erkrankungen zu dem von ihm angestrebten Ergebnis gekommen. Er betont den bei ihm bestehenden unsicheren Gang und die stark erhöhte Sturzgefahr. Die Benutzung von Treppen sei ihm praktisch nicht mehr möglich. Das Aussteigen aus einem Kraftfahrzeug bedeute für ihn nicht nur Überwindung, sondern auch eine erhebliche Kraftanstrengung und sei nur unter der Zuhilfenahme beider Arme und Hände möglich. Danach bedürfe es einiger Sekunden, um überhaupt das Gleichgewicht zu finden und gerade die ersten Schritte seien außerordentlich belastend und beschwerlich für ihn. Am 24.10.2009 sei er auf dem Weg von einem Autobahnparkplatz zum Restaurant - er habe hierfür seine Gehhilfe benutzt (Der Einsatz seines Rollators sei ihm auf dem Gelände nicht sinnvoll erschienen) - gestürzt und habe sich starke Prellungen mit Blutergüssen an seiner linken Hand, seinem rechten Schulter- und Ellbogengelenk sowie an der rechten Kniescheibe zugezogen. Der Kläger wendet sich gegen das neurologische Gutachten von Dr. D. und hat hierzu eingehend im Einzelnen Stellung genommen (Schreiben vom 15.01.2010). Zusammenfassend vertritt er die Auffassung, die abweichende Auffassung von Dr. D. vom Gutachten von Dr. W... seien seines Erachtens zum großen Teil durch Voreingenommenheit des Gutachters und Außerachtlassung zusätzlich nicht primär neurologisch bedingter Erkrankungen und Befunde bedingt.
15 
Der Kläger beantragt,
16 
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 18. Juni 2008 aufzuheben und die Bescheide des Beklagten vom 16. August 2007 und 11. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2008 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches aG ab 2. Juli 2007 festzustellen.
17 
Der Beklagte beantragt,
18 
die Berufung zurückzuweisen.
19 
Er hält die Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches aG nach wie vor nicht für erfüllt und legt hierzu die versorgungsärztlichen Stellungnahmen von Dr. R. vom 23.06.2009 und Dr. G. vom 28.10.2009 vor.
20 
Wegen den weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz, die Vorakten S 1 SB 168/02 und die Akten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
21 
Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat nach Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft und insgesamt zulässig.
22 
Die Berufung ist aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs aG.
23 
Nach § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) iVm §§ 1 Abs. 4 und 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung vom 25.07.1991, zuletzt geändert durch Art. 7 des Gesetzes vom 02.12.2006 (BGBl. I S. 2742), ist auf Antrag des behinderten Menschen der Nachteilsausgleich aG in den Schwerbehindertenausweis einzutragen, wenn der behinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist. Ein solcher Vermerk ist Grundlage für die Inanspruchnahme von Parkerleichterungen, die von den Straßenverkehrsbehörden für bestimmte Ausnahmefälle vorgesehen sind.
24 
Eine derartige straßenverkehrsrechtliche Vorschrift ist die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) vom 26.01.2001 (BAnz S. 1419, ber. S. 5206), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndVwV vom 10.04.2006 (BAnz S. 2968). Nach Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlichen Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können, oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem zuvor genannten Personenkreis gleichzustellen sind.
25 
Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 1. Halbsatz VwV-StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 23). Hierbei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschrift nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sonder darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG SozR 3-3250 § 69 Nr. 1).
26 
Soweit der Beklagte sich auf die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) beruft, ist dies rechtlich nicht beachtlich. Die Regelungen der VG zum Merkzeichen aG sind mangels ausreichender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig und unwirksam. Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 17 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthalten weder § 30 Abs. 17 BVG, der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht in SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche ist auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX vorhanden. Der Senat geht insoweit von einer Teilnichtigkeit der VersMedV aus, da der Teil der VG - als Anhang zu § 2 Teil der Verordnung - durch die Unwirksamkeit der genannten Regelungen nicht berührt wird und auch im übrigen die Regelungen der VersMedV nicht betroffen sind. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs sind daher allein die genannten gesetzlichen Regelungen und die hierzu in ständiger Rechtsprechung zulässig anzuwendenden Verwaltungsvorschriften.
27 
Der Kläger, der unstreitig nicht zum ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten gehört, ist diesem Personenkreis auch nicht gleichgestellt, da seine Gehfähigkeit nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nicht nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in der VwV genannten Personen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Dies steht aufgrund der vorliegenden ärztlichen Unterlagen, insbesondere den im Berufungsverfahren von Dr. W... und Dr. D. eingeholten fachärztlichen Gutachten, für den Senat fest.
28 
Der Kläger kann sich nicht nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen. Dies macht er auch selbst nicht geltend. Der Kläger erfüllt auch nicht die Tatbestandsalternative, dass er nur unter ebenso großer Anstrengung wie die ausdrücklich genannten außergewöhnlich Gehbehinderten fortbewegen kann. Die für den Nachteilsausgleich aG geforderte große körperliche Anstrengung ist nach der bereits genannten Entscheidung des BSG dann gegeben, wenn die Wegstreckenlimitierung (im vom BSG zu entscheidenden Rechtsstreit auf 30 m Wegstrecke beschränkt) darauf beruht, dass der Betroffene bereits nach kurzer Wegstrecke erschöpft ist und neue Kräfte sammeln muss, bevor er weitergehen kann. Dass der betroffene Gehbehinderte nach einer bestimmten Strecke eine Pause machen muss, ist allerdings lediglich Indiz für eine Erschöpfung. Für den Nachteilsausgleich aG reichen irgend welche Erschöpfungszustände zudem nicht aus (BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R). Vielmehr müssen sie in ihrer Intensität mit den Erschöpfungszuständen gleichwertig sein, die bei den ausdrücklich genannten außergewöhnlich Gehbehinderten auftreten. Gradmesser hierfür kann die Intensität des Schmerzes oder der Luftnot nach dem Zurücklegen einer bestimmten Wegstrecke sein. Ein solches Erschöpfungsbild lässt sich u.a. aus der Dauer der erforderlichen Pause sowie den Umständen herleiten, unter denen der Betroffene nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist im Hinblick auf den von den Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar (a.a.O.).
29 
Bei Beachtung dieser Beurteilungskriterien und Anlegung der genannten Maßstäbe steht für den Senat fest, dass sich der Kläger nicht nur noch mit großer Anstrengung fortbewegen kann. Zunächst ist im Hinblick auf das Vorbringen des Klägers festzustellen, dass im Rahmen der Prüfung, ob eine außergewöhnliche Gehbehinderung vorliegt und damit auch bei der Prüfung der Frage der „großen Anstrengung“ weder der Wohnort des Betroffenen noch die Art und etwaige Besonderheiten der von ihm üblicherweise benutzten Wege Bedeutung zukommt. Auch der Zweck der angestrebten Parkerleichterung spielt keine Rolle. Schlechte Verkehrsanbindung, Wege mit Steigungen oder Gefälle bzw. die Notwendigkeit, Treppen zu überwinden sind daher ebenso wenig zu berücksichtigen wie der Umstand, dass die Parkerleichterung hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Besuch von Arztpraxen geltend gemacht wird. Das entsprechende Vorbringen des Klägers ist daher nicht geeignet, den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs aG zu begründen.
30 
Maßgebend sind außerdem nur die Beeinträchtigungen des Gehvermögens und nicht Funktionsstörungen, die das Gehvermögen selbst nicht beeinträchtigen. Gesundheitsstörungen, die das Gehvermögen nicht oder nur peripher einschränken, sind nicht geeignet, eine außergewöhnliche Gehbehinderung zu begründen. Dies folgt unmittelbar aus den aufgeführten schwerwiegenden Gehbehinderungen der in Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO genannten Personen, mit denen eine Gleichstellung zu prüfen ist. Für die vorzunehmende Beurteilung sind folglich nur die Funktionsbeeinträchtigungen von Belang, die sich auf das Gehvermögen selbst auswirken. Das sind hier die degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule mit Spinalkanalstenose (die Claudicatio spinalis) und das chronische Schmerzsyndrom. Nicht dazu gehören entgegen der Auffassung des Klägers die die "Wegefähigkeit" als solche beeinträchtigende Sehbehinderung mit Einschränkung des räumlichen Sehens, da diese nur die Orientierungsfähigkeit, nicht aber das Gehen selbst beeinträchtigt, die Funktionsbehinderung beider Schultergelenke, da diese das Gehvermögen selbst ebenfalls nicht beeinträchtigt, sondern nach den eigenen Angaben des Klägers der Zuhilfenahme eines Gehstockes bei längeren Strecken entgegensteht und auch das Restless-Legs-Syndrom, das als eine nur während der Nachtruhe auftretenden Gesundheitsstörung das Gehen selbst gleichfalls nicht tangiert. Soweit der Kläger somit den geltend gemachten Anspruch (auch) mit den genannten Funktionsbeeinträchtigungen begründet, kann ihm nicht gefolgt werden.
31 
Das Gehvermögen des Klägers ist nach dem orthopädischen Gutachten von Dr. W... durch eine ausgeprägte degenerative lumbale Spinalkanalstenose mit claudicatio spinalis bzw. nach dem neurologischen Gutachten von Dr. D. durch ein chronisches Schmerzsyndrom mit Lumboischialgie beidseits bei ausgeprägten degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule ohne Hinweis auf neurologische Ausfallserscheinungen beeinträchtigt. Aus der damit verbundenen Mobilitätseinschränkung - der Beklagte hat für den entsprechenden Behinderungskomplex einen GdB von 50 angenommen - resultiert zwar eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Nachteilsausgleich G). Eine die außergewöhnliche Gehbehinderung begründende große Anstrengung ist damit nicht nachgewiesen.
32 
Dagegen sprechen zunächst die eigenen anamnestischen Angaben des Klägers nach den aktenkundigen Klinik- und Arztberichten sowie in den vom Senat eingeholten fachärztlichen Gutachten. So heißt es im Entlassungsbericht der A-Klinik S. vom 11.10.2007, dass der Kläger angegeben habe, immer wieder mache ihm eine Ischialgie zu schaffen. Morgens benötige er noch eine relativ lange Anlaufzeit, um in die Gänge zu kommen, wenn er „eingelaufen“ sei, käme er zufriedenstellend zurecht. Im Widerspruchsverfahren hat der Kläger angegeben, zur Zeit sei er aufgrund einer seit Jahren bestehenden therapieresistenten Ischialgie links und einer Lumbago nicht in der Lage, längere Strecken als 200 bis 300 m trotz Gehhilfe zurückzulegen. Von einer großen Anstrengung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - ist weder im genannten Entlassungsbericht noch im Schreiben des Klägers die Rede. Nach seinen Angaben gegenüber dem Sachverständigen Dr. D. nähmen seine Schmerzen, besonders im Bereich Glutaealgegend und der Vorderfüße, nach einer Gehstrecke von 100 bis 150 m (mit Gehstock) zu. Auch diese Angabe des Klägers spricht gegen eine „große Anstrengung“. Dass er nach dieser Gehstrecke den Weg nicht fortsetzen kann, ergibt sich daraus nicht. Vielmehr ist aus seiner Angabe, auch Museumsbesuche zu unternehmen, zu schließen, dass auch längere Wegstrecken zurückgelegt werden. Soweit in der Entgegnung des Klägers auf das Gutachten von Dr. D. (Schreiben vom 15.01.2010) behauptet wird, nach Auftreten der Gehbeschwerden sei ihm ein Weitergehen auch mit dem Rollator praktisch nicht möglich, ist dies wenig glaubhaft. Eine Beeinträchtigung dieses Ausmaßes war bei den Untersuchungen durch die Sachverständigen Dr. W... und Dr. D. nicht angegeben worden, obgleich der Kläger als Arzt sich über die Bedeutung dieses Umstandes bei der Beurteilung der Gehfähigkeit hätte im Klaren sein müssen. Die spätere Einlassung, nach Kenntnis der Beurteilung durch Dr. D., spricht für ein prozesstaktisches Verhalten. Aber selbst dann, wenn man zugunsten des Klägers davon ausgehen würde, dass er schmerzbedingt nach 100 bis 150 m (zunächst) nicht mehr weitergehen kann, wären die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs aG nicht erfüllt, da keine relevanten Erschöpfungszustände nachgewiesen sind, die in ihrer Intensität gleichwertig mit den Erschöpfungszuständen sind, die bei dem ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten auftreten (BSG aaO). Ein solches Erschöpfungsbild liegt beim Kläger nach seinen eigenen Beschwerdeschilderungen nicht vor.
33 
Die Feststellung des Senats anhand der eigenen Angaben des Klägers wird durch die Beurteilungen der sich zu seinem Gehvermögen im Laufe des Verfahrens äußernden Ärzte bestätigt Mit Ausnahme des Sachverständigen Dr. W..., der eine außergewöhnliche Gehbehinderung - allerdings nach Auffassung des Senats zu Unrecht - bejaht hat, haben diese eine außergewöhnliche Gehbehinderung des Klägers entweder direkt oder indirekt verneint. Zu nennen ist zunächst wiederum der Entlassungsbericht der A.-Klinik S. vom 11.10.2007, in dem das Gangbild als leicht hinkend unter Benutzung eines Gehstocks beschrieben worden ist. Dr. M., der im Verfahrensverlauf unterschiedliche Angaben gemacht hat, hat gegenüber dem SG über eine bei Multimorbidität bestehende Gangstörung mit je nach Intensität des Schmerzsyndroms wechselnder Gehfähigkeit berichtet. Bestenfalls - so Dr. M. - bestehe Gehfähigkeit in der Ebene mit Handstock für schätzungsweise wenige 100 m, es gebe jedoch phasenweise Schmerzausprägungen mit vollständiger Immobilität, was letztlich auch seiner Äußerung 6 Monate zuvor im Befundschein vom 30.07.2007 widerspricht, es bestehe sichere Gehfähigkeit mit Handstock. Von einer großen Anstrengung, die der Kläger schon von den ersten Schritten an aufwenden muss, ist nach dieser Aussage nicht auszugehen. Die nach diesen Angaben von Dr. M. zeitweise vollständige Immobilität kann der Beurteilung nicht zugrunde gelegt werden, weil der Nachteilsausgleich aG eine dauerhafte außergewöhnliche Gehbehinderung erfordert.
34 
Schließlich hat auch Dr. D. in seinem Gutachten vom 27.11.2009 eine außergewöhnliche Gehbehinderung des Klägers verneint. Unabhängig von der vom Sachverständigen aufgeworfenen Frage, ob die kernspintomographisch nachgewiesenen deutlichen degenerativen Veränderungen im Bereich der mittleren und unteren Lendenwirbelsäule mit Einengung des Spinalkanals die vom Kläger angegebenen Schmerzen bei längerem Gehen allein zu erklären vermögen oder ob auch die Möglichkeit besteht, dass eine gewisse Aggravation im Sinne einer funktionellen Verdeutlichungstendenz eine erhebliche Rolle spielt, hat er auf neurologischem Fachgebiet praktisch keinen krankhaften Befund erhoben und auch keine wesentliche Polyneuropathie diagnostiziert. Er kommt deshalb zu dem den Senat überzeugenden Ergebnis, dass aus neurologischer Sicht trotz der deutlichen degenerativen Veränderungen mit Spinalkanalstenose im Lendenwirbelsäulenbereich keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine so deutliche Gehbeeinträchtigung besteht, dass der Nachteilsausgleich aG gerechtfertigt wäre.
35 
Die Beurteilung des Sachverständigen Dr. W... überzeugt den Senat hingegen nicht. Er ist in seinem Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, dass das Zusammenwirken der Claudicatio spinalis infolge der degenerativen Lumbalkanalstenose und der bestehenden Polyneuropathie und des Restless-legs-Syndroms und die gestörte Sehfähigkeit eine außergewöhnliche Gehbehinderung wahrscheinlich erscheinen lassen. Dem kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil der Sachverständige die bei der Beurteilung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nicht zu berücksichtigende Sehbehinderung des Klägers und eine Polyneuropathie, - nach der Beurteilung des insoweit fachkompetenteren Sachverständigen Dr. D. gibt es keinen ausreichenden Hinweis auf eine wesentliche Polyneuropathie - sowie das Restless-legs-Syndrom, das nur im Ruhezustand oder nachts beim Schlafen Beschwerden verursacht und nach der ebenfalls nachvollziehbaren Beurteilung von Dr. D. eine irgendwie geartete Gehbehinderung nicht erklären kann, in seine (Gesamt-) Beurteilung mit einbezogen hat. Dies ist jedoch - wie bereits ausgeführt - nicht gerechtfertigt. Dr. W... verweist in seinem Gutachten selbst darauf, dass die aus der Claudicatio spinalis resultierenden körperlich schwindenden Kräfte teilweise durch den benutzten Rollator kompensiert werden können, was mit der Einschätzung der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. R. vom 23.06.2009 übereinstimmt. Die geklagte und von den Sachverständigen beschriebene Gangunsicherheit ist auch nach Dr. W... durch die Claudicatio spinalis nicht zu erklären. Eine mit Länge der Wegstrecke zunehmende Schmerzhaftigkeit bejaht Dr. W... nur als hinreichende Beeinträchtigung für die Annahme des Merkzeichens a.G. unter der nicht gerechtfertigten Berücksichtigung der Polyneuropathie und des Restless-legs-Syndroms. Soweit Dr. W... seine Einschätzung auch damit begründet, das Gehen des einen Handstock in der rechten Hand benutzenden Klägers sei auf dem Weg zum Untersuchungszimmer nur unter großen Anstrengungen, kleinschrittig, unsicher und erheblich verlangsamt möglich gewesen und dies auch nochmals in seiner ergänzenden Äußerung vom 08.09.2009 betont, überzeugt dies den Senat angesichts der hiermit nicht im Einklang stehenden eigenen Angaben des Klägers und der entgegenstehenden anderen ärztlichen Beurteilungen nicht; zumal Dr. D. teilweise eine funktionelle Ausgestaltung der Beschwerden beschreibt. Entgegen der Auffassung des Klägers finden sich Hinweise auf eine Voreingenommenheit des Sachverständigen Dr. D. nicht. Er hat seine gutachtlichen Bewertungen sachlich begründet und besitzt als Neurologe zur Beurteilung von Schmerzen und differenzialdiagnostischer psychiatrischer Krankheitsbilder auch die erforderliche Sachkunde (vgl. u.a. Weiterbildungsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg, Stand 01.10.2003, § 2 i.V.m. Abschnitt 1 Nr. 24 ).
36 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
37 
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Gründe

 
21 
Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat nach Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft und insgesamt zulässig.
22 
Die Berufung ist aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs aG.
23 
Nach § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) iVm §§ 1 Abs. 4 und 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung vom 25.07.1991, zuletzt geändert durch Art. 7 des Gesetzes vom 02.12.2006 (BGBl. I S. 2742), ist auf Antrag des behinderten Menschen der Nachteilsausgleich aG in den Schwerbehindertenausweis einzutragen, wenn der behinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist. Ein solcher Vermerk ist Grundlage für die Inanspruchnahme von Parkerleichterungen, die von den Straßenverkehrsbehörden für bestimmte Ausnahmefälle vorgesehen sind.
24 
Eine derartige straßenverkehrsrechtliche Vorschrift ist die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) vom 26.01.2001 (BAnz S. 1419, ber. S. 5206), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndVwV vom 10.04.2006 (BAnz S. 2968). Nach Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlichen Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können, oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem zuvor genannten Personenkreis gleichzustellen sind.
25 
Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 1. Halbsatz VwV-StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 23). Hierbei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschrift nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sonder darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG SozR 3-3250 § 69 Nr. 1).
26 
Soweit der Beklagte sich auf die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) beruft, ist dies rechtlich nicht beachtlich. Die Regelungen der VG zum Merkzeichen aG sind mangels ausreichender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig und unwirksam. Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 17 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthalten weder § 30 Abs. 17 BVG, der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht in SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche ist auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX vorhanden. Der Senat geht insoweit von einer Teilnichtigkeit der VersMedV aus, da der Teil der VG - als Anhang zu § 2 Teil der Verordnung - durch die Unwirksamkeit der genannten Regelungen nicht berührt wird und auch im übrigen die Regelungen der VersMedV nicht betroffen sind. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs sind daher allein die genannten gesetzlichen Regelungen und die hierzu in ständiger Rechtsprechung zulässig anzuwendenden Verwaltungsvorschriften.
27 
Der Kläger, der unstreitig nicht zum ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten gehört, ist diesem Personenkreis auch nicht gleichgestellt, da seine Gehfähigkeit nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nicht nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in der VwV genannten Personen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Dies steht aufgrund der vorliegenden ärztlichen Unterlagen, insbesondere den im Berufungsverfahren von Dr. W... und Dr. D. eingeholten fachärztlichen Gutachten, für den Senat fest.
28 
Der Kläger kann sich nicht nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen. Dies macht er auch selbst nicht geltend. Der Kläger erfüllt auch nicht die Tatbestandsalternative, dass er nur unter ebenso großer Anstrengung wie die ausdrücklich genannten außergewöhnlich Gehbehinderten fortbewegen kann. Die für den Nachteilsausgleich aG geforderte große körperliche Anstrengung ist nach der bereits genannten Entscheidung des BSG dann gegeben, wenn die Wegstreckenlimitierung (im vom BSG zu entscheidenden Rechtsstreit auf 30 m Wegstrecke beschränkt) darauf beruht, dass der Betroffene bereits nach kurzer Wegstrecke erschöpft ist und neue Kräfte sammeln muss, bevor er weitergehen kann. Dass der betroffene Gehbehinderte nach einer bestimmten Strecke eine Pause machen muss, ist allerdings lediglich Indiz für eine Erschöpfung. Für den Nachteilsausgleich aG reichen irgend welche Erschöpfungszustände zudem nicht aus (BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R). Vielmehr müssen sie in ihrer Intensität mit den Erschöpfungszuständen gleichwertig sein, die bei den ausdrücklich genannten außergewöhnlich Gehbehinderten auftreten. Gradmesser hierfür kann die Intensität des Schmerzes oder der Luftnot nach dem Zurücklegen einer bestimmten Wegstrecke sein. Ein solches Erschöpfungsbild lässt sich u.a. aus der Dauer der erforderlichen Pause sowie den Umständen herleiten, unter denen der Betroffene nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist im Hinblick auf den von den Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar (a.a.O.).
29 
Bei Beachtung dieser Beurteilungskriterien und Anlegung der genannten Maßstäbe steht für den Senat fest, dass sich der Kläger nicht nur noch mit großer Anstrengung fortbewegen kann. Zunächst ist im Hinblick auf das Vorbringen des Klägers festzustellen, dass im Rahmen der Prüfung, ob eine außergewöhnliche Gehbehinderung vorliegt und damit auch bei der Prüfung der Frage der „großen Anstrengung“ weder der Wohnort des Betroffenen noch die Art und etwaige Besonderheiten der von ihm üblicherweise benutzten Wege Bedeutung zukommt. Auch der Zweck der angestrebten Parkerleichterung spielt keine Rolle. Schlechte Verkehrsanbindung, Wege mit Steigungen oder Gefälle bzw. die Notwendigkeit, Treppen zu überwinden sind daher ebenso wenig zu berücksichtigen wie der Umstand, dass die Parkerleichterung hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Besuch von Arztpraxen geltend gemacht wird. Das entsprechende Vorbringen des Klägers ist daher nicht geeignet, den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs aG zu begründen.
30 
Maßgebend sind außerdem nur die Beeinträchtigungen des Gehvermögens und nicht Funktionsstörungen, die das Gehvermögen selbst nicht beeinträchtigen. Gesundheitsstörungen, die das Gehvermögen nicht oder nur peripher einschränken, sind nicht geeignet, eine außergewöhnliche Gehbehinderung zu begründen. Dies folgt unmittelbar aus den aufgeführten schwerwiegenden Gehbehinderungen der in Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO genannten Personen, mit denen eine Gleichstellung zu prüfen ist. Für die vorzunehmende Beurteilung sind folglich nur die Funktionsbeeinträchtigungen von Belang, die sich auf das Gehvermögen selbst auswirken. Das sind hier die degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule mit Spinalkanalstenose (die Claudicatio spinalis) und das chronische Schmerzsyndrom. Nicht dazu gehören entgegen der Auffassung des Klägers die die "Wegefähigkeit" als solche beeinträchtigende Sehbehinderung mit Einschränkung des räumlichen Sehens, da diese nur die Orientierungsfähigkeit, nicht aber das Gehen selbst beeinträchtigt, die Funktionsbehinderung beider Schultergelenke, da diese das Gehvermögen selbst ebenfalls nicht beeinträchtigt, sondern nach den eigenen Angaben des Klägers der Zuhilfenahme eines Gehstockes bei längeren Strecken entgegensteht und auch das Restless-Legs-Syndrom, das als eine nur während der Nachtruhe auftretenden Gesundheitsstörung das Gehen selbst gleichfalls nicht tangiert. Soweit der Kläger somit den geltend gemachten Anspruch (auch) mit den genannten Funktionsbeeinträchtigungen begründet, kann ihm nicht gefolgt werden.
31 
Das Gehvermögen des Klägers ist nach dem orthopädischen Gutachten von Dr. W... durch eine ausgeprägte degenerative lumbale Spinalkanalstenose mit claudicatio spinalis bzw. nach dem neurologischen Gutachten von Dr. D. durch ein chronisches Schmerzsyndrom mit Lumboischialgie beidseits bei ausgeprägten degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule ohne Hinweis auf neurologische Ausfallserscheinungen beeinträchtigt. Aus der damit verbundenen Mobilitätseinschränkung - der Beklagte hat für den entsprechenden Behinderungskomplex einen GdB von 50 angenommen - resultiert zwar eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Nachteilsausgleich G). Eine die außergewöhnliche Gehbehinderung begründende große Anstrengung ist damit nicht nachgewiesen.
32 
Dagegen sprechen zunächst die eigenen anamnestischen Angaben des Klägers nach den aktenkundigen Klinik- und Arztberichten sowie in den vom Senat eingeholten fachärztlichen Gutachten. So heißt es im Entlassungsbericht der A-Klinik S. vom 11.10.2007, dass der Kläger angegeben habe, immer wieder mache ihm eine Ischialgie zu schaffen. Morgens benötige er noch eine relativ lange Anlaufzeit, um in die Gänge zu kommen, wenn er „eingelaufen“ sei, käme er zufriedenstellend zurecht. Im Widerspruchsverfahren hat der Kläger angegeben, zur Zeit sei er aufgrund einer seit Jahren bestehenden therapieresistenten Ischialgie links und einer Lumbago nicht in der Lage, längere Strecken als 200 bis 300 m trotz Gehhilfe zurückzulegen. Von einer großen Anstrengung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - ist weder im genannten Entlassungsbericht noch im Schreiben des Klägers die Rede. Nach seinen Angaben gegenüber dem Sachverständigen Dr. D. nähmen seine Schmerzen, besonders im Bereich Glutaealgegend und der Vorderfüße, nach einer Gehstrecke von 100 bis 150 m (mit Gehstock) zu. Auch diese Angabe des Klägers spricht gegen eine „große Anstrengung“. Dass er nach dieser Gehstrecke den Weg nicht fortsetzen kann, ergibt sich daraus nicht. Vielmehr ist aus seiner Angabe, auch Museumsbesuche zu unternehmen, zu schließen, dass auch längere Wegstrecken zurückgelegt werden. Soweit in der Entgegnung des Klägers auf das Gutachten von Dr. D. (Schreiben vom 15.01.2010) behauptet wird, nach Auftreten der Gehbeschwerden sei ihm ein Weitergehen auch mit dem Rollator praktisch nicht möglich, ist dies wenig glaubhaft. Eine Beeinträchtigung dieses Ausmaßes war bei den Untersuchungen durch die Sachverständigen Dr. W... und Dr. D. nicht angegeben worden, obgleich der Kläger als Arzt sich über die Bedeutung dieses Umstandes bei der Beurteilung der Gehfähigkeit hätte im Klaren sein müssen. Die spätere Einlassung, nach Kenntnis der Beurteilung durch Dr. D., spricht für ein prozesstaktisches Verhalten. Aber selbst dann, wenn man zugunsten des Klägers davon ausgehen würde, dass er schmerzbedingt nach 100 bis 150 m (zunächst) nicht mehr weitergehen kann, wären die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs aG nicht erfüllt, da keine relevanten Erschöpfungszustände nachgewiesen sind, die in ihrer Intensität gleichwertig mit den Erschöpfungszuständen sind, die bei dem ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten auftreten (BSG aaO). Ein solches Erschöpfungsbild liegt beim Kläger nach seinen eigenen Beschwerdeschilderungen nicht vor.
33 
Die Feststellung des Senats anhand der eigenen Angaben des Klägers wird durch die Beurteilungen der sich zu seinem Gehvermögen im Laufe des Verfahrens äußernden Ärzte bestätigt Mit Ausnahme des Sachverständigen Dr. W..., der eine außergewöhnliche Gehbehinderung - allerdings nach Auffassung des Senats zu Unrecht - bejaht hat, haben diese eine außergewöhnliche Gehbehinderung des Klägers entweder direkt oder indirekt verneint. Zu nennen ist zunächst wiederum der Entlassungsbericht der A.-Klinik S. vom 11.10.2007, in dem das Gangbild als leicht hinkend unter Benutzung eines Gehstocks beschrieben worden ist. Dr. M., der im Verfahrensverlauf unterschiedliche Angaben gemacht hat, hat gegenüber dem SG über eine bei Multimorbidität bestehende Gangstörung mit je nach Intensität des Schmerzsyndroms wechselnder Gehfähigkeit berichtet. Bestenfalls - so Dr. M. - bestehe Gehfähigkeit in der Ebene mit Handstock für schätzungsweise wenige 100 m, es gebe jedoch phasenweise Schmerzausprägungen mit vollständiger Immobilität, was letztlich auch seiner Äußerung 6 Monate zuvor im Befundschein vom 30.07.2007 widerspricht, es bestehe sichere Gehfähigkeit mit Handstock. Von einer großen Anstrengung, die der Kläger schon von den ersten Schritten an aufwenden muss, ist nach dieser Aussage nicht auszugehen. Die nach diesen Angaben von Dr. M. zeitweise vollständige Immobilität kann der Beurteilung nicht zugrunde gelegt werden, weil der Nachteilsausgleich aG eine dauerhafte außergewöhnliche Gehbehinderung erfordert.
34 
Schließlich hat auch Dr. D. in seinem Gutachten vom 27.11.2009 eine außergewöhnliche Gehbehinderung des Klägers verneint. Unabhängig von der vom Sachverständigen aufgeworfenen Frage, ob die kernspintomographisch nachgewiesenen deutlichen degenerativen Veränderungen im Bereich der mittleren und unteren Lendenwirbelsäule mit Einengung des Spinalkanals die vom Kläger angegebenen Schmerzen bei längerem Gehen allein zu erklären vermögen oder ob auch die Möglichkeit besteht, dass eine gewisse Aggravation im Sinne einer funktionellen Verdeutlichungstendenz eine erhebliche Rolle spielt, hat er auf neurologischem Fachgebiet praktisch keinen krankhaften Befund erhoben und auch keine wesentliche Polyneuropathie diagnostiziert. Er kommt deshalb zu dem den Senat überzeugenden Ergebnis, dass aus neurologischer Sicht trotz der deutlichen degenerativen Veränderungen mit Spinalkanalstenose im Lendenwirbelsäulenbereich keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine so deutliche Gehbeeinträchtigung besteht, dass der Nachteilsausgleich aG gerechtfertigt wäre.
35 
Die Beurteilung des Sachverständigen Dr. W... überzeugt den Senat hingegen nicht. Er ist in seinem Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, dass das Zusammenwirken der Claudicatio spinalis infolge der degenerativen Lumbalkanalstenose und der bestehenden Polyneuropathie und des Restless-legs-Syndroms und die gestörte Sehfähigkeit eine außergewöhnliche Gehbehinderung wahrscheinlich erscheinen lassen. Dem kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil der Sachverständige die bei der Beurteilung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nicht zu berücksichtigende Sehbehinderung des Klägers und eine Polyneuropathie, - nach der Beurteilung des insoweit fachkompetenteren Sachverständigen Dr. D. gibt es keinen ausreichenden Hinweis auf eine wesentliche Polyneuropathie - sowie das Restless-legs-Syndrom, das nur im Ruhezustand oder nachts beim Schlafen Beschwerden verursacht und nach der ebenfalls nachvollziehbaren Beurteilung von Dr. D. eine irgendwie geartete Gehbehinderung nicht erklären kann, in seine (Gesamt-) Beurteilung mit einbezogen hat. Dies ist jedoch - wie bereits ausgeführt - nicht gerechtfertigt. Dr. W... verweist in seinem Gutachten selbst darauf, dass die aus der Claudicatio spinalis resultierenden körperlich schwindenden Kräfte teilweise durch den benutzten Rollator kompensiert werden können, was mit der Einschätzung der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. R. vom 23.06.2009 übereinstimmt. Die geklagte und von den Sachverständigen beschriebene Gangunsicherheit ist auch nach Dr. W... durch die Claudicatio spinalis nicht zu erklären. Eine mit Länge der Wegstrecke zunehmende Schmerzhaftigkeit bejaht Dr. W... nur als hinreichende Beeinträchtigung für die Annahme des Merkzeichens a.G. unter der nicht gerechtfertigten Berücksichtigung der Polyneuropathie und des Restless-legs-Syndroms. Soweit Dr. W... seine Einschätzung auch damit begründet, das Gehen des einen Handstock in der rechten Hand benutzenden Klägers sei auf dem Weg zum Untersuchungszimmer nur unter großen Anstrengungen, kleinschrittig, unsicher und erheblich verlangsamt möglich gewesen und dies auch nochmals in seiner ergänzenden Äußerung vom 08.09.2009 betont, überzeugt dies den Senat angesichts der hiermit nicht im Einklang stehenden eigenen Angaben des Klägers und der entgegenstehenden anderen ärztlichen Beurteilungen nicht; zumal Dr. D. teilweise eine funktionelle Ausgestaltung der Beschwerden beschreibt. Entgegen der Auffassung des Klägers finden sich Hinweise auf eine Voreingenommenheit des Sachverständigen Dr. D. nicht. Er hat seine gutachtlichen Bewertungen sachlich begründet und besitzt als Neurologe zur Beurteilung von Schmerzen und differenzialdiagnostischer psychiatrischer Krankheitsbilder auch die erforderliche Sachkunde (vgl. u.a. Weiterbildungsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg, Stand 01.10.2003, § 2 i.V.m. Abschnitt 1 Nr. 24 ).
36 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
37 
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien sind in der Anlage zu dieser Verordnung*als deren Bestandteil festgelegt.

(1) Die Straßenverkehrsbehörden können die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Das gleiche Recht haben sie

1.
zur Durchführung von Arbeiten im Straßenraum,
2.
zur Verhütung außerordentlicher Schäden an der Straße,
3.
zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen,
4.
zum Schutz der Gewässer und Heilquellen,
5.
hinsichtlich der zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen sowie
6.
zur Erforschung des Unfallgeschehens, des Verkehrsverhaltens, der Verkehrsabläufe sowie zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen.

(1a) Das gleiche Recht haben sie ferner

1.
in Bade- und heilklimatischen Kurorten,
2.
in Luftkurorten,
3.
in Erholungsorten von besonderer Bedeutung,
4.
in Landschaftsgebieten und Ortsteilen, die überwiegend der Erholung dienen,
4a.
hinsichtlich örtlich begrenzter Maßnahmen aus Gründen des Arten- oder Biotopschutzes,
4b.
hinsichtlich örtlich und zeitlich begrenzter Maßnahmen zum Schutz kultureller Veranstaltungen, die außerhalb des Straßenraums stattfinden und durch den Straßenverkehr, insbesondere durch den von diesem ausgehenden Lärm, erheblich beeinträchtigt werden,
5.
in der Nähe von Krankenhäusern und Pflegeanstalten sowie
6.
in unmittelbarer Nähe von Erholungsstätten außerhalb geschlossener Ortschaften,
wenn dadurch anders nicht vermeidbare Belästigungen durch den Fahrzeugverkehr verhütet werden können.

(1b) Die Straßenverkehrsbehörden treffen auch die notwendigen Anordnungen

1.
im Zusammenhang mit der Einrichtung von gebührenpflichtigen Parkplätzen für Großveranstaltungen,
2.
im Zusammenhang mit der Kennzeichnung von Parkmöglichkeiten für schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung, beidseitiger Amelie oder Phokomelie oder mit vergleichbaren Funktionseinschränkungen sowie für blinde Menschen,
2a.
im Zusammenhang mit der Kennzeichnung von Parkmöglichkeiten für Bewohner städtischer Quartiere mit erheblichem Parkraummangel durch vollständige oder zeitlich beschränkte Reservierung des Parkraums für die Berechtigten oder durch Anordnung der Freistellung von angeordneten Parkraumbewirtschaftungsmaßnahmen,
3.
zur Kennzeichnung von Fußgängerbereichen und verkehrsberuhigten Bereichen,
4.
zur Erhaltung der Sicherheit oder Ordnung in diesen Bereichen sowie
5.
zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm und Abgasen oder zur Unterstützung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung.
Die Straßenverkehrsbehörden ordnen die Parkmöglichkeiten für Bewohner, die Kennzeichnung von Fußgängerbereichen, verkehrsberuhigten Bereichen und Maßnahmen zum Schutze der Bevölkerung vor Lärm und Abgasen oder zur Unterstützung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung im Einvernehmen mit der Gemeinde an.

(1c) Die Straßenverkehrsbehörden ordnen ferner innerhalb geschlossener Ortschaften, insbesondere in Wohngebieten und Gebieten mit hoher Fußgänger- und Fahrradverkehrsdichte sowie hohem Querungsbedarf, Tempo 30-Zonen im Einvernehmen mit der Gemeinde an. Die Zonen-Anordnung darf sich weder auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) noch auf weitere Vorfahrtstraßen (Zeichen 306) erstrecken. Sie darf nur Straßen ohne Lichtzeichen geregelte Kreuzungen oder Einmündungen, Fahrstreifenbegrenzungen (Zeichen 295), Leitlinien (Zeichen 340) und benutzungspflichtige Radwege (Zeichen 237, 240, 241 oder Zeichen 295 in Verbindung mit Zeichen 237) umfassen. An Kreuzungen und Einmündungen innerhalb der Zone muss grundsätzlich die Vorfahrtregel nach § 8 Absatz 1 Satz 1 („rechts vor links“) gelten. Abweichend von Satz 3 bleiben vor dem 1. November 2000 angeordnete Tempo 30-Zonen mit Lichtzeichenanlagen zum Schutz der Fußgänger zulässig.

(1d) In zentralen städtischen Bereichen mit hohem Fußgängeraufkommen und überwiegender Aufenthaltsfunktion (verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche) können auch Zonen-Geschwindigkeitsbeschränkungen von weniger als 30 km/h angeordnet werden.

(1e) Die Straßenverkehrsbehörden ordnen die für den Betrieb von mautgebührenpflichtigen Strecken erforderlichen Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen auf der Grundlage des vom Konzessionsnehmer vorgelegten Verkehrszeichenplans an. Die erforderlichen Anordnungen sind spätestens drei Monate nach Eingang des Verkehrszeichenplans zu treffen.

(1f) Zur Kennzeichnung der in einem Luftreinhalteplan oder einem Plan für kurzfristig zu ergreifende Maßnahmen nach § 47 Absatz 1 oder 2 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes festgesetzten Umweltzonen ordnet die Straßenverkehrsbehörde die dafür erforderlichen Verkehrsverbote mittels der Zeichen 270.1 und 270.2 in Verbindung mit dem dazu vorgesehenen Zusatzzeichen an.

(1g) Zur Bevorrechtigung elektrisch betriebener Fahrzeuge ordnet die Straßenverkehrsbehörde unter Beachtung der Anforderungen des § 3 Absatz 1 des Elektromobilitätsgesetzes die dafür erforderlichen Zeichen 314, 314.1 und 315 in Verbindung mit dem dazu vorgesehenen Zusatzzeichen an.

(1h) Zur Parkbevorrechtigung von Carsharingfahrzeugen ordnet die Straßenverkehrsbehörde unter Beachtung der Anforderungen der §§ 2 und 3 des Carsharinggesetzes die dafür erforderlichen Zeichen 314, 314.1 und 315 in Verbindung mit dem dazu vorgesehenen Zusatzzeichen mit dem Carsharingsinnbild nach § 39 Absatz 11 an. Soll die Parkfläche nur für ein bestimmtes Carsharingunternehmen vorgehalten werden, ist auf einem weiteren Zusatzzeichen unterhalb dieses Zusatzzeichens die Firmenbezeichnung des Carsharingunternehmens namentlich in schwarzer Schrift auf weißem Grund anzuordnen.

(1i) Die Straßenverkehrsbehörden ordnen ferner innerhalb geschlossener Ortschaften, insbesondere in Gebieten mit hoher Fahrradverkehrsdichte, Fahrradzonen im Einvernehmen mit der Gemeinde an. Die Zonen-Anordnung darf sich weder auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) noch auf weitere Vorfahrtstraßen (Zeichen 306) erstrecken. Sie darf nur Straßen ohne Lichtzeichen geregelte Kreuzungen oder Einmündungen, Fahrstreifenbegrenzungen (Zeichen 295), Leitlinien (Zeichen 340) und benutzungspflichtige Radwege (Zeichen 237, 240, 241 oder Zeichen 295 in Verbindung mit Zeichen 237) umfassen. An Kreuzungen und Einmündungen innerhalb der Zone muss grundsätzlich die Vorfahrtregel nach § 8 Absatz 1 Satz 1 („rechts vor links“) gelten. Die Anordnung einer Fahrradzone darf sich nicht mit der Anordnung einer Tempo 30-Zone überschneiden. Innerhalb der Fahrradzone ist in regelmäßigen Abständen das Zeichen 244.3 als Sinnbild auf der Fahrbahn aufzubringen.

(2) Zur Durchführung von Straßenbauarbeiten und zur Verhütung von außerordentlichen Schäden an der Straße, die durch deren baulichen Zustand bedingt sind, können die nach Landesrecht für den Straßenbau bestimmten Behörden (Straßenbaubehörde) – vorbehaltlich anderer Maßnahmen der Straßenverkehrsbehörden – Verkehrsverbote und -beschränkungen anordnen, den Verkehr umleiten und ihn durch Markierungen und Leiteinrichtungen lenken. Für Bahnübergänge von Eisenbahnen des öffentlichen Verkehrs können nur die Bahnunternehmen durch Blinklicht- oder Lichtzeichenanlagen, durch rot-weiß gestreifte Schranken oder durch Aufstellung des Andreaskreuzes ein bestimmtes Verhalten der Verkehrsteilnehmer vorschreiben. Für Bahnübergänge von Straßenbahnen auf unabhängigem Bahnkörper gilt Satz 2 mit der Maßgabe entsprechend, dass die Befugnis zur Anordnung der Maßnahmen der nach personenbeförderungsrechtlichen Vorschriften zuständigen Technischen Aufsichtsbehörde des Straßenbahnunternehmens obliegt. Alle Gebote und Verbote sind durch Zeichen und Verkehrseinrichtungen nach dieser Verordnung anzuordnen.

(3) Im Übrigen bestimmen die Straßenverkehrsbehörden, wo und welche Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen anzubringen und zu entfernen sind, bei Straßennamensschildern nur darüber, wo diese so anzubringen sind, wie Zeichen 437 zeigt. Die Straßenbaubehörden legen – vorbehaltlich anderer Anordnungen der Straßenverkehrsbehörden – die Art der Anbringung und der Ausgestaltung, wie Übergröße, Beleuchtung fest; ob Leitpfosten anzubringen sind, bestimmen sie allein. Sie können auch – vorbehaltlich anderer Maßnahmen der Straßenverkehrsbehörden – Gefahrzeichen anbringen, wenn die Sicherheit des Verkehrs durch den Zustand der Straße gefährdet wird.

(4) Die genannten Behörden dürfen den Verkehr nur durch Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen regeln und lenken; in dem Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nummer 5 jedoch auch durch Anordnungen, die durch Rundfunk, Fernsehen, Tageszeitungen oder auf andere Weise bekannt gegeben werden, sofern die Aufstellung von Verkehrszeichen und -einrichtungen nach den gegebenen Umständen nicht möglich ist.

(5) Zur Beschaffung, Anbringung, Unterhaltung und Entfernung der Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen und zu deren Betrieb einschließlich ihrer Beleuchtung ist der Baulastträger verpflichtet, sonst der Eigentümer der Straße. Das gilt auch für die von der Straßenverkehrsbehörde angeordnete Beleuchtung von Fußgängerüberwegen.

(6) Vor dem Beginn von Arbeiten, die sich auf den Straßenverkehr auswirken, müssen die Unternehmer – die Bauunternehmer unter Vorlage eines Verkehrszeichenplans – von der zuständigen Behörde Anordnungen nach den Absätzen 1 bis 3 darüber einholen, wie ihre Arbeitsstellen abzusperren und zu kennzeichnen sind, ob und wie der Verkehr, auch bei teilweiser Straßensperrung, zu beschränken, zu leiten und zu regeln ist, ferner ob und wie sie gesperrte Straßen und Umleitungen zu kennzeichnen haben. Sie haben diese Anordnungen zu befolgen und Lichtzeichenanlagen zu bedienen.

(7) Sind Straßen als Vorfahrtstraßen oder als Verkehrsumleitungen gekennzeichnet, bedürfen Baumaßnahmen, durch welche die Fahrbahn eingeengt wird, der Zustimmung der Straßenverkehrsbehörde; ausgenommen sind die laufende Straßenunterhaltung sowie Notmaßnahmen. Die Zustimmung gilt als erteilt, wenn sich die Behörde nicht innerhalb einer Woche nach Eingang des Antrags zu der Maßnahme geäußert hat.

(7a) Die Besatzung von Fahrzeugen, die im Pannenhilfsdienst, bei Bergungsarbeiten und bei der Vorbereitung von Abschleppmaßnahmen eingesetzt wird, darf bei Gefahr im Verzug zur Eigensicherung, zur Absicherung des havarierten Fahrzeugs und zur Sicherung des übrigen Verkehrs an der Pannenstelle Leitkegel (Zeichen 610) aufstellen.

(8) Die Straßenverkehrsbehörden können innerhalb geschlossener Ortschaften die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf bestimmten Straßen durch Zeichen 274 erhöhen. Außerhalb geschlossener Ortschaften können sie mit Zustimmung der zuständigen obersten Landesbehörden die nach § 3 Absatz 3 Nummer 2 Buchstabe c zulässige Höchstgeschwindigkeit durch Zeichen 274 auf 120 km/h anheben.

(9) Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist. Dabei dürfen Gefahrzeichen nur dort angeordnet werden, wo es für die Sicherheit des Verkehrs erforderlich ist, weil auch ein aufmerksamer Verkehrsteilnehmer die Gefahr nicht oder nicht rechtzeitig erkennen kann und auch nicht mit ihr rechnen muss. Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Satz 3 gilt nicht für die Anordnung von

1.
Schutzstreifen für den Radverkehr (Zeichen 340),
2.
Fahrradstraßen (Zeichen 244.1),
3.
Sonderwegen außerhalb geschlossener Ortschaften (Zeichen 237, Zeichen 240, Zeichen 241) oder Radfahrstreifen innerhalb geschlossener Ortschaften (Zeichen 237 in Verbindung mit Zeichen 295),
4.
Tempo 30-Zonen nach Absatz 1c,
5.
verkehrsberuhigten Geschäftsbereichen nach Absatz 1d,
6.
innerörtlichen streckenbezogenen Geschwindigkeitsbeschränkungen von 30 km/h (Zeichen 274) nach Absatz 1 Satz 1 auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) oder auf weiteren Vorfahrtstraßen (Zeichen 306) im unmittelbaren Bereich von an diesen Straßen gelegenen Kindergärten, Kindertagesstätten, allgemeinbildenden Schulen, Förderschulen, Alten- und Pflegeheimen oder Krankenhäusern,
7.
Erprobungsmaßnahmen nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zweiter Halbsatz,
8.
Fahrradzonen nach Absatz 1i.
Satz 3 gilt ferner nicht für Beschränkungen oder Verbote des fließenden Verkehrs nach Absatz 1 Satz 1 oder 2 Nummer 3 zur Beseitigung oder Abmilderung von erheblichen Auswirkungen veränderter Verkehrsverhältnisse, die durch die Erhebung der Maut nach dem Bundesfernstraßenmautgesetz hervorgerufen worden sind. Satz 3 gilt zudem nicht zur Kennzeichnung der in einem Luftreinhalteplan oder einem Plan für kurzfristig zu ergreifende Maßnahmen nach § 47 Absatz 1 oder 2 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes festgesetzten Umweltzonen nach Absatz 1f.

(10) Absatz 9 gilt nicht, soweit Verkehrszeichen angeordnet werden, die zur Förderung der Elektromobilität nach dem Elektromobilitätsgesetz oder zur Förderung des Carsharing nach dem Carsharinggesetz getroffen werden dürfen.

(11) Absatz 1 Satz 1 und 2 Nummer 1 bis 3, 5 und 6, Absatz 1a, 1f, 2 Satz 1 und 4, Absatz 3, 4, 5 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1, Absatz 7 sowie Absatz 9 Satz 1 bis 3, 4 Nummer 7 und Satz 6 gelten entsprechend für mit den Zeichen 330.1 und 330.2 gekennzeichnete Autobahnen in der Baulast des Bundes für das Fernstraßen-Bundesamt. Absatz 2 Satz 1 und 4 sowie Absatz 3, 4 und 7 gelten entsprechend für Bundesstraßen in Bundesverwaltung für das Fernstraßen-Bundesamt.

(1) Im Ausweis sind auf der Rückseite folgende Merkzeichen einzutragen:

1.aGwenn der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 229 Absatz 3 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist,

2.Hwenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33b des Einkommensteuergesetzes oder entsprechender Vorschriften ist,

3.BIwenn der schwerbehinderte Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist,

4.GIwenn der schwerbehinderte Mensch gehörlos im Sinne des § 228 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist,

5.RFwenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt,

6.1. Kl.wenn der schwerbehinderte Mensch die im Verkehr mit Eisenbahnen tariflich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Benutzung der 1. Wagenklasse mit Fahrausweis der 2. Wagenklasse erfüllt,
7.Gwenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 229 Absatz 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist,
8.TBIwenn der schwerbehinderte Mensch wegen einer Störung der Hörfunktion mindestens einen Grad der Behinderung von 70 und wegen einer Störung des Sehvermögens einen Grad der Behinderung von 100 hat.

(2) Ist der schwerbehinderte Mensch zur Mitnahme einer Begleitperson im Sinne des § 229 Absatz 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch berechtigt, sind auf der Vorderseite des Ausweises das Merkzeichen „B“ und der Satz „Die Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson ist nachgewiesen“ einzutragen.

(1) Die Straßenverkehrsbehörden können in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen genehmigen

1.
von den Vorschriften über die Straßenbenutzung (§ 2);
2.
vorbehaltlich Absatz 2a Satz 1 Nummer 3 vom Verbot, eine Autobahn oder eine Kraftfahrstraße zu betreten oder mit dort nicht zugelassenen Fahrzeugen zu benutzen (§ 18 Absatz 1 und 9);
3.
von den Halt- und Parkverboten (§ 12 Absatz 4);
4.
vom Verbot des Parkens vor oder gegenüber von Grundstücksein- und -ausfahrten (§ 12 Absatz 3 Nummer 3);
4a.
von der Vorschrift, an Parkuhren nur während des Laufens der Uhr, an Parkscheinautomaten nur mit einem Parkschein zu halten (§ 13 Absatz 1);
4b.
von der Vorschrift, im Bereich eines Zonenhaltverbots (Zeichen 290.1 und 290.2) nur während der dort vorgeschriebenen Zeit zu parken (§ 13 Absatz 2);
4c.
von den Vorschriften über das Abschleppen von Fahrzeugen (§ 15a);
5.
von den Vorschriften über Höhe, Länge und Breite von Fahrzeug und Ladung (§ 18 Absatz 1 Satz 2, § 22 Absatz 2 bis 4);
5a.
von dem Verbot der unzulässigen Mitnahme von Personen (§ 21);
5b.
von den Vorschriften über das Anlegen von Sicherheitsgurten und das Tragen von Schutzhelmen (§ 21a);
6.
vom Verbot, Tiere von Kraftfahrzeugen und andere Tiere als Hunde von Fahrrädern aus zu führen (§ 28 Absatz 1 Satz 3 und 4);
7.
vom Sonn- und Feiertagsfahrverbot (§ 30 Absatz 3);
8.
vom Verbot, Hindernisse auf die Straße zu bringen (§ 32 Absatz 1);
9.
von den Verboten, Lautsprecher zu betreiben, Waren oder Leistungen auf der Straße anzubieten (§ 33 Absatz 1 Nummer 1 und 2);
10.
vom Verbot der Werbung und Propaganda in Verbindung mit Verkehrszeichen (§ 33 Absatz 2 Satz 2) nur für die Flächen von Leuchtsäulen, an denen Haltestellenschilder öffentlicher Verkehrsmittel angebracht sind;
11.
von den Verboten oder Beschränkungen, die durch Vorschriftzeichen (Anlage 2), Richtzeichen (Anlage 3), Verkehrseinrichtungen (Anlage 4) oder Anordnungen (§ 45 Absatz 4) erlassen sind;
12.
von dem Nacht- und Sonntagsparkverbot (§ 12 Absatz 3a).
Vom Verbot, Personen auf der Ladefläche oder in Laderäumen mitzunehmen (§ 21 Absatz 2), können für die Dienstbereiche der Bundeswehr, der auf Grund des Nordatlantik-Vertrages errichteten internationalen Hauptquartiere, der Bundespolizei und der Polizei deren Dienststellen, für den Katastrophenschutz die zuständigen Landesbehörden, Ausnahmen genehmigen. Dasselbe gilt für die Vorschrift, dass vorgeschriebene Sicherheitsgurte angelegt sein oder Schutzhelme getragen werden müssen (§ 21a).

(1a) Die Straßenverkehrsbehörden können zur Bevorrechtigung elektrisch betriebener Fahrzeuge allgemein durch Zusatzzeichen Ausnahmen von Verkehrsbeschränkungen, Verkehrsverboten oder Verkehrsumleitungen nach § 45 Absatz 1 Nummer 3, Absatz 1a und 1b Nummer 5 erste Alternative zulassen. Das gleiche Recht haben sie für die Benutzung von Busspuren durch elektrisch betriebene Fahrzeuge. Die Anforderungen des § 3 Absatz 1 des Elektromobilitätsgesetzes sind zu beachten.

(2) Die zuständigen obersten Landesbehörden oder die nach Landesrecht bestimmten Stellen können von allen Vorschriften dieser Verordnung Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Antragsteller genehmigen. Vom Sonn- und Feiertagsfahrverbot (§ 30 Absatz 3) können sie darüber hinaus für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken Ausnahmen zulassen, soweit diese im Rahmen unterschiedlicher Feiertagsregelung in den Ländern (§ 30 Absatz 4) notwendig werden. Erstrecken sich die Auswirkungen der Ausnahme über ein Land hinaus und ist eine einheitliche Entscheidung notwendig, ist das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur zuständig; die Ausnahme erlässt dieses Bundesministerium durch Verordnung.

(2a) Abweichend von Absatz 1 und 2 Satz 1 kann für mit Zeichen 330.1 und 330.2 gekennzeichnete Autobahnen in der Baulast des Bundes das Fernstraßen-Bundesamt in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller folgende Ausnahmen genehmigen:

1.
Ausnahmen vom Verbot, an nicht gekennzeichneten Anschlussstellen ein- oder auszufahren (§ 18 Absatz 2 und 10 Satz 1), im Benehmen mit der nach Landesrecht zuständigen Straßenverkehrsbehörde;
2.
Ausnahmen vom Verbot zu halten (§ 18 Absatz 8);
3.
Ausnahmen vom Verbot, eine Autobahn zu betreten oder mit dort nicht zugelassenen Fahrzeugen zu benutzen (§ 18 Absatz 1 und 9);
4.
Ausnahmen vom Verbot, Werbung und Propaganda durch Bild, Schrift, Licht oder Ton zu betreiben (§ 33 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und Satz 2);
5.
Ausnahmen von der Regelung, dass ein Autohof nur einmal angekündigt werden darf (Zeichen 448.1);
6.
Ausnahmen von den Verboten oder Beschränkungen, die durch Vorschriftzeichen (Anlage 2), Richtzeichen (Anlage 3), Verkehrseinrichtungen (Anlage 4) oder Anordnungen (§ 45 Absatz 4) erlassen sind (Absatz 1 Satz 1 Nummer 11).
Wird neben einer Ausnahmegenehmigung nach Satz 1 Nummer 3 auch eine Erlaubnis nach § 29 Absatz 3 oder eine Ausnahmegenehmigung nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 5 beantragt, ist die Verwaltungsbehörde zuständig, die die Erlaubnis nach § 29 Absatz 3 oder die Ausnahmegenehmigung nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 5 erlässt. Werden Anlagen nach Satz 1 Nummer 4 mit Wirkung auf den mit Zeichen 330.1 und 330.2 gekennzeichneten Autobahnen in der Baulast des Bundes im Widerspruch zum Verbot, Werbung und Propaganda durch Bild, Schrift, Licht oder Ton zu betreiben (§ 33 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und Satz 2), errichtet oder geändert, wird über deren Zulässigkeit
1.
von der Baugenehmigungsbehörde, wenn ein Land hierfür ein bauaufsichtliches Verfahren vorsieht, oder
2.
von der zuständigen Genehmigungsbehörde, wenn ein Land hierfür ein anderes Verfahren vorsieht,
im Benehmen mit dem Fernstraßen-Bundesamt entschieden. Das Fernstraßen-Bundesamt kann verlangen, dass ein Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gestellt wird. Sieht ein Land kein eigenes Genehmigungsverfahren für die Zulässigkeit nach Satz 3 vor, entscheidet das Fernstraßen-Bundesamt.

(3) Ausnahmegenehmigung und Erlaubnis können unter dem Vorbehalt des Widerrufs erteilt werden und mit Nebenbestimmungen (Bedingungen, Befristungen, Auflagen) versehen werden. Erforderlichenfalls kann die zuständige Behörde die Beibringung eines Sachverständigengutachtens auf Kosten des Antragstellers verlangen. Die Bescheide sind mitzuführen und auf Verlangen zuständigen Personen auszuhändigen. Bei Erlaubnissen nach § 29 Absatz 3 und Ausnahmegenehmigungen nach § 46 Absatz 1 Nummer 5 genügt das Mitführen fernkopierter Bescheide oder von Ausdrucken elektronisch erteilter und signierter Bescheide sowie deren digitalisierte Form auf einem Speichermedium, wenn diese derart mitgeführt wird, dass sie bei einer Kontrolle auf Verlangen zuständigen Personen lesbar gemacht werden kann.

(4) Ausnahmegenehmigungen und Erlaubnisse der zuständigen Behörde sind für den Geltungsbereich dieser Verordnung wirksam, sofern sie nicht einen anderen Geltungsbereich nennen.

(1) Ziel der Unterstützten Beschäftigung ist es, Leistungsberechtigten mit besonderem Unterstützungsbedarf eine angemessene, geeignete und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu ermöglichen und zu erhalten. Unterstützte Beschäftigung umfasst eine individuelle betriebliche Qualifizierung und bei Bedarf Berufsbegleitung.

(2) Leistungen zur individuellen betrieblichen Qualifizierung erhalten Menschen mit Behinderungen insbesondere, um sie für geeignete betriebliche Tätigkeiten zu erproben, auf ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorzubereiten und bei der Einarbeitung und Qualifizierung auf einem betrieblichen Arbeitsplatz zu unterstützen. Die Leistungen umfassen auch die Vermittlung von berufsübergreifenden Lerninhalten und Schlüsselqualifikationen sowie die Weiterentwicklung der Persönlichkeit der Menschen mit Behinderungen. Die Leistungen werden vom zuständigen Rehabilitationsträger nach § 6 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 für bis zu zwei Jahre erbracht, soweit sie wegen Art oder Schwere der Behinderung erforderlich sind. Sie können bis zu einer Dauer von weiteren zwölf Monaten verlängert werden, wenn auf Grund der Art oder Schwere der Behinderung der gewünschte nachhaltige Qualifizierungserfolg im Einzelfall nicht anders erreicht werden kann und hinreichend gewährleistet ist, dass eine weitere Qualifizierung zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung führt.

(3) Leistungen der Berufsbegleitung erhalten Menschen mit Behinderungen insbesondere, um nach Begründung eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses die zu dessen Stabilisierung erforderliche Unterstützung und Krisenintervention zu gewährleisten. Die Leistungen werden bei Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers nach § 6 Absatz 1 Nummer 3 oder 5 von diesem, im Übrigen von dem Integrationsamt im Rahmen seiner Zuständigkeit erbracht, solange und soweit sie wegen Art oder Schwere der Behinderung zur Sicherung des Beschäftigungsverhältnisses erforderlich sind.

(4) Stellt der Rehabilitationsträger während der individuellen betrieblichen Qualifizierung fest, dass voraussichtlich eine anschließende Berufsbegleitung erforderlich ist, für die ein anderer Leistungsträger zuständig ist, beteiligt er diesen frühzeitig.

(5) Die Unterstützte Beschäftigung kann von Integrationsfachdiensten oder anderen Trägern durchgeführt werden. Mit der Durchführung kann nur beauftragt werden, wer über die erforderliche Leistungsfähigkeit verfügt, um seine Aufgaben entsprechend den individuellen Bedürfnissen der Menschen mit Behinderungen erfüllen zu können. Insbesondere müssen die Beauftragten

1.
über Fachkräfte verfügen, die eine geeignete Berufsqualifikation, eine psychosoziale oder arbeitspädagogische Zusatzqualifikation und eine ausreichende Berufserfahrung besitzen,
2.
in der Lage sein, den Menschen mit Behinderungen geeignete individuelle betriebliche Qualifizierungsplätze zur Verfügung zu stellen und ihre berufliche Eingliederung zu unterstützen,
3.
über die erforderliche räumliche und sächliche Ausstattung verfügen sowie
4.
ein System des Qualitätsmanagements im Sinne des § 37 Absatz 2 Satz 1 anwenden.

(6) Zur Konkretisierung und Weiterentwicklung der in Absatz 5 genannten Qualitätsanforderungen vereinbaren die Rehabilitationsträger nach § 6 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 sowie die Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen im Rahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation eine gemeinsame Empfehlung. Die gemeinsame Empfehlung kann auch Ausführungen zu möglichen Leistungsinhalten und zur Zusammenarbeit enthalten. § 26 Absatz 4, 6 und 7 sowie § 27 gelten entsprechend.

Eltern, Vormünder, Pfleger und Betreuer, die bei den ihnen anvertrauten Personen Beeinträchtigungen (§ 2 Absatz 1) wahrnehmen oder durch die in § 34 genannten Personen hierauf hingewiesen werden, sollen im Rahmen ihres Erziehungs- oder Betreuungsauftrags diese Personen einer Beratungsstelle nach § 32 oder einer sonstigen Beratungsstelle für Rehabilitation zur Beratung über die geeigneten Leistungen zur Teilhabe vorstellen.

Für eine Zusatzausstattung, die wegen der Behinderung erforderlich ist, ihren Einbau, ihre technische Überprüfung und die Wiederherstellung ihrer technischen Funktionsfähigkeit werden die Kosten in vollem Umfang übernommen. Dies gilt auch für eine Zusatzausstattung, die wegen der Behinderung eines Dritten erforderlich ist, der für den behinderten Menschen das Kraftfahrzeug führt (§ 3 Abs. 1 Nr. 2). Zuschüsse öffentlich-rechtlicher Stellen, auf die ein vorrangiger Anspruch besteht oder die vorrangig nach pflichtgemäßem Ermessen zu leisten sind, sind anzurechnen.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. November 2010 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Versorgung mit dem Arzneimittel Cialis.

2

Der 1961 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger leidet ua an einer erektilen Dysfunktion als Folge einer chronisch progredienten Multiplen Sklerose. Er erwarb auf eigene Kosten das Arzneimittel Cialis mit dem Wirkstoff Tadalafil zur Behandlung der Dysfunktion und beantragte Kostenübernahme, wobei er für 2005 und 2006 einen Betrag von 1495,65 Euro errechnete (28.1.2007). Die Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden einheitlich: "Beklagte") lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 13.2.2007; Widerspruchsbescheid vom 3.4.2008). Das SG hat die auf Erstattung der seit 13.2.2007 aufgewendeten Kosten sowie zukünftige Versorgung mit Cialis gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 4.5.2010). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen: § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V iVm Anlage II zur Arzneimittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) schließe verfassungskonform Cialis als Arzneimittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aus, ohne gegen Art 25 S 3 Buchst a UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu verstoßen(Beschluss vom 11.11.2010).

3

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 2a SGB V, des Art 3 Abs 3 S 2 GG und Art 3 Abs 1 GG sowie des Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK. Die Versorgung mit Cialis sei eine speziell aufgrund seiner Behinderung erforderliche Gesundheitsleistung. In solchen Fällen sei der Leistungsausschluss nach § 34 Abs 1 S 7 und 8 SGB V unanwendbar. Er diskriminiere unzulässig mittelbar Menschen, die durch eine erektile Dysfunktion behindert seien.

4

Der Kläger beantragt,
den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. November 2010, das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 4. Mai 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die dem Kläger seit Zugang des Bescheides vom 13. Februar 2007 für das Arzneimittel Cialis entstandenen Kosten zu erstatten sowie ihm künftig Cialis als Naturalleistung zu gewähren.

5

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, dass der Kläger von der beklagten Ersatzkasse weder Erstattung seiner seit Zugang des Bescheides vom 13.2.2007 für das Arzneimittel Cialis aufgewendeten Kosten noch künftige Versorgung hiermit als Naturalleistung beanspruchen kann. Die Voraussetzungen der Ansprüche sind nicht erfüllt. Denn die Behandlung der erektilen Dysfunktion mit Cialis unterfällt nicht dem Leistungskatalog der GKV, sondern ist hiervon ausgeschlossen (dazu 2.). Der Ausschluss kollidiert weder mit Art 25 UN-BRK (Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Gesetz vom 21.12.2008, BGBl II 1419, für Deutschland in Kraft seit 26.3.2009, BGBl II 2009, 812; dazu 3.) noch verstößt er gegen das Diskriminierungsverbot (Art 5 Abs 2 UN-BRK) oder Verfassungsrecht (dazu 4.).

8

1. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft (§ 54 Abs 4 SGG). Der Senat sieht davon ab, das Verfahren an das LSG zurückzuverweisen, obwohl der für die Vergangenheit geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch unbeziffert ist und die Tatsacheninstanzen nicht auf die insoweit erforderliche Konkretisierung des Antrags und die Ergänzung des Tatsachenvortrags hingewirkt haben (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 S 2, § 153 Abs 1 SGG; vgl zB BSGE 83, 254, 263 f = SozR 3-2500 § 37 Nr 1 S 10 f; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 15 RdNr 14). Der Anspruch auf Kostenerstattung scheitert bereits aus anderen Gründen.

9

2. Die Anspruchsvoraussetzungen sind nicht erfüllt, weil das Gesetz die geltend gemachten Ansprüche auf Versorgung mit Cialis und Kostenerstattung ausschließt. Als Rechtsgrundlage der Kostenerstattung kommt allein § 13 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB V in Betracht(anzuwenden idF des Art 5 Nr 7 Buchst b SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.6.2001, BGBl I 1046). Die Rechtsnorm bestimmt: Hat die KK eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der KK in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Ein Anspruch auf Kostenerstattung besteht demnach nur, wenn zwischen dem die Haftung der KK begründenden Umstand (rechtswidrige Ablehnung) und dem Nachteil des Versicherten (Kostenlast) ein Ursachenzusammenhang besteht (stRspr, vgl zB BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr 8, RdNr 23; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 15 RdNr 15 mwN).

10

Daran fehlt es vorliegend entgegen der Rechtsauffassung des SG nicht. Zwar liegt der erforderliche Ursachenzusammenhang zwischen der Ablehnung der KK und der Kostenbelastung des Versicherten nicht vor, wenn die KK vor Inanspruchnahme einer vom Versicherten selbst beschafften Leistung mit dem Leistungsbegehren gar nicht befasst wurde, obwohl dies möglich gewesen wäre (stRspr, zB BSGE 98, 26 = SozR 4-2500 § 13 Nr 12, RdNr 10; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 16 RdNr 13 mwN). Das gilt auch über den Zeitraum nach Erlass einer die Kostenübernahme ablehnenden Entscheidung hinaus, wenn es sich um eine aus medizinischen Gründen untrennbare, einheitliche Behandlung handelt (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 16 RdNr 17 mwN). Dafür besteht aber beim Einsatz von Cialis zur Behandlung der erektilen Dysfunktion kein Anhaltspunkt.

11

Der Kläger hat indes keinen Anspruch auf Versorgung mit Cialis als Naturalleistung, wie ihn nicht nur sein Begehren auf künftige Versorgung, sondern auch auf Erstattung voraussetzt. Denn der Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die KK allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 11 mwN - LITT; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 18 RdNr 11). § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V(idF durch Art 1 Nr 22 Buchst a Doppelbuchst cc Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.11.2003, BGBl I 2190, in Kraft seit 1.1.2004) schließt einen Anspruch auf Versorgung mit Cialis zur Behandlung der erektilen Dysfunktion aus.

12

Nach § 27 Abs 1 S 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst ua die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs 1 S 2 Nr 3 Fall 1 SGB V). Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs 1 S 2 Nr 6 SGB V ausgeschlossen sind(§ 31 Abs 1 S 1 SGB V). § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V bestimmt: "Von der Versorgung sind außerdem Arzneimittel ausgeschlossen, bei deren Anwendung eine Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund steht. Ausgeschlossen sind insbesondere Arzneimittel, die überwiegend zur Behandlung der erektilen Dysfunktion, der Anreizung sowie Steigerung der sexuellen Potenz, zur Raucherentwöhnung, zur Abmagerung oder zur Zügelung des Appetits, zur Regulierung des Körpergewichts oder zur Verbesserung des Haarwuchses dienen. Das Nähere regeln die Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6."

13

Die Richtlinie des GBA über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung wiederholt in ihrem II. Teil unter Buchst F in § 14 Abs 1 S 1 und Abs 2 weitgehend den Text des § 34 Abs 1 S 7 und 8 SGB V(AM-RL idF vom 18.12.2008/22.1.2009, BAnz Nr 49a vom 31.3.2009, zuletzt geändert am 15.12.2011 mWv 20.1.2012, BAnz Nr 11 vom 19.1.2012, S 254). Nach § 14 Abs 3 AM-RL sind die nach Abs 2 ausgeschlossenen Fertigarzneimittel in einer Übersicht als Anlage II der AM-RL zusammengestellt. In dieser Übersicht ist das Fertigarzneimittel Cialis mit dem Wirkstoff Tadalafil aufgeführt. Dies entspricht auch der - soweit hier von Interesse - zuvor geltenden Anlage 8 der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (AMRL idF vom 31.8.1993, BAnz Nr 246 vom 31.12.1993, S 11155, zuletzt geändert am 10.4.2008, BAnz Nr 101 vom 9.7.2008, S 2491; Anlage 8 abgedruckt in DÄ 2004, A 963, 965).

14

Entgegen der Ansicht des Klägers ist es im Rahmen des § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V nicht möglich, nach der Ursache der Erkrankung mit der Folge zu differenzieren, dass der Leistungsausschluss bei einer behinderungsbedingten erektilen Dysfunktion nicht greift. Der Anwendungsbereich dieses Leistungsausschlusses kann nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Regelungssystem und -zweck nicht auf Fälle teleologisch reduziert werden, in denen Arzneimittel - etwa bei entsprechender Anspannung aller Willenskräfte - nicht erforderlich sind (BSG Urteil vom 18.7.2006 - B 1 KR 10/05 R - USK 2006-139 = juris RdNr 11 f - Caverject). Die gesetzliche Regelung will vielmehr den Ausschluss der aufgeführten Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der GKV umfassend sicherstellen (BSG Urteil vom 18.7.2006 - B 1 KR 10/05 R - USK 2006-139 = juris RdNr 12). Art 1 Nr 22 Buchst a Doppelbuchst cc GMG zielt mit der Einfügung von S 7 bis 9 in § 34 Abs 1 SGB V darauf ab, sämtliche Arzneimittel, die ua überwiegend der Behandlung der erektilen Dysfunktion dienen, von der Verordnung zu Lasten der GKV auszuschließen(vgl BSGE 94, 302 = SozR 4-2500 § 34 Nr 2, RdNr 24 - Viagra).

15

Ein anderes Ergebnis folgt nicht aus § 2a SGB V. Nach dieser durch Art 1 Nr 1 GMG eingefügten Vorschrift ist den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen. Die Regelung dient als Auslegungshilfe, um das Benachteiligungsverbot aus Art 3 Abs 3 S 2 GG umzusetzen (vgl funktional ähnlich BSG Urteil vom 25.5.2011 - B 12 KR 8/09 R - RdNr 26 mwN, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). § 2a SGB V vermag aber nicht, einen gesetzlichen Leistungsausschluss zu überwinden(vgl etwa BSG SozR 4-3500 § 54 Nr 6 RdNr 22).

16

3. Entgegen der Ansicht des Klägers führt Art 25 UN-BRK zu keinem Anspruch auf Versorgung mit Cialis zu Lasten der GKV. Hierbei ist lediglich Art 25 S 3 Buchst b iVm S 1 und 2 UN-BRK näher in den Blick zu nehmen. Der in § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V umfassend geregelte Leistungsausschluss widerspricht dagegen schon im Ansatz nicht dem in Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK enthaltenen speziellen Diskriminierungsverbot.

17

Nach Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK stellen die Vertragsparteien Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung wie anderen Menschen, einschließlich sexual- und fortpflanzungsmedizinischer Gesundheitsleistungen und der Gesamtbevölkerung zur Verfügung stehender Programme des öffentlichen Gesundheitswesens. Das SGB V stellt dem Kläger in diesem Sinne eine Gesundheitsversorgung genau in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung wie anderen Menschen. Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK enthält dagegen nach Wortlaut, Regelungssystem und Zweck keinen Anspruch auf eine Behandlung aller "wesentlichen Erkrankungen" zu Lasten der GKV.

18

Im Ergebnis begründet auch Art 25 S 3 Buchst b iVm S 1 und 2 UN-BRK keine eigenständige Rechtsgrundlage, die den in § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V geregelten Leistungsausschluss für behinderte Menschen aufhebt. Art 25 S 1, 2 und 3 Buchst b UN-BRK hat in der - gemäß Art 50 UN-BRK nicht verbindlichen - deutschen Fassung folgenden Wortlaut:

"Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten, einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation, haben. Insbesondere…
b) bieten die Vertragsstaaten die Gesundheitsleistungen an, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden, soweit angebracht, einschließlich Früherkennung und Frühintervention, sowie Leistungen, durch die, auch bei Kindern und älteren Menschen, weitere Behinderungen möglichst gering gehalten oder vermieden werden sollen;
[...]"

19

Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK verdrängt nicht als ranggleiches späteres Bundesrecht den 2004 in das SGB V eingefügten Leistungsausschluss des § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V nach den Grundsätzen der allgemeinen intertemporalen Kollisionsregeln(vgl hierzu BSG SozR 4-2500 § 275 Nr 4 RdNr 13 f; lex posterior derogat legi priori). Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK gilt in Deutschland im Rang einfachen Bundesrechts. Das Vertragsgesetz zur UN-BRK ist gemäß dessen Art 2 Abs 1 am 1.1.2009 in Kraft getreten. Es erteilt innerstaatlich den Befehl zur Anwendung der UN-BRK und setzt diese in nationales Recht um (vgl allgemein BVerfG NJW 2007, 499, 501; BVerfGE 104, 151, 209; 90, 286, 364; 77, 170, 210). Völkerrechtliche Verbindlichkeit kommt der UN-BRK für Deutschland gemäß Art 45 Abs 2 UN-BRK ab 26.3.2009 zu (vgl auch Art 2 Abs 2 Vertragsgesetz zur UN-BRK iVm der Bekanntmachung über das Inkrafttreten der UN-BRK vom 5.6.2009, BGBl II 812). Ab diesem Zeitpunkt könnte Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK entgegenstehendes älteres Bundesrecht obsolet werden lassen (vgl auch BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 25 RdNr 28; zur Abhängigkeit des Geltungsbeginns von der völkerrechtlichen Wirksamkeit des Vertrages BVerfGE 63, 343, 354; 1, 396, 411 f; RG JW 1932, 582; Kunig in Graf Vitzthum, Völkerrecht, 5. Aufl 2010, S 120 RdNr 112; aA Burghart DÖV 1993, 1038).

20

Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen völkerrechtliche Verträge wie die UN-BRK, denen die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist, im Range eines Bundesgesetzes (vgl BVerfGE 111, 307, 317; 82, 106, 114; 74, 358, 370). Diese Rangzuweisung führt in Verbindung mit Art 20 Abs 3 GG dazu, dass deutsche Gerichte das anwendbare Völkervertragsrecht wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben, hier also ggf unter Beachtung des intertemporalen Rechts (vgl BVerfGE 111, 307, 317; einem theoretisch denkbaren Vorrang von Völkervertragsrecht nach § 30 Abs 2 SGB I steht der Anwendungsvorrang des SGB V entgegen, vgl § 37 S 1 und 2 SGB I). Ein - weitergehender - Anwendungsvorrang besteht dagegen für eine völkerrechtliche Norm, wenn sie in den Rang des Gewohnheitsrechts erwachsen ist. In diesem Falle sind die Behörden und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art 25 GG grundsätzlich daran gehindert, innerstaatliches Recht in einer die Norm verletzenden Weise auszulegen und anzuwenden (vgl BVerfGE 112, 1, 27; Masuch in Festschrift für Renate Jaeger, 2011, 245, 260).

21

Die Regelung des Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK beinhaltet indes keine allgemeine Regel des Völkerrechts mit dem genannten Geltungsvorrang. Bei den allgemeinen Regeln des Völkerrechts handelt es sich um Regeln des universell geltenden Völkergewohnheitsrechts, ergänzt durch aus den nationalen Rechtsordnungen tradierte allgemeine Rechtsgrundsätze (BVerfGE 117, 141, 149; 109, 13, 27; 16, 27, 33; 15, 25, 32 ff). Das Bestehen von Völkergewohnheitsrecht setzt eine gefestigte Praxis zahlreicher Staaten voraus, die in der Überzeugung geübt wird, hierzu aus Gründen des Völkerrechts verpflichtet zu sein (BVerfGE 46, 342, 367 mwN). Daran fehlt es hier. Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK gibt nämlich nicht eine gefestigte Praxis zahlreicher Staaten wieder, Menschen mit Behinderungen ein der Regelung vergleichbares Recht auf Gesundheit zu gewähren. Dies verdeutlicht bereits eine Betrachtung des europäischen Rechtsrahmens. Ein entsprechendes Recht ist etwa weder in der Europäischen Menschenrechtskonvention noch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthalten (vgl hierzu Rothfritz, Die Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen, 2010, S 333).

22

Kein Anwendungsvorrang des Art 25 UN-BRK folgt aus dem Umstand, dass die Europäische Gemeinschaft (EG; Rechtsnachfolgerin: Europäische Union , vgl Art 1 Abs 3 S 3 Vertrag über die Europäische Union und Schreiben an den UN-Generalsekretär, BGBl II 2010, 250) dem Übereinkommen gemäß Art 44 UN-BRK iVm Art 310 des Vertrags zur Gründung der EG ( idF des Vertrages von Nizza, BGBl II 2001, 1666; vgl jetzt Art 217 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ) beigetreten ist. Dieser Beitritt wirkt nur im Umfang der Zuständigkeiten der EG. Die EG vermochte sich völkerrechtlich nur im Rahmen ihrer Zuständigkeit zu binden (vgl auch die Erklärung der EG zur UN-BRK, abrufbar unter http://treaties.un.org). Nur in diesem Rahmen kann eine Bindung der Mitgliedstaaten nach Art 300 Abs 7 EGV bzw nunmehr nach Art 216 Abs 2 AEUV eintreten, die den Bestimmungen der UN-BRK zu einer Stellung über dem Bundesrecht verhilft. Die Festlegung der Leistungskataloge der nationalen Krankenversicherungssysteme liegt indes außerhalb der Kompetenz der EU (Art 168 Abs 7 AEUV, zuvor Art 152 Abs 5 EGV; EuGHE I 2001, 5473 RdNr 87 - Smits und Peerbooms; EuGHE I 2003, 4509 RdNr 98 - Müller-Fauré und van Riet; vgl insgesamt auch Denkschrift der Bundesregierung zur UN-BRK, BT-Drucks 16/10808, S 45, 46).

23

Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK, der in der deutschen Rechtsordnung wie dargelegt im Range eines einfachen Bundesgesetzes gilt, enthält - soweit hier von Interesse - keine Vorgaben, die unmittelbar für Ansprüche GKV-Versicherter auf Arzneimittel bei erektiler Dysfunktion relevant sind. Die Norm ist - jedenfalls in ihrem hier bedeutsamen Teil - nicht hinreichend bestimmt, um von den KKn unmittelbar angewendet zu werden; sie bedarf einer Ausführungsgesetzgebung und ist non-self-executing (vgl dazu Grzeszick, Rechte des Einzelnen im Völkerrecht, AVR 43, 2005, 312, 318).

24

Die unmittelbare Anwendbarkeit völkervertragsrechtlicher Bestimmungen (zum Unterschied zur Geltung vgl etwa BVerfG NJW 2011, 2113 RdNr 53 f; BVerfGK 9, 174 = NJW 2007, 499, RdNr 52 f; speziell zur UN-BRK Aichele AnwBl 2011, 727, 730) setzt voraus, dass die Bestimmung alle Eigenschaften besitzt, welche ein Gesetz nach innerstaatlichem Recht haben muss, um Einzelne berechtigen oder verpflichten zu können (vgl BVerfGE 29, 348, 360). Dafür muss ihre Auslegung ergeben, dass sie geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, ohne dass es einer weiteren normativen Ausfüllung bedarf (BVerfG NJW 2007, 499, 501; BVerfGE 29, 348, 360; vgl auch BVerwG Beschluss vom 18.1.2010 - 6 B 52/09 - juris RdNr 4; BVerwGE 134, 1 RdNr 46; BVerwGE 125, 1 RdNr 12; BVerwGE 120, 206, 208 f; BVerwGE 92, 116, 118; BVerwGE 87, 11, 13). Ist eine Regelung - objektiv-rechtlich - unmittelbar anwendbar, muss sie zusätzlich auch ein subjektives Recht des Einzelnen vermitteln (Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 5. Aufl 2010, S 141, 159; Grzeszick, AVR 43, 2005, 312, 318). Gemäß Art 31 Abs 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.5.1969 (BGBl II 1985, 926 und BGBl II 1987, 757) erfolgt die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Ziels und Zwecks (vgl auch Graf Vitzthum in ders, Völkerrecht, 5. Aufl 2010, S 56 RdNr 123 mwN). Wortlaut, Regelungszusammenhang sowie Ziel und Zweck der Regelung des Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK sprechen gegen seine unmittelbare Anwendbarkeit für Leistungsrechte GKV-Versicherter im dargelegten Sinne.

25

Nach seinem Wortlaut verpflichtet Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK die Vertragsstaaten zu weiteren Maßnahmen, nämlich dazu, die genau benannten Gesundheitsleistungen "anzubieten". Die Terminologie der Verpflichtung von Vertragsstaaten, Leistungen "anzubieten" ("to provide"), indiziert keine unmittelbare Anwendbarkeit (vgl auch Ziff 33 des "General Comment No 14" vom 11.8.2000 zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966, BGBl II 1973, 1569; im Folgenden: WiSoKuPakt; zur Bedeutung der "General Comments" im Völkerrecht vgl zB BVerwGE 134, 1 RdNr 48 mwN; englische Fassungen der General Comments im Internet abrufbar unter http://www.unhchr.ch/tbs/doc.nsf/, deutsche Übersetzung veröffentlicht in Deutsches Institut für Menschenrechte, Die "General Comments" zu den VN-Menschenrechtsverträgen. Deutsche Übersetzung und Kurzeinführungen, 2005; zur Typologie "to respect", "to protect" and "to fulfil" im Zusammenhang mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten vgl Koch in Human Rights Law Review 5, 2005, 81). Die Formulierung unterscheidet sich zugleich wesentlich von anderen Vertragsbestimmungen, die bereits nach ihrem Wortlaut einen unmittelbaren Anspruch begründen, ohne dass es weiterer Umsetzungsakte bedarf (so zB Art 30 Abs 4 UN-BRK: "Menschen mit Behinderungen haben gleichberechtigt mit anderen Anspruch auf …").

26

Auch der Regelungszusammenhang mit Art 25 S 1 und 2 UN-BRK spricht gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit von S 3 Buchst b der genannten Regelung. Weil die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung anerkennen, treffen sie die in S 2 genannten geeigneten Maßnahmen, um dieses Recht zu gewährleisten. Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK knüpft hieran an und spezifiziert beispielhaft ("Insbesondere") die in Art 25 S 1 und 2 UN-BRK ausdrücklich als Staatenverpflichtung konzipierte allgemeine Regelung.

27

Das Ineinandergreifen der Bestimmungen des Art 25 S 1, 2 und 3 Buchst b UN-BRK verdeutlicht zugleich die Zielsetzung und den Regelungszweck, das in Art 25 UN-BRK geschützte Menschenrecht im "erreichbaren Höchstmaß" zu verwirklichen. Die darin liegende Beschränkung spiegelt die Grenzen aufgrund der eingeschränkten finanziellen Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme wider: Nach Art 4 Abs 2 UN-BRK ist jeder Vertragsstaat hinsichtlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte verpflichtet, unter Ausschöpfung seiner verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit Maßnahmen zu treffen, um nach und nach die volle Verwirklichung dieser Rechte zu erreichen (sog Progressionsvorbehalt).

28

Die Regelung des Art 4 Abs 2 UN-BRK gilt zwar unbeschadet derjenigen Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen, die nach dem Völkerrecht sofort anwendbar sind. Dazu gehört Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK wegen seines Umsetzungsbedarfs in nationales Recht aber nicht. Diese Rechtsnorm ist vielmehr mit Art 12 Abs 2 WiSoKuPakt vergleichbar. Er benennt beispielhaft Schritte, die die Vertragsstaaten zur vollen Verwirklichung des "erreichbaren Höchstmaßes" ("highest attainable standard") an Gesundheit einzuleiten haben (vgl zur Entwicklung der UN-BRK im völkerrechtlichen Kontext auch Masuch in Festschrift für Renate Jaeger, 2011, 245, 246; Aichele, APuZ 2010, 13, 15; siehe auch "General Comment 3" Ziff 5 vom 14.12.1990 - keine Erwähnung von Art 12 WiSoKuPakt; "General Comment No 14" vom 11.8.2000 Ziff 1 zum Diskriminierungsverbot und Ziff 43 - Kernbereich medizinischer Grundversorgung auf Minimalniveau <"minimum essential levels[…] including essential primary health care"> - hier nicht betroffen; vgl schließlich Denkschrift der Bundesregierung zur UN-BRK, BT-Drucks 16/10808, S 45, 58 f).

29

4. Letztlich verhelfen auch weder das Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK noch Verfassungsrecht dem Kläger zum Erfolg. Art 5 Abs 2 UN-BRK ist allerdings nach den aufgeführten Kriterien unmittelbar anwendbar, in diesem Sinne also self-executing (vgl BVerfG SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 54; Denkschrift der Bundesregierung zur UN-BRK, BT-Drucks 16/10808, S 45, 48; Masuch in Festschrift für Renate Jaeger, 2011, 245, 246, 250). Nach dieser Regelung verbieten die Vertragsstaaten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen.

30

Zu den Menschen mit Behinderungen zählen nach Art 1 Abs 2 UN-BRK Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Nach Art 2 UN-BRK bedeutet "Diskriminierung aufgrund von Behinderung" jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen. Im Sinne des Übereinkommens bedeutet gemäß Art 2 UN-BRK "angemessene Vorkehrungen" notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können. Nach Art 4 Abs 1 S 1 UN-BRK verpflichten sich die Vertragsstaaten, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten zu den im Einzelnen in Art 4 Abs 1 S 2 UN-BRK genannten Maßnahmen.

31

Ausgehend von diesen Grundsätzen entspricht das unmittelbar anwendbare Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK für die Leistungsbestimmungen der GKV im Wesentlichen dem Regelungsgehalt des Art 3 Abs 3 S 2 GG. Danach darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Das Benachteiligungsverbot des Art 3 Abs 3 S 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, behinderte und nichtbehinderte Menschen rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme kompensiert wird (vgl BVerfGE 99, 341, 357; 96, 288, 303; BVerfGK 7, 269, 273). Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass die UN-BRK generell als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann (vgl BVerfG NJW 2011, 2113, RdNr 52; BVerfGE 111, 307, 317) und dies auch speziell für das Verständnis des Art 3 Abs 3 S 2 GG gilt (so im Ergebnis BVerfG SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 54).

32

Der gesetzliche Leistungsausschluss nach § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V verstößt indes weder gegen das verfassungsrechtliche Benachteiligungs- noch gegen das konventionsrechtliche Diskriminierungsverbot. Der gesetzliche Leistungsausschluss knüpft nicht an eine Behinderung im verfassungsrechtlichen (vgl die allgemein auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben abstellende Regelung des § 2 Abs 1 S 1 SGB IX, an dessen Vorgängernorm - § 3 Abs 1 Schwerbehindertengesetz - sich der verfassungsändernde Gesetzgeber bei der Schaffung des Art 3 Abs 3 S 2 GG orientiert hat, s BVerfGE 96, 288, 301)und konventionsrechtlichen Sinne an, sondern erfasst weitergehend alle Fälle der Erkrankung (§ 27 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB V) oder - hier nicht betroffen - der Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde (§ 23 Abs 1 Nr 1, Abs 3 SGB V). Die Ausschlussregelung setzt nicht den Eintritt einer Behinderung voraus, sondern lässt auch eine vorübergehende Krankheit oder Erscheinungsformen in deren Vorfeld ausreichen.

33

Auch soweit die Vorschrift zugleich behinderte Menschen iS des Art 3 Abs 3 S 2 GG oder des Art 1 Abs 2 UN-BRK trifft, ist sie wegen des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung des GKV-Leistungskatalogs noch gerechtfertigt. Wie das GG fordert auch die UN-BRK zur Achtung des Diskriminierungsverbots keine unverhältnismäßigen oder unbilligen Belastungen. Die sich daraus ergebenden Rechtfertigungsanforderungen sind nicht höher als die nach dem GG.

34

Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die GKV den Versicherten Leistungen nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskatalogs (§ 11 SGB V) unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellt, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs 1 S 1 SGB V). Es steht mit dem GG in Einklang, wenn der Gesetzgeber vorsieht, dass die Leistungen der GKV ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein haben und nicht das Maß des Notwendigen überschreiten dürfen (§ 2 Abs 1 S 1 SGB V). Der GKV-Leistungskatalog darf auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen mitbestimmt sein. Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht (vgl BVerfGE 103, 172, 184). Die gesetzlichen KKn sind nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (vgl BVerfGE 115, 25, 45 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5).

35

Auch aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten (vgl BVerfGE 89, 120, 130) folgt jedenfalls kein grundrechtlicher Anspruch gegen seine KK auf Bereitstellung oder Finanzierung bestimmter Gesundheitsleistungen (stRspr, vgl BVerfG NJW 1998, 1775; NJW 1997, 3085). Der Gesetzgeber verletzt seinen Gestaltungsspielraum weder im Hinblick auf das Sozialstaatsgebot noch auf das Benachteiligungsverbot behinderter Menschen, wenn er angesichts der beschränkten finanziellen Leistungsfähigkeit der GKV Leistungen aus dem Leistungskatalog ausschließt, die - wie hier - in erster Linie einer Steigerung der Lebensqualität jenseits lebensbedrohlicher Zustände dienen. Dies gilt erst recht, wenn es sich um Bereiche handelt, bei denen die Übergänge zwischen krankhaften und nicht krankhaften Zuständen auch maßgeblich vom subjektiven Empfinden des einzelnen Versicherten abhängen können (vgl auch BSGE 94, 302 = SozR 4-2500 § 34 Nr 2, RdNr 25 - Viagra). Schließlich darf der Gesetzgeber auch aus Gründen der Rechtssicherheit klare Grenzlinien ziehen (vgl hierzu Begründung des Entwurfs der Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum GMG, BT-Drucks 15/1525, S 86 zu Art 1 Nr 22 Buchst a Doppelbuchst cc).

36

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. November 2010 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Versorgung mit dem Arzneimittel Cialis.

2

Der 1961 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger leidet ua an einer erektilen Dysfunktion als Folge einer chronisch progredienten Multiplen Sklerose. Er erwarb auf eigene Kosten das Arzneimittel Cialis mit dem Wirkstoff Tadalafil zur Behandlung der Dysfunktion und beantragte Kostenübernahme, wobei er für 2005 und 2006 einen Betrag von 1495,65 Euro errechnete (28.1.2007). Die Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden einheitlich: "Beklagte") lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 13.2.2007; Widerspruchsbescheid vom 3.4.2008). Das SG hat die auf Erstattung der seit 13.2.2007 aufgewendeten Kosten sowie zukünftige Versorgung mit Cialis gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 4.5.2010). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen: § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V iVm Anlage II zur Arzneimittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) schließe verfassungskonform Cialis als Arzneimittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aus, ohne gegen Art 25 S 3 Buchst a UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu verstoßen(Beschluss vom 11.11.2010).

3

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 2a SGB V, des Art 3 Abs 3 S 2 GG und Art 3 Abs 1 GG sowie des Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK. Die Versorgung mit Cialis sei eine speziell aufgrund seiner Behinderung erforderliche Gesundheitsleistung. In solchen Fällen sei der Leistungsausschluss nach § 34 Abs 1 S 7 und 8 SGB V unanwendbar. Er diskriminiere unzulässig mittelbar Menschen, die durch eine erektile Dysfunktion behindert seien.

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Der Kläger beantragt,
den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. November 2010, das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 4. Mai 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die dem Kläger seit Zugang des Bescheides vom 13. Februar 2007 für das Arzneimittel Cialis entstandenen Kosten zu erstatten sowie ihm künftig Cialis als Naturalleistung zu gewähren.

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Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

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Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, dass der Kläger von der beklagten Ersatzkasse weder Erstattung seiner seit Zugang des Bescheides vom 13.2.2007 für das Arzneimittel Cialis aufgewendeten Kosten noch künftige Versorgung hiermit als Naturalleistung beanspruchen kann. Die Voraussetzungen der Ansprüche sind nicht erfüllt. Denn die Behandlung der erektilen Dysfunktion mit Cialis unterfällt nicht dem Leistungskatalog der GKV, sondern ist hiervon ausgeschlossen (dazu 2.). Der Ausschluss kollidiert weder mit Art 25 UN-BRK (Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Gesetz vom 21.12.2008, BGBl II 1419, für Deutschland in Kraft seit 26.3.2009, BGBl II 2009, 812; dazu 3.) noch verstößt er gegen das Diskriminierungsverbot (Art 5 Abs 2 UN-BRK) oder Verfassungsrecht (dazu 4.).

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1. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft (§ 54 Abs 4 SGG). Der Senat sieht davon ab, das Verfahren an das LSG zurückzuverweisen, obwohl der für die Vergangenheit geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch unbeziffert ist und die Tatsacheninstanzen nicht auf die insoweit erforderliche Konkretisierung des Antrags und die Ergänzung des Tatsachenvortrags hingewirkt haben (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 S 2, § 153 Abs 1 SGG; vgl zB BSGE 83, 254, 263 f = SozR 3-2500 § 37 Nr 1 S 10 f; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 15 RdNr 14). Der Anspruch auf Kostenerstattung scheitert bereits aus anderen Gründen.

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2. Die Anspruchsvoraussetzungen sind nicht erfüllt, weil das Gesetz die geltend gemachten Ansprüche auf Versorgung mit Cialis und Kostenerstattung ausschließt. Als Rechtsgrundlage der Kostenerstattung kommt allein § 13 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB V in Betracht(anzuwenden idF des Art 5 Nr 7 Buchst b SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.6.2001, BGBl I 1046). Die Rechtsnorm bestimmt: Hat die KK eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der KK in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Ein Anspruch auf Kostenerstattung besteht demnach nur, wenn zwischen dem die Haftung der KK begründenden Umstand (rechtswidrige Ablehnung) und dem Nachteil des Versicherten (Kostenlast) ein Ursachenzusammenhang besteht (stRspr, vgl zB BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr 8, RdNr 23; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 15 RdNr 15 mwN).

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Daran fehlt es vorliegend entgegen der Rechtsauffassung des SG nicht. Zwar liegt der erforderliche Ursachenzusammenhang zwischen der Ablehnung der KK und der Kostenbelastung des Versicherten nicht vor, wenn die KK vor Inanspruchnahme einer vom Versicherten selbst beschafften Leistung mit dem Leistungsbegehren gar nicht befasst wurde, obwohl dies möglich gewesen wäre (stRspr, zB BSGE 98, 26 = SozR 4-2500 § 13 Nr 12, RdNr 10; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 16 RdNr 13 mwN). Das gilt auch über den Zeitraum nach Erlass einer die Kostenübernahme ablehnenden Entscheidung hinaus, wenn es sich um eine aus medizinischen Gründen untrennbare, einheitliche Behandlung handelt (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 16 RdNr 17 mwN). Dafür besteht aber beim Einsatz von Cialis zur Behandlung der erektilen Dysfunktion kein Anhaltspunkt.

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Der Kläger hat indes keinen Anspruch auf Versorgung mit Cialis als Naturalleistung, wie ihn nicht nur sein Begehren auf künftige Versorgung, sondern auch auf Erstattung voraussetzt. Denn der Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die KK allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 11 mwN - LITT; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 18 RdNr 11). § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V(idF durch Art 1 Nr 22 Buchst a Doppelbuchst cc Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.11.2003, BGBl I 2190, in Kraft seit 1.1.2004) schließt einen Anspruch auf Versorgung mit Cialis zur Behandlung der erektilen Dysfunktion aus.

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Nach § 27 Abs 1 S 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst ua die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs 1 S 2 Nr 3 Fall 1 SGB V). Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs 1 S 2 Nr 6 SGB V ausgeschlossen sind(§ 31 Abs 1 S 1 SGB V). § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V bestimmt: "Von der Versorgung sind außerdem Arzneimittel ausgeschlossen, bei deren Anwendung eine Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund steht. Ausgeschlossen sind insbesondere Arzneimittel, die überwiegend zur Behandlung der erektilen Dysfunktion, der Anreizung sowie Steigerung der sexuellen Potenz, zur Raucherentwöhnung, zur Abmagerung oder zur Zügelung des Appetits, zur Regulierung des Körpergewichts oder zur Verbesserung des Haarwuchses dienen. Das Nähere regeln die Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6."

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Die Richtlinie des GBA über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung wiederholt in ihrem II. Teil unter Buchst F in § 14 Abs 1 S 1 und Abs 2 weitgehend den Text des § 34 Abs 1 S 7 und 8 SGB V(AM-RL idF vom 18.12.2008/22.1.2009, BAnz Nr 49a vom 31.3.2009, zuletzt geändert am 15.12.2011 mWv 20.1.2012, BAnz Nr 11 vom 19.1.2012, S 254). Nach § 14 Abs 3 AM-RL sind die nach Abs 2 ausgeschlossenen Fertigarzneimittel in einer Übersicht als Anlage II der AM-RL zusammengestellt. In dieser Übersicht ist das Fertigarzneimittel Cialis mit dem Wirkstoff Tadalafil aufgeführt. Dies entspricht auch der - soweit hier von Interesse - zuvor geltenden Anlage 8 der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (AMRL idF vom 31.8.1993, BAnz Nr 246 vom 31.12.1993, S 11155, zuletzt geändert am 10.4.2008, BAnz Nr 101 vom 9.7.2008, S 2491; Anlage 8 abgedruckt in DÄ 2004, A 963, 965).

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Entgegen der Ansicht des Klägers ist es im Rahmen des § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V nicht möglich, nach der Ursache der Erkrankung mit der Folge zu differenzieren, dass der Leistungsausschluss bei einer behinderungsbedingten erektilen Dysfunktion nicht greift. Der Anwendungsbereich dieses Leistungsausschlusses kann nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Regelungssystem und -zweck nicht auf Fälle teleologisch reduziert werden, in denen Arzneimittel - etwa bei entsprechender Anspannung aller Willenskräfte - nicht erforderlich sind (BSG Urteil vom 18.7.2006 - B 1 KR 10/05 R - USK 2006-139 = juris RdNr 11 f - Caverject). Die gesetzliche Regelung will vielmehr den Ausschluss der aufgeführten Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der GKV umfassend sicherstellen (BSG Urteil vom 18.7.2006 - B 1 KR 10/05 R - USK 2006-139 = juris RdNr 12). Art 1 Nr 22 Buchst a Doppelbuchst cc GMG zielt mit der Einfügung von S 7 bis 9 in § 34 Abs 1 SGB V darauf ab, sämtliche Arzneimittel, die ua überwiegend der Behandlung der erektilen Dysfunktion dienen, von der Verordnung zu Lasten der GKV auszuschließen(vgl BSGE 94, 302 = SozR 4-2500 § 34 Nr 2, RdNr 24 - Viagra).

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Ein anderes Ergebnis folgt nicht aus § 2a SGB V. Nach dieser durch Art 1 Nr 1 GMG eingefügten Vorschrift ist den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen. Die Regelung dient als Auslegungshilfe, um das Benachteiligungsverbot aus Art 3 Abs 3 S 2 GG umzusetzen (vgl funktional ähnlich BSG Urteil vom 25.5.2011 - B 12 KR 8/09 R - RdNr 26 mwN, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). § 2a SGB V vermag aber nicht, einen gesetzlichen Leistungsausschluss zu überwinden(vgl etwa BSG SozR 4-3500 § 54 Nr 6 RdNr 22).

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3. Entgegen der Ansicht des Klägers führt Art 25 UN-BRK zu keinem Anspruch auf Versorgung mit Cialis zu Lasten der GKV. Hierbei ist lediglich Art 25 S 3 Buchst b iVm S 1 und 2 UN-BRK näher in den Blick zu nehmen. Der in § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V umfassend geregelte Leistungsausschluss widerspricht dagegen schon im Ansatz nicht dem in Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK enthaltenen speziellen Diskriminierungsverbot.

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Nach Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK stellen die Vertragsparteien Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung wie anderen Menschen, einschließlich sexual- und fortpflanzungsmedizinischer Gesundheitsleistungen und der Gesamtbevölkerung zur Verfügung stehender Programme des öffentlichen Gesundheitswesens. Das SGB V stellt dem Kläger in diesem Sinne eine Gesundheitsversorgung genau in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung wie anderen Menschen. Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK enthält dagegen nach Wortlaut, Regelungssystem und Zweck keinen Anspruch auf eine Behandlung aller "wesentlichen Erkrankungen" zu Lasten der GKV.

18

Im Ergebnis begründet auch Art 25 S 3 Buchst b iVm S 1 und 2 UN-BRK keine eigenständige Rechtsgrundlage, die den in § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V geregelten Leistungsausschluss für behinderte Menschen aufhebt. Art 25 S 1, 2 und 3 Buchst b UN-BRK hat in der - gemäß Art 50 UN-BRK nicht verbindlichen - deutschen Fassung folgenden Wortlaut:

"Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten, einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation, haben. Insbesondere…
b) bieten die Vertragsstaaten die Gesundheitsleistungen an, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden, soweit angebracht, einschließlich Früherkennung und Frühintervention, sowie Leistungen, durch die, auch bei Kindern und älteren Menschen, weitere Behinderungen möglichst gering gehalten oder vermieden werden sollen;
[...]"

19

Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK verdrängt nicht als ranggleiches späteres Bundesrecht den 2004 in das SGB V eingefügten Leistungsausschluss des § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V nach den Grundsätzen der allgemeinen intertemporalen Kollisionsregeln(vgl hierzu BSG SozR 4-2500 § 275 Nr 4 RdNr 13 f; lex posterior derogat legi priori). Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK gilt in Deutschland im Rang einfachen Bundesrechts. Das Vertragsgesetz zur UN-BRK ist gemäß dessen Art 2 Abs 1 am 1.1.2009 in Kraft getreten. Es erteilt innerstaatlich den Befehl zur Anwendung der UN-BRK und setzt diese in nationales Recht um (vgl allgemein BVerfG NJW 2007, 499, 501; BVerfGE 104, 151, 209; 90, 286, 364; 77, 170, 210). Völkerrechtliche Verbindlichkeit kommt der UN-BRK für Deutschland gemäß Art 45 Abs 2 UN-BRK ab 26.3.2009 zu (vgl auch Art 2 Abs 2 Vertragsgesetz zur UN-BRK iVm der Bekanntmachung über das Inkrafttreten der UN-BRK vom 5.6.2009, BGBl II 812). Ab diesem Zeitpunkt könnte Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK entgegenstehendes älteres Bundesrecht obsolet werden lassen (vgl auch BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 25 RdNr 28; zur Abhängigkeit des Geltungsbeginns von der völkerrechtlichen Wirksamkeit des Vertrages BVerfGE 63, 343, 354; 1, 396, 411 f; RG JW 1932, 582; Kunig in Graf Vitzthum, Völkerrecht, 5. Aufl 2010, S 120 RdNr 112; aA Burghart DÖV 1993, 1038).

20

Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen völkerrechtliche Verträge wie die UN-BRK, denen die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist, im Range eines Bundesgesetzes (vgl BVerfGE 111, 307, 317; 82, 106, 114; 74, 358, 370). Diese Rangzuweisung führt in Verbindung mit Art 20 Abs 3 GG dazu, dass deutsche Gerichte das anwendbare Völkervertragsrecht wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben, hier also ggf unter Beachtung des intertemporalen Rechts (vgl BVerfGE 111, 307, 317; einem theoretisch denkbaren Vorrang von Völkervertragsrecht nach § 30 Abs 2 SGB I steht der Anwendungsvorrang des SGB V entgegen, vgl § 37 S 1 und 2 SGB I). Ein - weitergehender - Anwendungsvorrang besteht dagegen für eine völkerrechtliche Norm, wenn sie in den Rang des Gewohnheitsrechts erwachsen ist. In diesem Falle sind die Behörden und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art 25 GG grundsätzlich daran gehindert, innerstaatliches Recht in einer die Norm verletzenden Weise auszulegen und anzuwenden (vgl BVerfGE 112, 1, 27; Masuch in Festschrift für Renate Jaeger, 2011, 245, 260).

21

Die Regelung des Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK beinhaltet indes keine allgemeine Regel des Völkerrechts mit dem genannten Geltungsvorrang. Bei den allgemeinen Regeln des Völkerrechts handelt es sich um Regeln des universell geltenden Völkergewohnheitsrechts, ergänzt durch aus den nationalen Rechtsordnungen tradierte allgemeine Rechtsgrundsätze (BVerfGE 117, 141, 149; 109, 13, 27; 16, 27, 33; 15, 25, 32 ff). Das Bestehen von Völkergewohnheitsrecht setzt eine gefestigte Praxis zahlreicher Staaten voraus, die in der Überzeugung geübt wird, hierzu aus Gründen des Völkerrechts verpflichtet zu sein (BVerfGE 46, 342, 367 mwN). Daran fehlt es hier. Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK gibt nämlich nicht eine gefestigte Praxis zahlreicher Staaten wieder, Menschen mit Behinderungen ein der Regelung vergleichbares Recht auf Gesundheit zu gewähren. Dies verdeutlicht bereits eine Betrachtung des europäischen Rechtsrahmens. Ein entsprechendes Recht ist etwa weder in der Europäischen Menschenrechtskonvention noch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthalten (vgl hierzu Rothfritz, Die Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen, 2010, S 333).

22

Kein Anwendungsvorrang des Art 25 UN-BRK folgt aus dem Umstand, dass die Europäische Gemeinschaft (EG; Rechtsnachfolgerin: Europäische Union , vgl Art 1 Abs 3 S 3 Vertrag über die Europäische Union und Schreiben an den UN-Generalsekretär, BGBl II 2010, 250) dem Übereinkommen gemäß Art 44 UN-BRK iVm Art 310 des Vertrags zur Gründung der EG ( idF des Vertrages von Nizza, BGBl II 2001, 1666; vgl jetzt Art 217 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ) beigetreten ist. Dieser Beitritt wirkt nur im Umfang der Zuständigkeiten der EG. Die EG vermochte sich völkerrechtlich nur im Rahmen ihrer Zuständigkeit zu binden (vgl auch die Erklärung der EG zur UN-BRK, abrufbar unter http://treaties.un.org). Nur in diesem Rahmen kann eine Bindung der Mitgliedstaaten nach Art 300 Abs 7 EGV bzw nunmehr nach Art 216 Abs 2 AEUV eintreten, die den Bestimmungen der UN-BRK zu einer Stellung über dem Bundesrecht verhilft. Die Festlegung der Leistungskataloge der nationalen Krankenversicherungssysteme liegt indes außerhalb der Kompetenz der EU (Art 168 Abs 7 AEUV, zuvor Art 152 Abs 5 EGV; EuGHE I 2001, 5473 RdNr 87 - Smits und Peerbooms; EuGHE I 2003, 4509 RdNr 98 - Müller-Fauré und van Riet; vgl insgesamt auch Denkschrift der Bundesregierung zur UN-BRK, BT-Drucks 16/10808, S 45, 46).

23

Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK, der in der deutschen Rechtsordnung wie dargelegt im Range eines einfachen Bundesgesetzes gilt, enthält - soweit hier von Interesse - keine Vorgaben, die unmittelbar für Ansprüche GKV-Versicherter auf Arzneimittel bei erektiler Dysfunktion relevant sind. Die Norm ist - jedenfalls in ihrem hier bedeutsamen Teil - nicht hinreichend bestimmt, um von den KKn unmittelbar angewendet zu werden; sie bedarf einer Ausführungsgesetzgebung und ist non-self-executing (vgl dazu Grzeszick, Rechte des Einzelnen im Völkerrecht, AVR 43, 2005, 312, 318).

24

Die unmittelbare Anwendbarkeit völkervertragsrechtlicher Bestimmungen (zum Unterschied zur Geltung vgl etwa BVerfG NJW 2011, 2113 RdNr 53 f; BVerfGK 9, 174 = NJW 2007, 499, RdNr 52 f; speziell zur UN-BRK Aichele AnwBl 2011, 727, 730) setzt voraus, dass die Bestimmung alle Eigenschaften besitzt, welche ein Gesetz nach innerstaatlichem Recht haben muss, um Einzelne berechtigen oder verpflichten zu können (vgl BVerfGE 29, 348, 360). Dafür muss ihre Auslegung ergeben, dass sie geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, ohne dass es einer weiteren normativen Ausfüllung bedarf (BVerfG NJW 2007, 499, 501; BVerfGE 29, 348, 360; vgl auch BVerwG Beschluss vom 18.1.2010 - 6 B 52/09 - juris RdNr 4; BVerwGE 134, 1 RdNr 46; BVerwGE 125, 1 RdNr 12; BVerwGE 120, 206, 208 f; BVerwGE 92, 116, 118; BVerwGE 87, 11, 13). Ist eine Regelung - objektiv-rechtlich - unmittelbar anwendbar, muss sie zusätzlich auch ein subjektives Recht des Einzelnen vermitteln (Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 5. Aufl 2010, S 141, 159; Grzeszick, AVR 43, 2005, 312, 318). Gemäß Art 31 Abs 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.5.1969 (BGBl II 1985, 926 und BGBl II 1987, 757) erfolgt die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Ziels und Zwecks (vgl auch Graf Vitzthum in ders, Völkerrecht, 5. Aufl 2010, S 56 RdNr 123 mwN). Wortlaut, Regelungszusammenhang sowie Ziel und Zweck der Regelung des Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK sprechen gegen seine unmittelbare Anwendbarkeit für Leistungsrechte GKV-Versicherter im dargelegten Sinne.

25

Nach seinem Wortlaut verpflichtet Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK die Vertragsstaaten zu weiteren Maßnahmen, nämlich dazu, die genau benannten Gesundheitsleistungen "anzubieten". Die Terminologie der Verpflichtung von Vertragsstaaten, Leistungen "anzubieten" ("to provide"), indiziert keine unmittelbare Anwendbarkeit (vgl auch Ziff 33 des "General Comment No 14" vom 11.8.2000 zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966, BGBl II 1973, 1569; im Folgenden: WiSoKuPakt; zur Bedeutung der "General Comments" im Völkerrecht vgl zB BVerwGE 134, 1 RdNr 48 mwN; englische Fassungen der General Comments im Internet abrufbar unter http://www.unhchr.ch/tbs/doc.nsf/, deutsche Übersetzung veröffentlicht in Deutsches Institut für Menschenrechte, Die "General Comments" zu den VN-Menschenrechtsverträgen. Deutsche Übersetzung und Kurzeinführungen, 2005; zur Typologie "to respect", "to protect" and "to fulfil" im Zusammenhang mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten vgl Koch in Human Rights Law Review 5, 2005, 81). Die Formulierung unterscheidet sich zugleich wesentlich von anderen Vertragsbestimmungen, die bereits nach ihrem Wortlaut einen unmittelbaren Anspruch begründen, ohne dass es weiterer Umsetzungsakte bedarf (so zB Art 30 Abs 4 UN-BRK: "Menschen mit Behinderungen haben gleichberechtigt mit anderen Anspruch auf …").

26

Auch der Regelungszusammenhang mit Art 25 S 1 und 2 UN-BRK spricht gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit von S 3 Buchst b der genannten Regelung. Weil die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung anerkennen, treffen sie die in S 2 genannten geeigneten Maßnahmen, um dieses Recht zu gewährleisten. Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK knüpft hieran an und spezifiziert beispielhaft ("Insbesondere") die in Art 25 S 1 und 2 UN-BRK ausdrücklich als Staatenverpflichtung konzipierte allgemeine Regelung.

27

Das Ineinandergreifen der Bestimmungen des Art 25 S 1, 2 und 3 Buchst b UN-BRK verdeutlicht zugleich die Zielsetzung und den Regelungszweck, das in Art 25 UN-BRK geschützte Menschenrecht im "erreichbaren Höchstmaß" zu verwirklichen. Die darin liegende Beschränkung spiegelt die Grenzen aufgrund der eingeschränkten finanziellen Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme wider: Nach Art 4 Abs 2 UN-BRK ist jeder Vertragsstaat hinsichtlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte verpflichtet, unter Ausschöpfung seiner verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit Maßnahmen zu treffen, um nach und nach die volle Verwirklichung dieser Rechte zu erreichen (sog Progressionsvorbehalt).

28

Die Regelung des Art 4 Abs 2 UN-BRK gilt zwar unbeschadet derjenigen Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen, die nach dem Völkerrecht sofort anwendbar sind. Dazu gehört Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK wegen seines Umsetzungsbedarfs in nationales Recht aber nicht. Diese Rechtsnorm ist vielmehr mit Art 12 Abs 2 WiSoKuPakt vergleichbar. Er benennt beispielhaft Schritte, die die Vertragsstaaten zur vollen Verwirklichung des "erreichbaren Höchstmaßes" ("highest attainable standard") an Gesundheit einzuleiten haben (vgl zur Entwicklung der UN-BRK im völkerrechtlichen Kontext auch Masuch in Festschrift für Renate Jaeger, 2011, 245, 246; Aichele, APuZ 2010, 13, 15; siehe auch "General Comment 3" Ziff 5 vom 14.12.1990 - keine Erwähnung von Art 12 WiSoKuPakt; "General Comment No 14" vom 11.8.2000 Ziff 1 zum Diskriminierungsverbot und Ziff 43 - Kernbereich medizinischer Grundversorgung auf Minimalniveau <"minimum essential levels[…] including essential primary health care"> - hier nicht betroffen; vgl schließlich Denkschrift der Bundesregierung zur UN-BRK, BT-Drucks 16/10808, S 45, 58 f).

29

4. Letztlich verhelfen auch weder das Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK noch Verfassungsrecht dem Kläger zum Erfolg. Art 5 Abs 2 UN-BRK ist allerdings nach den aufgeführten Kriterien unmittelbar anwendbar, in diesem Sinne also self-executing (vgl BVerfG SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 54; Denkschrift der Bundesregierung zur UN-BRK, BT-Drucks 16/10808, S 45, 48; Masuch in Festschrift für Renate Jaeger, 2011, 245, 246, 250). Nach dieser Regelung verbieten die Vertragsstaaten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen.

30

Zu den Menschen mit Behinderungen zählen nach Art 1 Abs 2 UN-BRK Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Nach Art 2 UN-BRK bedeutet "Diskriminierung aufgrund von Behinderung" jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen. Im Sinne des Übereinkommens bedeutet gemäß Art 2 UN-BRK "angemessene Vorkehrungen" notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können. Nach Art 4 Abs 1 S 1 UN-BRK verpflichten sich die Vertragsstaaten, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten zu den im Einzelnen in Art 4 Abs 1 S 2 UN-BRK genannten Maßnahmen.

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Ausgehend von diesen Grundsätzen entspricht das unmittelbar anwendbare Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK für die Leistungsbestimmungen der GKV im Wesentlichen dem Regelungsgehalt des Art 3 Abs 3 S 2 GG. Danach darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Das Benachteiligungsverbot des Art 3 Abs 3 S 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, behinderte und nichtbehinderte Menschen rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme kompensiert wird (vgl BVerfGE 99, 341, 357; 96, 288, 303; BVerfGK 7, 269, 273). Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass die UN-BRK generell als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann (vgl BVerfG NJW 2011, 2113, RdNr 52; BVerfGE 111, 307, 317) und dies auch speziell für das Verständnis des Art 3 Abs 3 S 2 GG gilt (so im Ergebnis BVerfG SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 54).

32

Der gesetzliche Leistungsausschluss nach § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V verstößt indes weder gegen das verfassungsrechtliche Benachteiligungs- noch gegen das konventionsrechtliche Diskriminierungsverbot. Der gesetzliche Leistungsausschluss knüpft nicht an eine Behinderung im verfassungsrechtlichen (vgl die allgemein auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben abstellende Regelung des § 2 Abs 1 S 1 SGB IX, an dessen Vorgängernorm - § 3 Abs 1 Schwerbehindertengesetz - sich der verfassungsändernde Gesetzgeber bei der Schaffung des Art 3 Abs 3 S 2 GG orientiert hat, s BVerfGE 96, 288, 301)und konventionsrechtlichen Sinne an, sondern erfasst weitergehend alle Fälle der Erkrankung (§ 27 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB V) oder - hier nicht betroffen - der Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde (§ 23 Abs 1 Nr 1, Abs 3 SGB V). Die Ausschlussregelung setzt nicht den Eintritt einer Behinderung voraus, sondern lässt auch eine vorübergehende Krankheit oder Erscheinungsformen in deren Vorfeld ausreichen.

33

Auch soweit die Vorschrift zugleich behinderte Menschen iS des Art 3 Abs 3 S 2 GG oder des Art 1 Abs 2 UN-BRK trifft, ist sie wegen des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung des GKV-Leistungskatalogs noch gerechtfertigt. Wie das GG fordert auch die UN-BRK zur Achtung des Diskriminierungsverbots keine unverhältnismäßigen oder unbilligen Belastungen. Die sich daraus ergebenden Rechtfertigungsanforderungen sind nicht höher als die nach dem GG.

34

Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die GKV den Versicherten Leistungen nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskatalogs (§ 11 SGB V) unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellt, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs 1 S 1 SGB V). Es steht mit dem GG in Einklang, wenn der Gesetzgeber vorsieht, dass die Leistungen der GKV ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein haben und nicht das Maß des Notwendigen überschreiten dürfen (§ 2 Abs 1 S 1 SGB V). Der GKV-Leistungskatalog darf auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen mitbestimmt sein. Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht (vgl BVerfGE 103, 172, 184). Die gesetzlichen KKn sind nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (vgl BVerfGE 115, 25, 45 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5).

35

Auch aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten (vgl BVerfGE 89, 120, 130) folgt jedenfalls kein grundrechtlicher Anspruch gegen seine KK auf Bereitstellung oder Finanzierung bestimmter Gesundheitsleistungen (stRspr, vgl BVerfG NJW 1998, 1775; NJW 1997, 3085). Der Gesetzgeber verletzt seinen Gestaltungsspielraum weder im Hinblick auf das Sozialstaatsgebot noch auf das Benachteiligungsverbot behinderter Menschen, wenn er angesichts der beschränkten finanziellen Leistungsfähigkeit der GKV Leistungen aus dem Leistungskatalog ausschließt, die - wie hier - in erster Linie einer Steigerung der Lebensqualität jenseits lebensbedrohlicher Zustände dienen. Dies gilt erst recht, wenn es sich um Bereiche handelt, bei denen die Übergänge zwischen krankhaften und nicht krankhaften Zuständen auch maßgeblich vom subjektiven Empfinden des einzelnen Versicherten abhängen können (vgl auch BSGE 94, 302 = SozR 4-2500 § 34 Nr 2, RdNr 25 - Viagra). Schließlich darf der Gesetzgeber auch aus Gründen der Rechtssicherheit klare Grenzlinien ziehen (vgl hierzu Begründung des Entwurfs der Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum GMG, BT-Drucks 15/1525, S 86 zu Art 1 Nr 22 Buchst a Doppelbuchst cc).

36

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. August 2011 wird zurückgewiesen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

I. Die bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin ist mit ihrem Begehren, wegen eines Lipödem-Syndroms der Beine im Wege der Kostenerstattung von den Kosten einer ambulanten Liposuktion mit vier Behandlungseinheiten freigestellt zu werden, in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das LSG hat ua ausgeführt, die ambulante Liposuktion sei nicht Gegenstand einer Sachleistung, weil eine positive Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) fehle. Anhaltspunkte für eine grundrechtsorientierte Auslegung, einen Seltenheitsfall oder ein Systemversagen bestünden nicht (Urteil vom 25.8.2011).

2

Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

3

II. Die Beschwerde ist teilweise unzulässig, im Übrigen unbegründet. Die Beschwerde ist dementsprechend insgesamt unter Hinzuzuziehung der ehrenamtlichen Richter zurückzuweisen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 19.9.2007 - B 1 KR 52/07 B). Die Bezeichnung eines Verfahrensfehlers entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen(dazu 1.). Der zulässig geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung liegt nicht vor (dazu 2.).

4

1. Die Klägerin bezeichnet einen Verfahrensmangel nicht ausreichend. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Gemäß § 160a Abs 2 S 3 SGG muss der Verfahrensfehler bezeichnet werden. Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Die Klägerin rügt zwar die Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG), legt aber die erforderlichen Umstände einer Pflichtverletzung nicht dar. Auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht kann die Zulassungsbeschwerde nämlich nur gestützt werden, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG; BSG Beschluss vom 30.7.2009 - B 1 KR 22/09 B - RdNr 5). Hierzu enthält die Beschwerdebegründung keinen Vortrag.

5

2. Die Revision ist nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die Klägerin legt dies ausreichend dar (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG). Hierzu wirft die Klägerin sinngemäß die entscheidungserhebliche, allgemein bedeutsame sowie ursprünglich klärungsbedürftig gewesene Rechtsfrage auf, ob eine KK aufgrund der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), insbesondere des Art 6 Abs 1 UN-BRK, eine Fürsorgepflicht hat, für einen Antrag (eines hierzu Berechtigten) auf Einleitung eines Verfahrens zur Bewertung der Liposuktion durch den GBA Sorge zu tragen. Um dem Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zu entsprechen, muss die aufgeworfene Rechtsfrage im angestrebten Revisionsverfahren indes nicht nur entscheidungserheblich sowie über den Einzelfall hinaus von Bedeutung, sondern auch klärungsbedürftig sein (vgl zB SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN; BSG Beschluss vom 19.9.2007 - B 1 KR 52/07 B - Juris RdNr 4 ). Der Rechtssache kommt gemessen an diesen Kriterien keine grundsätzliche Bedeutung mehr zu. Die von der Klägerin sinngemäß aufgeworfene Rechtsfrage, ob eine KK eine Fürsorgepflicht hat, für einen Antrag (durch einen Berechtigten) auf Einleitung eines Verfahrens zur Bewertung der Liposuktion durch den GBA Sorge zu tragen (vgl § 135 Abs 1 S 1 SGB V iVm 2. Kap, 2. Abschn, § 4 Verfahrensordnung des GBA vom 18.12.2008, BAnz Nr 84a vom 10.6.2009), wirft keinen Klärungsbedarf (mehr) auf.

6

Das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren fehlt nämlich, wenn ihre Beantwortung nach der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, die Frage also "geklärt ist" (BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6 und § 160a Nr 21 S 38; BSG Beschluss vom 21.10.2010 - B 1 KR 96/10 B - RdNr 7; BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 7). Der erkennende Senat hat - wie vom LSG ausgeführt - bereits entschieden, dass ein Anspruch auf die neue Behandlungsmethode der ambulanten ärztlichen Liposuktion zu Lasten der GKV nicht in Betracht kommt, solange der GBA die neue Methode der Fettabsaugung nicht positiv empfohlen hat (§ 135 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB V)oder ein Ausnahmefall vorliegt, in welchem die positive Empfehlung entbehrlich ist (BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 19 RdNr 13 ff ). Der hier allein in Betracht kommende Ausnahmefall des Systemversagens setzt nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats voraus, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde (vgl dazu BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 17 f mwN - LITT). Abgesehen davon, dass schon in tatsächlicher Sicht nicht ersichtlich ist, aufgrund welcher neueren oder schon vorhandenen, aber bislang nicht berücksichtigten medizinischen Erkenntnisse die antragsberechtigten Stellen es versäumt hätten, einen Antrag zu stellen, bestehen keine vernünftigen Zweifel daran, dass eine solche Fürsorgepflicht nicht besteht. Ein Klärungsbedarf ergibt sich entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht (mehr) unter Berücksichtigung des Art 25 (dazu a) oder des Art 6 (dazu b) der UN-BRK, der seit dem 26.3.2009 völkerrechtliche Verbindlichkeit für Deutschland gemäß Art 45 Abs 2 UN-BRK und innerstaatlich der Rang eines Bundesgesetzes zukommt (näher dazu BSG Urteil vom 6.3.2012 - B 1 KR 10/11 R - SozR 4-1100 Art 3 Nr 69 RdNr 19 f, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen).

7

a) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist aus Art 25 UN-BRK keine eigenständige, über die Rechtsprechung des BSG zum Systemversagen hinausgehende Pflicht der KK abzuleiten, für die Einleitung eines Bewertungsverfahrens Sorge zu tragen. Ein über das gesetzlich Geregelte hinausgehender Anspruch auf die formelle Einleitung eines ergebnisoffenen GBA-Prüfungsverfahrens ergibt sich weder aus Art 25 S 1 und 2 UN-BRK noch aus Art 25 S 3 Buchst f UN-BRK.

8

Art 25 S 1 und 2 UN-BRK sind nicht unmittelbar anwendbar, sondern bedürfen der Umsetzung durch den Gesetzgeber. Nach Art 25 S 1 UN-BRK erkennen die Vertragsstaaten - wie in der Beschwerdebegründung zitiert - an, dass Menschen mit Behinderungen das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund der Behinderung haben. Zudem haben die Vertragsstaaten alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten haben. Hiermit können nach dem für das Übereinkommen verbindlichen englischen und französischen Wortlaut - Art 50 UN-BRK - auch Gesundheitsleistungen gemeint sein ("access … to health services that are gender-sensitive"; "l'accès à des services de santé qui prennent en compte les sexospécificités"), einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation (Art 25 S 2 UN-BRK). Auf Letzteres nimmt die Klägerin inhaltlich insoweit Bezug als sie sinngemäß meint, die von ihr begehrte Liposuktion sei wegen der psychosozialen Auswirkungen des Lipödems bei Frauen eine geschlechtsspezifische Gesundheitsleistung. Der erkennende Senat hat indes zu Art 25 S 3 Buchst b iVm S 1 und 2UN-BRK zwischenzeitlich - nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist - entschieden, dass diese Normen non-self-executing sind. Nichts anderes gilt für die isolierte Betrachtung des Art 25 S 1 und 2 UN-BRK.

9

Art 25 S 3 Buchst f UN-BRK ist demgegenüber zwar self-executing, wird aber durch die gesetzliche Regelung des Antragsverfahrens für Entscheidungen nach § 135 Abs 1 SGB V nicht verletzt. Durch die Rechtsprechung des erkennenden Senats ist geklärt, dass das Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK unmittelbar anwendbares Recht ist (BSG Urteil vom 6.3.2012 - B 1 KR 10/11 R - SozR 4-1100 Art 3 Nr 69 RdNr 29, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen). Das trifft auch auf Art 25 S 3 Buchst f UN-BRK zu. Danach verhindern die Vertragsstaaten die diskriminierende Vorenthaltung von Gesundheitsversorgung oder -leistungen oder von Nahrungsmitteln und Flüssigkeiten aufgrund von Behinderung. Die rechtliche Reichweite dieses speziellen, auf die Gesundheit bezogenen Diskriminierungsverbots ist ebenfalls - mittelbar durch die Rechtsprechung zum allgemeinen Diskriminierungsverbot - geklärt. Es ergänzt das allgemeine Verbot der Diskriminierung aufgrund von Behinderung des Art 5 Abs 2 UN-BRK und wiederholt es bereichsspezifisch. Das unmittelbar anwendbare allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK entspricht für die Leistungsbestimmungen der GKV im Wesentlichen dem Regelungsgehalt des Art 3 Abs 3 S 2 GG (BSG Urteil vom 6.3.2012 - B 1 KR 10/11 R - SozR 4-1100 Art 3 Nr 69 RdNr 30 f, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen). Dies ist auf Art 25 S 3 Buchst f UN-BRK übertragbar.

10

Sowohl die Regelung des Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt für die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden für die vertragsärztliche Versorgung als auch die normative Ausgestaltung seines Verfahrens, insbesondere auch seine Einleitung (vgl § 92 Abs 1 S 2 Nr 1; § 135 Abs 1 S 1 Nr 1; § 140f Abs 2 S 5 SGB V; 2. Kap, 2. Abschn § 4 VerfO), verstoßen nicht gegen das aufgezeigte Diskriminierungsverbot. Die Regelungen knüpfen nicht an eine Behinderung im konventionsrechtlichen Sinne an, sondern an Krankheiten als solche, die weder zu Behinderungen führen müssen noch bereits eingetretene Behinderungen voraussetzen. Allerdings sind noch nicht oder nicht ausreichend diagnostizier- oder therapierbare schwere Erkrankungen faktisch regelmäßig mit daraus resultierenden Behinderungen der Erkrankten assoziiert.

11

Soweit die angegriffene Regelung indes zugleich behinderte Menschen iS des Art 3 Abs 3 S 2 GG oder des Art 1 Abs 2 UN-BRK trifft, ist sie wegen des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung des GKV-Leistungskatalogs gerechtfertigt. Es ist nicht zu beanstanden, dass die GKV den Versicherten Leistungen nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskatalogs (§ 11 SGB V)unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellt, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs 1 S 1 SGB V),und hierbei grundsätzlich Qualität und Wirksamkeit der Leistungen einem Qualitätsgebot (§ 2 Abs 1 S 3 SGB V)unterwirft, das er durch die Regelungen über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden absichert. Auch die Regelungen über die betroffenen Verfahrensvorschriften müssen sich an den unmittelbar anwendbaren Bestimmungen der UN-BRK messen lassen, weil sie die Möglichkeiten eines geregelten Erkenntnisprozesses mit verbindlichen Folgen für die Gesundheitsversorgung und -leistungen behinderter Menschen beschränken. Hierbei ist die Regelung des Art 2 UN-BRK zu berücksichtigen. Danach erfasst der konventionsrechtliche Begriff der "Diskriminierung aufgrund von Behinderung" auch die Versagung "angemessener Vorkehrungen". Auch dies hat die Rechtsprechung des erkennenden Senats geklärt (vgl BSG Urteil vom 6.3.2012 - B 1 KR 10/11 R - SozR 4-1100 Art 3 Nr 69 RdNr 32 ff, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen).

12

Die beteiligten Normgeber haben indessen dem Ziel, Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu vermeiden, bei der Ausgestaltung des Verfahrens Rechnung getragen. Sie haben nämlich neben allen anderen Antragsberechtigten auch dem Deutschen Behindertenrat in Bezug auf Verfahren zur Bewertung von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ein Antragsrecht zugebilligt (§ 140f Abs 2 S 5 SGB V). Als maßgebliche Organisation für die Wahrnehmung der Interessen behinderter Menschen ist der Deutsche Behindertenrat berechtigt, das Verfahren der Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden einzuleiten (2. Kap, 2. Abschn § 4 Abs 2 Buchst d Spiegelstrich 2 VerfO iVm § 2 Abs 1 Nr 1 Patientenbeteiligungsverordnung). Eine allgemeine Fürsorgepflicht der KK, auf einen Antrag eines Berechtigten hinzuwirken, ist neben dem speziell auf die Belange behinderter Menschen zugeschnittenen Antragsrecht der genannten Patientenorganisation nicht erforderlich.

13

b) Die Rechtsfrage, ob eine KK eine Fürsorgepflicht hat, für einen Antrag (durch einen Berechtigten) auf Einleitung eines Verfahrens zur Bewertung der Liposuktion durch den GBA Sorge zu tragen, wirft nach diesen Grundsätzen auch im Hinblick auf die Regelung des geltend gemachten Art 6 UN-BRK keinen Klärungsbedarf (mehr) auf. Nach Art 6 Abs 1 UN-BRK erkennen die Vertragsparteien an, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind, und in dieser Hinsicht Maßnahmen ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll und gleichberechtigt genießen können. Die Regelung ist im Zusammenhang mit Art 6 Abs 2 UN-BRK zu sehen, wonach die Vertragsstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der Förderung und der Stärkung der Autonomie der Frauen treffen, um zu garantieren, dass sie die in diesem Übereinkommen genannten Menschenrechte und Grundfreiheiten ausüben und genießen können. Selbst wenn hiernach dem Konventionstext ein auf Frauen und Mädchen mit Behinderung bezogenes unmittelbar anwendbares bereichsspezifisches Diskriminierungsverbot zu entnehmen sein sollte, hätte der nationale Normgeber für das Verfahren zur Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden durch das Antragsrecht des Deutschen Behindertenrats eine angemessene Vorkehrung im Sinne von Art 2 UN-BRK getroffen.

14

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision der Beigeladenen wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. April 2011 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 30. September 2009 zurückgewiesen.

Der Kläger trägt auch die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Der Streitwert wird auf 966 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Der klagende Landkreis begehrt von dem beklagten Freistaat die Erstattung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Höhe der Grundrente, die der Beklagte der Beigeladenen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) gewährt hat.

2

Die Beigeladene bezog vom Kläger Leistungen nach § 3 AsylbLG. Im Dezember 2001 wurde sie Opfer mehrerer Gewalttaten. Daraufhin meldete der Kläger beim Beklagten vorsorglich einen Erstattungsanspruch wegen möglicher Ansprüche der Beigeladenen auf Leistungen nach dem OEG an. Nachdem der Versorgungsantrag der Beigeladenen vom Beklagten zunächst abgelehnt (Bescheid vom 5.8.2003) und ihr auf Widerspruch Beschädigten-Grundrente nach dem OEG unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH bis zum 30.11.2003 gewährt worden war (Abhilfebescheid vom 15.4.2004), sprach ihr das Sozialgericht (SG) Würzburg durch Urteil vom 2.5.2006 - S 1 VG 3/04 - ab 1.12.2003 Grundrente nach einer MdE um 40 vH zu. Der Beklagte gewährte der Beigeladenen daraufhin ab dem 1.12.2003 Grundrente in Höhe von 161 Euro monatlich (Ausführungsbescheid vom 21.2.2007). Den Nachzahlungsbetrag für den Zeitraum Dezember 2003 bis Mai 2004 (966 Euro) behielt der Beklagte bis zur Klärung des vorliegenden Erstattungsanspruchs ein.

3

Mit Schreiben vom 24.6.2008 bezifferte der Kläger gegenüber dem Beklagten seinen Erstattungsanspruch für die Zeit vom 1.12.2003 bis 31.5.2004 mit 966 Euro. Für diesen Zeitraum betrugen seine Leistungen nach § 3 AsylbLG an die Beigeladene monatlich 292,97 Euro(Bescheid vom 18.5.2004). Nachdem der Beklagte eine Erstattung endgültig abgelehnt hatte, erhob der Kläger am 2.6.2009 beim SG Würzburg Klage, die mit Gerichtsbescheid vom 30.9.2009 abgewiesen wurde.

4

Auf die Berufung des Klägers hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger 966 Euro zu zahlen (Urteil vom 19.4.2011). Diese Entscheidung ist auf folgende Erwägungen gestützt:

5

Der Anspruch des Klägers ergebe sich aus § 104 SGB X. Der Kläger sei in Bezug auf die geltend gemachte Erstattungssumme gegenüber der Beigeladenen nachrangig verpflichtet gewesen. Die Grundrente nach dem OEG ginge den Leistungen nach dem AsylbLG vor, da sie anrechenbares Einkommen iS des § 7 Abs 1 AsylbLG darstelle. Der Kläger hätte bei rechtzeitiger Leistung des Beklagten um den Grundrentenbetrag verminderte Leistungen an die Beigeladene zu erbringen gehabt. Die Regelungen des Bundesozialhilfegesetzes (BSHG) zur Einkommensanrechnung seien auf das Asylbewerberleistungsrecht nicht übertragbar, da der Gesetzgeber ein eigenständiges Regelungswerk geschaffen habe.

6

Eine analoge Anwendung des § 7 Abs 5 AsylbLG komme nicht in Betracht. Vielmehr ergebe sich aus der vom SG zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (< BVerfG > Beschluss vom 11.7.2006 - 1 BvR 293/05 - BVerfGE 116, 229), dass das BVerfG unter dem Gesichtspunkt des Grundrechts auf menschenwürdige Existenz keine Bedenken gegen die Leistungsgewährung nach dem AsylbLG gehabt habe. Im Asylbewerberleistungsrecht sei es zulässig, alle Zuflüsse ggf auch zweckfremd zur Sicherung des Lebensunterhaltes einzusetzen. Eine Sonderstellung vergleichbar der von Schmerzensgeldzahlungen sei für die Grundrente nach dem OEG nicht anzunehmen, denn diese diene auch der Abdeckung eines materiellen Bedarfs, den das AsylbLG im Auge habe. Der Schmerzensgeldanspruch enthalte hingegen keinerlei materielle Komponente.

7

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Beigeladene geltend: Bestehe ein Erstattungsanspruch des Klägers, verliere sie gemäß § 107 SGB X ihren Anspruch gegen den Beklagten auf Auszahlung der Grundrente für die Zeit von Dezember 2003 bis Mai 2004. Durch die angefochtene Entscheidung würden § 7 AsylbLG sowie § 1 OEG iVm § 31 BVG und Art 3 Grundgesetz (GG) verletzt. Die Grundrente stelle kein Einkommen iS des § 7 Abs 1 AsylbLG dar und müsse in entsprechender Anwendung von § 7 Abs 5 AsylbLG unberücksichtigt bleiben, denn sie werde pauschaliert geleistet und setze weder einen materiellen Schaden noch eine materielle Bedürftigkeit voraus. Damit sei die Entscheidung des BVerfG (1 BvR 293/05) zum Schmerzensgeld auch auf die Grundrente nach dem OEG übertragbar. Andernfalls würden Asylbewerber unter Verstoß gegen Art 3 GG anders behandelt als Leistungsempfänger nach dem BSHG. Das LSG verkenne, dass die Grundrente nach dem OEG faktisch lediglich einen immateriellen Schaden abdecke, da im OEG iVm dem BVG eigene Vorschriften zum Ausgleich materieller Schäden vorgesehen seien.

8

Die Beigeladene beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. April 2011 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 30. September 2009 zurückzuweisen.

9

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

10

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor: Das Verfassungsrecht gebiete es nicht, die Grundrente nach dem OEG von der Einkommensanrechnung nach § 7 Abs 1 AsylbLG auszunehmen. Es liege keine Vergleichbarkeit dieser Leistung mit Schmerzensgeldzahlungen vor. Der maßgebliche Unterschied bestehe darin, dass dem Schmerzensgeld jegliche materielle Komponente fehle, während die Grundrente nach dem OEG zumindest auch typisierend und pauschalierend dem Ausgleich von durch die Schädigung entstandenen materiellen Mehraufwendungen diene.

11

Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

12

Die Revision der Beigeladenen ist zulässig und begründet.

13

Die Beigeladene hat die Revision zulässigerweise eingelegt. Die Hauptbeteiligten eines Rechtsstreits können grundsätzlich ohne Weiteres Rechtsmittel gegen Urteile einlegen, eine zum Verfahren beigeladene Person (vgl § 69 Nr 3, § 75 SGG) muss hingegen geltend machen können, dass sie durch die angefochtene Entscheidung materiell beschwert wird (vgl Bundessozialgericht Beschluss vom 29.3.2007 - B 9a V 7/06 B - SozR 4-2600 § 118 Nr 3 RdNr 9; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 75 RdNr 19, Vor § 143 RdNr 4a mwN). Das Vorliegen einer materiellen Beschwer erfordert, dass die angefochtene Entscheidung geeignet ist, beim Rechtsmittelführenden eine Rechtsverletzung iS des § 54 Abs 1 S 2 SGG zu bewirken (vgl BSG Urteil vom 12.5.2011 - B 11 AL 24/10 R - SozR 4-1300 § 107 Nr 4 RdNr 11), wobei es auf zuvor gestellte Anträge nicht ankommt (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 75 RdNr 19, Vor § 143 RdNr 8). Dies setzt voraus, dass die Beigeladene aufgrund der Bindungswirkung des angefochtenen Urteils unmittelbar in ihren subjektiven Rechten beeinträchtigt werden kann, mithin muss sich die mögliche Belastung aus der Rechtskraftwirkung des § 141 Abs 1 Nr 1 SGG ergeben. Das ist hier der Fall.

14

Durch die angefochtene Entscheidung des LSG ist das Bestehen eines Erstattungsanspruchs des Klägers gegen den Beklagten gemäß § 104 Abs 1 SGB X in Höhe von 966 Euro festgestellt worden. Erwächst dieses Urteil in Rechtskraft, tritt in Höhe des festgestellten Erstattungsanspruchs die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB X zum Nachteil der Beigeladenen ein. Nach dieser Vorschrift gilt ein Anspruch des Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch (zwischen zwei Leistungsträgern für diese Leistung) besteht. Die Beigeladene hätte demnach keinen Anspruch mehr gegen den Beklagten auf Auszahlung der ihr aufgrund des Urteils des SG vom 2.5.2006 (S 1 VG 3/04) bewilligten Grundrente nach § 1 Abs 1 S 1 OEG iVm § 31 BVG(vgl Ausführungsbescheid der Beklagten vom 21.2.2007) für den hier betroffenen Zeitraum. Aus der Erfüllungswirkung ergeben sich demnach sowohl die materielle Beschwer der Beigeladenen als auch die Erforderlichkeit der erfolgten notwendigen Beiladung (vgl BSG Urteil vom 12.6.1986 - 8 RK 61/84 - SozR 1500 § 75 Nr 60 S 65 f; Urteil vom 15.11.1989 - 5 RJ 41/89 - SozR 1500 § 75 Nr 80 S 99 f; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 75 RdNr 10a).

15

Entgegen der Rechtsauffassung des LSG steht dem Kläger der geltend gemachte Erstattungsanspruch nicht zu. Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

16

Als Anspruchsgrundlage für die geforderte Erstattung kommt allein § 104 Abs 1 SGB X(idF des 4. Euro-Einführungsgesetzes vom 21.12.2000, BGBl I 1983, mit Wirkung ab 1.1.2001) in Betracht, der den Anspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers gegen den vorrangig verpflichteten Leistungsträger regelt. Diese Vorschrift lautet:

(1) Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 vorliegen, ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Ein Erstattungsanspruch besteht nicht, soweit der nachrangige Leistungsträger seine Leistungen auch bei Leistung des vorrangig verpflichteten Leistungsträgers hätte erbringen müssen. Satz 1 gilt entsprechend, wenn von den Trägern der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der Jugendhilfe Aufwendungsersatz geltend gemacht oder ein Kostenbeitrag erhoben werden kann; Satz 3 gilt in diesen Fällen nicht.

17

Danach ist § 104 SGB X von § 103 SGB X abzugrenzen. In § 103 SGB X wird der Erstattungsanspruch eines Leistungsträgers normiert, dessen originäre Leistungsverpflichtung nachträglich (teilweise) entfallen ist. Dabei dürfen die Sozialleistungen - anders als in § 104 Abs 1 SGB X - nicht in einem bloßen Vorrang- bzw Nachrangverhältnis zueinander stehen; vielmehr müssen sich beide Ansprüche grundsätzlich derart ausschließen, dass der Rechtsgrund für die eine Leistung durch das Hinzutreten der anderen Leistung entfällt (vgl Böttiger in LPK-SGB X, 3. Aufl 2011, § 103 RdNr 12 und § 104 RdNr 13). § 104 SGB X regelt hingegen die Erstattungsverpflichtung bei Leistungen unterschiedlicher Gründe(vgl Kater in KasselerKomm, Stand Dezember 2011, § 104 SGB X RdNr 21 mwN). Der nachrangig Verpflichtete bleibt trotz Leistung des vorrangig Verpflichteten weiterhin originär zuständig, lediglich die (Höhe der) Leistungsverpflichtung wird durch die Erbringung der vorrangigen Leistung beeinflusst. Die Fallkonstellation der aufgrund rückwirkender Gewährung einer als Einkommen anzurechnenden Leistung verminderten Leistungsverpflichtung stellt demnach den Grundgedanken des Erstattungsanspruchs nach § 104 SGB X dar(vgl BSG Urteil vom 22.5.1985 - 1 RA 33/84 - BSGE 58, 119, 123 = SozR 1300 § 104 Nr 7 S 21 f).

18

Gemessen an diesen Kriterien liegt hier ein Anwendungsfall des § 104 und nicht des § 103 SGB X vor. Die Anspruchsberechtigung der Beigeladenen betreffend Leistungen nach § 3 AsylbLG für die Zeit von Dezember 2003 bis Mai 2004 ist durch die für diesen Zeitraum nach § 1 Abs 1 S 1 OEG iVm § 31 Abs 1 S 1 BVG rückwirkend bewilligte Grundrente nicht nachträglich entfallen, sondern besteht dem Grunde nach fort. Maßgebend ist insoweit § 7 Abs 1 AsylbLG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG vom 25.8.1998 (BGBl I 2505):

Einkommen und Vermögen, über das verfügt werden kann, sind von dem Leistungsberechtigten und seinen Familienangehörigen, die im selben Haushalt leben, vor Eintritt von Leistungen nach diesem Gesetz aufzubrauchen. § 122 des Bundessozialhilfegesetzes findet entsprechende Anwendung. Bei der Unterbringung in einer Einrichtung, in der Sachleistungen gewährt werden, haben Leistungsberechtigte, soweit Einkommen und Vermögen im Sinne des Satzes 1 vorhanden sind, für erhaltene Leistungen dem Kostenträger für sich und ihre Familienangehörigen die Kosten in entsprechender Höhe der in § 3 Abs. 2 Satz 2 genannten Leistungen sowie die Kosten der Unterkunft und Heizung zu erstatten; für die Kosten der Unterkunft und Heizung können die Länder Pauschalbeträge festsetzen oder die zuständige Behörde dazu ermächtigen.

19

Danach ist allein darüber zu entscheiden, ob die Grundrente bei unterstellter rechtzeitiger Leistung vorrangig aufzubrauchendes Einkommen dargestellt, sich mithin auf die Höhe des Anspruchs der Beigeladenen nach § 3 AsylbLG vermindernd ausgewirkt hätte.

20

Die Voraussetzungen des § 104 SGB X sind nicht erfüllt. Der Kläger ist in Bezug auf einen Betrag in Höhe der Grundrente der Beigeladenen für die Zeit von Dezember 2003 bis Mai 2004 nicht iS von § 104 Abs 1 S 2 SGB X als nachrangig zur Leistung verpflichtet anzusehen. Er wäre auch bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung des Beklagten zur Leistungserbringung nach § 3 AsylbLG an die Beigeladene verpflichtet gewesen, ohne deren Beschädigten-Grundrente als Einkommen berücksichtigen zu dürfen.

21

Nach Auffassung des erkennenden Senats gehört die Beschädigten-Grundrente nach dem OEG iVm dem BVG nicht zum Einkommen iS des § 7 Abs 1 S 1 AsylbLG. Sie ist demnach nicht vor dem Eintritt von Leistungen nach dem AsylbLG vorrangig aufzubrauchen. Dafür sind folgende Erwägungen maßgebend:

22

Das AsylbLG selbst enthält keine Definition des Einkommensbegriffs, sondern setzt diesen Begriff voraus. Da das Asylbewerberleistungsrecht zum 1.11.1993 zwar als besonderes System außerhalb des seinerzeit geltenden BSHG, jedoch unter Wahrung fürsorgerischer Gesichtspunkte eingeführt worden ist (vgl dazu die Begründung des Gesetzentwurfs zum AsylbLG, BT-Drucks 12/4451, S 5), geht der Senat in Übereinstimmung mit Rechtsprechung und Literatur (vgl Bundesverwaltungsgericht Urteil vom 18.2.1999 - 5 C 35.97 - BVerwGE 108, 296, 298 f; Beschluss vom 2.12.2004 - 5 B 108/04 - NVwZ 2005, 463 ff; Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl 2010, § 7 AsylbLG RdNr 5; Hohm, GK-AsylbLG, Stand März 2012, § 7 RdNr 15 f; Adolph in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, Stand April 2012, § 7 RdNr 11; Herbst in Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, Stand Januar 2011, § 7 AsylbLG RdNr 4; Schmidt in jurisPK-SGB XII, Stand Dezember 2011, § 7 AsylbLG RdNr 11)davon aus, dass insoweit für das AsylbLG ein sozialhilferechtlicher Einkommensbegriff heranzuziehen ist. Die damit in Betracht kommende Begriffsbestimmung in § 76 Abs 1 BSHG(idF des Gesetzes zur Verlängerung von Übergangsregelungen im Bundessozialhilfegesetz vom 27.4.2002, BGBl I 1462, gültig bis zum 31.12.2004) lautet:

(1) Zum Einkommen im Sinne dieses Gesetzes gehören alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach diesem Gesetz, der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz und der Renten oder Beihilfen, die nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schaden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit gewährt werden, bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz.

23

Unter Einkommen in diesem Sinne ist danach zunächst grundsätzlich alles zu verstehen, was jemand in der Bedarfszeit wertmäßig dazu erhält, unerheblich vom Grund der Zahlung und deren Zweckbestimmung (vgl Decker in Oestreicher, SGB II/SGB XII, Stand April 2011, § 7 AsylbLG RdNr 11; Fichtner/Wenzel, SGB XII/Sozialhilfe/AsylbLG, 4. Aufl 2009, § 7 AsylbLG RdNr 3). Im vorliegenden Zusammenhang kann offenbleiben, ob und inwieweit die Vorschriften des BSHG zur Absetzbarkeit bestimmter Beträge (vgl § 76 Abs 2 und 2a BSHG) und zur Nichtberücksichtigung einzelner Einkommensarten (vgl § 77 BSHG) in das AsylbLG zu übernehmen sind, jedenfalls ist die in § 76 Abs 1 BSHG vorgesehene Ausnahme für die Grundrente nach dem BVG Bestandteil des Einkommensbegriffs, der im AsylbLG gilt. Wie der Senat bereits entschieden hat, bezieht sich diese Ausnahme auch auf Beschädigten-Grundrenten nach dem OEG iVm dem BVG (vgl BSG Urteil vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/98 R - SozR 3-5910 § 76 Nr 3 S 5 f).

24

Die Frage, ob die in § 76 Abs 1 BSHG enthaltene, auf die Grundrente bezogene Ausnahme mit zu dem für das AsylbLG maßgebenden Einkommensbegriff gehört, wird in Rechtsprechung und Literatur uneinheitlich behandelt. Teilweise wird dazu nicht ausdrücklich Stellung genommen (vgl Adolph in Linhart/Adolph aaO; Decker in Oestreicher aaO RdNr 11 f). Fichtner/Wenzel lehnen zwar eine analoge Anwendung der das Einkommen betreffenden, seit 1.1.2005 das BSHG ersetzenden Vorschriften des SGB XII ab (aaO RdNr 2), vertreten jedoch die Ansicht, dass Sozialleistungen, auf die auch für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG ein Anspruch besteht, insoweit nicht als Einkommen anzurechnen seien, als sie anderen Zwecken dienten als der Sicherung des Lebensunterhalts (aaO RdNr 3). Schmidt (aaO) nimmt an, dass, soweit § 7 AsylbLG auf den Begriff des Einkommens Bezug nimmt, ein identischer Begriffsinhalt zu § 82 Abs 1 S 1 SGB XII bzw § 11 Abs 1 S 1 SGB II vorausgesetzt wird. Diese Aussage könnte zwar eine Übernahme der auch in der Begriffsbestimmung des § 82 Abs 1 S 1 SGB XII enthaltenen Ausnahmeregelung zur Grundrente in das Asylbewerberleistungsrecht stützen, dem würde jedoch die Bezugnahme Schmidts auf § 11 Abs 1 S 1 SGB II widersprechen, der eine solche Ausnahme nicht enthält(vgl dazu § 11a Abs 1 Nr 2 SGB II). Das BVerwG geht wiederum davon aus, dass § 7 Abs 1 AsylbLG einen Einkommensbegriff voraussetzt, wie er "in § 76 Abs 1 BSHG ausgeformt wird"(vgl BVerwG Beschluss vom 2.12.2004 - 5 B 108/04 - NVwZ 2005, 463, 464, nachgehend BVerfG Beschluss vom 11.7.2006 - 1 BvR 293/05 - BVerfGE 116, 229). Danach wäre die Grundrente nicht als Einkommen anzusehen. Soweit in der Literatur die gegenteilige Ansicht vertreten wird (Birk in LPK-SGB XII, 9. Aufl 2012, § 7 AsylbLG RdNr 3 unter Hinweis auf das hier angefochtene Berufungsurteil; Grube/Wahrendorf aaO RdNr 8; vgl Hohm in GK-AsylbLG aaO RdNr 21), teilt sie der erkennende Senat nicht.

25

Da das AsylbLG keine dem § 76 Abs 1 BSHG entsprechende Begriffsbestimmung enthält, können aus dem dortigen Fehlen einer die Grundrente betreffenden Ausnahmeregelung keine inhaltlichen Schlüsse gezogen werden. Vielmehr obliegt es dem Rechtsanwender, den asylbewerberleistungsrechtlichen Begriff des Einkommens im Wege der Auslegung zu bestimmen. Dabei spricht die Entstehungsgeschichte des AsylbLG nicht gegen einen - dem § 76 Abs 1 BSHG entnommenen - Ausschluss der Grundrente aus dem darin geltenden Einkommensbegriff. Angesichts der erheblich gestiegenen Anzahl von Asylsuchenden und solchen Ausländern, denen vor allem aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen ein gewisses Bleiberecht in Deutschland zu gewähren war, sollten die diesen zustehenden Leistungen für den Lebensunterhalt gegenüber der Sozialhilfe, die vom Individualisierungsgrundsatz ausgeht und ein existenziell gesichertes und sozial integriertes Leben "auf eigenen Füßen" gewährleisten soll, vereinfacht und den Bedürfnissen eines hier in aller Regel nur kurzen, vorübergehenden Aufenthalts angepasst werden (vgl Begründung zum Gesetzentwurf, BT-Drucks 12/4451 S 5). Der vorgesehene Umfang der Leistungen soll danach ein Leben ermöglichen, das durch die Sicherung eines Mindestunterhalts dem Grundsatz der Menschenwürde gerecht wird (vgl Begründung des Gesetzentwurfs aaO S 6). Auch in den parlamentarischen Beratungen wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Leistungen nach dem AsylbLG nicht bezwecken, eine Teilnahme am soziokulturellen Leben zu gewährleisten (Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, 160. Sitzung, S 13594 - B - [Abgeordneter Werner], S 13596 - B - [Abgeordneter Eimer]). Diesem gesetzgeberischen Anliegen steht es nicht entgegen, den Einkommensbegriff des § 76 Abs 1 BSHG einschließlich seiner Ausnahmeregelung in das AsylbLG zu übernehmen.

26

Nachdem zuvor bereits das BVerwG entschieden hatte, dass die Grundrente bei der Ermittlung des Einkommens für die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG außer Ansatz zu lassen sei (vgl BVerwG Urteil vom 26.8.1964 - V C 99.63 - BVerwGE 19, 198, 202), ist durch Art 1 Nr 29 Zweites Gesetz zur Änderung des BSHG vom 14.8.1969 (BGBl I 1153) § 76 Abs 1 BSHG dahingehend neu gefasst worden, dass zum Einkommen iS dieses Gesetzes alle Einkünfte in Geld oder Geldwert mit Ausnahme der Leistungen nach diesem Gesetz und der Grundrente nach dem BVG gehören. In dem schriftlichen Bericht des Bundestagsausschusses für Sozialpolitik wird dazu ausgeführt, dass diese vom Ausschuss vorgeschlagene Regelung einem berechtigten Anliegen der Sozialhilfeempfänger entspreche. Sie sei auch bereits Gegenstand der Regelungen in anderen Sozialleistungsgesetzen (BT-Drucks V/4429 S 4). Diese Erwägungen lassen sich auch auf das Asylbewerberleistungsrecht übertragen. Zwar sollen Asylbewerberleistungen, anders als Sozialhilfe, nicht das soziokulturelle, sondern nur das "absolute" Existenzminimum sichern (vgl dazu BVerwG Urteil vom 3.6.2003 - 5 C 32.02 - Buchholz 436.02 § 2 AsylbLG Nr 1 S 6 f). Dieser Unterschied ist hier jedoch nicht erheblich, weil die Beschädigten-Grundrente nach dem OEG iVm mit dem BVG nicht der soziokulturellen Teilhabe, sondern der Rehabilitation dient.

27

§ 1 OEG idF vom 19.6.2006 (BGBl I 1305, gültig gewesen vom 15.12.2000 bis 31.12.2004) bestimmt in Abs 1 S 1:

Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug in Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. …

28

Nach § 31 Abs 1 S 1 BVG idF vom 24.6.2003 (BGBl I 984) erhalten Beschädigte bei einer MdE um mindestens 30 vH eine monatliche Grundrente, deren Höhe nach dem Ausmaß der MdE gesetzlich festgesetzt ist. Die MdE ist nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen; dabei sind seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen. Für die Beurteilung ist maßgebend, um wie viel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die als Folge einer Schädigung anerkannten Gesundheitsstörungen beeinträchtigt sind. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten (§ 30 Abs 1 S 1 bis 4 BVG idF vom 11.4.2002, BGBl I 1302).

29

Entsprechend der (pauschalen) Art und Weise ihrer Berechnung ist die Grundrente nicht dazu bestimmt, den allgemeinen Lebensunterhalt des Beschädigten sicherzustellen, sondern bezweckt einerseits eine Entschädigung für den Verlust der körperlichen Integrität und andererseits einen Ausgleich für die durch die Beeinträchtigung bedingten Mehraufwendungen und Ausgaben, die ein gesunder Mensch nicht hat. Sie hat insoweit sowohl eine immaterielle als auch materielle Funktion, wobei beide Komponenten nicht voneinander zu trennen sind (vgl dazu BVerfG Urteil vom 14.3.2000 - 1 BvR 284/96, 1 BvR 1659/96 - BVerfGE 102, 41, 61 = SozR 3-3100 § 84a Nr 3 S 23; BVerfG [3. Kammer] Beschluss vom 16.3.2011 - 1 BvR 591/08, 1 BvR 593/08 - SGb 2011 702, 707; BSG Urteil vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/98 R - SozR 3-5910 § 76 Nr 3 S 6 f; BSG Urteil vom 21.10.1980 - 3 RK 53/79 - BSGE 50, 243, 245 f = SozR 2200 § 180 Nr 5 S 14; BSG Urteil vom 22.6.1979 - 3 RK 84/77 - BSGE 48, 217, 218 = SozR 1200 § 54 Nr 3 S 3; BGH Urteil vom 10.11.1964 - VI ZR 186/63 - NJW 1965, 102, 103; BGH Urteil vom 4.6.1985 - VI ZR 17/84 - VersR 1985, 990, 991; BVerwG Urteil vom 26.8.1964 - V C 99.63 - BVerwGE 19, 198, 203; Dau in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl 2012, § 31 BVG RdNr 1 mwN; Kieswald in Entwicklung des Sozialrechts, Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe zum Anlass des 100jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, 1984, S 469, 470). Dabei kann die Grundrentenleistung als integrierender Bestandteil der Rehabilitation des Beschädigten bezeichnet werden (vgl dazu BVerfG Urteil vom 14.3.2000 - 1 BvR 284/96, 1 BvR 1659/96 - BVerfGE 102, 41, 59 = SozR 3-3100 § 84a Nr 3 S 21 mwN; Heinz, br 2009, 13, 15).

30

Rechtssystematische Gesichtspunkte sprechen ebenfalls nicht gegen die vom Senat vertretene Auslegung des Begriffes des Einkommens iS von § 7 Abs 1 S 1 AsylbLG. Die Regelung des § 7 Abs 2 AsylbLG betrifft nicht den Einkommensbegriff, sondern sieht beim Einkommen bestimmte Freibeträge vor. Der Umstand, dass sich der Gesetzgeber bei der Anfügung des § 7 Abs 5 AsylbLG durch Art 6 Abs 2 Nr 3 Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007 (BGBl I 1970) auf die Umsetzung der Entscheidung des BVerfG vom 11.7.2006 (BVerfGE 116, 229) beschränkt hat, ist in diesem Zusammenhang ebenfalls unerheblich. § 7 Abs 5 AsylbLG sieht vor, dass eine Entschädigung, die wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, nach § 253 Abs 2 BGB geleistet wird, nicht als Einkommen zu berücksichtigen ist. Damit wurde eine Vorschrift, die der Regelung des § 77 Abs 2 BSHG bzw - seit dem 1.1.2005 - des § 83 Abs 2 SGB XII entspricht, in das AsylbLG übernommen. Diese gesetzgeberische Maßnahme berührt demnach gerade nicht den Einkommensbegriff iS des § 76 Abs 1 BSHG.

31

Die Hinübernahme der vollständigen Begriffsbestimmung des § 76 Abs 1 BSHG in das AsylbLG trägt auch dem Umstand Rechnung, dass der Grundrente eine Sonderstellung zukommt. Diese spiegelt sich in einer Reihe von Bestimmungen wieder, die im Ergebnis dazu führen, dass die dem Beschädigten zustehende Leistung einer Anrechnung auf andere Sozialleistungen bzw dem Zugriff durch Dritte weitestgehend entzogen ist (vgl BVerfG Urteil vom 14.3.2000 - 1 BvR 284/96, 1 BvR 1659/96 - BVerfGE 102, 41, 60 f = SozR 3-3100 § 84a Nr 3 S 22 f; BVerfG [3. Kammer] Beschluss vom 16.3.2011 - 1 BvR 591/08, 1 BvR 593/08 - SGb 2011, 702, 707). Eine derartige "Unantastbarkeit" ist nicht auf die Bereiche der einkommensabhängigen Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe beschränkt (vgl insoweit § 11 Abs 1 Nr 2 SGB II, § 82 Abs 1 S 1 SGB XII bzw § 76 Abs 1 S 1 BSHG). Bereits nach § 138 Abs 3 Nr 5 Arbeitsförderungsgesetz(gültig bis 31.12.1997) bzw § 194 Abs 3 Nr 6 SGB III(gültig bis 31.12.2004) galt Entsprechendes für die Arbeitslosenhilfe. Ähnliche Regelungen finden sich zB in § 267 Abs 2 Nr 2 Buchst a Lastenausgleichsgesetz und § 21 Abs 4 Nr 1 Bundesausbildungsförderungsgesetz. Daneben werden Geldleistungen, die dafür bestimmt sind, den durch einen Körper- oder Gesundheitsschaden bedingten Mehraufwand auszugleichen (also auch die Grundrente), von der Pfändbarkeit ausdrücklich ausgenommen (vgl § 54 Abs 3 Nr 3 SGB I), woraus sich auch ein Aufrechnungsverbot gegen diese Leistungen ergibt (vgl § 51 Abs 1 iVm § 54 Abs 3 Nr 3 SGB I; vgl dazu BSG Urteil vom 22.6.1979 - 3 RK 84/77 - BSGE 48, 217, 218 = SozR 1200 § 54 Nr 3 S 3 f). Ferner wird im bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsrecht vermutet, dass die Kosten der Aufwendungen infolge von Körper- oder Gesundheitsschäden jedenfalls in derjenigen Höhe bestehen, in der wegen dieser Schäden Grundrente geleistet wird (vgl dazu § 1610a BGB).

32

Auch im BVG selbst wird der Ausnahmecharakter der Grundrente als unantastbare, nicht zum Bestreiten des allgemeinen Lebensunterhalts gedachte Leistung deutlich. So bestimmt der heutige § 35 Abs 6 S 2 BVG(idF durch Art 1 Nr 38 Buchst e Doppelbuchst aa des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13.12.2007, BGBl I 2904), dass dem Beschädigten bei der Anrechnung der mit einer Heimunterbringung verbundenen Kosten auf die Versorgungsbezüge die Grundrente zum Bestreiten seiner sonstigen Bedürfnisse zu belassen ist (vgl so bereits zu § 35 Abs 2 S 2 BVG in der vom 1.1.1982 bis zum 31.3.1990 geltenden Fassung: Kieswald in Entwicklung des Sozialrechts, Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlass des 100jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, 1984, S 469, 470).

33

Der Senat hält eine Heranziehung des § 76 Abs 1 BSHG im Rahmen des § 7 Abs 1 S 1 AsylbLG auch deshalb für geboten, weil für den streitigen Zeitraum eine Schlechterstellung der Beigeladenen gegenüber solchen Berechtigten, die gemäß § 2 Abs 1 AsylbLG(idF des Ersten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG vom 26.5.1997, BGBl I 1130) - nach einem 36monatigen Grundleistungsbezug (§ 3 AsylbLG) - Leistungen in entsprechender Anwendung des BSHG erhielten (zu diesem Personenkreis gehörte die Beigeladene selbst ab 1.6.2004), sachlich nicht gerechtfertigt erscheint.

34

Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber in § 1 Abs 4 bis 7 OEG eigenständige Voraussetzungen für die Leistungsberechtigung von Ausländern vorgesehen hat. Für Ausländer, die nicht zu dem privilegierten Personenkreis des Abs 4 gehören, gilt § 1 Abs 5 OEG(hier wiedergegeben in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung des Gesetzes vom 21.7.1993, BGBl I 1262):

        

Sonstige Ausländer, die sich rechtmäßig nicht nur für einen vorübergehenden Aufenthalt von längstens sechs Monaten im Bundesgebiet aufhalten, erhalten Versorgung nach folgenden Maßgaben:

        

1.    

Leistungen wie Deutsche erhalten Ausländer, die sich seit mindestens drei Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet aufhalten;

        

2.    

ausschließlich einkommensunabhängige Leistungen erhalten Ausländer, die sich ununterbrochen rechtmäßig noch nicht drei Jahre im Bundesgebiet aufhalten.

        

Rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne dieses Gesetzes ist auch ein aus humanitären Gründen oder aus erheblichem öffentlichen Interesse geduldeter Aufenthalt. …

35

Diese differenzierte Regelung macht deutlich, dass Ausländer nach einer Aufenthaltsdauer von drei Jahren (ähnlich wie nach § 2 Abs 1 AsylbLG)als so integriert angesehen werden, dass ihnen Leistungen wie Deutschen zu gewähren sind. Für die Zeit davor stehen ihnen (bei einem voraussichtlichen Aufenthalt von mehr als sechs Monaten) jedenfalls einkommensunabhängige Leistungen (also auch Beschädigten-Grundrente) zu. Diesem Konzept würde es widersprechen, wenn diesem Personenkreis die Grundrente im Rahmen des § 7 Abs 1 S 1 AsylbLG durch Berücksichtigung als Einkommen praktisch so lange vorenthalten würde, bis sie in den Kreis der Analogleistungsberechtigten iS des § 2 Abs 1 AsylbLG aufrücken. Dies gilt umso mehr, als die Grundrente nicht den soziokulturellen Bereich, sondern die Rehabilitation betrifft.

36

Zwar ist das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-Behindertenrechtskonvention ) in Deutschland erst am 26.3.2009 als Bundesrecht in Kraft getreten (vgl Gesetz vom 21.12.2008, BGBl II 1419; Bekanntmachung vom 5.6.2009, BGBl II 812), es kann jedoch auch im vorliegenden Fall zur Bestimmung des Einkommensbegriffs des § 7 Abs 1 S 1 AsylbLG als Auslegungshilfe orientierend herangezogen werden(vgl dazu allgemein BVerfG Beschluss vom 23.3.2011 - 2 BvR 882/09 - BVerfGE 128, 282, 306). Insofern ist zu berücksichtigen, dass Art 16 Abs 4 UN-BRK vorsieht, dass die Vertragsstaaten alle geeigneten Maßnahmen treffen, um die körperliche, kognitive und psychische Genesung, die Rehabilitation und die soziale Wiedereingliederung von Menschen mit Behinderung zu fördern, die Opfer irgendeiner Form von Gewalt werden. Da die Gewährung von Leistungen nach dem OEG als Erfüllung einer solchen Verpflichtung anzusehen ist (vgl dazu Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Erster Staatenbericht, S 37; Denkschrift zur UN-BRK, BT-Drucks 16/10808 S 53), liegt es nahe, Gewaltopfern, die (noch) Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten, die Beschädigtengrundrente uneingeschränkt zu belassen(vgl dazu allgemein auch BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 SB 2/09 R - BSGE 106, 101 = SozR 4-3250 § 2 Nr 2, RdNr 43).

37

Ähnlich wie beim Schmerzensgeld liegt es schließlich auf der Hand, dass ein Verzicht auf die Berücksichtigung von Beschädigten-Grundrente nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG bei der Gewährung und Bemessung von Leistungen nach AsylbLG nicht das Ziel des Gesetzgebers in Frage stellt, den Anreiz zur Einreise von Ausländern aus wirtschaftlichen Gründen zu verringern. Weder kann mit dem Bezug einer solchen Leistung vor dem Eintritt einer Gewalttat gerechnet werden noch wird sie im Hinblick auf diese Voraussetzung vernünftigerweise angestrebt (vgl dazu BVerfG Beschluss vom 11.7.2006 - 1 BvR 293/05 - BVerfGE 116, 229, 241).

38

Da der Senat das klageabweisende Urteil des SG bestätigt hat, ist der Kläger auch für das Berufungs- und Revisionsverfahren kostenpflichtig. Dabei ist allerdings zwischen dem Berufungs- und dem Revisionsverfahren zu differenzieren; denn die Frage, ob § 183 SGG(Gerichtskostenfreiheit mit Anwendung der §§ 184 bis 195 SGG) oder § 197a SGG(Gerichtskostenpflicht mit Anwendung des Gerichtskostengesetzes und der Verwaltungsgerichtsordnung ) eingreift, ist für jeden Rechtszug gesondert zu beantworten (vgl BSG Beschluss vom 13.4.2006 - B 12 KR 21/05 B - SozR 4-1500 § 193 Nr 2 RdNr 9; BSG Beschluss vom 29.5.2006 - B 2 U 391/05 B - SozR 4-1500 § 193 Nr 3 RdNr 15).

39

Im zweitinstanzlichen Verfahren ist nur über die Berufung des nichtkostenprivilegierten Klägers (vgl § 183 SGG) zu entscheiden gewesen. Der Beklagte wird ebenfalls nicht von § 183 S 1 SGG erfasst. Die Beigeladene, deren Rechte als Leistungsempfängerin nach dem AsylbLG betroffen sind, hat sich vor dem LSG lediglich schriftsätzlich dahin geäußert, dass das Urteil des SG zutreffend sei. Dementsprechend richtet sich die Kostenentscheidung für den zweiten Rechtszug nach § 197a SGG iVm § 154 Abs 1, § 162 Abs 3 VwGO.

40

Anders verhält es sich mit dem Verfahren vor dem BSG. Denn hier hat die Beigeladene gegen das Berufungsurteil Revision eingelegt. Sie hat mithin in ihrer Eigenschaft als Leistungsberechtigte die Stellung einer Rechtsmittelführerin eingenommen. Damit gehört sie zu dem in § 183 SGG aufgeführten Personenkreis(vgl dazu BSG aaO) mit der Folge, dass für die Kostenentscheidung insoweit auch § 193 SGG maßgebend ist.

41

Die Festsetzung des Streitwerts für das Berufungsverfahren hat ihre Grundlage in § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 47 Abs 1, § 52 Abs 1 und Abs 3 GKG.

(1) Einkommen und Vermögen, über das verfügt werden kann, sind von dem Leistungsberechtigten und seinen Familienangehörigen, die im selben Haushalt leben, vor Eintritt von Leistungen nach diesem Gesetz aufzubrauchen. § 20 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch findet entsprechende Anwendung. Bei der Unterbringung in einer Einrichtung, in der Sachleistungen gewährt werden, haben Leistungsberechtigte, soweit Einkommen und Vermögen im Sinne des Satzes 1 vorhanden sind, für erhaltene Leistungen dem Kostenträger für sich und ihre Familienangehörigen die Kosten in entsprechender Höhe der in § 3a Absatz 2 genannten Leistungen sowie die Kosten der Unterkunft, Heizung und Haushaltsenergie zu erstatten; für die Kosten der Unterkunft, Heizung und Haushaltsenergie können die Länder Pauschalbeträge festsetzen oder die zuständige Behörde dazu ermächtigen.

(2) Nicht als Einkommen nach Absatz 1 zu berücksichtigen sind:

1.
Leistungen nach diesem Gesetz,
2.
eine Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz und nach den Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes vorsehen,
3.
eine Rente oder Beihilfe nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schaden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz,
4.
eine Entschädigung, die wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, nach § 253 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs geleistet wird,
5.
eine Aufwandsentschädigung nach § 5 Absatz 2,
6.
eine Mehraufwandsentschädigung, die Leistungsberechtigten im Rahmen einer Flüchtlingsintegrationsmaßnahme im Sinne von § 5a ausgezahlt wird und
7.
ein Fahrtkostenzuschuss, der den Leistungsberechtigten von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Sicherstellung ihrer Teilnahme an einem Integrationskurs nach § 43 des Aufenthaltsgesetzes oder an der berufsbezogenen Deutschsprachförderung nach § 45a des Aufenthaltsgesetzes gewährt wird.

(3) Einkommen aus Erwerbstätigkeit bleiben bei Anwendung des Absatzes 1 in Höhe von 25 vom Hundert außer Betracht, höchstens jedoch in Höhe von 50 vom Hundert der maßgeblichen Bedarfsstufe des Geldbetrags zur Deckung aller notwendigen persönlichen Bedarfe nach § 3a Absatz 1 und des notwendigen Bedarfs nach § 3a Absatz 2, jeweils in Verbindung mit § 3a Absatz 4. Erhält eine leistungsberechtigte Person mindestens aus einer Tätigkeit Bezüge oder Einnahmen, die nach § 3 Nummer 12, 26, 26a oder 26b des Einkommensteuergesetzes steuerfrei sind, ist abweichend von Satz 1 ein Betrag von bis zu 250 Euro monatlich nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Von den Einkommen nach Absatz 1 Satz 1 sind ferner abzusetzen

1.
auf das Einkommen entrichtete Steuern,
2.
Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung einschließlich der Beiträge zur Arbeitsförderung,
3.
Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen, soweit diese Beiträge gesetzlich vorgeschrieben sind, und
4.
die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben.
Übersteigt das Einkommen in den Fällen von Satz 2 den Betrag von 250 Euro monatlich, findet Satz 3 Nummer 3 und 4 mit der Maßgabe Anwendung, dass eine Absetzung der dort genannten Aufwendungen nur erfolgt, soweit die oder der Leistungsberechtigte nachweist, dass die Summe dieser Aufwendungen den Betrag von 250 Euro monatlich übersteigt. Die Möglichkeit zur Absetzung der Beträge nach Satz 3 von Einkommen aus Erwerbstätigkeit bleibt unberührt.

(4) Hat ein Leistungsberechtigter einen Anspruch gegen einen anderen, so kann die zuständige Behörde den Anspruch in entsprechender Anwendung des § 93 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch auf sich überleiten.

(5) Von dem Vermögen nach Absatz 1 Satz 1 ist für den Leistungsberechtigten und seine Familienangehörigen, die im selben Haushalt leben, jeweils ein Freibetrag in Höhe von 200 Euro abzusetzen. Bei der Anwendung von Absatz 1 bleiben ferner Vermögensgegenstände außer Betracht, die zur Aufnahme oder Fortsetzung der Berufsausbildung oder der Erwerbstätigkeit unentbehrlich sind.