Verkehrsstrafrecht: Bundesverfassungsgericht stärkt Richtervorbehalt bei Entnahme von Blutproben
published on 02/07/2010 10:00
Verkehrsstrafrecht: Bundesverfassungsgericht stärkt Richtervorbehalt bei Entnahme von Blutproben
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Der Beschwerdeführerin wurde im Rahmen eines strafrechtlichen
Ermittlungsverfahrens ohne richterliche Anordnung Blut entnommen. Ein
Zeuge hatte die Polizei auf eine mögliche Trunkenheitsfahrt der
Beschwerdeführerin aufmerksam gemacht. Eine halbe Stunde nach Hinweis
des Zeugen war die Polizei bei der Wohnung der Beschwerdeführerin, die
sich dort inzwischen aufhielt, eingetroffen und hatte sich nach
erfolglosem Klingeln über einen Zweitschlüssel des Vermieters Zutritt
zur Wohnung verschafft. Ein noch in der Wohnung durchgeführter
Atemalkoholtest ergab einen Wert von 1,01 mg/l. Etwa 35 Minuten später
wurde ihr auf dem Polizeirevier auf Anordnung eines Polizeibeamten von
einem Arzt Blut entnommen.
Das Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin wegen fahrlässiger
Trunkenheit im Verkehr wurde in der Berufungsinstanz eingestellt. Im
Zuge des Einspruchs gegen den zunächst erlassenen Strafbefehl hatte die
Beschwerdeführerin - erfolglos - die Feststellung der Rechtswidrigkeit
der Durchsuchung und der Blutentnahme sowie die Vernichtung der
Blutproben beantragt: Die Polizei habe den Richtervorbehalt eklatant
missachtet; ein Richter hätte ohne weiteres eingeschaltet werden können.
Die Gerichte haben die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Blutentnahme mit
allgemeinen Erwägungen begründet: Im Sinne einer effektiven
Strafverfolgung sei eine zeitnahe Blutentnahme generell zur Sicherung
der Beweise geboten. Eine richterliche Entscheidung könne aber selbst
zur Tageszeit an einem Wochentag nur mit erheblicher Zeitverzögerung
ergehen; in der Regel dürfe die Entscheidung des Richters nur aufgrund
schriftlicher Unterlagen ergehen, müsse schriftlich abgefasst und
außerdem mit Gründen versehen sein. Würde der Richter eingebunden, käme
die Blutentnahme deshalb regelmäßig zu spät.
Soweit die Beschwerdeführerin die Rechtswidrigkeit der Anordnung der
Blutentnahme geltend macht, hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung
angenommen, die Beschlüsse der Strafgerichte aufgehoben und die Sache
zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Dagegen
ist nicht zu beanstanden, dass die Gerichte die ohne richterliche
Anordnung erfolgte Durchsuchung für rechtens hielten und den Antrag der
Beschwerdeführerin auf Vernichtung der Blutproben zurückgewiesen haben.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Die Entscheidungen zur Rechtmäßigkeit der Blutentnahme verletzen die
Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz. Der
Betroffene hat Anspruch darauf, dass die Gerichte die Rechtmäßigkeit der
Blutentnahme umfassend und eigenständig prüfen und dabei insbesondere
klären, ob die Ermittlungsbehörden auf die Einschaltung des Richters
verzichten durften.
Der Gesetzgeber hat die Anordnung der Blutentnahme grundsätzlich dem
Richter anvertraut. Damit soll eine effektive Kontrolle der
Ermittlungsmaßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz
gewährleistet werden. Wegen dieser Zielrichtung des Richtervorbehalts
müssen die Ermittlungsbehörden in der Regel zunächst versuchen, die
Anordnung eines Richters zu erlangen. Nur bei Gefährdung des
Untersuchungserfolgs durch die mit der Einholung einer richterlichen
Entscheidung verbundene Verzögerung dürfen die Staatsanwaltschaft und -
nachrangig - die Ermittlungsbehörden die Blutentnahme selbst anordnen.
Eine solche "Gefahr im Verzug" müssen die Ermittlungsbehörden dann mit
auf den Einzelfall bezogenen Tatsachen begründen und in den
Ermittlungsakten dokumentieren, es sei denn, der drohende Verlust des
Beweismittels ist offensichtlich.
Diese Grundsätze haben die Gerichte nicht beachtet. Die Auffassung des
Landgerichts, dass richterliche Eilentscheidungen generell nur nach
Vorlage schriftlicher Unterlagen getroffen werden könnten und dass diese
wegen des zur Prüfung des Sachverhalts sowie zur Erstellung des
Beschlusses notwendigen Zeitraums zwangsläufig mit der Gefährdung des
Untersuchungszwecks einhergingen, würde dazu führen, dass Entscheidungen
des Ermittlungsrichters zur Blutentnahme bei Verdacht auf Trunkenheit im
Verkehr in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht mehr erholt werden
würden. Der Richtervorbehalt bei der Blutentnahme wäre damit im
Regelfall bedeutungslos. Die Gerichte haben auch nicht konkret geprüft,
ob der Zeitraum zwischen Atemalkoholtest und Anordnung der Blutentnahme
dafür ausgereicht hätte, dass ein Richter auch ohne schriftliche
Antragsunterlagen den einfach gelagerten Sachverhalt eigenständig
bewertet und seine Entscheidung anschließend übermittelt, zumal diese im
Ausnahmefall auch mündlich getroffen werden kann. Ob selbst bei
Kontaktaufnahme mit dem Ermittlungsrichter eine zeitnahe Entscheidung
(zum Beispiel wegen anderer, vom Richter vorrangig zu bearbeitender
Anträge) unmöglich gewesen wäre und deshalb "Gefahr im Verzug" vorlag,
lässt sich nicht beurteilen, weil die Polizeibeamten erst gar nicht
versucht hatten, einen richterlichen Beschluss einzuholen.
Soweit die Beschwerdeführerin die Rechtswidrigkeit der Durchsuchung und
die Aufbewahrung der Blutproben gerügt hat, bleibt die
Verfassungsbeschwerde ohne Erfolg. Die Einschaltung eines Richters vor
der Durchsuchung hätte den Ermittlungserfolg offenkundig gefährdet: Ohne
sofortige Durchsuchung drohte ersichtlich ein "Nachtrunk" (mit dem sich
die Beschwerdeführerin im anschließenden Strafverfahren dann auch
verteidigt hatte). Auch ihren Antrag auf Vernichtung der Blutproben
haben die Gerichte zu Recht zurückgewiesen: Die Verletzung des
Richtervorbehalts bei Anordnung der Blutentnahme führt nicht zwingend
dazu, dass die Blutprobe als Beweismittel nicht verwertet werden darf.
Ob ein solches Verwertungsverbot vorliegt, ist von den Gerichten im
Strafverfahren zu prüfen.
Beschluss des BVerfG vom 11. Juni 2010 -- 2 BvR 1046/08 --
Pressemitteilung Nr. 45/2010 vom 1. Juli 2010
Übersicht: 3.1 Verkehrsstrafrecht allgemein / Verfahren
Ermittlungsverfahrens ohne richterliche Anordnung Blut entnommen. Ein
Zeuge hatte die Polizei auf eine mögliche Trunkenheitsfahrt der
Beschwerdeführerin aufmerksam gemacht. Eine halbe Stunde nach Hinweis
des Zeugen war die Polizei bei der Wohnung der Beschwerdeführerin, die
sich dort inzwischen aufhielt, eingetroffen und hatte sich nach
erfolglosem Klingeln über einen Zweitschlüssel des Vermieters Zutritt
zur Wohnung verschafft. Ein noch in der Wohnung durchgeführter
Atemalkoholtest ergab einen Wert von 1,01 mg/l. Etwa 35 Minuten später
wurde ihr auf dem Polizeirevier auf Anordnung eines Polizeibeamten von
einem Arzt Blut entnommen.
Das Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin wegen fahrlässiger
Trunkenheit im Verkehr wurde in der Berufungsinstanz eingestellt. Im
Zuge des Einspruchs gegen den zunächst erlassenen Strafbefehl hatte die
Beschwerdeführerin - erfolglos - die Feststellung der Rechtswidrigkeit
der Durchsuchung und der Blutentnahme sowie die Vernichtung der
Blutproben beantragt: Die Polizei habe den Richtervorbehalt eklatant
missachtet; ein Richter hätte ohne weiteres eingeschaltet werden können.
Die Gerichte haben die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Blutentnahme mit
allgemeinen Erwägungen begründet: Im Sinne einer effektiven
Strafverfolgung sei eine zeitnahe Blutentnahme generell zur Sicherung
der Beweise geboten. Eine richterliche Entscheidung könne aber selbst
zur Tageszeit an einem Wochentag nur mit erheblicher Zeitverzögerung
ergehen; in der Regel dürfe die Entscheidung des Richters nur aufgrund
schriftlicher Unterlagen ergehen, müsse schriftlich abgefasst und
außerdem mit Gründen versehen sein. Würde der Richter eingebunden, käme
die Blutentnahme deshalb regelmäßig zu spät.
Soweit die Beschwerdeführerin die Rechtswidrigkeit der Anordnung der
Blutentnahme geltend macht, hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung
angenommen, die Beschlüsse der Strafgerichte aufgehoben und die Sache
zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Dagegen
ist nicht zu beanstanden, dass die Gerichte die ohne richterliche
Anordnung erfolgte Durchsuchung für rechtens hielten und den Antrag der
Beschwerdeführerin auf Vernichtung der Blutproben zurückgewiesen haben.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Die Entscheidungen zur Rechtmäßigkeit der Blutentnahme verletzen die
Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz. Der
Betroffene hat Anspruch darauf, dass die Gerichte die Rechtmäßigkeit der
Blutentnahme umfassend und eigenständig prüfen und dabei insbesondere
klären, ob die Ermittlungsbehörden auf die Einschaltung des Richters
verzichten durften.
Der Gesetzgeber hat die Anordnung der Blutentnahme grundsätzlich dem
Richter anvertraut. Damit soll eine effektive Kontrolle der
Ermittlungsmaßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz
gewährleistet werden. Wegen dieser Zielrichtung des Richtervorbehalts
müssen die Ermittlungsbehörden in der Regel zunächst versuchen, die
Anordnung eines Richters zu erlangen. Nur bei Gefährdung des
Untersuchungserfolgs durch die mit der Einholung einer richterlichen
Entscheidung verbundene Verzögerung dürfen die Staatsanwaltschaft und -
nachrangig - die Ermittlungsbehörden die Blutentnahme selbst anordnen.
Eine solche "Gefahr im Verzug" müssen die Ermittlungsbehörden dann mit
auf den Einzelfall bezogenen Tatsachen begründen und in den
Ermittlungsakten dokumentieren, es sei denn, der drohende Verlust des
Beweismittels ist offensichtlich.
Diese Grundsätze haben die Gerichte nicht beachtet. Die Auffassung des
Landgerichts, dass richterliche Eilentscheidungen generell nur nach
Vorlage schriftlicher Unterlagen getroffen werden könnten und dass diese
wegen des zur Prüfung des Sachverhalts sowie zur Erstellung des
Beschlusses notwendigen Zeitraums zwangsläufig mit der Gefährdung des
Untersuchungszwecks einhergingen, würde dazu führen, dass Entscheidungen
des Ermittlungsrichters zur Blutentnahme bei Verdacht auf Trunkenheit im
Verkehr in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht mehr erholt werden
würden. Der Richtervorbehalt bei der Blutentnahme wäre damit im
Regelfall bedeutungslos. Die Gerichte haben auch nicht konkret geprüft,
ob der Zeitraum zwischen Atemalkoholtest und Anordnung der Blutentnahme
dafür ausgereicht hätte, dass ein Richter auch ohne schriftliche
Antragsunterlagen den einfach gelagerten Sachverhalt eigenständig
bewertet und seine Entscheidung anschließend übermittelt, zumal diese im
Ausnahmefall auch mündlich getroffen werden kann. Ob selbst bei
Kontaktaufnahme mit dem Ermittlungsrichter eine zeitnahe Entscheidung
(zum Beispiel wegen anderer, vom Richter vorrangig zu bearbeitender
Anträge) unmöglich gewesen wäre und deshalb "Gefahr im Verzug" vorlag,
lässt sich nicht beurteilen, weil die Polizeibeamten erst gar nicht
versucht hatten, einen richterlichen Beschluss einzuholen.
Soweit die Beschwerdeführerin die Rechtswidrigkeit der Durchsuchung und
die Aufbewahrung der Blutproben gerügt hat, bleibt die
Verfassungsbeschwerde ohne Erfolg. Die Einschaltung eines Richters vor
der Durchsuchung hätte den Ermittlungserfolg offenkundig gefährdet: Ohne
sofortige Durchsuchung drohte ersichtlich ein "Nachtrunk" (mit dem sich
die Beschwerdeführerin im anschließenden Strafverfahren dann auch
verteidigt hatte). Auch ihren Antrag auf Vernichtung der Blutproben
haben die Gerichte zu Recht zurückgewiesen: Die Verletzung des
Richtervorbehalts bei Anordnung der Blutentnahme führt nicht zwingend
dazu, dass die Blutprobe als Beweismittel nicht verwertet werden darf.
Ob ein solches Verwertungsverbot vorliegt, ist von den Gerichten im
Strafverfahren zu prüfen.
Beschluss des BVerfG vom 11. Juni 2010 -- 2 BvR 1046/08 --
Pressemitteilung Nr. 45/2010 vom 1. Juli 2010
Übersicht: 3.1 Verkehrsstrafrecht allgemein / Verfahren
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