Oberverwaltungsgericht des Saarlandes Urteil, 01. Juni 2011 - 3 A 429/08

bei uns veröffentlicht am01.06.2011

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der am … 1989 in Erbil geborene Kläger, irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und sunnitischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 19.9.2006 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 4.10.2006 seine Anerkennung als Asylberechtigter.

Bei seiner Anhörung vor der Beklagten am 24.10.2006 gab er an, sein Vater sei bis 2003 Mitglied in der Baath-Partei gewesen. Er habe dort als Nachfolger seines 1987 getöteten Onkels eine ihm nicht im Einzelnen bekannte Funktion im Komitee der Partei von Erbil inne gehabt. Von der Partei sei er auch bezahlt worden. Als im Jahr 2003 ihr Haus geplündert worden sei, seien sie umgezogen. Nach dem Krieg 2003 sei sein Vater nicht mehr tätig gewesen. Er habe auch Angst gehabt, zu arbeiten. Sein Vater und sein Bruder hätten sich häufig zwei bis drei Wochen außerhalb aufgehalten. Bei einem Überfall auf das Haus seiner Familie in Mossul im Stadtteil Wahda seien am 14.1.2006 sein Vater und ein Bruder getötet worden. Seine Mutter habe schwere Verletzungen erlitten. Er sei zwar in der Küche des Hauses gewesen, habe aber selbst die Täter nicht gesehen. Später habe es gehießen, es seien irakische Polizisten gewesen. Polizeiliche Ermittlungen hätten nicht stattgefunden. Er nehme an, dass der Grund für den Überfall in der Mitgliedschaft des Vaters in der Baath-Partei liege. Weil man irakische Regierungsstellen als Urheber der Tat verdächtigt habe, habe es keinen Sinn gemacht, den Vorfall bei den zuständigen Sicherheitsorganen anzuzeigen. Zunächst sei man nach dem Überfall in einen anderen Stadtteil von Mossul umgezogen. Nach der Entlassung der verletzten Mutter aus dem Krankenhaus sei der Kläger etwa zwei Monate später mit ihr, der Ehefrau des getöteten Bruders und einem weiteren Bruder aus Angst nach Syrien ausgereist, wo die Mutter, die auch unter Diabetes gelitten habe, verstorben sei. Die Schwägerin sei in den Irak zurückgekehrt, der andere Bruder in Syrien geblieben. In Syrien hätte er zwar bleiben können. Da das Leben dort ohne Arbeitsmöglichkeiten für ihn jedoch schwierig gewesen sei und er auch nicht in den Irak hätte zurückkehren können, wo er keine sozialen Kontakte gehabt habe, habe er sich zur Weiterreise entschlossen. Mit Hilfe von Schleppern sei er auf dem Luftweg in die Türkei gebracht worden und sei dann von dort aus nach Deutschland gekommen. Im Irak habe er selbst noch keine Probleme mit hoheitlichen Stellen gehabt und sich auch nicht politisch engagiert. Wehrdienst habe er nicht geleistet, da er ja noch Schüler gewesen sei. Im Falle einer Rückkehr fürchte er um sein Leben, das er durch die Regierung bedroht sehe. Im Irak lebten zwar noch ein Onkel, eine Schwester und seine Schwägerin, die Ehefrau des getöteten Bruders. Zu dem Onkel habe er jedoch keinen Kontakt mehr; eine Rückkehr zu einer weiblichen Verwandten sei unüblich.

Der Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter wurde mit Bescheid der Beklagten vom 15.1.2007 abgelehnt; zugleich wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen und der Kläger wurde unter Androhung der Abschiebung in den Irak zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland aufgefordert.

Zur Begründung war ausgeführt, aufgrund seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat könne der Kläger sich auf Artikel 16 a Abs. 1 GG nicht berufen. Weiter bestehe auch unter Berücksichtigung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 kein Abschiebungsverbot i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG. Erhebliche Zweifel an dem Vorbringen des Klägers bestünden zunächst insoweit, als er sich darauf stütze, dass die Familie wegen der früheren Mitgliedschaft des Vaters in der Baath-Partei in das Blickfeld der jetzigen irakischen Sicherheitsorgane geraten sei. Aufgrund der nur ungenauen und oberflächlichen Darlegungen des Klägers zur angeblichen Funktion seines Vaters sei allenfalls von einer untergeordneten Stellung in der Baath-Partei auszugehen, so dass Sanktionen der jetzigen irakischen Sicherheitskräfte nicht plausibel seien. Allein die Mitgliedschaft in der ehemaligen Baath-Partei reiche für eine Überstellung an ein Gericht nicht aus. Zwar treffe zu, dass Mitglieder der Baath-Partei oder Personen, die Verbindungen zum früheren Regime oder zur Baath-Partei gehabt hätten, im Einzelfall Racheakten Dritter ausgesetzt sein könnten. Aufgrund der bloßen Mitgliedschaft in der Baath-Partei müssten Personen aber nicht mit Racheakten rechnen.

Der Kläger selbst habe sich in seinem Heimatland politisch nicht engagiert und keine eigenen Probleme mit hoheitlichen Stellen gehabt. Er sei daher bei einer Rückkehr in seine Heimat konkret gegen ihn gerichteten Gefahren nicht ausgesetzt. Insoweit sei auch zu gewichten, dass nach seinen Angaben noch immer Angehörige im Irak lebten bzw. sogar wieder dort hin zurückgekehrt seien.

Im Übrigen sei der Kläger aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit auf einen Aufenthalt in den nach wie vor weitgehend autonomen kurdischen Nordprovinzen zu verweisen, woher die Familie auch ursprünglich stamme. Die Sicherheitslage in der autonomen Region Kurdistan – Irak sei in Teilen besser als im übrigen Irak.

Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor. Eine individuell konkrete Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG habe der Kläger nicht glaubhaft gemacht, er sei allenfalls durch die Auswirkungen des allgemeinen Übermaßes an Gewaltanwendung im Irak mit betroffen gewesen. Die angespannte Sicherheits- und die Versorgungslage im Irak stellten aber eine allgemeine Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dar. Sie begründeten keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG. Zwar seien Gewaltakte an der Tagesordnung. Diese gälten jedoch in aller Regel zielorientiert den multinationalen Truppen, irakischen Regierungsorganen, irakischen Streitkräften und der irakischen Polizei, der Kollaboration verdächtigen Repräsentanten irakischer Institutionen und Personen, die mit der irakischen Regierung und den US- geführten Koalitionstruppen zusammenarbeiteten oder in den Verdacht einer solchen Zusammenarbeit gerieten. Ziel solcher Angriffe sei es, den Wiederaufbau und die Bildung einer demokratischen Neuordnung zu sabotieren. Der Kläger habe aber nicht dargetan, dass gerade er aufgrund persönlicher Lebensumstände einer signifikant erhöhten Gefahr ausgesetzt wäre, durch Anschläge oder Reaktionen staatlicher Kräfte auf Anschläge in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Deshalb könne insoweit von einer -landesweiten - extremen Gefahrenlage nicht die Rede sein. Eine solche bestehe auch weder mit Blick auf die Versorgung mit Lebensmitteln noch auf die medizinische Grundversorgung, die dem Grunde nach gewährleistet seien. Für diese Bewertung spreche auch die freiwillige Rückkehr zahlreicher Iraker.

Gegen den ihm am 17.1.2007 zugestellten Bescheid hat der Kläger am 30.1.2007 Klage erhoben.

Zur Begründung vertiefte der Kläger sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren. Ergänzend führte er aus, für eine Exponiertheit der Tätigkeit seines Vaters reiche es aus, dass allgemein bekannt gewesen sei, dass er Anhänger von Saddam Hussein gewesen sei. Ein Ausweichen in den Nordirak sei ihm nicht möglich, weil die Familie bereits im Jahr 1991 gerade wegen der Anhängerschaft des Vaters zur Partei Saddam Husseins in den Zentralirak nach Mossul umgesiedelt sei. Nach seiner Kenntnis habe der Vater dort in der Stadtverwaltung gearbeitet. Welche Funktion er konkret innegehabt habe, wisse er nicht. Angesichts des weitestgehenden Zusammenbruchs der Sicherheitssysteme sei im Irak kein hinreichender Schutz zu erlangen.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 15.01.2007 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen,

hilfsweise,

festzustellen, dass Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit aufgrund mündlicher Verhandlung vom 9.10.2007 ergangenem Urteil hat das Verwaltungsgericht des Saarlandes die Klage abgewiesen (2 K 274/07). Zur Begründung wurde unter Bezugnahme auf den Bescheid der Beklagten ausgeführt, der Kläger habe nicht glaubhaft machen können, sein Heimatland vorverfolgt verlassen zu haben.

Selbst wenn man davon ausgehe, dass der von dem Kläger geschilderte Überfall auf das Haus seiner Familie in Mossul stattgefunden habe und dass der Vater des Klägers ein Parteiamt innerhalb der Baath-Partei ausgeübt habe, sei eine Vorverfolgung nicht dargetan. Dass der Überfall auf die Familie nämlich durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen der Tätigkeit des Vaters des Klägers für die Baath-Partei zielgerichtet erfolgt sei, sei dem Vorbringen des Klägers nicht zu entnehmen. Zwar gebe es insbesondere für die Zeit bis Ende 2003 Hinweise auf (private) Rachefeldzüge gegen Baathisten. Für die spätere Zeit könne dies jedoch nicht mehr festgestellt werden. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass es im Irak eine Unzahl von Morden und kriminellen Aktivitäten gegen Leib, Leben und Freiheit anderer gebe, deren nähere Motive unklar seien. Hierzu sei auch der von dem Kläger geschilderte Überfall zu zählen.

Im Übrigen seien nach der Erkenntnislage Familienangehörige nicht Opfer von Vergeltungsmaßnahmen geworden, da diesen, besonders Frauen und Kindern, niemals eine Schuld an den etwaigen Untaten der Baath-Funktionäre zugewiesen würde. Diese Erwägungen beanspruchten Geltung sogar für die höchsten Baath-Funktionäre. Auch dies spreche dafür, dass der Anschlag, dem nicht nur der Vater des Klägers, sondern auch sein Bruder und letztlich seine Mutter zum Opfer gefallen seien, krimineller und nicht politischer Natur gewesen sei. Die gegenteilige Auffassung des Klägers beruhe auf reinen Vermutungen.

Sei der Kläger, der sich selbst politisch nicht betätigt habe, demnach unverfolgt aus dem Irak ausgereist, könne auch nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass er im Falle seiner Rückkehr dorthin mit politischen Verfolgungsmaßnahmen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure rechnen müsse. Im Übrigen sei ihm als kurdischem Volkszugehörigen auch eine Rückkehr in seine ursprüngliche nordirakische Herkunftsregion in der Provinz Erbil zuzumuten, in der die Situation im Vergleich zur Situation in Süd- und Zentralirak weniger prekär sei.

Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bestünden nicht, insbesondere liege ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vor. Die danach erforderliche konkret-individuelle Gefährdung des Klägers im Falle seiner Rückkehr in den Irak sei nach dem Gesagten bereits nicht annehmbar. Mangels individueller Gefährdung könne der Kläger subsidiären Schutz auch nicht auf Grundlage des Art. 15 der Qualifikationsrichtlinie (QRL) beanspruchen. Als ernsthafter Schaden gemäß Art. 15 lit. c der Richtlinie gelte eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Nach dem 26. Erwägungsgrund der Richtlinie stellten Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt seien , für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre. Mangels individueller Gefährdung lägen die Voraussetzungen des Art.15 lit. c der Richtlinie nicht vor.

Eine extreme Gefahrenlage im Irak dergestalt, dass es dem einzelnen Ausländer mit Blick auf den verfassungsrechtlich unabdingbar gebotenen Schutz insbesondere des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht zuzumuten sei, in seinen Heimatstaat abgeschoben zu werden und deshalb unbeschadet der sonst geltenden Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG von einem zwingenden Abschiebungshindernis nach Satz 1 auszugehen sei, sei unter Auswertung der aktuellen Erkenntnislage gleichfalls zu verneinen.

Zwar sei die allgemeine Kriminalität im Irak nach dem Sturz des früheren Regimes Saddam Husseins stark angestiegen. Überfälle und Entführungen, aber auch terroristische Anschläge seien an der Tagesordnung. Zudem setzten sich offene Kampfhandlungen zwischen verschiedenen Gruppierungen fort, die zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung forderten. Indes sei zu berücksichtigen, dass sich die Terrorakte vor allem gegen Personen richteten, die mit dem politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes assoziiert würden. Die Sicherheitslage sei dabei im Nordirak im Allgemeinen besser als in Bagdad oder in den Hochburgen der Aufständischen.

Auch wenn von den anhaltenden Anschlägen im Irak eine nicht zu unterschätzende Gefährdung für die dort lebenden Menschen ausgehen möge, rechtfertige die Anzahl der durch Terrorakte sowie andauernde Kampfhandlungen zu beklagenden zivilen Opfer, die von Nichtregierungsorganisationen auf über 30.000 geschätzt würden, in Relation zu der ca. 27 Millionen betragenden Bevölkerungszahl des Irak offensichtlich nicht die Annahme, jeder Iraker werde im Falle seiner Rückkehr unmittelbar und landesweit Gefahr laufen, Opfer entsprechender terroristischer Anschläge zu werden.

Im Ergebnis nichts anderes gelte auch im Hinblick auf die allgemeine Versorgungslage im Irak. Konkrete Anhaltspunkte für eine drohende Nahrungsmittelknappheit oder gar eine Hungerkatastrophe bestünden gegenwärtig nicht, zumal ein Großteil der Bevölkerung weiterhin Lebensmittelrationen aus einem Programm der Vereinten Nationen erhalte.

Gegen das ihm am 5.11.2007 zugestellte Urteil, das durch Beschluss vom 14.11.2007 wegen offenbarer Unrichtigkeiten berichtigt worden war, hat der Kläger am 21.11.2007 - einem Montag - einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, dem der Senat durch Beschluss vom 13.11.2008 entsprochen hat (3 A 467/07).

Zur Begründung seiner Berufung führt der Kläger aus, ihm drohe allein schon wegen seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine (Gruppen-)Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure. Todesschwadronen sowohl schiitischer als auch sunnitischer Extremisten entführten Angehörige der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe und töteten sie. Landesweit ereigneten sich konfessionell motivierte Verbrechen wie Ermordungen, Folterungen, Verstümmelungen und Entführungen. Schutz durch den irakischen Staat oder nicht staatliche Herrschaftsorganisationen sei faktisch nicht zu erlangen, auch eine Verfolgung einzelner Straftaten finde praktisch nicht statt. Zwar sei die genaue Anzahl der seit 2003 getöteten Sunniten nicht feststellbar. Fest stehe aber, dass Sunniten wegen ihrer Glaubenszugehörigkeit häufig Ziel von Übergriffen und Anschlägen seien, so dass dem Kläger, da auch keine Fluchtalternative im Irak bestehe, eine Rückkehr dorthin nicht zumutbar sei.

Ferner wendet der Kläger sich gegen die erstinstanzliche Auslegung des Art. 15 lit. c QRL.

Im Übrigen sei er - der Kläger - wegen der Tätigkeit seines Vaters für die Baath-Partei, deretwegen die Familie bereits Opfer eines politisch motivierten Anschlags geworden sei, auch aus individuellen Gründen verfolgt.

Eine weitere Gefährdung ergebe sich daraus, dass er mit einer irakischen Staatsangehörigen gegen den Willen der im Saarland lebenden Eltern nunmehr in B-Stadt zusammenlebe und diese nach der Geburt des gemeinsamen Kindes im Februar 2011 nach religiösem Ritus geheiratet habe. Seine Frau habe noch Verwandtschaft im Nordirak. Er befürchte, im Rückkehrfall von deren Familienangehörigen zur Wiederherstellung der Familienehre getötet zu werden.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des aufgrund mündlicher Verhandlung vom 9.10.2007 ergangenen Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes - 2 K 274/07 - in der Fassung der Berichtigung vom 14.11.2007 sowie unter Aufhebung des Bescheids vom 15.1.2007 die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen,

hilfsweise

festzustellen, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG vorliegen,

weiter hilfsweise,

festzustellen, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf den Irak vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie macht geltend, angesichts des hohen Bevölkerungsanteils sunnitischer Religionszugehöriger im Irak von etwa 17 % bis 22 % könne nicht von einer für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte ausgegangen werden.

Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat informatorisch gehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift vom 1.6.2011 verwiesen.

Wegen des Sachverhalts im Übrigen wird verwiesen auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Behördenakten (Akten des Bundesamtes und der Ausländerbehörde) sowie der Bundesamtsakte des Bruders des Klägers B. A. - 5 333 40 - 438 -, deren Inhalt ebenso wie die in der Anlage zur Sitzungsniederschrift bezeichneten Teile der Dokumentation Irak zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Der Bescheid der Beklagten vom 15.1.2007 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Dem Kläger steht nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) kein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor.

I.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 3 AsylVfG.

Die von dem Kläger begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 3 AsylVfG ist zu verneinen, weil er nicht glaubhaft darlegen konnte, dass er aus begründeter Furcht vor (bereits erlittener oder unmittelbar bevorstehender) politischer Verfolgung aus seinem Heimatland ausgereist ist bzw. dass ihm gegenwärtig eine solche aus den in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Gründen droht.

Er ist unverfolgt aus dem Irak ausgereist und muss im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten, bei einer Rückkehr dorthin relevanten Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt zu sein.

Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung des Abkommens vom 28.6.1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist, wobei eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung an das Geschlecht anknüpft. Eine Verfolgung in diesem Sinne kann nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG von dem Staat (lit. a), Parteien und Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen (lit. b) oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die unter lit. a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (lit. c).

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 3 AsylVfG unterliegt im Wesentlichen den gleichen Anforderungen, nach denen auch eine Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a Abs. 1 GG erfolgt

hierzu etwa BVerwG, Urteil vom 29.5.2008 - 10 C 11.07 -, BVerwGE 131, 186 ff.; zur Vorgängerregelung des § 51 Abs. 1 AuslG: BVerwG, Urteil vom 18.2.1992 - 9 C 59.91 -, DÖV 1992, 582 f., zur Deckungsgleichheit von Art. 16 a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG mit dem Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention: BVerwG, Urteil vom 26.10.1993 - 9 C 50.92 u.a. -, NVwZ 1994, 500 ff.

Auch die Annahme einer relevanten Verfolgungssituation i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG setzt voraus, dass eine spezifische Zielrichtung vorliegt, d.h. die Verfolgung muss nach ihrer erkennbaren Gerichtetheit an die vorstehend genannten Merkmale anknüpfen. An einer solchen gezielten Rechtsverletzung fehlt es indes regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen

hierzu BVerfG, Beschluss vom 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 ff.; BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 ff.; siehe in diesem Zusammenhang auch Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie.

§ 60 Abs. 1 AufenthG trifft indes von Art. 16 a Abs. 1 GG abweichende Regelungen, soweit es Verfolgungen in Anknüpfung an das Geschlecht und eine nichtstaatliche Verfolgung betrifft. Insofern geht der Begriff der Verfolgung in § 60 Abs. 1 AufenthG über den Verfolgungsbegriff in Art. 16 a GG hinaus.

Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegt, sind zudem gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG die Bestimmungen der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie - QRL -) ergänzend anzuwenden, so insbesondere die Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10.

Die zum Asylgrundrecht nach Art. 16 a GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe, je nach dem, ob der Ausländer seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt ausgereist ist

vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 2.7.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341, und vom 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315

haben in die Qualifikationsrichtlinie keinen Eingang gefunden. Der sog. herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit ist insoweit durch die Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ersetzt worden, die sowohl für den Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG als auch für die weiteren unionsrechtlichen und nationalen Abschiebungsverbote des § 60 AufenthG gilt. Als Prognosemaßstab ist daher allein der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen

vgl. BVerwG, Urteile vom 27.4.2010 - BVerwG 10 C 5.09 - und vom 7.9.2010 - 10 C 11.09 -, OVG Münster, Urteil vom 17.8.2010 - 8 A 4063/06.A -, jeweils zitiert nach juris.

Nach Art. 4 Abs. 4 QRL i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 5, Abs. 11 AufenthG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

Die Vorschrift des Art. 4 Abs. 4 QRL begründet mithin für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden bedroht sind. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit einer Verfolgung bzw. des Eintritts eines sonstigen ernsthaften Schadens entkräften. Dies ist im Rahmen freier Beweiswürdigung zu beurteilen

vgl. BVerwG, Urteile vom 27.4.2010 - 10 C 5.09 - und vom 7.9.2010 - 10 C 11.09 - m.w.N., zitiert nach juris.

Die bereits erlittener Verfolgung gleichzustellende unmittelbar drohende Verfolgung setzt eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne Weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen musste

vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24.08 - m.w.N., zitiert nach juris.

Aus den in Art. 4 QRL geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Schutzsuchenden folgt, dass es auch unter Berücksichtigung der Vorgaben dieser Richtlinie Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er ist gehalten, unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung im genannten Sinne droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und von der Richtigkeit der Prognose drohender politischer Verfolgung gewinnen. Aufgrund der Beweisschwierigkeiten, in denen sich der Schutzsuchende hinsichtlich der asylbegründenden Vorgänge im Heimatland regelmäßig befindet, muss sich das Gericht jedoch mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig ausgeschlossen werden können

vgl. BVerwG vom 16.4.1985 - 9 C 109.84 -, zitiert nach juris.

Von diesen Maßstäben ausgehend kann der - wie noch auszuführen sein wird - unverfolgt ausgereiste Kläger auch bei (ergänzender) Anwendung der europarechtlichen Bestimmungen der sog. Qualifikationsrichtlinie die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich einer Abschiebung in den Irak nicht beanspruchen. Das gilt sowohl im Hinblick auf die von ihm vorgebrachten individuellen Gründe als auch im Hinblick auf die Geltendmachung der im Irak herrschenden allgemeinen Lage.

Der Kläger ist als siebzehnjähriger Schüler ausgereist und hat sich nach eigenem Bekunden niemals selbst politisch betätigt und vor seiner Ausreise auch keinerlei Probleme mit irakischen hoheitlichen Stellen gehabt. Als verfolgungsbegründend führte er durchgängig allein den Überfall am 14.1.2006 auf das Haus seiner Familie in Mossul (Tötung seines Vaters und eines seiner Brüder, Verletzung mit späterer Todesfolge seiner Mutter) durch ihm unbekannte Täter - seinen Vermutungen nach irakische Polizisten - an, den er auf die Mitgliedschaft seines Vaters in der Baath-Partei des ehemaligen Präsidenten Saddam Hussein zurückführt.

Dem auch noch bei seiner informatorischen Anhörung vor dem Senat hinsichtlich der konkreten Verfolgungsintention des Vorfalls vage gebliebenen, vornehmlich auf Mutmaßungen beruhenden Vorbringen des Klägers kann indes eine den Anforderungen des § 60 Abs. 1 AufenthG entsprechende Verfolgungssituation nicht entnommen werden. Die erstinstanzliche Annahme, dass es zum damaligen Zeitpunkt der Ausreise des Klägers (ebenso wie noch heute) im Irak eine Unzahl von Morden, Anschlägen und kriminellen Aktivitäten gegen Leib, Leben und Freiheit anderer gegeben habe, deren nähere Motive unklar bzw. nicht aufklärbar seien, stimmt mit der Erkenntnislage des Senats überein

vgl. hierzu insbesondere Urteil des Senats vom 29.9.2006 - 3 R 6/06 - m.w.N.. für den damaligen Ausreisezeitpunkt; Lageberichte Irak des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005; Deutsches Orient Institut - DOI - an VG Aachen vom 1.9.2006 (2124 al/br) zu Az. 7 C 2353/05.A.

Die genaue Motivation dokumentierter Gewaltakte und auch die Zuordnung zu einem bestimmten Täter-(Kreis) lassen sich sowohl zum damaligen Zeitpunkt als auch heute noch nur schwer feststellen. Es lagen und liegen teils politische, teils kriminelle oder teils persönliche rachebedingte Motivationen und deren Mischformen vor. Es werden aber auch, ohne dass sich dies im Einzelfall stets mit Bestimmtheit feststellen ließe, reine Willküraktionen mit Zufallsopfern verübt, die allein dem Ziel der allgemeinen Destabilisierung des Landes dienen. Auch im Falle des Klägers blieben die Hintergründe des von ihm vorgetragenen Überfalls auf seine Familie unklar.

Des weiteren lässt sich der Auskunftslage nicht entnehmen, dass zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers eine sog. Sippenhaft bzw. Racheaktionen gegenüber Familienangehörigen von Mitgliedern - selbst höherrangiger Funktionäre - der ehemaligen Baath-Partei im Irak praktiziert wurden. Entsprechendes ist auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts auf absehbare Zeit nicht zu befürchten.

Anhänger und Mitglieder der 1968 gegründeten und im Mai 2003 aufgelösten Baath-Partei des ehemaligen Präsidenten Saddam Hussein konnten zwar in der Zeit unmittelbar nach dessen Sturz in bestimmten Fällen in verstärktem Maß Opfer von Bedrohungen, Racheakten und Attentaten - besonders im Raum Bagdad - werden

hierzu etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe - SFH - vom 27.1.2006, Zur Gefährdung von ehemaligen Mitgliedern der Baath-Partei, Positionspapier vom 25.6.2007 und vom 22.5.2007 - Irak-Update -,

deren Hintergründe im Einzelfall zumeist nicht aufklärbar waren. Auch ließ sich zum damaligen Zeitpunkt weder eine generelle Schutzfähigkeit noch Schutzwilligkeit staatlicher Stellen gegenüber gefährdeten (ehemaligen) Baath-Mitgliedern feststellen. Es gab Namenslisten mit „Baath-Ikonen“ und hochrangigen Funktionären. Die staatlichen Maßnahmen selbst beschränkten sich allerdings häufig auf die Entfernung der Betroffenen aus staatlichen Ämtern.

Auch nach Einschätzung des Deutschen Orient-Instituts waren Racheaktionen in einem beachtlichem Umfang von Seiten anderer - nicht-staatlicher - Stellen (nur) bis Ende 2003 zu verzeichnen,

hierzu etwa Deutsches Orient-Institut - DOI - an VG München vom 1.9.2006 (2112 al/br.) zu Az. M 9 K 05.50273.

Nach dessen Feststellungen

vgl. insoweit auch Stellungnahme an VG Bayreuth vom 31.10.2005 (1937 al/br) zu Az. B 6 K 04.30095

ist insoweit des weiteren zu berücksichtigen, dass die Baath-Partei eine den ganzen Staat und alle seine Positionen ergreifende „Massenveranstaltung“ gewesen sei und viele zur Mitgliedschaft in der Baath-Partei eher gezwungen worden seien. Die Mitgliedschaft in dieser Partei und die Durchführung von Parteiaktivitäten, sogar von Vertreibungen führe daher für sich genommen noch nicht zu Racheaktionen.

Auch nach dem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 27.1.2006 gehören zu dem gefährdeten Personenkreis (allein) höherrangige Baath-Mitglieder und Funktionäre, die sich persönlich Verbrechen und Grausamkeiten schuldig gemacht haben, so insbesondere Angehörige der Geheim- und Sicherheitsdienste und der Spezialtruppen der Fedayin Saddam. Für einfache Mitglieder der Baath-Partei verneint die Schweizerische Flüchtlingshilfe - auch unter Hinweis auf eine entsprechende damalige Einschätzung des UNHCR und des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien - EZKS – eine Verfolgungsgefahr. Da vor dem Sturz Saddams die einfache Mitgliedschaft in der Baath-Partei, deren Gesamtmitgliederzahl auf 2,5 Millionen (= ca. 10 % der Bevölkerung) geschätzt wird,

zur Zahl der Baath-Mitglieder siehe FAZ vom 19.12.2008 und 14.1.2008, Deutsche Welle vom 12.1.2008, SZ vom 15.1.2008,

oft ein „notwendiges Übel“ zur Erlangung einer Arbeitsstelle darstellte, galt und gilt eine solche ganz allgemein im Irak als akzeptierte Tatsache, so dass auf dieser Grundlage auch eine beachtliche Verfolgungsgefährdung von nicht-staatlicher Seite nicht angenommen werden kann.

In Übereinstimmung hiermit stellt die Berliner Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie e.V. (EZKS) fest,

vgl. Stellungnahme an VG Köln vom 17.12.2004 im Falle des Sohnes eines Einsatzleiters einer Sonderstreife in Mossul, der mit dem Geheimdienst zusammengearbeitet hatte,

dass die Mitgliedschaft in der Baath-Partei ein Massenphänomen war, um damals einigermaßen unbehelligt leben zu können und somit frühere Mitglieder, sofern sie nicht Angehörige der (sunnitischen) Elite waren und hervorgehobene Positionen innehatten oder sich an besonders grausamen Handlungen beteiligt hatten, nicht mit Racheakten rechnen mussten.

Zwar hat der Kläger geltend gemacht, sein Vater habe eine ihm nicht im Einzelnen bekannte Funktion im Komitee der Partei in Erbil (seinem Geburtsort) als Nachfolger eines 1987 getöteten Onkels innegehabt, wobei allerdings bereits 1991 ein Wegzug nach Mossul erfolgt war.

Eine herausgehobene Position des Vaters des Klägers im Sinne des vorstehend bezeichneten gefährdeten Personenkreises ergibt sich aus dieser Darlegung jedoch nicht. Von daher kann schon nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass der vom Kläger vorgetragene Überfall eine gezielte Verfolgung des Vaters wegen dessen politischer Aktivitäten beinhaltete, was der Kläger lediglich vermutete, ohne jedoch konkrete Anhaltspunkte dafür benennen zu können.

Dies bedarf indes keiner weiteren Vertiefung. Denn ungeachtet dessen, ob der Vater des Klägers Opfer einer zielgerichteten Verfolgung, sei es von staatlicher oder sei es von nicht-staatlicher Seite war, lässt sich der Auskunftslage entnehmen, dass der Kläger selbst wegen der Mitgliedschaft seines Vaters in der Baath-Partei eine Verfolgung von staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren (im Sinne einer Art Sippenhaft) vor seiner Ausreise nicht zu befürchten hatte.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe

vgl. Bericht zur Gefährdung von ehemaligen Mitgliedern der Baath-Partei vom 27.1.2006

führt unter Berufung auf verschiedene Quellen aus, dass es zum Ausreisezeitpunkt des Klägers nur wenig Hinweise auf die Verfolgung von Familienangehörigen selbst höherrangiger ehemaliger Baath-Mitglieder gebe. Familienmitglieder und Personen, die ehemaligen Baath-Funktionären nahegestanden hätten, würden wegen unter Saddams Regime begangener Verbrechen nicht in den Blick genommen. Fänden allerdings Angriffe auf Baath-Mitglieder statt, während sich diese in unmittelbarer Nähe von ihren Familienmitgliedern befänden, sei damit zu rechnen, dass letztere (de facto) vom Angriff ebenso getroffen werden könnten.

Diese Einschätzung stimmt daher mit der Stellungnahme

des DOI vom 1.9.2006 an VG München (2112 al/br) zu Az. M 9 K 05. 50273

überein, wonach Familienangehörige selbst des inneren Zirkels der Baath-Partei, u.a. die nunmehr in Jordanien lebenden Töchter Saddam Husseins, unangetastet blieben.

Racheakte, die sich gegen Verwandte ehemaliger Baathisten richteten, sind auch der Berliner Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie (EZKS)

in o.g. Stellungnahme vom 17.12.2004 an VG Köln

nicht bekannt. Bekannt sind der EZKS lediglich einige wenige Fälle, in denen bei Anschlägen auf ehemalige Baathisten die Schädigung von Familienmitgliedern billigend in Kauf genommen wurde. Nach den Feststellungen der EZKS bedeutet der Umstand, dass der der Bath-Partei angehörige Familienangehörige verstorben und somit nicht mehr greifbar ist, nicht, dass sich die Rache quasi automatisch gegen den Sohn oder andere Familienmitglieder richtet. Zwar sei nicht kategorisch auszuschließen, dass eine Person zum Opfer werde, weil ein enger Verwandter während der Baathherrschaft andere Personen geschädigt habe. Als typisch sei ein solcher Fall jedoch nicht zu bezeichnen.

Nach der genannten Auskunftslage kann daher davon ausgegangen werden, dass der vom Kläger geschilderte Angriff im Januar 2006 - ungeachtet von welcher Seite - nicht gezielt gegen ihn selbst wegen der ehemaligen Mitgliedschaft seines Vaters in der Baath-Partei gerichtet war. Auch eine nach diesem Angriff eventuell unmittelbar bevorstehende Verfolgung in Form einer sog. Sippenhaft lässt sich auf dieser Grundlage verneinen. Der Kläger, der sonst keine weiteren eigenen Verfolgungsgründe geltend gemacht hat, ist somit unter dem Blickwinkel eines individuellen Verfolgungsschicksals unverfolgt ausgereist.

Ebenso ist eine zum Zeitpunkt seiner Ausreise im Jahr 2006 bestehende Verfolgung des Klägers im Hinblick auf seine kurdische Volkszugehörigkeit und sunnitische Religionszugehörigkeit (im Sinne einer Gruppenverfolgung) zu verneinen.

Zur damaligen Verfolgungssituation dieser Gruppierungen kann vollumfänglich auf die den Beteiligten bekannten Feststellungen des Senats im Urteil vom 29.9.2006 - 3 R 6/06 -, das den Fall eines irakischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit und sunnitischer Religionszugehörigkeit betraf, verwiesen werden. Durchgreifende Anhaltspunkte dafür, dass die damalige Situation nunmehr (rückwirkend) anders zu bewerten wäre, liegen nicht vor.

Ist der Kläger demnach unverfolgt aus seinem Heimatland ausgereist, kommt ihm nach den eingangs genannten Voraussetzungen hinsichtlich der Überprüfung seines Begehrens auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 AufenthG die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL nicht zugute und ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden.

Die von ihm begehrte Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG ist zu verneinen, da aufgrund der aktuellen Erkenntnislage für den Kläger im Rückkehrfall eine beachtliche (überwiegende) Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung im Sinne der genannten Bestimmung nicht zu prognostizieren ist.

Dies gilt sowohl für die von ihm geltend gemachte individuelle Verfolgungsgefahr wegen der Mitgliedschaft seines Vaters in der Baath-Partei und den nunmehr vorgebrachten Nachfluchtgrund einer ihm angeblich drohenden Gefahr für Leib und Leben wegen Verletzung der Familienehre als auch mit Blick auf die allgemeine Lage im Irak.

Auch die Erkenntnisse für die Zeit nach seiner Ausreise bis heute lassen den Schluss auf eine dem Kläger im Rückkehrfall wegen der Mitgliedschaft seines Vaters in der Baath-Partei drohende Gefährdung nicht zu.

Nach übereinstimmenden Erkenntnissen

von EZKS an VG Düsseldorf vom 5.8.2008 im Falle des Sohnes eines Ministerstellvertreters in der Regierung Saddam Husseins, des Gutachtens von Brocks an VG Düsseldorf vom 26.2.2008, jeweils zu Az. 16 K 2407/07.A und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe - SFH - Bericht Irak: Die aktuelle Entwicklung im Zentral- und Südirak vom 5.11.2009

kann allenfalls eine - rückläufige - Gefährdungssituation für ehemals hochrangige Baathisten, die persönlich Verbrechen oder Grausamkeiten begangen haben, bestehen. Dies gilt nach den eindeutigen Aussagen der genannten Quellen aber nicht für deren Familienangehörige.

Auch nach den vorliegenden Presseberichten

vgl. NZZ vom 15.1.2008 und SZ vom 29.3.2007.

kann nicht von einer Verfolgungsgefährdung für nicht hervorgehobene Mitglieder der Baath-Partei und erst recht nicht für deren Angehörige ausgegangen werden.

Vielmehr öffnete man bereits in den Jahren 2003 und 2004 nach einer anfänglichen „Hexenjagd“ auf Baathisten allmählich die Tore des Staatsdienstes für Staatsbedienstete in untergeordneten Funktionen, die ehemals der Baath-Partei angehört hatten.

Im Mai 2008 wurde schließlich durch - auch von Schiiten akzeptiertem - Gesetz früheren Baath-Mitgliedern, die sich keiner Verbrechen schuldig gemacht hatten, die Rückkehr in den Staatsdienst erlaubt. 3500 ehemals führenden Parteimitgliedern wurden Pensionen angeboten und 13000 anderen Mitgliedern die Rückkehr in den Staatsdienst gestattet

vgl. FAZ vom 19.12.2008 und vom 14.1.2008 , Deutsche Welle vom 12.1.2008, SZ vom 15.1.2008.

Zur Zeit gibt es nur noch ganz vereinzelt Berichte über Tötungen von Mitgliedern der früheren Baath-Partei

vgl. etwa FAZ vom 28.3.2009.

Somit steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger im Rückkehrfall wegen der Mitgliedschaft seines Vaters in der Baath-Partei eine beachtliche Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG nicht zu befürchten hat.

Er hat eine solche auch nicht mit dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad mit Blick auf die von ihm nunmehr geltend gemachte Bedrohung wegen Verletzung der Familienehre durch im Irak lebende Verwandte der ohne Einwilligung der Eltern nach religiösem Ritus ihm angetrauten Ehefrau zu befürchten, mit der er mittlerweile ein gemeinsames Kind hat.

Eine nähere Bestimmung des Begriffs des nicht-staatlichen Akteurs im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG

vgl. dazu etwa OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27.1.2006 - 1 LB 22/05 -, InfAuslR 2007, 256 , wonach ein privat abgrenzbarer Personenkreis, der keine den Verfolgern nach § 60 Abs. 1 S. 4 lit. a und b AufenthG vergleichbare Gefährlichkeit und Struktur aufweist, als nichtstaatlicher Akteur ausscheidet und eine Bedrohung seitens Privater - wie etwa Blutrache - nicht unter § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufentG fallen, sondern lediglich im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG Relevanz erlangen kann; andererseits aber Huber, AufenthG 2010, § 60 Rdnr. 34 sowie BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 - 1 C 15.05 -, E 126, 243

kann vorliegend dahinstehen.

Denn die von dem Kläger geltend gemachte Gefährdung knüpft jedenfalls nicht an eines der nach § 60 Abs. 1 AufenthG geschützten Rechtsgüter: Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politische Verfolgung an. Anders als möglicherweise im Falle einer der Gefahr eines Ehrenmords ausgesetzten Frau knüpft die Bedrohung im Falles des Klägers auch nicht an das Geschlecht an, wobei auch hier das Tatbestandsmerkmal „Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe“ zunächst vorliegen müsste.

Die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG aufgrund der von dem Kläger befürchteten Gefährdung wegen Verletzung der Familienehre scheidet daher aus.

Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg auf eine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak berufen.

Die Zuerkennung einer Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 3 AsylVfG erfasst nach der Rechtsprechung nicht nur die Fälle anlassgeprägter Einzelverfolgung, sondern kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines relevanten Merkmals verfolgt werden, das der Asylbewerber mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (sog. Gruppenverfolgung)

hierzu etwa BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216 ff.

Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt dabei zunächst voraus, dass die festgestellten Maßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an das die verfolgte Gruppe kennzeichnende relevante Merkmal treffen. In Betracht kommt eine unmittelbare Anknüpfung an das die Verfolgung begründende Gruppenmerkmal - etwa die Volks- oder Religionszugehörigkeit - aber auch eine Verfolgung, der dieses Merkmal mittelbar zugrunde liegt.

Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt ferner eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus. Der Feststellung dicht und eng gestreuter Verfolgungsschläge bedarf es allerdings dann nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht

hierzu BVerwG, Entscheidungen vom 2.2.2010 – 10 B 18.09 –, vom 18.7.2006 - 1 C 15.05 - und vom 5.7.1994 - 9 C 158.94 - jeweils zitiert nach juris.

Für die Feststellung der erforderlichen Verfolgungsdichte ist eine so große Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht

hierzu etwa BVerwG, Entscheidungen vom 2.2.2010 - 10 B 18.09 - und vom 21.4.2009 - 10 C 11.08 -, jeweils zitiert nach juris.

Für die Beurteilung, ob die Verfolgungsdichte die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt, müssen Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Allein die Feststellung „zahlreicher“ oder „häufiger“ Eingriffe reicht nicht aus. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten möglicherweise bereits als bedrohlich erweist, kann bei einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen, weil sie in Bezug auf die Zahl der Gruppenmitglieder nicht ins Gewicht fällt und sich deshalb nicht als Bedrohung der Gruppe darstellt.

Bei der Prüfung einer Gruppenverfolgung sind die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtung zur Verfolgungsdichte nicht mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit festzustellen, sondern es genügt, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen. Dabei darf bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet auch aus einer Vielzahl vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der asylerheblichen Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe erfolgen. Auch für die Annahme einer erheblichen Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe müssen die gerichtlichen Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge aber in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden.

Bei der erforderlichen wertenden Gesamtschau der Verfolgungssituation sind nur asylrechtlich beachtliche, an die Merkmale in § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG anknüpfende Maßnahmen zu berücksichtigen. Nicht einzubeziehen sind hingegen rein kriminelle Verbrechen und ungezielte terroristische Anschläge, die allein die Destabilisierung der Lage im Irak bezwecken

vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a.a.O..

Eine solche Gruppenverfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG im Zusammenhang mit den europarechtlichen Bestimmungen der sog. Qualifikationsrichtlinie kann für sunnitische Religionszugehörige im Irak nicht angenommen werden. Auch individuelle gefahrerhöhende Umstände sind im Falle des Klägers nicht erkennbar.

Zur Verfolgungssituation sunnitischer Religionszugehöriger wie auch kurdischer Volkszugehöriger hat der Senat - wie dargelegt - grundlegend im Urteil vom 29.9.2006, a.a.O. sowie weiterführend

etwa in den Beschlüssen vom 12.3.2007 - 3 Q 114/06 - und 12.2.2007 - 3 Q 89/06 -,

festgestellt, dass bei einer relativierenden Betrachtung der Anzahl der Opfer der Verfolgungsschläge und des jeweiligen Anteils der sunnitischen und kurdischen Bevölkerungsgruppe eine Gruppenverfolgung mangels hinreichender Verfolgungsdichte nicht zu verzeichnen ist. Bei der vom Senat dort vorgenommenen Maximalbetrachtung einer Anschlagsverletzungsgefahr würden selbst bei Annahme einer äußersten Anschlagsdichte von 1:270 oder 0,37 Prozent bezogen auf die gesamte irakische Zivilbevölkerung einschließlich Sunniten und Kurden ein Anteil von 99,6 Prozent der dort lebenden Menschen von Übergriffen verschont bleiben.

An dieser Einschätzung hält der Senat auf der Grundlage des aktuellen Erkenntnismaterials fest. Eine Gruppenverfolgung der Bevölkerungsgruppen im Irak, denen der Kläger angehört, ist auch gegenwärtig zu verneinen.

Denn insbesondere die interkonfessionelle Gewalt (zwischen Sunniten und Schiiten) hat seit dem energischen Durchgreifen der irakischen Regierung gegen Milizen seit dem Frühjahr 2008 in einem relevanten Maß nachgelassen

hierzu etwa Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, (Lagebericht) vom 28.11.2010, vom 11.4.2010 und vom 6.10.2008.

Für den Kläger als Mitglied der Gruppe der (kurdischen) Sunniten kann daher derzeit eine Verfolgung im Irak nicht bejaht werden.

Auszugehen ist nach den vorliegenden Erkenntnissen von einer immer noch instabilen Sicherheitslage.

Nach den Feststellungen des Auswärtigen Amtes

in seinem jüngsten Lagebericht vom 28.11.2010

hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage im Irak zwar in den letzten Jahren erheblich verbessert, sie ist aber - außer in der Region Kurdistan-Irak (KRG), wo sowohl die Sicherheitslage als auch die Versorgungslage deutlich besser ist als im Rest des Landes - immer noch prekär. Nichtstaatliche Akteure, insbesondere Aufständische, sind für viele Menschenrechtsverletzungen im Irak verantwortlich. Angehörige staatlicher Organe (Polizei, Streitkräfte) begehen ebenfalls Menschenrechtsverletzungen. Die irakischen Sicherheitskräfte sind nach dem Abzug der US-Kampfverbände am 31.8.2010 nicht in der Lage, gefährdete oder verfolgte Bevölkerungsgruppen effektiv zu schützen.

Trotz einer signifikanten Abnahme der sicherheitsrelevanten Vorfälle seit Frühsommer 2007 sind nach Angaben des Auswärtigen Amtes auch im Jahresverlauf 2010 landesweit immer noch wöchentlich etwa 200 Anschläge mit einer nennenswerten Zahl von Todesopfern festzustellen. Schwerpunkte terroristischer Anschläge bleiben weiterhin Bagdad und der Zentralirak, der Nordosten (Diyala, Salah al Din) sowie die Provinzen Tamin mit der Hauptstadt Kirkuk und Ninive mit der Hauptstadt Mossul.

Im schiitisch dominierten und heterogeneren Südirak hingegen gibt es weniger Anschläge als im Zentralirak. Anschläge ereignen sich jedoch auch in südirakischen Städten wie Hilla, Nadschaf, Kut und Basra.

Hinsichtlich religiöser Minderheiten und Gruppierungen stellt das Auswärtige Amt trotz der (formal) verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung Maßnahmen von Diskriminierung und Verfolgung fest, in die selbst Angehörige der schiitischen Mehrheits-Bevölkerung einbezogen werden.

Eine unmittelbare Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nach Aussage des Auswärtigen Amtes allerdings nicht systematisch statt.

Mit dem Anschlag vom 22.2.2006 auf das schiitische Heiligtum in Samarra und den darauf folgenden wechselnden Vergeltungsaktionen begannen nach Feststelllungen des Auswärtigen Amtes im Irak bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen der sunnitischen und schiitischen Konfessionen mit monatlich Tausenden von Toten. Durch das Eingreifen der Regierung gegen schiitische Milizen einerseits und die veränderte Strategie der US-Streitkräfte gegenüber den sunnitischen Stämmen andererseits wurde diese Entwicklung aber weitestgehend gestoppt. Es ist nach Feststellungen des Auswärtigen Amtes gelungen, die Gefahr eines offenen Bürgerkriegs zwischen der jahrzehntelang diskriminierten schiitischen Mehrheit und der bisherigen sunnitischen Führungsschicht abzuwenden. Seit dem Durchgreifen der Regierung gegenüber schiitischen Milizen ist eine politische Annäherung zwischen Teilen des sunnitischen und schiitischen Spektrums zu verzeichnen, wenngleich bis in die jüngste Zeit radikale Täter - bislang erfolglos - immer wieder durch gezielte Anschläge auf Vertreter der jeweils anderen Gruppe versuchen, den Kreislauf der Vergeltung „anzuheizen“.

Eine konkrete verlässliche Bewertung der Sicherheitslage für rückkehrende Flüchtlinge und Binnenvertriebene ist nach Aussage des Auswärtigen Amtes sehr schwierig, da sich aus der Befragung von Rückkehrern ein uneinheitliches und fragmentarisches Bild ergibt. Danach ist die Sicherheit von Rückkehrern von einer Vielzahl von Faktoren abhängig - u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung, den Verhältnissen am Ort der Rückkehr - und kann sich sogar von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Nach wie vor können Rückkehrer Ziel von allgemeiner Gewaltkriminalität, Bedrohungen und Anschlägen sein, insbesondere in Gegenden, in denen ihre Ethnie bzw. religiöse Gruppierung nicht die Mehrheit darstellt.

Die im Lagebericht vom 28.11.2010 dargestellte allgemeine Sicherheitslage hat sich nach den Angaben des Auswärtigen Amtes bis in die jüngste Zeit

vgl. Reisewarnung, Stand 24.2.2011

fortgesetzt. So kommen insbesondere in Bagdad und den nördlich angrenzenden Provinzen Diyala, Ninive, Salah-al-Din und Tamin monatlich immer noch mehrere hundert Menschen bei Anschlägen und Feuergefechten ums Leben.

In den westlichen Provinzen sowie im schiitischen Süden des Landes ist - wenngleich auch hier Anschläge und Entführungen nicht ausgeschlossen werden können – hingegen eine Stabilisierung der Sicherheitssituation zu verzeichnen.

In eine positive Richtung weisen ferner die nach Erstellung des (jüngsten) Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 28.11.2010 eingegangenen Erkenntnisse zur politischen Lage, insbesondere über die Einbindung der im Irak konkurrierenden Gruppierungen in die jetzige Regierung.

Am 21.12.2010 wurde eine neue Regierung unter dem früheren Premierminister al Maliki gebildet. Al Maliki und seiner Partei Nationale Allianz ist es gelungen, ein Regierungsbündnis zu bilden, das auch politische Gegner einbezieht, wie etwa die al-Iraquia Partei des säkularen Schiiten Alawi sowie die Anhänger von al-Sadr. Die säkulare al-Iraquia-Partei, die von vielen Sunniten unterstützt wurde, erhält zehn und die schiitische al-Sadr Bewegung acht Ministerposten. Auch die Kurden stellen Minister, so dass die drei größten Bevölkerungsgruppen in der Regierung re-präsentiert sind

vgl. BAMF, Briefing Notes vom 27.12.2010, taz 5.5.2011.

Dies könnte sich - jedenfalls auf längere Sicht - durchaus „befriedend“ auf die interkonfessionellen Auseinandersetzungen auswirken und zu deren weiterer Abnahme beitragen .

Auch nach den Ausführungen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH)

Irak: Die aktuelle Entwicklung im Zentral- und Südirak - Update vom 5.11.2009 -

hat sich die Sicherheitslage im Zentral- und Südirak seit 2007 bedeutend verbessert, die Gewalt von sunnitischen und schiitischen Extremisten und Aufständischen im Vergleich zu 2006 oder 2007 abgenommen. Dennoch komme es weiterhin zu Anschlägen auf Militär, Polizei und Zivilisten. Wenn auch die militanten Gruppierungen geschwächt seien, seien sie jedoch noch immer in der Lage, Anschläge mit hohen Opferzahlen zu verüben. Bombenanschläge, Selbstmordanschläge und Sprengfallen gegen die Zivilbevölkerung führten zu Hunderten von Toten.

Gezielten Anschlägen fielen auch nach Einschätzung der SFH vor allem Sicherheitspersonal, Beamte, religiöse und politische Führer, spezielle Berufsgruppen wie Journalisten, Lehrer, medizinisches Personal, Richter und Anwälte, aber auch Minderheiten, etwa religiöse, zum Opfer.

In Übereinstimmung hiermit stellt auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ( BAMF) in seiner Dokumentation

Irak, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, Januar 2010

unter Berufung auf die CSIS (Center for Strategie und International Studies) von November 2009 sowie auf das US. Department of Defense von September 2009 fest, dass sich die Sicherheitslage im Irak insgesamt spürbar verbessert hat.

Laut der im o.g. Bericht angeführten Erkenntnisse der britischen Nichtregierungsorganisation Iraq Body Count, die seit dem Einmarsch der Koalitionsstreitkräfte in den Irak die Verluste unter der irakischen Zivilbevölkerung zählt, haben sich diese seit 2008 drastisch reduziert und sind im Jahr 2009 auf den niedrigsten Stand seit 2003 gefallen.

Amnesty international (ai) kommt ebenfalls zu dem Ergebnis

vgl. etwa ai-Report 2010,

dass die Gewalt im Irak seit 2009 abgenommen hat. Dennoch seien Regierungstruppen und bewaffnete politische Gruppierungen verantwortlich für schwere Menschenrechtsverletzungen wie Entführungen, Folter und Mord gewesen. Mit Selbstmordanschlägen und Attentaten an öffentlichen Orten sollten laut Angaben von ai offenbar gezielt Zivilisten getroffen werden. Viele Anschläge würden von Al Quaida und von sunnitischen Gruppen, aber auch schiitischen Milizen verübt. Unter den Opfern befänden sich Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, Journalisten, Homosexuelle und andere Zivilpersonen.

Schließlich stellt auch der UNHCR in seinem Positionspapier

zum Schutzbedarf irakischer Asylbewerber und zu den Möglichkeiten der Rückkehr irakischer Staatsangehöriger in Sicherheit und Würde vom 13.5.2009

fest, dass sich die Lage in den südirakischen Provinzen sowie in der zentralirakischen Provinz Anbar seit Ende 2007 verbessert habe. Es hätten Entwicklungen stattgefunden, die darauf hindeuteten, dass die Situation vor allem nicht mehr von jener allgegenwärtigen Gewalt gekennzeichnet sei, die die Grundlage für die bisherige Position zum Schutzbedarf irakischer Staatsangehöriger aus diesen Gebieten gebildet habe. Asylanträge von Schutzsuchenden aus den südirakischen Provinzen sollten daher - im Gegensatz zu der früheren Empfehlung einer generellen Schutzbedürftigkeit von Schutzsuchenden aus dem Irak - nunmehr unter Berücksichtung des individuellen Verfolgungsschicksals entschieden werden. Eine Einzelfallprüfung empfiehlt er auch für Asylbewerber aus den nordirakischen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaimaniya. Bezüglich Asylsuchender aus den zentralirakischen Provinzen Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninive und Salah al Din hält er nach wie vor eine internationale Schutzbedürftigkeit für gegeben.

Nach Feststellungen des UNHCR

in einer weiteren Stellungnahme vom 16.9.2009 an den Hessischen VGH

ist eine zentrale Ursache für die Verbesserung der Sicherheitslage und den Rückgang der Gewalt im Irak in der weitgehenden Entflechtung der Bevölkerung des Landes zu sehen. So habe sich seit den Bombenanschlägen auf die Goldene Moschee in Samara die demografische Struktur der Bevölkerung vor allem in vormals gemischt-konfessionellen Gebieten signifikant verändert. Besonders augenfällig seien diese Veränderungen in der irakischen Hauptstadt Bagdad. Während die Bevölkerung in Bagdad im Jahre 2003 mehrheitlich sunnitisch geprägt gewesen sei, stellten inzwischen schiitische Muslime in mehr als der Hälfte aller Bagdader Stadtteile die deutliche Bevölkerungsmehrheit dar. Die verbliebenen sunnitischen Enklaven seien von überwiegend schiitisch bewohnten Nachbargebieten eingeschlossen; mindestens elf der sunnitisch dominierten Stadtteile seien durch Betonmauern gegen die schiitischen Nachbarbezirke abgegrenzt, um Attacken schiitischer Milizen und Autobombenangriffen vorzubeugen. Dennoch hält der UNHCR eine interne Fluchtalternative für problematisch.

Hiervon ausgehend sind die im Irak sowie in der Heimatstadt bzw. der Heimatregion des Klägers festzustellenden Anschläge, deren Hintergründe und Zuordnung zu bestimmten Gruppierungen oder Stellen nach der Erkenntnislage im Einzelnen kaum bzw. schwer zu klären sind, zwar häufig als Akte willkürlicher Gewalt zu bewerten. Indes lassen sich weder die für die Annahme einer Gruppenverfolgung im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG erforderliche Verfolgungsdichte bezogen auf die Gruppe sunnitischer Religionszugehöriger in Relation zur Gesamtbevölkerungszahl, noch besondere in der Person des Klägers liegende, sog. gefahrenerhöhende Umstände feststellen.

Ungeachtet der vorliegend gegebenen Schwierigkeiten der Ermittlung einer exakten Tatsachengrundlage ist im Irak - wie dargelegt - insgesamt jedenfalls ein deutlicher Rückgang von sicherheitsrelevanten Vorfällen erkennbar; insbesondere hat die vom Kläger angeführte interkonfessionelle Gewalt, die nach Einschätzung des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien

vgl. EZKS, Bericht vom 20.1.2009 an VG München zu Az. M 4 K 08.50041/ M 4 K 08.5005

ihren Höhepunkt Ende 2006/Anfang 2007 erreicht hatte, nach 2007 in einem beachtlichen Umfang nachgelassen.

Den Lageberichten Irak des Auswärtigen Amtes

vom 28.11.2010 vom 11.4.2010,

zufolge wird die Gesamtbevölkerung Iraks auf etwa 32,3 Mio. Menschen geschätzt. Hiervon machen die Schiiten, die vorwiegend den Südosten bzw. Süden des Landes bewohnen, einen Anteil von 60 bis 65 %, (arabische) Sunniten, die mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak leben, einen Anteil von 17 bis 22 % und die vor allem im Norden lebenden Kurden einen Anteil von ca. 15 bis 20 % aus.

In Relation zu diesen Größenordnungen wird - wie noch auszuführen sein wird - die Zahl der dokumentierten Todesfälle den Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts an die erforderliche Intensität der Verfolgungsdichte offenkundig nicht gerecht. Selbst unter Berücksichtigung der fehlenden Einbeziehung von (Schwer)Verletzten, Traumatisierten und im Sinne des Art. 9 QRL Geschädigten in die vorliegenden Statistiken sowie der Unterstellung einer nachvollziehbaren erheblichen Dunkelziffer und Addition verschiedener Schädigungsformen ist eine in diesem Sinne beachtliche Verfolgungsdichte nicht feststellbar.

Im Einzelnen stellt sich die Entwicklung wie folgt dar:

Im Jahr 2006 waren nach Schätzung der regierungsunabhängigen Menschenrechtsorganisation Iraq Body Count (IBC) im Irak insgesamt ca. 27.796 und im Jahr 2007 noch ca. 24.605 zivile Opfer zu beklagen, was ca. 0,08 % der geschätzten Gesamtbevölkerung entspricht. Im Jahr 2008 sanken die Opferzahlen in der Zivilbevölkerung auf 9.222 (= ca. 0,03 %). Vergleicht man die von Iraq Body Count geschätzten Zivilopfer für das Jahr 2009 von insgesamt etwa 4.674 zivilen Opfern mit den entsprechenden Zahlen des Vorjahres, so sind die Opferzahlen nochmals um etwa die Hälfte gesunken

vgl. BAMF, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, Januar 2010.

In der Provinz Ninive, der Herkunftsregion des Klägers, gab es im Jahr 2008 je 100.000 Einwohner 41 Tote (je festgestellter Vorfall 2,3 Tote) und im Jahr 2009 je 100.000 Einwohner 30,1 Tote (845 Tote bei 474 Vorfällen, d.h. 1,8 Tote je Vorfall)

vgl. BAMF, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, Januar 2010.

An dem Geburtsort des Klägers Erbil (Sitz der Regierung der Autonomen Region Irakisch-Kurdistan) sind die Zahlen noch geringer. So gab es im Jahr 2008 in der ersten Jahreshälfte 7 Tote und 4 Vorfälle, im zweiten Halbjahr wurde kein Vorfall bekannt. Somit waren dort 0,5 – 0,4 Tote je 100.000 Einwohner (1,75 je dokumentierter Vorfall) zu verzeichnen. Im Jahr 2009 waren bei 28 Vorfällen 31 Tote zu beklagen (2,2 Tote je 100.000 Einwohner und 1,1 Toter pro Vorfall).

Diese Zahlen haben sich insgesamt - wenngleich es in den verschiedenen Erkenntnisquellen divergierende Angaben gibt - im Jahr 2010 nochmals deutlich verringert.

Laut Aussagen des Bundesasylamtes (Österreich)

vgl. Bericht Irak, Die Sicherheitslage in Bagdad vom 26.1.2011,

hat sich bei Auswertung der Statistik von Iraq Body Count (IBC) die Lage 2010 im Vergleich insbesondere zu den Jahren 2006 und 2007 mit hohen Opferzahlen von weit über 27000 und 24000 Toten deutlich verbessert.

Sie verringerte sich im Jahr 2010 auf den bislang tiefsten Stand seit 2003 mit 4028 Opfern.

Allerdings hat sich das Gewaltniveau im Vergleich zu 2009 nicht mehr so stark reduziert. Die monatliche Zahl der toten Zivilisten für 2010 (soweit verfügbar) schwankt zwischen 209 (Dezember 2010) und 517 Toten und im Jahr zuvor zwischen 205 und 585 Toten. Von den getöteten mindestens 4021 Personen (Stand: 30.12.2010 - mittlerweile 4028 Tote) starben 66 % durch Bomben von Aufständischen. Bagdad und Mossul waren weiterhin am meisten von der Gewalt betroffen, aber insgesamt gab es in 13 von 18 Provinzen Anschläge. Hinzu kommt, dass bei großen Bombenanschlägen mindestens dreimal so viele Menschen verletzt wie getötet wurden.

Nach den Ausführungen des Bundesasylamtes, .a.a.O., betont Iraq Body Count selbst den Rückgang der Gewalt. Die Organisation stellt aber auch fest, dass die Reduktion mit ca. 15 % im Vergleich zu 2009 viel niedriger war als bei früheren Jahresvergleichen und prognostiziert für die Zukunft eine sich auf niedrigem Niveau haltende vergleichbare Opferzahl.

Die vorgenannte Opferzahl wird in Presseberichten der

SZ vom 31.12.2010, der FAZ vom 31.12.2010 und der FR vom 31.12.2010

gleichfalls unter Berufung auf IBC mit zum Teil geringfügigen Abweichungen (25.12.2010: 3976 Zivilisten) bestätigt, allerdings wird dort der Jahrestrend als positiv bezeichnet. Nach Ankündigung der USA am 31.8.2010, die Kampfeinsätze einzustellen, habe sich zwischen August und September die Zahl der getöteten Zivilisten halbiert. Insgesamt verlangsame sich der Rückgang zwar, der im Jahr 2008 noch 63 % und 2009 50 % betragen habe. Allerdings weise IBC darauf hin, dass die innenpolitische Lage im Irak, die derzeit durch eine Regierungsbildung unter Einbindung aller wichtigen, auch religiösen Kräfte geprägt sei, - bei aller gebotenen Zurückhaltung - Anlass gebe, mit bescheidenem Optimismus ins neue Jahr zu gehen.

Auch laut Angaben des irakischen Gesundheitsministeriums ist die Gesamtzahl der getöteten Zivilisten im Irak gesunken. So seien im Vergleich zum Vorjahr mit 2773 Toten im Jahr 2010 2.505 Menschen bei Anschlägen und anderen Angriffen gestorben

vgl. NZZ vom 3.1.2011.

Bei Auswertung der vorstehend im Einzelnen genannten Erkenntnisquellen und angesichts der Opferzahlen in Relation zur Gesamtbevölkerungszahl ist eine Gefährdungslage für den Kläger in dem Sinne, dass er als Angehöriger der Gruppe der Sunniten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aktuell Gefahr liefe, im Rückkehrfall allein wegen seiner gruppenspezifischen Merkmale einer Verfolgung i. S. d. § 60 Abs. 1 AufenthG durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ausgesetzt zu sein, klar zu verneinen.

Bei der dargestellten rückläufigen Entwicklung der Gesamtopferzahlen ist zudem zu berücksichtigen, dass diese Zahlen nicht ausschließlich interkonfessionelle Übergriffe gegen Sunniten beinhalten, sondern auch konfessionelle Übergriffe gegen Schiiten, gegen andere Religions- und Volksgruppen sowie rein kriminelle Verbrechen und völlig ungezielte terroristische Anschläge mit Zufallsopfern, die allein die Destabilisierung der Lage im Irak bezwecken.

Auch muss eine „Dunkelziffer“ nicht in die vorgenannten Zählungen eingegangener Fälle ebenso hinzugerechnet werden wie eine unbekannte Anzahl ethnisch-religiöser Übergriffe auf Sunniten, die nicht zum Tod der Opfer geführt haben.

So weist etwa die Dokumentation von Iraq Body Count nur Todesopfer aus, nicht aber (asyl- und abschiebungsrechtlich beachtliche) Menschenrechtsverletzungen wie Verwundungen, Entführungen, Vergewaltigungen und Ähnliches

hierzu BAMF, o.g. Bericht von Januar 2010, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte.

Derartige Menschenrechtsverletzungen werden auch in Berichterstattungen anderer Quellen nicht oder nur selten genannt.

Auszugehen ist davon, dass konfessionell motivierte Anschläge sich weiterhin landesweit ereignen. Dennoch hat nach den vorliegenden Erkenntnissen seit 2007 die Gesamtzahl aller sicherheitsrelevanten Vorfälle in einem signifikanten Maß abgenommen (2007: insgesamt 80 %). Die Zahl der erkennbar konfessionsbezogenen Anschläge, Übergriffe und Vertreibungen hat sodann insbesondere seit 2008 deutlich abgenommen

vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 28.11.2010 und vom 11.4.2010; EZKS, Bericht vom 20.1.2009 an VG München zu Az. 4 K 08.50041/M 4 K 08.50005.

So lassen sich etwa für das Jahr 2010 im Gegensatz insbesondere zu den Jahren 2006/2007 - relativ gesehen - nur in wenigen Fällen eindeutig Opfer sunnitischer Glaubenszugehörigkeit feststellen.

Am 15.3.2010 wurden 7 Sunniten in Falludscha getötet

hierzu BAMF, Briefing Notes vom 22.3.2010

Am 5.4.2010 waren in Arab Jabour südlich von Bagdad 24 Tote sunnitischer Glaubenszugehörigkeit zu beklagen

vgl. BAMF, Briefing Notes vom 6.4.2010

Am 17.5.2010 wurde ein sunnitischer Prediger nördlich von Bagdad ermordet

vgl. Fischer Weltalmanach 2011, S. 232.

Am 18.7.2010 wurden in vorwiegend sunnitisch bewohnten Stadtteilen Bagdads 36 Menschen getötet, mehrheitlich aber Sicherheitskräfte und Soldaten

vgl. BAMF, Briefing Notes vom 18.7.2010.

Legt man bei einer Maximalbetrachtung die von Iraq Body Count festgestellten Zahlen von 4028 Toten für das Jahr 2010 zugrunde, denen sich nach der dargestellten Auskunftslage nur in wenigen Fällen eindeutig sunnitische Glaubenszugehörige zugeordnet werden können, lässt sich – ausgehend von dem Mittelwert des Bevölkerungsanteils der Sunniten von 20 %, also ca. 6,4 Millionen Menschen - selbst unter einer Hinzurechnung einer Dunkelziffer von nicht bekannten Todesfällen und Verletzten und i.S.d. Art. 9 QRL Geschädigten eine den Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts a.a.O. genügende Verfolgungsdichte nicht feststellen. Aufgrund der kontinuierlich rückläufigen Tendenz solcher Vorfälle und Übergriffe in den vergangenen Jahren, insbesondere ab 2008, ist auch für die absehbare Zukunft eine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak nicht zu prognostizieren. Dies belegen auch die Opferzahlen für 2011.

Die (Gesamt-)Opferzahlen bis Mai 2011 belaufen sich, soweit bislang bekannt, auf mindestens 469 Tote und 496 Verletzte.

Die meisten Toten und Verletzten gab es im Januar/Februar 2011 bei Anschlägen auf schiitische Pilger in der Nähe von Kerbala (mindestens 45 Tote und 150 Verletzte) und Samarra (50 Tote, 80 Verletzte)

hierzu BAMF, Briefing Notes vom 7.3.2011, FR und taz vom 21.1.2011, FAZ vom 21. und 25.1.2011, NZZ vom 28.1.2011 und FR vom 14.2.2011, SZ vom 14.2.2011; zu den bisherigen Gesamtopferzahlen BAMF, Briefing Notes vom 17.1.2011, vom 14.3.2011, vom 4.4.2011, vom 11.4.2011, NZZ vom 12.4.2011, FAZ vom 13.4.2011, NZZ vom 18. und 19.4.2011, FAZ vom 30.4. und 6.5.2011.

Eine im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG relevante Gefährdung mit Blick auf seine sunnitische Religionszugehörigkeit, die dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - landesweit - drohen würde, ist daher nicht anzunehmen.

Darüber hinaus sind zahlreiche irakische Städte bzw. Stadtviertel, insbesondere Bagdad, inzwischen konfessionell homogen. Sunniten wie Schiiten können dort, wo ihre konfessionelle Gruppe in der Mehrheit ist, relativ sicher vor konfessioneller Verfolgung leben.

So listet etwa EZKS

vgl. Bericht vom 20.1.2009 an VG München, a.a.O.

insbesondere Stadtviertel von Bagdad auf, die nachhaltig als „verfolgungsfreie“ Zonen für Sunniten zu bewerten sind, u.a. die Gebiete Adhamiyah, Al Mansour, Dora, Zayouna, Al Saydiya, Al A-amiriya, Al Adel, Al Khadhraa, Hayy al Jami’a. Darüber hinaus gibt es auch in der Umgebung von Bagdad mehrere sunnitisch dominierte Distrikte, in denen eine Verfolgungsgefahr zu verneinen ist.

Die Möglichkeit einer zumutbaren Aufenthaltsnahme für den in Erbil/Nordirak geborenen Kläger wäre darüber hinaus im Nordirak gegeben, aus dem seine Familie stammt. Dies ist sowohl unter dem vorgetragenen Aspekt der Zugehörigkeit zu einer ehemals baathistisch ausgerichteten Familie als auch seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit anzunehmen.

Eine Pro-baathistische Betätigung löst nach Einschätzung von EZKS

- H. Siamend - vom 22.3.2007 an VG Magdeburg zu Az. 4 A 190/04 MD und vom 24.11.2007 an VG Karlsruhe zu Az. A 3 K 10823/05

die Gefahr von Sanktionen etwa der KDP und der PUK im Nordirak nur dann aus, wenn sich die betreffende Person im Zuge ihrer Betätigung für die Baath-Partei besonderer Grausamkeiten schuldig gemacht hat oder in hohen Positionen befindlichen KDP- bzw. PUK-Politikern oder deren Verwandten geschadet hat;

Derartiges steht bei dem Kläger nicht im Raum

vgl. EZKS, Bericht vom 20.1.2009 an VG München, a.a.O.

Ausgehend von den vorstehend dargestellten Opferzahlen kann schließlich auch im Hinblick auf die Zugehörigkeit des Klägers zur Volksgruppe der Kurden, die ca. 15-20 % der Gesamtbevölkerung ausmacht,

vgl. Lagebericht Irak des Auswärtigen Amtes vom 28.11.2010

mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ihm drohende gruppenspezifische Verfolgung nicht angenommen werden.

Ist nach Vorstehendem ein Anspruch des Klägers auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG mangels individueller und gruppenbezogener Verfolgung zu verneinen, kann er auch eine Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht verlangen.

II.

Weder die in erster Linie zu prüfende Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2,3 und 7 Satz 2 AufenthG (sog. unionsrechtlich begründete Abschiebungsverbote) noch die in zweiter Linie zu prüfende Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und/oder 7 Satz 1 AufenthG (sog. nationale Abschiebungsverbote)

vgl. BVerwG, Urteile vom 29.6.2010 - 10 C 10/09 -, vom 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, jeweils zitiert nach juris

kann getroffen werden.

Auch im Rahmen dieser Prüfung ist Art. 4 Abs. 4 QRL anzuwenden. Dessen Vermutungsregelung greift ein, wenn der Antragsteller vor seiner Ausreise aus dem Heimatland einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 QRL erlitten hat oder unmittelbar von einem solchen Schaden bedroht war

zum Begriff der Vorschädigung vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 - BVerwG 10 C 4.09 -, zitiert nach juris.

Eine Vorverfolgung im flüchtlingsrechtlichen Sinne reicht für das Eingreifen der Vermutung im Rahmen des subsidiären Schutzes daher nur dann aus, wenn in ihr zugleich ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 QRL liegt, etwa wenn die Verfolgungsmaßnahme in Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung besteht. Außerdem setzt die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 QRL einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus

vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 - BVerwG 10 C 4.09 -, zitiert nach juris.

Denn die der Vorschrift zu Grunde liegende Vermutung, erneut von einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden bedroht zu sein, beruht wesentlich auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungs- oder Schadenswiederholung - bei gleichbleibender Ausgangssituation - aus tatsächlichen Gründen naheliegt. Es ist deshalb im Einzelfall jeweils zu prüfen und festzustellen, auf welche tatsächlichen Schadensumstände sich die Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 QRL erstreckt

vgl. OVG Münster, Beschluss vom 29.10.2010 - 9 A 3642/06.A - m.w.N., zitiert nach juris.

Nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 lit. b QRL darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Zwar können im Irak Fälle von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Bestrafung nicht generell ausgeschlossen werden. Diese entsprechen aber überwiegend Fällen politischer Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG. Da derartiges nach den vorstehenden Ausführungen dem Kläger im vorliegenden Fall nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht

zu diesem Maßstab im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG etwa VGH Mannheim, Urteil vom 21.4.2009 - A 4 S 120/09 -, zitiert nach juris,

ist auch eine konkrete Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG

zum Begriff der konkreten Gefahr etwa BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 1.94 -, zitiert nach juris

zu verneinen.

Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 3 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben. Nach § 60 Abs. 3 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe besteht. Dass er wegen einer Straftat gesucht werde, auf die im Irak die Todesstrafe steht, hat der Kläger selbst nicht geltend gemacht.

Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt nicht vor.

Auszugehen ist davon, dass die erst im bereits laufenden Gerichtsverfahren am 28.8.2007 in Kraft getretene Neuregelung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG Gegenstand des vorliegenden Verfahrens geworden ist,

vgl. in diesem Zusammenhang BVerwG, Urteil vom 29.6.2010 - 10 C 10.09 -; VGH Mannheim, Urteil vom 9.6.2009 - A 11 S 982/06 -, zitiert nach juris,

denn die Beklagte hat im angefochtenen Bescheid über sämtliche zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote entschieden und der Kläger hat die neuen, auf Unionsrecht beruhenden Abschiebungsverbote in das anhängige gerichtliche Verfahren miteinbezogen.

Die von dem Kläger in seiner Berufungsbegründung angesprochenen Zweifelsfragen zur Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und des Art. 15 lit. c QRL, insbesondere des Verständnisses des von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verwendeten Begriffs der „erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben“ sowie des Begriffs der „ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit“ im Sinne des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2004/83/EG - QRL - sind durch die inzwischen ergangenen Urteile des Bundesverwaltungsgerichts

vom 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198 und vom 14.7.2009 - 10 C 9.08 -, juris,

sowie durch Urteil des Europäischen Gerichtshofs

vom 17.2.2009 - C-465/07 -, EuGRZ 2009, 111

nunmehr hinreichend geklärt. Die Frage, ob § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 lit. c der Richtlinie eine Sperrwirkung entfaltet, ist durch das o.g. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.6.2008 ebenfalls geklärt.

Nach dem vorgenannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.7.2009, a.a.O., kann sich eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, die zugleich die entsprechenden Voraussetzungen des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2004/83/EG erfüllt, auch aus einer allgemeinen Gefahr für eine Vielzahl von Zivilpersonen im Rahmen eines innerstaatlichen oder internationalen bewaffneten Konflikts ergeben, wenn sich die Gefahr in der Person des Ausländers verdichtet. Eine derartige Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann sich aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann aber unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist dabei unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u.a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 lit. c QRL nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wofür Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe typische Beispiele sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt muss sich dabei nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken

vgl. BVerwG, Urteil vom 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, a.a.O..

Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Antragstellers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird, den „tatsächlichen Zielort“ des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat

vgl. EuGH, Urteil vom 17.2.2009, a.a.O..

Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Nach Art. 2 lit. e QRL muss der Ausländer bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt.

Gemessen an diesen Maßstäben kann für den Kläger keine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten innerstaatlichen oder internationalen Konflikts im Irak bzw. in dessen Teilen festgestellt werden.

Nach dem auch hier anzuwendenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vielmehr zu verneinen.

Ob die aktuelle allgemeine Lage im Irak und insbesondere in Mossul, der Herkunftsstadt des Klägers, oder in Erbil, seinem Geburtsort, bereits die Annahme eines landesweiten oder auch nur regionalen innerstaatlichen oder internationalen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG rechtfertigen könnte, kann vorliegend offenbleiben

ebenso etwa VGH München, Urteil vom 24.3.2011 - 20 B 10.30021 -, OVG Münster, Urteil vom 29.10.2010 - a.a.O. und VGH Mannheim, Urteil vom 12.8.2010 - A 2 S 1134/10 - und auch OVG Lüneburg, Urteil vom 13.4.2011 - 13 LB 66/07 -

Denn jedenfalls fehlt es an der geforderten erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben des Klägers als Angehöriger der Zivilbevölkerung.

Auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL kann sich der Kläger nicht berufen. Dies gilt sowohl hinsichtlich seiner sunnitischen Glaubenszugehörigkeit als auch hinsichtlich der Betätigung seines Vaters in der Baath-Partei und unter Würdigung des Angriffs auf das Wohnhaus der Eltern des Klägers im Januar 2006. Insoweit kann vollumfänglich auf die diesbezüglichen Ausführungen im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG verwiesen werden.

Darüber hinaus ist auch der erforderliche Zusammenhang zwischen der geltend gemachten (Vor-)Verfolgung und dem künftigen befürchteten Schaden sowie mit dem Zweck des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, den Schutz des Betroffenen vor Gefahren im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts sicherzustellen, nicht erkennbar.

Die von der bereits dargestellten, immer noch instabilen Sicherheitslage im Irak ausgehende Gefährdung betrifft neben Angehörigen bestimmter Personengruppen, insbesondere Regierungs-, Streit- und Sicherheitskräften, eine Vielzahl von Zivilpersonen und stellt damit eine Gefahr dar, der letztlich die Bevölkerung im Irak - vorbehaltlich ggf. der in der kurdischen Autonomieregion - KRG - wohnenden Personen -

vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 11.4.2010 und vom 28.11.2010, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak: Die sozioökonomische Situation im Nordirak von Mai 2010, Bundesasylamt vom 26.1.2011, Irak Sicherheitslage in Bagdad

allgemein ausgesetzt ist.

Die für die Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erforderliche erhebliche individuelle Gefahr kann ausgehend von den genannten Maßstäben indes erst dann bejaht werden, wenn sich allgemeine Gefahren eines innerstaatlichen oder internationalen bewaffneten Konflikts mit der Folge einer ernsthaften persönlichen Betroffenheit aller Bewohner der maßgeblichen Region verdichten oder sich für den Einzelnen durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche individuellen gefahrerhöhenden Umstände können sich - wie dargelegt - auch aus einer Gruppenzugehörigkeit erheben. Dies setzt aber eine solche Gefahrendichte voraus, dass ein in sein Heimatland zurückkehrender Iraker ernsthaft befürchten muss, selbst Opfer eines Terroranschlages zu werden oder ansonsten infolge stattfindender Kampfhandlungen am Leben oder körperlicher Unversehrtheit beschädigt zu werden

vgl. BVerwG, Urteil vom 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, a.a.O.; OVG Münster, Urteil vom 29.10.2010, a.a.O..

Bei Auswertung der vorstehend im Einzelnen genannten Erkenntnisquellen kann jedoch weder landesweit noch am Herkunftsort des Klägers Mossul oder auch an seinem Geburtsort Erbil eine derart hohe Gefahrendichte festgestellt werden, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Wegen der landesweiten Gefahrendichte im Einzelnen kann auf die eingehenden Ausführungen zur Gruppenverfolgung von Sunniten im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG verwiesen werden.

Die Lage in der nach der o.g. Rechtsprechung für den Rückkehrfall vornehmlich in den Blick zu nehmenden Herkunftsregion des Klägers, der Provinz Ninive mit der Hauptstadt Mossul, stellt sich sodann wie folgt dar:

Mossul ist die zweitgrößte Stadt des Irak mit 1,7 Millionen Einwohnern. Es handelt sich um ein ethnisches Mischgebiet und die Hauptbevölkerungsgruppen sind Kurden, Araber und Turkmenen. Der Rest der Provinz ist überwiegend sunnitisch-arabisch geprägt, abgesehen vom Norden mit überwiegend kurdischer Bevölkerung sowie Turkmenen, Christen und anderen Minderheiten. Die Stadt ist eines der instabilsten Gebiete der Provinz und auch des Irak

vgl. hierzu BAMF, Irak, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, Januar 2010, insbesondere unter Berufung auf Angaben des Iraq Body Count, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und des U.S. Department of Defense,

In Mossul selbst soll es Berichten zufolge vielfach Morde und Erpressungen geben. Die sog. „high profile attacks“ (Autobombenanschläge, Selbstmordanschläge mit Autobomben und sonstige Selbstmordattentate) finden allerdings eher außerhalb der Stadt statt. Mossul soll nach den genannten Erkenntnissen nun sicherer sein als in den vergangenen Jahren. Während nach Presseberichten im Januar 2009 noch täglich zwischen neun und zehn Anschläge zu verzeichnen waren, sollen es im November 2009 weniger als vier Angriffe pro Tag gewesen sein. Nach einem anderen Bericht gab es im Jahr 2009 durchschnittlich sechs bis acht Vorfälle am Tag, wobei der Schwerpunkt auf den Gebieten in der Umgebung von Mossul lag.

Konkrete Opferzahlen für Mossul liegen dem Senat nicht vor. Für die Provinz Ninive sind jedoch - wie ebenfalls im Rahmen der Gruppenverfolgung dargelegt - rückläufige Opferzahlen zu verzeichnen. Für das Jahr 2009 ist insoweit von einer Anschlagsdichte von 0,0301 % auszugehen.

Nach diesen Erkenntnissen kann selbst unter Annahme eines innerstaatlichen Konflikts in der Herkunftsprovinz Ninive nicht davon ausgegangen werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Darüber hinaus sind gefahrerhöhende Umstände im Falle des Klägers nicht festzustellen. Die Sicherheit der Gruppe der Heimkehrer hängt nach den Feststellungen des Auswärtigen Amtes

vgl. Lageberichte vom 28.11.2010 und vom 11.4.2010

im Wesentlichen davon ab, ob die Ethnie bzw. Glaubensgemeinschaft, welcher sie angehören, in der betreffenden Region die Mehrheit bildet. Da Kurden und Sunniten - wie der Kläger - in Mossul, einem ethnischen Mischgebiet, mit 40 % eine Hauptbevölkerungsgruppe darstellen

vgl. BAMF, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, von Januar 2010, S. 26

kann nicht mit dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad eine Gefährdung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer religiösen und/oder ethnischen Minderheit angenommen werden

zur Verfolgungs- und Gefährdungssituation i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vgl. etwa etwa OVG Lüneburg, Urteil vom 13.4.2011 - 13 LB 66/07 - im Falle eines aus der Provinz Dohuk stammenden Kurden; VGH Mannheim, Urteil vom 25.3.2010 - A 2 S 364/09 - (implizit) im Falle eines Kurden aus Kirkuk.

Da die seit dem Sturz der Regierung Saddam Husseins festzustellenden Gesamtopferzahlen sich kontinuierlich (von ca. 27000 Toten im Jahr 2003 auf ca. 4000 Tote) reduziert haben, ist auch eine Verschärfung dieser Situation nicht zu prognostizieren.

Gleiches gilt, wenn man eine Rückkehr des Klägers in seine Stammregion, die Provinz Erbil zugrunde legt. Dort wurden - wie im Rahmen der Prüfung einer Gruppenverfolgung ausgeführt - für das Jahr 2008 je 100.000 Einwohner 0,5 Tote und für das Jahr 2009 2,2 Tote je 100.000 Einwohner dokumentiert, also noch weit geringere Zahlen als für den Bereich Mossul/Provinz Ninive.

Die Einschätzung des Senats zur allgemeinen Lage im Irak und zur Gruppe der Kurden und Sunniten entspricht der jüngeren Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte

vgl. OVG Münster, Urteile vom 29.10.2009, a.a.O., VGH Mannheim, Urteil vom 25.3.2010 - A 2 S 364/09 - und Beschluss vom 12.8.2010 - A 2 S 1134/10; VGH München, Urteil vom 21.1.2010 - 13a B 08.30285 - im Falle eines kurdischen Volkszugehörigen sunnitischer Religionszugehörigkeit aus Mossul, jeweils zitiert nach juris.

Auch das Bundesverwaltungsgericht hat entsprechende Nichtzulassungsbeschwerden zurückgewiesen

vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 15.2.2011 - 10 B 24/10 - , vom 28.9.2010 - 10 B 25/10 -.

Es liegen bei dem Kläger auch keine weiteren individuellen gefahrerhöhenden Umstände vor. Er gehört insbesondere keiner der in den o.g. Lageberichten des Auswärtigen Amtes und weiteren Erkenntnisquellen bezeichneten gefährdeten speziellen Personengruppen an.

Dass die angebliche frühere Mitgliedschaft des Vaters des Klägers in der Baath-Partei keinen gefahrerhöhenden Umstand darstellt, wurde bereits dargelegt.

Nach allem liegt ein Abschiebungsverbot i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht vor.

Durchgreifende Anhaltspunkte für eine Unzulässigkeit der Abschiebung des Klägers nach Maßgabe der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - Europäische Menschenrechtskonvention - (EMRK), die zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führen könnten, sind ebenfalls nicht nach dem auch hier anzuwendenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit festzustellen. Die konkrete Gefahr einer von der Konvention erfassten Rechtsgutbeeinträchtigung wegen seiner Religions- und Volkszugehörigkeit oder aus sonstigen Gründen kann nach den vorstehenden Ausführungen, auf die verwiesen wird, nicht angenommen werden. Insbesondere ist nach der Auskunftslage seit dem Sturz des Saddam Regimes eine konkrete Gefahr einer unmenschlichen Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK des Klägers wegen seiner Asylbeantragung und Aufenthaltes im Ausland nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten.

Aus gleichen Gründen wie vorstehend ist auch ein Anspruch des Klägers nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu verneinen.

Nach dieser Regelung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Vorschrift gewährt Schutz bei Gefahren, die nicht bereits vom Regelungsbereich der vorangegangenen Absätze erfasst werden. Sie betrifft nur solche Gefahren, die sich aus der Unzumutbarkeit des Aufenthalts im Zielland für diesen Ausländer herleiten und ausschließlich dort drohen (zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote). Unerheblich ist, ob die Gefahren von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren ausgehen oder wodurch sie hervorgerufen werden. Zu diesen Gefahren für den Ausländer zählen auch die Existenzbedingungen im Zielstaat.

Zu unterscheiden ist die erhebliche konkrete Gefahr, die den Ausländer aus individuellen Gründen betrifft und die Gefahr, die - wenn auch in individualisierbarer Weise - aus allgemeinen Gefahren herrührt. Der Ausdruck „erheblich“ bezieht sich dabei auf die Gefährdungsintensität. Zusätzlich wird durch das Element der „konkreten Gefahr“ für „diesen“ Ausländer das Erfordernis einer einzelfallbezogenen und individuell bestimmten Gefährdungssituation aufgestellt

hierzu Huber, AufenthG, § 60 Rdnr. 105 m.w.N..

Zwar ist die Abgrenzung im Einzelfall schwierig. Vorliegend kann nach den Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts indes nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei Rückkehr in sein Heimatland aus allein in seiner Person liegenden individuellen Gründen einer beachtlichen Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt sein würde.

Dies gilt insbesondere mit Blick auf die von ihm befürchteten Nachstellungen und Gefährdungen seitens Verwandter seiner Ehefrau wegen Verletzung der Familienehre („Entführung“ einer Irakerin in Deutschland, die er gegen den Willen der Eltern nach Geburt eines gemeinsamen Kindes nach religiösem Ritus geheiratet habe). Derartige Racheakte seitens privater Akteure können prinzipiell eine Gefährdungssituation im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen

vgl. hierzu OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27.1.2006 – 1 LB 22/05 -, zitiert nach juris.

Im Falle des Klägers sind sie jedoch nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu befürchten. Zwar sind nach der Auskunftslage im Irak sog. Ehrtötungen bzw. Racheakte zur Wiederherstellung der Familienehre durchaus verbreitet.

Nach Angaben des Auswärtigen Amtes

vgl. Lagebericht vom 28.11.2010; siehe im gegebenen Zusammenhang ebenso ai-report 2005

kommen sog. „Ehrenmorde“ im Alltag noch immer vor und bleiben weitgehend straffrei. In einigen Provinzen des Irak ereigneten sich zum Teil Steinigungen von Frauen durch die Dorfgemeinschaft bzw. Verwandte. Allein in der Region Kurdistan-Irak seien in der zweiten Jahreshälfte 2009 228 Fälle offiziell registriert worden, wobei die Dunkelziffer erheblich höher sein dürfte. Das irakische Strafrecht aus dem Jahr 1969 und dessen Ergänzungen erlaubten es den Gerichten, „ehrenhafte Motive“ als strafmindernde Faktoren anzusehen. Allerdings habe das kurdische Parlament die Paragraphen 128 und 130 des Strafgesetzbuchs für das Gebiet der kurdischen Regionalregierung außer Kraft gesetzt, womit strafmildernde „ehrenhafte Motive“ dort nicht mehr zur Geltung kommen dürfen. Die kurdische Regionalregierung, die im Jahr 2010 eine breite Kampagne zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen gestartet habe, habe insgesamt ihre Anstrengungen zum Schutz der Frauen verstärkt, u.a. seien im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie zwei staatliche Frauenhäuser eingerichtet worden.

Auch weitere Erkenntnisquellen bestätigen, dass gerade in den kurdischen Gebieten des Nordirak traditionelle Vorstellungen noch weit verbreitet sind, die Familie einer Frau (vor allem der Vater) ein entscheidendes Wort bei einer Heirat mitzureden hat und eine Eheschließung gegen den Willen des Vaters/der Familie auch Konsequenzen für den betroffenen Mann nach sich ziehen kann. Insbesondere aber sind voreheliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern für Frauen und Mädchen aller Gesellschaftsschichten tabu. Im Irak kann eine Schwangerschaft vor oder außerhalb der Ehe zu massiven Sanktionen bis hin zu sog. Ehrtötungen führen, gegen die staatlichen Schutz zu erhalten kaum möglich ist. Daher sind zwar in erster Linie die beteiligten Frauen und Mädchen gefährdet, aber auch Übergriffe gegen Männer durch Brüder und andere männliche Verwandte der Frau lassen sich feststellen

hierzu EZKS, etwa Stellungnahmen an VG Düsseldorf vom 31.3.2010 - zu Az. 16 K 8614/08.A -, an VG Göttingen vom 15.8.2008 zu Az. 2 A 69/07 und 3 A 70/07, an VG Regensburg vom 14.7.2006 zu Az. R0 4 K 05.30031 und vom 5.1.2006 zu Az. RO 8 K 05.30112, an VG Ansbach vom 12.9.2005 zu Az. 9 K 04.32509 sowie an VG Schwerin vom 14.3.2006 zu Az. 11 A 764/99

Nach Angaben von EZKS gibt es allerdings keine Statistiken, wie oft Männer von sog. Ehrenmordfällen betroffen sind. Aufgrund jahrelanger Erfahrung als Gutachter geht EZKS von einem Anteil von 10 % aus. Ohne genaue Kenntnis der konkreten familiären Umstände lässt sich aber nach Einschätzung des EZKS keine verlässliche Aussage über eine Wahrscheinlichkeit derartiger Fälle treffen. So verfügen zahlreiche Kurden und Araber über einen Stammeshintergrund, ohne dass von ihnen Ehrenmorde gutgeheißen oder gar selbst verübt würden. Fälle, in denen ausschließlich Männer getötet wurden, sind EZKS nicht bekannt.

Das DOI bestätigt in seinen Gutachten

an VG Göttingen vom 17.6.2008 zu Az. 2 A 68/07 an VG Ansbach vom 27.2.2003 (1357 al/br) zu Az. 9 K 02.31390 und an VG Berlin vom 31.10.2005 (1957 al/br) zu Az. VG 38 X 194.05

diese Einschätzung und führt aus, dass derartige Racheaktionen aber keineswegs regelmäßig und ausnahmslos zu erwarten seien. Im Falle einer sog. Raubheirat gegen den Willen der Familie könne der beteiligte Mann nach Einschätzung des DOI zwar in „heftigster“ Weise angegriffen und eventuell sogar getötet werden, dies zumeist aber nur, wenn die Betreffenden in flagranti ertappt würden.

Die genannten Erkenntnisse stimmen auch im Wesentlichen überein mit den von dem Kläger angeführten Erkenntnisquellen

hierzu Accord, Ehrenmorde und staatlicher Schutz, insbesondere in der Region Mossul; Danish Immigration Service, Honour Crimes against men in KRI and the Availability of Protection, 6.-10.1.2010,

wobei letzterer Bericht von der Abnahme der Zahl solcher Fälle in der jüngeren Vergangenheit ausgeht.

Der Kläger vermochte indes nicht glaubhaft zu machen, dass er im Rückkehrfall konkret bedroht wäre, einer derartigen Gefahr - Racheakt zur Wiederherstellung der Ehre bis hin zur sog. Ehrtötung - seitens im Nordirak lebender Verwandter seiner nach religiösem Ritus angetrauten Ehefrau und noch dazu landesweit ausgesetzt zu sein.

Nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat haben die in der Bundesrepublik ansässigen Eltern seiner Frau zwar seit dem Jahr 2008 mehrere Heiratsanträge von seiner Seite abgelehnt. Weitere Konsequenzen hatte die Fortsetzung der Beziehung bzw. sein wiederholtes Nachsuchen um eine Heiratserlaubnis seinen Bekundungen zufolge aber nicht. Insbesondere hat der Kläger nicht dargelegt, jemals konkret auch nur mündlich von der Kernfamilie oder weiteren hier lebenden Verwandten seiner Ehefrau zum Unterlassen der Beziehung aufgefordert und mit bestimmten Handlungsweisen bedroht worden zu sein. Auch sein Hinweis auf die (dreimalige) Nachfrage nach ihm und seiner Ehefrau bei der Ausländerbehörde Lebach durch deren Eltern und den Schwager ist nicht geeignet, eine derartige ernsthafte und konkrete Bedrohung darzutun. Sie lässt sich naheliegender mit dem wohlverstandenen Interesse der Eltern (und weiteren Verwandten) erklären, den neuen, ihnen bislang unbekannten Aufenthaltsort der Tochter zu erfahren. Darüber hinausgehende Befürchtungen des Klägers beruhen zur Überzeugung des Senats lediglich auf vagen Vermutungen.

Hat der Kläger mithin eine ihm von den engsten hier in Deutschland lebenden Verwandten seiner Ehefrau konkret drohende Gefahr von Racheakten nicht substantiiert dargelegt, kann von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer solchen seitens im Nordirak (in Kirkuk, Suleymania und Erbil) lebender, entfernterer Verwandter nicht ausgegangen werden, zumal derartige Racheakte nach der dargestellten Auskunftslage keinesfalls regelmäßig und ausnahmslos erfolgen, sondern vom Familienhintergrund und den konkreten Umständen der Ehrverletzung abhängen. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass der Kläger sich - den hier nicht beachtlich wahrscheinlichen - etwaigen Racheaktionen im Nordirak lebender Verwandter durch Aufenthaltsnahme in sunnitisch dominierten Gebieten im Zentralirak entziehen könnte.

Dem Kläger drohen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch keine anderen Gefahren. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die allgemeine Versorgungslage.

Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fallen die schwierigen Existenzbedingungen einer Vielzahl von Irakern, insbesondere hinsichtlich der Erlangung eines Arbeitsplatzes und der Sicherstellung allgemeiner und medizinischer Versorgung, die aus den vorstehend genannten Erkenntnisquellen hervorgehen, auch wenn sie den einzelnen Ausländer in individualisierbarer Weise betreffen sollten, hinsichtlich des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen prinzipiell nicht in die Entscheidungszuständigkeit des Bundesamtes. Bei derartigen – auch erheblichen – Gefährdungen ist die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch Satz 3 der Vorschrift „gesperrt“, wenn diese Gefahren zugleich einer Vielzahl anderer Personen im Abschiebezielstaat drohen

hierzu BVerwG, Entscheidungen vom 14.11.2007 - 10 B 47.07 - u.a.; vom 23.8.2006 - 1 B 60.06 -, Urteil vom 8.112.1998 - 9 C 4.98 - u.a., sowie grundlegend bereits BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 199 zu der nahezu wortgleichen Bestimmung des § 53 Abs. 6 AuslG, zitiert nach juris.

Fehlt in einem solchen Fall eine Entscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG, ist aus verfassungsrechtlichen Gründen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Einzelfallentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AuslG mit Blick auf Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nur dann ausnahmsweise zulässig und geboten, wenn die obersten Behörden der Bundesländer trotz einer - landesweiten - extremen Gefahrenlage von ihrer Ermessensermächtigung aus § 60 a AufenthG keinen Gebrauch gemacht haben (sog. „verfassungskonforme Überwindung der Sperrwirkung“)

vgl. auch hier BVerwG, Entscheidungen vom 29.6.2010 - 10 C 9.09 und 10 C 10.09 - und vom 14.11.2007 - 10 B 47.07 -, zitiert nach juris.

Eine derartige landesweite Extremgefahr hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 29.9.2006, a.a.O., verneint. Eine durchgreifende Änderung der allgemeinen Lebensverhältnisse, soweit sie nicht direkte Auswirkungen der im Irak noch festzustellenden Gewaltakte sind, ist nicht erkennbar. Derartiges wird von dem Kläger auch nicht vorgetragen.

Zwar ergibt sich aus der Auskunftslage,

vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 28.11.2010; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak: Die aktuelle Entwicklung im Zentral- und Südirak vom 5.11.2009, UNHCR an Hess.VGH vom 16.9.2009

dass sich im Irak Einschränkungen beim Zugang zu Lebensmitteln, Unterkunft, Grundversorgungsdienstleistungen (wie Wasser, Strom), Einkommen, Beschäftigung, medizinischer Versorgung und Bildung feststellen lassen, die nach Einschätzung des UNHCR dazu führen, dass ein relativ normales Leben ohne Härten nicht geführt werden kann. Das 1995 eingeführte System zur Verteilung von Nahrungsmitteln (Public Distribution System) hat sich seit 2003 verschlechtert, viele Menschen erhalten nicht die festgelegte Ration, die Qualität der Nahrungsmittel ist oft minderwertig, auch kann es zu Schwierigkeiten bei der Erneuerung der Lebensmittelkarten kommen. Indes sind durchgreifende Anhaltspunkte für i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 relevante Gefahren wie eine drohende Nahrungsmittelknappheit oder eine bevorstehende Hungerkatastrophe nicht zu verzeichnen. Weiterhin fließen internationale Hilfsgelder in den Irak und werden vom Handelsministerium Lebensmittel verteilt. Zudem versucht die irakische Regierung finanzielle Anreize zu gewähren, um ins Ausland geflohene Iraker zu einer Rückkehr zu bewegen. Bis Ende 2008 sind 40.060 Familien in den Irak zurückgekehrt. Im Jahr 2010 kehrten 118.890 Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge in den Irak bzw. an ihre Heimatorte zurück. Dies waren zwar 40 % weniger als im Jahr 2009, belegt jedoch einen insgesamt aufstrebenden Rückkehrwillen

vgl. zu letzterem UNHCR: Iraq Refuges Returns fell from in 2010 vom 28.1.2011.

Ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann daher nach allem nicht angenommen werden.

Die Berufung des Klägers wird daher zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht gegeben sind.

Gründe

Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Der Bescheid der Beklagten vom 15.1.2007 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Dem Kläger steht nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) kein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor.

I.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 3 AsylVfG.

Die von dem Kläger begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 3 AsylVfG ist zu verneinen, weil er nicht glaubhaft darlegen konnte, dass er aus begründeter Furcht vor (bereits erlittener oder unmittelbar bevorstehender) politischer Verfolgung aus seinem Heimatland ausgereist ist bzw. dass ihm gegenwärtig eine solche aus den in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Gründen droht.

Er ist unverfolgt aus dem Irak ausgereist und muss im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten, bei einer Rückkehr dorthin relevanten Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt zu sein.

Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung des Abkommens vom 28.6.1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist, wobei eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung an das Geschlecht anknüpft. Eine Verfolgung in diesem Sinne kann nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG von dem Staat (lit. a), Parteien und Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen (lit. b) oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die unter lit. a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (lit. c).

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 3 AsylVfG unterliegt im Wesentlichen den gleichen Anforderungen, nach denen auch eine Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a Abs. 1 GG erfolgt

hierzu etwa BVerwG, Urteil vom 29.5.2008 - 10 C 11.07 -, BVerwGE 131, 186 ff.; zur Vorgängerregelung des § 51 Abs. 1 AuslG: BVerwG, Urteil vom 18.2.1992 - 9 C 59.91 -, DÖV 1992, 582 f., zur Deckungsgleichheit von Art. 16 a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG mit dem Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention: BVerwG, Urteil vom 26.10.1993 - 9 C 50.92 u.a. -, NVwZ 1994, 500 ff.

Auch die Annahme einer relevanten Verfolgungssituation i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG setzt voraus, dass eine spezifische Zielrichtung vorliegt, d.h. die Verfolgung muss nach ihrer erkennbaren Gerichtetheit an die vorstehend genannten Merkmale anknüpfen. An einer solchen gezielten Rechtsverletzung fehlt es indes regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen

hierzu BVerfG, Beschluss vom 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 ff.; BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 ff.; siehe in diesem Zusammenhang auch Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie.

§ 60 Abs. 1 AufenthG trifft indes von Art. 16 a Abs. 1 GG abweichende Regelungen, soweit es Verfolgungen in Anknüpfung an das Geschlecht und eine nichtstaatliche Verfolgung betrifft. Insofern geht der Begriff der Verfolgung in § 60 Abs. 1 AufenthG über den Verfolgungsbegriff in Art. 16 a GG hinaus.

Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegt, sind zudem gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG die Bestimmungen der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie - QRL -) ergänzend anzuwenden, so insbesondere die Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10.

Die zum Asylgrundrecht nach Art. 16 a GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe, je nach dem, ob der Ausländer seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt ausgereist ist

vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 2.7.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341, und vom 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315

haben in die Qualifikationsrichtlinie keinen Eingang gefunden. Der sog. herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit ist insoweit durch die Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ersetzt worden, die sowohl für den Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG als auch für die weiteren unionsrechtlichen und nationalen Abschiebungsverbote des § 60 AufenthG gilt. Als Prognosemaßstab ist daher allein der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen

vgl. BVerwG, Urteile vom 27.4.2010 - BVerwG 10 C 5.09 - und vom 7.9.2010 - 10 C 11.09 -, OVG Münster, Urteil vom 17.8.2010 - 8 A 4063/06.A -, jeweils zitiert nach juris.

Nach Art. 4 Abs. 4 QRL i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 5, Abs. 11 AufenthG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

Die Vorschrift des Art. 4 Abs. 4 QRL begründet mithin für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden bedroht sind. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit einer Verfolgung bzw. des Eintritts eines sonstigen ernsthaften Schadens entkräften. Dies ist im Rahmen freier Beweiswürdigung zu beurteilen

vgl. BVerwG, Urteile vom 27.4.2010 - 10 C 5.09 - und vom 7.9.2010 - 10 C 11.09 - m.w.N., zitiert nach juris.

Die bereits erlittener Verfolgung gleichzustellende unmittelbar drohende Verfolgung setzt eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne Weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen musste

vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24.08 - m.w.N., zitiert nach juris.

Aus den in Art. 4 QRL geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Schutzsuchenden folgt, dass es auch unter Berücksichtigung der Vorgaben dieser Richtlinie Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er ist gehalten, unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung im genannten Sinne droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und von der Richtigkeit der Prognose drohender politischer Verfolgung gewinnen. Aufgrund der Beweisschwierigkeiten, in denen sich der Schutzsuchende hinsichtlich der asylbegründenden Vorgänge im Heimatland regelmäßig befindet, muss sich das Gericht jedoch mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig ausgeschlossen werden können

vgl. BVerwG vom 16.4.1985 - 9 C 109.84 -, zitiert nach juris.

Von diesen Maßstäben ausgehend kann der - wie noch auszuführen sein wird - unverfolgt ausgereiste Kläger auch bei (ergänzender) Anwendung der europarechtlichen Bestimmungen der sog. Qualifikationsrichtlinie die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich einer Abschiebung in den Irak nicht beanspruchen. Das gilt sowohl im Hinblick auf die von ihm vorgebrachten individuellen Gründe als auch im Hinblick auf die Geltendmachung der im Irak herrschenden allgemeinen Lage.

Der Kläger ist als siebzehnjähriger Schüler ausgereist und hat sich nach eigenem Bekunden niemals selbst politisch betätigt und vor seiner Ausreise auch keinerlei Probleme mit irakischen hoheitlichen Stellen gehabt. Als verfolgungsbegründend führte er durchgängig allein den Überfall am 14.1.2006 auf das Haus seiner Familie in Mossul (Tötung seines Vaters und eines seiner Brüder, Verletzung mit späterer Todesfolge seiner Mutter) durch ihm unbekannte Täter - seinen Vermutungen nach irakische Polizisten - an, den er auf die Mitgliedschaft seines Vaters in der Baath-Partei des ehemaligen Präsidenten Saddam Hussein zurückführt.

Dem auch noch bei seiner informatorischen Anhörung vor dem Senat hinsichtlich der konkreten Verfolgungsintention des Vorfalls vage gebliebenen, vornehmlich auf Mutmaßungen beruhenden Vorbringen des Klägers kann indes eine den Anforderungen des § 60 Abs. 1 AufenthG entsprechende Verfolgungssituation nicht entnommen werden. Die erstinstanzliche Annahme, dass es zum damaligen Zeitpunkt der Ausreise des Klägers (ebenso wie noch heute) im Irak eine Unzahl von Morden, Anschlägen und kriminellen Aktivitäten gegen Leib, Leben und Freiheit anderer gegeben habe, deren nähere Motive unklar bzw. nicht aufklärbar seien, stimmt mit der Erkenntnislage des Senats überein

vgl. hierzu insbesondere Urteil des Senats vom 29.9.2006 - 3 R 6/06 - m.w.N.. für den damaligen Ausreisezeitpunkt; Lageberichte Irak des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005; Deutsches Orient Institut - DOI - an VG Aachen vom 1.9.2006 (2124 al/br) zu Az. 7 C 2353/05.A.

Die genaue Motivation dokumentierter Gewaltakte und auch die Zuordnung zu einem bestimmten Täter-(Kreis) lassen sich sowohl zum damaligen Zeitpunkt als auch heute noch nur schwer feststellen. Es lagen und liegen teils politische, teils kriminelle oder teils persönliche rachebedingte Motivationen und deren Mischformen vor. Es werden aber auch, ohne dass sich dies im Einzelfall stets mit Bestimmtheit feststellen ließe, reine Willküraktionen mit Zufallsopfern verübt, die allein dem Ziel der allgemeinen Destabilisierung des Landes dienen. Auch im Falle des Klägers blieben die Hintergründe des von ihm vorgetragenen Überfalls auf seine Familie unklar.

Des weiteren lässt sich der Auskunftslage nicht entnehmen, dass zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers eine sog. Sippenhaft bzw. Racheaktionen gegenüber Familienangehörigen von Mitgliedern - selbst höherrangiger Funktionäre - der ehemaligen Baath-Partei im Irak praktiziert wurden. Entsprechendes ist auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts auf absehbare Zeit nicht zu befürchten.

Anhänger und Mitglieder der 1968 gegründeten und im Mai 2003 aufgelösten Baath-Partei des ehemaligen Präsidenten Saddam Hussein konnten zwar in der Zeit unmittelbar nach dessen Sturz in bestimmten Fällen in verstärktem Maß Opfer von Bedrohungen, Racheakten und Attentaten - besonders im Raum Bagdad - werden

hierzu etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe - SFH - vom 27.1.2006, Zur Gefährdung von ehemaligen Mitgliedern der Baath-Partei, Positionspapier vom 25.6.2007 und vom 22.5.2007 - Irak-Update -,

deren Hintergründe im Einzelfall zumeist nicht aufklärbar waren. Auch ließ sich zum damaligen Zeitpunkt weder eine generelle Schutzfähigkeit noch Schutzwilligkeit staatlicher Stellen gegenüber gefährdeten (ehemaligen) Baath-Mitgliedern feststellen. Es gab Namenslisten mit „Baath-Ikonen“ und hochrangigen Funktionären. Die staatlichen Maßnahmen selbst beschränkten sich allerdings häufig auf die Entfernung der Betroffenen aus staatlichen Ämtern.

Auch nach Einschätzung des Deutschen Orient-Instituts waren Racheaktionen in einem beachtlichem Umfang von Seiten anderer - nicht-staatlicher - Stellen (nur) bis Ende 2003 zu verzeichnen,

hierzu etwa Deutsches Orient-Institut - DOI - an VG München vom 1.9.2006 (2112 al/br.) zu Az. M 9 K 05.50273.

Nach dessen Feststellungen

vgl. insoweit auch Stellungnahme an VG Bayreuth vom 31.10.2005 (1937 al/br) zu Az. B 6 K 04.30095

ist insoweit des weiteren zu berücksichtigen, dass die Baath-Partei eine den ganzen Staat und alle seine Positionen ergreifende „Massenveranstaltung“ gewesen sei und viele zur Mitgliedschaft in der Baath-Partei eher gezwungen worden seien. Die Mitgliedschaft in dieser Partei und die Durchführung von Parteiaktivitäten, sogar von Vertreibungen führe daher für sich genommen noch nicht zu Racheaktionen.

Auch nach dem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 27.1.2006 gehören zu dem gefährdeten Personenkreis (allein) höherrangige Baath-Mitglieder und Funktionäre, die sich persönlich Verbrechen und Grausamkeiten schuldig gemacht haben, so insbesondere Angehörige der Geheim- und Sicherheitsdienste und der Spezialtruppen der Fedayin Saddam. Für einfache Mitglieder der Baath-Partei verneint die Schweizerische Flüchtlingshilfe - auch unter Hinweis auf eine entsprechende damalige Einschätzung des UNHCR und des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien - EZKS – eine Verfolgungsgefahr. Da vor dem Sturz Saddams die einfache Mitgliedschaft in der Baath-Partei, deren Gesamtmitgliederzahl auf 2,5 Millionen (= ca. 10 % der Bevölkerung) geschätzt wird,

zur Zahl der Baath-Mitglieder siehe FAZ vom 19.12.2008 und 14.1.2008, Deutsche Welle vom 12.1.2008, SZ vom 15.1.2008,

oft ein „notwendiges Übel“ zur Erlangung einer Arbeitsstelle darstellte, galt und gilt eine solche ganz allgemein im Irak als akzeptierte Tatsache, so dass auf dieser Grundlage auch eine beachtliche Verfolgungsgefährdung von nicht-staatlicher Seite nicht angenommen werden kann.

In Übereinstimmung hiermit stellt die Berliner Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie e.V. (EZKS) fest,

vgl. Stellungnahme an VG Köln vom 17.12.2004 im Falle des Sohnes eines Einsatzleiters einer Sonderstreife in Mossul, der mit dem Geheimdienst zusammengearbeitet hatte,

dass die Mitgliedschaft in der Baath-Partei ein Massenphänomen war, um damals einigermaßen unbehelligt leben zu können und somit frühere Mitglieder, sofern sie nicht Angehörige der (sunnitischen) Elite waren und hervorgehobene Positionen innehatten oder sich an besonders grausamen Handlungen beteiligt hatten, nicht mit Racheakten rechnen mussten.

Zwar hat der Kläger geltend gemacht, sein Vater habe eine ihm nicht im Einzelnen bekannte Funktion im Komitee der Partei in Erbil (seinem Geburtsort) als Nachfolger eines 1987 getöteten Onkels innegehabt, wobei allerdings bereits 1991 ein Wegzug nach Mossul erfolgt war.

Eine herausgehobene Position des Vaters des Klägers im Sinne des vorstehend bezeichneten gefährdeten Personenkreises ergibt sich aus dieser Darlegung jedoch nicht. Von daher kann schon nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass der vom Kläger vorgetragene Überfall eine gezielte Verfolgung des Vaters wegen dessen politischer Aktivitäten beinhaltete, was der Kläger lediglich vermutete, ohne jedoch konkrete Anhaltspunkte dafür benennen zu können.

Dies bedarf indes keiner weiteren Vertiefung. Denn ungeachtet dessen, ob der Vater des Klägers Opfer einer zielgerichteten Verfolgung, sei es von staatlicher oder sei es von nicht-staatlicher Seite war, lässt sich der Auskunftslage entnehmen, dass der Kläger selbst wegen der Mitgliedschaft seines Vaters in der Baath-Partei eine Verfolgung von staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren (im Sinne einer Art Sippenhaft) vor seiner Ausreise nicht zu befürchten hatte.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe

vgl. Bericht zur Gefährdung von ehemaligen Mitgliedern der Baath-Partei vom 27.1.2006

führt unter Berufung auf verschiedene Quellen aus, dass es zum Ausreisezeitpunkt des Klägers nur wenig Hinweise auf die Verfolgung von Familienangehörigen selbst höherrangiger ehemaliger Baath-Mitglieder gebe. Familienmitglieder und Personen, die ehemaligen Baath-Funktionären nahegestanden hätten, würden wegen unter Saddams Regime begangener Verbrechen nicht in den Blick genommen. Fänden allerdings Angriffe auf Baath-Mitglieder statt, während sich diese in unmittelbarer Nähe von ihren Familienmitgliedern befänden, sei damit zu rechnen, dass letztere (de facto) vom Angriff ebenso getroffen werden könnten.

Diese Einschätzung stimmt daher mit der Stellungnahme

des DOI vom 1.9.2006 an VG München (2112 al/br) zu Az. M 9 K 05. 50273

überein, wonach Familienangehörige selbst des inneren Zirkels der Baath-Partei, u.a. die nunmehr in Jordanien lebenden Töchter Saddam Husseins, unangetastet blieben.

Racheakte, die sich gegen Verwandte ehemaliger Baathisten richteten, sind auch der Berliner Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie (EZKS)

in o.g. Stellungnahme vom 17.12.2004 an VG Köln

nicht bekannt. Bekannt sind der EZKS lediglich einige wenige Fälle, in denen bei Anschlägen auf ehemalige Baathisten die Schädigung von Familienmitgliedern billigend in Kauf genommen wurde. Nach den Feststellungen der EZKS bedeutet der Umstand, dass der der Bath-Partei angehörige Familienangehörige verstorben und somit nicht mehr greifbar ist, nicht, dass sich die Rache quasi automatisch gegen den Sohn oder andere Familienmitglieder richtet. Zwar sei nicht kategorisch auszuschließen, dass eine Person zum Opfer werde, weil ein enger Verwandter während der Baathherrschaft andere Personen geschädigt habe. Als typisch sei ein solcher Fall jedoch nicht zu bezeichnen.

Nach der genannten Auskunftslage kann daher davon ausgegangen werden, dass der vom Kläger geschilderte Angriff im Januar 2006 - ungeachtet von welcher Seite - nicht gezielt gegen ihn selbst wegen der ehemaligen Mitgliedschaft seines Vaters in der Baath-Partei gerichtet war. Auch eine nach diesem Angriff eventuell unmittelbar bevorstehende Verfolgung in Form einer sog. Sippenhaft lässt sich auf dieser Grundlage verneinen. Der Kläger, der sonst keine weiteren eigenen Verfolgungsgründe geltend gemacht hat, ist somit unter dem Blickwinkel eines individuellen Verfolgungsschicksals unverfolgt ausgereist.

Ebenso ist eine zum Zeitpunkt seiner Ausreise im Jahr 2006 bestehende Verfolgung des Klägers im Hinblick auf seine kurdische Volkszugehörigkeit und sunnitische Religionszugehörigkeit (im Sinne einer Gruppenverfolgung) zu verneinen.

Zur damaligen Verfolgungssituation dieser Gruppierungen kann vollumfänglich auf die den Beteiligten bekannten Feststellungen des Senats im Urteil vom 29.9.2006 - 3 R 6/06 -, das den Fall eines irakischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit und sunnitischer Religionszugehörigkeit betraf, verwiesen werden. Durchgreifende Anhaltspunkte dafür, dass die damalige Situation nunmehr (rückwirkend) anders zu bewerten wäre, liegen nicht vor.

Ist der Kläger demnach unverfolgt aus seinem Heimatland ausgereist, kommt ihm nach den eingangs genannten Voraussetzungen hinsichtlich der Überprüfung seines Begehrens auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 AufenthG die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL nicht zugute und ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden.

Die von ihm begehrte Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG ist zu verneinen, da aufgrund der aktuellen Erkenntnislage für den Kläger im Rückkehrfall eine beachtliche (überwiegende) Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung im Sinne der genannten Bestimmung nicht zu prognostizieren ist.

Dies gilt sowohl für die von ihm geltend gemachte individuelle Verfolgungsgefahr wegen der Mitgliedschaft seines Vaters in der Baath-Partei und den nunmehr vorgebrachten Nachfluchtgrund einer ihm angeblich drohenden Gefahr für Leib und Leben wegen Verletzung der Familienehre als auch mit Blick auf die allgemeine Lage im Irak.

Auch die Erkenntnisse für die Zeit nach seiner Ausreise bis heute lassen den Schluss auf eine dem Kläger im Rückkehrfall wegen der Mitgliedschaft seines Vaters in der Baath-Partei drohende Gefährdung nicht zu.

Nach übereinstimmenden Erkenntnissen

von EZKS an VG Düsseldorf vom 5.8.2008 im Falle des Sohnes eines Ministerstellvertreters in der Regierung Saddam Husseins, des Gutachtens von Brocks an VG Düsseldorf vom 26.2.2008, jeweils zu Az. 16 K 2407/07.A und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe - SFH - Bericht Irak: Die aktuelle Entwicklung im Zentral- und Südirak vom 5.11.2009

kann allenfalls eine - rückläufige - Gefährdungssituation für ehemals hochrangige Baathisten, die persönlich Verbrechen oder Grausamkeiten begangen haben, bestehen. Dies gilt nach den eindeutigen Aussagen der genannten Quellen aber nicht für deren Familienangehörige.

Auch nach den vorliegenden Presseberichten

vgl. NZZ vom 15.1.2008 und SZ vom 29.3.2007.

kann nicht von einer Verfolgungsgefährdung für nicht hervorgehobene Mitglieder der Baath-Partei und erst recht nicht für deren Angehörige ausgegangen werden.

Vielmehr öffnete man bereits in den Jahren 2003 und 2004 nach einer anfänglichen „Hexenjagd“ auf Baathisten allmählich die Tore des Staatsdienstes für Staatsbedienstete in untergeordneten Funktionen, die ehemals der Baath-Partei angehört hatten.

Im Mai 2008 wurde schließlich durch - auch von Schiiten akzeptiertem - Gesetz früheren Baath-Mitgliedern, die sich keiner Verbrechen schuldig gemacht hatten, die Rückkehr in den Staatsdienst erlaubt. 3500 ehemals führenden Parteimitgliedern wurden Pensionen angeboten und 13000 anderen Mitgliedern die Rückkehr in den Staatsdienst gestattet

vgl. FAZ vom 19.12.2008 und vom 14.1.2008 , Deutsche Welle vom 12.1.2008, SZ vom 15.1.2008.

Zur Zeit gibt es nur noch ganz vereinzelt Berichte über Tötungen von Mitgliedern der früheren Baath-Partei

vgl. etwa FAZ vom 28.3.2009.

Somit steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger im Rückkehrfall wegen der Mitgliedschaft seines Vaters in der Baath-Partei eine beachtliche Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG nicht zu befürchten hat.

Er hat eine solche auch nicht mit dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad mit Blick auf die von ihm nunmehr geltend gemachte Bedrohung wegen Verletzung der Familienehre durch im Irak lebende Verwandte der ohne Einwilligung der Eltern nach religiösem Ritus ihm angetrauten Ehefrau zu befürchten, mit der er mittlerweile ein gemeinsames Kind hat.

Eine nähere Bestimmung des Begriffs des nicht-staatlichen Akteurs im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG

vgl. dazu etwa OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27.1.2006 - 1 LB 22/05 -, InfAuslR 2007, 256 , wonach ein privat abgrenzbarer Personenkreis, der keine den Verfolgern nach § 60 Abs. 1 S. 4 lit. a und b AufenthG vergleichbare Gefährlichkeit und Struktur aufweist, als nichtstaatlicher Akteur ausscheidet und eine Bedrohung seitens Privater - wie etwa Blutrache - nicht unter § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufentG fallen, sondern lediglich im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG Relevanz erlangen kann; andererseits aber Huber, AufenthG 2010, § 60 Rdnr. 34 sowie BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 - 1 C 15.05 -, E 126, 243

kann vorliegend dahinstehen.

Denn die von dem Kläger geltend gemachte Gefährdung knüpft jedenfalls nicht an eines der nach § 60 Abs. 1 AufenthG geschützten Rechtsgüter: Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politische Verfolgung an. Anders als möglicherweise im Falle einer der Gefahr eines Ehrenmords ausgesetzten Frau knüpft die Bedrohung im Falles des Klägers auch nicht an das Geschlecht an, wobei auch hier das Tatbestandsmerkmal „Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe“ zunächst vorliegen müsste.

Die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG aufgrund der von dem Kläger befürchteten Gefährdung wegen Verletzung der Familienehre scheidet daher aus.

Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg auf eine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak berufen.

Die Zuerkennung einer Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 3 AsylVfG erfasst nach der Rechtsprechung nicht nur die Fälle anlassgeprägter Einzelverfolgung, sondern kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines relevanten Merkmals verfolgt werden, das der Asylbewerber mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (sog. Gruppenverfolgung)

hierzu etwa BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216 ff.

Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt dabei zunächst voraus, dass die festgestellten Maßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an das die verfolgte Gruppe kennzeichnende relevante Merkmal treffen. In Betracht kommt eine unmittelbare Anknüpfung an das die Verfolgung begründende Gruppenmerkmal - etwa die Volks- oder Religionszugehörigkeit - aber auch eine Verfolgung, der dieses Merkmal mittelbar zugrunde liegt.

Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt ferner eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus. Der Feststellung dicht und eng gestreuter Verfolgungsschläge bedarf es allerdings dann nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht

hierzu BVerwG, Entscheidungen vom 2.2.2010 – 10 B 18.09 –, vom 18.7.2006 - 1 C 15.05 - und vom 5.7.1994 - 9 C 158.94 - jeweils zitiert nach juris.

Für die Feststellung der erforderlichen Verfolgungsdichte ist eine so große Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht

hierzu etwa BVerwG, Entscheidungen vom 2.2.2010 - 10 B 18.09 - und vom 21.4.2009 - 10 C 11.08 -, jeweils zitiert nach juris.

Für die Beurteilung, ob die Verfolgungsdichte die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt, müssen Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Allein die Feststellung „zahlreicher“ oder „häufiger“ Eingriffe reicht nicht aus. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten möglicherweise bereits als bedrohlich erweist, kann bei einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen, weil sie in Bezug auf die Zahl der Gruppenmitglieder nicht ins Gewicht fällt und sich deshalb nicht als Bedrohung der Gruppe darstellt.

Bei der Prüfung einer Gruppenverfolgung sind die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtung zur Verfolgungsdichte nicht mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit festzustellen, sondern es genügt, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen. Dabei darf bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet auch aus einer Vielzahl vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der asylerheblichen Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe erfolgen. Auch für die Annahme einer erheblichen Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe müssen die gerichtlichen Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge aber in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden.

Bei der erforderlichen wertenden Gesamtschau der Verfolgungssituation sind nur asylrechtlich beachtliche, an die Merkmale in § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG anknüpfende Maßnahmen zu berücksichtigen. Nicht einzubeziehen sind hingegen rein kriminelle Verbrechen und ungezielte terroristische Anschläge, die allein die Destabilisierung der Lage im Irak bezwecken

vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a.a.O..

Eine solche Gruppenverfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG im Zusammenhang mit den europarechtlichen Bestimmungen der sog. Qualifikationsrichtlinie kann für sunnitische Religionszugehörige im Irak nicht angenommen werden. Auch individuelle gefahrerhöhende Umstände sind im Falle des Klägers nicht erkennbar.

Zur Verfolgungssituation sunnitischer Religionszugehöriger wie auch kurdischer Volkszugehöriger hat der Senat - wie dargelegt - grundlegend im Urteil vom 29.9.2006, a.a.O. sowie weiterführend

etwa in den Beschlüssen vom 12.3.2007 - 3 Q 114/06 - und 12.2.2007 - 3 Q 89/06 -,

festgestellt, dass bei einer relativierenden Betrachtung der Anzahl der Opfer der Verfolgungsschläge und des jeweiligen Anteils der sunnitischen und kurdischen Bevölkerungsgruppe eine Gruppenverfolgung mangels hinreichender Verfolgungsdichte nicht zu verzeichnen ist. Bei der vom Senat dort vorgenommenen Maximalbetrachtung einer Anschlagsverletzungsgefahr würden selbst bei Annahme einer äußersten Anschlagsdichte von 1:270 oder 0,37 Prozent bezogen auf die gesamte irakische Zivilbevölkerung einschließlich Sunniten und Kurden ein Anteil von 99,6 Prozent der dort lebenden Menschen von Übergriffen verschont bleiben.

An dieser Einschätzung hält der Senat auf der Grundlage des aktuellen Erkenntnismaterials fest. Eine Gruppenverfolgung der Bevölkerungsgruppen im Irak, denen der Kläger angehört, ist auch gegenwärtig zu verneinen.

Denn insbesondere die interkonfessionelle Gewalt (zwischen Sunniten und Schiiten) hat seit dem energischen Durchgreifen der irakischen Regierung gegen Milizen seit dem Frühjahr 2008 in einem relevanten Maß nachgelassen

hierzu etwa Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, (Lagebericht) vom 28.11.2010, vom 11.4.2010 und vom 6.10.2008.

Für den Kläger als Mitglied der Gruppe der (kurdischen) Sunniten kann daher derzeit eine Verfolgung im Irak nicht bejaht werden.

Auszugehen ist nach den vorliegenden Erkenntnissen von einer immer noch instabilen Sicherheitslage.

Nach den Feststellungen des Auswärtigen Amtes

in seinem jüngsten Lagebericht vom 28.11.2010

hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage im Irak zwar in den letzten Jahren erheblich verbessert, sie ist aber - außer in der Region Kurdistan-Irak (KRG), wo sowohl die Sicherheitslage als auch die Versorgungslage deutlich besser ist als im Rest des Landes - immer noch prekär. Nichtstaatliche Akteure, insbesondere Aufständische, sind für viele Menschenrechtsverletzungen im Irak verantwortlich. Angehörige staatlicher Organe (Polizei, Streitkräfte) begehen ebenfalls Menschenrechtsverletzungen. Die irakischen Sicherheitskräfte sind nach dem Abzug der US-Kampfverbände am 31.8.2010 nicht in der Lage, gefährdete oder verfolgte Bevölkerungsgruppen effektiv zu schützen.

Trotz einer signifikanten Abnahme der sicherheitsrelevanten Vorfälle seit Frühsommer 2007 sind nach Angaben des Auswärtigen Amtes auch im Jahresverlauf 2010 landesweit immer noch wöchentlich etwa 200 Anschläge mit einer nennenswerten Zahl von Todesopfern festzustellen. Schwerpunkte terroristischer Anschläge bleiben weiterhin Bagdad und der Zentralirak, der Nordosten (Diyala, Salah al Din) sowie die Provinzen Tamin mit der Hauptstadt Kirkuk und Ninive mit der Hauptstadt Mossul.

Im schiitisch dominierten und heterogeneren Südirak hingegen gibt es weniger Anschläge als im Zentralirak. Anschläge ereignen sich jedoch auch in südirakischen Städten wie Hilla, Nadschaf, Kut und Basra.

Hinsichtlich religiöser Minderheiten und Gruppierungen stellt das Auswärtige Amt trotz der (formal) verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung Maßnahmen von Diskriminierung und Verfolgung fest, in die selbst Angehörige der schiitischen Mehrheits-Bevölkerung einbezogen werden.

Eine unmittelbare Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nach Aussage des Auswärtigen Amtes allerdings nicht systematisch statt.

Mit dem Anschlag vom 22.2.2006 auf das schiitische Heiligtum in Samarra und den darauf folgenden wechselnden Vergeltungsaktionen begannen nach Feststelllungen des Auswärtigen Amtes im Irak bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen der sunnitischen und schiitischen Konfessionen mit monatlich Tausenden von Toten. Durch das Eingreifen der Regierung gegen schiitische Milizen einerseits und die veränderte Strategie der US-Streitkräfte gegenüber den sunnitischen Stämmen andererseits wurde diese Entwicklung aber weitestgehend gestoppt. Es ist nach Feststellungen des Auswärtigen Amtes gelungen, die Gefahr eines offenen Bürgerkriegs zwischen der jahrzehntelang diskriminierten schiitischen Mehrheit und der bisherigen sunnitischen Führungsschicht abzuwenden. Seit dem Durchgreifen der Regierung gegenüber schiitischen Milizen ist eine politische Annäherung zwischen Teilen des sunnitischen und schiitischen Spektrums zu verzeichnen, wenngleich bis in die jüngste Zeit radikale Täter - bislang erfolglos - immer wieder durch gezielte Anschläge auf Vertreter der jeweils anderen Gruppe versuchen, den Kreislauf der Vergeltung „anzuheizen“.

Eine konkrete verlässliche Bewertung der Sicherheitslage für rückkehrende Flüchtlinge und Binnenvertriebene ist nach Aussage des Auswärtigen Amtes sehr schwierig, da sich aus der Befragung von Rückkehrern ein uneinheitliches und fragmentarisches Bild ergibt. Danach ist die Sicherheit von Rückkehrern von einer Vielzahl von Faktoren abhängig - u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung, den Verhältnissen am Ort der Rückkehr - und kann sich sogar von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Nach wie vor können Rückkehrer Ziel von allgemeiner Gewaltkriminalität, Bedrohungen und Anschlägen sein, insbesondere in Gegenden, in denen ihre Ethnie bzw. religiöse Gruppierung nicht die Mehrheit darstellt.

Die im Lagebericht vom 28.11.2010 dargestellte allgemeine Sicherheitslage hat sich nach den Angaben des Auswärtigen Amtes bis in die jüngste Zeit

vgl. Reisewarnung, Stand 24.2.2011

fortgesetzt. So kommen insbesondere in Bagdad und den nördlich angrenzenden Provinzen Diyala, Ninive, Salah-al-Din und Tamin monatlich immer noch mehrere hundert Menschen bei Anschlägen und Feuergefechten ums Leben.

In den westlichen Provinzen sowie im schiitischen Süden des Landes ist - wenngleich auch hier Anschläge und Entführungen nicht ausgeschlossen werden können – hingegen eine Stabilisierung der Sicherheitssituation zu verzeichnen.

In eine positive Richtung weisen ferner die nach Erstellung des (jüngsten) Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 28.11.2010 eingegangenen Erkenntnisse zur politischen Lage, insbesondere über die Einbindung der im Irak konkurrierenden Gruppierungen in die jetzige Regierung.

Am 21.12.2010 wurde eine neue Regierung unter dem früheren Premierminister al Maliki gebildet. Al Maliki und seiner Partei Nationale Allianz ist es gelungen, ein Regierungsbündnis zu bilden, das auch politische Gegner einbezieht, wie etwa die al-Iraquia Partei des säkularen Schiiten Alawi sowie die Anhänger von al-Sadr. Die säkulare al-Iraquia-Partei, die von vielen Sunniten unterstützt wurde, erhält zehn und die schiitische al-Sadr Bewegung acht Ministerposten. Auch die Kurden stellen Minister, so dass die drei größten Bevölkerungsgruppen in der Regierung re-präsentiert sind

vgl. BAMF, Briefing Notes vom 27.12.2010, taz 5.5.2011.

Dies könnte sich - jedenfalls auf längere Sicht - durchaus „befriedend“ auf die interkonfessionellen Auseinandersetzungen auswirken und zu deren weiterer Abnahme beitragen .

Auch nach den Ausführungen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH)

Irak: Die aktuelle Entwicklung im Zentral- und Südirak - Update vom 5.11.2009 -

hat sich die Sicherheitslage im Zentral- und Südirak seit 2007 bedeutend verbessert, die Gewalt von sunnitischen und schiitischen Extremisten und Aufständischen im Vergleich zu 2006 oder 2007 abgenommen. Dennoch komme es weiterhin zu Anschlägen auf Militär, Polizei und Zivilisten. Wenn auch die militanten Gruppierungen geschwächt seien, seien sie jedoch noch immer in der Lage, Anschläge mit hohen Opferzahlen zu verüben. Bombenanschläge, Selbstmordanschläge und Sprengfallen gegen die Zivilbevölkerung führten zu Hunderten von Toten.

Gezielten Anschlägen fielen auch nach Einschätzung der SFH vor allem Sicherheitspersonal, Beamte, religiöse und politische Führer, spezielle Berufsgruppen wie Journalisten, Lehrer, medizinisches Personal, Richter und Anwälte, aber auch Minderheiten, etwa religiöse, zum Opfer.

In Übereinstimmung hiermit stellt auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ( BAMF) in seiner Dokumentation

Irak, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, Januar 2010

unter Berufung auf die CSIS (Center for Strategie und International Studies) von November 2009 sowie auf das US. Department of Defense von September 2009 fest, dass sich die Sicherheitslage im Irak insgesamt spürbar verbessert hat.

Laut der im o.g. Bericht angeführten Erkenntnisse der britischen Nichtregierungsorganisation Iraq Body Count, die seit dem Einmarsch der Koalitionsstreitkräfte in den Irak die Verluste unter der irakischen Zivilbevölkerung zählt, haben sich diese seit 2008 drastisch reduziert und sind im Jahr 2009 auf den niedrigsten Stand seit 2003 gefallen.

Amnesty international (ai) kommt ebenfalls zu dem Ergebnis

vgl. etwa ai-Report 2010,

dass die Gewalt im Irak seit 2009 abgenommen hat. Dennoch seien Regierungstruppen und bewaffnete politische Gruppierungen verantwortlich für schwere Menschenrechtsverletzungen wie Entführungen, Folter und Mord gewesen. Mit Selbstmordanschlägen und Attentaten an öffentlichen Orten sollten laut Angaben von ai offenbar gezielt Zivilisten getroffen werden. Viele Anschläge würden von Al Quaida und von sunnitischen Gruppen, aber auch schiitischen Milizen verübt. Unter den Opfern befänden sich Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, Journalisten, Homosexuelle und andere Zivilpersonen.

Schließlich stellt auch der UNHCR in seinem Positionspapier

zum Schutzbedarf irakischer Asylbewerber und zu den Möglichkeiten der Rückkehr irakischer Staatsangehöriger in Sicherheit und Würde vom 13.5.2009

fest, dass sich die Lage in den südirakischen Provinzen sowie in der zentralirakischen Provinz Anbar seit Ende 2007 verbessert habe. Es hätten Entwicklungen stattgefunden, die darauf hindeuteten, dass die Situation vor allem nicht mehr von jener allgegenwärtigen Gewalt gekennzeichnet sei, die die Grundlage für die bisherige Position zum Schutzbedarf irakischer Staatsangehöriger aus diesen Gebieten gebildet habe. Asylanträge von Schutzsuchenden aus den südirakischen Provinzen sollten daher - im Gegensatz zu der früheren Empfehlung einer generellen Schutzbedürftigkeit von Schutzsuchenden aus dem Irak - nunmehr unter Berücksichtung des individuellen Verfolgungsschicksals entschieden werden. Eine Einzelfallprüfung empfiehlt er auch für Asylbewerber aus den nordirakischen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaimaniya. Bezüglich Asylsuchender aus den zentralirakischen Provinzen Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninive und Salah al Din hält er nach wie vor eine internationale Schutzbedürftigkeit für gegeben.

Nach Feststellungen des UNHCR

in einer weiteren Stellungnahme vom 16.9.2009 an den Hessischen VGH

ist eine zentrale Ursache für die Verbesserung der Sicherheitslage und den Rückgang der Gewalt im Irak in der weitgehenden Entflechtung der Bevölkerung des Landes zu sehen. So habe sich seit den Bombenanschlägen auf die Goldene Moschee in Samara die demografische Struktur der Bevölkerung vor allem in vormals gemischt-konfessionellen Gebieten signifikant verändert. Besonders augenfällig seien diese Veränderungen in der irakischen Hauptstadt Bagdad. Während die Bevölkerung in Bagdad im Jahre 2003 mehrheitlich sunnitisch geprägt gewesen sei, stellten inzwischen schiitische Muslime in mehr als der Hälfte aller Bagdader Stadtteile die deutliche Bevölkerungsmehrheit dar. Die verbliebenen sunnitischen Enklaven seien von überwiegend schiitisch bewohnten Nachbargebieten eingeschlossen; mindestens elf der sunnitisch dominierten Stadtteile seien durch Betonmauern gegen die schiitischen Nachbarbezirke abgegrenzt, um Attacken schiitischer Milizen und Autobombenangriffen vorzubeugen. Dennoch hält der UNHCR eine interne Fluchtalternative für problematisch.

Hiervon ausgehend sind die im Irak sowie in der Heimatstadt bzw. der Heimatregion des Klägers festzustellenden Anschläge, deren Hintergründe und Zuordnung zu bestimmten Gruppierungen oder Stellen nach der Erkenntnislage im Einzelnen kaum bzw. schwer zu klären sind, zwar häufig als Akte willkürlicher Gewalt zu bewerten. Indes lassen sich weder die für die Annahme einer Gruppenverfolgung im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG erforderliche Verfolgungsdichte bezogen auf die Gruppe sunnitischer Religionszugehöriger in Relation zur Gesamtbevölkerungszahl, noch besondere in der Person des Klägers liegende, sog. gefahrenerhöhende Umstände feststellen.

Ungeachtet der vorliegend gegebenen Schwierigkeiten der Ermittlung einer exakten Tatsachengrundlage ist im Irak - wie dargelegt - insgesamt jedenfalls ein deutlicher Rückgang von sicherheitsrelevanten Vorfällen erkennbar; insbesondere hat die vom Kläger angeführte interkonfessionelle Gewalt, die nach Einschätzung des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien

vgl. EZKS, Bericht vom 20.1.2009 an VG München zu Az. M 4 K 08.50041/ M 4 K 08.5005

ihren Höhepunkt Ende 2006/Anfang 2007 erreicht hatte, nach 2007 in einem beachtlichen Umfang nachgelassen.

Den Lageberichten Irak des Auswärtigen Amtes

vom 28.11.2010 vom 11.4.2010,

zufolge wird die Gesamtbevölkerung Iraks auf etwa 32,3 Mio. Menschen geschätzt. Hiervon machen die Schiiten, die vorwiegend den Südosten bzw. Süden des Landes bewohnen, einen Anteil von 60 bis 65 %, (arabische) Sunniten, die mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak leben, einen Anteil von 17 bis 22 % und die vor allem im Norden lebenden Kurden einen Anteil von ca. 15 bis 20 % aus.

In Relation zu diesen Größenordnungen wird - wie noch auszuführen sein wird - die Zahl der dokumentierten Todesfälle den Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts an die erforderliche Intensität der Verfolgungsdichte offenkundig nicht gerecht. Selbst unter Berücksichtigung der fehlenden Einbeziehung von (Schwer)Verletzten, Traumatisierten und im Sinne des Art. 9 QRL Geschädigten in die vorliegenden Statistiken sowie der Unterstellung einer nachvollziehbaren erheblichen Dunkelziffer und Addition verschiedener Schädigungsformen ist eine in diesem Sinne beachtliche Verfolgungsdichte nicht feststellbar.

Im Einzelnen stellt sich die Entwicklung wie folgt dar:

Im Jahr 2006 waren nach Schätzung der regierungsunabhängigen Menschenrechtsorganisation Iraq Body Count (IBC) im Irak insgesamt ca. 27.796 und im Jahr 2007 noch ca. 24.605 zivile Opfer zu beklagen, was ca. 0,08 % der geschätzten Gesamtbevölkerung entspricht. Im Jahr 2008 sanken die Opferzahlen in der Zivilbevölkerung auf 9.222 (= ca. 0,03 %). Vergleicht man die von Iraq Body Count geschätzten Zivilopfer für das Jahr 2009 von insgesamt etwa 4.674 zivilen Opfern mit den entsprechenden Zahlen des Vorjahres, so sind die Opferzahlen nochmals um etwa die Hälfte gesunken

vgl. BAMF, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, Januar 2010.

In der Provinz Ninive, der Herkunftsregion des Klägers, gab es im Jahr 2008 je 100.000 Einwohner 41 Tote (je festgestellter Vorfall 2,3 Tote) und im Jahr 2009 je 100.000 Einwohner 30,1 Tote (845 Tote bei 474 Vorfällen, d.h. 1,8 Tote je Vorfall)

vgl. BAMF, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, Januar 2010.

An dem Geburtsort des Klägers Erbil (Sitz der Regierung der Autonomen Region Irakisch-Kurdistan) sind die Zahlen noch geringer. So gab es im Jahr 2008 in der ersten Jahreshälfte 7 Tote und 4 Vorfälle, im zweiten Halbjahr wurde kein Vorfall bekannt. Somit waren dort 0,5 – 0,4 Tote je 100.000 Einwohner (1,75 je dokumentierter Vorfall) zu verzeichnen. Im Jahr 2009 waren bei 28 Vorfällen 31 Tote zu beklagen (2,2 Tote je 100.000 Einwohner und 1,1 Toter pro Vorfall).

Diese Zahlen haben sich insgesamt - wenngleich es in den verschiedenen Erkenntnisquellen divergierende Angaben gibt - im Jahr 2010 nochmals deutlich verringert.

Laut Aussagen des Bundesasylamtes (Österreich)

vgl. Bericht Irak, Die Sicherheitslage in Bagdad vom 26.1.2011,

hat sich bei Auswertung der Statistik von Iraq Body Count (IBC) die Lage 2010 im Vergleich insbesondere zu den Jahren 2006 und 2007 mit hohen Opferzahlen von weit über 27000 und 24000 Toten deutlich verbessert.

Sie verringerte sich im Jahr 2010 auf den bislang tiefsten Stand seit 2003 mit 4028 Opfern.

Allerdings hat sich das Gewaltniveau im Vergleich zu 2009 nicht mehr so stark reduziert. Die monatliche Zahl der toten Zivilisten für 2010 (soweit verfügbar) schwankt zwischen 209 (Dezember 2010) und 517 Toten und im Jahr zuvor zwischen 205 und 585 Toten. Von den getöteten mindestens 4021 Personen (Stand: 30.12.2010 - mittlerweile 4028 Tote) starben 66 % durch Bomben von Aufständischen. Bagdad und Mossul waren weiterhin am meisten von der Gewalt betroffen, aber insgesamt gab es in 13 von 18 Provinzen Anschläge. Hinzu kommt, dass bei großen Bombenanschlägen mindestens dreimal so viele Menschen verletzt wie getötet wurden.

Nach den Ausführungen des Bundesasylamtes, .a.a.O., betont Iraq Body Count selbst den Rückgang der Gewalt. Die Organisation stellt aber auch fest, dass die Reduktion mit ca. 15 % im Vergleich zu 2009 viel niedriger war als bei früheren Jahresvergleichen und prognostiziert für die Zukunft eine sich auf niedrigem Niveau haltende vergleichbare Opferzahl.

Die vorgenannte Opferzahl wird in Presseberichten der

SZ vom 31.12.2010, der FAZ vom 31.12.2010 und der FR vom 31.12.2010

gleichfalls unter Berufung auf IBC mit zum Teil geringfügigen Abweichungen (25.12.2010: 3976 Zivilisten) bestätigt, allerdings wird dort der Jahrestrend als positiv bezeichnet. Nach Ankündigung der USA am 31.8.2010, die Kampfeinsätze einzustellen, habe sich zwischen August und September die Zahl der getöteten Zivilisten halbiert. Insgesamt verlangsame sich der Rückgang zwar, der im Jahr 2008 noch 63 % und 2009 50 % betragen habe. Allerdings weise IBC darauf hin, dass die innenpolitische Lage im Irak, die derzeit durch eine Regierungsbildung unter Einbindung aller wichtigen, auch religiösen Kräfte geprägt sei, - bei aller gebotenen Zurückhaltung - Anlass gebe, mit bescheidenem Optimismus ins neue Jahr zu gehen.

Auch laut Angaben des irakischen Gesundheitsministeriums ist die Gesamtzahl der getöteten Zivilisten im Irak gesunken. So seien im Vergleich zum Vorjahr mit 2773 Toten im Jahr 2010 2.505 Menschen bei Anschlägen und anderen Angriffen gestorben

vgl. NZZ vom 3.1.2011.

Bei Auswertung der vorstehend im Einzelnen genannten Erkenntnisquellen und angesichts der Opferzahlen in Relation zur Gesamtbevölkerungszahl ist eine Gefährdungslage für den Kläger in dem Sinne, dass er als Angehöriger der Gruppe der Sunniten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aktuell Gefahr liefe, im Rückkehrfall allein wegen seiner gruppenspezifischen Merkmale einer Verfolgung i. S. d. § 60 Abs. 1 AufenthG durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ausgesetzt zu sein, klar zu verneinen.

Bei der dargestellten rückläufigen Entwicklung der Gesamtopferzahlen ist zudem zu berücksichtigen, dass diese Zahlen nicht ausschließlich interkonfessionelle Übergriffe gegen Sunniten beinhalten, sondern auch konfessionelle Übergriffe gegen Schiiten, gegen andere Religions- und Volksgruppen sowie rein kriminelle Verbrechen und völlig ungezielte terroristische Anschläge mit Zufallsopfern, die allein die Destabilisierung der Lage im Irak bezwecken.

Auch muss eine „Dunkelziffer“ nicht in die vorgenannten Zählungen eingegangener Fälle ebenso hinzugerechnet werden wie eine unbekannte Anzahl ethnisch-religiöser Übergriffe auf Sunniten, die nicht zum Tod der Opfer geführt haben.

So weist etwa die Dokumentation von Iraq Body Count nur Todesopfer aus, nicht aber (asyl- und abschiebungsrechtlich beachtliche) Menschenrechtsverletzungen wie Verwundungen, Entführungen, Vergewaltigungen und Ähnliches

hierzu BAMF, o.g. Bericht von Januar 2010, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte.

Derartige Menschenrechtsverletzungen werden auch in Berichterstattungen anderer Quellen nicht oder nur selten genannt.

Auszugehen ist davon, dass konfessionell motivierte Anschläge sich weiterhin landesweit ereignen. Dennoch hat nach den vorliegenden Erkenntnissen seit 2007 die Gesamtzahl aller sicherheitsrelevanten Vorfälle in einem signifikanten Maß abgenommen (2007: insgesamt 80 %). Die Zahl der erkennbar konfessionsbezogenen Anschläge, Übergriffe und Vertreibungen hat sodann insbesondere seit 2008 deutlich abgenommen

vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 28.11.2010 und vom 11.4.2010; EZKS, Bericht vom 20.1.2009 an VG München zu Az. 4 K 08.50041/M 4 K 08.50005.

So lassen sich etwa für das Jahr 2010 im Gegensatz insbesondere zu den Jahren 2006/2007 - relativ gesehen - nur in wenigen Fällen eindeutig Opfer sunnitischer Glaubenszugehörigkeit feststellen.

Am 15.3.2010 wurden 7 Sunniten in Falludscha getötet

hierzu BAMF, Briefing Notes vom 22.3.2010

Am 5.4.2010 waren in Arab Jabour südlich von Bagdad 24 Tote sunnitischer Glaubenszugehörigkeit zu beklagen

vgl. BAMF, Briefing Notes vom 6.4.2010

Am 17.5.2010 wurde ein sunnitischer Prediger nördlich von Bagdad ermordet

vgl. Fischer Weltalmanach 2011, S. 232.

Am 18.7.2010 wurden in vorwiegend sunnitisch bewohnten Stadtteilen Bagdads 36 Menschen getötet, mehrheitlich aber Sicherheitskräfte und Soldaten

vgl. BAMF, Briefing Notes vom 18.7.2010.

Legt man bei einer Maximalbetrachtung die von Iraq Body Count festgestellten Zahlen von 4028 Toten für das Jahr 2010 zugrunde, denen sich nach der dargestellten Auskunftslage nur in wenigen Fällen eindeutig sunnitische Glaubenszugehörige zugeordnet werden können, lässt sich – ausgehend von dem Mittelwert des Bevölkerungsanteils der Sunniten von 20 %, also ca. 6,4 Millionen Menschen - selbst unter einer Hinzurechnung einer Dunkelziffer von nicht bekannten Todesfällen und Verletzten und i.S.d. Art. 9 QRL Geschädigten eine den Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts a.a.O. genügende Verfolgungsdichte nicht feststellen. Aufgrund der kontinuierlich rückläufigen Tendenz solcher Vorfälle und Übergriffe in den vergangenen Jahren, insbesondere ab 2008, ist auch für die absehbare Zukunft eine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak nicht zu prognostizieren. Dies belegen auch die Opferzahlen für 2011.

Die (Gesamt-)Opferzahlen bis Mai 2011 belaufen sich, soweit bislang bekannt, auf mindestens 469 Tote und 496 Verletzte.

Die meisten Toten und Verletzten gab es im Januar/Februar 2011 bei Anschlägen auf schiitische Pilger in der Nähe von Kerbala (mindestens 45 Tote und 150 Verletzte) und Samarra (50 Tote, 80 Verletzte)

hierzu BAMF, Briefing Notes vom 7.3.2011, FR und taz vom 21.1.2011, FAZ vom 21. und 25.1.2011, NZZ vom 28.1.2011 und FR vom 14.2.2011, SZ vom 14.2.2011; zu den bisherigen Gesamtopferzahlen BAMF, Briefing Notes vom 17.1.2011, vom 14.3.2011, vom 4.4.2011, vom 11.4.2011, NZZ vom 12.4.2011, FAZ vom 13.4.2011, NZZ vom 18. und 19.4.2011, FAZ vom 30.4. und 6.5.2011.

Eine im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG relevante Gefährdung mit Blick auf seine sunnitische Religionszugehörigkeit, die dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - landesweit - drohen würde, ist daher nicht anzunehmen.

Darüber hinaus sind zahlreiche irakische Städte bzw. Stadtviertel, insbesondere Bagdad, inzwischen konfessionell homogen. Sunniten wie Schiiten können dort, wo ihre konfessionelle Gruppe in der Mehrheit ist, relativ sicher vor konfessioneller Verfolgung leben.

So listet etwa EZKS

vgl. Bericht vom 20.1.2009 an VG München, a.a.O.

insbesondere Stadtviertel von Bagdad auf, die nachhaltig als „verfolgungsfreie“ Zonen für Sunniten zu bewerten sind, u.a. die Gebiete Adhamiyah, Al Mansour, Dora, Zayouna, Al Saydiya, Al A-amiriya, Al Adel, Al Khadhraa, Hayy al Jami’a. Darüber hinaus gibt es auch in der Umgebung von Bagdad mehrere sunnitisch dominierte Distrikte, in denen eine Verfolgungsgefahr zu verneinen ist.

Die Möglichkeit einer zumutbaren Aufenthaltsnahme für den in Erbil/Nordirak geborenen Kläger wäre darüber hinaus im Nordirak gegeben, aus dem seine Familie stammt. Dies ist sowohl unter dem vorgetragenen Aspekt der Zugehörigkeit zu einer ehemals baathistisch ausgerichteten Familie als auch seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit anzunehmen.

Eine Pro-baathistische Betätigung löst nach Einschätzung von EZKS

- H. Siamend - vom 22.3.2007 an VG Magdeburg zu Az. 4 A 190/04 MD und vom 24.11.2007 an VG Karlsruhe zu Az. A 3 K 10823/05

die Gefahr von Sanktionen etwa der KDP und der PUK im Nordirak nur dann aus, wenn sich die betreffende Person im Zuge ihrer Betätigung für die Baath-Partei besonderer Grausamkeiten schuldig gemacht hat oder in hohen Positionen befindlichen KDP- bzw. PUK-Politikern oder deren Verwandten geschadet hat;

Derartiges steht bei dem Kläger nicht im Raum

vgl. EZKS, Bericht vom 20.1.2009 an VG München, a.a.O.

Ausgehend von den vorstehend dargestellten Opferzahlen kann schließlich auch im Hinblick auf die Zugehörigkeit des Klägers zur Volksgruppe der Kurden, die ca. 15-20 % der Gesamtbevölkerung ausmacht,

vgl. Lagebericht Irak des Auswärtigen Amtes vom 28.11.2010

mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ihm drohende gruppenspezifische Verfolgung nicht angenommen werden.

Ist nach Vorstehendem ein Anspruch des Klägers auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG mangels individueller und gruppenbezogener Verfolgung zu verneinen, kann er auch eine Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht verlangen.

II.

Weder die in erster Linie zu prüfende Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2,3 und 7 Satz 2 AufenthG (sog. unionsrechtlich begründete Abschiebungsverbote) noch die in zweiter Linie zu prüfende Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und/oder 7 Satz 1 AufenthG (sog. nationale Abschiebungsverbote)

vgl. BVerwG, Urteile vom 29.6.2010 - 10 C 10/09 -, vom 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, jeweils zitiert nach juris

kann getroffen werden.

Auch im Rahmen dieser Prüfung ist Art. 4 Abs. 4 QRL anzuwenden. Dessen Vermutungsregelung greift ein, wenn der Antragsteller vor seiner Ausreise aus dem Heimatland einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 QRL erlitten hat oder unmittelbar von einem solchen Schaden bedroht war

zum Begriff der Vorschädigung vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 - BVerwG 10 C 4.09 -, zitiert nach juris.

Eine Vorverfolgung im flüchtlingsrechtlichen Sinne reicht für das Eingreifen der Vermutung im Rahmen des subsidiären Schutzes daher nur dann aus, wenn in ihr zugleich ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 QRL liegt, etwa wenn die Verfolgungsmaßnahme in Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung besteht. Außerdem setzt die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 QRL einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus

vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 - BVerwG 10 C 4.09 -, zitiert nach juris.

Denn die der Vorschrift zu Grunde liegende Vermutung, erneut von einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden bedroht zu sein, beruht wesentlich auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungs- oder Schadenswiederholung - bei gleichbleibender Ausgangssituation - aus tatsächlichen Gründen naheliegt. Es ist deshalb im Einzelfall jeweils zu prüfen und festzustellen, auf welche tatsächlichen Schadensumstände sich die Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 QRL erstreckt

vgl. OVG Münster, Beschluss vom 29.10.2010 - 9 A 3642/06.A - m.w.N., zitiert nach juris.

Nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 lit. b QRL darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Zwar können im Irak Fälle von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Bestrafung nicht generell ausgeschlossen werden. Diese entsprechen aber überwiegend Fällen politischer Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG. Da derartiges nach den vorstehenden Ausführungen dem Kläger im vorliegenden Fall nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht

zu diesem Maßstab im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG etwa VGH Mannheim, Urteil vom 21.4.2009 - A 4 S 120/09 -, zitiert nach juris,

ist auch eine konkrete Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG

zum Begriff der konkreten Gefahr etwa BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 1.94 -, zitiert nach juris

zu verneinen.

Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 3 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben. Nach § 60 Abs. 3 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe besteht. Dass er wegen einer Straftat gesucht werde, auf die im Irak die Todesstrafe steht, hat der Kläger selbst nicht geltend gemacht.

Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt nicht vor.

Auszugehen ist davon, dass die erst im bereits laufenden Gerichtsverfahren am 28.8.2007 in Kraft getretene Neuregelung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG Gegenstand des vorliegenden Verfahrens geworden ist,

vgl. in diesem Zusammenhang BVerwG, Urteil vom 29.6.2010 - 10 C 10.09 -; VGH Mannheim, Urteil vom 9.6.2009 - A 11 S 982/06 -, zitiert nach juris,

denn die Beklagte hat im angefochtenen Bescheid über sämtliche zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote entschieden und der Kläger hat die neuen, auf Unionsrecht beruhenden Abschiebungsverbote in das anhängige gerichtliche Verfahren miteinbezogen.

Die von dem Kläger in seiner Berufungsbegründung angesprochenen Zweifelsfragen zur Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und des Art. 15 lit. c QRL, insbesondere des Verständnisses des von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verwendeten Begriffs der „erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben“ sowie des Begriffs der „ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit“ im Sinne des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2004/83/EG - QRL - sind durch die inzwischen ergangenen Urteile des Bundesverwaltungsgerichts

vom 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198 und vom 14.7.2009 - 10 C 9.08 -, juris,

sowie durch Urteil des Europäischen Gerichtshofs

vom 17.2.2009 - C-465/07 -, EuGRZ 2009, 111

nunmehr hinreichend geklärt. Die Frage, ob § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 lit. c der Richtlinie eine Sperrwirkung entfaltet, ist durch das o.g. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.6.2008 ebenfalls geklärt.

Nach dem vorgenannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.7.2009, a.a.O., kann sich eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, die zugleich die entsprechenden Voraussetzungen des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2004/83/EG erfüllt, auch aus einer allgemeinen Gefahr für eine Vielzahl von Zivilpersonen im Rahmen eines innerstaatlichen oder internationalen bewaffneten Konflikts ergeben, wenn sich die Gefahr in der Person des Ausländers verdichtet. Eine derartige Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann sich aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann aber unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist dabei unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u.a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 lit. c QRL nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wofür Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe typische Beispiele sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt muss sich dabei nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken

vgl. BVerwG, Urteil vom 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, a.a.O..

Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Antragstellers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird, den „tatsächlichen Zielort“ des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat

vgl. EuGH, Urteil vom 17.2.2009, a.a.O..

Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Nach Art. 2 lit. e QRL muss der Ausländer bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt.

Gemessen an diesen Maßstäben kann für den Kläger keine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten innerstaatlichen oder internationalen Konflikts im Irak bzw. in dessen Teilen festgestellt werden.

Nach dem auch hier anzuwendenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vielmehr zu verneinen.

Ob die aktuelle allgemeine Lage im Irak und insbesondere in Mossul, der Herkunftsstadt des Klägers, oder in Erbil, seinem Geburtsort, bereits die Annahme eines landesweiten oder auch nur regionalen innerstaatlichen oder internationalen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG rechtfertigen könnte, kann vorliegend offenbleiben

ebenso etwa VGH München, Urteil vom 24.3.2011 - 20 B 10.30021 -, OVG Münster, Urteil vom 29.10.2010 - a.a.O. und VGH Mannheim, Urteil vom 12.8.2010 - A 2 S 1134/10 - und auch OVG Lüneburg, Urteil vom 13.4.2011 - 13 LB 66/07 -

Denn jedenfalls fehlt es an der geforderten erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben des Klägers als Angehöriger der Zivilbevölkerung.

Auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL kann sich der Kläger nicht berufen. Dies gilt sowohl hinsichtlich seiner sunnitischen Glaubenszugehörigkeit als auch hinsichtlich der Betätigung seines Vaters in der Baath-Partei und unter Würdigung des Angriffs auf das Wohnhaus der Eltern des Klägers im Januar 2006. Insoweit kann vollumfänglich auf die diesbezüglichen Ausführungen im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG verwiesen werden.

Darüber hinaus ist auch der erforderliche Zusammenhang zwischen der geltend gemachten (Vor-)Verfolgung und dem künftigen befürchteten Schaden sowie mit dem Zweck des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, den Schutz des Betroffenen vor Gefahren im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts sicherzustellen, nicht erkennbar.

Die von der bereits dargestellten, immer noch instabilen Sicherheitslage im Irak ausgehende Gefährdung betrifft neben Angehörigen bestimmter Personengruppen, insbesondere Regierungs-, Streit- und Sicherheitskräften, eine Vielzahl von Zivilpersonen und stellt damit eine Gefahr dar, der letztlich die Bevölkerung im Irak - vorbehaltlich ggf. der in der kurdischen Autonomieregion - KRG - wohnenden Personen -

vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 11.4.2010 und vom 28.11.2010, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak: Die sozioökonomische Situation im Nordirak von Mai 2010, Bundesasylamt vom 26.1.2011, Irak Sicherheitslage in Bagdad

allgemein ausgesetzt ist.

Die für die Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erforderliche erhebliche individuelle Gefahr kann ausgehend von den genannten Maßstäben indes erst dann bejaht werden, wenn sich allgemeine Gefahren eines innerstaatlichen oder internationalen bewaffneten Konflikts mit der Folge einer ernsthaften persönlichen Betroffenheit aller Bewohner der maßgeblichen Region verdichten oder sich für den Einzelnen durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche individuellen gefahrerhöhenden Umstände können sich - wie dargelegt - auch aus einer Gruppenzugehörigkeit erheben. Dies setzt aber eine solche Gefahrendichte voraus, dass ein in sein Heimatland zurückkehrender Iraker ernsthaft befürchten muss, selbst Opfer eines Terroranschlages zu werden oder ansonsten infolge stattfindender Kampfhandlungen am Leben oder körperlicher Unversehrtheit beschädigt zu werden

vgl. BVerwG, Urteil vom 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, a.a.O.; OVG Münster, Urteil vom 29.10.2010, a.a.O..

Bei Auswertung der vorstehend im Einzelnen genannten Erkenntnisquellen kann jedoch weder landesweit noch am Herkunftsort des Klägers Mossul oder auch an seinem Geburtsort Erbil eine derart hohe Gefahrendichte festgestellt werden, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Wegen der landesweiten Gefahrendichte im Einzelnen kann auf die eingehenden Ausführungen zur Gruppenverfolgung von Sunniten im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG verwiesen werden.

Die Lage in der nach der o.g. Rechtsprechung für den Rückkehrfall vornehmlich in den Blick zu nehmenden Herkunftsregion des Klägers, der Provinz Ninive mit der Hauptstadt Mossul, stellt sich sodann wie folgt dar:

Mossul ist die zweitgrößte Stadt des Irak mit 1,7 Millionen Einwohnern. Es handelt sich um ein ethnisches Mischgebiet und die Hauptbevölkerungsgruppen sind Kurden, Araber und Turkmenen. Der Rest der Provinz ist überwiegend sunnitisch-arabisch geprägt, abgesehen vom Norden mit überwiegend kurdischer Bevölkerung sowie Turkmenen, Christen und anderen Minderheiten. Die Stadt ist eines der instabilsten Gebiete der Provinz und auch des Irak

vgl. hierzu BAMF, Irak, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, Januar 2010, insbesondere unter Berufung auf Angaben des Iraq Body Count, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und des U.S. Department of Defense,

In Mossul selbst soll es Berichten zufolge vielfach Morde und Erpressungen geben. Die sog. „high profile attacks“ (Autobombenanschläge, Selbstmordanschläge mit Autobomben und sonstige Selbstmordattentate) finden allerdings eher außerhalb der Stadt statt. Mossul soll nach den genannten Erkenntnissen nun sicherer sein als in den vergangenen Jahren. Während nach Presseberichten im Januar 2009 noch täglich zwischen neun und zehn Anschläge zu verzeichnen waren, sollen es im November 2009 weniger als vier Angriffe pro Tag gewesen sein. Nach einem anderen Bericht gab es im Jahr 2009 durchschnittlich sechs bis acht Vorfälle am Tag, wobei der Schwerpunkt auf den Gebieten in der Umgebung von Mossul lag.

Konkrete Opferzahlen für Mossul liegen dem Senat nicht vor. Für die Provinz Ninive sind jedoch - wie ebenfalls im Rahmen der Gruppenverfolgung dargelegt - rückläufige Opferzahlen zu verzeichnen. Für das Jahr 2009 ist insoweit von einer Anschlagsdichte von 0,0301 % auszugehen.

Nach diesen Erkenntnissen kann selbst unter Annahme eines innerstaatlichen Konflikts in der Herkunftsprovinz Ninive nicht davon ausgegangen werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Darüber hinaus sind gefahrerhöhende Umstände im Falle des Klägers nicht festzustellen. Die Sicherheit der Gruppe der Heimkehrer hängt nach den Feststellungen des Auswärtigen Amtes

vgl. Lageberichte vom 28.11.2010 und vom 11.4.2010

im Wesentlichen davon ab, ob die Ethnie bzw. Glaubensgemeinschaft, welcher sie angehören, in der betreffenden Region die Mehrheit bildet. Da Kurden und Sunniten - wie der Kläger - in Mossul, einem ethnischen Mischgebiet, mit 40 % eine Hauptbevölkerungsgruppe darstellen

vgl. BAMF, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, von Januar 2010, S. 26

kann nicht mit dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad eine Gefährdung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer religiösen und/oder ethnischen Minderheit angenommen werden

zur Verfolgungs- und Gefährdungssituation i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vgl. etwa etwa OVG Lüneburg, Urteil vom 13.4.2011 - 13 LB 66/07 - im Falle eines aus der Provinz Dohuk stammenden Kurden; VGH Mannheim, Urteil vom 25.3.2010 - A 2 S 364/09 - (implizit) im Falle eines Kurden aus Kirkuk.

Da die seit dem Sturz der Regierung Saddam Husseins festzustellenden Gesamtopferzahlen sich kontinuierlich (von ca. 27000 Toten im Jahr 2003 auf ca. 4000 Tote) reduziert haben, ist auch eine Verschärfung dieser Situation nicht zu prognostizieren.

Gleiches gilt, wenn man eine Rückkehr des Klägers in seine Stammregion, die Provinz Erbil zugrunde legt. Dort wurden - wie im Rahmen der Prüfung einer Gruppenverfolgung ausgeführt - für das Jahr 2008 je 100.000 Einwohner 0,5 Tote und für das Jahr 2009 2,2 Tote je 100.000 Einwohner dokumentiert, also noch weit geringere Zahlen als für den Bereich Mossul/Provinz Ninive.

Die Einschätzung des Senats zur allgemeinen Lage im Irak und zur Gruppe der Kurden und Sunniten entspricht der jüngeren Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte

vgl. OVG Münster, Urteile vom 29.10.2009, a.a.O., VGH Mannheim, Urteil vom 25.3.2010 - A 2 S 364/09 - und Beschluss vom 12.8.2010 - A 2 S 1134/10; VGH München, Urteil vom 21.1.2010 - 13a B 08.30285 - im Falle eines kurdischen Volkszugehörigen sunnitischer Religionszugehörigkeit aus Mossul, jeweils zitiert nach juris.

Auch das Bundesverwaltungsgericht hat entsprechende Nichtzulassungsbeschwerden zurückgewiesen

vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 15.2.2011 - 10 B 24/10 - , vom 28.9.2010 - 10 B 25/10 -.

Es liegen bei dem Kläger auch keine weiteren individuellen gefahrerhöhenden Umstände vor. Er gehört insbesondere keiner der in den o.g. Lageberichten des Auswärtigen Amtes und weiteren Erkenntnisquellen bezeichneten gefährdeten speziellen Personengruppen an.

Dass die angebliche frühere Mitgliedschaft des Vaters des Klägers in der Baath-Partei keinen gefahrerhöhenden Umstand darstellt, wurde bereits dargelegt.

Nach allem liegt ein Abschiebungsverbot i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht vor.

Durchgreifende Anhaltspunkte für eine Unzulässigkeit der Abschiebung des Klägers nach Maßgabe der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - Europäische Menschenrechtskonvention - (EMRK), die zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führen könnten, sind ebenfalls nicht nach dem auch hier anzuwendenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit festzustellen. Die konkrete Gefahr einer von der Konvention erfassten Rechtsgutbeeinträchtigung wegen seiner Religions- und Volkszugehörigkeit oder aus sonstigen Gründen kann nach den vorstehenden Ausführungen, auf die verwiesen wird, nicht angenommen werden. Insbesondere ist nach der Auskunftslage seit dem Sturz des Saddam Regimes eine konkrete Gefahr einer unmenschlichen Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK des Klägers wegen seiner Asylbeantragung und Aufenthaltes im Ausland nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten.

Aus gleichen Gründen wie vorstehend ist auch ein Anspruch des Klägers nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu verneinen.

Nach dieser Regelung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Vorschrift gewährt Schutz bei Gefahren, die nicht bereits vom Regelungsbereich der vorangegangenen Absätze erfasst werden. Sie betrifft nur solche Gefahren, die sich aus der Unzumutbarkeit des Aufenthalts im Zielland für diesen Ausländer herleiten und ausschließlich dort drohen (zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote). Unerheblich ist, ob die Gefahren von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren ausgehen oder wodurch sie hervorgerufen werden. Zu diesen Gefahren für den Ausländer zählen auch die Existenzbedingungen im Zielstaat.

Zu unterscheiden ist die erhebliche konkrete Gefahr, die den Ausländer aus individuellen Gründen betrifft und die Gefahr, die - wenn auch in individualisierbarer Weise - aus allgemeinen Gefahren herrührt. Der Ausdruck „erheblich“ bezieht sich dabei auf die Gefährdungsintensität. Zusätzlich wird durch das Element der „konkreten Gefahr“ für „diesen“ Ausländer das Erfordernis einer einzelfallbezogenen und individuell bestimmten Gefährdungssituation aufgestellt

hierzu Huber, AufenthG, § 60 Rdnr. 105 m.w.N..

Zwar ist die Abgrenzung im Einzelfall schwierig. Vorliegend kann nach den Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts indes nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei Rückkehr in sein Heimatland aus allein in seiner Person liegenden individuellen Gründen einer beachtlichen Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt sein würde.

Dies gilt insbesondere mit Blick auf die von ihm befürchteten Nachstellungen und Gefährdungen seitens Verwandter seiner Ehefrau wegen Verletzung der Familienehre („Entführung“ einer Irakerin in Deutschland, die er gegen den Willen der Eltern nach Geburt eines gemeinsamen Kindes nach religiösem Ritus geheiratet habe). Derartige Racheakte seitens privater Akteure können prinzipiell eine Gefährdungssituation im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen

vgl. hierzu OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27.1.2006 – 1 LB 22/05 -, zitiert nach juris.

Im Falle des Klägers sind sie jedoch nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu befürchten. Zwar sind nach der Auskunftslage im Irak sog. Ehrtötungen bzw. Racheakte zur Wiederherstellung der Familienehre durchaus verbreitet.

Nach Angaben des Auswärtigen Amtes

vgl. Lagebericht vom 28.11.2010; siehe im gegebenen Zusammenhang ebenso ai-report 2005

kommen sog. „Ehrenmorde“ im Alltag noch immer vor und bleiben weitgehend straffrei. In einigen Provinzen des Irak ereigneten sich zum Teil Steinigungen von Frauen durch die Dorfgemeinschaft bzw. Verwandte. Allein in der Region Kurdistan-Irak seien in der zweiten Jahreshälfte 2009 228 Fälle offiziell registriert worden, wobei die Dunkelziffer erheblich höher sein dürfte. Das irakische Strafrecht aus dem Jahr 1969 und dessen Ergänzungen erlaubten es den Gerichten, „ehrenhafte Motive“ als strafmindernde Faktoren anzusehen. Allerdings habe das kurdische Parlament die Paragraphen 128 und 130 des Strafgesetzbuchs für das Gebiet der kurdischen Regionalregierung außer Kraft gesetzt, womit strafmildernde „ehrenhafte Motive“ dort nicht mehr zur Geltung kommen dürfen. Die kurdische Regionalregierung, die im Jahr 2010 eine breite Kampagne zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen gestartet habe, habe insgesamt ihre Anstrengungen zum Schutz der Frauen verstärkt, u.a. seien im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie zwei staatliche Frauenhäuser eingerichtet worden.

Auch weitere Erkenntnisquellen bestätigen, dass gerade in den kurdischen Gebieten des Nordirak traditionelle Vorstellungen noch weit verbreitet sind, die Familie einer Frau (vor allem der Vater) ein entscheidendes Wort bei einer Heirat mitzureden hat und eine Eheschließung gegen den Willen des Vaters/der Familie auch Konsequenzen für den betroffenen Mann nach sich ziehen kann. Insbesondere aber sind voreheliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern für Frauen und Mädchen aller Gesellschaftsschichten tabu. Im Irak kann eine Schwangerschaft vor oder außerhalb der Ehe zu massiven Sanktionen bis hin zu sog. Ehrtötungen führen, gegen die staatlichen Schutz zu erhalten kaum möglich ist. Daher sind zwar in erster Linie die beteiligten Frauen und Mädchen gefährdet, aber auch Übergriffe gegen Männer durch Brüder und andere männliche Verwandte der Frau lassen sich feststellen

hierzu EZKS, etwa Stellungnahmen an VG Düsseldorf vom 31.3.2010 - zu Az. 16 K 8614/08.A -, an VG Göttingen vom 15.8.2008 zu Az. 2 A 69/07 und 3 A 70/07, an VG Regensburg vom 14.7.2006 zu Az. R0 4 K 05.30031 und vom 5.1.2006 zu Az. RO 8 K 05.30112, an VG Ansbach vom 12.9.2005 zu Az. 9 K 04.32509 sowie an VG Schwerin vom 14.3.2006 zu Az. 11 A 764/99

Nach Angaben von EZKS gibt es allerdings keine Statistiken, wie oft Männer von sog. Ehrenmordfällen betroffen sind. Aufgrund jahrelanger Erfahrung als Gutachter geht EZKS von einem Anteil von 10 % aus. Ohne genaue Kenntnis der konkreten familiären Umstände lässt sich aber nach Einschätzung des EZKS keine verlässliche Aussage über eine Wahrscheinlichkeit derartiger Fälle treffen. So verfügen zahlreiche Kurden und Araber über einen Stammeshintergrund, ohne dass von ihnen Ehrenmorde gutgeheißen oder gar selbst verübt würden. Fälle, in denen ausschließlich Männer getötet wurden, sind EZKS nicht bekannt.

Das DOI bestätigt in seinen Gutachten

an VG Göttingen vom 17.6.2008 zu Az. 2 A 68/07 an VG Ansbach vom 27.2.2003 (1357 al/br) zu Az. 9 K 02.31390 und an VG Berlin vom 31.10.2005 (1957 al/br) zu Az. VG 38 X 194.05

diese Einschätzung und führt aus, dass derartige Racheaktionen aber keineswegs regelmäßig und ausnahmslos zu erwarten seien. Im Falle einer sog. Raubheirat gegen den Willen der Familie könne der beteiligte Mann nach Einschätzung des DOI zwar in „heftigster“ Weise angegriffen und eventuell sogar getötet werden, dies zumeist aber nur, wenn die Betreffenden in flagranti ertappt würden.

Die genannten Erkenntnisse stimmen auch im Wesentlichen überein mit den von dem Kläger angeführten Erkenntnisquellen

hierzu Accord, Ehrenmorde und staatlicher Schutz, insbesondere in der Region Mossul; Danish Immigration Service, Honour Crimes against men in KRI and the Availability of Protection, 6.-10.1.2010,

wobei letzterer Bericht von der Abnahme der Zahl solcher Fälle in der jüngeren Vergangenheit ausgeht.

Der Kläger vermochte indes nicht glaubhaft zu machen, dass er im Rückkehrfall konkret bedroht wäre, einer derartigen Gefahr - Racheakt zur Wiederherstellung der Ehre bis hin zur sog. Ehrtötung - seitens im Nordirak lebender Verwandter seiner nach religiösem Ritus angetrauten Ehefrau und noch dazu landesweit ausgesetzt zu sein.

Nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat haben die in der Bundesrepublik ansässigen Eltern seiner Frau zwar seit dem Jahr 2008 mehrere Heiratsanträge von seiner Seite abgelehnt. Weitere Konsequenzen hatte die Fortsetzung der Beziehung bzw. sein wiederholtes Nachsuchen um eine Heiratserlaubnis seinen Bekundungen zufolge aber nicht. Insbesondere hat der Kläger nicht dargelegt, jemals konkret auch nur mündlich von der Kernfamilie oder weiteren hier lebenden Verwandten seiner Ehefrau zum Unterlassen der Beziehung aufgefordert und mit bestimmten Handlungsweisen bedroht worden zu sein. Auch sein Hinweis auf die (dreimalige) Nachfrage nach ihm und seiner Ehefrau bei der Ausländerbehörde Lebach durch deren Eltern und den Schwager ist nicht geeignet, eine derartige ernsthafte und konkrete Bedrohung darzutun. Sie lässt sich naheliegender mit dem wohlverstandenen Interesse der Eltern (und weiteren Verwandten) erklären, den neuen, ihnen bislang unbekannten Aufenthaltsort der Tochter zu erfahren. Darüber hinausgehende Befürchtungen des Klägers beruhen zur Überzeugung des Senats lediglich auf vagen Vermutungen.

Hat der Kläger mithin eine ihm von den engsten hier in Deutschland lebenden Verwandten seiner Ehefrau konkret drohende Gefahr von Racheakten nicht substantiiert dargelegt, kann von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer solchen seitens im Nordirak (in Kirkuk, Suleymania und Erbil) lebender, entfernterer Verwandter nicht ausgegangen werden, zumal derartige Racheakte nach der dargestellten Auskunftslage keinesfalls regelmäßig und ausnahmslos erfolgen, sondern vom Familienhintergrund und den konkreten Umständen der Ehrverletzung abhängen. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass der Kläger sich - den hier nicht beachtlich wahrscheinlichen - etwaigen Racheaktionen im Nordirak lebender Verwandter durch Aufenthaltsnahme in sunnitisch dominierten Gebieten im Zentralirak entziehen könnte.

Dem Kläger drohen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch keine anderen Gefahren. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die allgemeine Versorgungslage.

Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fallen die schwierigen Existenzbedingungen einer Vielzahl von Irakern, insbesondere hinsichtlich der Erlangung eines Arbeitsplatzes und der Sicherstellung allgemeiner und medizinischer Versorgung, die aus den vorstehend genannten Erkenntnisquellen hervorgehen, auch wenn sie den einzelnen Ausländer in individualisierbarer Weise betreffen sollten, hinsichtlich des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen prinzipiell nicht in die Entscheidungszuständigkeit des Bundesamtes. Bei derartigen – auch erheblichen – Gefährdungen ist die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch Satz 3 der Vorschrift „gesperrt“, wenn diese Gefahren zugleich einer Vielzahl anderer Personen im Abschiebezielstaat drohen

hierzu BVerwG, Entscheidungen vom 14.11.2007 - 10 B 47.07 - u.a.; vom 23.8.2006 - 1 B 60.06 -, Urteil vom 8.112.1998 - 9 C 4.98 - u.a., sowie grundlegend bereits BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 199 zu der nahezu wortgleichen Bestimmung des § 53 Abs. 6 AuslG, zitiert nach juris.

Fehlt in einem solchen Fall eine Entscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG, ist aus verfassungsrechtlichen Gründen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Einzelfallentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AuslG mit Blick auf Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nur dann ausnahmsweise zulässig und geboten, wenn die obersten Behörden der Bundesländer trotz einer - landesweiten - extremen Gefahrenlage von ihrer Ermessensermächtigung aus § 60 a AufenthG keinen Gebrauch gemacht haben (sog. „verfassungskonforme Überwindung der Sperrwirkung“)

vgl. auch hier BVerwG, Entscheidungen vom 29.6.2010 - 10 C 9.09 und 10 C 10.09 - und vom 14.11.2007 - 10 B 47.07 -, zitiert nach juris.

Eine derartige landesweite Extremgefahr hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 29.9.2006, a.a.O., verneint. Eine durchgreifende Änderung der allgemeinen Lebensverhältnisse, soweit sie nicht direkte Auswirkungen der im Irak noch festzustellenden Gewaltakte sind, ist nicht erkennbar. Derartiges wird von dem Kläger auch nicht vorgetragen.

Zwar ergibt sich aus der Auskunftslage,

vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 28.11.2010; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak: Die aktuelle Entwicklung im Zentral- und Südirak vom 5.11.2009, UNHCR an Hess.VGH vom 16.9.2009

dass sich im Irak Einschränkungen beim Zugang zu Lebensmitteln, Unterkunft, Grundversorgungsdienstleistungen (wie Wasser, Strom), Einkommen, Beschäftigung, medizinischer Versorgung und Bildung feststellen lassen, die nach Einschätzung des UNHCR dazu führen, dass ein relativ normales Leben ohne Härten nicht geführt werden kann. Das 1995 eingeführte System zur Verteilung von Nahrungsmitteln (Public Distribution System) hat sich seit 2003 verschlechtert, viele Menschen erhalten nicht die festgelegte Ration, die Qualität der Nahrungsmittel ist oft minderwertig, auch kann es zu Schwierigkeiten bei der Erneuerung der Lebensmittelkarten kommen. Indes sind durchgreifende Anhaltspunkte für i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 relevante Gefahren wie eine drohende Nahrungsmittelknappheit oder eine bevorstehende Hungerkatastrophe nicht zu verzeichnen. Weiterhin fließen internationale Hilfsgelder in den Irak und werden vom Handelsministerium Lebensmittel verteilt. Zudem versucht die irakische Regierung finanzielle Anreize zu gewähren, um ins Ausland geflohene Iraker zu einer Rückkehr zu bewegen. Bis Ende 2008 sind 40.060 Familien in den Irak zurückgekehrt. Im Jahr 2010 kehrten 118.890 Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge in den Irak bzw. an ihre Heimatorte zurück. Dies waren zwar 40 % weniger als im Jahr 2009, belegt jedoch einen insgesamt aufstrebenden Rückkehrwillen

vgl. zu letzterem UNHCR: Iraq Refuges Returns fell from in 2010 vom 28.1.2011.

Ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann daher nach allem nicht angenommen werden.

Die Berufung des Klägers wird daher zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht gegeben sind.

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(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

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Tenor Die Berufung wird zurückgewiesen.Gerichtskosten werden nicht erhoben. Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens.Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.Die Revision wird nicht zugelassen. Tat

Referenzen

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger, der irakischer Staatsangehöriger ist, wurde am ....1964 in der Region Sulaymania/Nordirak geboren. Er gehört der Volksgruppe der Kurden und der Religionsgruppe der Sunniten an. Nach einer Ausbildung als Kfz-Mechaniker und Wehrdienstableistung war er in Bagdad in einem staatlichen Betrieb als Industrielehrer tätig.

Am 29.11.1995 reiste er von Bagdad aus kommend in Deutschland auf dem Landweg ein und stellte unter Vorlage eines irakischen Personalausweises am 7.12.1995 einen Asylantrag.

Bei seiner persönlichen Anhörung am 13.12.1995 (Behördenakte Bl. 18 ff.) trug er zur Begründung im Wesentlichen vor, er habe nach Ableistung seines Militärdienstes von 1987 bis 1991 sodann in einem staatlichen Betrieb in Bagdad gearbeitet, und zwar ab 1993 als Industrielehrer. In diesem Betrieb seien Militärfahrzeuge wie Panzer und andere Fahrzeuge repariert worden. Über diese Fahrzeuge und Geräte habe er Leute der kurdischen Partei PUK im Nordirak informiert. Er sei nur Sympathisant dieser Partei und Mitglied einer Unterorganisation gewesen. Am 1.11.1995 sei er vom Sicherheitsbeauftragten des Betriebs gewarnt worden, dass wegen der Weitergabe militärischer Informationen an seine Leute im Nordirak von der PUK ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden sei. Er sei bereits während seiner Militärzeit im Jahr 1990 wegen des gleichen Grundes festgenommen und nach zwei Monaten mangels Beweisen freigelassen worden. Am 2.11.1995 habe er Bagdad verlassen und sei über die Türkei nach Deutschland gelangt. Im Falle seiner Rückkehr in den Irak befürchte er, wegen Hochverrats und Desertion hingerichtet zu werden.

Durch Bescheid vom 4.3.1996 (Behördenakte Bl. 32) wurde der Asylantrag des Klägers mit Blick auf die Drittstaatenregelung abgelehnt, indessen Abschiebungsschutz „aufgrund des von dem Antragsteller“ geschilderten Sachverhalts (Bescheid S. 3) bejaht, da bereits die Asylantragstellung zu Verfolgungsmaßnahmen durch das irakische Regime führe.

Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 leitete die Beklagte mit Vermerk vom 30.8.2004 (Widerrufsakte Bl. 1) das Widerrufsverfahren mit Blick auf die neuen Verhältnisse im Irak ein und hörte den Kläger mit Schreiben vom 2.9.2004 zu dem beabsichtigten Widerruf an.

In dem Anhörungsverfahren machte der Kläger mit Schreiben vom 29.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 13) geltend, auch nach der Entmachtung Saddam Husseins sei von dessen Anhängern bei einer heutigen Rückkehr in den Irak weiterhin politische Verfolgung wegen Landesverrats zu befürchten. Eine grundlegende Veränderung der politischen Situation liege im Irak nach wie vor nicht vor. Es widerspreche der humanitären Intention der Genfer Flüchtlingskonvention, bei nicht hinreichend stabiler Veränderung der Verhältnisse im Heimatland einen einmal gewährten Flüchtlingsstatus zu entziehen. Die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft bedürfe eines Grundmaßes an Stabilität, wovon im Irak auch nach dem Sturz Saddam Husseins nicht die Rede sein könne. Auch bestehe keine ausreichende wirtschaftliche Existenzsicherung für Rückkehrer, was als zwingender Grund der Rückkehr entgegenstehe. Die Strukturen des ehemaligen Regimes Saddam Husseins seien bislang nicht zerschlagen.

Mit Bescheid vom 19.10.2004 (Widerrufsakte Bl. 18) widerrief die Beklagte die Flüchtlingsanerkennung in ihrem früheren Bescheid vom 4.3.1996 und stellte zusätzlich fest, Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG lägen nicht vor. Die Beklagte stellte sich auf den Standpunkt, dass sich die politische Situation im Irak grundlegend verändert habe und es keine Anhaltspunkte für eine Wiedererlangung der Macht durch das alte Regime gebe. Von der irakischen Übergangsregierung sei eine politische Verfolgung des Klägers nicht zu erwarten. Weiterhin sei es nicht nachvollziehbar, dass eine politisch motivierte Verfolgung des Klägers von Anhängern des alten Regimes ausgehe. Der Widerrufsbescheid wurde am 21.10.2004 zur Post gegeben.

Am 28.10.2004 hat der Kläger Klage erhoben.

Zur Begründung hat er im Wesentlichen vorgetragen: Seine ursprüngliche Anerkennung beruhe auf seinem individuellen Verfolgungsschicksal. Bei seiner Anhörung am 13.12.1995 habe er militärischen Geheimnisverrat zugunsten der kurdischen PUK geltend gemacht. Wegen dieses Sachverhalts hätte der Kläger zum Zeitpunkt seiner Flucht aus dem Irak auf jeden Fall mit politisch geprägter Verfolgung durch das Regime von Saddam Hussein rechnen müssen. Auch jetzt gebe es Gegensätze zwischen Arabern und Kurden im Irak, so dass der Kläger bei einer heutigen Rückkehr in das Heimatland wegen des früher begangenen militärischen Geheimnisverrats weiterhin zur Rechenschaft gezogen werde. Dem stehe nicht entgegen, dass das frühere Regime nicht mehr an der Macht sei. Als Kurde, der militärischen Geheimnisverrat begangen habe, müsse er auch heute von den aktuell an der Macht Befindlichen Verfolgung befürchten. Dabei könne er auch nicht auf den Nordirak als inländische Fluchtalternative verwiesen werden, da er dort ein ausreichendes Existenzminimum nur bei familiärer Bindung zum Nordirak erhalten könnte, an der es aber fehle. Dagegen werde der Kläger im Zentralirak aufgrund des von ihm begangenen militärischen Geheimnisverrats an die Kurden als Kollaborateur der USA angesehen. Die anhaltenden Anschläge im Irak würden nach dem Widerrufsbescheid gerade denjenigen Personen gelten, die der Kollaboration mit den USA verdächtigt würden. Die Übergangsregierung sei nicht in der Lage, den erforderlichen Schutz zu gewähren.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 19.10.2004 aufzuheben,

hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 19.10.2004 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegen.

Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf den angefochtenen Widerrufsbescheid schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 14.3.2006 – 2 K 35/06.A – die Klage abgewiesen.

Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, die im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung maßgeblichen Verhältnisse hätten sich nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erheblich und nicht nur vorübergehend verändert, sodass bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung drohe. Durch den allgemeinkundigen politischen Systemwechsel im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins durch die amerikanischen und britischen Truppen sei die früher von dessen Unrechtsregime ausgehende Gefahr einer politischen Verfolgung nunmehr eindeutig landesweit entfallen. Ungeachtet der nach wie vor schwierig abzuschätzenden künftigen Verhältnisse im Irak bestehe kein Anhaltspunkt für die Annahme, dass das gestürzte Regime Saddam Hussein jemals wieder an die Macht kommen werde und staatliche Verfolgungsmaßnahmen veranlassen könne. Früheres Verhalten, das unter dem gestürzten Regime Saddam Hussein zu einer Gefährdung hätte führen können, habe seine asylrelevante Bedeutung verloren. Dies gelte auch dann, wenn man zugunsten des Klägers annehme, dass er tatsächlich zum Nachteil des früheren Regimes von Saddam Hussein militärische Informationen an die kurdische Opposition weitergegeben habe. Von den amtierenden Machthabern im Irak, die selbst in Gegnerschaft zu Saddam Hussein stünden und selbst verfolgt worden seien, habe er aus diesen Gründen keine Verfolgungsmaßnahmen zu erwarten. Ebenso wenig sei feststellbar, dass er im Fall seiner Rückkehr in den Irak eine von nichtstaatlichen Akteuren nach Maßgabe des § 60 I 4 AufenthG ausgehende Verfolgung zu erwarten habe. Die Befürchtung des Klägers, dass er jetzt noch wegen des damaligen Geheimnisverrats von Anhängern des früheren Regimes als Kollaborateur der USA angesehen und verfolgt werde, stütze sich nicht auf konkrete Tatsachen.

Auch würden keine Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Insbesondere seien die Voraussetzungen einer Extremgefahr nach § 60 VII 1 AufenthG nicht einschlägig. Eine extreme Gefahrenlage liege im Irak nicht vor, ungeachtet der nach dem Sturz Saddam Husseins stark angestiegenen Kriminalität, verbunden mit Überfällen, Entführungen und täglich stattfindenden terroristischen Anschlägen, die auch zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung forderten. Auch wenn die zivilen Opfer der Terrorakte auf über 15.000, nach anderen Quellen auf 100.000 geschätzt würden, rechtfertige dies in der Relation zu der Bevölkerungszahl des Irak von rund 25 Millionen ersichtlich nicht die Annahme, jeder Iraker werde im Falle seiner Rückkehr unmittelbar und landesweit sehenden Auges Gefahr laufen, Opfer entsprechender terroristischer Anschläge zu werden. Überdies sei die Sicherheitslage im Nordirak im Allgemeinen besser als in Bagdad. Auch die allgemeine Versorgungslage rechtfertige keine Extremgefahr, denn es gebe keine konkreten Anhaltspunkte für eine drohende Nahrungsmittelknappheit oder gar eine Hungerkatastrophe, zumal ein Großteil der Bevölkerung weiterhin Lebensmittelrationen aus einem Programm der Vereinten Nationen erhalte.

Das Urteil wurde dem Kläger am 22.3.2006 zugestellt.

Am 5.4.2006 hat der Kläger Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt.

Mit Beschluss vom 10.5.2006 – 3 Q 103/06 – (Gerichtsakte Bl. 99) hat der Senat die Berufung wegen Grundsatzbedeutung zugelassen.

Der Kläger hat seine Berufung fristgemäß begründet.

Er trägt im Wesentlichen vor: Im Flüchtlingsrecht sei allgemein anerkannt, dass die politische Verfolgung des Bürgers eines Staates mit der Abwesenheit staatlichen Schutzes vor Verfolgung für den Betroffenen gleichzusetzen sei. Dies habe zur Konsequenz, dass ein Widerruf der Anerkennung als Flüchtling nur dann erfolgen könne, wenn für den Betroffenen in seinem Heimatland effektiver staatlicher Schutz wiederhergestellt sei und er unter Beachtung seiner Menschenwürde zurückkehren könne.

Dies setze zunächst einmal voraus, dass überhaupt funktionierende staatliche Strukturen bestünden. Das Bundesverwaltungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – zu Afghanistan die Feststellungen des OVG Schleswig-Holstein hinsichtlich des Bestehens einer effektiven staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt als nicht ausreichend angesehen; dies gelte auch für die Ausführungen des erstinstanzlichen Gerichts zum Bestehen einer effektiven staatlichen Gewalt im Irak.

Das Bundesverwaltungsgericht habe in diesem Urteil allerdings noch nicht zu der Frage Stellung genommen, ob für den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung die Wiederherstellung effektiven Schutzes durch den früheren Verfolgerstaat erforderlich sei und ebenso wenig dazu, ob dieser effektive Schutz im Irak wieder hergestellt sei.

Der Kläger begründet insbesondere mit Blick auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24.11.2005 seine Auffassung näher, dass das Regime Saddam Hussein zwar zwischenzeitlich gestürzt sei, effektiver staatlicher Schutz im Irak aber nicht wieder hergestellt sei. Die Regierung habe über die „grüne Zone“ Bagdads hinaus keinen Einfluss, während die Anhänger des früheren Diktators Saddam Hussein immer noch verfolgungsmächtig seien. Soweit sich die Regierung auf die Truppen der Allianz unter amerikanischer Führung stütze, reiche dies für die Wiederherstellung effektiven staatlichen Schutzes im Irak nicht aus, da vielmehr die Rückübertragung dieses Schutzes auf den Irak selbst erforderlich sei.

Unabhängig von der Frage des effektiven Schutzes habe sich die innenpolitische Situation im Irak nicht nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verändert. Die Änderung der maßgeblichen Verhältnisse müsse auf Dauer angelegt sein, und dafür sei eine Zukunftsprognose anzustellen. Das erstinstanzliche Gericht habe prognostiziert, dass Saddam Hussein nicht wieder an die Macht kommen werde und staatliche Verfolgungsmaßnahmen veranlassen könne; seine Prognose habe das Gericht aber nicht begründet. Demgegenüber sei festzuhalten, dass im Land immer noch eine starke Anhängerschaft des Regimes von Saddam Hussein vorhanden sei, die sich in zahlreichen, tagtäglich stattfindenden Anschlägen gegen die Besatzungstruppen sowie gegen die Sicherheitskräfte des aktuellen Regimes äußere. Die Herrschaft Saddam Husseins basiere auf einem Clan-System, das als solches weiter existiere und das auch ohne Saddam Hussein an der Spitze lebensfähig sei. Von einer hochgradig instabilen Lage gehe auch das VG Köln aus, das von dem OVG Münster bisher, etwa mit dem Beschluss vom 19.7.2005 – 9 A 2944/05.A – bestätigt worden sei. Auch das VG Sigmaringen halte mit Urteil vom 26.10.2005 – A 3 K 11212/04 – wegen der instabilen Verhältnisse eine hinreichend sichere Prognose über die politische Zukunft des Landes derzeit nicht für möglich. Mit Blick auf die Verschärfung der Lage habe etwa der Politiker Allawi ausweislich der Nachrichten des Deutschlandfunks vom 19.3.2006 davon gesprochen, dass sich das Land im Bürgerkrieg befinde. Herrsche aber Bürgerkrieg, so sei die Zukunft offen und es sei dann nicht auszuschließen, dass die Kräfte um den früheren Diktator Saddam Hussein wieder an die Macht gelangten. Der Machtclan könne sich auch, wie der Vietnamkrieg zeige, gegen eine Weltmacht durchsetzen. Die Zukunft des Irak sei auch dann offen, wenn man nicht von einem Bürgerkrieg ausgehe, sondern von einem Kampfgeschehen im Sinne eines Krieges von niedriger Intensität.

Entgegen der Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts sei auch derzeit vom Bestehen einer extremen allgemeinen Gefährdungslage im Sinne der verfassungskonformen Auslegung von § 60 VII AufenthG für den Irak auszugehen. Die irakischen Behörden seien derzeit nicht im Stande, den Bürgern des Landes auch nur ein Minimum an Schutz vor gewalttätigen Übergriffen zu gewähren; dies gelte nach Auffassung von UNHCR landesweit, so dass keine Region des Irak als hinreichend sicher angesehen werden könne. Auch insoweit könne auf das Urteil des VG Sigmaringen vom 26.10.2005 – A 3 K 11212/04 – verwiesen werden. Die irakischen Behörden seien danach nach wie vor nicht im Stande, die Zivilbevölkerung wirksam vor der hohen Zahl gezielter Anschläge und gewalttätiger Übergriffe zu schützen. Im Irak bestehe die realistische Gefahr, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen. Auch habe das Auswärtige Amt am 29.7.2005 eine Reisewarnung für den Irak herausgegeben, und dabei insbesondere darauf hingewiesen, Überfälle mit Waffengewalt seien an der Tagesordnung und das Risiko von Entführungen sei sehr hoch.

Gehe man davon aus, dass sich der Irak im Bürgerkrieg befinde oder gehe man zumindest davon aus, dass derzeit im Irak ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde, müsse man auch vom Bestehen einer extremen allgemeinen Gefährdungslage im Sinne von § 60 VII AufenthG ausgehen. Nach allem sei der Berufung stattzugeben.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 14.3.2006 – 2 K 35/06.A – den Bescheid der Beklagten vom 19.10.2004 aufzuheben,

hilfsweise, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 19.10.2004 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt in der mündlichen Verhandlung den ergangenen Bescheid. Sie sieht sich nach Analyse des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – in ihrer Rechtsauffassung bestätigt; danach komme es auf effektiven Schutz bietende staatliche Strukturen nicht an, vielmehr nur darauf, ob mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen sei. Die Terroranschläge bedrohten alle Iraker und müssten als allgemein drohende Gefahren beim Widerruf außer Betracht bleiben. Den ursprünglichen Verfolgungsvortrag des Klägers bestreitet die Beklagte.

Den Beteiligten ist die Dokumentationsliste des Senats für den Irak mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung sowie eine Ergänzung dazu zugesandt worden. Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Behördenakten der Beklagten F 2 056007, der Widerrufsakte der Beklagten 511 83 87-438 sowie der Ausländerakte Bezug genommen und auf das in der Dokumentationsliste und der Ergänzung aufgeführte Erkenntnismaterial.

Entscheidungsgründe

Die zugelassene und auch ansonsten zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Der Widerrufsbescheid der Beklagten vom 19.10.2004 erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (§ 77 I 1 AsylVfG) als rechtmäßig (unten I.). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die - hilfsweise begehrte - Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von sonstigen Abschiebungsverboten im Sinne von § 60 II bis VII AufenthG (unten II.)

I.

Der mit Blick auf den Systemwechsel im Irak ergangene Widerrufsbescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Das Aufhebungsbegehren des Klägers ist mangels einschlägiger Übergangsregelungen nach der neuen, durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage zu beurteilen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, für Widerrufsfälle.

Rechtsgrundlage ist mithin § 73 I 1 AsylVfG in der ab 1.1.2005 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950). Die Vorschrift lautet:

Die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, sind unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

In der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, liegen die Widerrufsvoraussetzungen dann vor, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, zitiert nach Juris; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, ähnlich Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, § 73 AsylVfG Rdnr. 7, im Sinne eines Wegfalls der asylrelevanten Umstände als Beseitigung der Verfolgungsgefahr; weiter gehend im Sinne einer grundlegenden und dauerhaften Änderung der Verhältnisse und nicht nur eines spiegelbildlichen Wegfalls der ursprünglich die Verfolgung begründenden Umstände VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -; Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 73 Rdnr. 77 und 79, im Sinne einer Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland von grundlegender Natur und Dauer mit dem Ergebnis einer eingetretenen relativen politischen und wirtschaftlichen Stabilität.

Eine wesentliche Weichenstellung für die hier einschlägige Beurteilung eines politischen Systemwechsels liegt darin, ob nur die Beseitigung des Unrechtsregimes und seiner Verfolgungsmaßnahmen selbst endgültig sein muss oder ob zusätzlich in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung und allgemeinen Gefahren durch stabile Verhältnisse vorherrschen muss. Das Bundesverwaltungsgericht, dem der Senat folgt, stellt allein darauf ab, dass die Beseitigung des Regimes dauerhaft ist.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, dort für Afghanistan; ebenso BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22/03 -, für den Irak, wobei das Bundesverwaltungsgericht im Wege eigener Tatsachenwürdigung es als ausreichend ansieht, dass das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist und damit Asylberechtigte offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen haben; ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, S. 11 des amtl. Umdruck, das es genügen lässt, dass das Regime Saddam Hussein seine politische und militärische Herrschaft über den Irak endgültig verloren hat und eine Rückkehr des alten Regimes nach den aktuellen Machtverhältnissen ausgeschlossen ist.

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Gefahr einer wiederholten Verfolgung wegfällt, und dies hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich für den Irak unter Billigung des Widerrufs entschieden.

BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 – 1 C 22/03 – zitiert nach Juris.

Der Kläger hält dem eine – in der mündlichen Verhandlung vertiefte - grundsätzliche Betrachtung zur Existenz effektiver staatlicher Gewalt und effektiven staatlichen Schutzes vor denkbarer Verfolgung bereits als Widerrufsvoraussetzung entgegen. Im Flüchtlingsrecht sei anerkannt, dass die politische Verfolgung des Bürgers eines Staates mit der Abwesenheit staatlichen Schutzes vor Verfolgung gleichzusetzen sei. Dies setze funktionierende staatliche Strukturen voraus, die aber im Irak nicht vorhanden seien. Nach den Grundsätzen der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – sei bereits das Bestehen einer effektiven staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt im Irak in Frage zu stellen, zumindest sei dies vom Verwaltungsgericht nicht ausreichend festgestellt. Die Regierung des Irak habe über die grüne Zone Bagdads hinaus keinen Einfluss auf die Wiederherstellung eines effektiven staatlichen Schutzes im Irak, und zwar auch nicht durch die Truppen der Allianz, da für die Wiederherstellung effektiven staatlichen Schutzes eine Rückübertragung an das Herkunftsland erforderlich sei. Die aufgeworfene Frage der Wiederherstellung effektiven Schutzes durch den früheren Verfolgungsstaat sei durch das Bundesverwaltungsgericht noch nicht entschieden.

Die Beklagte widerspricht dem und meint, auf effektiven Schutz bietende staatliche Strukturen im Sinne einer stabilen Schutzmacht komme es bei fehlender Verfolgung rechtlich nicht an.

Klar auseinander zu halten sind die Fragen, ob ein Staat überhaupt besteht und dafür das Erfordernis der Ausübung staatlicher Gewalt prinzipiell erfüllt, und ob in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung sowie vor allgemeinen Gefahren bestehen muss. Damit hat der Kläger Grundsatzfragen mit weit reichender – länderübergreifender - Bedeutung aufgeworfen. Die Fragen sind indes vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 - entschieden, und zwar nicht im Sinne des Klägers.

Was zunächst die Frage der Existenz eines Staates angeht, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 – im Gegensatz zur Vorinstanz, dem OVG Schleswig-Holstein, die Existenz von Afghanistan als Staat nicht ernsthaft in Frage gestellt. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (Seite 9 des Juris-Ausdrucks) genügt es, dass eine Übergangsregierung Gebietsgewalt im Sinne einer übergreifenden prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtigen Ordnung ausübt; dem stehe nicht entgegen, dass sich die Regierungsgewalt auch auf internationale Truppen stütze. Auch ein ausgesprochen schwacher Staat ist nach diesen Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts ein Staat und die internationalen Truppen werden dem Staat zugerechnet. Dies stimmt überein mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der es im Asylrecht weniger auf abstrakte staatstheoretische Begriffsmerkmale ankommt und zugunsten des Flüchtlings nur geringe Anforderungen an das Vorliegen eines Staates zu stellen sind, wobei in Bürgerkriegsfällen bereits ein Kernterritorium genügt.

BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Danach ist der Irak eindeutig ein Staat.

Der Irakkrieg von 2003 zielte zwar darauf ab, das Unrechtsregime von Saddam Hussein zu beseitigen, indessen nicht auf die Beseitigung des irakischen Staates. Vielmehr wurde nach Ablauf der Besatzungszeit die irakische Souveränität am 28.6.2004 wiederhergestellt, wie in Rechtsprechung und Erkenntnismaterial anerkannt ist.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.9.2004 – A 2 S 51/01 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 – A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 – 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, Seite 1; ebenso unterscheidet die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Auskunft vom 27.1.2006 (Seite 3) klar erkennbar zwischen der bejahten Existenz des irakischen Staates und der verneinten Frage, ob der irakische Staat die Bürger schützen könne, die nachweislich Verfolgung befürchten müssten.

Die nur erforderliche prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtige Gebietsgewalt unter Einbeziehung der internationalen Truppen ist zu bejahen, da der irakische Staat mit deren Hilfe zumindest in der Lage ist, dem bisherigen Regime von Saddam Hussein den Prozess zu machen, dadurch seine Unrechtsmaßnahmen zu beenden und den neuen Untergrundkrieg mit den Terroristen mit allerdings nur einzelnen Erfolgen aufgenommen hat und dabei den sunnitischen Widerstand verfolgt, mithin nicht etwa prinzipiell ohne Macht ist. Auch die kritische Organisation UNHCR, der sich amnesty international angeschlossen hat, stellt die effektive Herrschaft der irakischen Übergangsregierung lediglich für einzelne Teile des irakischen Staatsgebiets, vor allem im Zentralirak, in Frage.

UNHCR, Hinweise von April 2005; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Ebenso geht das VG Sigmaringen in seiner kritischen Rechtsprechung nicht von einer fehlenden Staatsmacht aus, sondern nimmt an, der Übergangsregierung sei es noch nicht gelungen, ihre Macht im gesamten Irak zu etablieren.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 – A 3 K 11212/04 -, S. 8 des Umdrucks.

Auf das gesamte Territorium kommt es aber nicht an.

Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt bereits ein Kernterritorium.

BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Weiterhin muss gesehen werden, dass der irakische Widerstand seit der von ihm verlorenen zweiten Schlacht um Falludscha im November 2004 angesichts der Übermacht der US-Truppen nicht mehr bestimmte Gebiete verteidigen, sondern mit Anschlägen den Wiederaufbau des Landes nachhaltig stören will.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006.

Nach den dargelegten Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts kann unter Einbeziehung der internationalen Truppen die Existenz des Staates Irak mit der prinzipiellen Ausübung von Staatsgewalt nach Ansicht des Senats nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden.

Von der Frage der Existenz des Staates Iraks ist die weitere Frage eines effektiven Schutzes durch den Staat Irak als stabile Schutzmacht vor möglicher Verfolgung und allgemeinen Gefahren zu unterscheiden.

Der Kläger zieht die Effektivitätsfrage gewissermaßen vor die Klammer der Verfolgungsprüfung. Vorrangig wird effektiver Schutz geprüft. Fehlt es daran, steht die Verfolgung fest und der Widerruf scheitert. Letztlich hat der effektive Schutz dann absolute Bedeutung für den Widerruf. Der Kläger meint weiter, die Frage des effektiven staatlichen Schutzes sei von dem Bundesverwaltungsgericht noch nicht, auch nicht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 –, entschieden; dem hat die Beklagte widersprochen.

Diese Auslegung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Kläger überzeugt nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – die nur relative Bedeutung eines effektiven Verfolgungsschutzes herausgestellt, diese Rechtsauffassung jedenfalls konkludent bereits in seinen beiden zuvor zum Irak ergangenen Entscheidungen vom 11.2.2004 – 1 C 23/02 – und vom 25.8.2004 – 1 C 22.03 – zugrunde gelegt und sodann die Frage einer stabilen Schutzmacht im Beschluss

vom 26.1.2006 – 1 B 135.05 –

ausdrücklich als nicht entscheidungserheblich bei fehlender Verfolgung behandelt.

In seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 – (Juris-Ausdruck Seite 6) hat das Bundesverwaltungsgericht für die Prüfung von Widerrufsfällen entschieden, dass nach der auch beim Widerruf anzuwendenden Vorschrift des § 60 I 4 AufenthG

eine Verfolgung nunmehr auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (kann), sofern der Staat, wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat nach der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht die gewissermaßen absolute Bedeutung, dass ein Widerruf ausscheidet. Ein fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat in Widerrufsfällen vielmehr nur die relative Bedeutung, dass vorrangig tatsächliche Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure zu prüfen sind. Die dargelegte Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet, dass effektiver staatlicher Schutz nicht bereits eine Widerrufsvoraussetzung ist; der Widerruf scheitert nicht von vornherein an fehlendem effektivem staatlichen Schutz durch eine stabile Schutzmacht.

Dieselbe Rechtsauffassung hat das Bundesverwaltungsgericht auch schon konkludent in einem unmittelbar den Irak betreffenden Urteil vom 25.8.2004 – 1 C 22.03 – in einem Widerrufsverfahren zugrunde gelegt. Auch dort wird die Frage der effektiven Schutzfähigkeit nicht als Widerrufshindernis geprüft. Vielmehr ist ausgeführt (Seite 3 des Juris-Ausdrucks):

Der Kläger hat bei einer Rückkehr in den Irak inzwischen offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen.

Es werden also nur Verfolgungsmaßnahmen ausgeschlossen. Dazu wird dargelegt, das irakische Regime sei durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden und andere Gründe, aus denen der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland politischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein könnte, seien nicht ersichtlich. Die effektive Schutzfähigkeit durch den irakischen Staat prüft das Bundesverwaltungsgericht nicht. Der Irak war im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (25.8.2004) gerade erst (am 28.6.2004) aus dem Besatzungsstatut in die Souveränität entlassen worden und vergleichbar schwach wie heute. Die fehlende effektive Schutzfähigkeit des Irak kann also kein absolutes Widerrufshindernis sein. Weiterhin hat das Bundesverwaltungsgericht in eigener Revisionswürdigung schon während der Besatzungszeit des Iraks eine Verfolgungsgefahr ausgeschlossen, ohne die effektive Schutzfähigkeit des Irak zu prüfen.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 – 1 C 23/02 -, dort betreffend einen Anerkennungsfall.

In den drei vom Senat aufgeführten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts aus 2004 und 2005 zum Irak und zu Afghanistan ist als gemeinsame klare Linie der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu entnehmen, dass in keinem der Fälle die effektive Schutzfähigkeit des Staates gewissermaßen als absolute Anforderung vor die Klammer gezogen wird und der Flüchtling bereits deshalb Verfolgter ist, weil sein Heimatstaat keinen effektiven Schutz durch eine stabile Schutzmacht gegen denkbare Verfolgungen bietet. Vielmehr ist vorrangig für das Bundesverwaltungsgericht, ob asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen nach den maßgebenden Kriterien der Rechtsprechung überhaupt zu befürchten sind. Für den Irak hat das Bundesverwaltungsgericht eine solche Verfolgungsgefahr verneint und bereits deshalb nicht die effektive Schutzfähigkeit des Staates vor denkbarer Verfolgung geprüft. In dem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/05 – ist die nur relative Bedeutung des effektiven staatlichen Schutzes vor Verfolgung hervorgehoben.

Sodann hat das Bundesverwaltungsgericht die Frage nach der Notwendigkeit einer stabilen Schutzmacht in einem neueren Revisionszulassungsverfahren auch ausdrücklich erörtert.

Beschluss des BVerwG vom 26.1.2006 – 1 B 135.05 -.

Es hat die aufgeworfene Frage der stabilen Schutzmacht als nicht entscheidungserheblich bei fehlender Verfolgung behandelt.

Dem folgt auch der Senat.

Mithin ist die vom Kläger aufgeworfene Grundsatzfrage der Bedeutung des effektiven Schutzes des Staates als stabiler Schutzmacht vor Verfolgung übereinstimmend mit der Meinung der Beklagten bereits höchstrichterlich geklärt; der Senat schließt sich der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an, wonach diese Frage nur relative Bedeutung bei vorrangig festzustellender tatsächlicher Verfolgungsgefahr hat.

Sodann ist mit Blick auf die Auffassung des UNHCR die Frage zu erörtern, ob nach dem politischen Systemwechsel über den Ausschluss erneuter Verfolgung hinaus auch noch Schutz vor allgemeinen Gefahren durch eine stabile Lage verlangt werden kann. Die Stabilitätsfrage wird also nochmals gestellt, aber nunmehr nicht mit Blick auf die Verfolgung, sondern mit Blick auf allgemeine Gefahren. Auch diese Frage hat grundsätzliche und zugleich länderübergreifende Bedeutung, ist aber vom Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden.

Die Widerrufsregelung des Gesetzgebers zielte nach der ursprünglichen Gesetzesbegründung auf den Fall, dass in dem Verfolgungsland ein Wechsel des politischen Systems eingetreten ist, sodass eine weitere Verfolgung nicht mehr zu befürchten ist.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, unter Darstellung der Gesetzesmaterialien.

Der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck bezieht sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausschließlich auf den Ausschluss erneuter Verfolgungsmaßnahmen, nicht auf Schutz vor allgemeinen Gefahren.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Die den Rechtsstandpunkt des Klägers stützende Gegenmeinung, die insbesondere von der Flüchtlingshilfeorganisation UNHCR näher begründet wird, geht über den Verfolgungsausschluss hinaus und verlangt für den Widerruf zusätzlich stabile Verhältnisse im Herkunftsland.

UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention auf irakische Flüchtlinge von April 2005, S. 2.

UNHCR nimmt dabei an, dass der internationale Flüchtlingsschutz nicht nur dem Schutz vor erlittener oder drohender Verfolgung diene, sondern auch der Schaffung dauerhafter Lösungen für Flüchtlinge; deshalb könnten Flüchtlinge nicht zur Rückkehr in die instabilen Verhältnisse des Irak gezwungen sein mit der Gefahr, dass immer neue Flüchtlingsströme entstehen.

UNHCR-Hinweise von April 2005, S. 2.

Dieser vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vertiefte Gesichtspunkt leuchtet dem Senat durchaus rechtspolitisch ein.

Es geht um die Erweiterung des Schutzzwecks auf allgemeine Gefahren zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme. Unter Hinweis auf die Interessenwürdigung durch UNHCR verlangt auch Marx relative politische und wirtschaftliche Stabilität in dem Land nach dem Systemwechsel.

Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 73 Rdnr. 79.

Das VG Köln, auf das sich der Kläger beruft, ist dieser Auffassung gefolgt.

VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -, wonach eine instabile beziehungsweise unsichere Lage im Herkunftsland Irak einem Widerruf entgegenstehe.

Besonders deutlich wird diese Rechtsposition durch das VG Sigmaringen dargestellt, auf das sich der Kläger ebenfalls beruft.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -.

Danach geht es bei dem Widerruf nicht nur um Verfolgungsschutz, sondern erweiternd um effektive Schutzgewährung, und ein wesentlicher Aspekt der effektiven Schutzgewährung ist die allgemeine Sicherheitslage.

Ungeachtet der rechtspolitischen Vorzüge der Ansicht von UNHCR folgt der Senat der systematisch begründeten Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach der Widerruf keinen Gefahrenausschluss durch stabile Verhältnisse voraussetzt. Diese Auslegung ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Nach Art. 16 a I GG dient das Asylrecht dem Schutz politisch Verfolgter

Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 7. Auflage 2004, Art. 16 a Rdnr. 1, wonach das Asylgrundrecht auf die Erfahrung mit dem Dritten Reich und den damals rassistisch und politisch Verfolgten zurückgeht und Menschen in einer ähnlichen politischen Lage in anderen Ländern helfen soll.

Dagegen ist das Grundrecht nach der Verfassungsrechtsprechung nicht in der Lage, auch einen effektiven Schutz vor politisch und wirtschaftlich instabilen Verhältnissen, oder sogar vor anarchischen Zuständen mit Auflösung der Staatsgewalt zu gewähren.

Zum Letzteren BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Ist dies aber der Fall, verbietet das Grundgesetz auch unter Einschluss des vom Kläger zitierten Art. 1 I GG nicht einen geminderten Flüchtlingsschutz für Fälle des Staatszerfalls.

Darüber hinaus ist die grundrechtskonforme Begrenzung des Gesetzeszwecks auf den Verfolgungsschutz nach der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowohl völkerrechtskonform als auch europarechtskonform.

Die Widerrufsvorschrift des deutschen Rechts geht zurück auf Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - vom 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560), wonach eine Person nicht mehr unter den Schutz des Flüchtlingsabkommens fällt,

wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wollte der deutsche Gesetzgeber mit seiner Widerrufsbestimmung die materiellen Anforderungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention übernehmen und hat dies auch getan.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Nach der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet Wegfall der Umstände im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK eine nachträgliche erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Unter Schutz im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK ist danach ausschließlich der Schutz vor zu erwartenden erneuten Verfolgungsmaßnahmen zu verstehen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/06 -.

Das Bundesverwaltungsgericht beruft sich für seine Rechtsauffassung auf eine systematische Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention. Der Begriff Schutz des Landes in dieser Wegfallbestimmung hat danach keine andere Bedeutung als der gleich lautende Begriff Schutz dieses Landes in Art. 1 A Nr. 2 GFK, der die Flüchtlingseigenschaft begründet. Nach dieser Vorschrift kommt es insbesondere darauf an, dass der Betroffene aus begründeter Furcht vor Verfolgung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann. Nach dem Zusammenhang dieser Definitionsvorschrift kann mit dem Schutz des Landes nur der Schutz vor den befürchteten Verfolgungsmaßnahmen gemeint sein; ein Schutz vor instabilen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen als Begründung der Flüchtlingseigenschaft ist ersichtlich nicht mit umfasst. Die instabile Lage begründet nicht die Verfolgteneigenschaft Dies gilt konsequent auch für den Wegfall der Flüchtlingseigenschaft, und deshalb beenden auch nicht erst stabile Verhältnisse die Verfolgteneigenschaft.

Der Senat folgt der systematischen Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts.

Zusätzlich ist noch auf folgenden in der mündlichen Verhandlung erörterten Auslegungsgesichtspunkt hinzuweisen:

Die unmittelbar anschließende völkerrechtliche Widerrufsregelung für Staatenlose in Art. 1 C Nr. 6 GFK enthält keine Schutzklausel. Dies kann schwerlich bedeuten, dass damit Staatenlosen der sonst zu gewährende effektive Schutz entzogen wird. Vielmehr spricht diese Regelung dafür, dass mit dem völkerrechtlichen Begriff „Schutz“ nur der prinzipielle Schutz des Herkunftsstaates für seine Staatsangehörigen gemeint ist, der naturgemäß nicht auf Staatenlose übertragen werden kann.

Auch dies spricht für die Auslegung des Völkerrechts durch das Bundesverwaltungsgericht.

Ergänzend zu berücksichtigen ist für die Auslegung des deutschen Rechts das Europarecht. Dabei geht es um die Vorwirkung der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikationsrichtlinie - bereits vor dem bevorstehenden Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006.

Nach der Rechtsprechung des EuGH, der sich der Senat angeschlossen hat, ist nationales Recht schon vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist bereits erlassener Richtlinien so auszulegen, dass der Zweck der Richtlinie erreicht werden kann.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 - C 211/03 -, Rz 44; Urteil des Senats vom 3.2.2006 - 3 R 7/05 - Seite 49 des amtl. Umdrucks, beide Entscheidungen ergangen zum Arzneimittelrecht.

Inhaltlich führt die europäische Richtlinie aber zu keiner anderen Rechtslage als der bereits dargelegten völkerrechtlichen Regelung der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern sie bestätigt noch zusätzlich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.

Wesentlich ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass die völkerrechtliche Wegfallklausel der Genfer Flüchtlingskonvention in die Qualifikationsrichtlinie ebenso wörtlich übernommen ist wie der symmetrische Schutzbegriff sowohl bei der Begründung der Flüchtlingseigenschaft als auch bei dem Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft. Nach Art. I e der Qualifikationsrichtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser nicht mehr Flüchtling, wenn er

nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Für die Begründung der Flüchtlingseigenschaft stellt Art. 2 c der Qualifikationsrichtlinie unter eigenständiger Formulierung der Verfolgungsmerkmale ebenso wie die Genfer Flüchtlingskonvention auf die begründete Furcht vor Verfolgung ab und verlangt sodann wörtlich übereinstimmend, dass der Flüchtling

sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann .....

Die vom Bundesverwaltungsgericht bereits im Zusammenhang mit dem Völkerrecht ausgelegten Parallelbegriffe „Schutz des Landes“ sowie „Schutz dieses Landes“ finden sich also wörtlich gleich lautend in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der umzusetzenden Qualifikationsrichtlinie der EG. Das Bundesverwaltungsgericht hat auch konsequenterweise in einem Nichtzulassungsbeschluss bereits ausgeführt, die Annahme einer Vorwirkung der Richtlinie 2004/83/EG führe nicht zu einem günstigeren Auslegungsergebnis der Widerrufsvorschrift.

BVerwG, Beschluss vom 15.2.2006 - 1 B 120/05 -, ohne eingehende Begründung; eben so Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; a. A. das VG Köln in seinem Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -, das aus den übereinstimmenden Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie einen Schutz auch vor einer instabilen Lage in Anspruch nimmt.

Hinzu kommt, dass die europäische Richtlinie die Wegfallklausel in Art. 11 II über das Völkerrecht hinaus dahin gehend präzisiert, dass die Mitgliedstaaten zu untersuchen haben,

ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist.

Damit wird der Schwerpunkt der Prüfung auf die Veränderung selbst gelegt, nicht auf stabile Verhältnisse.

Dies entspricht exakt der Auslegung des deutschen Rechts durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die mithin durch das neue Europarecht bestätigt wird.

Zusammengefasst ergibt sich aus der dargelegten systematisch überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entgegen der rechtspolitisch vorzugswürdigen Ansicht von UNHCR als grundsätzliche Weichenstellung der Widerrufsmaßstab, dass nur der Verfolgungsausschluss maßgebend ist. Die Gefahr von erneuten Verfolgungsmaßnahmen ist nach den Kriterien der Rechtsprechung zu prüfen. Allgemeine Gefahren etwa aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage bleiben bei dem Widerruf außer Betracht.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Verfolgungsgefahr wegfällt.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23/02 -, zitiert nach Juris.

Erweist sich die Beseitigung eines Regimes mit dessen spezifischen Verfolgungsmaßnahmen als endgültig, kann über den Wegfall der tatsächlichen Verfolgungsgefahr hinaus ein stabiler Staat weder zum Verfolgungsausschluss noch zum Gefahrenausschluss verlangt werden. Der Staat braucht also nicht stark zu sein. Die dargestellte Weichenstellung hinsichtlich stabiler Verhältnisse ist der Hauptgrund dafür, dass der Flüchtlingswiderruf in der Rechtsprechung einiger Instanzgerichte als rechtswidrig beurteilt wird; darauf ist noch einzugehen.

Die dargelegte erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der Verhältnisse muss nach dem anzulegenden Maßstab dazu führen, dass die Verfolgungsmaßnahmen nicht mehr wiederholt werden. Mit Blick auf die Vorverfolgung des Klägers gilt dafür der herabgestufte Maßstab der hinreichenden Sicherheit.

BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - BVerwG 9 C 6.96 -, BVerwGE 104, 97; ebenso BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21.04 -, zitiert nach Juris.

Dem bereits Vorverfolgten soll nicht das Risiko einer Wiederholung der Verfolgung aufgebürdet werden. Dabei braucht die Gefahr des Eintritts wiederholter Verfolgungsmaßnahmen nach diesem Maßstab nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen zu werden, so dass bereits geringe Zweifel dem Begehren zum Erfolg verhelfen würden. Vielmehr ist eine Wiederholungsgefahr der Verfolgung nach diesem Prognosemaßstab zu bejahen, wenn sich ernsthafte Bedenken nicht ausräumen lassen.

BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - BVerwG 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97.

Nach dem dargelegten Maßstab ist durch die Entmachtung Saddam Husseins eine erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der politischen Verhältnisse eingetreten, die nicht mehr umkehrbar ist. Dies steht mit hinreichender Sicherheit fest. Das Regime von Saddam Hussein ist gestürzt, seine Armee und seine Polizei sind aufgelöst, die Baath-Partei ist verboten, seine Verfolgungsmaßnahmen sind beendet, einige Mitglieder des Regimes sind getötet und Saddam Hussein und dem Kern seines Regimes wird im Irak der Prozess gemacht. Gerade darin liegt der Verfolgungsschutz des Klägers vor weiteren Unrechtsmaßnahmen des Regimes von Saddam Hussein, der keinen ernsthaften Bedenken unterliegt.

Dem hält der Kläger die eigene Einschätzung entgegen, angesichts der anerkannt labilen Sicherheitslage und der hohen Zahl der täglichen Anschläge sei in einem Bürgerkrieg oder jedenfalls einem Krieg von niedriger Intensität die Zukunft offen und es sei nicht auszuschließen, dass die Kräfte um den früheren Diktator Saddam Hussein wieder an die Macht gelangten, sein Machtclan sei noch vorhanden.

Dem Kläger ist zwar hinsichtlich der instabilen, manchmal eskalierenden Sicherheitslage, des hohen Gewaltniveaus durch tägliche Anschläge aus dem Untergrund im Sinne eines Untergrundkriegs und damit einer offenen Lage nach dem übereinstimmenden Erkenntnismaterial Recht zu geben.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005: amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005 und Jahresbericht 2006, UNHCR, Position von September 2005, vgl. auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Der Irak steht – wie es das OVG Koblenz prägnant formuliert – am Scheideweg zwischen Demokratie und Staatszerfall.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Insofern ist die Zukunft offen. Sie schließt den offenen Ausbruch eines Bürgerkriegs und ein Auseinanderbrechen des Irak ein.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

In dem hier entscheidenden Punkt, ob der Sturz des Regimes von Saddam Hussein und seines Machtclans in absehbarer Zeit unumkehrbar ist, besteht aber entgegen der Meinung des Klägers in Rechtsprechung und im Erkenntnismaterial ungeachtet der unterschiedlich kritischen Beurteilung des Iraks die fast einhellige Überzeugung, dass die Entmachtung Saddam Husseins und seines Clans nicht mehr umkehrbar ist.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den während des Laufs mehrerer Revisionsverfahren 2003 eingetretenen Sturz von Saddam Hussein abschließend selbst beurteilt mit dem Ergebnis, dass mit einer Wiederholung der Verfolgung offenkundig nicht mehr zu rechnen sei.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -; BVerwG Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, jeweils zitiert nach Juris.

Das Bundesverwaltungsgericht hält es also für offenkundig, dass Saddam Hussein und sein Clan nicht an die Macht zurückkehren.

Die Obergerichte teilen diesen Standpunkt. Nach der Auffassung des OVG Münster hat das bisherige Regime Saddam Husseins seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch den am 20.3.2003 begonnenen Militärschlag unter Führung der USA endgültig verloren und eine Rückkehr des alten Regimes ist nach den aktuellen Machtverhältnissen ebenso ausgeschlossen wie die Bildung einer Struktur, die eine vom früheren Regime gesehene Gegnerschaft als solche übernimmt und wiederholend verfolgt.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Der VGH Baden-Württemberg hält es mit hinreichender Sicherheit für ausgeschlossen, dass Anhänger des früheren Baath-Regimes bei realistischer Betrachtung wieder staatliche Herrschaftsgewalt ausüben könnten und zwar ungeachtet der äußerst angespannten Sicherheitslage.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Nach der Einschätzung des OVG Lüneburg ist der Sturz des Regimes von Saddam Hussein nach allen vorliegenden Erkenntnissen eindeutig und unumkehrbar, und zwar trotz der problematischen und oft eskalierenden Sicherheitslage im Irak.

OVG Lüneburg, Urteil vom 13.2.2006 - 9 LB 75/03 -.

Nach der Beurteilung des Bayerischen VGH gibt es keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass Saddam Hussein oder Angehörige seines früheren Regimes in absehbarer Zeit in der Lage sein könnten, sich neu zu formieren und staatliche Verfolgungsmaßnahmen zu veranlassen.

BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -.

Nach der Einschätzung des OVG Koblenz ist die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein vollständig; die tragenden Personen sind nicht nur durch das irakische Volk abgewählt, sondern zum Teil getötet oder außer Landes und ihm selbst und seinen führenden Helfern wird der Prozess gemacht, so dass eine weitere Verfolgung durch die persönliche Diktatur auszuschließen ist.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 107/95/05.OVG -.

Auch das OVG Schleswig-Holstein und das Sächsische OVG sehen den Machtverlust des diktatorischen Regimes von Saddam Hussein als endgültig an.

OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 18.5.2006 – 1 LB 117/05 -; Sächsisches OVG, Beschluss vom 28.8.2003 - A 4 B 573/02 -.

Soweit sich der Kläger auf die Rechtsprechung einiger Instanzgerichte beruft, die für den Irak die Widerrufsvoraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung verneinen, werden bei vergleichbarer Tatsachenwürdigung die rechtlichen Weichen anders gestellt. Das VG Köln ist der Auffassung, dass der Wegfall der ursprünglich die Verfolgung begründenden Verhältnisse nicht genüge und deshalb der Sturz des Regimes von Saddam Hussein allein nicht ausreiche; vielmehr müsse der Charakter der Veränderungen selbst stabil sein, was angesichts der hochgradigen instabilen Lage im Irak nicht der Fall sei.

VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -.

Allerdings ist die Rechtsprechung des VG Köln zur Rechtswidrigkeit des Widerrufs entgegen der Meinung des Klägers von dem OVG Münster nicht inhaltlich bestätigt worden. So hat das OVG Münster zwar in einem Beschluss vom 20.10.2005 (nicht: 19.7.2005) – 9 A 2944/05.A – ein entsprechendes Urteil des VG Köln aus prozessualen Gründen bestätigt. In seiner Rechtsprechung in der Sache selbst hat das OVG Münster aber wie dargelegt den Widerruf unter Abänderung einer Entscheidung des VG Köln als rechtmäßig angesehen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 – 9 A 3590/05.A – unter Abänderung des Urteils des VG Köln vom 24.8.2005 – 18 K 5732/04.A -.

Besonders deutlich wird die unterschiedliche rechtliche Weichenstellung bei im Wesentlichen gleicher Tatsacheneinschätzung in der Beurteilung des VG Sigmaringen, auf das sich der Kläger beruft.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -.

Nach der Rechtsprechung des VG Sigmaringen wurde durch die Militäraktion ein grundlegender Systemwechsel bewirkt; eine Rückkehr zu den alten Machtverhältnissen ist ausgeschlossen. Bei der Widerrufsentscheidung darf dagegen nicht die allgemeine Sicherheitslage ausgeklammert werden und wegen der erheblichen Unsicherheit der politischen Entwicklung und der realistischen Gefahr von Terroranschlägen hat ein Widerruf zu unterbleiben. Die abweichende Rechtsauffassung des VG Sigmaringen beruht also bei grundsätzlich gleicher Lagebeurteilung auf einer Rechtsauffassung, die das Bundesverwaltungsgericht und dem folgend der Senat nicht teilt.

Der Einschätzung durch die Rechtsprechung entspricht grundsätzlich auch die Beurteilung durch das vorliegende Erkenntnismaterial. In dem aktuellen Erkenntnismaterial wird meist nicht einmal mehr die Frage aufgeworfen, ob Saddam Hussein oder sein Clan an die Macht zurückkehren könnte.

Das Auswärtige Amt stellt eine Umsetzung des politischen Prozesses durch demokratische Wahlen bei gleichzeitig hohem Gewaltniveau und einer Annäherung an bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen fest; es geht davon aus, dass in dem am 19.10.2005 eröffneten Strafverfahren gegen Saddam Hussein und sieben weitere Repräsentanten der Diktatur den Angeklagten die Todesstrafe droht, rechnet also ersichtlich nicht mit einer erneuten Machtergreifung von Saddam Hussein und seinem Clan.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe würdigt in ihrer Analyse den politischen Übergang des Iraks zur Demokratie bei gleichzeitig äußerst schlechter Sicherheitslage.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Nach der Einschätzung der kritischen Flüchtlingshilfeorganisation UNHCR hat der Sturz des Regimes von Saddam Hussein noch nicht überall im Land zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen geführt; nach dem Sturz bestehen aber keine Anhaltspunkte dafür, dass Saddam Hussein selbst wieder die Macht erlangen könnte. Die Zukunft sei insofern unsicher, als es zu Sezessionsbestrebungen kommen könne.

UNHCR, UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention auf irakische Flüchtlinge von April 2005.

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international hat sich der Beurteilung durch UNHCR angeschlossen, dass nach dem Wegfall der autoritären Zentralgewalt der Sturz der Regierung von Saddam Hussein noch nicht im gesamten Irak zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen geführt hat; die Frage einer Rückkehr wird nicht aufgeworfen.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Das Deutsche Orient-Institut sieht in den Terroranschlägen lediglich einen Versuch, die politische Entwicklung des Irak zu bestimmen; die Rückkehrfrage von Saddam Hussein oder seines Machtclans wird nicht gestellt.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006.

Bei einer Gesamtwürdigung ist erkennbar, dass die vorliegende Rechtsprechung explizit von der Unumkehrbarkeit des Sturzes von Saddam Hussein in absehbarer Zeit ausgeht, während das aktuelle Erkenntnismaterial überwiegend die Frage bereits nicht mehr aufwirft. Soweit ersichtlich enthält das Erkenntnismaterial keinen näher begründeten ernsthaften Anhaltspunkt dafür, Saddam Hussein oder sein Machtclan könnte die Herrschaft im Irak wieder ergreifen und die Verfolgung ihrer früheren Gegner fortsetzen.

Dem Kläger ist einzuräumen, dass die Tatsache des praktisch einhelligen Ergebnisses in Rechtsprechung und Erkenntnismaterial eine Begründung dieser Prognose nicht ersetzt. Er beanstandet es, dass das Verwaltungsgericht seine Prognose zur Unumkehrbarkeit der Verhältnisse nicht begründet hat.

In der Rechtsprechung findet sich indessen eine tragfähige Begründung der Unumkehrbarkeit der Verhältnisse, die auch gegenüber der Argumentation des Klägers mit Blick auf die offene Lage überzeugt.

Wesentliche Bedeutung für die Unumkehrbarkeit des Verlustes der Macht hat die Art der Entmachtung des Regimes. Das Bundesverwaltungsgericht hat Gewicht darauf gelegt, dass das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -; BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -; jeweils zitiert nach Juris.

Ebenso hat das OVG Münster darauf abgestellt, dass das bisherige Regime von Saddam Hussein seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die am 20.3.2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren hat.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Das Regime von Saddam Hussein ist mithin nicht durch einen umkehrbaren Putsch oder durch die Intervention eines ähnlich starken Nachbarlandes entmachtet worden, sondern hat den Krieg gegen eine führende Macht der Welt endgültig verloren. In diesem Kriegsverlust liegt ein Unterschied zu dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung erwähnten Vietnamkrieg, in dem das nordvietnamesische Regime von den Amerikanern nicht besiegt und beseitigt wurde und sich erst danach neu etabliert hat. Ausdrückliches und erreichtes Kriegsziel im Irakkrieg war die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein. Der Verlust eines solchen Krieges lässt sich realistischerweise nicht einfach umkehren. Auch der sunnitische Widerstand geht in seiner Einschätzung von einer Übermacht der US-Truppen im Irak und nicht von einem Kräftegleichgewicht aus.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Die Kräfte sind zu ungleich, um mit dem Kläger insoweit eine offene Lage zu sehen. Deshalb bestehen auch keine ernsthaften Bedenken gegenüber der Unumkehrbarkeit des Sturzes von Saddam Hussein und seines Machtclans einschließlich seiner spezifischen Verfolgungsmaßnahmen.

Wenn der Kläger demgegenüber meint, die Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein seien nicht zerschlagen, da das Clan-System existiere und lebensfähig sei, überzeugt das nicht. Zu den Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein gehörten abgesehen von dem Clan vor allem seine Armee, seine Polizei und die Baath-Partei. Seine Armee und die Polizei sind zerschlagen worden, die Baath-Partei ist verboten. Die das Regime tragenden Personen des Machtclans sind vom irakischen Volk abgewählt, zum Teil getötet, und dem Kern des Regimes wird der Prozess gemacht, so dass bei einer Gesamtwürdigung von einer Beseitigung der persönlichen Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein auszugehen ist.

So überzeugend OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Alle diese Herrschaftsstrukturen sind endgültig zerschlagen. Allenfalls kann man mit der Einschätzung von UNHCR und amnesty international annehmen, dass es noch nicht überall im Land zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen gekommen ist, aber auch UNHCR sieht darin keinen Gesichtspunkt dafür, Saddam Hussein könne wieder die Macht erlangen.

Von Bedeutung ist, dass das Clan-System von Saddam Hussein allein in einer Minderheitsgruppe verankert war. Das OVG Münster stützt seine Prognose darauf, dass es nicht wieder zu einer Ballung der Macht bei einer der Volksgruppen kommen werde, zumal nicht in der Hand der nur eine Minderheit darstellenden Gruppe der Sunniten, in der das Regime Saddam Husseins vor allem verankert war.

OVG Münster, Urteil vom 17.5.2004 - 20 H 1810/02.A -.

Die arabischen Sunnitinnen und Sunniten stellen im Irak einen Bevölkerungsanteil von etwa 17 bis 22 % dar.

Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006.

Die gewaltsame Wiedererlangung der Macht einer diktatorischen sunnitischen Minderheit durch Bombenanschläge sowohl gegen die Mehrheit der großen Volksgruppen des Irak als auch gegen das erreichte Kriegsziel einer Weltmacht ist nicht realistisch.

Das bestätigt auch die bisherige demokratische Entwicklung des Irak, die durch einen Untergrundkrieg des Widerstands mit täglichen Bombenanschlägen nicht zu verhindern war. Die Entwicklung im Irak ist sowohl durch die demokratische Neugestaltung als auch den Untergrundkrieg mit Bombenanschlägen geprägt.

Die seit dem Irakkrieg 2003 eingetretene politische Entwicklung, insbesondere die demokratische Beteiligung der wesentlichen Gruppen des Iraks, der Schiiten, der arabischen Sunniten und der Kurden, lässt keinen Anhaltspunkt für eine nochmalige diktatorische Minderheitsherrschaft der Sunniten zu, wobei die von Saddam Hussein verfolgte Mehrheit der Schiiten realistischerweise auch nicht als Bündnispartner der Diktatur der Sunnitenminderheit bereit steht.

Am 28.6.2004 wurde unter Beendigung der amerikanisch-britischen Besatzung die Souveränität des Irak wieder hergestellt.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Die am 30.1.2005 erstmals durchgeführten demokratischen Wahlen führten zu einer demokratischen Legitimierung der irakischen Regierung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005.

Aufgrund dieser ersten Wahlen stellten die Schiiten den Ministerpräsidenten und 16 Minister, die Kurden 8 Minister, die Sunniten 6 Minister und die Christen und Turkmenen je einen Minister. Zum Staatspräsidenten wurde am 6.4.2005 der Kurde Talabani gewählt. Seine Stellvertreter wurden ein Schiit und ein sunnitischer Araber. Am 15.10.2005 hat die irakische Bevölkerung in einem Referendum die neue irakische Verfassung entgegen den Bombenandrohungen mit einer Wahlbeteiligung von immerhin 63 % angenommen. Die Verfassung bestimmt, dass der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat ist. Der Islam ist eine Hauptquelle der Gesetzgebung; die Verfassung enthält einen umfassenden Menschenrechtskatalog und garantiert eine Frauenquote von 25 % im Parlament. Am 19.10.2005 hat ein irakisches Sondergericht zur Aufarbeitung der Verbrechen des ehemaligen Regimes das erste Verfahren gegen Saddam Hussein sowie sieben weitere Repräsentanten des früheren Regimes eröffnet.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005, amnesty international, Jahresbericht 2006.

Am 15.12.2005 fanden im Irak Parlamentswahlen mit einer Wahlbeteiligung von immerhin 75 % der Wahlberechtigten ungeachtet der Bombendrohungen statt. Von den 275 Parlamentssitzen errangen die religiöse Schiiten-Allianz 128, das kurdische Wahlbündnis 53 und die sunnitische Irakische Konsensfront 44 Sitze.

Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006.

Die Regierungsbildung war sehr langwierig, da die Kurden und die Sunniten den bisherigen schiitischen Ministerpräsidenten Dschaafari ablehnten. Erst im Mai 2006 wurde eine neue Regierung durch das irakische Parlament bestätigt. Neuer Ministerpräsident ist der Schiit Al-Maliki. Der Ölminister ist Schiit, der Außenminister Kurde und der Vizepremier Sunnit.

Vgl. zur Regierungsbildung Süddeutsche Zeitung vom 22.5.2006.

Insgesamt spiegelt das vollständige Kabinett mit 20 Schiiten, 8 Kurden, 8 Sunniten und 4 Säkularen den ethnisch-konfessionellen Proporz des Irak wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Der Kurde Talabani wurde am 22.4.2006 erneut zum Staatspräsidenten gewählt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Angesichts der Entwicklung der Machtverhältnisse, die von einer Mehrheit der unter dem sunnitischen Regime unterdrückten schiitischen und kurdischen Bevölkerungsgruppen geprägt ist, hält es der Senat mit hinreichender Sicherheit für ausgeschlossen, dass Anhänger des früheren Baath-Regimes bei realistischer Betrachtung als Minderheitsgruppe wieder diktatorische Herrschaftsgewalt ausüben werden, dafür die zuvor von Saddam Hussein verfolgten Volksgruppen gewinnen und sodann die Verfolgung wieder aufnehmen.

Der Verlust des Krieges gegen eine Weltmacht kann realistischerweise nicht mehr umgekehrt werden und dies ist auch wie dargelegt im Vietnamkrieg nicht geschehen.

Nach allem liegt in der Entmachtung von Saddam Hussein und des Minderheitsregimes der arabischen Sunniten einschließlich der spezifischen Verfolgungsmaßnahmen des Regimes eine unumkehrbare Entwicklung. Der Kläger hat mithin offenkundig nicht mehr mit einer wiederholten politischen Verfolgung zu rechnen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Wegfall der politischen Verfolgung bereits im Jahr 2004 als offenkundig bezeichnet, BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, unter eigener Beurteilung der Entwicklung in der Revisionsinstanz.

Der Kläger ist also hinreichend sicher davor, dass der Clan um Saddam Hussein nach dem verlorenen Krieg gegen eine Weltmacht erneut eine sunnitische Minderheitsdiktatur begründet und die Verfolgung des Klägers gerade dort aufnimmt, wo sie 1995 beendet wurde, nämlich mit der vorgetragenen drohenden Verhaftung wegen der Übermittlung von Einzelheiten der Militärfahrzeuge Saddam Husseins an die kurdische Partei PUK im Nordirak. Nach dem herabgesetzten Prognosemaßstab ist der Kläger mithin vor einer solchen Wiederholung dieser spezifischen Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher.

Nach diesem Maßstab droht dem Kläger keine erneute Verfolgung.

Allerdings befürchtet der Kläger dennoch, er werde ungeachtet des Regimewechsels wegen des plausibel vorgetragenen früher begangenen militärischen Geheimnisverrats zugunsten der kurdischen Partei PUK weiterhin zur Rechenschaft gezogen. Dieser in der mündlichen Verhandlung von der Beklagten bestrittene Verfolgungsvortrag kann zugunsten des Klägers als richtig unterstellt werden. Auf Grund der vorgetragenen Verfolgung meint der Kläger nach seinem erstinstanzlichen Vorbringen, er müsse heute von den aktuell an der Macht Befindlichen Verfolgung befürchten, mithin von der irakischen Regierung.

Eine solche Individualverfolgung durch den – an sich verfolgungsfähigen - neuen irakischen Staat ist aber auszuschließen. Saddam Hussein ist durch die Militärmacht der Amerikaner und Engländer entmachtet worden. Die seinerzeit verfolgte und vom Kläger unterstützte kurdische Partei PUK wird nunmehr von Talabani geleitet, der selbst Staatspräsident des Irak ist.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die jetzige, demokratisch legitimierte Regierung des Irak setzt sich aus Gegnern Saddam Husseins zusammen. Insbesondere wurde der schiitische Ministerpräsident Al-Maliki unter Saddam Hussein zum Tode verurteilt; der Ölminister Al-Schahristani war unter Saddam Hussein inhaftiert und gefoltert worden, weil er sich weigerte, an der Entwicklung einer Atombombe und damit der militärischen Macht Saddam Husseins mitzuarbeiten.

Süddeutsche Zeitung vom 22.5.2006.

Ein nachträglicher Schutz einzelner Daten der Militärmacht Saddam Husseins nach dem Stand von 1995 durch die Strafgerichte des neuen irakischen Staats oder durch andere staatliche Maßnahmen liegt außerhalb jeder realen Möglichkeit. Im Visier der Regierungsmaßnahmen ist der sunnitisch-arabische Widerstand. Dazu gehört der Kläger eindeutig nicht, was keiner näheren Darlegung bedarf.

Weiterhin fürchtet der Kläger wegen der damaligen Weitergabe der Daten der Militärfahrzeuge eine Individualverfolgung durch nichtstaatliche Akteure (§ 60 I 4 c AufenthG), und zwar durch das sunnitische Terrorpotenzial, das den neuen irakischen Staat bekämpft. Der Kläger befürchtet einen individuellen Racheakt.

Eine solche Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu prüfen, wenn der Staat beziehungsweise gebietsmächtige Organisationen einschließlich internationaler Organisationen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 -.

Nach der zutreffenden Einschätzung von UNHCR sind die Koalitionstruppen und die irakischen Sicherheitskräfte, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, nicht im Stande, die Sicherheit vor Attentaten zu gewährleisten.

UNHCR, Hinweise von April 2005; Position von September 2005; ebenso UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Mithin ist die Gefahr eines individuellen Attentats auf den Kläger zu prüfen.

In der irakischen Wirklichkeit kommen individuelle Racheakte vor. Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich insbesondere, dass Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der Regierung zusammenarbeiten, mit Racheakten des bewaffneten sunnitischen Widerstands rechnen müssen.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und schon vom 24.11.2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005 sowie vom 9.6.2004: frühere exponierte Parteimitglieder und Angehörige des früheren Regimes, die die Seite gewechselt haben; keine Berichterstattung über solche Fälle in amnesty international, Jahresbericht 2006.

So hat sich das Deutsche Orient-Institut insbesondere mit dem Fall eines Arztes befasst, der nach dem Ende des Saddam-Regimes einen Lagerwechsel vornahm, politisch gegen das ehemalige Regime arbeitete und dafür von dem sunnitischen Widerstand gezielt ermordet wurde; hier hat das Deutsche Orient-Institut eine individuelle Gefahr auch für den Bruder des ermordeten Arztes bejaht.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006.

Insofern werden Seitenwechsler als Verräter und Kollaborateure im Einzelfall von dem sunnitischen Widerstand durch Racheakte bestraft.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006.

Zu diesen Personen gehört der Kläger aber nicht, der als bereits ursprünglicher Gegner Saddam Husseins und Anhänger der kurdischen Sache zu keinem Zeitpunkt die Seite gewechselt hat. Vielmehr hat er nach seiner Erstanhörung vom 13.12.1995 die Zusammenarbeit mit der Baath-Partei von Saddam Hussein abgelehnt.

Im Einzelfall kommen auch Racheakte von ehemaligen Anti-Saddamisten an Saddamisten vor, wenn es auch im Irak keine „Nacht der langen Messer“ gegeben hat.

Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 3.4.2006.

Auch davon ist der Kläger nicht betroffen, da er kein Saddamist war.

Im Übrigen kommen auch individuelle Racheakte im Verhältnis von Schiiten und Sunniten vor, die sich gegenseitig die begangenen Morde vorrechnen; diejenigen, die sich für ihre Racheakte Opfer suchen, tun dies auf ganz direkte Weise und aus ganz direkten Gründen.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006.

Bezogen auf die Vergangenheit kommt es in Einzelfällen zu individuellen Racheakten aus dem ganz direkten Grund, dass jemand persönlich Blut an seinen Händen hat.

So das Deutsche Orient-Institut in seinen Gutachten vom 14.6.2005 und vom 31.3.2005.

Auch eine solche Individualgefahr von Racheakten betrifft den Kläger nicht, der bereits nach seinem ursprünglichen Vortrag bei seiner Erstanhörung in Deutschland vom 13.12.1995 bis einschließlich der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nichts über eine Verwicklung in eine Bluttat vorgetragen hat.

Indirekte Gründe begründen dagegen nicht die realistische Gefahr eines Racheaktes. Insbesondere haben selbst die früheren Kämpfe gegen die Kurden heute nicht mehr das Gewicht, das für einen Racheakt einer der beiden Seiten erforderlich wäre.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.6.2005, mit Ausnahme der persönlichen Verantwortlichkeit für ein Massaker, die hier aber ersichtlich nicht vorliegt.

Ist aber bereits die direkte Beteiligung an früheren Kämpfen zwischen Kurden und Arabern heute nicht mehr unter dem Gesichtspunkt von gegenseitigen individuellen Racheakten von Gewicht, gilt dies erst recht für die bloß indirekte Beteiligung an den Kämpfen durch Übermittlung von Fahrzeugdaten der Militärfahrzeuge Saddam Husseins nach dem Stand von 1995. Die damaligen Übermittlungen des Klägers von Fahrzeugdaten an die Kurden fanden acht Jahre vor dem entscheidenden Irak-Krieg von 2003 statt, durch den Saddam Hussein die Macht verloren hat. Zu diesem entscheidenden Irak-Krieg hat der Kläger, der in Deutschland war, nichts beigetragen. Die militärischen Einzelheiten von Armeefahrzeugen Saddam Husseins nach dem seinerzeitigen Stand von 1995 haben keine Bedeutung für den jetzigen sunnitischen Widerstand, der den aktuellen Staat aus dem Untergrund mit Autobomben und Selbstmordattentaten – und nicht etwa mit Panzern und Armeefahrzeugen - bekämpft. Deshalb ist der Kläger bei realistischer Betrachtung nicht in Gefahr, wegen seiner indirekten Unterstützung der kurdischen Sache im Jahr 1995 persönliche Zielscheibe eines Attentats des sunnitischen Widerstands zu werden.

Nach allem ist der Kläger hinreichend sicher vor einer Individualverfolgung wegen seiner vorgetragenen früheren indirekten Unterstützung der kurdischen Sache.

Auf den Streit der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung, ob der durchaus plausible ursprüngliche Verfolgungsvortrag des Klägers zutrifft, kommt es daher nicht an.

Sonstige Gesichtspunkte für eine Individualverfolgung des Klägers sind weder ersichtlich noch vorgetragen.

Zu prüfen ist sodann die in der mündlichen Verhandlung erörterte mögliche Gruppenverfolgung des Klägers als Mitglied der kurdisch-sunnitischen Volksgruppe durch Terrorkräfte als private Akteure. Bei der ethnisch-religiösen Gruppenverfolgung durch Private handelt es sich um eine gänzlich anders geartete Verfolgung als bisher behandelt ohne jeden Zusammenhang mit der Vorverfolgung durch Saddam Hussein, und deshalb ist im Rahmen der Widerrufsreglung nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – BVerwG 1 C 15.05 -.

Ein Ereignis ist dann beachtlich wahrscheinlich, wenn die für den Eintritt sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen.

BVerwG, Urteil vom 14.12.1993 – 9 C 45.92 -.

Ausgehend von diesem Maßstab droht dem Kläger als Mitglied der kurdischen Volksgruppe landesweit keine Gruppenverfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Als tatsächlicher Grund für eine solche Verfolgung sind die Terroranschläge im Irak zu prüfen.

Das größte Risiko für alle Menschen im Irak ist die instabile, manchmal eskalierende Sicherheitslage durch die Terroranschläge aus dem Untergrund, die an der Tagesordnung sind.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005 und Jahresbericht 2006; zur landesweit anhaltenden Gewalt auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Im Irak gibt es täglich landesweit mehr als hundert Anschläge aus dem Untergrund.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -, S. 15; zu den Anschlagsarten SFH, Position vom 9.6.2004.

Das entspricht einem Untergrundkrieg, wie auch in der mündlichen Verhandlung erörtert wurde.

Insgesamt hat die Sicherheitslage im Irak einen Tiefpunkt erreicht.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Sicherheitslage ist nicht nur in Bagdad prekär, sondern auch in den anderen großen Städten des Zentral- und Südirak sehr angespannt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Nach der zutreffenden Einschätzung von UNHCR sind die Koalitionstruppen und die irakischen Sicherheitskräfte, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, nicht imstande, die Sicherheit der irakischen Bevölkerung vor Attentaten und Sprengstoffanschlägen zu garantieren.

UNHCR, Hinweise von April 2005, UNHCR, Position von September 2005; UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Die darzulegenden Gefahren sollen hier im Rahmen des rechtlichen Ansatzes des Senats nach dem Maßstab der landesweiten Gruppenverfolgung dahingehend betrachtet werden, ob sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung zu Lasten des Klägers, der ein sunnitischer Kurde ist, begründen lässt; danach ist auf eine Fluchtalternative einzugehen.

Die den Untergrundkrieg führende bewaffnete Opposition im Irak setzt sich aus verschiedenen Gruppierungen zusammen mit einem harten Kern von ungefähr 12.000 bis 40.000 Mitgliedern, die teils einen islamistischen Hintergrund, teils einen arabisch-nationalistischen Hintergrund haben.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, wonach sich bei 20.000 Militanten eine klar Trennlinie zwischen baathistischen und islamistischen Rebellen nicht ziehen lässt.

Zwischenzeitlich besteht der bewaffnete Widerstand im Untergrund ganz überwiegend aus sunnitischen Arabern.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands, unter Hinweis darauf, dass etliche prominente und vor allem ausländische Mitglieder der Al-Qaida inzwischen durch den beträchtlichen Druck der amerikanischen Besatzungstruppen entweder festgenommen worden sind oder bereits im Kampf gefallen sind.

Der Hauptzweck des bewaffneten Widerstandes wird in dem Erkenntnismaterial praktisch einhellig darin gesehen, den Wiederaufbau des Landes zu verhindern oder wenigstens nachhaltig zu stören.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien vom 4.2.2006; Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands; sinngemäß auch UNHCR, Hinweise von April 2005, dort in personalisierter Form des Ziels mit Blick auf die Personen des Wiederaufbaus.

Für den bewaffneten irakischen Widerstand stellt die schiitisch dominierte irakische Regierung derzeit den Hauptgegner dar, irakische Truppeneinheiten sind ein bevorzugtes Angriffsziel.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Es gibt derzeit landesweit etwa 240.000 irakische Soldaten und Polizisten.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Im Erkenntnismaterial besteht im Wesentlichen Übereinstimmung, dass zu dem Hauptziel der Anschläge die irakische Regierung und die irakischen Sicherheitskräfte gehören.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, zu den irakischen Sicherheitskräften; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 6.9.2005, zu den irakischen Sicherheitskräften; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, zu den Regierungsmitgliedern; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 9.6.2004, zu den neuen irakischen Sicherheitskräften; UNHCR, Hinweise von April 2005, zu den Mitarbeitern der irakischen Regierung und zu Polizisten; amnesty international, Jahresbericht 2006.

Diese Personen sind als Zielscheibe des Terrors einem erhöhten Risiko ausgesetzt, durch Bombenanschläge in dem Untergrundkampf umzukommen. Nach der Einschätzung von amnesty international sind alle Personen, die bei den multinationalen Streitkräften oder bei der irakischen Polizei angestellt sind, in Gefahr, gezielt bei der Arbeit oder in ihrer Freizeit als Kollaborateur ermordet zu werden.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; amnesty international, Jahresbericht 2006.

Der Kläger gehört eindeutig nicht zu diesem erhöht gefährdeten Personenkreis.

Entsprechend dem dargelegten Ziel des bewaffneten Widerstandes, den Wiederaufbau im Irak zu verhindern, gehören zu den engeren Anschlagszielen über Regierung und Sicherheitskräfte hinaus die öffentlichen Personen des Wiederaufbaus.

Zu den exponierten Personen gehören nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe Personen der Öffentlichkeit wie Intellektuelle, Ärzte, Anwälte, Richter, Menschenrechtsaktivisten, führende Persönlichkeiten irakischer Parteien, religiöse Würdenträger, Medienschaffende und irakische Unternehmer.

Vgl. die insgesamt sehr umfangreiche Auflistung erhöht gefährdeter Personen des Wiederaufbaus in den Berichten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9.6.2004 und vom 15.6.2005.

Damit vergleichbar sind nach der Einschätzung von UNHCR insbesondere Personen gefährdet, die sich um den Wiederaufbau im Irak bemühen, wie über Regierungsmitglieder und Polizisten hinaus Richter, Rechtsanwälte, Intellektuelle, Ärzte und Journalisten.

UNHCR, Hinweise von April 2005 und Positionspapier von Oktober 2004.

Anschlagsziele sind nach der vergleichbaren Darlegung von amnesty international auch Angestellte des öffentlichen Dienstes, Regierungsbeamte, Richter und Journalisten.

amnesty international, Jahresbericht 2006.

Auch nach der Würdigung des Auswärtigen Amtes richten sich die Anschläge zunächst vor allem gegen Personen, die mit dem politischen oder wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes verbunden werden.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, in der Zusammenfassung; im Einzelnen werden insbesondere Anschläge auf Politiker, Journalisten und Professoren sowie Ärzte dargestellt.

Der Senat legt für seine Rechtsprechung die im Wesentlichen übereinstimmende Einschätzung des Auswärtigen Amtes, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von UNHCR zugrunde, dass die Anschläge insbesondere auch öffentlichen Personen des Wiederaufbaus im Irak gelten.

Zur terminologischen Klarstellung sei noch darauf hingewiesen, dass teilweise die Personen, die lediglich gegenwärtig am Wiederaufbau teilnehmen, schon deshalb ohne weiteren Vergangenheitsbezug als Kollaborateure angesehen werden (im Gegensatz zu den bereits dargestellten Seitenwechslern). So sind nach der Einstufung von amnesty international alle Personen, die derzeit bei den multinationalen Streitkräften oder bei der irakischen Polizei angestellt sind, in Gefahr, gezielt als Kollaborateur ermordet zu werden.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; für Angestellte der multinationalen Streitkräfte nochmals amnesty international, Jahresbericht 2006.

In diesem weiten Sinn gebraucht auch der vom Kläger herangezogene Widerrufsbescheid vom 19.10.2004, S. 8 (Widerrufsakte Bl. 25) den Begriff Kollaborateur, wonach die anhaltenden Anschläge im Irak in aller Regel zielorientiert den multinationalen Truppen gelten, den irakischen Polizeistationen sowie der Kollaboration verdächtigten Repräsentanten irakischer Institutionen sowie ausländischen Zivileinrichtungen.

Dieser weit gefasste Begriff der Kollaboration knüpft allein an die gegenwärtige Wiederaufbaubeteiligung an.

Ähnlich Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006, wonach kooperations- und beteiligungswillige arabische Sunniten von den gewalttätigen Kräften als Kollaborateure angesehen werden.

Nach allem ist der Senat mit Blick auf die übereinstimmende Würdigung des Auswärtigen Amts, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von UNHCR der Auffassung, dass engere Anschlagsziele über Regierung und Sicherheitskräfte hinaus die öffentlichen Personen des Wiederaufbaus mit einer daraus folgenden erhöhten Gefährdung sind.

Zu dieser Personengruppe gehört der Kläger nicht. Er ist bezogen auf den gegenwärtigen Wiederaufbau des Irak schon wegen seiner über zehnjährigen Abwesenheit seit 1995 keine öffentliche Person des Wiederaufbaus. Mithin kann realistischerweise ausgeschlossen werden, dass der Kläger nach einer Rückkehr in den Irak als öffentliche Person des Wiederaufbaus und in diesem Sinn als Kollaborateur zu den engeren Anschlagszielen des bewaffneten irakischen Widerstands gehört.

Da der sunnitische Widerstand vor allem die schiitisch dominierte Regierung als Hauptgegner ansieht, gerät die schiitische Volksgruppe insgesamt in das Blickfeld des Widerstands und kommt es im Sinne von weiter gestreuten Zielen auch zu Selbstmordattentaten insbesondere in schiitischen Vierteln Bagdads, die überwiegend der schiitischen Volksgruppe gelten.

Vgl. zu einem solchen Attentat mit 140 getöteten Zivilpersonen amnesty international, Jahresbericht 2006, S. 209; zur internen Diskussion von Anschlägen auf Schiiten vgl. Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstandes.

Auf die Bedrohung der schiitischen Volksgruppe ist noch einzugehen.

Solche Anschläge bedeuten aber zugleich eine Gefahr für alle Zivilpersonen, die sich – auch als Nichtschiiten wie der Kläger – zufällig in einem solchen schiitischen Stadtviertel aufhalten.

Im Falle einer Rückkehr in den Irak ist der Kläger auch als Kurde der landesweiten Gefahr von Terroranschlägen letztlich ebenso ausgesetzt wie die Zivilbevölkerung des Irak, und zwar ohne hinreichenden Schutz der Sicherheitskräfte. Als allgemeine Gefahr für die gesamte Zivilbevölkerung wird die Anschlagswelle auch im Erkenntnismaterial gesehen.

Das Auswärtige Amt würdigt die Anschläge ausdrücklich als enorme allgemeine Bedrohung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Das Deutsche Orient-Institut sieht dies ebenso. Die zahlreichen Anschläge gelten danach insbesondere Institutionen der irakischen Sicherheitskräfte, von ihnen sind aber alle Irakerinnen und Iraker bedroht; die Terroristen nehmen den Tod völlig Unbeteiligter massenhaft in Kauf.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 6.9.2005.

Nach der Feststellung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe werden Zivilisten oft Opfer, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 9.6.2004.

Nach der Würdigung des Auswärtigen Amtes trägt die weitgehend ungeschützte Zivilbevölkerung den Großteil der Opferlast.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Passanten werden regelmäßig Opfer von Gewalt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Nach Darlegung von amnesty international kommen Zivilpersonen ums Leben bei Autobomben oder Anschlägen von Selbstmordattentätern, die an sich der irakischen Polizei, Regierungstruppen, Militärkonvois und Stützpunkten der multinationalen Truppen gelten.

amnesty international, Jahresbericht 2006.

Bei den Sprengstoffanschlägen werden nach Darlegung von UNHCR unbeteiligte zivile Opfer von den Akteuren bewusst in Kauf genommen.

UNHCR, Hinweise von April 2005.

Ein Minimum an Schutz der Zivilbevölkerung vor den Bombenanschlägen besteht nicht.

UNHCR, Position von September 2005.

Der Senat geht sodann auf die landesweite Anschlagsdichte ein.

Entsprechend der Betrachtungsweise, dass die Zivilbevölkerung insgesamt Opfer der Terroranschläge ist, enthält das Erkenntnismaterial summierte Zahlen über die zivilen Opfer für den gesamten Irak.

Die Anschlagsopfer unter den Sicherheitskräften einerseits und unter der Zivilbevölkerung andererseits werden im Erkenntnismaterial verglichen. Besonders hohe Verluste haben die irakischen Sicherheitskräfte mit – allein 2005 – 4300 getöteten Polizisten und Soldaten.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Amnesty international hat sowohl die Opfer unter den amerikanischen Soldaten als auch unter der Zivilbevölkerung landesweit konkret dargelegt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Danach wurden durch die Anschläge 1.572 US-Soldaten getötet und 12.174 verletzt. Bei den Anschlägen kamen 2.300 Zivilisten ums Leben und die Anzahl der zivilen Opfer insgesamt wird zwischen 21.239 und 24.106 eingeschätzt. Das Auswärtige Amt gibt eine – pauschale - höhere Zahl von Opfern unter den Zivilisten zwischen 30.000 und 100.000 wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Bezogen auf die Zivilbevölkerung des Irak ist zunächst mit Blick auf das Gewicht der Verfolgungshandlungen von dem schwersten asylerheblichen Eingriff der Anschläge mit Todesfolge auszugehen und die Anschlagsdichte festzustellen.

Die – jährlich wachsende - Bevölkerung des Irak beträgt rund 27 Millionen Menschen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die mehrjährigen Todesopfer unter der Zivilbevölkerung durch Massenanschläge gibt amnesty international mit über 2.300 Menschen an.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort S. 10.

Die Anschlagsdichte der tödlichen Anschläge beträgt mithin für die gesamte Zivilbevölkerung des Irak im Durchschnitt 1:12.000.

Nach dem schwerstmöglichen Eingriff der Tötung ist auf die Verletzungsgefahr durch Massenanschläge abzustellen. Dafür liegen sowohl konkrete Zahlen als auch pauschale Abschätzungen vor. Nach den konkreten Zahlen von amnesty international wurden landesweit zwischen 21.239 und 24.106 zivile Opfer durch Anschläge geschätzt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, S. 10.

Auszugehen ist von der Maximalzahl von 24.106 Opfern. Bezogen auf die Verletzungsgefahr ist damit die Anschlagsdichte auf der Grundlage der Zahlen von amnesty international 1:1100.

Eine nochmals viermal höhere pauschale Schätzung für die zivilen Opfer gibt das Auswärtige Amt mit 30.000 bis 100.000 Opfern wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, dort S. 15.

Nach den derzeitigen Zahlen wurden jeden Monat 3.000 Iraker verletzt oder getötet.

Süddeutsche Zeitung vom 4.9.2006, S. 1, unter Wiedergabe einer Analyse des amerikanischen Verteidigungsministeriums.

Das entspricht auf das Jahr bezogen rund 36.000 Anschlagsopfern.

Geht man von der noch höheren Schätzung des Auswärtigen Amtes von 100.000 Anschlagsopfern aus, ergibt sich als Höchstabschätzung eine landesweite Anschlagsdichte von 1:270.

Zahlen liegen auch für Bagdad vor, die einen Vergleich von Tötungsrate und Entführungsrate ermöglichen. So beträgt nach den Zahlen von amnesty international speziell die Tötungsrate in Bagdad, hier aber einschließlich der Kriminalität, 90 von 100.000 Einwohnern.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort S. 10; zu einer Gewalteskalation in Bagdad mit 1091 Tötungen im April 2006 vgl. Süddeutsche Zeitung von 11.5.2006, S. 7.

Auf dieser Grundlage besteht die Gefahr, in Bagdad durch Anschläge oder anschlagsunabhängig durch Kriminelle getötet zu werden, rund 1:1.100.

Ähnlich groß ist in Bagdad die Entführungsgefahr. Ausgehend von täglich 10 bis 15 meist kriminellen Entführungsfällen

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/005.OVG -, S. 15

ergeben sich bei täglich 15 Fällen im Jahr rund 5500 Entführungen und damit bezogen auf die 5-Millionen-Stadt eine Entführungsrate von rund 1:900.

Die Entführungsrate ist also der Tötungsrate vergleichbar.

Die dargelegten Zahlen belegen die äußerst problematische und manchmal eskalierende Sicherheitslage im Irak und die Gefahr der Zivilbevölkerung, durch einen Anschlag verletzt oder getötet oder entführt zu werden. Ein vollständiges Ausweichen vor den Anschlägen ist der Zivilbevölkerung des Irak landesweit nicht möglich, auch wenn im kurdisch verwalteten Nordirak die Anschlagsdichte insgesamt geringer ist.

Vgl. zu Letzterem übereinstimmend Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006 sowie Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, wonach die Sicherheitslage im Nordirak mit Ausnahme von wenigen Anschlägen stabil ist, und UNHCR, Position von September 2005, wonach deutlich weniger Gewalttaten verübt werden.

Mithin liegt eine allgemeine Gefahr für die Zivilbevölkerung vor, der sie landesweit nicht vollständig ausweichen kann. Es ist verständlich, dass der Kläger in ein solches Land nicht zurückkehren möchte, in dem er sich nach seinem persönlichen Vorbringen in der mündlichen Verhandlung überdies als Ausländer fühlt.

Für den Widerruf entscheidend ist aber nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts allein das Vorliegen einer Verfolgungsgefahr, nicht einer allgemeinen Gefahr. Deshalb muss der Senat prüfen, ob sich die Gefahr zugunsten des Klägers rechtlich als Gruppenverfolgungsgefahr würdigen lässt.

Als Gruppenverfolgung kommt hier die private Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure, insbesondere den sunnitischen Untergrund, in Betracht.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner neuen Rechtsprechung klargestellt, dass für die private Gruppenverfolgung grundsätzlich die gleichen Anforderungen wie für eine staatliche Gruppenverfolgung gelten.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Diesem Maßstab schließt sich der Senat an.

Der Senat prüft im Folgenden als generelle Verfolgungsmuster im Irak nacheinander eine Gruppenverfolgung der Zivilbevölkerung und dann der großen Volksgruppen.

Die allgemeine Anschlagsgefahr kann zugunsten des Klägers nicht bereits als Gruppenverfolgung der Zivilbevölkerung des Irak insgesamt angesehen werden. Das ergibt sich sowohl aus dem erforderlichen Ausgrenzungsgesichtspunkt der Verfolgung als auch aus dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet die politische Verfolgung grundrechtlich eine Ausgrenzung durch intensive Rechtsverletzungen.

BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 231.

Die Zivilbevölkerung des Irak kann nicht im Ganzen aus dem irakischen Volk ausgegrenzt werden.

Das Europarecht führt mit Eindeutigkeit zu demselben Ergebnis. Nach Art. 10 I d der neuen als Auslegungshilfe heranziehbaren europäischen Qualifikationsrichtlinie muss eine verfolgte Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität haben und von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Dies scheidet bei der Zivilbevölkerung des Irak aus, denn für sie existiert keine sie umgebende Gesellschaft.

Weiterhin fehlt es selbst bei unterstellter Ausgrenzung an dem Merkmal der Verfolgungsdichte. Die Gruppenverfolgung bedeutet eine Regelvermutung der eigenen Verfolgung.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Eine Gruppenverfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voraus, dass jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muss; die eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen muss als eher zufällig anzusehen sein.

Zu diesen Merkmalen BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216-231 und 232.

Bei der Verfolgungsdichte ist sodann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwischen großen und kleinen Gruppen zu unterscheiden, da eine bestimmte absolute Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe als bedrohlich erweist, eine große Gruppe nicht im Ganzen bedroht.

BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158/94 -, zitiert nach Juris.

Als große Gruppe hat das Bundesverwaltungsgericht insbesondere eine Gruppe von knapp 2 Millionen Kosovo-Albanern sowie eine Gruppe von 4 Millionen Kurden in bestimmten Gebieten der Türkei angesehen, als kleine Gruppe insbesondere eine Gruppe syrisch-orthodoxer Christen in der Türkei von etwa 1.300 Personen.

Zu den großen Gruppen BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158/94 -; Urteil vom 30.4.1996 - 9 C 170/95 -; zu der kleinen Gruppe Beschluss vom 22.5.1996 - 9 B 136/96 -.

Bei der Zivilbevölkerung des Irak von 27 Millionen Menschen läge im Sinne der Rechtsprechung zur Verfolgungsdichte eine große Gruppe vor. Einen Anhaltspunkt für die erforderliche Verfolgungsdichte ergibt sich aus der dargelegten Verfassungsrechtsprechung, wonach die eigene bisherige Verschonung eher zufällig sein muss. Dies erfordert zwar nicht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit von Eingriffen, da auch eine qualitative Betrachtung erforderlich ist. Bezogen auf eine große Gruppe hat das Bundesverwaltungsgericht eine Verfolgungsdichte von etwa einem Drittel als im Ansatz ausreichend angesehen, die aber auf entsprechender Tatsachengrundlage belegt werden muss.

BVerwG, Urteil vom 30.4.1996 - 9 C 170/95 -, wonach der Ansatz des Berufungsgerichts von 1,5 Millionen Eingriffen gegenüber 4 Millionen Kurden mit Blick auf die erforderliche Verfolgungsdichte nicht beanstandet wird, wohl aber mit Blick auf die Belegung durch Tatsachenfeststellungen.

Die genaue Grenzziehung kann offen bleiben. Im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird die notwendige Verfolgungsdichte bei einer großen Gruppe allenfalls noch bei einer Verfolgungsdichte von 1:10 erreicht; dann könnte noch von einer Regelvermutung der eigenen Verfolgung gesprochen werden. Positiv gewendet überleben bei dieser Verfolgungsdichte 90 % der Mitglieder der großen Volksgruppe die Anschläge unverletzt. In diesem Fall kann es im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr als Zufall angesehen werden, dass ein einzelnes Mitglied der Volksgruppe unverletzt überlebt.

Die dargelegte Anschlagsdichte für die Zivilbevölkerung nach den konkreten Zahlen von amnesty international für Verletzungsopfer von 1:1100 und selbst nach den höheren pauschalen Zahlen des Auswärtigen Amtes von 1:270 wahrt einen sicheren Abstand von der kritischen Verfolgungsdichte von 1:10. Bei der festgestellten landesweiten Anschlagsdichte im Irak kann es ungeachtet der Furchtbarkeit der Einzelschicksale nicht mehr als bloßer Zufall angesehen werden, dass ein Gruppenmitglied bisher selbst von einem Anschlag verschont worden ist und im Irak unverletzt überlebt. Vielmehr ist es ein Zufall, selbst von einem Anschlag getroffen zu werden. Die Tötungs- und Entführungsgefahr ist wie dargelegt geringer als die Verletzungsgefahr. Bei einer qualitativen Wertung kann ausgeschlossen werden, dass entsprechend den Verfolgungsvoraussetzungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die gesamte Zivilbevölkerung des Irak gezwungen wäre, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage ihr Land zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen.

Zu dieser Voraussetzung BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 230.

Ungeachtet der landesweit ungewöhnlich hohen Anschlagszahlen im Irak und der problematischen Sicherheitslage besteht nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jedes Mitglied der Zivilbevölkerung allenfalls noch zufällig ohne Entführung und unverletzt überleben kann, in eine ausweglose Lage gebracht wird und das Land verlassen muss.

Bei der Frage der Gruppenverfolgung ist nach der Zivilbevölkerung als größtmöglicher Gruppe auch die Aufgliederung des Irak in große Bevölkerungsgruppen als generelles Verfolgungsmuster in den Blick zu nehmen.

Die größte Bevölkerungsgruppe bilden die arabischen Schiitinnen und Schiiten, die rund 60 % bis 65 % der Bevölkerung ausmachen und vor allem im Südosten und Süden des Landes wohnen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe sind die arabischen Sunnitinnen und Sunniten mit etwa 17 bis 22 % der Bevölkerung und damit rund 5 Millionen, die ihren Schwerpunkt im Zentralirak und Westirak haben.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die vor allem im Norden des Landes lebenden überwiegend ebenfalls sunnitischen Kurdinnen und Kurden machen mit 15 bis 20 % der Bevölkerung rund 5 Millionen aus.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

In Bagdad leben unterschiedliche Bevölkerungsgruppen teilweise in eigenen Vierteln.

Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; amnesty international, Jahresbericht 2006 für schiitische Viertel.

Engeres Ziel der Anschläge des irakischen Widerstandes sind die irakischen Sicherheitskräfte, d.h. die irakischen Truppeneinheiten und die neue irakische Polizei. Der Truppen- und Polizeieinsatz der irakischen Sicherheitskräfte erfolgt landesweit. Da diese Sicherheitskräfte Zielscheibe des Terrors sind, erfolgen die Anschläge nach dem Erkenntnismaterial landesweit und sind nicht etwa auf den Zentralirak begrenzt.

Zu den landesweiten Anschlägen eingehend Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005, ebenfalls zu den landesweiten Anschlägen amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, zur Gefahr für jeden Iraker Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Auch im Nordirak erfolgen Anschläge etwa auf Polizeirekruten.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Ungeachtet der Binnenströme der Bevölkerung jeweils zu ihren eigenen Hochburgen

vgl. zu Binnenvertreibungen aus den Hochburgen anderer Bevölkerungsgruppen außerhalb Bagdads insbesondere Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; zu Binnenvertreibungen von 35.000 Menschen aufgrund des Anschlags auf die schiitische Moschee von Samarra Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

treffen bei einer Gesamtbetrachtung die landesweiten Bombenanschläge im Irak neben dem eigentlichen Ziel der irakischen Sicherheitskräfte auch immer die Zivilbevölkerung jedes Geschlechts und Alters in ihrer jeweiligen Volksgruppenprägung. Die Terroristen nehmen den Tod völlig unpolitisch-unbeteiligter Irakerinnen und Iraker massenhaft in Kauf, und Zivilpersonen werden oft Opfer, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind.

Amnesty international, Jahresbericht 2006; Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005 und Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004, UNHCR, Hinweise von April 2005.

Die Zivilbevölkerung trägt den Großteil der Opferlast der Anschläge.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Dieser Zusammenhang von Operationen gegen die irakischen Polizei- und Militärkräfte und gegen die Zivilbevölkerung ist auch dem bewaffneten irakischen Widerstand bewusst und führt dort zu Differenzen.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Solange der Tod der unpolitisch-unbeteiligten Zivilbevölkerung massenhaft in Kauf genommen wird, ist jede Irakerin und jeder Iraker, ungeachtet der Religionszugehörigkeit, von diesen Anschlägen bedroht.

So überzeugend Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Nach der demografischen Zusammensetzung des Irak sind rund 60 % der Bevölkerung Frauen – also etwa 17 Millionen – und 50 % der Bevölkerung – also etwa 13,5 Millionen – sind unter 18 Jahren alt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die gewaltsamen Anschläge können gleichsam blind jeden treffen.

OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -.

Auch Kinder sind Opfer der Bombenanschläge.

Amnesty international, Jahresbericht 2006.

Bei dieser Sachlage fehlt es aber bei den Anschlägen an einer Ausgrenzung jedenfalls der großen Volksgruppen mit Ausnahme allenfalls der schiitischen Volksgruppe. Nach der Verfassungsrechtsprechung knüpft die Gruppenverfolgung an kollektive Merkmale einer Gruppe an.

BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 231.

Die dargelegten Terroranschläge, die eigentlich auf die Sicherheitskräfte und auf öffentliche Personen des Wiederaufbaus zielen, treffen wegen des Terrormittels der Bombenexplosionen je nach dem Wohnviertel immer auch die jeweilige unbeteiligte Zivilbevölkerung, in einem schiitischen Wohnviertel mithin vor allem Schiiten. Der Kampf des sunnitischen Widerstandes gegen die schiitisch dominierte Regierung kann allerdings auch die große schiitische Volksgruppe in den Blick nehmen und im Weiteren etwa auch schiitische Stadtviertel Bagdads einschließen.

Zur Vorgehensweise amnesty international, Jahresbericht 2006; zu den Widerstandszielen einschließlich der kontrovers diskutierten Anschläge auf Schiiten Le Monde diplomatique vom 12.5.2006.

Bei solchen Selbstmordanschlägen und Autobomben wird aber zugleich die unbeteiligte Zivilbevölkerung auch von Sunniten und Kurden mit betroffen.

Allenfalls bei Anschlägen in Form gezielter Erschießungen nach Kontrolle der Volkszugehörigkeit an Hand der Ausweise kann es vorkommen, dass bei demselben Attentat nach dem Gruppenmerkmal Schiiten getötet und Sunniten verschont werden.

Vgl. den in der NZZ vom 6.6.2006, S. 1, geschilderten Busüberfall mit der Erschießung von 24 Schiiten und der Verschonung von Sunniten; der Jahresbericht 2006 von amnesty international enthält nur einen allgemeinen, nicht konkretisierten Hinweis auf Anschläge wegen Zugehörigkeit zu religiösen oder ethnischen Gruppen.

Über derart gezielte Anschläge speziell nach dem Gruppenmerkmal der kurdischen Volkszugehörigkeit wird nicht berichtet. Vielmehr kann insofern nur auf arabisch-kurdische Spannungen in den – nicht unter kurdischer Verwaltung stehenden – multiethnischen Städten Mosul und Kirkuk hingewiesen werden, die sich insbesondere in Autobombenanschlägen zu Lasten der Zivilbevölkerung entladen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, wonach es in Kirkuk 2005 zu über 70 Autobombenanschlägen gekommen ist.

Davon abgesehen steht die kurdische Volksgruppe landesweit nicht derart im Blickfeld des sunnitischen Widerstands wie die schiitische Volksgruppe.

Die unmenschliche Anschlagswirklichkeit im Untergrundkampf wird durch die landesweiten Bombenanschläge insbesondere in Form von Selbstmordattentaten und Autobomben geprägt, die die Zivilbevölkerung insgesamt blind treffen. So wird die Wirkung der Anschläge ersichtlich auch im Erkenntnismaterial gesehen. Das Auswärtige Amt gliedert seine pauschale Schätzung der Opfer nicht nach Volksgruppen auf.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, und methodisch ebenso Lagebericht vom 24.11.2005.

Das Auswärtige Amt hält Passanten für regelmäßige Opfer der Gewalt und sieht den Großteil der Opferlast bei der Zivilbevölkerung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Organisation amnesty international gibt bei den Anschlägen die landesweite Zahl der zivilen Opfer wieder, gibt sie konkret mit 21.239 bis 24.106 an und gliedert sie ebenfalls nicht nach Bevölkerungsgruppen auf.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Das Auswärtige Amt berichtet über den Anschlag auf die schiitische Moschee in Samarra am 22.2.2006 und über Gegenanschläge auf sunnitische Moscheen und gibt die Opfer dieser konfessionell motivierten gegenseitigen Gewalt mit über 1000 Menschen an, gliedert sie aber nicht nach Schiiten und Sunniten auf.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Bezogen auf Volksgruppen als Anschlagsopfer referiert amnesty international einen konkreten Bombenanschlag auf vorwiegend Schiiten mit 114 getöteten Zivilpersonen, bezieht aber die landesweit aufsummierten Opferzahlen allein auf Zivilpersonen ohne Aufspaltung auf die Volksgruppen.

Vgl. zum Ersteren amnesty international, Jahresbericht 2006; zum Letzteren allgemeine Zahlen im Gutachten vom 16.8.2005.

Das Deutsche Orient-Institut hält wie dargelegt jede Irakerin und jeden Iraker ungeachtet seiner Religionszugehörigkeit durch die Anschläge der Terroristen für bedroht. Die Anschläge sind also weder auf den Zentralirak noch auf bestimmte Gruppen begrenzt.

Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe sieht den Zusammenhang, dass irakische Zivilisten oft Opfer sind, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind; Zivilpersonen können bei Anschlägen nicht geschützt werden.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Übereinstimmend damit ist auch die Sichtweise von UNHCR, wonach im Irak tägliche Attentate und Sprengstoffanschläge vor allem gegen Polizisten und Polizeirekruten sowie Mitarbeiter der Regierung verübt werden und unbeteiligte zivile Opfer dabei von den Akteuren bewusst in Kauf genommen werden.

UNHCR, Hinweise von April 2005, zu Opfern unter Christen UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Nach den dargelegten Kriterien der Gruppenverfolgung in der Verfassungsrechtsprechung und den Ausgrenzungskriterien des Europarechts kann schwerlich angenommen werden, alle großen Volksgruppen – Schiiten, Sunniten und Kurden – und damit insgesamt fast alle der 27 Millionen Iraker würden von dem Untergrundkrieg aus der umgebenden verbleibenden Gesellschaft ausgegrenzt. Insbesondere spricht nichts für eine Ausgrenzung der Kurden, und zwar weder landesweit noch für den Zentralirak. Am ehesten könnte eine Ausgrenzung der größten schiitischen Volksgruppe von rund 17 Millionen Irakern durch den sunnitisch geprägten Widerstand angenommen werden. Das rechtlich erforderliche Ausgrenzungsmerkmal spricht aber letztlich gegen eine Ausgrenzung der großen Volksgruppen.

Andererseits kann nach der zu beachtenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine tatsächlich stattfindende Gruppenverfolgung nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, auch andere Bevölkerungsgruppen oder Minderheiten würden in ähnlicher Weise drangsaliert.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Deshalb unterstellt der Senat landesweit eine Ausgrenzung der großen Bevölkerungsgruppen und geht auf den Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte ein. Die Anschlagsopfer sind also nunmehr auf diese Bevölkerungsgruppen zu beziehen.

Die mehrjährigen Todesopfer unter der Bevölkerung des Iraks durch Massenanschläge betragen wie dargelegt nach den zugrunde zu legenden konkreten Zahlen von amnesty international über 2.300 Menschen, die Verletzten maximal 24.106 Menschen.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Sie sind der Wiedergabe pauschaler Schätzungen durch das Auswärtige Amt vorzuziehen, die im Übrigen nicht zu einem qualitativ anderen Ergebnis führen würden und keine ausweglose Lage der großen Volksgruppen begründen könnten. Zugrunde zu legen sind nunmehr die konkreten Zahlen von amnesty international. Danach geht der Senat von einer unterstellten Maximalabschätzung aus, bei der die aufsummierten konkreten Anschlagsopfer im Irak nur jeweils einer Volksgruppe als Opfer zugerechnet werden. In Relation gesetzt werden die gesamten Anschlagszahlen jetzt nicht zu der Gesamtbevölkerung des Irak von 27 Millionen, sondern nacheinander zu den größeren Bevölkerungsgruppen der arabischen Schiiten mit rund 17 Millionen, der arabischen Sunniten mit rund 5 Millionen und der Kurden mit rund 5 Millionen.

Zunächst ist auf die Schiiten einzugehen.

Da das Erkenntnismaterial die Opfer der schiitischen Volksgruppe nicht konkret summiert, geht der Senat bei diesem Schritt der unterstellten Maximalbetrachtung davon aus, dass alle Anschläge im Irak den Schiiten gelten. Bei der schiitischen Volksgruppe als unterstelltem alleinigem Anschlagsziel ergäbe sich dann eine Anschlagsdichte mit tödlichen Opfern von durchschnittlich 1:7400. Für die Entführungsgefahr ist wie dargelegt von einer vergleichbaren Größenordnung wie für Tötungen wie dargelegt von 1:7400 auszugehen. Sodann ergäbe sich mit Blick auf die Zahl der verletzten zivilen Opfer nach amnesty international von 24.106 Menschen eine höhere Anschlagsdichte mit Verletzten von 1:700 für die Schiiten.

Unterstellt man als nächsten Schritt, dass alle Anschläge im Irak den rund 5 Millionen Sunniten gelten, ergibt sich eine Anschlagsdichte bei den Todesopfern von rund 1:2000, ähnlich hoch für Entführungen und bei den Verletzungsopfern von rund 1:200. Die gleichen Zahlen ergeben sich landesweit für die hier betroffene Volksgruppe der Kurden.

Eine derart große Anschlagsdichte bezogen auf eine einzige große Volksgruppe – insbesondere die Kurden – wie in der Maximalabschätzung des Senats wird soweit ersichtlich nirgends im Erkenntnismaterial angenommen. Im Erkenntnismaterial wird auch nicht – wie vom Kläger vorgeschlagen – eine allein auf den Zentralirak bezogene Gruppenverfolgung von Kurden angenommen. Entscheidend ist, dass selbst bei dieser unterstellten Maximalabschätzung die landesweite Anschlagsdichte im Sinne einer Anschlagsverletzung von Kurden nach den Zahlen von amnesty international äußerstenfalls 1:200 beträgt. Tötungs- und Entführungsgefahr sind geringer. Positiv gewendet bleiben bei dieser Anschlagsdichte 99,5 % aller Menschen der kurdischen Volksgruppe unverletzt. Selbst nach den pauschalen Zahlen des Auswärtigen Amtes würde die äußerste Anschlagsdichte 1:50 betragen; positiv gewendet würden immerhin 98 % der kurdischen Volksgruppe die Anschläge unverletzt überleben. Eine Regelvermutung der eigenen Verfolgung kann nicht aufgestellt werden. Die Angehören der kurdischen Volksgruppe überleben landesweit betrachtet in keinem Fall nur durch Zufall unverletzt und werden nicht in eine ausweglose Lage gebracht, in der sie das Land verlassen müssen.

Dasselbe gilt für die sunnitische und erst recht die schiitische Volksgruppe.

Unabhängig von der dargelegten Maximalabschätzung ist für die hier maßgebende Volksgruppe der Kurden konkret festzustellen, dass die gewaltsamen Auseinandersetzungen vor allem die Volksgruppen der arabischen Sunniten und der arabischen Schiiten untereinander betreffen; an diesen Auseinandersetzungen sind die sunnitischen Kurden jedenfalls nicht unmittelbar beteiligt.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -; zur Auseinandersetzung (nur) zwischen Sunniten und Schiiten Le Monde diplomatique vom 12.5.2006; vgl. auch den Jahresbericht 2006 von amnesty international, der für den Nordirak nur einzelne Menschenrechtsverletzungen auflistet, aber keine Gruppenverfolgung einer Volksgruppe.

Auch das Auswärtige Amt legt das Schwergewicht auf die Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen und sunnitischen Konfessionen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Lediglich die Mäßigungsaufrufe der schiitischen und sunnitischen religiösen Führer haben bisher den Ausbruch eines offenen Bürgerkriegs zwischen diesen Konfessionen verhindern können.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Volksgruppe der Kurdinnen und Kurden ist mithin nicht Zielscheibe, sondern landesweit im Wesentlichen Zufallsopfer der Anschläge im Irak. Ausgehend davon ist die Anschlagsdichte für Kurden realistischerweise wesentlich geringer anzusetzen, als es der Maximalabschätzung des Senats mit 1:200 entspricht. Eine landesweite oder auf den Zentralirak bezogene Gruppenverfolgung der Kurden als großer Bevölkerungsgruppe von 5 Millionen Menschen wird im Erkenntnismaterial soweit ersichtlich nicht angenommen.

Nach dem dargelegten Ergebnis der Prüfung des Senats besteht für den Kläger als Gruppenmitglied der Kurden unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte landesweit keine Verfolgungsgefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Unabhängig von dieser landesweiten Betrachtung bejaht der Senat als selbstständige Entscheidungsgrundlage auch die Voraussetzungen einer Fluchtalternative des Klägers in den kurdisch verwalteten Nordirak, in dem seine Geburtsregion Sulaymania liegt.

Die Bejahung einer Fluchtalternative setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass die Zurückkehrenden am erreichbaren Ort der Fluchtalternative nach dem herabgestuften Prognosemaßstab hinreichend sicher vor politischer Verfolgung leben können und dass ihnen dort nach dem allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch keine unzumutbaren Nachteile drohen, die an ihrem Herkunftsort so nicht bestünden.

BVerwG, zusammenfassend Beschluss vom 5.10.1999 - BVerwG 9 C 15.99 -.

Weiterhin muss dem Rückkehrer dort das wirtschaftliche Existenzminimum in dem Sinn zustehen, dass er nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann.

BVerwG, Beschluss vom 17.5.2006 – 1 B 101/05 -.

Diese Voraussetzungen sind hier insgesamt zu bejahen.

Die Sicherheitslage in dem kurdisch kontrollierten Nordirak ist nach der praktisch einheitlichen Einschätzung im Erkenntnismaterial bezogen auf Anschläge besser als im Irak insgesamt, insbesondere in Bagdad. Dies gilt zunächst nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Anschläge auf besonders gefährdete Personengruppen wie etwa Polizeirekruten finden statt, insgesamt ist aber die Wahrscheinlichkeit, durch einen gegen Dritte gerichteten Anschlag getötet zu werden, im Nordirak geringer.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Für die kurdisch verwalteten Städte Arbil und Sulaimaniya referiert das Auswärtige Amt für das Jahr 2005 jeweils ein Attentat mit der Tötung von 50 beziehungsweise neun Menschen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 17.

In dem hier maßgebenden kurdisch verwalteten Nordirak wird die Sicherheitslage auch im kritischen Erkenntnismaterial als insgesamt stabil betrachtet.

Nach Einschätzung von UNHCR ist die allgemeine politische Situation im kurdischen Nordirak durch ein gewisses Maß an Stabilität gekennzeichnet; es werden dort deutlich weniger Gewalttaten verübt.

UNHCR, Position von September 2005; zu den stabileren Verhältnissen auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Nach der Beurteilung von amnesty international ist die Sicherheitslage in den kurdischen Gebieten im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ stabil.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Nach Darlegung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist die Sicherheitslage im kurdisch kontrollierten Nordirak mit Ausnahme von wenigen Anschlägen in Arbil und Dohuk stabil, wenn auch nicht voraussehbar, und ein engmaschiges Sicherheitsnetz von etwa 80.000 kurdischen Milizionären gewährleistet dort die Sicherheit.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Diese Milizen sollen nicht aufgelöst, sondern sollen staatliche Sicherheitskräfte werden.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann der Schutz bereits von nichtstaatlichen Organisationen ausgehen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 -, S. 6 des Juris-Ausdrucks.

Nach allem ist die Verfolgung der kurdischen Volksgruppe im kurdisch verwalteten und durch kurdische Milizen gesicherten Nordteil des Landes unwahrscheinlich und zwar nach dem Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit.

Ebenso OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Die hinreichende Verfolgungssicherheit des Klägers am Ort der Fluchtalternative im Nordirak ist mithin uneingeschränkt zu bejahen.

Der kurdisch verwaltete Nordirak ist auch abgesehen von dem möglichen Landweg von Bagdad aus unmittelbar - ohne Aufenthalt in Bagdad – auf dem Luftweg über Arbil (auch: Erbil) seit September 2005 erreichbar.

Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, zu einer Flugverbindung von Frankfurt nach Arbil/Nordirak, sowie zur Einreise durch die Türkei.

Damit lassen sich auch Bedenken von UNHCR gegen einen innerirakischen Wohnsitzwechsel auf dem Landweg wegen der Sicherheitslage ausräumen.

Zu diesen Bedenken UNHCR, Position von September 2005.

Weiterhin muss auch das Existenzminimum am Ort der Fluchtalternative einhaltbar sein.

Diesen Gesichtspunkt stellt der Kläger in seinem erstinstanzlichen Vortrag in Frage. Er trägt vor, es gelte der Grundsatz, dass Kurden im Nordirak nur dann über ein ausreichendes Existenzminimum verfügen könnten, wenn sie an die dortige Clan-Gesellschaft familiär angebunden seien. An einer solchen familiären oder sonstigen Bindung zum Nordirak fehle es hier, und ihm nütze es deshalb wenig, dass er zu früheren Zeiten militärische Daten des Regimes von Saddam Hussein an die Kurden verraten habe.

Das überzeugt so nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits nach den neuen politischen Verhältnissen die Fluchtalternative eines Kurden aus dem Zentralirak in den Nordirak bejaht einschließlich der Frage der Existenzsicherung, ohne dabei auf Familienanbindung abzustellen.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -, dort mit Blick auf die Situation in Flüchtlingslagern und die Möglichkeit, für arbeitsfähige Männer einen Job zu bekommen.

Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich, dass für Rückkehrer sowohl die Aufnahme und Versorgung durch die Familie als auch Parteiverbindungen von erheblichem Vorteil für die die Existenzsicherung sind.

Nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes können Rückkehrer im Irak auf Aufnahme und Versorgung durch Familie oder Stammesstrukturen und Sippe zählen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

UNHCR hält eine Einbindung in familiäre oder soziale Strukturen für erforderlich, allerdings nach dem – strengeren - Maßstab einer vollständigen Eingliederung, der das Maß des Existenzminimums übersteigt.

UNHCR, Position von September 2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe stellt auf mehrere Gesichtspunkte ab. Personen im Nordirak bedürfen danach zur Existenzsicherung eines sozialen Netzes.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Personen ohne Parteiverbindungen haben Probleme bei der Eröffnung von Geschäften mit der kurdischen Verwaltung.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Nach der Einschätzung von amnesty international sind die wirtschaftlichen Existenzbedingungen im Nordirak nicht garantiert, vielmehr wird der Zugang zu großen Teilen des Arbeitsmarktes durch persönliche oder familiäre Beziehungen erleichtert beziehungsweise erst ermöglicht.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Daran gemessen mag der Kläger nach seinem Vortrag zwar keine gegenwärtigen familiären Bindungen zum Nordirak haben, immerhin hat er aber bei einer Gesamtbetrachtung eine Chance auf eine Arbeitsmöglichkeit, jedenfalls aber eine Existenzmöglichkeit. Der Kläger war ursprünglich in der Region Sulaymania im Nordirak beheimatet. Er kann seinen Geburtsort im Nordirak und damit ein gewisses Maß an Zugehörigkeit zum Nordirak durch seinen Ausweis jederzeit beweisen. Zwar muss seine vorgetragene Unterstützungstätigkeit für die kurdische Partei PUK, der auch der Staatspräsident Talabani angehört, gänzlich außer Betracht bleiben, da sie von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung bestritten worden ist und der plausible Verfolgungsvortrag des Klägers jedenfalls nicht erwiesen ist. Eine Unterstellung zu Lasten des Klägers scheidet aus.

Zugunsten des Klägers spricht aber weiter, dass der unstreitig erlernte Beruf eines Kraftfahrzeug-Mechanikers wenn auch nach Anfangsschwierigkeiten eine nützliche Tätigkeit ist und damit bei realistischer Betrachtung nach Anfangsschwierigkeiten eine Existenz ermöglicht.

Vor allem muss mit Blick auf die Existenzsicherheit berücksichtigt werden, dass 96 % aller irakischen Haushalte Lebensmittelhilfe beziehen.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, dort ohne eine Einschränkung für den Nordirak; nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006 stammt ein wesentlicher Teil der Lebensmittelrationen, nämlich für 60 % der Bevölkerung, aus einem Programm der Vereinten Nationen.

Nach der Einschätzung des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien ist im Nordirak trotz einer prekären wirtschaftlichen Lage insgesamt mit einem Rutschen unterhalb des Existenzminimums derzeit eher selten zu rechnen.

Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006.

Da der Kläger zumindest positive Gesichtspunkte für eine Berufstätigkeit aufzuweisen hat, spricht kein vernünftiger Grund dafür, dass er entgegen der allgemeinen Lage im Nordirak unter das Existenzminimum abrutschen wird. Mithin ist davon auszugehen, dass der Kläger nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige im Nordirak erlangen kann.

Weiterhin setzt die innerstaatliche Fluchtalternative nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass dem Kläger an dem Ort der Fluchtalternative keine anderen unzumutbaren Nachteile mit asylerheblicher Intensität drohen, die an seinem Herkunftsort im Sinne des Ausreiseortes so nicht bestünden. Im Nordirak dürfen mithin keine unzumutbaren Nachteile für den Kläger bestehen, die so in Bagdad nicht bestehen würden. Auch dies ist zu bejahen.

Nach Einschätzung von UNHCR heben sich die Lebensbedingungen im Nordirak positiv gegenüber denen im übrigen Staatsgebiet ab.

UNHCR, Position von Oktober 2004.

Das Auswärtige Amt kommt zu derselben Beurteilung wie UNHCR.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Auch die Schweizerischen Flüchtlingshilfe zieht eine positive Gesamtbilanz für den Nordirak: Die Sicherheitslage und sozioökonomische Situation im Nordirak stellen sich danach besser dar als in den übrigen Landesteilen.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Das Europäische Zentrum für Kurdische Studien würdigt einen Wechsel von dem Zentralirak in den Nordirak insgesamt positiv.

Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006, dort sogar für die hier nicht zur Entscheidung stehende sehr kleine Gruppe der Mandäer.

Nach allem ist der Kläger bei einer Fluchtalternative in den Nordirak keinen unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt, denen er nicht bereits in seinem Ausreiseort Bagdad ausgesetzt wäre.

Im Ergebnis sind damit alle Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative in den kurdisch verwalteten Nordirak nach den Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts zu bejahen.

Im Rahmen der hier maßgebenden Prüfung der Widerrufsentscheidung ist der Kläger vor erneuter Verfolgung landesweit aus denselben Verfolgungsgründen hinreichend sicher und andersartige Verfolgungsmaßnahmen drohen ihm landesweit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit; unabhängig davon besitzt er mit hinreichender Verfolgungssicherheit die inländische Fluchtalternative in den Nordirak, die für ihn vorzugswürdig ist. Beide Gesichtspunkte führen unabhängig voneinander zur Verneinung der asylerheblichen Verfolgungsgefahr.

Dagegen kommt es, wie noch einmal hervorzuheben ist, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, hier nicht auf einen effektiven Schutz vor allgemeinen Gefahren wie Krieg, Naturkatastrophen oder schlechte Wirtschaftslage oder eine stabile Schutzmacht an.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; Beschluss vom 26.1.2006 – 1 B 135/05 -.

Der Untergrundkrieg des sunnitischen Widerstands steht damit dem Widerruf rechtlich nicht entgegen.

Damit ist der materielle Teil des Widerrufstatbestandes des § 73 I 1 AsylVfG erfüllt.

Indessen muss in diesem Fall die materielle Ausnahmevorschrift des § 73 3 AsylVfG geprüft werden, die nach der Normstruktur zu einem Absehen von dem Widerruf führt. Vorausgesetzt wird dafür, dass sich der Ausländer

auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Inhaltlich entspricht diese deutsche Regelung der entsprechenden Ausnahmevorschrift für den Widerruf in Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 GFK, wonach der Widerruf auf einen Flüchtling keine Anwendung findet,

der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Dagegen enthält die als Auslegungsmaßstab zu beachtende Wegfallklausel in Art. 11 der Europäischen Qualifikationsrichtlinie keine Ausnahmevorschrift von einem Widerruf. Diese für den Flüchtling ungünstige europäische Regelung hat aber keinen entscheidenden Einfluss auf die Auslegung der günstigeren deutschen Regelung, da die EU-Richtlinie nach Art. 1 lediglich Mindestnormen zugunsten der Flüchtlinge enthält und die Mitgliedstaaten nach Art. 3 der EU-Richtlinie grundsätzlich günstigere Normen zur Flüchtlingseigenschaft beibehalten können.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die dargelegte Ausnahmevorschrift in seinem Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 - unter ausdrücklicher Beachtung des völkerrechtlichen Zusammenhangs mit der Genfer Flüchtlingskonvention dahingehend ausgelegt, sie enthalte eine einzelfallbezogene Ausnahme von der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft. Sie schütze weder vor allgemeinen Gefahren noch könne sie nach allgemeinen Zumutbarkeitskriterien ausgelegt werden. Vielmehr trage sie nach ihrer historischen Entstehung der psychischen Sondersituation solcher Personen Rechnung, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hätten und denen es deshalb selbst lange Zeit danach - auch ungeachtet veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar sei, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren. Bei der Schaffung von Art. 1 c Nr. 5 Satz 2 GFK hatten danach die beteiligten Staaten das Schicksal jüdischer Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland vor Augen gehabt.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, Juris-Ausdruck, S. 12.

Der Senat stimmt dieser Rechtsprechung zu.

Dieser Auslegung haben sich sowohl der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg als auch das OVG Münster in neueren Entscheidungen angeschlossen.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Auch Renner, den der Kläger für eine weiter gehende Auslegung im Sinne einer aktuellen Existenzsicherung zitiert, handelt zwar eingehend die Auslegungsmöglichkeiten ab, schließt sich aber abschließend der Auffassung an, es werde den besonderen Belastungen schwer Verfolgter Rechnung getragen.

Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 73 AsylVfG, Rdnrn. 10 bis 12 sowie abschließend Rdnr. 13.

Auch Marx stellt auf eine besonders schwere, nachhaltig wirkende Verfolgung ab und sieht einen Unzumutbarkeitsfall etwa darin, dass der Verfolgte vor der Ausreise Jahre lang inhaftiert gewesen und dadurch physisch zerstört ist.

Marx, Asylverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2005, § 73 Rdnrn. 127 und 135.

Ein solch fortwirkend schweres Schicksal, insbesondere eine langjährige Inhaftierung, hat der Kläger bei seiner Erstanhörung vom 13.12.1995 nicht vorgetragen und auch im Verwaltungsgerichtsprozess einschließlich der mündlichen Verhandlung ein derartiges Schicksal nicht behauptet.

Bei seiner Anhörung im Widerrufsverfahren hat der Kläger mit Schreiben vom 29.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 13/14) die Anwendung dieser Vorschrift auf sich bejaht und dazu die Rechtsmeinung zugrunde gelegt, es genüge, wenn dem früher Verfolgten nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland eine Rückkehr in das Heimatland aus aktuellen Gründen der wirtschaftlichen Existenzsicherung nicht mehr zugemutet werden könne. Soweit er für seine Auffassung die Kommentierung von Renner in Anspruch nimmt, trifft dies wie dargelegt nicht zu. Entscheidend ist aber, dass die Auslegung des Klägers der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Sinn der Ausnahmevorschrift eindeutig widerspricht. Nach der Ausnahmevorschrift kommt es nicht auf allgemeine Zumutbarkeitskriterien an wie hier den geltend gemachten langen Aufenthalt in Deutschland und auf Existenzsicherungsprobleme. Die Ausnahmevorschrift greift zu seinen Gunsten nicht ein. Mithin ist ohne Ermessensspielraum nach § 73 I 1 AsylVfG der Widerruf zwingend auszusprechen.

Materiell ist der Widerrufsbescheid nach dem Prüfungsergebnis des Senats rechtmäßig.

Die angefochtene Widerrufsentscheidung des Bundesamts ist auch in verwaltungsverfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.

Ob der Widerruf unverzüglich erfolgt ist, wie § 73 I 1 AsylVfG es verlangt, bedarf keiner Entscheidung, da das Gebot des unverzüglichen Widerrufs ausschließlich öffentliche Interessen schützt, so dass ein Verstoß hiergegen keine subjektiven Rechte des betroffenen Ausländers verletzen kann.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Unabhängig davon war das Abwarten des Bundesamtes von rund anderthalb Jahren nach dem Kriegsende sinnvoll, um den Machtwechsel im Irak als hinreichend gefestigt zu beurteilen, und deshalb auch noch unverzüglich.

Weiterhin ist aus dem mit Wirkung vom 1.1.2005 eingeführten mehrstufigen Prüfungsverfahren nach § 73 II a AsylVfG kein Rechtsfehler herzuleiten. § 73 II a Satz 1 AsylVfG lautet:

Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach Absatz 1 oder eine Rücknahme nach Absatz 2 vorliegen, hat spätestens nach Ablauf von 3 Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen (gemeint ist die Anerkennungsentscheidung).

Bei der neu eingeführten Dreijahresfrist handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts um einen in die Zukunft gerichteten Prüfungsauftrag an das Bundesamt.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Wegen der Zukunftsgerichtetheit des Prüfungsauftrags hat eine Prüfung vorhandener Anerkennungsfälle spätestens bis zum 1.1.2008 zu erfolgen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Der hier zur Prüfung anstehende Widerrufsbescheid der Flüchtlingsanerkennung von 1996 ist am 19.10.2004 ergangen und damit noch vor dem Inkrafttreten des gesetzgeberischen Prüfungsauftrags am 1.1.2005. An einer rückwirkenden Einführung des Verfahrens durch eine entsprechende Übergangsvorschrift fehlt es hier.

BVerwG, Urteil vom 1.12.2005 - 1 C 21/04 -.

Damit ist die dreijährige Prüfungsfrist im vorliegenden Fall nicht einschlägig.

Keiner Entscheidung bedarf die Frage, ob verwaltungsverfahrensrechtlich die Jahresfrist nach § 49 II 2, § 48 IV VwVfG auch bei Widerrufsverfügungen nach § 73 I 1 VwVfG zu beachten ist.

Offen gelassen in dem Urteil des BVerwG vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Denn die Jahresfrist beginnt frühestens nach Anhörung des Klägers mit einer angemessenen Frist zur Stellungnahme zu laufen, und zwar mit dem behördlichen Anhörungsschreiben.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Danach ist die Einjahresfrist, sofern sie anwendbar ist, hier eingehalten. Die Anhörungsverfügung der Behörde datiert vom 2.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 7) und der Widerrufsbescheid erging am 19.10.2004 (Widerrufsakte Bl. 18).

Nach dem Prüfungsergebnis des Senats ist mithin der Widerrufsbescheid weder materiellrechtlich noch verfahrensrechtlich zu beanstanden. Er ist insgesamt rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Der als Hauptantrag gestellte Aufhebungsantrag des Klägers hat mithin auch im Rahmen des Berufungsverfahrens keinen Erfolg.

II.

Auch hinsichtlich des Hilfsantrags hat die Berufung keinen Erfolg.

Der Kläger hat nicht den gegen die Beklagte hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses mit Blick auf konkrete Gefahren nach § 60 II bis VII AufenthG.

Der Kläger ist weder der konkreten Gefahr der Folter (§ 60 II AufenthG) noch der Todesstrafe (§ 60 III AufenthG) oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (§ 60 V AufenthG) ausgesetzt.

Der vom Gesetzgeber verwendete Maßstab der konkreten Gefahr (vgl. § 60 II, 60 VII 1 AufenthG) ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu der inhaltsgleichen Vorgängervorschrift des § 53 AuslG bereits geklärt. Danach ist für die Feststellung der Gefahr der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit maßgebend, ohne eine Herabstufung für Vorverfolgte, da die Gefahren hier außerhalb des Verfolgungstatbestandes betrachtet werden.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324-330.

Einzubeziehen in die Gefahr sind nunmehr auch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 I 4 c AufenthG. Die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure auch in konkrete Gefahren nach § 60 II ff. AufenthG ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus der deutschen gesetzlichen Regelung. Indessen folgt sie aus der für die Auslegung zu beachtenden Vorwirkung von Art. 6 der europäischen Qualifikationsrichtlinie, der die Einbeziehung der nichtstaatlichen Akteure gleichmäßig sowohl für die Verfolgung als auch für den ernsthaften Schaden und mit Letzterem die konkrete Gefahr im Sinne des deutschen Rechts fordert.

So überzeugend Renner, § 60 AufenthG Rdnr. 36; offen gelassen im Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Dem Kläger droht hier weder von staatlicher noch von nichtstaatlicher Seite die konkrete Gefahr der Folter. Der Senat hat bereits im Rahmen des Widerrufssachverhalts dargelegt, dass der Kläger hinreichend sicher ist vor individuellen Racheakten mit Blick auf seine indirekte Unterstützung der kurdischen Kämpfe im Jahr 1995; dies gilt erst recht für einen zugespitzten Racheakt in Form der Folter, für den sich eine konkrete Gefahr – mit überdies beachtlicher Wahrscheinlichkeit - nicht herleiten lässt. Das Gleiche gilt für die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.

Für die Gefahr der Verhängung der Todesstrafe durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure fehlt es gänzlich an einem Anhaltspunkt; der Kläger hat die Gefahr der Todesstrafe auch selbst nicht behauptet.

Sodann fehlt es an der zwischen den Beteiligten streitigen allgemeinen Extremgefahr nach § 60 VII AufenthG.

Der Kläger stützt sich in seiner Berufungsbegründung und in der mündlichen Verhandlung auf eine extreme allgemeine Gefährdungslage im Irak. Er beruft sich dabei insbesondere auf die landesweite Gefahr von Terroranschlägen auf die Zivilbevölkerung; gehe man davon aus, dass sich der Irak im Bürgerkrieg befinde oder jedenfalls ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde, müsse man auch vom Bestehen einer extremen allgemeinen Gefährdungslage im Sinne von § 60 VII AufenthG ausgehen.

Mit Blick auf die vorgetragene landesweite Extremgefahr hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses in verfassungskonformer Anwendung des § 60 VII AufenthG.

§ 60 VII 2 AufenthG verweist für Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist, auf einen allgemeinen ausländerbehördlichen Abschiebungsstopp nach § 60 a I 1 AufenthG als Schutz des Ausländers. Dies führt aber hier nicht weiter, da nach der Auskunft des Saarländischen Innenministeriums vom 26.5.2006 (Gerichtsakte Bl. 104) im Saarland derzeit keine behördliche Regelung zur Aussetzung von Abschiebungen in den Irak besteht. Die in anderen Bundesländern bestehenden Abschiebestoppregelungen beruhen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darauf, dass bis vor kurzem die Flugverbindungen unterbrochen waren und noch derzeit kein Rücknahmeabkommen mit dem Irak besteht.

BVerwG, Urteil vom 27.6.2006 – 1 C 14.09 -.

Der verfassungsrechtlich gebotene Schutz von Ausländern vor Extremgefahren ist in der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt.

Eingehend Urteil des BVerwG vom 12.7.2001 - 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 379, 384 bis 386, dort für die inhaltsgleiche Vorgängerregelung des § 53 VI AuslG.

Nach dieser Rechtsprechung kommt es sowohl auf die rechtliche als auch die tatsächliche Schutzbedürftigkeit des Ausländers an.

Was zunächst die Frage der rechtlichen Schutzbedürftigkeit angeht, ist eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 VII AufenthG nur dann geboten, wenn der einzelne Asylbewerber sonst schutzlos bliebe. Ein Schutz vor einer extremen Gefahrenlage kann zum einen durch einen allgemein ausländerbehördlichen Abschiebungsstopp im Sinne einer Duldung bestehen, an dem es aber hier im Saarland fehlt. Es genügt aber nach dieser Rechtsprechung auch ein anderer gleichwertiger Schutztitel vor Abschiebung, wenn dieser tatsächlich besteht. So genügt es, wenn der Ausländer im entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung oder mindestens einer Duldung ist, die vom Asylverfahren unabhängig erteilt worden ist. Ein solcher Aufenthaltstitel muss indessen bestehen, nicht genügend sind unentschiedene Duldungsansprüche. Davon ausgehend lässt der VGH Baden-Württemberg eine Aufenthaltserlaubnis nach neuem Recht zum Schutz des Ausländers genügen.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -, der aber diesen Schutz in bedenklicher Weise sogar auf eine widerrufene Aufenthaltserlaubnis wegen des Suspensiveffekts erstreckt, was der vom Bundesverwaltungsgericht verworfenen Schwebelage entspricht.

Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Kläger besitzt nach der Ausländerakte seit dem 18.11.2004 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ursprünglich nach § 35 AuslG, nach neuem Recht nach § 26 AufenthG. Darüber hinaus hat die Ausländerbehörde, die Landeshauptstadt A-Stadt, bereits mit Schreiben vom 2.9.2004 in Kenntnis des Widerrufverfahrens erklärt, es sei auch bei einem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung momentan nicht mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu rechnen. Angesichts der langjährigen Integration des Klägers in Deutschland ist dies auch vernünftig. Mithin ist der Kläger derzeit noch im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, wie die Stadt A-Stadt nochmals mit Schreiben vom 13.9.2006 bestätigt hat, und damit nicht schutzlos.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat ein Anspruch auf Feststellung des Abschiebungshindernisses der Extremgefahr nur dann Erfolg, wenn rechtliche und tatsächliche Schutzbedürftigkeit vorliegt.

BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 379 - 385.

Das Gericht ist nicht gehindert im Sinne selbständiger Entscheidungsgrundlagen festzustellen, dass unabhängig voneinander hinreichender rechtlicher Schutz vor Abschiebung vorhanden ist und eine extreme Gefahrenlage nicht besteht.

So ist das OVG Münster vorgegangen in seinem Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

So liegt der Fall hier. Zum einen besitzt der Kläger wie dargelegt einen unwiderrufenen Schutztitel. Zum anderen ist aber auch eine Extremgefahr im Irak zu verneinen.

Ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Bei der erforderlichen Prüfung einer Extremgefahr ist zunächst der Prognosemaßstab klarzustellen. Maßgebend ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der auch bei Vorverfolgung nicht herabgestuft wird.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 - 330.

Inhaltlich hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung den Rechtsbegriff der Extremgefahr mit der Formulierung geprägt, es müsse vermieden werden, dass der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

BVerwG, Urteil vom 16.6.2004 - BVerwG 1 C 27.03 -; BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -; BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 -; BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -; BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -; BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -.

In zeitlicher Hinsicht muss sich die Extremgefahr nicht sofort nach Rückkehr in den Heimatstaat, sondern bald verwirklichen.

BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 -.

Im Gegensatz zu der sicher verständlichen – in der mündlichen Verhandlung erörterten - Rechtsansicht des Klägers hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung die Extremgefahr nicht bereits an die Existenz eines Bürgerkriegs geknüpft, sondern an qualifizierte Voraussetzungen. Folglich würde die vom Kläger erstrebte Bejahung eines Bürgerkriegs nicht schon die Extremgefahr begründen. Auch das vom Senat bejahte Vorliegen eines Untergrundkriegs begründet nicht automatisch eine Extremgefahr.

In den beurteilten Bürgerkriegsfällen hat das Bundesverwaltungsgericht die Extremgefahr konkret dann bejaht, wenn die Bürgerkriegskämpfe bereits am Ankunftsort stattfinden und sich der Ausländer ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes mithin nicht entziehen kann.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -; BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -.

So hat das Bundesverwaltungsgericht die konkrete Bürgerkriegssituation in Afghanistan im Jahr 1995 als Extremgefahr für Rückkehrer anerkannt. Dort war eine Abschiebung nur über den Flughafen Kabul möglich, der Bürgerkrieg tobte aber nach den seinerzeitigen Tatsachenfeststellungen hauptsächlich im Bereich dieser Stadt, die größere Teile der Bevölkerung bereits wegen der unerträglichen Lebensverhältnisse verlassen hatten.

BVerwG, Urteil vom 17.1.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 - 330.

Eine Extremgefahr hat das Bundesverwaltungsgericht weiter für die konkrete Bürgerkriegssituation 1997 in Somalia bejaht. Dort kam nur eine Abschiebung über den Flughafen in Mogadischu in Betracht. Nach den zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen wäre der dortige Kläger bei einer Abschiebung über den Flughafen von Mogadischu in die dort besonders heftigen Kämpfe hineingeraten; er wäre sehenden Auges der extremen Gefahr ausgesetzt worden, entweder am Flughafen sofort getötet oder schwer verletzt zu werden oder in Mogadischu an Hunger oder Krankheit zu sterben, ohne überhaupt noch sichere Landesteile erreichen zu können.

BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -.

Weiterhin hat das Bundesverwaltungsgericht ergänzend zu der Bürgerkriegsrechtsprechung in zwei Afghanistan betreffenden Fällen eine Extremgefahr bejaht, da der Ausländer dort dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert worden wäre.

BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 - sowie Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 2.01 -, wobei im letzteren Fall die Gefahr eines sicheren Hungertodes zwar bejaht wurde, die dortige Klägerin aber anderweitigen Abschiebungsschutz besaß.

Bezogen auf Armenien hat das Bundesverwaltungsgericht eine Extremgefahr verneint, wenn eine katastrophale wirtschaftliche und soziale Situation mit Obdachlosigkeit, Unterernährung und unzureichender medizinischer Versorgung vorliegt, den Rückkehrer aber nicht der sichere Tod oder schwerste Beeinträchtigungen alsbald nach seiner Ankunft erwarten.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -.

Auch desolate hygienische Verhältnisse und ein praktisch kaum leistungsfähiges Gesundheitssystem in Angola mit hoher statistischer Kindersterblichkeit reichen als Extremgefahr nicht aus, soweit die betroffenen Rückkehrer nicht nach tragfähiger Feststellung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden.

BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -.

Weiterhin begründen besondere existenzielle Schwierigkeiten in Nigeria für eine allein stehende Mutter keine Extremgefahr, solange die Klägerin nicht gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

BVerwG, Urteil vom 16.6.2004 - 1 C 27.03 -.

Aufgrund der dargelegten Rechtsprechung zu Bürgerkriegs- und Hungerfällen ist die landesweite Situation im Irak mit Blick auf eine allgemeine Extremgefahr im Einzelnen zu würdigen.

Auszugehen ist nach praktisch allgemeiner Ansicht von einer instabilen, manchmal eskalierenden Sicherheitslage mit täglich etwa 100 terroristischen Anschlägen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006 im Sinne eines Tiefpunkts der Sicherheitslage; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort betreffend die allgemeine Sicherheitslage; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005, dort zur allgemeinen Sicherheitslage; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; UNHCR, Hinweise von April 2005; sowie UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006; zum bewaffneten Widerstand auch Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands; zur Gewaltwelle gegen Zivilisten NZZ vom 6.6.2006, Seite 1.

Der Kläger sieht die Situation übereinstimmend mit einer dargelegten Äußerung des Politikers Allawi vom 19.3.2006 im Deutschlandfunk so, dass sich das Land im Bürgerkrieg befinde, zumindest aber ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde. Der seinerzeitige Interimsministerpräsident Allawi war am 17.4.2005 selbst einem Attentat nur knapp entgangen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005.

Die Situation im Irak würdigt der Senat nicht als einen offenen Bürgerkrieg, sondern einen Untergrundkrieg durch tägliche Bombenanschläge. Er kommt damit der Beurteilung des Klägers nahe.

Die nichtstaatlichen Akteure bleiben im Verborgenen; ein Bürgerkrieg mit offenen Frontlinien besteht nicht. Das Erkenntnismaterial ist – auch mit Blick auf kritische Organisationen – zurückhaltend und nimmt einen offenen Bürgerkrieg derzeit nicht an.

Das Auswärtige Amt kommt der Auffassung des Klägers wie der Senat nahe. Es verneint einen offenen Bürgerkrieg, sieht aber eine Annäherung an offene bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen und sunnitischen Konfessionen im Anschluss an den Anschlag vom 22.2.2006 auf das schiitische Heiligtum in Samarra.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 19/20.

UNHCR sieht einen teilweise gewaltsam ausgetragenen Machtkampf im Irak.

UNHCR, Hinweise von April 2005; ähnlich Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Auch amnesty international spricht von einem teilweise gewaltsamen ausgetragenen Machtkampf und in einer neueren Beurteilung zurückhaltend von der anhaltend unsicheren Lage.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; sowie zur neueren Beurteilung amnesty international, Jahresbericht 2006.

Das Deutsche Orient-Institut sieht die Sicherheitslage im Sinne eines Untergrundkampfes.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005.

Dies spricht für die vom Senat vorgenommene Einordnung als Untergrundkrieg.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe würdigt die Sicherheitslage dahingehend, der bewaffnete Widerstand versuche unvermindert, den politischen Wiederaufbau mit Bomben- und Mordkampagnen zu hintertreiben und alle Aktivitäten zur Anstachelung eines offenen Bürgerkrieges hielten an.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Die Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bedeutet, dass die Gefahr eines offenen Bürgerkrieges gesehen, ein tatsächlicher offener Bürgerkrieg aber nicht angenommen wird.

Der bewaffnete Widerstand im Irak ist seit der von ihm verlorenen Schlacht um Falludscha im November 2004 zu dem Ergebnis gekommen, dass er angesichts der Übermacht der US-Truppen nicht mehr bestimmte Gebiete verteidigen kann, vielmehr soll mit einer flexiblen Taktik der Anschläge der Wiederaufbau des Landes nachhaltig gestört werden.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstandes.

In Falludscha kam es im Frühjahr und im Herbst 2004 zu offenen Kämpfen zwischen den US-Streitkräften und den Aufständischen; im November 2004 floh ein Großteil der Zivilbevölkerung der 250.000 Einwohner von Falludscha.

Auswärtiges Amt, Lagebericht 24.11.2005.

Für die dargelegte Situation in Falludscha selbst waren die qualifizierten Voraussetzungen einer bürgerkriegsbezogenen Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfüllt. Die Kämpfe hatten nämlich ein Ausmaß erreicht, dass größere Teile der Bevölkerung die Stadt verlassen mussten.

Vgl. zu diesem Maßstab BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -.

Die dargelegten seinerzeitigen Verhältnisse in Falludscha 2004 entsprechen aber nicht der jetzigen landesweiten Gewaltsituation im Irak, insbesondere nicht bei einer Betrachtung des Luftweges an den Ankunftsorten, der 5-Millionen-Stadt Bagdad in Zentralirak oder der Stadt Arbil (Erbil) im kurdisch verwalteten Nordirak. Insgesamt sind ausgedehnte offene Kampfhandlungen zwischenzeitlich landesweit zurückgegangen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; zum Kampf des Widerstandes im Verborgenen OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG; vgl. noch zu einem Luftangriff auf die sunnitische Hochburg al-Ramadi amnesty international, Jahresbericht 2006.

Ungeachtet der täglichen Bombenanschläge gerade auch in schiitischen Stadtvierteln ist in Bagdad nach Auswertung des Erkenntnismaterials klar erkennbar nicht eine Lage entstanden, in der größere Teile der Bevölkerung die 5-Millionen-Stadt verlassen haben. Es kann also nicht festgestellt werden, dass eine Rückkehr nach Bagdad eine Irakerin oder einen Iraker sehenden Auges dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen überliefern würde. Dies gilt, wie ausdrücklich klarzustellen ist, nach der eindeutigen Gefahrenformel unabhängig davon, ob ein Bürgerkrieg, eine bürgerkriegsähnliche Situation oder wie hier ein Untergrundkrieg von dem Gericht angenommen wird.

Hinzu kommt, dass Bagdad nicht die einzige Einreisemöglichkeit ist und für Kurden sich eine Einreise in den Irak wie dargelegt auf dem Luftweg über Arbil (Erbil) anbietet. Nach der Einschätzung von amnesty international ist die Sicherheitslage in den kurdischen Gebieten im Nordirak im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ stabil.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Nach Darlegung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist die Sicherheitslage im kurdisch kontrollierten Nordirak stabil, wenn auch nicht voraussehbar, und ein engmaschiges Sicherheitsnetz von etwa 80.000 kurdischen Milizionären gewährleistet dort die Sicherheit.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist die Sicherheitslage in dem kurdisch kontrollierten Nordirak besser bezogen auf Anschläge als im Irak insgesamt, insbesondere in Bagdad.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Zu nennenswerten offenen Kämpfen im Nordirak kommt es nach dem Erkenntnismaterial nicht.

Auch amnesty international berichtet im Jahresbericht 2006 von Menschenrechtsverletzungen im Nordirak, aber nicht durch offene Kämpfe.

Insgesamt besteht landesweit keine Lage im Irak, die den Rückkehrer bereits am Ankunftsort in Bagdad oder im nordirakischen Arbil (Erbil) in heftige Kämpfe verwickeln würde, was im Sinne der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Bürgerkriegssituationen eine allgemeine Extremgefahr bedeuten würde.

Mit Blick auf die allgemeine Extremgefahr sind nochmals die täglich etwa 100 Bombenanschläge landesweit im Irak zu würdigen. Sie stellen eine enorme allgemeine Bedrohung da.

So ausdrücklich Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 18.

Der Kläger beruft sich mit Blick auf die Extremgefahr auf das Urteil des VG Sigmaringen vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -. Das VG Sigmaringen hat sich in diesem Urteil zwar nicht unmittelbar mit der Extremgefahr befasst, aber im Rahmen der Prüfung eines Widerrufsbescheides eine realistische Gefahr von Terroranschlägen festgestellt.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005, Seite 9 des amtl. Umdrucks.

Das VG Sigmaringen geht wie der Senat ebenfalls von einer Größenordnung von mehreren Tausend Menschen aus, die bei Anschlägen ums Leben gekommen sind. Es setzt diese Zahlen aber nicht in Beziehung zu der irakischen Gesamtbevölkerung von rund 27 Millionen Menschen. Ungeachtet der Furchtbarkeit der Anschläge im Einzelfall kommt es aber im Rahmen der Extremgefahr wiederum auf die Anschlagsdichte an.

Zutreffend OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Nach den konkreten Zahlen von amnesty international werden die zivilen Opfer der Anschläge zwischen 21.239 und 24.106 geschätzt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Auf der Grundlage der Höchstzahl von 24.106 Opfern beträgt die Anschlagsdichte mithin rund 1:1100. Geht man von der – pauschalen – noch höheren Zahl von Opfern unter den Zivilisten von äußerstenfalls 100.000 aus, die das Auswärtige Amt wiedergibt,

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005,

ergibt sich landesweit äußerstenfalls eine Verletzungsgefahr durch die Anschläge von 1:270. Damit lässt sich aber nicht - zudem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - feststellen, ein einzelner Rückkehrer werde alsbald sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert.

Zu einem anderen Ergebnis führen auch nicht Reisewarnungen des Auswärtigen Amts für Reisende. Der Kläger hat sich mit dem VG Sigmaringen darauf berufen, das Auswärtige Amt habe seine Reisewarnung vom 29.7.2005 auf die Anschlagsopfer sowie die Entführungen gestützt.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -, Seite 9 des amtl. Umdrucks.

In einer solchen Warnung für Touristen und Geschäftsreisende liegt kein Wertungswiderspruch zur Verneinung einer Extremgefahr. Die Warnungen enthalten keine verbindliche Regelung im Sinne eines Schutzes der Menschenwürde, sondern eine unverbindliche Information. Ein Informationsbedürfnis besteht schon wesentlich früher als erst bei einer Situation, in der Reisende sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert werden. Die Schwelle für eine Reisewarnung ist wesentlich niedriger und bedeutet als solche keine Extremgefahr.

Auch die mit dem Untergrundkrieg einhergehende angespannte Versorgungslage einschließlich der medizinischen Versorgung im Irak führt nicht zur Bejahung einer Extremgefahr, zumal keine Hungergefahr besteht.

Die Versorgungslage im Irak ist zwar angespannt.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; zur prekären wirtschaftlichen Lage auch Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Indessen beziehen 96 % aller irakischen Haushalte Lebensmittelhilfe.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Für eine extreme Verknappung der Lebensmittel oder gar eine Hungerkatastrophe oder eine Wasserkatastrophe fehlt jeder Anhaltspunkt.

Schon mit Blick auf die bestehende Lebensmittelhilfe kann realistischerweise nicht angenommen werden, der Kläger würde im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nach seiner Rückkehr dem baldigen sicheren Hungertod ausgesetzt. Selbst eine katastrophale wirtschaftliche Situation mit Obdachlosigkeit und Unterernährung bedeutet dann keine Extremgefahr, wenn Rückkehrer nicht dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -.

Auch mit Blick auf die medizinische Versorgung ist eine allgemeine Extremgefahr zu verneinen. Die medizinische Versorgung ist allerdings angespannt.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 9.6.2006 und vom 24.11.2005.

Die Situation im Gesundheitswesen wird als extrem schwierig angesehen.

Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 4.2.2006.

Nach der Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist das irakische Gesundheitssystem schlechter als vor dem Krieg, bedarf dringend der Erneuerung, indessen ist die medizinische Grundversorgung zumeist gewährleistet.

So der zusammengefasste Inhalt der Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9.6.2004 sowie des Updates der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 15.6.2005.

Nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Extremgefahr begründen eine unzureichende medizinische Versorgung und eine kaum leistungsfähige Gesundheitsversorgung nicht bereits eine allgemeine Extremgefahr.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -, zu Armenien sowie BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -, zu einer kaum leistungsfähigen Gesundheitsversorgung in Angola mit desolaten hygienischen Verhältnissen.

Auch bei einer Gesamtwürdigung der sozioökonomischen Situation des Iraks

vgl. dazu Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, Abschnitt sozioökonomische Situation, Seite 11/12

ist ungeachtet der unzulänglichen Sicherheits- und Versorgungssituation nicht eine allgemeine Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem Ausmaß zu bejahen, dass ein Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Mithin ist im Irak der Tatbestand einer allgemeinen Extremgefahr zu verneinen.

Ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; sowie bereits BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -.

Nach dem vom Senat gefundenen Gesamtergebnis bleiben Hauptantrag und Hilfsantrag des Klägers erfolglos; die Berufung ist mithin zurückzuweisen.

Gerichtskosten werden nach § 83 b AsylVfG nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung über die außergerichtlichen Kosten ergibt sich aus § 154 II VwGO.

Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 II VwGO liegen nicht vor.

Gründe

Die zugelassene und auch ansonsten zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Der Widerrufsbescheid der Beklagten vom 19.10.2004 erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (§ 77 I 1 AsylVfG) als rechtmäßig (unten I.). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die - hilfsweise begehrte - Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von sonstigen Abschiebungsverboten im Sinne von § 60 II bis VII AufenthG (unten II.)

I.

Der mit Blick auf den Systemwechsel im Irak ergangene Widerrufsbescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Das Aufhebungsbegehren des Klägers ist mangels einschlägiger Übergangsregelungen nach der neuen, durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage zu beurteilen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, für Widerrufsfälle.

Rechtsgrundlage ist mithin § 73 I 1 AsylVfG in der ab 1.1.2005 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950). Die Vorschrift lautet:

Die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, sind unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

In der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, liegen die Widerrufsvoraussetzungen dann vor, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, zitiert nach Juris; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, ähnlich Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, § 73 AsylVfG Rdnr. 7, im Sinne eines Wegfalls der asylrelevanten Umstände als Beseitigung der Verfolgungsgefahr; weiter gehend im Sinne einer grundlegenden und dauerhaften Änderung der Verhältnisse und nicht nur eines spiegelbildlichen Wegfalls der ursprünglich die Verfolgung begründenden Umstände VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -; Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 73 Rdnr. 77 und 79, im Sinne einer Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland von grundlegender Natur und Dauer mit dem Ergebnis einer eingetretenen relativen politischen und wirtschaftlichen Stabilität.

Eine wesentliche Weichenstellung für die hier einschlägige Beurteilung eines politischen Systemwechsels liegt darin, ob nur die Beseitigung des Unrechtsregimes und seiner Verfolgungsmaßnahmen selbst endgültig sein muss oder ob zusätzlich in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung und allgemeinen Gefahren durch stabile Verhältnisse vorherrschen muss. Das Bundesverwaltungsgericht, dem der Senat folgt, stellt allein darauf ab, dass die Beseitigung des Regimes dauerhaft ist.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, dort für Afghanistan; ebenso BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22/03 -, für den Irak, wobei das Bundesverwaltungsgericht im Wege eigener Tatsachenwürdigung es als ausreichend ansieht, dass das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist und damit Asylberechtigte offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen haben; ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, S. 11 des amtl. Umdruck, das es genügen lässt, dass das Regime Saddam Hussein seine politische und militärische Herrschaft über den Irak endgültig verloren hat und eine Rückkehr des alten Regimes nach den aktuellen Machtverhältnissen ausgeschlossen ist.

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Gefahr einer wiederholten Verfolgung wegfällt, und dies hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich für den Irak unter Billigung des Widerrufs entschieden.

BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 – 1 C 22/03 – zitiert nach Juris.

Der Kläger hält dem eine – in der mündlichen Verhandlung vertiefte - grundsätzliche Betrachtung zur Existenz effektiver staatlicher Gewalt und effektiven staatlichen Schutzes vor denkbarer Verfolgung bereits als Widerrufsvoraussetzung entgegen. Im Flüchtlingsrecht sei anerkannt, dass die politische Verfolgung des Bürgers eines Staates mit der Abwesenheit staatlichen Schutzes vor Verfolgung gleichzusetzen sei. Dies setze funktionierende staatliche Strukturen voraus, die aber im Irak nicht vorhanden seien. Nach den Grundsätzen der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – sei bereits das Bestehen einer effektiven staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt im Irak in Frage zu stellen, zumindest sei dies vom Verwaltungsgericht nicht ausreichend festgestellt. Die Regierung des Irak habe über die grüne Zone Bagdads hinaus keinen Einfluss auf die Wiederherstellung eines effektiven staatlichen Schutzes im Irak, und zwar auch nicht durch die Truppen der Allianz, da für die Wiederherstellung effektiven staatlichen Schutzes eine Rückübertragung an das Herkunftsland erforderlich sei. Die aufgeworfene Frage der Wiederherstellung effektiven Schutzes durch den früheren Verfolgungsstaat sei durch das Bundesverwaltungsgericht noch nicht entschieden.

Die Beklagte widerspricht dem und meint, auf effektiven Schutz bietende staatliche Strukturen im Sinne einer stabilen Schutzmacht komme es bei fehlender Verfolgung rechtlich nicht an.

Klar auseinander zu halten sind die Fragen, ob ein Staat überhaupt besteht und dafür das Erfordernis der Ausübung staatlicher Gewalt prinzipiell erfüllt, und ob in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung sowie vor allgemeinen Gefahren bestehen muss. Damit hat der Kläger Grundsatzfragen mit weit reichender – länderübergreifender - Bedeutung aufgeworfen. Die Fragen sind indes vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 - entschieden, und zwar nicht im Sinne des Klägers.

Was zunächst die Frage der Existenz eines Staates angeht, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 – im Gegensatz zur Vorinstanz, dem OVG Schleswig-Holstein, die Existenz von Afghanistan als Staat nicht ernsthaft in Frage gestellt. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (Seite 9 des Juris-Ausdrucks) genügt es, dass eine Übergangsregierung Gebietsgewalt im Sinne einer übergreifenden prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtigen Ordnung ausübt; dem stehe nicht entgegen, dass sich die Regierungsgewalt auch auf internationale Truppen stütze. Auch ein ausgesprochen schwacher Staat ist nach diesen Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts ein Staat und die internationalen Truppen werden dem Staat zugerechnet. Dies stimmt überein mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der es im Asylrecht weniger auf abstrakte staatstheoretische Begriffsmerkmale ankommt und zugunsten des Flüchtlings nur geringe Anforderungen an das Vorliegen eines Staates zu stellen sind, wobei in Bürgerkriegsfällen bereits ein Kernterritorium genügt.

BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Danach ist der Irak eindeutig ein Staat.

Der Irakkrieg von 2003 zielte zwar darauf ab, das Unrechtsregime von Saddam Hussein zu beseitigen, indessen nicht auf die Beseitigung des irakischen Staates. Vielmehr wurde nach Ablauf der Besatzungszeit die irakische Souveränität am 28.6.2004 wiederhergestellt, wie in Rechtsprechung und Erkenntnismaterial anerkannt ist.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.9.2004 – A 2 S 51/01 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 – A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 – 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, Seite 1; ebenso unterscheidet die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Auskunft vom 27.1.2006 (Seite 3) klar erkennbar zwischen der bejahten Existenz des irakischen Staates und der verneinten Frage, ob der irakische Staat die Bürger schützen könne, die nachweislich Verfolgung befürchten müssten.

Die nur erforderliche prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtige Gebietsgewalt unter Einbeziehung der internationalen Truppen ist zu bejahen, da der irakische Staat mit deren Hilfe zumindest in der Lage ist, dem bisherigen Regime von Saddam Hussein den Prozess zu machen, dadurch seine Unrechtsmaßnahmen zu beenden und den neuen Untergrundkrieg mit den Terroristen mit allerdings nur einzelnen Erfolgen aufgenommen hat und dabei den sunnitischen Widerstand verfolgt, mithin nicht etwa prinzipiell ohne Macht ist. Auch die kritische Organisation UNHCR, der sich amnesty international angeschlossen hat, stellt die effektive Herrschaft der irakischen Übergangsregierung lediglich für einzelne Teile des irakischen Staatsgebiets, vor allem im Zentralirak, in Frage.

UNHCR, Hinweise von April 2005; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Ebenso geht das VG Sigmaringen in seiner kritischen Rechtsprechung nicht von einer fehlenden Staatsmacht aus, sondern nimmt an, der Übergangsregierung sei es noch nicht gelungen, ihre Macht im gesamten Irak zu etablieren.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 – A 3 K 11212/04 -, S. 8 des Umdrucks.

Auf das gesamte Territorium kommt es aber nicht an.

Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt bereits ein Kernterritorium.

BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Weiterhin muss gesehen werden, dass der irakische Widerstand seit der von ihm verlorenen zweiten Schlacht um Falludscha im November 2004 angesichts der Übermacht der US-Truppen nicht mehr bestimmte Gebiete verteidigen, sondern mit Anschlägen den Wiederaufbau des Landes nachhaltig stören will.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006.

Nach den dargelegten Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts kann unter Einbeziehung der internationalen Truppen die Existenz des Staates Irak mit der prinzipiellen Ausübung von Staatsgewalt nach Ansicht des Senats nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden.

Von der Frage der Existenz des Staates Iraks ist die weitere Frage eines effektiven Schutzes durch den Staat Irak als stabile Schutzmacht vor möglicher Verfolgung und allgemeinen Gefahren zu unterscheiden.

Der Kläger zieht die Effektivitätsfrage gewissermaßen vor die Klammer der Verfolgungsprüfung. Vorrangig wird effektiver Schutz geprüft. Fehlt es daran, steht die Verfolgung fest und der Widerruf scheitert. Letztlich hat der effektive Schutz dann absolute Bedeutung für den Widerruf. Der Kläger meint weiter, die Frage des effektiven staatlichen Schutzes sei von dem Bundesverwaltungsgericht noch nicht, auch nicht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 –, entschieden; dem hat die Beklagte widersprochen.

Diese Auslegung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Kläger überzeugt nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – die nur relative Bedeutung eines effektiven Verfolgungsschutzes herausgestellt, diese Rechtsauffassung jedenfalls konkludent bereits in seinen beiden zuvor zum Irak ergangenen Entscheidungen vom 11.2.2004 – 1 C 23/02 – und vom 25.8.2004 – 1 C 22.03 – zugrunde gelegt und sodann die Frage einer stabilen Schutzmacht im Beschluss

vom 26.1.2006 – 1 B 135.05 –

ausdrücklich als nicht entscheidungserheblich bei fehlender Verfolgung behandelt.

In seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 – (Juris-Ausdruck Seite 6) hat das Bundesverwaltungsgericht für die Prüfung von Widerrufsfällen entschieden, dass nach der auch beim Widerruf anzuwendenden Vorschrift des § 60 I 4 AufenthG

eine Verfolgung nunmehr auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (kann), sofern der Staat, wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat nach der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht die gewissermaßen absolute Bedeutung, dass ein Widerruf ausscheidet. Ein fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat in Widerrufsfällen vielmehr nur die relative Bedeutung, dass vorrangig tatsächliche Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure zu prüfen sind. Die dargelegte Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet, dass effektiver staatlicher Schutz nicht bereits eine Widerrufsvoraussetzung ist; der Widerruf scheitert nicht von vornherein an fehlendem effektivem staatlichen Schutz durch eine stabile Schutzmacht.

Dieselbe Rechtsauffassung hat das Bundesverwaltungsgericht auch schon konkludent in einem unmittelbar den Irak betreffenden Urteil vom 25.8.2004 – 1 C 22.03 – in einem Widerrufsverfahren zugrunde gelegt. Auch dort wird die Frage der effektiven Schutzfähigkeit nicht als Widerrufshindernis geprüft. Vielmehr ist ausgeführt (Seite 3 des Juris-Ausdrucks):

Der Kläger hat bei einer Rückkehr in den Irak inzwischen offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen.

Es werden also nur Verfolgungsmaßnahmen ausgeschlossen. Dazu wird dargelegt, das irakische Regime sei durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden und andere Gründe, aus denen der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland politischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein könnte, seien nicht ersichtlich. Die effektive Schutzfähigkeit durch den irakischen Staat prüft das Bundesverwaltungsgericht nicht. Der Irak war im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (25.8.2004) gerade erst (am 28.6.2004) aus dem Besatzungsstatut in die Souveränität entlassen worden und vergleichbar schwach wie heute. Die fehlende effektive Schutzfähigkeit des Irak kann also kein absolutes Widerrufshindernis sein. Weiterhin hat das Bundesverwaltungsgericht in eigener Revisionswürdigung schon während der Besatzungszeit des Iraks eine Verfolgungsgefahr ausgeschlossen, ohne die effektive Schutzfähigkeit des Irak zu prüfen.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 – 1 C 23/02 -, dort betreffend einen Anerkennungsfall.

In den drei vom Senat aufgeführten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts aus 2004 und 2005 zum Irak und zu Afghanistan ist als gemeinsame klare Linie der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu entnehmen, dass in keinem der Fälle die effektive Schutzfähigkeit des Staates gewissermaßen als absolute Anforderung vor die Klammer gezogen wird und der Flüchtling bereits deshalb Verfolgter ist, weil sein Heimatstaat keinen effektiven Schutz durch eine stabile Schutzmacht gegen denkbare Verfolgungen bietet. Vielmehr ist vorrangig für das Bundesverwaltungsgericht, ob asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen nach den maßgebenden Kriterien der Rechtsprechung überhaupt zu befürchten sind. Für den Irak hat das Bundesverwaltungsgericht eine solche Verfolgungsgefahr verneint und bereits deshalb nicht die effektive Schutzfähigkeit des Staates vor denkbarer Verfolgung geprüft. In dem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/05 – ist die nur relative Bedeutung des effektiven staatlichen Schutzes vor Verfolgung hervorgehoben.

Sodann hat das Bundesverwaltungsgericht die Frage nach der Notwendigkeit einer stabilen Schutzmacht in einem neueren Revisionszulassungsverfahren auch ausdrücklich erörtert.

Beschluss des BVerwG vom 26.1.2006 – 1 B 135.05 -.

Es hat die aufgeworfene Frage der stabilen Schutzmacht als nicht entscheidungserheblich bei fehlender Verfolgung behandelt.

Dem folgt auch der Senat.

Mithin ist die vom Kläger aufgeworfene Grundsatzfrage der Bedeutung des effektiven Schutzes des Staates als stabiler Schutzmacht vor Verfolgung übereinstimmend mit der Meinung der Beklagten bereits höchstrichterlich geklärt; der Senat schließt sich der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an, wonach diese Frage nur relative Bedeutung bei vorrangig festzustellender tatsächlicher Verfolgungsgefahr hat.

Sodann ist mit Blick auf die Auffassung des UNHCR die Frage zu erörtern, ob nach dem politischen Systemwechsel über den Ausschluss erneuter Verfolgung hinaus auch noch Schutz vor allgemeinen Gefahren durch eine stabile Lage verlangt werden kann. Die Stabilitätsfrage wird also nochmals gestellt, aber nunmehr nicht mit Blick auf die Verfolgung, sondern mit Blick auf allgemeine Gefahren. Auch diese Frage hat grundsätzliche und zugleich länderübergreifende Bedeutung, ist aber vom Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden.

Die Widerrufsregelung des Gesetzgebers zielte nach der ursprünglichen Gesetzesbegründung auf den Fall, dass in dem Verfolgungsland ein Wechsel des politischen Systems eingetreten ist, sodass eine weitere Verfolgung nicht mehr zu befürchten ist.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, unter Darstellung der Gesetzesmaterialien.

Der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck bezieht sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausschließlich auf den Ausschluss erneuter Verfolgungsmaßnahmen, nicht auf Schutz vor allgemeinen Gefahren.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Die den Rechtsstandpunkt des Klägers stützende Gegenmeinung, die insbesondere von der Flüchtlingshilfeorganisation UNHCR näher begründet wird, geht über den Verfolgungsausschluss hinaus und verlangt für den Widerruf zusätzlich stabile Verhältnisse im Herkunftsland.

UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention auf irakische Flüchtlinge von April 2005, S. 2.

UNHCR nimmt dabei an, dass der internationale Flüchtlingsschutz nicht nur dem Schutz vor erlittener oder drohender Verfolgung diene, sondern auch der Schaffung dauerhafter Lösungen für Flüchtlinge; deshalb könnten Flüchtlinge nicht zur Rückkehr in die instabilen Verhältnisse des Irak gezwungen sein mit der Gefahr, dass immer neue Flüchtlingsströme entstehen.

UNHCR-Hinweise von April 2005, S. 2.

Dieser vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vertiefte Gesichtspunkt leuchtet dem Senat durchaus rechtspolitisch ein.

Es geht um die Erweiterung des Schutzzwecks auf allgemeine Gefahren zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme. Unter Hinweis auf die Interessenwürdigung durch UNHCR verlangt auch Marx relative politische und wirtschaftliche Stabilität in dem Land nach dem Systemwechsel.

Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 73 Rdnr. 79.

Das VG Köln, auf das sich der Kläger beruft, ist dieser Auffassung gefolgt.

VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -, wonach eine instabile beziehungsweise unsichere Lage im Herkunftsland Irak einem Widerruf entgegenstehe.

Besonders deutlich wird diese Rechtsposition durch das VG Sigmaringen dargestellt, auf das sich der Kläger ebenfalls beruft.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -.

Danach geht es bei dem Widerruf nicht nur um Verfolgungsschutz, sondern erweiternd um effektive Schutzgewährung, und ein wesentlicher Aspekt der effektiven Schutzgewährung ist die allgemeine Sicherheitslage.

Ungeachtet der rechtspolitischen Vorzüge der Ansicht von UNHCR folgt der Senat der systematisch begründeten Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach der Widerruf keinen Gefahrenausschluss durch stabile Verhältnisse voraussetzt. Diese Auslegung ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Nach Art. 16 a I GG dient das Asylrecht dem Schutz politisch Verfolgter

Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 7. Auflage 2004, Art. 16 a Rdnr. 1, wonach das Asylgrundrecht auf die Erfahrung mit dem Dritten Reich und den damals rassistisch und politisch Verfolgten zurückgeht und Menschen in einer ähnlichen politischen Lage in anderen Ländern helfen soll.

Dagegen ist das Grundrecht nach der Verfassungsrechtsprechung nicht in der Lage, auch einen effektiven Schutz vor politisch und wirtschaftlich instabilen Verhältnissen, oder sogar vor anarchischen Zuständen mit Auflösung der Staatsgewalt zu gewähren.

Zum Letzteren BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Ist dies aber der Fall, verbietet das Grundgesetz auch unter Einschluss des vom Kläger zitierten Art. 1 I GG nicht einen geminderten Flüchtlingsschutz für Fälle des Staatszerfalls.

Darüber hinaus ist die grundrechtskonforme Begrenzung des Gesetzeszwecks auf den Verfolgungsschutz nach der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowohl völkerrechtskonform als auch europarechtskonform.

Die Widerrufsvorschrift des deutschen Rechts geht zurück auf Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - vom 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560), wonach eine Person nicht mehr unter den Schutz des Flüchtlingsabkommens fällt,

wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wollte der deutsche Gesetzgeber mit seiner Widerrufsbestimmung die materiellen Anforderungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention übernehmen und hat dies auch getan.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Nach der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet Wegfall der Umstände im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK eine nachträgliche erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Unter Schutz im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK ist danach ausschließlich der Schutz vor zu erwartenden erneuten Verfolgungsmaßnahmen zu verstehen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/06 -.

Das Bundesverwaltungsgericht beruft sich für seine Rechtsauffassung auf eine systematische Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention. Der Begriff Schutz des Landes in dieser Wegfallbestimmung hat danach keine andere Bedeutung als der gleich lautende Begriff Schutz dieses Landes in Art. 1 A Nr. 2 GFK, der die Flüchtlingseigenschaft begründet. Nach dieser Vorschrift kommt es insbesondere darauf an, dass der Betroffene aus begründeter Furcht vor Verfolgung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann. Nach dem Zusammenhang dieser Definitionsvorschrift kann mit dem Schutz des Landes nur der Schutz vor den befürchteten Verfolgungsmaßnahmen gemeint sein; ein Schutz vor instabilen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen als Begründung der Flüchtlingseigenschaft ist ersichtlich nicht mit umfasst. Die instabile Lage begründet nicht die Verfolgteneigenschaft Dies gilt konsequent auch für den Wegfall der Flüchtlingseigenschaft, und deshalb beenden auch nicht erst stabile Verhältnisse die Verfolgteneigenschaft.

Der Senat folgt der systematischen Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts.

Zusätzlich ist noch auf folgenden in der mündlichen Verhandlung erörterten Auslegungsgesichtspunkt hinzuweisen:

Die unmittelbar anschließende völkerrechtliche Widerrufsregelung für Staatenlose in Art. 1 C Nr. 6 GFK enthält keine Schutzklausel. Dies kann schwerlich bedeuten, dass damit Staatenlosen der sonst zu gewährende effektive Schutz entzogen wird. Vielmehr spricht diese Regelung dafür, dass mit dem völkerrechtlichen Begriff „Schutz“ nur der prinzipielle Schutz des Herkunftsstaates für seine Staatsangehörigen gemeint ist, der naturgemäß nicht auf Staatenlose übertragen werden kann.

Auch dies spricht für die Auslegung des Völkerrechts durch das Bundesverwaltungsgericht.

Ergänzend zu berücksichtigen ist für die Auslegung des deutschen Rechts das Europarecht. Dabei geht es um die Vorwirkung der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikationsrichtlinie - bereits vor dem bevorstehenden Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006.

Nach der Rechtsprechung des EuGH, der sich der Senat angeschlossen hat, ist nationales Recht schon vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist bereits erlassener Richtlinien so auszulegen, dass der Zweck der Richtlinie erreicht werden kann.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 - C 211/03 -, Rz 44; Urteil des Senats vom 3.2.2006 - 3 R 7/05 - Seite 49 des amtl. Umdrucks, beide Entscheidungen ergangen zum Arzneimittelrecht.

Inhaltlich führt die europäische Richtlinie aber zu keiner anderen Rechtslage als der bereits dargelegten völkerrechtlichen Regelung der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern sie bestätigt noch zusätzlich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.

Wesentlich ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass die völkerrechtliche Wegfallklausel der Genfer Flüchtlingskonvention in die Qualifikationsrichtlinie ebenso wörtlich übernommen ist wie der symmetrische Schutzbegriff sowohl bei der Begründung der Flüchtlingseigenschaft als auch bei dem Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft. Nach Art. I e der Qualifikationsrichtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser nicht mehr Flüchtling, wenn er

nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Für die Begründung der Flüchtlingseigenschaft stellt Art. 2 c der Qualifikationsrichtlinie unter eigenständiger Formulierung der Verfolgungsmerkmale ebenso wie die Genfer Flüchtlingskonvention auf die begründete Furcht vor Verfolgung ab und verlangt sodann wörtlich übereinstimmend, dass der Flüchtling

sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann .....

Die vom Bundesverwaltungsgericht bereits im Zusammenhang mit dem Völkerrecht ausgelegten Parallelbegriffe „Schutz des Landes“ sowie „Schutz dieses Landes“ finden sich also wörtlich gleich lautend in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der umzusetzenden Qualifikationsrichtlinie der EG. Das Bundesverwaltungsgericht hat auch konsequenterweise in einem Nichtzulassungsbeschluss bereits ausgeführt, die Annahme einer Vorwirkung der Richtlinie 2004/83/EG führe nicht zu einem günstigeren Auslegungsergebnis der Widerrufsvorschrift.

BVerwG, Beschluss vom 15.2.2006 - 1 B 120/05 -, ohne eingehende Begründung; eben so Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; a. A. das VG Köln in seinem Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -, das aus den übereinstimmenden Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie einen Schutz auch vor einer instabilen Lage in Anspruch nimmt.

Hinzu kommt, dass die europäische Richtlinie die Wegfallklausel in Art. 11 II über das Völkerrecht hinaus dahin gehend präzisiert, dass die Mitgliedstaaten zu untersuchen haben,

ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist.

Damit wird der Schwerpunkt der Prüfung auf die Veränderung selbst gelegt, nicht auf stabile Verhältnisse.

Dies entspricht exakt der Auslegung des deutschen Rechts durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die mithin durch das neue Europarecht bestätigt wird.

Zusammengefasst ergibt sich aus der dargelegten systematisch überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entgegen der rechtspolitisch vorzugswürdigen Ansicht von UNHCR als grundsätzliche Weichenstellung der Widerrufsmaßstab, dass nur der Verfolgungsausschluss maßgebend ist. Die Gefahr von erneuten Verfolgungsmaßnahmen ist nach den Kriterien der Rechtsprechung zu prüfen. Allgemeine Gefahren etwa aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage bleiben bei dem Widerruf außer Betracht.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Verfolgungsgefahr wegfällt.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23/02 -, zitiert nach Juris.

Erweist sich die Beseitigung eines Regimes mit dessen spezifischen Verfolgungsmaßnahmen als endgültig, kann über den Wegfall der tatsächlichen Verfolgungsgefahr hinaus ein stabiler Staat weder zum Verfolgungsausschluss noch zum Gefahrenausschluss verlangt werden. Der Staat braucht also nicht stark zu sein. Die dargestellte Weichenstellung hinsichtlich stabiler Verhältnisse ist der Hauptgrund dafür, dass der Flüchtlingswiderruf in der Rechtsprechung einiger Instanzgerichte als rechtswidrig beurteilt wird; darauf ist noch einzugehen.

Die dargelegte erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der Verhältnisse muss nach dem anzulegenden Maßstab dazu führen, dass die Verfolgungsmaßnahmen nicht mehr wiederholt werden. Mit Blick auf die Vorverfolgung des Klägers gilt dafür der herabgestufte Maßstab der hinreichenden Sicherheit.

BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - BVerwG 9 C 6.96 -, BVerwGE 104, 97; ebenso BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21.04 -, zitiert nach Juris.

Dem bereits Vorverfolgten soll nicht das Risiko einer Wiederholung der Verfolgung aufgebürdet werden. Dabei braucht die Gefahr des Eintritts wiederholter Verfolgungsmaßnahmen nach diesem Maßstab nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen zu werden, so dass bereits geringe Zweifel dem Begehren zum Erfolg verhelfen würden. Vielmehr ist eine Wiederholungsgefahr der Verfolgung nach diesem Prognosemaßstab zu bejahen, wenn sich ernsthafte Bedenken nicht ausräumen lassen.

BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - BVerwG 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97.

Nach dem dargelegten Maßstab ist durch die Entmachtung Saddam Husseins eine erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der politischen Verhältnisse eingetreten, die nicht mehr umkehrbar ist. Dies steht mit hinreichender Sicherheit fest. Das Regime von Saddam Hussein ist gestürzt, seine Armee und seine Polizei sind aufgelöst, die Baath-Partei ist verboten, seine Verfolgungsmaßnahmen sind beendet, einige Mitglieder des Regimes sind getötet und Saddam Hussein und dem Kern seines Regimes wird im Irak der Prozess gemacht. Gerade darin liegt der Verfolgungsschutz des Klägers vor weiteren Unrechtsmaßnahmen des Regimes von Saddam Hussein, der keinen ernsthaften Bedenken unterliegt.

Dem hält der Kläger die eigene Einschätzung entgegen, angesichts der anerkannt labilen Sicherheitslage und der hohen Zahl der täglichen Anschläge sei in einem Bürgerkrieg oder jedenfalls einem Krieg von niedriger Intensität die Zukunft offen und es sei nicht auszuschließen, dass die Kräfte um den früheren Diktator Saddam Hussein wieder an die Macht gelangten, sein Machtclan sei noch vorhanden.

Dem Kläger ist zwar hinsichtlich der instabilen, manchmal eskalierenden Sicherheitslage, des hohen Gewaltniveaus durch tägliche Anschläge aus dem Untergrund im Sinne eines Untergrundkriegs und damit einer offenen Lage nach dem übereinstimmenden Erkenntnismaterial Recht zu geben.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005: amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005 und Jahresbericht 2006, UNHCR, Position von September 2005, vgl. auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Der Irak steht – wie es das OVG Koblenz prägnant formuliert – am Scheideweg zwischen Demokratie und Staatszerfall.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Insofern ist die Zukunft offen. Sie schließt den offenen Ausbruch eines Bürgerkriegs und ein Auseinanderbrechen des Irak ein.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

In dem hier entscheidenden Punkt, ob der Sturz des Regimes von Saddam Hussein und seines Machtclans in absehbarer Zeit unumkehrbar ist, besteht aber entgegen der Meinung des Klägers in Rechtsprechung und im Erkenntnismaterial ungeachtet der unterschiedlich kritischen Beurteilung des Iraks die fast einhellige Überzeugung, dass die Entmachtung Saddam Husseins und seines Clans nicht mehr umkehrbar ist.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den während des Laufs mehrerer Revisionsverfahren 2003 eingetretenen Sturz von Saddam Hussein abschließend selbst beurteilt mit dem Ergebnis, dass mit einer Wiederholung der Verfolgung offenkundig nicht mehr zu rechnen sei.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -; BVerwG Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, jeweils zitiert nach Juris.

Das Bundesverwaltungsgericht hält es also für offenkundig, dass Saddam Hussein und sein Clan nicht an die Macht zurückkehren.

Die Obergerichte teilen diesen Standpunkt. Nach der Auffassung des OVG Münster hat das bisherige Regime Saddam Husseins seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch den am 20.3.2003 begonnenen Militärschlag unter Führung der USA endgültig verloren und eine Rückkehr des alten Regimes ist nach den aktuellen Machtverhältnissen ebenso ausgeschlossen wie die Bildung einer Struktur, die eine vom früheren Regime gesehene Gegnerschaft als solche übernimmt und wiederholend verfolgt.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Der VGH Baden-Württemberg hält es mit hinreichender Sicherheit für ausgeschlossen, dass Anhänger des früheren Baath-Regimes bei realistischer Betrachtung wieder staatliche Herrschaftsgewalt ausüben könnten und zwar ungeachtet der äußerst angespannten Sicherheitslage.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Nach der Einschätzung des OVG Lüneburg ist der Sturz des Regimes von Saddam Hussein nach allen vorliegenden Erkenntnissen eindeutig und unumkehrbar, und zwar trotz der problematischen und oft eskalierenden Sicherheitslage im Irak.

OVG Lüneburg, Urteil vom 13.2.2006 - 9 LB 75/03 -.

Nach der Beurteilung des Bayerischen VGH gibt es keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass Saddam Hussein oder Angehörige seines früheren Regimes in absehbarer Zeit in der Lage sein könnten, sich neu zu formieren und staatliche Verfolgungsmaßnahmen zu veranlassen.

BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -.

Nach der Einschätzung des OVG Koblenz ist die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein vollständig; die tragenden Personen sind nicht nur durch das irakische Volk abgewählt, sondern zum Teil getötet oder außer Landes und ihm selbst und seinen führenden Helfern wird der Prozess gemacht, so dass eine weitere Verfolgung durch die persönliche Diktatur auszuschließen ist.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 107/95/05.OVG -.

Auch das OVG Schleswig-Holstein und das Sächsische OVG sehen den Machtverlust des diktatorischen Regimes von Saddam Hussein als endgültig an.

OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 18.5.2006 – 1 LB 117/05 -; Sächsisches OVG, Beschluss vom 28.8.2003 - A 4 B 573/02 -.

Soweit sich der Kläger auf die Rechtsprechung einiger Instanzgerichte beruft, die für den Irak die Widerrufsvoraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung verneinen, werden bei vergleichbarer Tatsachenwürdigung die rechtlichen Weichen anders gestellt. Das VG Köln ist der Auffassung, dass der Wegfall der ursprünglich die Verfolgung begründenden Verhältnisse nicht genüge und deshalb der Sturz des Regimes von Saddam Hussein allein nicht ausreiche; vielmehr müsse der Charakter der Veränderungen selbst stabil sein, was angesichts der hochgradigen instabilen Lage im Irak nicht der Fall sei.

VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -.

Allerdings ist die Rechtsprechung des VG Köln zur Rechtswidrigkeit des Widerrufs entgegen der Meinung des Klägers von dem OVG Münster nicht inhaltlich bestätigt worden. So hat das OVG Münster zwar in einem Beschluss vom 20.10.2005 (nicht: 19.7.2005) – 9 A 2944/05.A – ein entsprechendes Urteil des VG Köln aus prozessualen Gründen bestätigt. In seiner Rechtsprechung in der Sache selbst hat das OVG Münster aber wie dargelegt den Widerruf unter Abänderung einer Entscheidung des VG Köln als rechtmäßig angesehen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 – 9 A 3590/05.A – unter Abänderung des Urteils des VG Köln vom 24.8.2005 – 18 K 5732/04.A -.

Besonders deutlich wird die unterschiedliche rechtliche Weichenstellung bei im Wesentlichen gleicher Tatsacheneinschätzung in der Beurteilung des VG Sigmaringen, auf das sich der Kläger beruft.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -.

Nach der Rechtsprechung des VG Sigmaringen wurde durch die Militäraktion ein grundlegender Systemwechsel bewirkt; eine Rückkehr zu den alten Machtverhältnissen ist ausgeschlossen. Bei der Widerrufsentscheidung darf dagegen nicht die allgemeine Sicherheitslage ausgeklammert werden und wegen der erheblichen Unsicherheit der politischen Entwicklung und der realistischen Gefahr von Terroranschlägen hat ein Widerruf zu unterbleiben. Die abweichende Rechtsauffassung des VG Sigmaringen beruht also bei grundsätzlich gleicher Lagebeurteilung auf einer Rechtsauffassung, die das Bundesverwaltungsgericht und dem folgend der Senat nicht teilt.

Der Einschätzung durch die Rechtsprechung entspricht grundsätzlich auch die Beurteilung durch das vorliegende Erkenntnismaterial. In dem aktuellen Erkenntnismaterial wird meist nicht einmal mehr die Frage aufgeworfen, ob Saddam Hussein oder sein Clan an die Macht zurückkehren könnte.

Das Auswärtige Amt stellt eine Umsetzung des politischen Prozesses durch demokratische Wahlen bei gleichzeitig hohem Gewaltniveau und einer Annäherung an bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen fest; es geht davon aus, dass in dem am 19.10.2005 eröffneten Strafverfahren gegen Saddam Hussein und sieben weitere Repräsentanten der Diktatur den Angeklagten die Todesstrafe droht, rechnet also ersichtlich nicht mit einer erneuten Machtergreifung von Saddam Hussein und seinem Clan.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe würdigt in ihrer Analyse den politischen Übergang des Iraks zur Demokratie bei gleichzeitig äußerst schlechter Sicherheitslage.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Nach der Einschätzung der kritischen Flüchtlingshilfeorganisation UNHCR hat der Sturz des Regimes von Saddam Hussein noch nicht überall im Land zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen geführt; nach dem Sturz bestehen aber keine Anhaltspunkte dafür, dass Saddam Hussein selbst wieder die Macht erlangen könnte. Die Zukunft sei insofern unsicher, als es zu Sezessionsbestrebungen kommen könne.

UNHCR, UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention auf irakische Flüchtlinge von April 2005.

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international hat sich der Beurteilung durch UNHCR angeschlossen, dass nach dem Wegfall der autoritären Zentralgewalt der Sturz der Regierung von Saddam Hussein noch nicht im gesamten Irak zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen geführt hat; die Frage einer Rückkehr wird nicht aufgeworfen.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Das Deutsche Orient-Institut sieht in den Terroranschlägen lediglich einen Versuch, die politische Entwicklung des Irak zu bestimmen; die Rückkehrfrage von Saddam Hussein oder seines Machtclans wird nicht gestellt.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006.

Bei einer Gesamtwürdigung ist erkennbar, dass die vorliegende Rechtsprechung explizit von der Unumkehrbarkeit des Sturzes von Saddam Hussein in absehbarer Zeit ausgeht, während das aktuelle Erkenntnismaterial überwiegend die Frage bereits nicht mehr aufwirft. Soweit ersichtlich enthält das Erkenntnismaterial keinen näher begründeten ernsthaften Anhaltspunkt dafür, Saddam Hussein oder sein Machtclan könnte die Herrschaft im Irak wieder ergreifen und die Verfolgung ihrer früheren Gegner fortsetzen.

Dem Kläger ist einzuräumen, dass die Tatsache des praktisch einhelligen Ergebnisses in Rechtsprechung und Erkenntnismaterial eine Begründung dieser Prognose nicht ersetzt. Er beanstandet es, dass das Verwaltungsgericht seine Prognose zur Unumkehrbarkeit der Verhältnisse nicht begründet hat.

In der Rechtsprechung findet sich indessen eine tragfähige Begründung der Unumkehrbarkeit der Verhältnisse, die auch gegenüber der Argumentation des Klägers mit Blick auf die offene Lage überzeugt.

Wesentliche Bedeutung für die Unumkehrbarkeit des Verlustes der Macht hat die Art der Entmachtung des Regimes. Das Bundesverwaltungsgericht hat Gewicht darauf gelegt, dass das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -; BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -; jeweils zitiert nach Juris.

Ebenso hat das OVG Münster darauf abgestellt, dass das bisherige Regime von Saddam Hussein seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die am 20.3.2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren hat.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Das Regime von Saddam Hussein ist mithin nicht durch einen umkehrbaren Putsch oder durch die Intervention eines ähnlich starken Nachbarlandes entmachtet worden, sondern hat den Krieg gegen eine führende Macht der Welt endgültig verloren. In diesem Kriegsverlust liegt ein Unterschied zu dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung erwähnten Vietnamkrieg, in dem das nordvietnamesische Regime von den Amerikanern nicht besiegt und beseitigt wurde und sich erst danach neu etabliert hat. Ausdrückliches und erreichtes Kriegsziel im Irakkrieg war die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein. Der Verlust eines solchen Krieges lässt sich realistischerweise nicht einfach umkehren. Auch der sunnitische Widerstand geht in seiner Einschätzung von einer Übermacht der US-Truppen im Irak und nicht von einem Kräftegleichgewicht aus.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Die Kräfte sind zu ungleich, um mit dem Kläger insoweit eine offene Lage zu sehen. Deshalb bestehen auch keine ernsthaften Bedenken gegenüber der Unumkehrbarkeit des Sturzes von Saddam Hussein und seines Machtclans einschließlich seiner spezifischen Verfolgungsmaßnahmen.

Wenn der Kläger demgegenüber meint, die Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein seien nicht zerschlagen, da das Clan-System existiere und lebensfähig sei, überzeugt das nicht. Zu den Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein gehörten abgesehen von dem Clan vor allem seine Armee, seine Polizei und die Baath-Partei. Seine Armee und die Polizei sind zerschlagen worden, die Baath-Partei ist verboten. Die das Regime tragenden Personen des Machtclans sind vom irakischen Volk abgewählt, zum Teil getötet, und dem Kern des Regimes wird der Prozess gemacht, so dass bei einer Gesamtwürdigung von einer Beseitigung der persönlichen Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein auszugehen ist.

So überzeugend OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Alle diese Herrschaftsstrukturen sind endgültig zerschlagen. Allenfalls kann man mit der Einschätzung von UNHCR und amnesty international annehmen, dass es noch nicht überall im Land zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen gekommen ist, aber auch UNHCR sieht darin keinen Gesichtspunkt dafür, Saddam Hussein könne wieder die Macht erlangen.

Von Bedeutung ist, dass das Clan-System von Saddam Hussein allein in einer Minderheitsgruppe verankert war. Das OVG Münster stützt seine Prognose darauf, dass es nicht wieder zu einer Ballung der Macht bei einer der Volksgruppen kommen werde, zumal nicht in der Hand der nur eine Minderheit darstellenden Gruppe der Sunniten, in der das Regime Saddam Husseins vor allem verankert war.

OVG Münster, Urteil vom 17.5.2004 - 20 H 1810/02.A -.

Die arabischen Sunnitinnen und Sunniten stellen im Irak einen Bevölkerungsanteil von etwa 17 bis 22 % dar.

Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006.

Die gewaltsame Wiedererlangung der Macht einer diktatorischen sunnitischen Minderheit durch Bombenanschläge sowohl gegen die Mehrheit der großen Volksgruppen des Irak als auch gegen das erreichte Kriegsziel einer Weltmacht ist nicht realistisch.

Das bestätigt auch die bisherige demokratische Entwicklung des Irak, die durch einen Untergrundkrieg des Widerstands mit täglichen Bombenanschlägen nicht zu verhindern war. Die Entwicklung im Irak ist sowohl durch die demokratische Neugestaltung als auch den Untergrundkrieg mit Bombenanschlägen geprägt.

Die seit dem Irakkrieg 2003 eingetretene politische Entwicklung, insbesondere die demokratische Beteiligung der wesentlichen Gruppen des Iraks, der Schiiten, der arabischen Sunniten und der Kurden, lässt keinen Anhaltspunkt für eine nochmalige diktatorische Minderheitsherrschaft der Sunniten zu, wobei die von Saddam Hussein verfolgte Mehrheit der Schiiten realistischerweise auch nicht als Bündnispartner der Diktatur der Sunnitenminderheit bereit steht.

Am 28.6.2004 wurde unter Beendigung der amerikanisch-britischen Besatzung die Souveränität des Irak wieder hergestellt.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Die am 30.1.2005 erstmals durchgeführten demokratischen Wahlen führten zu einer demokratischen Legitimierung der irakischen Regierung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005.

Aufgrund dieser ersten Wahlen stellten die Schiiten den Ministerpräsidenten und 16 Minister, die Kurden 8 Minister, die Sunniten 6 Minister und die Christen und Turkmenen je einen Minister. Zum Staatspräsidenten wurde am 6.4.2005 der Kurde Talabani gewählt. Seine Stellvertreter wurden ein Schiit und ein sunnitischer Araber. Am 15.10.2005 hat die irakische Bevölkerung in einem Referendum die neue irakische Verfassung entgegen den Bombenandrohungen mit einer Wahlbeteiligung von immerhin 63 % angenommen. Die Verfassung bestimmt, dass der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat ist. Der Islam ist eine Hauptquelle der Gesetzgebung; die Verfassung enthält einen umfassenden Menschenrechtskatalog und garantiert eine Frauenquote von 25 % im Parlament. Am 19.10.2005 hat ein irakisches Sondergericht zur Aufarbeitung der Verbrechen des ehemaligen Regimes das erste Verfahren gegen Saddam Hussein sowie sieben weitere Repräsentanten des früheren Regimes eröffnet.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005, amnesty international, Jahresbericht 2006.

Am 15.12.2005 fanden im Irak Parlamentswahlen mit einer Wahlbeteiligung von immerhin 75 % der Wahlberechtigten ungeachtet der Bombendrohungen statt. Von den 275 Parlamentssitzen errangen die religiöse Schiiten-Allianz 128, das kurdische Wahlbündnis 53 und die sunnitische Irakische Konsensfront 44 Sitze.

Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006.

Die Regierungsbildung war sehr langwierig, da die Kurden und die Sunniten den bisherigen schiitischen Ministerpräsidenten Dschaafari ablehnten. Erst im Mai 2006 wurde eine neue Regierung durch das irakische Parlament bestätigt. Neuer Ministerpräsident ist der Schiit Al-Maliki. Der Ölminister ist Schiit, der Außenminister Kurde und der Vizepremier Sunnit.

Vgl. zur Regierungsbildung Süddeutsche Zeitung vom 22.5.2006.

Insgesamt spiegelt das vollständige Kabinett mit 20 Schiiten, 8 Kurden, 8 Sunniten und 4 Säkularen den ethnisch-konfessionellen Proporz des Irak wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Der Kurde Talabani wurde am 22.4.2006 erneut zum Staatspräsidenten gewählt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Angesichts der Entwicklung der Machtverhältnisse, die von einer Mehrheit der unter dem sunnitischen Regime unterdrückten schiitischen und kurdischen Bevölkerungsgruppen geprägt ist, hält es der Senat mit hinreichender Sicherheit für ausgeschlossen, dass Anhänger des früheren Baath-Regimes bei realistischer Betrachtung als Minderheitsgruppe wieder diktatorische Herrschaftsgewalt ausüben werden, dafür die zuvor von Saddam Hussein verfolgten Volksgruppen gewinnen und sodann die Verfolgung wieder aufnehmen.

Der Verlust des Krieges gegen eine Weltmacht kann realistischerweise nicht mehr umgekehrt werden und dies ist auch wie dargelegt im Vietnamkrieg nicht geschehen.

Nach allem liegt in der Entmachtung von Saddam Hussein und des Minderheitsregimes der arabischen Sunniten einschließlich der spezifischen Verfolgungsmaßnahmen des Regimes eine unumkehrbare Entwicklung. Der Kläger hat mithin offenkundig nicht mehr mit einer wiederholten politischen Verfolgung zu rechnen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Wegfall der politischen Verfolgung bereits im Jahr 2004 als offenkundig bezeichnet, BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, unter eigener Beurteilung der Entwicklung in der Revisionsinstanz.

Der Kläger ist also hinreichend sicher davor, dass der Clan um Saddam Hussein nach dem verlorenen Krieg gegen eine Weltmacht erneut eine sunnitische Minderheitsdiktatur begründet und die Verfolgung des Klägers gerade dort aufnimmt, wo sie 1995 beendet wurde, nämlich mit der vorgetragenen drohenden Verhaftung wegen der Übermittlung von Einzelheiten der Militärfahrzeuge Saddam Husseins an die kurdische Partei PUK im Nordirak. Nach dem herabgesetzten Prognosemaßstab ist der Kläger mithin vor einer solchen Wiederholung dieser spezifischen Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher.

Nach diesem Maßstab droht dem Kläger keine erneute Verfolgung.

Allerdings befürchtet der Kläger dennoch, er werde ungeachtet des Regimewechsels wegen des plausibel vorgetragenen früher begangenen militärischen Geheimnisverrats zugunsten der kurdischen Partei PUK weiterhin zur Rechenschaft gezogen. Dieser in der mündlichen Verhandlung von der Beklagten bestrittene Verfolgungsvortrag kann zugunsten des Klägers als richtig unterstellt werden. Auf Grund der vorgetragenen Verfolgung meint der Kläger nach seinem erstinstanzlichen Vorbringen, er müsse heute von den aktuell an der Macht Befindlichen Verfolgung befürchten, mithin von der irakischen Regierung.

Eine solche Individualverfolgung durch den – an sich verfolgungsfähigen - neuen irakischen Staat ist aber auszuschließen. Saddam Hussein ist durch die Militärmacht der Amerikaner und Engländer entmachtet worden. Die seinerzeit verfolgte und vom Kläger unterstützte kurdische Partei PUK wird nunmehr von Talabani geleitet, der selbst Staatspräsident des Irak ist.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die jetzige, demokratisch legitimierte Regierung des Irak setzt sich aus Gegnern Saddam Husseins zusammen. Insbesondere wurde der schiitische Ministerpräsident Al-Maliki unter Saddam Hussein zum Tode verurteilt; der Ölminister Al-Schahristani war unter Saddam Hussein inhaftiert und gefoltert worden, weil er sich weigerte, an der Entwicklung einer Atombombe und damit der militärischen Macht Saddam Husseins mitzuarbeiten.

Süddeutsche Zeitung vom 22.5.2006.

Ein nachträglicher Schutz einzelner Daten der Militärmacht Saddam Husseins nach dem Stand von 1995 durch die Strafgerichte des neuen irakischen Staats oder durch andere staatliche Maßnahmen liegt außerhalb jeder realen Möglichkeit. Im Visier der Regierungsmaßnahmen ist der sunnitisch-arabische Widerstand. Dazu gehört der Kläger eindeutig nicht, was keiner näheren Darlegung bedarf.

Weiterhin fürchtet der Kläger wegen der damaligen Weitergabe der Daten der Militärfahrzeuge eine Individualverfolgung durch nichtstaatliche Akteure (§ 60 I 4 c AufenthG), und zwar durch das sunnitische Terrorpotenzial, das den neuen irakischen Staat bekämpft. Der Kläger befürchtet einen individuellen Racheakt.

Eine solche Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu prüfen, wenn der Staat beziehungsweise gebietsmächtige Organisationen einschließlich internationaler Organisationen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 -.

Nach der zutreffenden Einschätzung von UNHCR sind die Koalitionstruppen und die irakischen Sicherheitskräfte, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, nicht im Stande, die Sicherheit vor Attentaten zu gewährleisten.

UNHCR, Hinweise von April 2005; Position von September 2005; ebenso UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Mithin ist die Gefahr eines individuellen Attentats auf den Kläger zu prüfen.

In der irakischen Wirklichkeit kommen individuelle Racheakte vor. Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich insbesondere, dass Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der Regierung zusammenarbeiten, mit Racheakten des bewaffneten sunnitischen Widerstands rechnen müssen.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und schon vom 24.11.2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005 sowie vom 9.6.2004: frühere exponierte Parteimitglieder und Angehörige des früheren Regimes, die die Seite gewechselt haben; keine Berichterstattung über solche Fälle in amnesty international, Jahresbericht 2006.

So hat sich das Deutsche Orient-Institut insbesondere mit dem Fall eines Arztes befasst, der nach dem Ende des Saddam-Regimes einen Lagerwechsel vornahm, politisch gegen das ehemalige Regime arbeitete und dafür von dem sunnitischen Widerstand gezielt ermordet wurde; hier hat das Deutsche Orient-Institut eine individuelle Gefahr auch für den Bruder des ermordeten Arztes bejaht.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006.

Insofern werden Seitenwechsler als Verräter und Kollaborateure im Einzelfall von dem sunnitischen Widerstand durch Racheakte bestraft.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006.

Zu diesen Personen gehört der Kläger aber nicht, der als bereits ursprünglicher Gegner Saddam Husseins und Anhänger der kurdischen Sache zu keinem Zeitpunkt die Seite gewechselt hat. Vielmehr hat er nach seiner Erstanhörung vom 13.12.1995 die Zusammenarbeit mit der Baath-Partei von Saddam Hussein abgelehnt.

Im Einzelfall kommen auch Racheakte von ehemaligen Anti-Saddamisten an Saddamisten vor, wenn es auch im Irak keine „Nacht der langen Messer“ gegeben hat.

Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 3.4.2006.

Auch davon ist der Kläger nicht betroffen, da er kein Saddamist war.

Im Übrigen kommen auch individuelle Racheakte im Verhältnis von Schiiten und Sunniten vor, die sich gegenseitig die begangenen Morde vorrechnen; diejenigen, die sich für ihre Racheakte Opfer suchen, tun dies auf ganz direkte Weise und aus ganz direkten Gründen.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006.

Bezogen auf die Vergangenheit kommt es in Einzelfällen zu individuellen Racheakten aus dem ganz direkten Grund, dass jemand persönlich Blut an seinen Händen hat.

So das Deutsche Orient-Institut in seinen Gutachten vom 14.6.2005 und vom 31.3.2005.

Auch eine solche Individualgefahr von Racheakten betrifft den Kläger nicht, der bereits nach seinem ursprünglichen Vortrag bei seiner Erstanhörung in Deutschland vom 13.12.1995 bis einschließlich der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nichts über eine Verwicklung in eine Bluttat vorgetragen hat.

Indirekte Gründe begründen dagegen nicht die realistische Gefahr eines Racheaktes. Insbesondere haben selbst die früheren Kämpfe gegen die Kurden heute nicht mehr das Gewicht, das für einen Racheakt einer der beiden Seiten erforderlich wäre.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.6.2005, mit Ausnahme der persönlichen Verantwortlichkeit für ein Massaker, die hier aber ersichtlich nicht vorliegt.

Ist aber bereits die direkte Beteiligung an früheren Kämpfen zwischen Kurden und Arabern heute nicht mehr unter dem Gesichtspunkt von gegenseitigen individuellen Racheakten von Gewicht, gilt dies erst recht für die bloß indirekte Beteiligung an den Kämpfen durch Übermittlung von Fahrzeugdaten der Militärfahrzeuge Saddam Husseins nach dem Stand von 1995. Die damaligen Übermittlungen des Klägers von Fahrzeugdaten an die Kurden fanden acht Jahre vor dem entscheidenden Irak-Krieg von 2003 statt, durch den Saddam Hussein die Macht verloren hat. Zu diesem entscheidenden Irak-Krieg hat der Kläger, der in Deutschland war, nichts beigetragen. Die militärischen Einzelheiten von Armeefahrzeugen Saddam Husseins nach dem seinerzeitigen Stand von 1995 haben keine Bedeutung für den jetzigen sunnitischen Widerstand, der den aktuellen Staat aus dem Untergrund mit Autobomben und Selbstmordattentaten – und nicht etwa mit Panzern und Armeefahrzeugen - bekämpft. Deshalb ist der Kläger bei realistischer Betrachtung nicht in Gefahr, wegen seiner indirekten Unterstützung der kurdischen Sache im Jahr 1995 persönliche Zielscheibe eines Attentats des sunnitischen Widerstands zu werden.

Nach allem ist der Kläger hinreichend sicher vor einer Individualverfolgung wegen seiner vorgetragenen früheren indirekten Unterstützung der kurdischen Sache.

Auf den Streit der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung, ob der durchaus plausible ursprüngliche Verfolgungsvortrag des Klägers zutrifft, kommt es daher nicht an.

Sonstige Gesichtspunkte für eine Individualverfolgung des Klägers sind weder ersichtlich noch vorgetragen.

Zu prüfen ist sodann die in der mündlichen Verhandlung erörterte mögliche Gruppenverfolgung des Klägers als Mitglied der kurdisch-sunnitischen Volksgruppe durch Terrorkräfte als private Akteure. Bei der ethnisch-religiösen Gruppenverfolgung durch Private handelt es sich um eine gänzlich anders geartete Verfolgung als bisher behandelt ohne jeden Zusammenhang mit der Vorverfolgung durch Saddam Hussein, und deshalb ist im Rahmen der Widerrufsreglung nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – BVerwG 1 C 15.05 -.

Ein Ereignis ist dann beachtlich wahrscheinlich, wenn die für den Eintritt sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen.

BVerwG, Urteil vom 14.12.1993 – 9 C 45.92 -.

Ausgehend von diesem Maßstab droht dem Kläger als Mitglied der kurdischen Volksgruppe landesweit keine Gruppenverfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Als tatsächlicher Grund für eine solche Verfolgung sind die Terroranschläge im Irak zu prüfen.

Das größte Risiko für alle Menschen im Irak ist die instabile, manchmal eskalierende Sicherheitslage durch die Terroranschläge aus dem Untergrund, die an der Tagesordnung sind.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005 und Jahresbericht 2006; zur landesweit anhaltenden Gewalt auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Im Irak gibt es täglich landesweit mehr als hundert Anschläge aus dem Untergrund.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -, S. 15; zu den Anschlagsarten SFH, Position vom 9.6.2004.

Das entspricht einem Untergrundkrieg, wie auch in der mündlichen Verhandlung erörtert wurde.

Insgesamt hat die Sicherheitslage im Irak einen Tiefpunkt erreicht.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Sicherheitslage ist nicht nur in Bagdad prekär, sondern auch in den anderen großen Städten des Zentral- und Südirak sehr angespannt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Nach der zutreffenden Einschätzung von UNHCR sind die Koalitionstruppen und die irakischen Sicherheitskräfte, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, nicht imstande, die Sicherheit der irakischen Bevölkerung vor Attentaten und Sprengstoffanschlägen zu garantieren.

UNHCR, Hinweise von April 2005, UNHCR, Position von September 2005; UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Die darzulegenden Gefahren sollen hier im Rahmen des rechtlichen Ansatzes des Senats nach dem Maßstab der landesweiten Gruppenverfolgung dahingehend betrachtet werden, ob sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung zu Lasten des Klägers, der ein sunnitischer Kurde ist, begründen lässt; danach ist auf eine Fluchtalternative einzugehen.

Die den Untergrundkrieg führende bewaffnete Opposition im Irak setzt sich aus verschiedenen Gruppierungen zusammen mit einem harten Kern von ungefähr 12.000 bis 40.000 Mitgliedern, die teils einen islamistischen Hintergrund, teils einen arabisch-nationalistischen Hintergrund haben.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, wonach sich bei 20.000 Militanten eine klar Trennlinie zwischen baathistischen und islamistischen Rebellen nicht ziehen lässt.

Zwischenzeitlich besteht der bewaffnete Widerstand im Untergrund ganz überwiegend aus sunnitischen Arabern.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands, unter Hinweis darauf, dass etliche prominente und vor allem ausländische Mitglieder der Al-Qaida inzwischen durch den beträchtlichen Druck der amerikanischen Besatzungstruppen entweder festgenommen worden sind oder bereits im Kampf gefallen sind.

Der Hauptzweck des bewaffneten Widerstandes wird in dem Erkenntnismaterial praktisch einhellig darin gesehen, den Wiederaufbau des Landes zu verhindern oder wenigstens nachhaltig zu stören.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien vom 4.2.2006; Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands; sinngemäß auch UNHCR, Hinweise von April 2005, dort in personalisierter Form des Ziels mit Blick auf die Personen des Wiederaufbaus.

Für den bewaffneten irakischen Widerstand stellt die schiitisch dominierte irakische Regierung derzeit den Hauptgegner dar, irakische Truppeneinheiten sind ein bevorzugtes Angriffsziel.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Es gibt derzeit landesweit etwa 240.000 irakische Soldaten und Polizisten.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Im Erkenntnismaterial besteht im Wesentlichen Übereinstimmung, dass zu dem Hauptziel der Anschläge die irakische Regierung und die irakischen Sicherheitskräfte gehören.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, zu den irakischen Sicherheitskräften; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 6.9.2005, zu den irakischen Sicherheitskräften; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, zu den Regierungsmitgliedern; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 9.6.2004, zu den neuen irakischen Sicherheitskräften; UNHCR, Hinweise von April 2005, zu den Mitarbeitern der irakischen Regierung und zu Polizisten; amnesty international, Jahresbericht 2006.

Diese Personen sind als Zielscheibe des Terrors einem erhöhten Risiko ausgesetzt, durch Bombenanschläge in dem Untergrundkampf umzukommen. Nach der Einschätzung von amnesty international sind alle Personen, die bei den multinationalen Streitkräften oder bei der irakischen Polizei angestellt sind, in Gefahr, gezielt bei der Arbeit oder in ihrer Freizeit als Kollaborateur ermordet zu werden.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; amnesty international, Jahresbericht 2006.

Der Kläger gehört eindeutig nicht zu diesem erhöht gefährdeten Personenkreis.

Entsprechend dem dargelegten Ziel des bewaffneten Widerstandes, den Wiederaufbau im Irak zu verhindern, gehören zu den engeren Anschlagszielen über Regierung und Sicherheitskräfte hinaus die öffentlichen Personen des Wiederaufbaus.

Zu den exponierten Personen gehören nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe Personen der Öffentlichkeit wie Intellektuelle, Ärzte, Anwälte, Richter, Menschenrechtsaktivisten, führende Persönlichkeiten irakischer Parteien, religiöse Würdenträger, Medienschaffende und irakische Unternehmer.

Vgl. die insgesamt sehr umfangreiche Auflistung erhöht gefährdeter Personen des Wiederaufbaus in den Berichten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9.6.2004 und vom 15.6.2005.

Damit vergleichbar sind nach der Einschätzung von UNHCR insbesondere Personen gefährdet, die sich um den Wiederaufbau im Irak bemühen, wie über Regierungsmitglieder und Polizisten hinaus Richter, Rechtsanwälte, Intellektuelle, Ärzte und Journalisten.

UNHCR, Hinweise von April 2005 und Positionspapier von Oktober 2004.

Anschlagsziele sind nach der vergleichbaren Darlegung von amnesty international auch Angestellte des öffentlichen Dienstes, Regierungsbeamte, Richter und Journalisten.

amnesty international, Jahresbericht 2006.

Auch nach der Würdigung des Auswärtigen Amtes richten sich die Anschläge zunächst vor allem gegen Personen, die mit dem politischen oder wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes verbunden werden.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, in der Zusammenfassung; im Einzelnen werden insbesondere Anschläge auf Politiker, Journalisten und Professoren sowie Ärzte dargestellt.

Der Senat legt für seine Rechtsprechung die im Wesentlichen übereinstimmende Einschätzung des Auswärtigen Amtes, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von UNHCR zugrunde, dass die Anschläge insbesondere auch öffentlichen Personen des Wiederaufbaus im Irak gelten.

Zur terminologischen Klarstellung sei noch darauf hingewiesen, dass teilweise die Personen, die lediglich gegenwärtig am Wiederaufbau teilnehmen, schon deshalb ohne weiteren Vergangenheitsbezug als Kollaborateure angesehen werden (im Gegensatz zu den bereits dargestellten Seitenwechslern). So sind nach der Einstufung von amnesty international alle Personen, die derzeit bei den multinationalen Streitkräften oder bei der irakischen Polizei angestellt sind, in Gefahr, gezielt als Kollaborateur ermordet zu werden.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; für Angestellte der multinationalen Streitkräfte nochmals amnesty international, Jahresbericht 2006.

In diesem weiten Sinn gebraucht auch der vom Kläger herangezogene Widerrufsbescheid vom 19.10.2004, S. 8 (Widerrufsakte Bl. 25) den Begriff Kollaborateur, wonach die anhaltenden Anschläge im Irak in aller Regel zielorientiert den multinationalen Truppen gelten, den irakischen Polizeistationen sowie der Kollaboration verdächtigten Repräsentanten irakischer Institutionen sowie ausländischen Zivileinrichtungen.

Dieser weit gefasste Begriff der Kollaboration knüpft allein an die gegenwärtige Wiederaufbaubeteiligung an.

Ähnlich Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006, wonach kooperations- und beteiligungswillige arabische Sunniten von den gewalttätigen Kräften als Kollaborateure angesehen werden.

Nach allem ist der Senat mit Blick auf die übereinstimmende Würdigung des Auswärtigen Amts, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von UNHCR der Auffassung, dass engere Anschlagsziele über Regierung und Sicherheitskräfte hinaus die öffentlichen Personen des Wiederaufbaus mit einer daraus folgenden erhöhten Gefährdung sind.

Zu dieser Personengruppe gehört der Kläger nicht. Er ist bezogen auf den gegenwärtigen Wiederaufbau des Irak schon wegen seiner über zehnjährigen Abwesenheit seit 1995 keine öffentliche Person des Wiederaufbaus. Mithin kann realistischerweise ausgeschlossen werden, dass der Kläger nach einer Rückkehr in den Irak als öffentliche Person des Wiederaufbaus und in diesem Sinn als Kollaborateur zu den engeren Anschlagszielen des bewaffneten irakischen Widerstands gehört.

Da der sunnitische Widerstand vor allem die schiitisch dominierte Regierung als Hauptgegner ansieht, gerät die schiitische Volksgruppe insgesamt in das Blickfeld des Widerstands und kommt es im Sinne von weiter gestreuten Zielen auch zu Selbstmordattentaten insbesondere in schiitischen Vierteln Bagdads, die überwiegend der schiitischen Volksgruppe gelten.

Vgl. zu einem solchen Attentat mit 140 getöteten Zivilpersonen amnesty international, Jahresbericht 2006, S. 209; zur internen Diskussion von Anschlägen auf Schiiten vgl. Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstandes.

Auf die Bedrohung der schiitischen Volksgruppe ist noch einzugehen.

Solche Anschläge bedeuten aber zugleich eine Gefahr für alle Zivilpersonen, die sich – auch als Nichtschiiten wie der Kläger – zufällig in einem solchen schiitischen Stadtviertel aufhalten.

Im Falle einer Rückkehr in den Irak ist der Kläger auch als Kurde der landesweiten Gefahr von Terroranschlägen letztlich ebenso ausgesetzt wie die Zivilbevölkerung des Irak, und zwar ohne hinreichenden Schutz der Sicherheitskräfte. Als allgemeine Gefahr für die gesamte Zivilbevölkerung wird die Anschlagswelle auch im Erkenntnismaterial gesehen.

Das Auswärtige Amt würdigt die Anschläge ausdrücklich als enorme allgemeine Bedrohung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Das Deutsche Orient-Institut sieht dies ebenso. Die zahlreichen Anschläge gelten danach insbesondere Institutionen der irakischen Sicherheitskräfte, von ihnen sind aber alle Irakerinnen und Iraker bedroht; die Terroristen nehmen den Tod völlig Unbeteiligter massenhaft in Kauf.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 6.9.2005.

Nach der Feststellung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe werden Zivilisten oft Opfer, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 9.6.2004.

Nach der Würdigung des Auswärtigen Amtes trägt die weitgehend ungeschützte Zivilbevölkerung den Großteil der Opferlast.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Passanten werden regelmäßig Opfer von Gewalt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Nach Darlegung von amnesty international kommen Zivilpersonen ums Leben bei Autobomben oder Anschlägen von Selbstmordattentätern, die an sich der irakischen Polizei, Regierungstruppen, Militärkonvois und Stützpunkten der multinationalen Truppen gelten.

amnesty international, Jahresbericht 2006.

Bei den Sprengstoffanschlägen werden nach Darlegung von UNHCR unbeteiligte zivile Opfer von den Akteuren bewusst in Kauf genommen.

UNHCR, Hinweise von April 2005.

Ein Minimum an Schutz der Zivilbevölkerung vor den Bombenanschlägen besteht nicht.

UNHCR, Position von September 2005.

Der Senat geht sodann auf die landesweite Anschlagsdichte ein.

Entsprechend der Betrachtungsweise, dass die Zivilbevölkerung insgesamt Opfer der Terroranschläge ist, enthält das Erkenntnismaterial summierte Zahlen über die zivilen Opfer für den gesamten Irak.

Die Anschlagsopfer unter den Sicherheitskräften einerseits und unter der Zivilbevölkerung andererseits werden im Erkenntnismaterial verglichen. Besonders hohe Verluste haben die irakischen Sicherheitskräfte mit – allein 2005 – 4300 getöteten Polizisten und Soldaten.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Amnesty international hat sowohl die Opfer unter den amerikanischen Soldaten als auch unter der Zivilbevölkerung landesweit konkret dargelegt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Danach wurden durch die Anschläge 1.572 US-Soldaten getötet und 12.174 verletzt. Bei den Anschlägen kamen 2.300 Zivilisten ums Leben und die Anzahl der zivilen Opfer insgesamt wird zwischen 21.239 und 24.106 eingeschätzt. Das Auswärtige Amt gibt eine – pauschale - höhere Zahl von Opfern unter den Zivilisten zwischen 30.000 und 100.000 wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Bezogen auf die Zivilbevölkerung des Irak ist zunächst mit Blick auf das Gewicht der Verfolgungshandlungen von dem schwersten asylerheblichen Eingriff der Anschläge mit Todesfolge auszugehen und die Anschlagsdichte festzustellen.

Die – jährlich wachsende - Bevölkerung des Irak beträgt rund 27 Millionen Menschen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die mehrjährigen Todesopfer unter der Zivilbevölkerung durch Massenanschläge gibt amnesty international mit über 2.300 Menschen an.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort S. 10.

Die Anschlagsdichte der tödlichen Anschläge beträgt mithin für die gesamte Zivilbevölkerung des Irak im Durchschnitt 1:12.000.

Nach dem schwerstmöglichen Eingriff der Tötung ist auf die Verletzungsgefahr durch Massenanschläge abzustellen. Dafür liegen sowohl konkrete Zahlen als auch pauschale Abschätzungen vor. Nach den konkreten Zahlen von amnesty international wurden landesweit zwischen 21.239 und 24.106 zivile Opfer durch Anschläge geschätzt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, S. 10.

Auszugehen ist von der Maximalzahl von 24.106 Opfern. Bezogen auf die Verletzungsgefahr ist damit die Anschlagsdichte auf der Grundlage der Zahlen von amnesty international 1:1100.

Eine nochmals viermal höhere pauschale Schätzung für die zivilen Opfer gibt das Auswärtige Amt mit 30.000 bis 100.000 Opfern wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, dort S. 15.

Nach den derzeitigen Zahlen wurden jeden Monat 3.000 Iraker verletzt oder getötet.

Süddeutsche Zeitung vom 4.9.2006, S. 1, unter Wiedergabe einer Analyse des amerikanischen Verteidigungsministeriums.

Das entspricht auf das Jahr bezogen rund 36.000 Anschlagsopfern.

Geht man von der noch höheren Schätzung des Auswärtigen Amtes von 100.000 Anschlagsopfern aus, ergibt sich als Höchstabschätzung eine landesweite Anschlagsdichte von 1:270.

Zahlen liegen auch für Bagdad vor, die einen Vergleich von Tötungsrate und Entführungsrate ermöglichen. So beträgt nach den Zahlen von amnesty international speziell die Tötungsrate in Bagdad, hier aber einschließlich der Kriminalität, 90 von 100.000 Einwohnern.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort S. 10; zu einer Gewalteskalation in Bagdad mit 1091 Tötungen im April 2006 vgl. Süddeutsche Zeitung von 11.5.2006, S. 7.

Auf dieser Grundlage besteht die Gefahr, in Bagdad durch Anschläge oder anschlagsunabhängig durch Kriminelle getötet zu werden, rund 1:1.100.

Ähnlich groß ist in Bagdad die Entführungsgefahr. Ausgehend von täglich 10 bis 15 meist kriminellen Entführungsfällen

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/005.OVG -, S. 15

ergeben sich bei täglich 15 Fällen im Jahr rund 5500 Entführungen und damit bezogen auf die 5-Millionen-Stadt eine Entführungsrate von rund 1:900.

Die Entführungsrate ist also der Tötungsrate vergleichbar.

Die dargelegten Zahlen belegen die äußerst problematische und manchmal eskalierende Sicherheitslage im Irak und die Gefahr der Zivilbevölkerung, durch einen Anschlag verletzt oder getötet oder entführt zu werden. Ein vollständiges Ausweichen vor den Anschlägen ist der Zivilbevölkerung des Irak landesweit nicht möglich, auch wenn im kurdisch verwalteten Nordirak die Anschlagsdichte insgesamt geringer ist.

Vgl. zu Letzterem übereinstimmend Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006 sowie Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, wonach die Sicherheitslage im Nordirak mit Ausnahme von wenigen Anschlägen stabil ist, und UNHCR, Position von September 2005, wonach deutlich weniger Gewalttaten verübt werden.

Mithin liegt eine allgemeine Gefahr für die Zivilbevölkerung vor, der sie landesweit nicht vollständig ausweichen kann. Es ist verständlich, dass der Kläger in ein solches Land nicht zurückkehren möchte, in dem er sich nach seinem persönlichen Vorbringen in der mündlichen Verhandlung überdies als Ausländer fühlt.

Für den Widerruf entscheidend ist aber nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts allein das Vorliegen einer Verfolgungsgefahr, nicht einer allgemeinen Gefahr. Deshalb muss der Senat prüfen, ob sich die Gefahr zugunsten des Klägers rechtlich als Gruppenverfolgungsgefahr würdigen lässt.

Als Gruppenverfolgung kommt hier die private Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure, insbesondere den sunnitischen Untergrund, in Betracht.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner neuen Rechtsprechung klargestellt, dass für die private Gruppenverfolgung grundsätzlich die gleichen Anforderungen wie für eine staatliche Gruppenverfolgung gelten.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Diesem Maßstab schließt sich der Senat an.

Der Senat prüft im Folgenden als generelle Verfolgungsmuster im Irak nacheinander eine Gruppenverfolgung der Zivilbevölkerung und dann der großen Volksgruppen.

Die allgemeine Anschlagsgefahr kann zugunsten des Klägers nicht bereits als Gruppenverfolgung der Zivilbevölkerung des Irak insgesamt angesehen werden. Das ergibt sich sowohl aus dem erforderlichen Ausgrenzungsgesichtspunkt der Verfolgung als auch aus dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet die politische Verfolgung grundrechtlich eine Ausgrenzung durch intensive Rechtsverletzungen.

BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 231.

Die Zivilbevölkerung des Irak kann nicht im Ganzen aus dem irakischen Volk ausgegrenzt werden.

Das Europarecht führt mit Eindeutigkeit zu demselben Ergebnis. Nach Art. 10 I d der neuen als Auslegungshilfe heranziehbaren europäischen Qualifikationsrichtlinie muss eine verfolgte Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität haben und von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Dies scheidet bei der Zivilbevölkerung des Irak aus, denn für sie existiert keine sie umgebende Gesellschaft.

Weiterhin fehlt es selbst bei unterstellter Ausgrenzung an dem Merkmal der Verfolgungsdichte. Die Gruppenverfolgung bedeutet eine Regelvermutung der eigenen Verfolgung.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Eine Gruppenverfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voraus, dass jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muss; die eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen muss als eher zufällig anzusehen sein.

Zu diesen Merkmalen BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216-231 und 232.

Bei der Verfolgungsdichte ist sodann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwischen großen und kleinen Gruppen zu unterscheiden, da eine bestimmte absolute Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe als bedrohlich erweist, eine große Gruppe nicht im Ganzen bedroht.

BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158/94 -, zitiert nach Juris.

Als große Gruppe hat das Bundesverwaltungsgericht insbesondere eine Gruppe von knapp 2 Millionen Kosovo-Albanern sowie eine Gruppe von 4 Millionen Kurden in bestimmten Gebieten der Türkei angesehen, als kleine Gruppe insbesondere eine Gruppe syrisch-orthodoxer Christen in der Türkei von etwa 1.300 Personen.

Zu den großen Gruppen BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158/94 -; Urteil vom 30.4.1996 - 9 C 170/95 -; zu der kleinen Gruppe Beschluss vom 22.5.1996 - 9 B 136/96 -.

Bei der Zivilbevölkerung des Irak von 27 Millionen Menschen läge im Sinne der Rechtsprechung zur Verfolgungsdichte eine große Gruppe vor. Einen Anhaltspunkt für die erforderliche Verfolgungsdichte ergibt sich aus der dargelegten Verfassungsrechtsprechung, wonach die eigene bisherige Verschonung eher zufällig sein muss. Dies erfordert zwar nicht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit von Eingriffen, da auch eine qualitative Betrachtung erforderlich ist. Bezogen auf eine große Gruppe hat das Bundesverwaltungsgericht eine Verfolgungsdichte von etwa einem Drittel als im Ansatz ausreichend angesehen, die aber auf entsprechender Tatsachengrundlage belegt werden muss.

BVerwG, Urteil vom 30.4.1996 - 9 C 170/95 -, wonach der Ansatz des Berufungsgerichts von 1,5 Millionen Eingriffen gegenüber 4 Millionen Kurden mit Blick auf die erforderliche Verfolgungsdichte nicht beanstandet wird, wohl aber mit Blick auf die Belegung durch Tatsachenfeststellungen.

Die genaue Grenzziehung kann offen bleiben. Im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird die notwendige Verfolgungsdichte bei einer großen Gruppe allenfalls noch bei einer Verfolgungsdichte von 1:10 erreicht; dann könnte noch von einer Regelvermutung der eigenen Verfolgung gesprochen werden. Positiv gewendet überleben bei dieser Verfolgungsdichte 90 % der Mitglieder der großen Volksgruppe die Anschläge unverletzt. In diesem Fall kann es im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr als Zufall angesehen werden, dass ein einzelnes Mitglied der Volksgruppe unverletzt überlebt.

Die dargelegte Anschlagsdichte für die Zivilbevölkerung nach den konkreten Zahlen von amnesty international für Verletzungsopfer von 1:1100 und selbst nach den höheren pauschalen Zahlen des Auswärtigen Amtes von 1:270 wahrt einen sicheren Abstand von der kritischen Verfolgungsdichte von 1:10. Bei der festgestellten landesweiten Anschlagsdichte im Irak kann es ungeachtet der Furchtbarkeit der Einzelschicksale nicht mehr als bloßer Zufall angesehen werden, dass ein Gruppenmitglied bisher selbst von einem Anschlag verschont worden ist und im Irak unverletzt überlebt. Vielmehr ist es ein Zufall, selbst von einem Anschlag getroffen zu werden. Die Tötungs- und Entführungsgefahr ist wie dargelegt geringer als die Verletzungsgefahr. Bei einer qualitativen Wertung kann ausgeschlossen werden, dass entsprechend den Verfolgungsvoraussetzungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die gesamte Zivilbevölkerung des Irak gezwungen wäre, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage ihr Land zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen.

Zu dieser Voraussetzung BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 230.

Ungeachtet der landesweit ungewöhnlich hohen Anschlagszahlen im Irak und der problematischen Sicherheitslage besteht nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jedes Mitglied der Zivilbevölkerung allenfalls noch zufällig ohne Entführung und unverletzt überleben kann, in eine ausweglose Lage gebracht wird und das Land verlassen muss.

Bei der Frage der Gruppenverfolgung ist nach der Zivilbevölkerung als größtmöglicher Gruppe auch die Aufgliederung des Irak in große Bevölkerungsgruppen als generelles Verfolgungsmuster in den Blick zu nehmen.

Die größte Bevölkerungsgruppe bilden die arabischen Schiitinnen und Schiiten, die rund 60 % bis 65 % der Bevölkerung ausmachen und vor allem im Südosten und Süden des Landes wohnen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe sind die arabischen Sunnitinnen und Sunniten mit etwa 17 bis 22 % der Bevölkerung und damit rund 5 Millionen, die ihren Schwerpunkt im Zentralirak und Westirak haben.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die vor allem im Norden des Landes lebenden überwiegend ebenfalls sunnitischen Kurdinnen und Kurden machen mit 15 bis 20 % der Bevölkerung rund 5 Millionen aus.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

In Bagdad leben unterschiedliche Bevölkerungsgruppen teilweise in eigenen Vierteln.

Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; amnesty international, Jahresbericht 2006 für schiitische Viertel.

Engeres Ziel der Anschläge des irakischen Widerstandes sind die irakischen Sicherheitskräfte, d.h. die irakischen Truppeneinheiten und die neue irakische Polizei. Der Truppen- und Polizeieinsatz der irakischen Sicherheitskräfte erfolgt landesweit. Da diese Sicherheitskräfte Zielscheibe des Terrors sind, erfolgen die Anschläge nach dem Erkenntnismaterial landesweit und sind nicht etwa auf den Zentralirak begrenzt.

Zu den landesweiten Anschlägen eingehend Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005, ebenfalls zu den landesweiten Anschlägen amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, zur Gefahr für jeden Iraker Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Auch im Nordirak erfolgen Anschläge etwa auf Polizeirekruten.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Ungeachtet der Binnenströme der Bevölkerung jeweils zu ihren eigenen Hochburgen

vgl. zu Binnenvertreibungen aus den Hochburgen anderer Bevölkerungsgruppen außerhalb Bagdads insbesondere Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; zu Binnenvertreibungen von 35.000 Menschen aufgrund des Anschlags auf die schiitische Moschee von Samarra Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

treffen bei einer Gesamtbetrachtung die landesweiten Bombenanschläge im Irak neben dem eigentlichen Ziel der irakischen Sicherheitskräfte auch immer die Zivilbevölkerung jedes Geschlechts und Alters in ihrer jeweiligen Volksgruppenprägung. Die Terroristen nehmen den Tod völlig unpolitisch-unbeteiligter Irakerinnen und Iraker massenhaft in Kauf, und Zivilpersonen werden oft Opfer, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind.

Amnesty international, Jahresbericht 2006; Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005 und Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004, UNHCR, Hinweise von April 2005.

Die Zivilbevölkerung trägt den Großteil der Opferlast der Anschläge.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Dieser Zusammenhang von Operationen gegen die irakischen Polizei- und Militärkräfte und gegen die Zivilbevölkerung ist auch dem bewaffneten irakischen Widerstand bewusst und führt dort zu Differenzen.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Solange der Tod der unpolitisch-unbeteiligten Zivilbevölkerung massenhaft in Kauf genommen wird, ist jede Irakerin und jeder Iraker, ungeachtet der Religionszugehörigkeit, von diesen Anschlägen bedroht.

So überzeugend Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Nach der demografischen Zusammensetzung des Irak sind rund 60 % der Bevölkerung Frauen – also etwa 17 Millionen – und 50 % der Bevölkerung – also etwa 13,5 Millionen – sind unter 18 Jahren alt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die gewaltsamen Anschläge können gleichsam blind jeden treffen.

OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -.

Auch Kinder sind Opfer der Bombenanschläge.

Amnesty international, Jahresbericht 2006.

Bei dieser Sachlage fehlt es aber bei den Anschlägen an einer Ausgrenzung jedenfalls der großen Volksgruppen mit Ausnahme allenfalls der schiitischen Volksgruppe. Nach der Verfassungsrechtsprechung knüpft die Gruppenverfolgung an kollektive Merkmale einer Gruppe an.

BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 231.

Die dargelegten Terroranschläge, die eigentlich auf die Sicherheitskräfte und auf öffentliche Personen des Wiederaufbaus zielen, treffen wegen des Terrormittels der Bombenexplosionen je nach dem Wohnviertel immer auch die jeweilige unbeteiligte Zivilbevölkerung, in einem schiitischen Wohnviertel mithin vor allem Schiiten. Der Kampf des sunnitischen Widerstandes gegen die schiitisch dominierte Regierung kann allerdings auch die große schiitische Volksgruppe in den Blick nehmen und im Weiteren etwa auch schiitische Stadtviertel Bagdads einschließen.

Zur Vorgehensweise amnesty international, Jahresbericht 2006; zu den Widerstandszielen einschließlich der kontrovers diskutierten Anschläge auf Schiiten Le Monde diplomatique vom 12.5.2006.

Bei solchen Selbstmordanschlägen und Autobomben wird aber zugleich die unbeteiligte Zivilbevölkerung auch von Sunniten und Kurden mit betroffen.

Allenfalls bei Anschlägen in Form gezielter Erschießungen nach Kontrolle der Volkszugehörigkeit an Hand der Ausweise kann es vorkommen, dass bei demselben Attentat nach dem Gruppenmerkmal Schiiten getötet und Sunniten verschont werden.

Vgl. den in der NZZ vom 6.6.2006, S. 1, geschilderten Busüberfall mit der Erschießung von 24 Schiiten und der Verschonung von Sunniten; der Jahresbericht 2006 von amnesty international enthält nur einen allgemeinen, nicht konkretisierten Hinweis auf Anschläge wegen Zugehörigkeit zu religiösen oder ethnischen Gruppen.

Über derart gezielte Anschläge speziell nach dem Gruppenmerkmal der kurdischen Volkszugehörigkeit wird nicht berichtet. Vielmehr kann insofern nur auf arabisch-kurdische Spannungen in den – nicht unter kurdischer Verwaltung stehenden – multiethnischen Städten Mosul und Kirkuk hingewiesen werden, die sich insbesondere in Autobombenanschlägen zu Lasten der Zivilbevölkerung entladen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, wonach es in Kirkuk 2005 zu über 70 Autobombenanschlägen gekommen ist.

Davon abgesehen steht die kurdische Volksgruppe landesweit nicht derart im Blickfeld des sunnitischen Widerstands wie die schiitische Volksgruppe.

Die unmenschliche Anschlagswirklichkeit im Untergrundkampf wird durch die landesweiten Bombenanschläge insbesondere in Form von Selbstmordattentaten und Autobomben geprägt, die die Zivilbevölkerung insgesamt blind treffen. So wird die Wirkung der Anschläge ersichtlich auch im Erkenntnismaterial gesehen. Das Auswärtige Amt gliedert seine pauschale Schätzung der Opfer nicht nach Volksgruppen auf.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, und methodisch ebenso Lagebericht vom 24.11.2005.

Das Auswärtige Amt hält Passanten für regelmäßige Opfer der Gewalt und sieht den Großteil der Opferlast bei der Zivilbevölkerung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Organisation amnesty international gibt bei den Anschlägen die landesweite Zahl der zivilen Opfer wieder, gibt sie konkret mit 21.239 bis 24.106 an und gliedert sie ebenfalls nicht nach Bevölkerungsgruppen auf.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Das Auswärtige Amt berichtet über den Anschlag auf die schiitische Moschee in Samarra am 22.2.2006 und über Gegenanschläge auf sunnitische Moscheen und gibt die Opfer dieser konfessionell motivierten gegenseitigen Gewalt mit über 1000 Menschen an, gliedert sie aber nicht nach Schiiten und Sunniten auf.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Bezogen auf Volksgruppen als Anschlagsopfer referiert amnesty international einen konkreten Bombenanschlag auf vorwiegend Schiiten mit 114 getöteten Zivilpersonen, bezieht aber die landesweit aufsummierten Opferzahlen allein auf Zivilpersonen ohne Aufspaltung auf die Volksgruppen.

Vgl. zum Ersteren amnesty international, Jahresbericht 2006; zum Letzteren allgemeine Zahlen im Gutachten vom 16.8.2005.

Das Deutsche Orient-Institut hält wie dargelegt jede Irakerin und jeden Iraker ungeachtet seiner Religionszugehörigkeit durch die Anschläge der Terroristen für bedroht. Die Anschläge sind also weder auf den Zentralirak noch auf bestimmte Gruppen begrenzt.

Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe sieht den Zusammenhang, dass irakische Zivilisten oft Opfer sind, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind; Zivilpersonen können bei Anschlägen nicht geschützt werden.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Übereinstimmend damit ist auch die Sichtweise von UNHCR, wonach im Irak tägliche Attentate und Sprengstoffanschläge vor allem gegen Polizisten und Polizeirekruten sowie Mitarbeiter der Regierung verübt werden und unbeteiligte zivile Opfer dabei von den Akteuren bewusst in Kauf genommen werden.

UNHCR, Hinweise von April 2005, zu Opfern unter Christen UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Nach den dargelegten Kriterien der Gruppenverfolgung in der Verfassungsrechtsprechung und den Ausgrenzungskriterien des Europarechts kann schwerlich angenommen werden, alle großen Volksgruppen – Schiiten, Sunniten und Kurden – und damit insgesamt fast alle der 27 Millionen Iraker würden von dem Untergrundkrieg aus der umgebenden verbleibenden Gesellschaft ausgegrenzt. Insbesondere spricht nichts für eine Ausgrenzung der Kurden, und zwar weder landesweit noch für den Zentralirak. Am ehesten könnte eine Ausgrenzung der größten schiitischen Volksgruppe von rund 17 Millionen Irakern durch den sunnitisch geprägten Widerstand angenommen werden. Das rechtlich erforderliche Ausgrenzungsmerkmal spricht aber letztlich gegen eine Ausgrenzung der großen Volksgruppen.

Andererseits kann nach der zu beachtenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine tatsächlich stattfindende Gruppenverfolgung nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, auch andere Bevölkerungsgruppen oder Minderheiten würden in ähnlicher Weise drangsaliert.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Deshalb unterstellt der Senat landesweit eine Ausgrenzung der großen Bevölkerungsgruppen und geht auf den Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte ein. Die Anschlagsopfer sind also nunmehr auf diese Bevölkerungsgruppen zu beziehen.

Die mehrjährigen Todesopfer unter der Bevölkerung des Iraks durch Massenanschläge betragen wie dargelegt nach den zugrunde zu legenden konkreten Zahlen von amnesty international über 2.300 Menschen, die Verletzten maximal 24.106 Menschen.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Sie sind der Wiedergabe pauschaler Schätzungen durch das Auswärtige Amt vorzuziehen, die im Übrigen nicht zu einem qualitativ anderen Ergebnis führen würden und keine ausweglose Lage der großen Volksgruppen begründen könnten. Zugrunde zu legen sind nunmehr die konkreten Zahlen von amnesty international. Danach geht der Senat von einer unterstellten Maximalabschätzung aus, bei der die aufsummierten konkreten Anschlagsopfer im Irak nur jeweils einer Volksgruppe als Opfer zugerechnet werden. In Relation gesetzt werden die gesamten Anschlagszahlen jetzt nicht zu der Gesamtbevölkerung des Irak von 27 Millionen, sondern nacheinander zu den größeren Bevölkerungsgruppen der arabischen Schiiten mit rund 17 Millionen, der arabischen Sunniten mit rund 5 Millionen und der Kurden mit rund 5 Millionen.

Zunächst ist auf die Schiiten einzugehen.

Da das Erkenntnismaterial die Opfer der schiitischen Volksgruppe nicht konkret summiert, geht der Senat bei diesem Schritt der unterstellten Maximalbetrachtung davon aus, dass alle Anschläge im Irak den Schiiten gelten. Bei der schiitischen Volksgruppe als unterstelltem alleinigem Anschlagsziel ergäbe sich dann eine Anschlagsdichte mit tödlichen Opfern von durchschnittlich 1:7400. Für die Entführungsgefahr ist wie dargelegt von einer vergleichbaren Größenordnung wie für Tötungen wie dargelegt von 1:7400 auszugehen. Sodann ergäbe sich mit Blick auf die Zahl der verletzten zivilen Opfer nach amnesty international von 24.106 Menschen eine höhere Anschlagsdichte mit Verletzten von 1:700 für die Schiiten.

Unterstellt man als nächsten Schritt, dass alle Anschläge im Irak den rund 5 Millionen Sunniten gelten, ergibt sich eine Anschlagsdichte bei den Todesopfern von rund 1:2000, ähnlich hoch für Entführungen und bei den Verletzungsopfern von rund 1:200. Die gleichen Zahlen ergeben sich landesweit für die hier betroffene Volksgruppe der Kurden.

Eine derart große Anschlagsdichte bezogen auf eine einzige große Volksgruppe – insbesondere die Kurden – wie in der Maximalabschätzung des Senats wird soweit ersichtlich nirgends im Erkenntnismaterial angenommen. Im Erkenntnismaterial wird auch nicht – wie vom Kläger vorgeschlagen – eine allein auf den Zentralirak bezogene Gruppenverfolgung von Kurden angenommen. Entscheidend ist, dass selbst bei dieser unterstellten Maximalabschätzung die landesweite Anschlagsdichte im Sinne einer Anschlagsverletzung von Kurden nach den Zahlen von amnesty international äußerstenfalls 1:200 beträgt. Tötungs- und Entführungsgefahr sind geringer. Positiv gewendet bleiben bei dieser Anschlagsdichte 99,5 % aller Menschen der kurdischen Volksgruppe unverletzt. Selbst nach den pauschalen Zahlen des Auswärtigen Amtes würde die äußerste Anschlagsdichte 1:50 betragen; positiv gewendet würden immerhin 98 % der kurdischen Volksgruppe die Anschläge unverletzt überleben. Eine Regelvermutung der eigenen Verfolgung kann nicht aufgestellt werden. Die Angehören der kurdischen Volksgruppe überleben landesweit betrachtet in keinem Fall nur durch Zufall unverletzt und werden nicht in eine ausweglose Lage gebracht, in der sie das Land verlassen müssen.

Dasselbe gilt für die sunnitische und erst recht die schiitische Volksgruppe.

Unabhängig von der dargelegten Maximalabschätzung ist für die hier maßgebende Volksgruppe der Kurden konkret festzustellen, dass die gewaltsamen Auseinandersetzungen vor allem die Volksgruppen der arabischen Sunniten und der arabischen Schiiten untereinander betreffen; an diesen Auseinandersetzungen sind die sunnitischen Kurden jedenfalls nicht unmittelbar beteiligt.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -; zur Auseinandersetzung (nur) zwischen Sunniten und Schiiten Le Monde diplomatique vom 12.5.2006; vgl. auch den Jahresbericht 2006 von amnesty international, der für den Nordirak nur einzelne Menschenrechtsverletzungen auflistet, aber keine Gruppenverfolgung einer Volksgruppe.

Auch das Auswärtige Amt legt das Schwergewicht auf die Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen und sunnitischen Konfessionen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Lediglich die Mäßigungsaufrufe der schiitischen und sunnitischen religiösen Führer haben bisher den Ausbruch eines offenen Bürgerkriegs zwischen diesen Konfessionen verhindern können.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Volksgruppe der Kurdinnen und Kurden ist mithin nicht Zielscheibe, sondern landesweit im Wesentlichen Zufallsopfer der Anschläge im Irak. Ausgehend davon ist die Anschlagsdichte für Kurden realistischerweise wesentlich geringer anzusetzen, als es der Maximalabschätzung des Senats mit 1:200 entspricht. Eine landesweite oder auf den Zentralirak bezogene Gruppenverfolgung der Kurden als großer Bevölkerungsgruppe von 5 Millionen Menschen wird im Erkenntnismaterial soweit ersichtlich nicht angenommen.

Nach dem dargelegten Ergebnis der Prüfung des Senats besteht für den Kläger als Gruppenmitglied der Kurden unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte landesweit keine Verfolgungsgefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Unabhängig von dieser landesweiten Betrachtung bejaht der Senat als selbstständige Entscheidungsgrundlage auch die Voraussetzungen einer Fluchtalternative des Klägers in den kurdisch verwalteten Nordirak, in dem seine Geburtsregion Sulaymania liegt.

Die Bejahung einer Fluchtalternative setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass die Zurückkehrenden am erreichbaren Ort der Fluchtalternative nach dem herabgestuften Prognosemaßstab hinreichend sicher vor politischer Verfolgung leben können und dass ihnen dort nach dem allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch keine unzumutbaren Nachteile drohen, die an ihrem Herkunftsort so nicht bestünden.

BVerwG, zusammenfassend Beschluss vom 5.10.1999 - BVerwG 9 C 15.99 -.

Weiterhin muss dem Rückkehrer dort das wirtschaftliche Existenzminimum in dem Sinn zustehen, dass er nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann.

BVerwG, Beschluss vom 17.5.2006 – 1 B 101/05 -.

Diese Voraussetzungen sind hier insgesamt zu bejahen.

Die Sicherheitslage in dem kurdisch kontrollierten Nordirak ist nach der praktisch einheitlichen Einschätzung im Erkenntnismaterial bezogen auf Anschläge besser als im Irak insgesamt, insbesondere in Bagdad. Dies gilt zunächst nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Anschläge auf besonders gefährdete Personengruppen wie etwa Polizeirekruten finden statt, insgesamt ist aber die Wahrscheinlichkeit, durch einen gegen Dritte gerichteten Anschlag getötet zu werden, im Nordirak geringer.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Für die kurdisch verwalteten Städte Arbil und Sulaimaniya referiert das Auswärtige Amt für das Jahr 2005 jeweils ein Attentat mit der Tötung von 50 beziehungsweise neun Menschen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 17.

In dem hier maßgebenden kurdisch verwalteten Nordirak wird die Sicherheitslage auch im kritischen Erkenntnismaterial als insgesamt stabil betrachtet.

Nach Einschätzung von UNHCR ist die allgemeine politische Situation im kurdischen Nordirak durch ein gewisses Maß an Stabilität gekennzeichnet; es werden dort deutlich weniger Gewalttaten verübt.

UNHCR, Position von September 2005; zu den stabileren Verhältnissen auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Nach der Beurteilung von amnesty international ist die Sicherheitslage in den kurdischen Gebieten im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ stabil.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Nach Darlegung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist die Sicherheitslage im kurdisch kontrollierten Nordirak mit Ausnahme von wenigen Anschlägen in Arbil und Dohuk stabil, wenn auch nicht voraussehbar, und ein engmaschiges Sicherheitsnetz von etwa 80.000 kurdischen Milizionären gewährleistet dort die Sicherheit.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Diese Milizen sollen nicht aufgelöst, sondern sollen staatliche Sicherheitskräfte werden.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann der Schutz bereits von nichtstaatlichen Organisationen ausgehen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 -, S. 6 des Juris-Ausdrucks.

Nach allem ist die Verfolgung der kurdischen Volksgruppe im kurdisch verwalteten und durch kurdische Milizen gesicherten Nordteil des Landes unwahrscheinlich und zwar nach dem Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit.

Ebenso OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Die hinreichende Verfolgungssicherheit des Klägers am Ort der Fluchtalternative im Nordirak ist mithin uneingeschränkt zu bejahen.

Der kurdisch verwaltete Nordirak ist auch abgesehen von dem möglichen Landweg von Bagdad aus unmittelbar - ohne Aufenthalt in Bagdad – auf dem Luftweg über Arbil (auch: Erbil) seit September 2005 erreichbar.

Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, zu einer Flugverbindung von Frankfurt nach Arbil/Nordirak, sowie zur Einreise durch die Türkei.

Damit lassen sich auch Bedenken von UNHCR gegen einen innerirakischen Wohnsitzwechsel auf dem Landweg wegen der Sicherheitslage ausräumen.

Zu diesen Bedenken UNHCR, Position von September 2005.

Weiterhin muss auch das Existenzminimum am Ort der Fluchtalternative einhaltbar sein.

Diesen Gesichtspunkt stellt der Kläger in seinem erstinstanzlichen Vortrag in Frage. Er trägt vor, es gelte der Grundsatz, dass Kurden im Nordirak nur dann über ein ausreichendes Existenzminimum verfügen könnten, wenn sie an die dortige Clan-Gesellschaft familiär angebunden seien. An einer solchen familiären oder sonstigen Bindung zum Nordirak fehle es hier, und ihm nütze es deshalb wenig, dass er zu früheren Zeiten militärische Daten des Regimes von Saddam Hussein an die Kurden verraten habe.

Das überzeugt so nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits nach den neuen politischen Verhältnissen die Fluchtalternative eines Kurden aus dem Zentralirak in den Nordirak bejaht einschließlich der Frage der Existenzsicherung, ohne dabei auf Familienanbindung abzustellen.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -, dort mit Blick auf die Situation in Flüchtlingslagern und die Möglichkeit, für arbeitsfähige Männer einen Job zu bekommen.

Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich, dass für Rückkehrer sowohl die Aufnahme und Versorgung durch die Familie als auch Parteiverbindungen von erheblichem Vorteil für die die Existenzsicherung sind.

Nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes können Rückkehrer im Irak auf Aufnahme und Versorgung durch Familie oder Stammesstrukturen und Sippe zählen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

UNHCR hält eine Einbindung in familiäre oder soziale Strukturen für erforderlich, allerdings nach dem – strengeren - Maßstab einer vollständigen Eingliederung, der das Maß des Existenzminimums übersteigt.

UNHCR, Position von September 2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe stellt auf mehrere Gesichtspunkte ab. Personen im Nordirak bedürfen danach zur Existenzsicherung eines sozialen Netzes.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Personen ohne Parteiverbindungen haben Probleme bei der Eröffnung von Geschäften mit der kurdischen Verwaltung.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Nach der Einschätzung von amnesty international sind die wirtschaftlichen Existenzbedingungen im Nordirak nicht garantiert, vielmehr wird der Zugang zu großen Teilen des Arbeitsmarktes durch persönliche oder familiäre Beziehungen erleichtert beziehungsweise erst ermöglicht.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Daran gemessen mag der Kläger nach seinem Vortrag zwar keine gegenwärtigen familiären Bindungen zum Nordirak haben, immerhin hat er aber bei einer Gesamtbetrachtung eine Chance auf eine Arbeitsmöglichkeit, jedenfalls aber eine Existenzmöglichkeit. Der Kläger war ursprünglich in der Region Sulaymania im Nordirak beheimatet. Er kann seinen Geburtsort im Nordirak und damit ein gewisses Maß an Zugehörigkeit zum Nordirak durch seinen Ausweis jederzeit beweisen. Zwar muss seine vorgetragene Unterstützungstätigkeit für die kurdische Partei PUK, der auch der Staatspräsident Talabani angehört, gänzlich außer Betracht bleiben, da sie von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung bestritten worden ist und der plausible Verfolgungsvortrag des Klägers jedenfalls nicht erwiesen ist. Eine Unterstellung zu Lasten des Klägers scheidet aus.

Zugunsten des Klägers spricht aber weiter, dass der unstreitig erlernte Beruf eines Kraftfahrzeug-Mechanikers wenn auch nach Anfangsschwierigkeiten eine nützliche Tätigkeit ist und damit bei realistischer Betrachtung nach Anfangsschwierigkeiten eine Existenz ermöglicht.

Vor allem muss mit Blick auf die Existenzsicherheit berücksichtigt werden, dass 96 % aller irakischen Haushalte Lebensmittelhilfe beziehen.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, dort ohne eine Einschränkung für den Nordirak; nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006 stammt ein wesentlicher Teil der Lebensmittelrationen, nämlich für 60 % der Bevölkerung, aus einem Programm der Vereinten Nationen.

Nach der Einschätzung des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien ist im Nordirak trotz einer prekären wirtschaftlichen Lage insgesamt mit einem Rutschen unterhalb des Existenzminimums derzeit eher selten zu rechnen.

Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006.

Da der Kläger zumindest positive Gesichtspunkte für eine Berufstätigkeit aufzuweisen hat, spricht kein vernünftiger Grund dafür, dass er entgegen der allgemeinen Lage im Nordirak unter das Existenzminimum abrutschen wird. Mithin ist davon auszugehen, dass der Kläger nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige im Nordirak erlangen kann.

Weiterhin setzt die innerstaatliche Fluchtalternative nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass dem Kläger an dem Ort der Fluchtalternative keine anderen unzumutbaren Nachteile mit asylerheblicher Intensität drohen, die an seinem Herkunftsort im Sinne des Ausreiseortes so nicht bestünden. Im Nordirak dürfen mithin keine unzumutbaren Nachteile für den Kläger bestehen, die so in Bagdad nicht bestehen würden. Auch dies ist zu bejahen.

Nach Einschätzung von UNHCR heben sich die Lebensbedingungen im Nordirak positiv gegenüber denen im übrigen Staatsgebiet ab.

UNHCR, Position von Oktober 2004.

Das Auswärtige Amt kommt zu derselben Beurteilung wie UNHCR.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Auch die Schweizerischen Flüchtlingshilfe zieht eine positive Gesamtbilanz für den Nordirak: Die Sicherheitslage und sozioökonomische Situation im Nordirak stellen sich danach besser dar als in den übrigen Landesteilen.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Das Europäische Zentrum für Kurdische Studien würdigt einen Wechsel von dem Zentralirak in den Nordirak insgesamt positiv.

Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006, dort sogar für die hier nicht zur Entscheidung stehende sehr kleine Gruppe der Mandäer.

Nach allem ist der Kläger bei einer Fluchtalternative in den Nordirak keinen unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt, denen er nicht bereits in seinem Ausreiseort Bagdad ausgesetzt wäre.

Im Ergebnis sind damit alle Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative in den kurdisch verwalteten Nordirak nach den Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts zu bejahen.

Im Rahmen der hier maßgebenden Prüfung der Widerrufsentscheidung ist der Kläger vor erneuter Verfolgung landesweit aus denselben Verfolgungsgründen hinreichend sicher und andersartige Verfolgungsmaßnahmen drohen ihm landesweit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit; unabhängig davon besitzt er mit hinreichender Verfolgungssicherheit die inländische Fluchtalternative in den Nordirak, die für ihn vorzugswürdig ist. Beide Gesichtspunkte führen unabhängig voneinander zur Verneinung der asylerheblichen Verfolgungsgefahr.

Dagegen kommt es, wie noch einmal hervorzuheben ist, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, hier nicht auf einen effektiven Schutz vor allgemeinen Gefahren wie Krieg, Naturkatastrophen oder schlechte Wirtschaftslage oder eine stabile Schutzmacht an.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; Beschluss vom 26.1.2006 – 1 B 135/05 -.

Der Untergrundkrieg des sunnitischen Widerstands steht damit dem Widerruf rechtlich nicht entgegen.

Damit ist der materielle Teil des Widerrufstatbestandes des § 73 I 1 AsylVfG erfüllt.

Indessen muss in diesem Fall die materielle Ausnahmevorschrift des § 73 3 AsylVfG geprüft werden, die nach der Normstruktur zu einem Absehen von dem Widerruf führt. Vorausgesetzt wird dafür, dass sich der Ausländer

auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Inhaltlich entspricht diese deutsche Regelung der entsprechenden Ausnahmevorschrift für den Widerruf in Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 GFK, wonach der Widerruf auf einen Flüchtling keine Anwendung findet,

der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Dagegen enthält die als Auslegungsmaßstab zu beachtende Wegfallklausel in Art. 11 der Europäischen Qualifikationsrichtlinie keine Ausnahmevorschrift von einem Widerruf. Diese für den Flüchtling ungünstige europäische Regelung hat aber keinen entscheidenden Einfluss auf die Auslegung der günstigeren deutschen Regelung, da die EU-Richtlinie nach Art. 1 lediglich Mindestnormen zugunsten der Flüchtlinge enthält und die Mitgliedstaaten nach Art. 3 der EU-Richtlinie grundsätzlich günstigere Normen zur Flüchtlingseigenschaft beibehalten können.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die dargelegte Ausnahmevorschrift in seinem Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 - unter ausdrücklicher Beachtung des völkerrechtlichen Zusammenhangs mit der Genfer Flüchtlingskonvention dahingehend ausgelegt, sie enthalte eine einzelfallbezogene Ausnahme von der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft. Sie schütze weder vor allgemeinen Gefahren noch könne sie nach allgemeinen Zumutbarkeitskriterien ausgelegt werden. Vielmehr trage sie nach ihrer historischen Entstehung der psychischen Sondersituation solcher Personen Rechnung, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hätten und denen es deshalb selbst lange Zeit danach - auch ungeachtet veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar sei, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren. Bei der Schaffung von Art. 1 c Nr. 5 Satz 2 GFK hatten danach die beteiligten Staaten das Schicksal jüdischer Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland vor Augen gehabt.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, Juris-Ausdruck, S. 12.

Der Senat stimmt dieser Rechtsprechung zu.

Dieser Auslegung haben sich sowohl der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg als auch das OVG Münster in neueren Entscheidungen angeschlossen.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Auch Renner, den der Kläger für eine weiter gehende Auslegung im Sinne einer aktuellen Existenzsicherung zitiert, handelt zwar eingehend die Auslegungsmöglichkeiten ab, schließt sich aber abschließend der Auffassung an, es werde den besonderen Belastungen schwer Verfolgter Rechnung getragen.

Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 73 AsylVfG, Rdnrn. 10 bis 12 sowie abschließend Rdnr. 13.

Auch Marx stellt auf eine besonders schwere, nachhaltig wirkende Verfolgung ab und sieht einen Unzumutbarkeitsfall etwa darin, dass der Verfolgte vor der Ausreise Jahre lang inhaftiert gewesen und dadurch physisch zerstört ist.

Marx, Asylverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2005, § 73 Rdnrn. 127 und 135.

Ein solch fortwirkend schweres Schicksal, insbesondere eine langjährige Inhaftierung, hat der Kläger bei seiner Erstanhörung vom 13.12.1995 nicht vorgetragen und auch im Verwaltungsgerichtsprozess einschließlich der mündlichen Verhandlung ein derartiges Schicksal nicht behauptet.

Bei seiner Anhörung im Widerrufsverfahren hat der Kläger mit Schreiben vom 29.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 13/14) die Anwendung dieser Vorschrift auf sich bejaht und dazu die Rechtsmeinung zugrunde gelegt, es genüge, wenn dem früher Verfolgten nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland eine Rückkehr in das Heimatland aus aktuellen Gründen der wirtschaftlichen Existenzsicherung nicht mehr zugemutet werden könne. Soweit er für seine Auffassung die Kommentierung von Renner in Anspruch nimmt, trifft dies wie dargelegt nicht zu. Entscheidend ist aber, dass die Auslegung des Klägers der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Sinn der Ausnahmevorschrift eindeutig widerspricht. Nach der Ausnahmevorschrift kommt es nicht auf allgemeine Zumutbarkeitskriterien an wie hier den geltend gemachten langen Aufenthalt in Deutschland und auf Existenzsicherungsprobleme. Die Ausnahmevorschrift greift zu seinen Gunsten nicht ein. Mithin ist ohne Ermessensspielraum nach § 73 I 1 AsylVfG der Widerruf zwingend auszusprechen.

Materiell ist der Widerrufsbescheid nach dem Prüfungsergebnis des Senats rechtmäßig.

Die angefochtene Widerrufsentscheidung des Bundesamts ist auch in verwaltungsverfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.

Ob der Widerruf unverzüglich erfolgt ist, wie § 73 I 1 AsylVfG es verlangt, bedarf keiner Entscheidung, da das Gebot des unverzüglichen Widerrufs ausschließlich öffentliche Interessen schützt, so dass ein Verstoß hiergegen keine subjektiven Rechte des betroffenen Ausländers verletzen kann.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Unabhängig davon war das Abwarten des Bundesamtes von rund anderthalb Jahren nach dem Kriegsende sinnvoll, um den Machtwechsel im Irak als hinreichend gefestigt zu beurteilen, und deshalb auch noch unverzüglich.

Weiterhin ist aus dem mit Wirkung vom 1.1.2005 eingeführten mehrstufigen Prüfungsverfahren nach § 73 II a AsylVfG kein Rechtsfehler herzuleiten. § 73 II a Satz 1 AsylVfG lautet:

Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach Absatz 1 oder eine Rücknahme nach Absatz 2 vorliegen, hat spätestens nach Ablauf von 3 Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen (gemeint ist die Anerkennungsentscheidung).

Bei der neu eingeführten Dreijahresfrist handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts um einen in die Zukunft gerichteten Prüfungsauftrag an das Bundesamt.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Wegen der Zukunftsgerichtetheit des Prüfungsauftrags hat eine Prüfung vorhandener Anerkennungsfälle spätestens bis zum 1.1.2008 zu erfolgen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Der hier zur Prüfung anstehende Widerrufsbescheid der Flüchtlingsanerkennung von 1996 ist am 19.10.2004 ergangen und damit noch vor dem Inkrafttreten des gesetzgeberischen Prüfungsauftrags am 1.1.2005. An einer rückwirkenden Einführung des Verfahrens durch eine entsprechende Übergangsvorschrift fehlt es hier.

BVerwG, Urteil vom 1.12.2005 - 1 C 21/04 -.

Damit ist die dreijährige Prüfungsfrist im vorliegenden Fall nicht einschlägig.

Keiner Entscheidung bedarf die Frage, ob verwaltungsverfahrensrechtlich die Jahresfrist nach § 49 II 2, § 48 IV VwVfG auch bei Widerrufsverfügungen nach § 73 I 1 VwVfG zu beachten ist.

Offen gelassen in dem Urteil des BVerwG vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Denn die Jahresfrist beginnt frühestens nach Anhörung des Klägers mit einer angemessenen Frist zur Stellungnahme zu laufen, und zwar mit dem behördlichen Anhörungsschreiben.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Danach ist die Einjahresfrist, sofern sie anwendbar ist, hier eingehalten. Die Anhörungsverfügung der Behörde datiert vom 2.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 7) und der Widerrufsbescheid erging am 19.10.2004 (Widerrufsakte Bl. 18).

Nach dem Prüfungsergebnis des Senats ist mithin der Widerrufsbescheid weder materiellrechtlich noch verfahrensrechtlich zu beanstanden. Er ist insgesamt rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Der als Hauptantrag gestellte Aufhebungsantrag des Klägers hat mithin auch im Rahmen des Berufungsverfahrens keinen Erfolg.

II.

Auch hinsichtlich des Hilfsantrags hat die Berufung keinen Erfolg.

Der Kläger hat nicht den gegen die Beklagte hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses mit Blick auf konkrete Gefahren nach § 60 II bis VII AufenthG.

Der Kläger ist weder der konkreten Gefahr der Folter (§ 60 II AufenthG) noch der Todesstrafe (§ 60 III AufenthG) oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (§ 60 V AufenthG) ausgesetzt.

Der vom Gesetzgeber verwendete Maßstab der konkreten Gefahr (vgl. § 60 II, 60 VII 1 AufenthG) ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu der inhaltsgleichen Vorgängervorschrift des § 53 AuslG bereits geklärt. Danach ist für die Feststellung der Gefahr der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit maßgebend, ohne eine Herabstufung für Vorverfolgte, da die Gefahren hier außerhalb des Verfolgungstatbestandes betrachtet werden.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324-330.

Einzubeziehen in die Gefahr sind nunmehr auch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 I 4 c AufenthG. Die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure auch in konkrete Gefahren nach § 60 II ff. AufenthG ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus der deutschen gesetzlichen Regelung. Indessen folgt sie aus der für die Auslegung zu beachtenden Vorwirkung von Art. 6 der europäischen Qualifikationsrichtlinie, der die Einbeziehung der nichtstaatlichen Akteure gleichmäßig sowohl für die Verfolgung als auch für den ernsthaften Schaden und mit Letzterem die konkrete Gefahr im Sinne des deutschen Rechts fordert.

So überzeugend Renner, § 60 AufenthG Rdnr. 36; offen gelassen im Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Dem Kläger droht hier weder von staatlicher noch von nichtstaatlicher Seite die konkrete Gefahr der Folter. Der Senat hat bereits im Rahmen des Widerrufssachverhalts dargelegt, dass der Kläger hinreichend sicher ist vor individuellen Racheakten mit Blick auf seine indirekte Unterstützung der kurdischen Kämpfe im Jahr 1995; dies gilt erst recht für einen zugespitzten Racheakt in Form der Folter, für den sich eine konkrete Gefahr – mit überdies beachtlicher Wahrscheinlichkeit - nicht herleiten lässt. Das Gleiche gilt für die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.

Für die Gefahr der Verhängung der Todesstrafe durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure fehlt es gänzlich an einem Anhaltspunkt; der Kläger hat die Gefahr der Todesstrafe auch selbst nicht behauptet.

Sodann fehlt es an der zwischen den Beteiligten streitigen allgemeinen Extremgefahr nach § 60 VII AufenthG.

Der Kläger stützt sich in seiner Berufungsbegründung und in der mündlichen Verhandlung auf eine extreme allgemeine Gefährdungslage im Irak. Er beruft sich dabei insbesondere auf die landesweite Gefahr von Terroranschlägen auf die Zivilbevölkerung; gehe man davon aus, dass sich der Irak im Bürgerkrieg befinde oder jedenfalls ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde, müsse man auch vom Bestehen einer extremen allgemeinen Gefährdungslage im Sinne von § 60 VII AufenthG ausgehen.

Mit Blick auf die vorgetragene landesweite Extremgefahr hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses in verfassungskonformer Anwendung des § 60 VII AufenthG.

§ 60 VII 2 AufenthG verweist für Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist, auf einen allgemeinen ausländerbehördlichen Abschiebungsstopp nach § 60 a I 1 AufenthG als Schutz des Ausländers. Dies führt aber hier nicht weiter, da nach der Auskunft des Saarländischen Innenministeriums vom 26.5.2006 (Gerichtsakte Bl. 104) im Saarland derzeit keine behördliche Regelung zur Aussetzung von Abschiebungen in den Irak besteht. Die in anderen Bundesländern bestehenden Abschiebestoppregelungen beruhen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darauf, dass bis vor kurzem die Flugverbindungen unterbrochen waren und noch derzeit kein Rücknahmeabkommen mit dem Irak besteht.

BVerwG, Urteil vom 27.6.2006 – 1 C 14.09 -.

Der verfassungsrechtlich gebotene Schutz von Ausländern vor Extremgefahren ist in der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt.

Eingehend Urteil des BVerwG vom 12.7.2001 - 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 379, 384 bis 386, dort für die inhaltsgleiche Vorgängerregelung des § 53 VI AuslG.

Nach dieser Rechtsprechung kommt es sowohl auf die rechtliche als auch die tatsächliche Schutzbedürftigkeit des Ausländers an.

Was zunächst die Frage der rechtlichen Schutzbedürftigkeit angeht, ist eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 VII AufenthG nur dann geboten, wenn der einzelne Asylbewerber sonst schutzlos bliebe. Ein Schutz vor einer extremen Gefahrenlage kann zum einen durch einen allgemein ausländerbehördlichen Abschiebungsstopp im Sinne einer Duldung bestehen, an dem es aber hier im Saarland fehlt. Es genügt aber nach dieser Rechtsprechung auch ein anderer gleichwertiger Schutztitel vor Abschiebung, wenn dieser tatsächlich besteht. So genügt es, wenn der Ausländer im entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung oder mindestens einer Duldung ist, die vom Asylverfahren unabhängig erteilt worden ist. Ein solcher Aufenthaltstitel muss indessen bestehen, nicht genügend sind unentschiedene Duldungsansprüche. Davon ausgehend lässt der VGH Baden-Württemberg eine Aufenthaltserlaubnis nach neuem Recht zum Schutz des Ausländers genügen.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -, der aber diesen Schutz in bedenklicher Weise sogar auf eine widerrufene Aufenthaltserlaubnis wegen des Suspensiveffekts erstreckt, was der vom Bundesverwaltungsgericht verworfenen Schwebelage entspricht.

Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Kläger besitzt nach der Ausländerakte seit dem 18.11.2004 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ursprünglich nach § 35 AuslG, nach neuem Recht nach § 26 AufenthG. Darüber hinaus hat die Ausländerbehörde, die Landeshauptstadt A-Stadt, bereits mit Schreiben vom 2.9.2004 in Kenntnis des Widerrufverfahrens erklärt, es sei auch bei einem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung momentan nicht mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu rechnen. Angesichts der langjährigen Integration des Klägers in Deutschland ist dies auch vernünftig. Mithin ist der Kläger derzeit noch im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, wie die Stadt A-Stadt nochmals mit Schreiben vom 13.9.2006 bestätigt hat, und damit nicht schutzlos.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat ein Anspruch auf Feststellung des Abschiebungshindernisses der Extremgefahr nur dann Erfolg, wenn rechtliche und tatsächliche Schutzbedürftigkeit vorliegt.

BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 379 - 385.

Das Gericht ist nicht gehindert im Sinne selbständiger Entscheidungsgrundlagen festzustellen, dass unabhängig voneinander hinreichender rechtlicher Schutz vor Abschiebung vorhanden ist und eine extreme Gefahrenlage nicht besteht.

So ist das OVG Münster vorgegangen in seinem Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

So liegt der Fall hier. Zum einen besitzt der Kläger wie dargelegt einen unwiderrufenen Schutztitel. Zum anderen ist aber auch eine Extremgefahr im Irak zu verneinen.

Ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Bei der erforderlichen Prüfung einer Extremgefahr ist zunächst der Prognosemaßstab klarzustellen. Maßgebend ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der auch bei Vorverfolgung nicht herabgestuft wird.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 - 330.

Inhaltlich hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung den Rechtsbegriff der Extremgefahr mit der Formulierung geprägt, es müsse vermieden werden, dass der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

BVerwG, Urteil vom 16.6.2004 - BVerwG 1 C 27.03 -; BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -; BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 -; BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -; BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -; BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -.

In zeitlicher Hinsicht muss sich die Extremgefahr nicht sofort nach Rückkehr in den Heimatstaat, sondern bald verwirklichen.

BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 -.

Im Gegensatz zu der sicher verständlichen – in der mündlichen Verhandlung erörterten - Rechtsansicht des Klägers hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung die Extremgefahr nicht bereits an die Existenz eines Bürgerkriegs geknüpft, sondern an qualifizierte Voraussetzungen. Folglich würde die vom Kläger erstrebte Bejahung eines Bürgerkriegs nicht schon die Extremgefahr begründen. Auch das vom Senat bejahte Vorliegen eines Untergrundkriegs begründet nicht automatisch eine Extremgefahr.

In den beurteilten Bürgerkriegsfällen hat das Bundesverwaltungsgericht die Extremgefahr konkret dann bejaht, wenn die Bürgerkriegskämpfe bereits am Ankunftsort stattfinden und sich der Ausländer ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes mithin nicht entziehen kann.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -; BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -.

So hat das Bundesverwaltungsgericht die konkrete Bürgerkriegssituation in Afghanistan im Jahr 1995 als Extremgefahr für Rückkehrer anerkannt. Dort war eine Abschiebung nur über den Flughafen Kabul möglich, der Bürgerkrieg tobte aber nach den seinerzeitigen Tatsachenfeststellungen hauptsächlich im Bereich dieser Stadt, die größere Teile der Bevölkerung bereits wegen der unerträglichen Lebensverhältnisse verlassen hatten.

BVerwG, Urteil vom 17.1.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 - 330.

Eine Extremgefahr hat das Bundesverwaltungsgericht weiter für die konkrete Bürgerkriegssituation 1997 in Somalia bejaht. Dort kam nur eine Abschiebung über den Flughafen in Mogadischu in Betracht. Nach den zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen wäre der dortige Kläger bei einer Abschiebung über den Flughafen von Mogadischu in die dort besonders heftigen Kämpfe hineingeraten; er wäre sehenden Auges der extremen Gefahr ausgesetzt worden, entweder am Flughafen sofort getötet oder schwer verletzt zu werden oder in Mogadischu an Hunger oder Krankheit zu sterben, ohne überhaupt noch sichere Landesteile erreichen zu können.

BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -.

Weiterhin hat das Bundesverwaltungsgericht ergänzend zu der Bürgerkriegsrechtsprechung in zwei Afghanistan betreffenden Fällen eine Extremgefahr bejaht, da der Ausländer dort dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert worden wäre.

BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 - sowie Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 2.01 -, wobei im letzteren Fall die Gefahr eines sicheren Hungertodes zwar bejaht wurde, die dortige Klägerin aber anderweitigen Abschiebungsschutz besaß.

Bezogen auf Armenien hat das Bundesverwaltungsgericht eine Extremgefahr verneint, wenn eine katastrophale wirtschaftliche und soziale Situation mit Obdachlosigkeit, Unterernährung und unzureichender medizinischer Versorgung vorliegt, den Rückkehrer aber nicht der sichere Tod oder schwerste Beeinträchtigungen alsbald nach seiner Ankunft erwarten.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -.

Auch desolate hygienische Verhältnisse und ein praktisch kaum leistungsfähiges Gesundheitssystem in Angola mit hoher statistischer Kindersterblichkeit reichen als Extremgefahr nicht aus, soweit die betroffenen Rückkehrer nicht nach tragfähiger Feststellung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden.

BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -.

Weiterhin begründen besondere existenzielle Schwierigkeiten in Nigeria für eine allein stehende Mutter keine Extremgefahr, solange die Klägerin nicht gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

BVerwG, Urteil vom 16.6.2004 - 1 C 27.03 -.

Aufgrund der dargelegten Rechtsprechung zu Bürgerkriegs- und Hungerfällen ist die landesweite Situation im Irak mit Blick auf eine allgemeine Extremgefahr im Einzelnen zu würdigen.

Auszugehen ist nach praktisch allgemeiner Ansicht von einer instabilen, manchmal eskalierenden Sicherheitslage mit täglich etwa 100 terroristischen Anschlägen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006 im Sinne eines Tiefpunkts der Sicherheitslage; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort betreffend die allgemeine Sicherheitslage; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005, dort zur allgemeinen Sicherheitslage; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; UNHCR, Hinweise von April 2005; sowie UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006; zum bewaffneten Widerstand auch Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands; zur Gewaltwelle gegen Zivilisten NZZ vom 6.6.2006, Seite 1.

Der Kläger sieht die Situation übereinstimmend mit einer dargelegten Äußerung des Politikers Allawi vom 19.3.2006 im Deutschlandfunk so, dass sich das Land im Bürgerkrieg befinde, zumindest aber ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde. Der seinerzeitige Interimsministerpräsident Allawi war am 17.4.2005 selbst einem Attentat nur knapp entgangen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005.

Die Situation im Irak würdigt der Senat nicht als einen offenen Bürgerkrieg, sondern einen Untergrundkrieg durch tägliche Bombenanschläge. Er kommt damit der Beurteilung des Klägers nahe.

Die nichtstaatlichen Akteure bleiben im Verborgenen; ein Bürgerkrieg mit offenen Frontlinien besteht nicht. Das Erkenntnismaterial ist – auch mit Blick auf kritische Organisationen – zurückhaltend und nimmt einen offenen Bürgerkrieg derzeit nicht an.

Das Auswärtige Amt kommt der Auffassung des Klägers wie der Senat nahe. Es verneint einen offenen Bürgerkrieg, sieht aber eine Annäherung an offene bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen und sunnitischen Konfessionen im Anschluss an den Anschlag vom 22.2.2006 auf das schiitische Heiligtum in Samarra.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 19/20.

UNHCR sieht einen teilweise gewaltsam ausgetragenen Machtkampf im Irak.

UNHCR, Hinweise von April 2005; ähnlich Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Auch amnesty international spricht von einem teilweise gewaltsamen ausgetragenen Machtkampf und in einer neueren Beurteilung zurückhaltend von der anhaltend unsicheren Lage.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; sowie zur neueren Beurteilung amnesty international, Jahresbericht 2006.

Das Deutsche Orient-Institut sieht die Sicherheitslage im Sinne eines Untergrundkampfes.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005.

Dies spricht für die vom Senat vorgenommene Einordnung als Untergrundkrieg.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe würdigt die Sicherheitslage dahingehend, der bewaffnete Widerstand versuche unvermindert, den politischen Wiederaufbau mit Bomben- und Mordkampagnen zu hintertreiben und alle Aktivitäten zur Anstachelung eines offenen Bürgerkrieges hielten an.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Die Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bedeutet, dass die Gefahr eines offenen Bürgerkrieges gesehen, ein tatsächlicher offener Bürgerkrieg aber nicht angenommen wird.

Der bewaffnete Widerstand im Irak ist seit der von ihm verlorenen Schlacht um Falludscha im November 2004 zu dem Ergebnis gekommen, dass er angesichts der Übermacht der US-Truppen nicht mehr bestimmte Gebiete verteidigen kann, vielmehr soll mit einer flexiblen Taktik der Anschläge der Wiederaufbau des Landes nachhaltig gestört werden.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstandes.

In Falludscha kam es im Frühjahr und im Herbst 2004 zu offenen Kämpfen zwischen den US-Streitkräften und den Aufständischen; im November 2004 floh ein Großteil der Zivilbevölkerung der 250.000 Einwohner von Falludscha.

Auswärtiges Amt, Lagebericht 24.11.2005.

Für die dargelegte Situation in Falludscha selbst waren die qualifizierten Voraussetzungen einer bürgerkriegsbezogenen Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfüllt. Die Kämpfe hatten nämlich ein Ausmaß erreicht, dass größere Teile der Bevölkerung die Stadt verlassen mussten.

Vgl. zu diesem Maßstab BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -.

Die dargelegten seinerzeitigen Verhältnisse in Falludscha 2004 entsprechen aber nicht der jetzigen landesweiten Gewaltsituation im Irak, insbesondere nicht bei einer Betrachtung des Luftweges an den Ankunftsorten, der 5-Millionen-Stadt Bagdad in Zentralirak oder der Stadt Arbil (Erbil) im kurdisch verwalteten Nordirak. Insgesamt sind ausgedehnte offene Kampfhandlungen zwischenzeitlich landesweit zurückgegangen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; zum Kampf des Widerstandes im Verborgenen OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG; vgl. noch zu einem Luftangriff auf die sunnitische Hochburg al-Ramadi amnesty international, Jahresbericht 2006.

Ungeachtet der täglichen Bombenanschläge gerade auch in schiitischen Stadtvierteln ist in Bagdad nach Auswertung des Erkenntnismaterials klar erkennbar nicht eine Lage entstanden, in der größere Teile der Bevölkerung die 5-Millionen-Stadt verlassen haben. Es kann also nicht festgestellt werden, dass eine Rückkehr nach Bagdad eine Irakerin oder einen Iraker sehenden Auges dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen überliefern würde. Dies gilt, wie ausdrücklich klarzustellen ist, nach der eindeutigen Gefahrenformel unabhängig davon, ob ein Bürgerkrieg, eine bürgerkriegsähnliche Situation oder wie hier ein Untergrundkrieg von dem Gericht angenommen wird.

Hinzu kommt, dass Bagdad nicht die einzige Einreisemöglichkeit ist und für Kurden sich eine Einreise in den Irak wie dargelegt auf dem Luftweg über Arbil (Erbil) anbietet. Nach der Einschätzung von amnesty international ist die Sicherheitslage in den kurdischen Gebieten im Nordirak im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ stabil.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Nach Darlegung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist die Sicherheitslage im kurdisch kontrollierten Nordirak stabil, wenn auch nicht voraussehbar, und ein engmaschiges Sicherheitsnetz von etwa 80.000 kurdischen Milizionären gewährleistet dort die Sicherheit.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist die Sicherheitslage in dem kurdisch kontrollierten Nordirak besser bezogen auf Anschläge als im Irak insgesamt, insbesondere in Bagdad.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Zu nennenswerten offenen Kämpfen im Nordirak kommt es nach dem Erkenntnismaterial nicht.

Auch amnesty international berichtet im Jahresbericht 2006 von Menschenrechtsverletzungen im Nordirak, aber nicht durch offene Kämpfe.

Insgesamt besteht landesweit keine Lage im Irak, die den Rückkehrer bereits am Ankunftsort in Bagdad oder im nordirakischen Arbil (Erbil) in heftige Kämpfe verwickeln würde, was im Sinne der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Bürgerkriegssituationen eine allgemeine Extremgefahr bedeuten würde.

Mit Blick auf die allgemeine Extremgefahr sind nochmals die täglich etwa 100 Bombenanschläge landesweit im Irak zu würdigen. Sie stellen eine enorme allgemeine Bedrohung da.

So ausdrücklich Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 18.

Der Kläger beruft sich mit Blick auf die Extremgefahr auf das Urteil des VG Sigmaringen vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -. Das VG Sigmaringen hat sich in diesem Urteil zwar nicht unmittelbar mit der Extremgefahr befasst, aber im Rahmen der Prüfung eines Widerrufsbescheides eine realistische Gefahr von Terroranschlägen festgestellt.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005, Seite 9 des amtl. Umdrucks.

Das VG Sigmaringen geht wie der Senat ebenfalls von einer Größenordnung von mehreren Tausend Menschen aus, die bei Anschlägen ums Leben gekommen sind. Es setzt diese Zahlen aber nicht in Beziehung zu der irakischen Gesamtbevölkerung von rund 27 Millionen Menschen. Ungeachtet der Furchtbarkeit der Anschläge im Einzelfall kommt es aber im Rahmen der Extremgefahr wiederum auf die Anschlagsdichte an.

Zutreffend OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Nach den konkreten Zahlen von amnesty international werden die zivilen Opfer der Anschläge zwischen 21.239 und 24.106 geschätzt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Auf der Grundlage der Höchstzahl von 24.106 Opfern beträgt die Anschlagsdichte mithin rund 1:1100. Geht man von der – pauschalen – noch höheren Zahl von Opfern unter den Zivilisten von äußerstenfalls 100.000 aus, die das Auswärtige Amt wiedergibt,

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005,

ergibt sich landesweit äußerstenfalls eine Verletzungsgefahr durch die Anschläge von 1:270. Damit lässt sich aber nicht - zudem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - feststellen, ein einzelner Rückkehrer werde alsbald sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert.

Zu einem anderen Ergebnis führen auch nicht Reisewarnungen des Auswärtigen Amts für Reisende. Der Kläger hat sich mit dem VG Sigmaringen darauf berufen, das Auswärtige Amt habe seine Reisewarnung vom 29.7.2005 auf die Anschlagsopfer sowie die Entführungen gestützt.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -, Seite 9 des amtl. Umdrucks.

In einer solchen Warnung für Touristen und Geschäftsreisende liegt kein Wertungswiderspruch zur Verneinung einer Extremgefahr. Die Warnungen enthalten keine verbindliche Regelung im Sinne eines Schutzes der Menschenwürde, sondern eine unverbindliche Information. Ein Informationsbedürfnis besteht schon wesentlich früher als erst bei einer Situation, in der Reisende sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert werden. Die Schwelle für eine Reisewarnung ist wesentlich niedriger und bedeutet als solche keine Extremgefahr.

Auch die mit dem Untergrundkrieg einhergehende angespannte Versorgungslage einschließlich der medizinischen Versorgung im Irak führt nicht zur Bejahung einer Extremgefahr, zumal keine Hungergefahr besteht.

Die Versorgungslage im Irak ist zwar angespannt.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; zur prekären wirtschaftlichen Lage auch Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Indessen beziehen 96 % aller irakischen Haushalte Lebensmittelhilfe.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Für eine extreme Verknappung der Lebensmittel oder gar eine Hungerkatastrophe oder eine Wasserkatastrophe fehlt jeder Anhaltspunkt.

Schon mit Blick auf die bestehende Lebensmittelhilfe kann realistischerweise nicht angenommen werden, der Kläger würde im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nach seiner Rückkehr dem baldigen sicheren Hungertod ausgesetzt. Selbst eine katastrophale wirtschaftliche Situation mit Obdachlosigkeit und Unterernährung bedeutet dann keine Extremgefahr, wenn Rückkehrer nicht dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -.

Auch mit Blick auf die medizinische Versorgung ist eine allgemeine Extremgefahr zu verneinen. Die medizinische Versorgung ist allerdings angespannt.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 9.6.2006 und vom 24.11.2005.

Die Situation im Gesundheitswesen wird als extrem schwierig angesehen.

Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 4.2.2006.

Nach der Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist das irakische Gesundheitssystem schlechter als vor dem Krieg, bedarf dringend der Erneuerung, indessen ist die medizinische Grundversorgung zumeist gewährleistet.

So der zusammengefasste Inhalt der Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9.6.2004 sowie des Updates der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 15.6.2005.

Nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Extremgefahr begründen eine unzureichende medizinische Versorgung und eine kaum leistungsfähige Gesundheitsversorgung nicht bereits eine allgemeine Extremgefahr.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -, zu Armenien sowie BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -, zu einer kaum leistungsfähigen Gesundheitsversorgung in Angola mit desolaten hygienischen Verhältnissen.

Auch bei einer Gesamtwürdigung der sozioökonomischen Situation des Iraks

vgl. dazu Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, Abschnitt sozioökonomische Situation, Seite 11/12

ist ungeachtet der unzulänglichen Sicherheits- und Versorgungssituation nicht eine allgemeine Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem Ausmaß zu bejahen, dass ein Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Mithin ist im Irak der Tatbestand einer allgemeinen Extremgefahr zu verneinen.

Ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; sowie bereits BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -.

Nach dem vom Senat gefundenen Gesamtergebnis bleiben Hauptantrag und Hilfsantrag des Klägers erfolglos; die Berufung ist mithin zurückzuweisen.

Gerichtskosten werden nach § 83 b AsylVfG nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung über die außergerichtlichen Kosten ergibt sich aus § 154 II VwGO.

Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 II VwGO liegen nicht vor.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Die Aufenthaltserlaubnis ist ein befristeter Aufenthaltstitel. Sie wird zu den in den nachfolgenden Abschnitten genannten Aufenthaltszwecken erteilt. In begründeten Fällen kann eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen von diesem Gesetz nicht vorgesehenen Aufenthaltszweck erteilt werden. Die Aufenthaltserlaubnis nach Satz 3 berechtigt nicht zur Erwerbstätigkeit; sie kann nach § 4a Absatz 1 erlaubt werden.

(2) Die Aufenthaltserlaubnis ist unter Berücksichtigung des beabsichtigten Aufenthaltszwecks zu befristen. Ist eine für die Erteilung, die Verlängerung oder die Bestimmung der Geltungsdauer wesentliche Voraussetzung entfallen, so kann die Frist auch nachträglich verkürzt werden.

Tatbestand

1

Der Kläger erstrebt unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutz wegen Gefahren aufgrund eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts, hilfsweise nationalen Abschiebungsschutz wegen ihm drohender (extremer) Gefahr für Leib und Leben vor allem durch Mangelernährung.

2

Der 1981 geborene, ledige Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört zur Volksgruppe der Hazara und stammt aus der Provinz Ghazni. Er reiste im Februar 2003 nach Deutschland ein und betrieb hier erfolglos ein Asylverfahren. Im November 2006 stellte er einen Asylfolgeantrag. Mit Bescheid vom 21. Dezember 2006 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und eine Änderung seiner Feststellung zum Nichtvorliegen eines Abschiebungshindernisses ab. Im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht beschränkte der Kläger seine Klage auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Das Verwaltungsgericht hat der Klage im April 2007 stattgegeben.

3

Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Im Berufungsverfahren hat der Kläger geltend gemacht, dass auch die Voraussetzungen des Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG vorlägen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten im Mai 2008 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Dem Kläger sei in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG Abschiebungsschutz zu gewähren. Er sei zwar jung und gesund, verfüge aber nicht über eine Berufsausbildung. Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt in Afghanistan sei die Wahrscheinlichkeit gering, dass der Kläger auf Dauer eine Arbeit finden und damit seinen eigenen Lebensunterhalt sichern könne. Auf familiäre Unterstützung könne er nicht rechnen. Unter diesen Umständen würden dem Kläger ausschließlich Tee und Brot als Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Diese Versorgungssituation werde durch Unterstützungsmaßnahmen der afghanischen Regierung oder internationaler Organisationen nicht wesentlich verbessert. Die Möglichkeit, eine winterfeste Unterkunft zu erlangen, sei für einen mittellosen Rückkehrer, der - wie der Kläger - nicht auf familiäre Hilfe zurückgreifen könne, minimal. Die medizinische Versorgung sei selbst in Kabul völlig unzureichend. Auch die hygienischen Verhältnisse, unter denen der Kläger als mittelloser Rückkehrer leben müsse, seien völlig unzulänglich. Angesichts dieser Lebensbedingungen bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger zwangsläufig in einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen geraten würde. Insbesondere die durch die Mangelernährung erhöhte Infektanfälligkeit werde in Verbindung mit dem ebenfalls ernährungsbedingten Eisenmangel zu schwerwiegenden Infektionen der Atmungs- und Verdauungsorgane führen. Den anderen Oberverwaltungsgerichten, die dies gegenteilig beurteilten, hätten die vom Berufungsgericht eingeholten Gutachten nicht vorgelegen. Angesichts dieser Einschätzung erübrige sich eine Entscheidung darüber, ob auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vorlägen und dem Kläger deshalb gemeinschaftsrechtlicher subsidiärer Schutz zu gewähren sei.

4

Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision beanstandet die Beklagte vor allem, dass sich das Berufungsgericht im Hinblick auf die vom Kläger befürchteten allgemeinen Gefahren auf zu schmaler Tatsachengrundlage über die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG hinweggesetzt habe.

Entscheidungsgründe

5

Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt in mehrfacher Hinsicht Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil in der Sache nicht abschließend entscheiden kann, ist das Verfahren an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

6

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist zunächst das Verpflichtungsbegehren des Klägers auf Feststellung eines - unionsrechtlich begründeten - Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Dieses Begehren ist mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (BGBl I 2007, 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - im August 2007 Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Nach der Rechtsprechung des Senats gilt dies jedenfalls dann, wenn - wie hier - das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - in seinem Ablehnungsbescheid über sämtliche zielstaatsbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverbote sachlich entschieden und der Kläger die neuen, auf Unionsrecht beruhenden subsidiären Abschiebungsverbote in das anhängige gerichtliche Verfahren einbezogen hat (vgl. Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 -, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen). Gegenstand des Revisionsverfahrens ist ferner das Verpflichtungsbegehren des Klägers auf Feststellung eines (nationalen) Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nicht mehr Gegenstand des Verfahrens ist die Frage eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, nachdem der Kläger seine Klage insoweit - vor der gesetzlichen Neuordnung der Streitgegenstände durch das Richtlinienumsetzungsgesetz - zurückgenommen und den Ablehnungsbescheid des Bundesamts damit hat bestandskräftig werden lassen. Eine Abschiebungsandrohung ist ebenfalls nicht Gegenstand des Verfahrens. Auch insoweit hat der Kläger seine Klage zurückgenommen.

7

Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht, weil es den Vorrang des unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes vor dem nationalen Abschiebungsschutz nicht berücksichtigt hat (1.). Es verletzt ferner Bundesrecht, weil es beim nationalen Abschiebungsschutz den Anforderungen an die verfassungskonforme Auslegung und Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG im Fall allgemeiner Gefahren nicht hinreichend Rechnung getragen hat (2.). Schließlich verletzt es Bundesrecht, weil seine Feststellungen zur Gefahrenprognose bei verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhalten (3.).

8

1. Das Berufungsgericht hätte nicht offenlassen dürfen, ob der Kläger die Voraussetzungen für die Feststellung eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbots erfüllt. Im Entscheidungsfall kommt in diesem Zusammenhang allein ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in Betracht. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 oder 3 AufenthG scheiden auch nach Auffassung des Klägers von vornherein aus.

9

Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, der die Regelung des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 - sog. Qualifikationsrichtlinie - umgesetzt hat, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Nach der Rechtsprechung des Senats bildet dieser unionsrechtlich begründete Abschiebungsschutz gegenüber dem sonstigen (nationalen) Abschiebungsschutz einen selbstständigen Streitgegenstand. Die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG wird nach der typischen Interessenlage des Schutzsuchenden vorrangig vor der Feststellung eines sonstigen zielstaatsbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverbots begehrt (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 = Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 22, jeweils Rn. 10 ff.).

10

Dieses Rangverhältnis zwischen dem unionsrechtlichen und dem nationalen Abschiebungsschutz hat das Berufungsgericht nicht berücksichtigt. Es hätte das Verpflichtungsbegehren des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG der Sache nach nicht als Hilfsantrag behandeln dürfen, sondern darüber vor dem Begehren auf nationalen Abschiebungsschutz befinden müssen. Zwar hat der Kläger bei seiner Antragstellung im Berufungsverfahren kein bestimmtes Rangverhältnis kenntlich gemacht. Er hat aber auch nicht erkennen lassen, dass der unionsrechtliche Abschiebungsschutz nicht oder erst nach dem nationalen Abschiebungsschutz geprüft werden soll. Bei dieser Verfahrenskonstellation hätte das Berufungsgericht - entsprechend der typischen Interessenlage des Schutzsuchenden - das Begehren des Klägers dahingehend auslegen müssen, dass primär über dessen Hauptantrag auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots in Bezug auf Afghanistan gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entschieden werden soll. Auf dieser rechtsfehlerhaften Behandlung der Anträge des Klägers beruht die Entscheidung des Berufungsgerichts. Daran ändert auch die hilfsweise angeführte Begründung des Berufungsgerichts nichts, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG im Übrigen auch nicht erfüllt seien. Denn in dieser Begründung stellt das Berufungsgericht darauf ab, dass selbst bei Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach dieser Vorschrift wegen der auch in diesem Fall geltenden Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nur bei einer - hier offenbar nicht gegebenen - extremen Gefahr in Betracht komme. Diese Rechtsansicht ist nach dem inzwischen ergangenen Urteil des Senats vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - (a.a.O. Rn. 30 ff.) nicht mit Bundesrecht vereinbar, da § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG richtlinienkonform dahingehend auszulegen ist, dass er bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie bzw. des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG keine Sperrwirkung entfaltet. Mangels hinreichender Feststellungen im Berufungsurteil zum Vorliegen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist es dem Senat verwehrt, sich selbst näher mit den Voraussetzungen eines derartigen Abschiebungsverbots zu befassen. Im erneuten Berufungsverfahren wird das Oberverwaltungsgericht vorrangig über diesen Hauptantrag zu entscheiden haben.

11

2. Indem das Berufungsgericht dem Kläger Abschiebungsschutz nach nationalem Recht in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG zugesprochen hat, ohne das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG rechtsfehlerfrei zu prüfen und auszuschließen, hat es auch die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Voraussetzungen für die verfassungskonforme Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in Fällen einer allgemeinen Gefahr verkannt. Auch insofern ist das Berufungsurteil nicht mit Bundesrecht vereinbar.

12

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens sechs Monate ausgesetzt wird. Eine derartige Abschiebestopp-Anordnung besteht für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht (mehr). Mit seinem Hinweis auf die unzureichende Versorgungslage in Afghanistan, die für Rückkehrer ohne Berufsausbildung und familiäre Unterstützung besteht, macht der Kläger allgemeine Gefahren geltend, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen können. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats kann diese Sperrwirkung nur dann im Wege einer verfassungskonformen Auslegung eingeschränkt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine verfassungswidrige Schutzlücke besteht (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - a.a.O. Rn. 32 m.w.N.). Eine Schutzlücke besteht für den Kläger indes nicht, falls er die Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG beanspruchen kann (vgl. hierzu nochmals Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - a.a.O. Rn. 32 m.w.N.). Das Berufungsgericht hätte sich daher auch aus diesem Grund mit der Frage des unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes befassen müssen, ehe es sich mittels verfassungskonformer Auslegung über die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG hinwegsetzt.

13

3. Schließlich ist die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch das Berufungsgericht auch deshalb mit Bundesrecht nicht vereinbar, weil seine Feststellungen zum Vorliegen einer extremen Gefahr im Falle einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhalten. Das Berufungsgericht hat zwar zutreffend erkannt, dass eine unmittelbare Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausscheidet, weil der Kläger keine individuellen, nur ihm drohenden Gefahren, sondern allgemeine Gefahren geltend macht. Es ist aber bei der verfassungskonformen Anwendung der Vorschrift in mehrfacher Hinsicht hinter den maßgeblichen rechtlichen Anforderungen zurückgeblieben. So hat es die vom Senat zum Vorliegen einer extremen Gefahrenlage entwickelten rechtlichen Maßstäbe verfehlt. Es ist in diesem Zusammenhang auch den Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung nicht gerecht geworden und hat seine Entscheidung auf eine zu schmale Tatsachengrundlage gestützt.

14

Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die den Kläger in Afghanistan erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, kann er Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.

15

Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde" (vgl. Urteil vom 12. Juli 2001 - BVerwG 1 C 5.01 - BVerwGE 115, 1 <9 f.> m.w.N.). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. etwa Urteil vom 12. Juli 2001 - BVerwG 1 C 5.01 - a.a.O.).

16

Das Berufungsgericht hat diese rechtlichen Maßstäbe für die verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zwar im Wesentlichen zutreffend wiedergegeben. Seine rechtliche Subsumtion wird jedoch nicht von den getroffenen tatsächlichen Feststellungen getragen. Vor allem fehlt eine tatrichterliche Gesamtwürdigung der den Kläger betreffenden Lebensbedingungen in Afghanistan insbesondere im Hinblick auf die bei der verfassungskonformen Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gebotene erhöhte Wahrscheinlichkeit des Eintritts der extremen Gefahren.

17

Das Berufungsgericht hat sich zwar ausdrücklich auf diesen hohen Wahrscheinlichkeitsmaßstab bezogen und in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des Senats zitiert (UA S. 7). Auch spricht es am Ende seiner Entscheidung zusammenfassend von der "hohen Wahrscheinlichkeit", dass der Kläger durch seine Abschiebung nach Afghanistan zwangsläufig in einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen geraten würde (UA S. 15). Diese rechtliche Schlussfolgerung ist durch die getroffenen tatsächlichen Feststellungen und deren Würdigung aber nicht gedeckt. So ist das Berufungsgericht maßgeblich davon ausgegangen, dass der Kläger sich ausschließlich von Tee und Brot ernähren müsste. Auf der Grundlage dieser Prämisse hat sich das Berufungsgericht von einer Ernährungsmedizinerin die gesundheitlichen Risiken dieser Mangelernährung schildern lassen. Gleichzeitig hat es sich auf Erkenntnisquellen bezogen, nach denen sich jeder zweite Einwohner von Kabul nur von Tee und Brot ernähren kann, 8,9 % der Bevölkerung von Kabul unter akuter Unterernährung leiden und "fast ein Viertel aller Haushalte" in Afghanistan die Grundversorgung an Nahrungsmitteln nicht selbstständig sichern kann (UA S. 11). Das Berufungsgericht hat weiter erwähnt, dass dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 7. März 2008 zufolge internationale Hilfsorganisationen Millionen von Afghanen mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern versorgen und sich die Versorgungslage in Kabul grundsätzlich verbessert hat. Es ist dem aber nicht hinreichend nachgegangen, sondern hat ohne nähere Prüfung gefolgert, dass die Versorgungssituation durch Unterstützungsmaßnahmen der afghanischen Regierung oder internationaler Organisationen nicht wesentlich verbessert werde (UA S. 11 und 12). All dies macht deutlich, dass sich das Berufungsgericht schon bei der Würdigung dieses zentralen Teilkomplexes auf eine zu schmale Tatsachengrundlage gestützt und den erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeitsmaßstab verfehlt hat.

18

Dies gilt auch für die Würdigung der anderen Teilkomplexe. Bei der Möglichkeit, sich eine wirtschaftliche Existenz aus eigener Kraft zu sichern, spricht das Berufungsgericht zwar von einer "hohen Wahrscheinlichkeit", dass dem Kläger diese Sicherung nicht gelingen werde. Es stützt sich dabei aber zum Teil auf Erkenntnisquellen, die sich mit den Chancen befassen, "auf Dauer" eine Arbeit zu finden bzw. eine berufliche "Wiedereingliederung" zu erreichen (UA S. 9).

19

Das Berufungsgericht hat seine Prognose, dass dem Kläger extreme Gefahren drohen, zudem in der Weise gewonnen, dass es bei der Beurteilung der Lebensbedingungen in Afghanistan die erwähnten und weitere sachliche Teilkomplexe u.a. zur Problematik einer winterfesten Unterkunft, medizinischer Versorgung und hygienischer Verhältnisse gebildet hat. Es hat damit die Gefahrenprognose in mehrere hintereinander geschaltete Teilprognosen aufgespalten, deren Schlussfolgerungen aufeinander aufbauen. Die bei dieser Vorgehensweise erforderliche Gesamtprognose, mit der die Lebensbedingungen und die sich daraus für den Kläger ergebenden Risiken anhand des hohen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs insgesamt gewürdigt werden, ist nicht erfolgt. Der vom Berufungsgericht gezogene Gesamtschluss wäre selbst dann rechtsfehlerhaft, wenn dieses bei jedem der von ihm untersuchten Teilbereiche eine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit festgestellt hätte. Denn eine hohe Wahrscheinlichkeit hinsichtlich der Verwirklichung jedes Einzelglieds einer Kausalkette rechtfertigt ohne wertende Gesamtbetrachtung nicht zwingend den Schluss, dass das am Ende stehende Ergebnis ebenfalls mit dem gleichen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad eintritt. Unverzichtbar ist vielmehr eine Gesamtwürdigung dahingehend, dass die von der Ernährungsmedizinerin beschriebenen schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr des Klägers eintreten würden.

20

Dadurch, dass das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung den erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeitsmaßstab verfehlt hat, ist auch seine Aussage nicht tragfähig, dass der Kläger "alsbald" in eine extreme Gefahrenlage geraten würde. Im Übrigen spricht viel dafür, dass das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang einen zu weiten Maßstab angewendet hat. Denn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts droht dem Kläger nicht der Hungertod, sondern ein körperlicher Verfallsprozess, der durch Mangelernährung und eine dadurch erhöhte Infektanfälligkeit ausgelöst werden kann. Dass die extreme Gefahr unter diesen Umständen mit hoher Wahrscheinlichkeit "alsbald" eintritt, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt.

21

Dadurch, dass das Berufungsgericht die rechtlichen Maßstäbe fehlerhaft angewendet hat, hat es auch seine tatrichterliche Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) fehlerhaft gebildet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der Überzeugungsgrundsatz dann verletzt, wenn die Überzeugungsbildung - wie hier - an inneren Mängeln leidet (vgl. etwa Beschluss vom 14. August 1998 - BVerwG 4 B 81.98 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 280). Ein Mangel bei der Überzeugungsbildung liegt zusätzlich auch insoweit vor, als das Berufungsgericht von fehlender familiärer Unterstützung für den Kläger in Afghanistan ausgegangen ist. Der Umstand, ob ein Rückkehrer auf eine derartige Unterstützung rechnen kann, ist für das Berufungsgericht von wesentlicher Bedeutung gewesen. So führt es beispielsweise aus, da in Afghanistan staatliche soziale Sicherungssysteme nicht vorhanden seien, werde die "soziale Absicherung ... (von) Familien und Stammesverbänden" übernommen (UA S. 11). Das Berufungsurteil lässt jedoch nicht erkennen, worauf sich die Überzeugung gründen lässt, dass im Entscheidungsfall eine familiäre Unterstützung fehlt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht hat der Kläger ausweislich des Sitzungsprotokolls erklärt, er habe in Afghanistan keine Verwandten und auch keine Bekannten mehr. Jedenfalls habe er "insoweit keinerlei Kontakte mehr". Der Bedeutung dieser Äußerung ist das Berufungsgericht nicht weiter nachgegangen. Das Berufungsgericht hat sich auch nicht damit befasst, von wem der Kläger als Minderjähriger nach dem Tod seiner Eltern bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan unterstützt worden ist. Auch zu denkbaren Unterstützungsmaßnahmen seitens seines Stammes verhält sich das Berufungsurteil nicht.

22

Bei der Überzeugungsbildung des Berufungsgerichts und der Darstellung der Gründe, die für seine Überzeugungsbildung leitend gewesen sind, ist schließlich zu beanstanden, dass sich das Berufungsgericht mit der gegenteiligen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte nur unzureichend auseinandergesetzt hat. Vier - vom Berufungsgericht zitierte - Oberverwaltungsgerichte haben verneint, dass Rückkehrern wie dem Kläger extreme Gefahren in Afghanistan drohen. Sie haben insbesondere die Hilfsmaßnahmen internationaler Organisationen und auch die Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt in Afghanistan abweichend beurteilt. Zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung hat kein anderes Oberverwaltungsgericht die Einschätzung des Berufungsgerichts geteilt. Das Argument des Berufungsgerichts, den anderen Oberverwaltungsgerichten hätten die von ihm eingeholten Erkenntnismittel nicht vorgelegen, trägt jedenfalls insoweit nicht, als es um die für das Berufungsgericht zentralen Ausführungen der Ernährungsmedizinerin geht. Denn diese ist auf der Grundlage einer vom Berufungsgericht aus dem Gesamtzusammenhang herausgelösten (hypothetischen) Einzelprämisse gehört worden.

23

Bei der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist ein Gericht gehalten, den Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung und die gebotene Auseinandersetzung mit abweichender Tatsachen- und Lagebeurteilung anderer (Ober-)Verwaltungsgerichte in besonderer Weise gerecht zu werden. Dies ist dem Berufungsgericht, wie ausgeführt, in mehrfacher Hinsicht nicht gelungen.

24

Für das erneute Berufungsverfahren weist der Senat darauf hin, dass es sich vorliegend um ein Asylfolgeverfahren handelt und deshalb zunächst die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens zu prüfen sind (vgl. Urteil vom 20. Oktober 2004 - BVerwG 1 C 15.03 - BVerwGE 122, 103 <105 ff.> m.w.N.). Diese Prüfung hat das Berufungsgericht bisher nicht durchgeführt.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 3. Mai 2006 - A 4 K 12446/05 - geändert. Nr. 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12.07.2005 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Sri Lanka nach § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.

Der Kläger trägt 2/3 und die Beklagte 1/3 der Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens beider Rechtszüge.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der am … 1976 geborene Kläger ist srilankischer Staatsangehöriger tamilischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 04.09.1995 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik ein, wo er am 06.09.1995 die Anerkennung als Asylberechtigter beantragte. Bei seinen Anhörungen im September 1995 trug er vor: Er habe in Sri Lanka im Jaffna-Gebiet gelebt. 1993 sei sein älterer Bruder von der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) erschossen worden. Im Dezember 1994 habe er nach Colombo gehen wollen, weil er Angst gehabt habe, von der Tigerbewegung getötet zu werden. In Vavuniya sei er am 01.12.1994 von der Armee festgenommen worden. Wegen vorhandener Verletzungen sei er verdächtigt worden, Tiger-Angehöriger zu sein. Im Rahmen seiner Festnahme sei er auch gefesselt und geschlagen worden. Am 12.12.1994 sei er wieder freigelassen worden. Sein in Vavuniya lebender Onkel habe ihn freigekauft. Dieser habe ihm geraten, das Land zu verlassen. Mit der Tigerbewegung habe er keine Probleme gehabt, aber er sei vor fünf Jahren bei einem Hubschrauberangriff der Armee auf sein Dorf am Arm angeschossen und schwer verletzt worden. Mit Bescheid vom 06.10.1995 lehnte das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt -) den Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte zugleich fest, das die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. sowie Abschiebungshindernisse im Sinne des § 53 AuslG a.F. nicht vorliegen. Auf die hiergegen beim Verwaltungsgericht Stuttgart erhobene Klage wurde die Beklagte mit (rechtskräftigem) Urteil vom 20.01.1998 (- A 3 K 16180/95 -) unter Aufhebung des Bescheids vom 06.10.1995 verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. vorliegen. Dem kam das Bundesamt mit Bescheid vom 19.03.1998 nach.
Der Kläger ist in der Bundesrepublik wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten: Er wurde vom Amtsgericht Ludwigsburg am 28.01.1997 (- 8 CS 52 JS 98074/96 1245 VRS -) zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen, am 21.07.1997 (- 8 CS 57 JS 42838/97 1245 VRS -) zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen und am 11.11.1997 (- 8 CS 57 JS 83514/97 1245 VRS -) zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen - jeweils wegen Verstößen gegen das Asylverfahrensgesetz - verurteilt. Eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen erhielt er durch das Amtsgericht Ludwigsburg am 30.12.1997 (- 8 CS 57 JS 92701/97 1245 VRS -) wegen Leistungserschleichung in drei Fällen, Diebstahls und Beihilfe zum versuchten geringwertigen Betrug. Am 23.04.1998 wurde er durch das Amtsgericht Stuttgart (- B 18 CS 104 JS 13988/98 1245 VRS -) wegen Missbrauchs von Ausweispapieren zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen verurteilt. Durch Beschluss des Amtsgerichts Ludwigsburg vom 20.07.1998 (- 8 CS 57 JS 42838/97 1245 VRS) wurde aus den Entscheidungen des Amtsgerichts Ludwigsburg vom 21.07.1997 und vom 30.12.1997 eine nachträgliche Gesamtstrafe von 42 Tagessätzen gebildet. Mit Urteil vom 02.11.2000 (- 16 KLS 201 JS 82491/99 3253 VRS -) wurde er vom Landgericht Stuttgart wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 22 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger war Mitglied einer im Stuttgarter Raum ansässigen Gruppierung srilankischer Staatsangehöriger tamilischer Volkszugehörigkeit, die sich zusammenfand, um eine unbestimmte Anzahl von Personen zumeist tamilischer Volkszugehörigkeit ohne das erforderliche Einreisevisum nach Deutschland und die eingereisten oder andere in Deutschland aufenthaltsberechtigte Personen von Stuttgart aus über den Seeweg - via Frankreich oder Belgien unter Verstoß gegen Einreisebestimmungen - nach Großbritannien zu bringen. Die Ausreisewilligen hatten hierfür erhebliche Geldbeträge zu zahlen. Der Kläger begleitete zusammen mit Mittätern die Personen, die ohne die erforderlichen Einreisepapiere über Frankreich oder Belgien nach Großbritannien gelangen wollten, bis zu den Kanalhäfen nach Belgien oder Frankreich. Sie suchten auf Lkw-Parkplätzen geeignete Speditionslaster, die auf dem Weg nach Großbritannien waren. Sie öffneten die Planen der Lkws, versteckten die Ausreisewilligen auf der Ladefläche und verplombten anschließend die Planen wieder. Der Kläger führte auch eigenverantwortlich zahlreiche Personentransporte unter Verstoß gegen Einreise- und Ausreisebestimmungen durch. Hierfür setzte er zwei Fahrer ein. Auch andere Mitglieder der Gruppe organisierten teilweise selbständig Schleusungsfahrten und halfen sich gegenseitig - etwa mit Fahrern oder Vermittlung von „know how“ - aus. Das gemeinsame Interesse ging dahin, Anlaufstelle für ausreisewillige Personen zu sein, um sämtlichen Mitgliedern der Gruppe eine dauernde Einnahmequelle zu verschaffen. Der Kläger erhielt für jeden ausreisewilligen Erwachsenen, den er nach Belgien oder Frankreich brachte, ca. 1.100,-- DM bzw. erhoffte sich einen Betrag in dieser Höhe. In der Zeit von August 1999 bis Januar 2000 führte der Kläger 22 Fahrten durch, bei denen er zusammen mit einem von ihm bezahlten Fahrer die Schleusungswilligen nach Belgien oder Frankreich brachte. Im Rahmen einer der Fahrten im Zeitraum vom 22.10.1999 bis 24.10.1999 wurde der Kläger von der belgischen Polizei festgenommen und befand sich bis zum 23.11.2000 in belgischer Haft. Im Anschluss hieran setzte er seine Schleusertätigkeit fort, bis er am 23.01.2000 von der deutschen Polizei festgenommen wurde. Der Kläger wurde am 09.04.2003 - bei einer Bewährungszeit von drei Jahren - aus der Haft entlassen. Am 28.02.2005 wurde er vom Amtsgericht Limburg an der Lahn (- 7 JS 4989/05 52CS -) wegen Diebstahls und Unterschlagung geringwertiger Sachen zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt. Daraufhin wurde die Bewährungszeit um ein Jahr bis zum 21.03.2007 verlängert. Am 09.05.2007 verurteilte ihn das Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt (- C 3 Cs 34 Js 37383/07 3258 VRs -) wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen. Am 29.01.2008 wurde er vom Amtsgericht Tübingen (- 4 Cs 15 Js 21770/07 960 VRs -) wegen gefährlichen Eingriffen in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit Nötigung zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt, die Fahrerlaubnis wurde ihm bis zum 28.07.2008 gesperrt.
Mit bestandskräftiger Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 17.04.2002 wurde der Kläger aus dem Bundesgebiet ausgewiesen.
Mit Schreiben vom 13.10.2004 gab das Bundesamt dem Kläger Gelegenheit, sich innerhalb eines Monats zum beabsichtigten Widerruf des Anerkennungsbescheids vom 19.03.1998 zu äußern. Es führte zur Begründung an, die Sachlage in Sri Lanka habe sich geändert. Eine Gruppenverfolgung der Tamilen bestehe inzwischen nicht mehr. Unabhängig hiervon stehe der Großraum Colombo als inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Auch die in seinem Fall als Grundlage für die Anerkennung als Asylberechtigter durch das Verwaltungsgericht Stuttgart angenommene Festnahme durch srilankische Sicherheitskräfte vor seiner Ausreise führe zu keiner anderen Einschätzung. Mit Schreiben vom 18.10.2004 wandte der Kläger ein, unverändert ließen die Verhältnisse in Sri Lanka eine Rückkehr nicht zu. Weiter habe er nach der Verhaftung am 23.01.2000 in einem „Schleuserverfahren“ „ausgepackt“ und dadurch dazu beigetragen, dass eine Reihe von Schleusern hätten überführt werden können. Sein Vater sei am 26.05.2001 von der LTTE erschossen worden. Die von ihm Verratenen hätten die LTTE mit monatlichen Beiträgen unterstützt. Die Ermordung des Vaters sei eine Reaktion auf sein Verhalten gewesen. Bei einer Rückkehr würde er sicher ebenfalls unbeschadet des stagnierenden Friedensprozesses als Verräter umgebracht werden. Er bedauere seine Straftaten. Eine Wiederholung sei im Übrigen schon dadurch ausgeschlossen, dass er für die einschlägigen Kreise durch seine Zusammenarbeit mit der Polizei „verbrannt“ sei. Das Bundesamt widerrief mit Bescheid vom 12.07.2005 die Anerkennung als Asylberechtigter (Nr. 1) sowie die mit Bescheid vom 19.03.1998 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 AuslG a.F. vorliegen (Nr. 2). Gleichzeitig stellte es fest, dass weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 3) noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen (Nr. 4). In der Begründung heißt es im Wesentlichen: Der Kläger habe bei einer Rückkehr in seine Heimat nicht mehr mit politisch motivierter Verfolgung zu rechnen. Soweit im verpflichtenden Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart festgestellt worden sei, dass er aufgrund der Narben als LTTE-Zugehöriger angesehen werden könne, könne dies nunmehr keine besondere Gefährdung mehr darstellen. Er sei nach eigener Aussage bereits fast zehn Jahre lang nicht mehr in seiner Heimat gewesen, was auch den srilankischen Sicherheitskräften nicht verborgen bleiben dürfte, wenn er jetzt nach Sri Lanka zurückkehren würde. Allein diese lange Abwesenheit aus der Heimat beweise bereits, dass er nicht der LTTE zugehörig sei. Die Einlassung, er habe in einem Schleuserverfahren ausgesagt und deshalb drohe ihm bei einer Rückkehr der Tod, könne nicht nachvollzogen werden. Es sei nicht substantiiert dargetan worden, inwieweit seine Aussagen im Schleuserverfahren in Zusammenhang mit einer potentiellen Gefahr bei einer Rückkehr stünden. Auf Grund seiner tamilischen Volkszugehörigkeit habe er politische Verfolgung nicht mehr zu befürchten. Seit dem 24.12.2001 hielten Regierung und LTTE eine Waffenruhe ein.
Die hiergegen am 18.07.2005 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom 03.05.2006 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Beklagte habe zu Recht von der zwingenden Vorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG Gebrauch gemacht. Eine von der Rechtskraft befreiende entscheidungserhebliche Änderung der Sachlage sei im Falle des Klägers gegeben, berücksichtige man die für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen wesentlichen Faktoren, wie die allgemeine und politische Lage und die allgemeine Menschenrechtslage in Sri Lanka. Die frühere Verfolgungsprognose sei darauf gestützt gewesen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungsmaßnahmen der LTTE im Norden zu rechnen habe und eine Inhaftierung durch die Sicherheitskräfte im Süden des Landes erlitten hätte. Diese für den Kläger angenommene Gefährdungslage habe sich so nachhaltig verändert, dass auf sie die angenommene Verfolgungsprognose nicht mehr gestützt werden könne. Vielmehr sei er jetzt vor einer derartigen Verfolgung hinreichend sicher.
Mit der vom Senat durch Beschluss vom 15.01.2009 - 4 S 656/06 -antragsgemäß zugelassenen Berufung beantragt der Kläger,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 03. Mai 2006 - A 4 K 12446/05 - zu ändern und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12.07.2005 aufzuheben,
hilfsweise,
die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 4 des Bescheids vom 12.07.2005 zu verpflichten festzustellen, dass bei ihm ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Sri Lanka nach § 60 Abs. 2 AufenthG,
10 
hilfsweise nach § 60 Abs. 5 AufenthG,
11 
hilfsweise nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt.
12 
Zur Begründung trägt er vor: Die Situation in Sri Lanka habe sich weiter drastisch verschlechtert. Im Hinblick auf die aktuelle Verfolgungssituation der tamilischen Minderheit in Sri Lanka liege die Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung, jedenfalls für Untergruppen jüngerer Tamilinnen und Tamilen im Rekrutierungsalter der LTTE sowie der paramilitärischen tamilischen Gruppierungen, mithin im Alter von etwa 15 bis etwa 40 Jahren, vor. Insoweit bestehe zwischen allen Personen und Institutionen, die in letzter Zeit Berichte zur Menschenrechtsituation in Sri Lanka abgegeben hätten, Einigkeit dahingehend, dass von einer drastischen Verschärfung der Verfolgungssituation für Tamilen in Sri Lanka seit dem Amtsantritt des jetzigen Präsidenten gesprochen werden müsse. Die srilankische Regierung verfolge eine allein militärische Strategie und wolle die LTTE „niederwerfen“. Dies habe zu einem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs geführt, der bis heute andauere. Im Zuge dieses Bürgerkriegs sei zu konstatieren, dass Angehörige der tamilischen Minderheit einem „Generalverdacht“ unterlägen, die LTTE als separatistische Ziele verfolgende Gruppierung zu unterstützen. Gerade auf Grund des angesprochenen Generalverdachts müsse jedes Mitglied der tamilischen Bevölkerung in Sri Lanka, zumindest Angehörige dieser Ethnie in der vorstehend gebildeten Untergruppe, damit rechnen, willkürlich inhaftiert, misshandelt und gegebenenfalls auch getötet zu werden. Die Zahlen der hiervon Betroffenen - soweit überhaupt feststellbar - seien extrem nach oben geschnellt, so habe die Zahl der Verschwundenen in Sri Lanka im letzten Jahr derart zugenommen, dass Sri Lanka im Weltvergleich einen unrühmlichen Spitzenplatz einnehme. Die nunmehrigen gesetzlichen Bestimmungen - sofern selbst diese noch eingehalten würden - erlaubten es den srilankischen Sicherheitsorganen, Personen praktisch grenzenlos festzuhalten, ohne dass eine effektive gerichtliche Überprüfung möglich sei. Es sei zu konstatieren, dass es offenbar staatlichem Willen entspreche, die Sicherheitskräfte völlig grenzen- und kontrolllos walten zu lassen, ohne dass diese in irgendeiner Art und Weise befürchten müssten, bei menschenrechtswidrigen Übergriffen zur Verantwortung gezogen zu werden. Erst recht gelte dies dann für Angehörige der paramilitärischen Gruppierungen wie etwa der sogenannten Karuna-Gruppe, die im Osten Sri Lankas nach den Ausführungen des Auswärtigen Amts förmlich eine „Schreckensherrschaft“ etabliert hätten. Bei dieser Situation sei die Lage für Angehörige der tamilischen Minderheit vollkommen aussichtslos, es bleibe allein dem Zufall überlassen, ob sie Opfer derartiger Übergriffe würden oder nicht. Die Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung lägen daher vor, dies gelte erst recht für die Gruppe jüngerer Tamilinnen und Tamilen, denen - wie bereits in den 90er Jahren - in besonderem Maße pauschal eine Affinität zur LTTE unterstellt werde und die deshalb erst recht mit asylrelevanten Maßnahmen der vorstehend beschriebenen Art und Weise rechnen müssten. Dies müsse insbesondere dann gelten, wenn ein tamilischer Flüchtling seine Heimat seinerzeit auch individuell unter dem Druck entsprechender Verfolgungsmaßnahmen bzw. der konkreten Gefahr derartiger Verfolgungsmaßnahmen verlassen habe. Er habe - unbestritten und auch im Widerrufsverfahren nicht in Frage gestellt - vorgetragen, dass er Sri Lanka verlassen habe, weil er asylrechtlich erhebliche Übergriffe sowohl von Seiten der srilankischen Sicherheitsbehörden als auch von Seiten der LTTE befürchte. Angesichts der vorstehend skizzierten Situation in Sri Lanka sei davon auszugehen, dass derartige Verfolgungsmaßnahmen weiterhin zumindest überwiegend wahrscheinlich seien, jedenfalls nicht - nur dies könne einen Widerruf rechtfertigen - nach menschlichem Ermessen praktisch ausgeschlossen seien. Soweit die Beklagte auf § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG abstelle, weise sie selbst darauf hin, dass es nach der Verurteilung im Jahr 2005 keinerlei Auffälligkeiten mehr gegeben habe. Strafrechtliche Verfehlungen seien also seitdem über einen Zeitraum von ca. 5 Jahren nicht mehr aufgetreten. Die Wertung der Beklagten, seine Bestrafung habe bei ihm keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, sei nicht nachvollziehbar.
13 
Die Beklagte beantragt,
14 
die Berufung zurückzuweisen.
15 
Sie führt aus: Es entspreche ihrer grundsätzlichen gegenwärtigen Praxis, Widerrufsbescheide in Verfahren srilankischer Staatsangehöriger tamilischer Herkunft im Hinblick auf die zur Zeit fragliche hinreichende Rückkehrsicherheit aufzuheben. Die Voraussetzungen für das weitere Bestehen der Asylanerkennung bzw. der Feststellung eines Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG a.F. sei in Bezug auf den Kläger aber gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG weggefallen. Insoweit verweist die Beklagte auf ihre Ausführungen im Berufungszulassungsverfahren, wonach bei dem Kläger die konkrete Gefahr gegeben sei, dass er im Bundesgebiet weitere schwere Straftaten begehe. Hierfür spreche zunächst die gesamte „kriminelle Karriere“ des Klägers, der bereits vor seiner Asylanerkennung mehrfach straffällig geworden sei und dessen Straftaten sich bis zu der Verurteilung vom 02.11.2000 in ihrer Schwere gesteigert hätten. Die Verurteilung wegen des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 22 Fällen belege, dass der Kläger in ein kriminelles Netzwerk eingebunden gewesen sei und mit hoher krimineller Energie gehandelt habe. Nach der Aussetzung der zu verbüßenden Restfreiheitsstrafe zur Bewährung habe er sich des Diebstahls und der Unterschlagung schuldig gemacht und dadurch seine rechtsfeindliche Gesinnung gezeigt. Das Wohlverhalten, welches der Kläger seit zwei Jahren augenscheinlich zeige, könne nicht verdecken, dass er fast während seines gesamten bisherigen Aufenthalts in Deutschland eine kriminelle Existenz am Rande der Gesellschaft geführt habe und dass er überwiegend von Gelegenheitsarbeiten und Sozialhilfe gelebt habe. Nach der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 17.04.2002 sei die religiös angetraute Ehefrau des Klägers ebenfalls wegen Straftaten aus Deutschland ausgewiesen worden. Anhaltspunkte für eine nachhaltige, positive Veränderung der persönlichen Verhältnisse des Klägers lägen nicht vor. Daher rechtfertige die langdauernde, schwere Straffälligkeit des Klägers die Prognose, dass von ihm weitere Straftaten mittelfristig zu erwarten seien. Straftaten, die so schwerwiegend seien, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt hätten, seien typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verbunden. Dieser Einschätzung stehe die Aussetzung eines Strafrests zur Bewährung grundsätzlich nicht entgegen. Im Hinblick auf die bereits solchermaßen gegebene Rechtmäßigkeit der Widerrufsentscheidung komme es nicht entscheidungserheblich darauf an, ob sich die tatsächliche Verfolgungssituation im Herkunftsland geändert habe. Der Kläger sei zeitnah zur Aussetzung des Strafrests zur Bewährung im Jahr 2004 wiederum straffällig geworden, was zur erneuten Verurteilung im Jahr 2005 und zu einer einjährigen Verlängerung der Bewährungsfrist geführt habe. Allein hierdurch habe der Kläger demonstriert, dass die bis dato erfolgten Verurteilungen im Ergebnis keinen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen hätten. Etwaige Abschiebungshindernisse lägen ebenfalls nicht vor. Hier sei der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen. Insoweit sei festzustellen, dass die tamilische Bevölkerung zwar allein auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit nicht systematisch verfolgt werde, dass aber eine Art Generalverdacht der Sicherheitskräfte gegen sie bestehe, der im Einzelfall bei Vorverfolgung zu einer erneuten Beeinträchtigung der Sicherheit führen könne. Jeder, der der Nähe zur LTTE verdächtigt werde, müsse mit Verhaftung rechnen. Nach aktuellen Erkenntnissen kontrolliere die LTTE gegenwärtig nur noch ein Gebiet in der Größe von ca. 60 Quadratkilometern. Sofern die Rebellen - erwartungsgemäß - deshalb zukünftig einen Guerillakampf führen würden, sei davon auszugehen, dass sich die Sicherheitskräfte dann noch gezielter als bisher auf die Bekämpfung aktiver, die Sicherheit des Landes konkret bedrohender LTTE-Anhänger konzentrieren würden. Der Kläger sei dieser Personengruppe nicht zuzurechnen. Er habe nicht glaubhaft machen können, während seines Aufenthalts im Bundesgebiet den Kampf der LTTE in seinem Heimatland mit persönlichem Einsatz unterstützt bzw. die Ziele der genannten Terrorgruppe in irgendeiner sonstigen Weise gefördert zu haben. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte führe in seinem Urteil vom 17.07.2008 - Application no. 25904/07 - aus, dass für nach Colombo zurückkehrende Tamilen keine generelle Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung bestehe. Es bedürfe vielmehr der individuellen Prüfung eines jeden Einzelfalls. Zu berücksichtigen sei in diesem Zusammenhang, dass allein im Großraum der Hauptstadt Colombo mehr als 300.000 Tamilen lebten. Die Internetseite TAMILNET berichte kontinuierlich von angeblichen Kontrollen und Inhaftierungen (angeblich meist junger) Tamilen. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Aussagen handele es sich allerdings schon nach den weiteren dortigen Behauptungen lediglich um einen Personenkreis von ca. 60 Betroffenen pro Woche, der zudem mehrheitlich nach der Personenkontrolle wieder freigelassen werde. Es liege auf der Hand, dass hierdurch eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Inhaftierung nicht abgeleitet werden könne. Ebenso wenig sei beachtlich wahrscheinlich, dass ausgerechnet der Kläger - bei rein theoretischer Unterstellung einer vorübergehenden Festnahme - gelegentlich einer etwaigen solchen Kontrolle einer rechtswidrigen Behandlung unterzogen würde, die die Feststellung eines Abschiebungshindernisses z.B. gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG rechtfertige.
16 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung angehört; hierzu wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
17 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts-, die vorgelegten Behörden- sowie die beigezogenen Strafakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
18 
Der Senat konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten verhandeln und entscheiden; denn auf diese Möglichkeit war in der auch im Übrigen ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen worden (§§ 125 Abs. 1, 102 Abs. 2 VwGO).
19 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist zum Teil begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht in vollem Umfang abgewiesen. Zwar erweist sich der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 12.07.2005 im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG) als rechtmäßig, soweit die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter sowie die mit Bescheid vom 19.03.1998 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. vorliegen, widerrufen worden sind und festgestellt wird, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen (hierzu unter 1.). Der streitgegenständliche Bescheid ist aber rechtswidrig, soweit er unter Nr. 4 feststellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, denn der Kläger hat - wie hilfsweise begehrt - einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Sri Lanka nach § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt (hierzu unter 2.).
20 
1. Ermächtigungsgrundlage für die Widerrufsentscheidung des Bundesamts ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Diese Bestimmung ist verfassungsgemäß (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21.04 -, DVBl. 2006, 511).
21 
Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind - vorbehaltlich des Satzes 3 - die Asylanerkennung und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. die bisherige Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG a.F.) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Das ist hier der Fall.
22 
Die Voraussetzungen sind gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG weggefallen. Nach dieser Bestimmung findet § 60 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG schließt nicht nur den Anspruch gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG aus, sondern auch den Anspruch auf Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG. Dies ergibt sich bei systematischer Gesetzesauslegung schon aus § 30 Abs. 4 AsylVfG, wonach ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG vorliegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.03.1999 - 9 C 31.98 -, BVerwGE 109, 1; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008 - 15 A 620/07.A -, juris, OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 01.12.2006 - 10 A 10887/06 -, juris).
23 
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG liegen insoweit vor, als der Kläger durch (rechtskräftiges) Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 02.11.2000 wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 22 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden ist.
24 
Weiter zu prüfen ist, ob der Kläger auch noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt als Gefahr für die Allgemeinheit i.S.v. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG anzusehen ist. Dabei ist spezialpräventiv auf die von dem Ausländer konkret ausgehende Wiederholungs- oder Rückfallgefahr abzustellen. Das bedeutet, dass in Zukunft eine Gefahr für die Allgemeinheit durch neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft drohen muss, die lediglich entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten genügt dagegen nicht. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zu dem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Dabei ist die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegende Wertung zu beachten, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind. Allein der Umstand, dass der Ausländer die Freiheitsstrafe verbüßt hat, lässt nicht auf einen Wegfall des Wiederholungsrisikos schließen. Denn rechtskräftige Verurteilungen im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG führen regelmäßig zur Verbüßung der Freiheitsstrafe, da eine Aussetzung ihrer Vollstreckung zur Bewährung nach § 56 StGB wegen der Strafhöhe von vornherein nicht in Betracht kommt. Würde der bloße mit der Strafverbüßung verbundene Zeitablauf regelmäßig zum Wegfall des Ausschlussgrundes führen, liefe die Vorschrift praktisch weitgehend leer. Dies gilt zumal in Asylverfahren, da es hier gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG im Falle eines Rechtsstreits auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, BVerwGE 112, 185 ff. zu der inhaltsgleichen Vorgängerregelung in § 51 Abs. 3 AuslG a.F.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.).
25 
Von diesen Grundsätzen ausgehend ist beim Kläger eine konkrete Wiederholungsgefahr der Begehung neuer vergleichbarer Straftaten zu bejahen.
26 
Insofern spricht gegen den Kläger bereits das typischerweise hohe Wiederholungsrisiko bei Straftaten, die eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren nach sich gezogen haben, zumal im vorliegenden Fall die verhängte Strafe die gesetzliche Mindeststrafe des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG um zwei Jahre übersteigt. Die vom Kläger verwirklichte Straftat gemäß § 92b Abs. 1 AuslG a.F. gehört zu den besonders schweren Formen des Schleusens illegaler Ausländer und ist Ausdruck erheblicher krimineller Energie. Zu Gunsten des Klägers spricht nach dem Strafurteil vom 02.11.2000 im Wesentlichen, dass er schon bei seiner polizeilichen Vernehmung Taten angegeben hat, die sonst nicht bekannt geworden wären, und er auch einen Großteil der Taten in der strafrechtlichen Hauptverhandlung einräumte. Hinzu kommen sein von Reue getragenes Geständnis und der Umstand, dass ihn die erlittene (Untersuchungs-)Haft als Erstverbüßer, der zudem der deutschen Sprache nicht mächtig ist, besonders hart trifft. Zu Lasten des Klägers ist nach den Ausführungen des Strafgerichts dagegen zu berücksichtigen, dass er im Rahmen der Stuttgarter Gruppierung Organisator eigener Schleusungsfahrten war und es sich um eine Vielzahl von Taten handelte, die teilweise innerhalb sehr kurzer Zeiträume begangen wurden. Hierbei wurde vom Strafgericht allerdings auch berücksichtigt, dass mit zunehmender Anzahl der Taten die zu überwindende Hemmschwelle abnahm. Zu Lasten des Klägers wurde weiter berücksichtigt, dass er die in Belgien erlittene Haft als Warnung nicht beachtet und nach seiner Haftentlassung die Schleusertätigkeit fast umgehend wieder aufgenommen hat. Gegen den Kläger spricht nach dem Strafurteil weiterhin die Vorbestrafung, auch wenn es sich hierbei lediglich um Verurteilungen zu Geldstrafen gehandelt hat. Der Kläger hat mit seinem Verhalten gezeigt, dass er bereit ist, gegebenenfalls seinen Lebensunterhalt auch mit schwerwiegenden Verstößen gegen die Rechtsordnung zu bestreiten.
27 
Der Beschluss des Landgerichts Karlsruhe - Auswärtige Strafvollstreckungskammer Pforzheim - vom 07.03.2003 (- StVK 137/03 -), mit dem die weitere Vollstreckung der Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 02.11.2000 zur Bewährung ausgesetzt worden ist, steht der Annahme einer Wiederholungsgefahr ebenso wenig entgegen wie der Beschluss vom 16.06.2005, mit dem die Bewährungszeit des Klägers um ein Jahr auf insgesamt vier Jahre (bis 21.03.2007) verlängert worden ist. Die im Zusammenhang mit der Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zu treffende Entscheidung der Strafgerichte bindet weder die für die Anwendung des § 60 Abs. 8 AufenthG zuständigen Behörden noch die Verwaltungsgerichte (vgl. BVerwG, Urteile vom 31.03.1998 - 1 C 28.97 -, NVwZ 1998, 740, und vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, NVwZ 2001, 442; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.) Das Bundesamt bzw. das dessen Entscheidungen überprüfende Verwaltungsgericht haben vielmehr eine eigenständige Prognose bezüglich des Bestehens einer Wiederholungsgefahr zu treffen. Dies gilt schon deshalb, weil der anzulegende Prognosemaßstab in beiden Fällen ein anderer ist (vgl. zu § 57 Abs. 1 StGB: BVerwG, Urteil vom 16.11.2000, a.a.O.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.). Bei der strafgerichtlichen Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung stehen naturgemäß Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund (auch wenn gemäß der seit 1998 geltenden Fassung des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit besonders zu berücksichtigen ist). Eine günstige Sozialprognose in dem Sinn, dass verantwortet werden kann, den Verurteilten in Freiheit zu erproben, setzt keine weitgehende Gewissheit des Erfolgs der Bewährungsaussetzung voraus, sondern kann auch bei Bestehen eines gewissen Restrisikos getroffen werden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 26.02.1999 - 2 WS 14/99 -, StraFO 1999,175). Dabei kann das Strafgericht zu einer günstigen Sozialprognose auch unter Heranziehung der Erwägung gelangen, dass der von der Vollstreckung ausgesetzte Strafrest einen nachhaltigen Druck auf den Verurteilten ausüben wird, sich in der Bewährungszeit straffrei zu verhalten (vgl. BGH, Beschluss vom 15.01.1990 - 1 StE 3/81 StB 39/89 -, EzSt StGB § 57 Nr. 1). Demgegenüber haben Ausländerbehörde und Verwaltungsgericht ausschließlich ordnungsbehördliche Überlegungen anzustellen, in deren Mittelpunkt der Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten des Ausländers steht. Sie sind, da Resozialisierungsgesichtspunkte bzw. den obigen Überlegungen vergleichbare Vorgaben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielen, bei der Einschätzung des Maßes der Wiederholungsgefahr nicht gehalten, ein gleich großes Restrisiko in Kauf zu nehmen wie die Strafgerichte. Ihre Prognose orientiert sich daher im Regelfall an strengeren Kriterien. Unabhängig davon verlangt die ausländerrechtlich erforderliche Prognose - im Gegensatz zu der der Strafgerichte im Rahmen des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB - eine über die Bewährungsdauer hinausgehende längerfristige Gefahrenprognose (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000, a.a.O.). Das bedeutet, dass auch die Frage prognostisch zu beantworten ist, ob der Ausländer sich nach Ablauf der Bewährungszeit, d. h. wenn der Druck der bei Bewährungsversagen drohenden Verbüßung der Reststrafe weggefallen ist, voraussichtlich straffrei verhalten wird. Schließlich können Umstände, die den Strafgerichten nicht bekannt gewesen oder von ihnen nicht beachtet worden sind, ebenso wie eine andere Würdigung des feststehenden Sachverhalts zu einer abweichenden Prognoseentscheidung führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000, a.a.O.). Die Entscheidungen der Strafgerichte gemäß § 57 Abs. 1 StGB haben nach alledem lediglich die Bedeutung eines - regelmäßig allerdings gewichtigen - Indizes (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.).
28 
Hiervon ausgehend rechtfertigt der Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom 07.03.2003 nicht die Annahme, dass von dem Kläger auch längerfristig keine Gefahr für die Allgemeinheit i.S.v. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG mehr ausgeht. Das Gericht war davon überzeugt, dass die lange Dauer der Untersuchungs- und der anschließenden Vollstreckungshaft ausreichend Eindruck auf den Kläger gemacht habe, sich künftig straffrei zu führen. Die nachfolgenden - wenn auch nur mit Geldstrafen geahndeten - drei Straftaten zeigen jedoch, dass diese Annahme verfehlt war. Der Kläger hat die erste Straftat nach der Verurteilung vom 02.11.2000 am 14.11.2004 und damit noch innerhalb seiner Bewährungszeit begangen. Der Diebstahl einer geringwertigen Sache erfolgte unter Ausnutzung seines damaligen Arbeitsverhältnisses als Reinigungskraft und führte zur Verhängung einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen durch Strafbefehl des Amtsgerichts Limburg an der Lahn vom 28.02.2005. Daraufhin wurde die Bewährungszeit des Klägers um ein Jahr verlängert. Der Kläger hat sich mit diesem straffälligen Verhalten dem Risiko eines Widerrufs der Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus der Verurteilung vom 02.11.2000 ausgesetzt. Der Druck der Bewährungszeit und die damit drohende (weitere) Strafhaft haben ihn nicht von der Begehung einer Straftat abgehalten. Darüber hinaus hat er durch den Diebstahl im Rahmen seiner damaligen Beschäftigung auch arbeitsrechtliche Konsequenzen in Kauf genommen. Das Landgericht konnte bei seiner Prognose auch das Verhalten des Klägers nach der (verlängerten) Bewährungszeit nicht berücksichtigen. Dieser hat unmittelbar, nachdem mit Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom 10.04.2007 die zur Bewährung ausgesetzte Restfreiheitsstrafe erlassen worden war, am 14.04.2007 einen weiteren Diebstahl begangen, der mit Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 09.05.2007 mit einer Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen geahndet wurde. Hinzu kamen die am 15.10.2007 verwirklichten gefährlichen Eingriffe in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Gefährdung des Straßenverkehrs und Nötigung gemäß §§ 315b Abs. 1 Nr. 2 und 3, 315c Abs. 1 Nr. 2b, 240 Abs. 1, 52, 69, 69a StGB, die zu einer vom Amtsgericht Tübingen mit Strafbefehl vom 29.01.2008 verhängten Geldstrafe von 50 Tagessätzen führten. Damit hat der Kläger Straftaten innerhalb seiner Bewährungszeit, unmittelbar danach und auch im zeitlichen Abstand dazu verwirklicht. Die verbüßte Haftstrafe - selbst teilweise der Bewährungsdruck - hat ihn nicht von der Verwirklichung weiterer Straftaten abgehalten und damit erkennbar nicht ausreichend Eindruck auf ihn gemacht, sich künftig straffrei zu führen, wovon das Landgericht Karlsruhe bei der Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung ausgegangen ist.
29 
Zwar hat sich mit der Geburt seines Sohnes im Juli 2008 die familiäre Situation des Klägers geändert. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass den Kläger das Zusammenleben mit seiner religiös angetrauten Ehefrau und deren leiblicher Tochter bislang nicht davon abgehalten hat, weitere Straftaten zu begehen, zumal es sich bei seiner Ehefrau um eine mitangeklagte Mittäterin des mit Strafurteil vom 02.11.2000 geahndeten gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 22 Fällen handelt. Auch wenn er seit der Verurteilung vom 02.11.2000 keine Straftaten von vergleichbarem Gewicht mehr verwirklicht hat, kann unter Berücksichtigung sämtlicher für und gegen den Kläger sprechenden Umstände derzeit eine positive längerfristige Prognose dahingehend, dass er keine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, (noch) nicht gestellt werden.
30 
Ob das Bundesamt den Widerruf unverzüglich im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ausgesprochen hat, ist nicht entscheidungserheblich. Die Pflicht zum unverzüglichen Widerruf dient ausschließlich öffentlichen Interessen. Ein etwaiger Verstoß hiergegen verletzt keine Rechte des betroffenen Ausländers (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005, a.a.O.).
31 
§ 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG steht der Widerrufsentscheidung des Bundesamts nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte). Dadurch soll der Sondersituation solcher Personen Rechnung getragen werden, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Flüchtlingsschicksal erlitten haben und denen es deshalb selbst lange Zeit danach - auch ungeachtet etwaiger veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005, a.a.O.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.11.2007 - A 6 S 1097/05 -, juris). Eine derartiges Verfolgungsschicksal hat der Kläger nach dem seinem Asylbegehren stattgebenden Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 20.01.1998 nicht erlitten. Er hat sich auf derartige Gründe auch im Übrigen nicht berufen.
32 
§ 73 Abs. 2a AsylVfG steht der Widerrufsentscheidung des Bundesamts ebenfalls nicht entgegen.
33 
Schließlich bedarf es keiner Entscheidung, ob die Jahresfrist nach §§ 49 Abs. 2 Satz 2, 48 Abs. 4 VwVfG bei Widerrufsentscheidungen gemäß § 73 Abs. 1 AsylVfG zu beachten ist. Die Jahresfrist wäre hier eingehalten. Ihr Lauf beginnt frühestens nach einer Anhörung des Ausländers mit einer angemessenen Frist zur Stellungnahme (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.11.2005, a.a.O., und vom 08.05.2003 - 1 C 15.02 -, BVerwGE 118, 174). Der Widerrufsbescheid erging am 12.07.2005, nachdem das Bundesamt dem Kläger durch Schreiben vom 13.10.2004 Gelegenheit zur Stellungnahme binnen eines Monats gegeben hatte.
34 
Ist der Widerruf nach dem Vorstehenden bereits gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG wegen der rechtskräftigen Verurteilung des Klägers vom 02.11.2000 und der von diesem nach wie vor ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit gerechtfertigt, so kommt es für dessen Rechtmäßigkeit nicht entscheidungserheblich darauf an, ob sich die tatsächliche Verfolgungssituation des Klägers in Sri Lanka geändert hat, wovon das Bundesamt noch im Bescheid vom 12.07.2005 ausgegangen ist.
35 
Erweist sich somit der angefochtene Widerruf als rechtmäßig, so ist des Weiteren nicht zu beanstanden, dass die Beklagte im Zusammenhang damit festgestellt hat, dass auch die Voraussetzungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen. Die Ermächtigungsgrundlage hierfür ergibt sich aus einer Rechtsanalogie zu den §§ 24 Abs. 2, 31 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, 32, 39 Abs. 2 sowie 73 Abs. 1 bis 3 AsylVfG. Im Hinblick darauf, dass § 60 AufenthG die früheren §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG a.F. ersetzt, gilt nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nichts anderes (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.). Im Übrigen hat die Feststellung ohnehin keinen selbständigen Regelungscharakter. Denn das Nichtvorliegen der genannten Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Widerruf ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des ausgesprochenen Widerrufs (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 38.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 27) und (bereits) in diesem Zusammenhang geprüft worden.
36 
2. Die Klage hat Erfolg, soweit der Kläger - hilfsweise - unter Aufhebung von Nr. 4 des Bescheids des Bundesamts vom 12.07.2005 die Verpflichtung der Beklagten begehrt festzustellen, dass bei ihm ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Sri Lanka nach § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt.
37 
Die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wird durch § 60 Abs. 8 AufenthG nicht ausgeschlossen (vgl. zu § 53 AuslG: BVerfG, Beschluss vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142; BVerwG, Urteil vom 30.03.1999 - 9 C 31.98 -, BVerwGE 109, 1).
38 
Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. § 60 Abs. 2 AufenthG erfasst nicht nur ver-folgungsunabhängige, sondern auch verfolgungstypische Gefahren, die in den Anwendungsbereich des Art. 16a GG und des § 60 Abs. 1 AufenthG fallen.
39 
Erheblich sind die in § 60 Abs. 2 AufenthG benannten Gefahren bzw. Repressalien grundsätzlich nur dann, wenn sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Allerdings gilt - was die Beklagte verkennt - gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12, - Qualifikationsrichtlinie -) im Fall bereits erlittener Schädigung eine Beweiserleichterung. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die Voraussetzungen von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie liegen in der Person des Klägers vor.
40 
Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Stuttgart im Urteil vom 20.01.1998 war der Kläger, der aufgrund vorhandener Narben wegen Verdachts der LTTE-Zugehörigkeit in Sri Lanka durch die Armee festgehalten und misshandelt worden war, von politischer Verfolgung unmittelbar bedroht. Er hat damit Sri Lanka auch nach Maßgabe von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie als Vorverfolgter verlassen (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 -, BVerwGE 128, 199). Es sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass der Kläger bei einer Rückkehr derzeit erneut von einem sonstigen ernsthaften Schaden im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG bedroht wird. Vielmehr ergibt sich aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 07.04.2009, dass sich die Situation für Tamilen in Sri Lanka in den letzten Monaten weiter verschärft hat. Danach gibt es für eine systematische Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen allein wegen ihrer Rasse, Nationalität, Religion oder politischer Überzeugung seit der Aufkündigung des Waffenstillstandabkommens zwischen der Regierung und der LTTE im Januar 2008 immer mehr Anzeichen. Es kommt zu staatlichen repressiven Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen. Davon sind fast ausschließlich Tamilen betroffen, da sie unter dem Generalverdacht stehen, die LTTE zu unterstützen. Tamilen werden nicht allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit systematisch verfolgt, müssen aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - jederzeit mit staatlichen Repressionen rechnen. Die ständigen Razzien, PKW-Kontrollen und Verhaftungen bei Vorliegen schon geringster Verdachtsmomente richten sich vor allem gegen Tamilen. Durch die im Dezember 2006 verfügte Wiederaufnahme des mit dem Waffenstillstandsabkommen 2002 ausgesetzten Sicherheitsgesetzes „Prevention of Terrorism Act“ von 1979 ist die richterliche Kontrolle solcher Verfolgungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wird, muss mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder gar einer Anklageerhebung kommen muss. Jeder, der in den Augen der Sicherheitskräfte der Nähe der LTTE verdächtig ist, muss damit rechnen, verhaftet zu werden. Ein Anfangsverdacht, der LTTE nahe zu stehen, trifft Rückkehrer, die aus den nördlichen oder östlichen Landesteilen stammen und sich nun erstmals in Colombo oder dem Süden niederlassen. Ebenso steht unter Verdacht, wer bereits früher als Anhänger der LTTE auffällig geworden war. Der Kläger, der nicht nur bereits unter LTTE-Verdacht verhaftet und misshandelt worden ist, sondern darüber hinaus aus dem Norden stammt und weiterhin Narben aufweist, muss nach alledem konkret mit einer Verhaftung rechnen. Dass es bei derartigen Verhaftungen auch (erneut) zu Misshandlungen und damit einer zumindest erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG kommen kann, ergibt sich ebenfalls aus dem genannten Lagebericht. Danach hat der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Manfred Novak, nach seinem Sri-Lanka-Besuch im Herbst 2007 festgestellt, dass Folter als gängige Praxis im Rahmen der Terrorismusbekämpfung angewendet wird. Weiter sind dem Auswärtigen Amt im Frühjahr 2007 Fälle bekannt geworden, in denen im Jahr 2005 nach Sri Lanka zurückgeschobene Tamilen von LTTE und Sicherheitskräften gefoltert worden sind.
41 
Nach der maßgeblichen Erkenntnislage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ist danach festzustellen, dass sich die allgemeine politische Lage in Sri Lanka in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte und insbesondere in Bezug auf das Risiko von Tamilen, wegen des Verdachts der Unterstützung der LTTE verfolgt zu werden, im Vergleich zum Jahr 1998 nicht verbessert, sondern eher verschlechtert hat. Auch in der Person des Klägers haben sich keine Änderungen ergeben, die es als zumutbar erscheinen ließen, ihn auf den Schutz seines Heimatstaates zu verweisen. Die Beklagte hat keine stichhaltigen Gründe aufgezeigt, aus denen sich ergeben könnte, dass der vorverfolgt ausgereiste Kläger bei einer Rückkehr nicht (erneut) von einem sonstigen ernsthaften Schaden im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG bedroht wird. Derartige stichhaltige Gründe ergeben sich zunächst nicht aus dem Vortrag der Beklagten, dass die LTTE gegenwärtig nur noch ein Gebiet in der Größe von ca. 60 Quadratkilometern kontrolliere, und deren Vermutung, sofern die Rebellen - erwartungsgemäß - deshalb zukünftig einen Guerillakampf führen würden, sei davon auszugehen, dass sich die Sicherheitskräfte dann noch gezielter als bisher auf die Bekämpfung aktiver, die Sicherheit des Landes konkret bedrohender LTTE-Angehöriger konzentrieren würden; der Kläger sei dieser Personengruppe nicht zuzurechnen. Dem stehen die Ausführungen im aktuellen Lagebericht vom 07.04.2009 entgegen, wonach es innerhalb Sri Lankas keine Gebiete mehr gibt, in denen die beschriebenen Verfolgungshandlungen nicht ausgeübt werden, auch wenn die Intensität der Bedrohung sich in den einzelnen Landesteilen unterscheidet. Nach der sogenannten „Befreiung“ des von der LTTE infiltrierten Gebiets im Osten durch die Regierung bleibt die Lage dort nach wie vor angespannt. Im Norden herrscht weiter offener Krieg, dessen Ende möglich, aber nicht abzusehen ist. Im Übrigen beruht die von der Beklagten vermutete künftige Entwicklung des Verfolgungsrisikos des Klägers allein auf Spekulation, was zur Feststellung stichhaltiger (Gegen-)Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie nicht ausreicht. Auch soweit die Beklagte ausführt, für nach Colombo zurückkehrende Tamilen bestehe keine generelle Gefahr einer menschenunwürdigen Behandlung, allein im Großraum der Hauptstadt Colombo lebten mehr als 300.000 Tamilen und Kontrollen und Inhaftierungen beträfen lediglich einen Personenkreis von ca. 60 Betroffenen pro Woche, die zudem mehrheitlich nach der Personenkontrolle wieder freigelassen würden, erschüttert sie damit nicht den sich gemäß Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie aus der Vorverfolgung des Klägers ergebenden Hinweis, dass dieser bei einer Rückkehr nach Sri Lanka tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden (im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG) zu erleiden.
42 
Offen bleiben kann die vom Bundesverwaltungsgericht dem Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften mit Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - (juris) vorgelegte Frage, ob Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie einen inneren Zusammenhang zwischen einer erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung und dem Sachverhalt, der bei einer Rückkehr erneut zu einer Verfolgung führen könnte, voraussetzt, denn dieser Zusammenhang ist vorliegend gegeben. Die Vorverfolgung, die den Kläger zur Ausreise aus Sri Lanka veranlasst hat, unterscheidet sich nicht von der ihm derzeit bei einer Rückkehr drohenden Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG.
43 
Über die weiteren Hilfsanträge braucht der Senat nicht zu entscheiden, da sie nur für den Fall gestellt sind, dass der (erste) Hilfsantrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG keinen Erfolg hat.
44 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 83b AsylVfG, wobei der Senat von einem „Wert“ des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG von etwa 1/3 ausgeht (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 9.5.1998 - 9 C 5.98 -, AuAS 1998, 224).
45 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
18 
Der Senat konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten verhandeln und entscheiden; denn auf diese Möglichkeit war in der auch im Übrigen ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen worden (§§ 125 Abs. 1, 102 Abs. 2 VwGO).
19 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist zum Teil begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht in vollem Umfang abgewiesen. Zwar erweist sich der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 12.07.2005 im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG) als rechtmäßig, soweit die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter sowie die mit Bescheid vom 19.03.1998 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. vorliegen, widerrufen worden sind und festgestellt wird, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen (hierzu unter 1.). Der streitgegenständliche Bescheid ist aber rechtswidrig, soweit er unter Nr. 4 feststellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, denn der Kläger hat - wie hilfsweise begehrt - einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Sri Lanka nach § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt (hierzu unter 2.).
20 
1. Ermächtigungsgrundlage für die Widerrufsentscheidung des Bundesamts ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Diese Bestimmung ist verfassungsgemäß (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21.04 -, DVBl. 2006, 511).
21 
Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind - vorbehaltlich des Satzes 3 - die Asylanerkennung und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. die bisherige Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG a.F.) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Das ist hier der Fall.
22 
Die Voraussetzungen sind gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG weggefallen. Nach dieser Bestimmung findet § 60 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG schließt nicht nur den Anspruch gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG aus, sondern auch den Anspruch auf Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG. Dies ergibt sich bei systematischer Gesetzesauslegung schon aus § 30 Abs. 4 AsylVfG, wonach ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG vorliegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.03.1999 - 9 C 31.98 -, BVerwGE 109, 1; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008 - 15 A 620/07.A -, juris, OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 01.12.2006 - 10 A 10887/06 -, juris).
23 
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG liegen insoweit vor, als der Kläger durch (rechtskräftiges) Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 02.11.2000 wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 22 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden ist.
24 
Weiter zu prüfen ist, ob der Kläger auch noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt als Gefahr für die Allgemeinheit i.S.v. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG anzusehen ist. Dabei ist spezialpräventiv auf die von dem Ausländer konkret ausgehende Wiederholungs- oder Rückfallgefahr abzustellen. Das bedeutet, dass in Zukunft eine Gefahr für die Allgemeinheit durch neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft drohen muss, die lediglich entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten genügt dagegen nicht. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zu dem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Dabei ist die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegende Wertung zu beachten, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind. Allein der Umstand, dass der Ausländer die Freiheitsstrafe verbüßt hat, lässt nicht auf einen Wegfall des Wiederholungsrisikos schließen. Denn rechtskräftige Verurteilungen im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG führen regelmäßig zur Verbüßung der Freiheitsstrafe, da eine Aussetzung ihrer Vollstreckung zur Bewährung nach § 56 StGB wegen der Strafhöhe von vornherein nicht in Betracht kommt. Würde der bloße mit der Strafverbüßung verbundene Zeitablauf regelmäßig zum Wegfall des Ausschlussgrundes führen, liefe die Vorschrift praktisch weitgehend leer. Dies gilt zumal in Asylverfahren, da es hier gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG im Falle eines Rechtsstreits auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, BVerwGE 112, 185 ff. zu der inhaltsgleichen Vorgängerregelung in § 51 Abs. 3 AuslG a.F.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.).
25 
Von diesen Grundsätzen ausgehend ist beim Kläger eine konkrete Wiederholungsgefahr der Begehung neuer vergleichbarer Straftaten zu bejahen.
26 
Insofern spricht gegen den Kläger bereits das typischerweise hohe Wiederholungsrisiko bei Straftaten, die eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren nach sich gezogen haben, zumal im vorliegenden Fall die verhängte Strafe die gesetzliche Mindeststrafe des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG um zwei Jahre übersteigt. Die vom Kläger verwirklichte Straftat gemäß § 92b Abs. 1 AuslG a.F. gehört zu den besonders schweren Formen des Schleusens illegaler Ausländer und ist Ausdruck erheblicher krimineller Energie. Zu Gunsten des Klägers spricht nach dem Strafurteil vom 02.11.2000 im Wesentlichen, dass er schon bei seiner polizeilichen Vernehmung Taten angegeben hat, die sonst nicht bekannt geworden wären, und er auch einen Großteil der Taten in der strafrechtlichen Hauptverhandlung einräumte. Hinzu kommen sein von Reue getragenes Geständnis und der Umstand, dass ihn die erlittene (Untersuchungs-)Haft als Erstverbüßer, der zudem der deutschen Sprache nicht mächtig ist, besonders hart trifft. Zu Lasten des Klägers ist nach den Ausführungen des Strafgerichts dagegen zu berücksichtigen, dass er im Rahmen der Stuttgarter Gruppierung Organisator eigener Schleusungsfahrten war und es sich um eine Vielzahl von Taten handelte, die teilweise innerhalb sehr kurzer Zeiträume begangen wurden. Hierbei wurde vom Strafgericht allerdings auch berücksichtigt, dass mit zunehmender Anzahl der Taten die zu überwindende Hemmschwelle abnahm. Zu Lasten des Klägers wurde weiter berücksichtigt, dass er die in Belgien erlittene Haft als Warnung nicht beachtet und nach seiner Haftentlassung die Schleusertätigkeit fast umgehend wieder aufgenommen hat. Gegen den Kläger spricht nach dem Strafurteil weiterhin die Vorbestrafung, auch wenn es sich hierbei lediglich um Verurteilungen zu Geldstrafen gehandelt hat. Der Kläger hat mit seinem Verhalten gezeigt, dass er bereit ist, gegebenenfalls seinen Lebensunterhalt auch mit schwerwiegenden Verstößen gegen die Rechtsordnung zu bestreiten.
27 
Der Beschluss des Landgerichts Karlsruhe - Auswärtige Strafvollstreckungskammer Pforzheim - vom 07.03.2003 (- StVK 137/03 -), mit dem die weitere Vollstreckung der Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 02.11.2000 zur Bewährung ausgesetzt worden ist, steht der Annahme einer Wiederholungsgefahr ebenso wenig entgegen wie der Beschluss vom 16.06.2005, mit dem die Bewährungszeit des Klägers um ein Jahr auf insgesamt vier Jahre (bis 21.03.2007) verlängert worden ist. Die im Zusammenhang mit der Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zu treffende Entscheidung der Strafgerichte bindet weder die für die Anwendung des § 60 Abs. 8 AufenthG zuständigen Behörden noch die Verwaltungsgerichte (vgl. BVerwG, Urteile vom 31.03.1998 - 1 C 28.97 -, NVwZ 1998, 740, und vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, NVwZ 2001, 442; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.) Das Bundesamt bzw. das dessen Entscheidungen überprüfende Verwaltungsgericht haben vielmehr eine eigenständige Prognose bezüglich des Bestehens einer Wiederholungsgefahr zu treffen. Dies gilt schon deshalb, weil der anzulegende Prognosemaßstab in beiden Fällen ein anderer ist (vgl. zu § 57 Abs. 1 StGB: BVerwG, Urteil vom 16.11.2000, a.a.O.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.). Bei der strafgerichtlichen Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung stehen naturgemäß Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund (auch wenn gemäß der seit 1998 geltenden Fassung des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit besonders zu berücksichtigen ist). Eine günstige Sozialprognose in dem Sinn, dass verantwortet werden kann, den Verurteilten in Freiheit zu erproben, setzt keine weitgehende Gewissheit des Erfolgs der Bewährungsaussetzung voraus, sondern kann auch bei Bestehen eines gewissen Restrisikos getroffen werden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 26.02.1999 - 2 WS 14/99 -, StraFO 1999,175). Dabei kann das Strafgericht zu einer günstigen Sozialprognose auch unter Heranziehung der Erwägung gelangen, dass der von der Vollstreckung ausgesetzte Strafrest einen nachhaltigen Druck auf den Verurteilten ausüben wird, sich in der Bewährungszeit straffrei zu verhalten (vgl. BGH, Beschluss vom 15.01.1990 - 1 StE 3/81 StB 39/89 -, EzSt StGB § 57 Nr. 1). Demgegenüber haben Ausländerbehörde und Verwaltungsgericht ausschließlich ordnungsbehördliche Überlegungen anzustellen, in deren Mittelpunkt der Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten des Ausländers steht. Sie sind, da Resozialisierungsgesichtspunkte bzw. den obigen Überlegungen vergleichbare Vorgaben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielen, bei der Einschätzung des Maßes der Wiederholungsgefahr nicht gehalten, ein gleich großes Restrisiko in Kauf zu nehmen wie die Strafgerichte. Ihre Prognose orientiert sich daher im Regelfall an strengeren Kriterien. Unabhängig davon verlangt die ausländerrechtlich erforderliche Prognose - im Gegensatz zu der der Strafgerichte im Rahmen des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB - eine über die Bewährungsdauer hinausgehende längerfristige Gefahrenprognose (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000, a.a.O.). Das bedeutet, dass auch die Frage prognostisch zu beantworten ist, ob der Ausländer sich nach Ablauf der Bewährungszeit, d. h. wenn der Druck der bei Bewährungsversagen drohenden Verbüßung der Reststrafe weggefallen ist, voraussichtlich straffrei verhalten wird. Schließlich können Umstände, die den Strafgerichten nicht bekannt gewesen oder von ihnen nicht beachtet worden sind, ebenso wie eine andere Würdigung des feststehenden Sachverhalts zu einer abweichenden Prognoseentscheidung führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000, a.a.O.). Die Entscheidungen der Strafgerichte gemäß § 57 Abs. 1 StGB haben nach alledem lediglich die Bedeutung eines - regelmäßig allerdings gewichtigen - Indizes (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.).
28 
Hiervon ausgehend rechtfertigt der Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom 07.03.2003 nicht die Annahme, dass von dem Kläger auch längerfristig keine Gefahr für die Allgemeinheit i.S.v. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG mehr ausgeht. Das Gericht war davon überzeugt, dass die lange Dauer der Untersuchungs- und der anschließenden Vollstreckungshaft ausreichend Eindruck auf den Kläger gemacht habe, sich künftig straffrei zu führen. Die nachfolgenden - wenn auch nur mit Geldstrafen geahndeten - drei Straftaten zeigen jedoch, dass diese Annahme verfehlt war. Der Kläger hat die erste Straftat nach der Verurteilung vom 02.11.2000 am 14.11.2004 und damit noch innerhalb seiner Bewährungszeit begangen. Der Diebstahl einer geringwertigen Sache erfolgte unter Ausnutzung seines damaligen Arbeitsverhältnisses als Reinigungskraft und führte zur Verhängung einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen durch Strafbefehl des Amtsgerichts Limburg an der Lahn vom 28.02.2005. Daraufhin wurde die Bewährungszeit des Klägers um ein Jahr verlängert. Der Kläger hat sich mit diesem straffälligen Verhalten dem Risiko eines Widerrufs der Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus der Verurteilung vom 02.11.2000 ausgesetzt. Der Druck der Bewährungszeit und die damit drohende (weitere) Strafhaft haben ihn nicht von der Begehung einer Straftat abgehalten. Darüber hinaus hat er durch den Diebstahl im Rahmen seiner damaligen Beschäftigung auch arbeitsrechtliche Konsequenzen in Kauf genommen. Das Landgericht konnte bei seiner Prognose auch das Verhalten des Klägers nach der (verlängerten) Bewährungszeit nicht berücksichtigen. Dieser hat unmittelbar, nachdem mit Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom 10.04.2007 die zur Bewährung ausgesetzte Restfreiheitsstrafe erlassen worden war, am 14.04.2007 einen weiteren Diebstahl begangen, der mit Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 09.05.2007 mit einer Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen geahndet wurde. Hinzu kamen die am 15.10.2007 verwirklichten gefährlichen Eingriffe in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Gefährdung des Straßenverkehrs und Nötigung gemäß §§ 315b Abs. 1 Nr. 2 und 3, 315c Abs. 1 Nr. 2b, 240 Abs. 1, 52, 69, 69a StGB, die zu einer vom Amtsgericht Tübingen mit Strafbefehl vom 29.01.2008 verhängten Geldstrafe von 50 Tagessätzen führten. Damit hat der Kläger Straftaten innerhalb seiner Bewährungszeit, unmittelbar danach und auch im zeitlichen Abstand dazu verwirklicht. Die verbüßte Haftstrafe - selbst teilweise der Bewährungsdruck - hat ihn nicht von der Verwirklichung weiterer Straftaten abgehalten und damit erkennbar nicht ausreichend Eindruck auf ihn gemacht, sich künftig straffrei zu führen, wovon das Landgericht Karlsruhe bei der Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung ausgegangen ist.
29 
Zwar hat sich mit der Geburt seines Sohnes im Juli 2008 die familiäre Situation des Klägers geändert. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass den Kläger das Zusammenleben mit seiner religiös angetrauten Ehefrau und deren leiblicher Tochter bislang nicht davon abgehalten hat, weitere Straftaten zu begehen, zumal es sich bei seiner Ehefrau um eine mitangeklagte Mittäterin des mit Strafurteil vom 02.11.2000 geahndeten gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 22 Fällen handelt. Auch wenn er seit der Verurteilung vom 02.11.2000 keine Straftaten von vergleichbarem Gewicht mehr verwirklicht hat, kann unter Berücksichtigung sämtlicher für und gegen den Kläger sprechenden Umstände derzeit eine positive längerfristige Prognose dahingehend, dass er keine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, (noch) nicht gestellt werden.
30 
Ob das Bundesamt den Widerruf unverzüglich im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ausgesprochen hat, ist nicht entscheidungserheblich. Die Pflicht zum unverzüglichen Widerruf dient ausschließlich öffentlichen Interessen. Ein etwaiger Verstoß hiergegen verletzt keine Rechte des betroffenen Ausländers (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005, a.a.O.).
31 
§ 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG steht der Widerrufsentscheidung des Bundesamts nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte). Dadurch soll der Sondersituation solcher Personen Rechnung getragen werden, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Flüchtlingsschicksal erlitten haben und denen es deshalb selbst lange Zeit danach - auch ungeachtet etwaiger veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005, a.a.O.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.11.2007 - A 6 S 1097/05 -, juris). Eine derartiges Verfolgungsschicksal hat der Kläger nach dem seinem Asylbegehren stattgebenden Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 20.01.1998 nicht erlitten. Er hat sich auf derartige Gründe auch im Übrigen nicht berufen.
32 
§ 73 Abs. 2a AsylVfG steht der Widerrufsentscheidung des Bundesamts ebenfalls nicht entgegen.
33 
Schließlich bedarf es keiner Entscheidung, ob die Jahresfrist nach §§ 49 Abs. 2 Satz 2, 48 Abs. 4 VwVfG bei Widerrufsentscheidungen gemäß § 73 Abs. 1 AsylVfG zu beachten ist. Die Jahresfrist wäre hier eingehalten. Ihr Lauf beginnt frühestens nach einer Anhörung des Ausländers mit einer angemessenen Frist zur Stellungnahme (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.11.2005, a.a.O., und vom 08.05.2003 - 1 C 15.02 -, BVerwGE 118, 174). Der Widerrufsbescheid erging am 12.07.2005, nachdem das Bundesamt dem Kläger durch Schreiben vom 13.10.2004 Gelegenheit zur Stellungnahme binnen eines Monats gegeben hatte.
34 
Ist der Widerruf nach dem Vorstehenden bereits gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG wegen der rechtskräftigen Verurteilung des Klägers vom 02.11.2000 und der von diesem nach wie vor ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit gerechtfertigt, so kommt es für dessen Rechtmäßigkeit nicht entscheidungserheblich darauf an, ob sich die tatsächliche Verfolgungssituation des Klägers in Sri Lanka geändert hat, wovon das Bundesamt noch im Bescheid vom 12.07.2005 ausgegangen ist.
35 
Erweist sich somit der angefochtene Widerruf als rechtmäßig, so ist des Weiteren nicht zu beanstanden, dass die Beklagte im Zusammenhang damit festgestellt hat, dass auch die Voraussetzungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen. Die Ermächtigungsgrundlage hierfür ergibt sich aus einer Rechtsanalogie zu den §§ 24 Abs. 2, 31 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, 32, 39 Abs. 2 sowie 73 Abs. 1 bis 3 AsylVfG. Im Hinblick darauf, dass § 60 AufenthG die früheren §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG a.F. ersetzt, gilt nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nichts anderes (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.). Im Übrigen hat die Feststellung ohnehin keinen selbständigen Regelungscharakter. Denn das Nichtvorliegen der genannten Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Widerruf ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des ausgesprochenen Widerrufs (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 38.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 27) und (bereits) in diesem Zusammenhang geprüft worden.
36 
2. Die Klage hat Erfolg, soweit der Kläger - hilfsweise - unter Aufhebung von Nr. 4 des Bescheids des Bundesamts vom 12.07.2005 die Verpflichtung der Beklagten begehrt festzustellen, dass bei ihm ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Sri Lanka nach § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt.
37 
Die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wird durch § 60 Abs. 8 AufenthG nicht ausgeschlossen (vgl. zu § 53 AuslG: BVerfG, Beschluss vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142; BVerwG, Urteil vom 30.03.1999 - 9 C 31.98 -, BVerwGE 109, 1).
38 
Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. § 60 Abs. 2 AufenthG erfasst nicht nur ver-folgungsunabhängige, sondern auch verfolgungstypische Gefahren, die in den Anwendungsbereich des Art. 16a GG und des § 60 Abs. 1 AufenthG fallen.
39 
Erheblich sind die in § 60 Abs. 2 AufenthG benannten Gefahren bzw. Repressalien grundsätzlich nur dann, wenn sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Allerdings gilt - was die Beklagte verkennt - gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12, - Qualifikationsrichtlinie -) im Fall bereits erlittener Schädigung eine Beweiserleichterung. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die Voraussetzungen von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie liegen in der Person des Klägers vor.
40 
Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Stuttgart im Urteil vom 20.01.1998 war der Kläger, der aufgrund vorhandener Narben wegen Verdachts der LTTE-Zugehörigkeit in Sri Lanka durch die Armee festgehalten und misshandelt worden war, von politischer Verfolgung unmittelbar bedroht. Er hat damit Sri Lanka auch nach Maßgabe von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie als Vorverfolgter verlassen (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 -, BVerwGE 128, 199). Es sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass der Kläger bei einer Rückkehr derzeit erneut von einem sonstigen ernsthaften Schaden im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG bedroht wird. Vielmehr ergibt sich aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 07.04.2009, dass sich die Situation für Tamilen in Sri Lanka in den letzten Monaten weiter verschärft hat. Danach gibt es für eine systematische Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen allein wegen ihrer Rasse, Nationalität, Religion oder politischer Überzeugung seit der Aufkündigung des Waffenstillstandabkommens zwischen der Regierung und der LTTE im Januar 2008 immer mehr Anzeichen. Es kommt zu staatlichen repressiven Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen. Davon sind fast ausschließlich Tamilen betroffen, da sie unter dem Generalverdacht stehen, die LTTE zu unterstützen. Tamilen werden nicht allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit systematisch verfolgt, müssen aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - jederzeit mit staatlichen Repressionen rechnen. Die ständigen Razzien, PKW-Kontrollen und Verhaftungen bei Vorliegen schon geringster Verdachtsmomente richten sich vor allem gegen Tamilen. Durch die im Dezember 2006 verfügte Wiederaufnahme des mit dem Waffenstillstandsabkommen 2002 ausgesetzten Sicherheitsgesetzes „Prevention of Terrorism Act“ von 1979 ist die richterliche Kontrolle solcher Verfolgungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wird, muss mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder gar einer Anklageerhebung kommen muss. Jeder, der in den Augen der Sicherheitskräfte der Nähe der LTTE verdächtig ist, muss damit rechnen, verhaftet zu werden. Ein Anfangsverdacht, der LTTE nahe zu stehen, trifft Rückkehrer, die aus den nördlichen oder östlichen Landesteilen stammen und sich nun erstmals in Colombo oder dem Süden niederlassen. Ebenso steht unter Verdacht, wer bereits früher als Anhänger der LTTE auffällig geworden war. Der Kläger, der nicht nur bereits unter LTTE-Verdacht verhaftet und misshandelt worden ist, sondern darüber hinaus aus dem Norden stammt und weiterhin Narben aufweist, muss nach alledem konkret mit einer Verhaftung rechnen. Dass es bei derartigen Verhaftungen auch (erneut) zu Misshandlungen und damit einer zumindest erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG kommen kann, ergibt sich ebenfalls aus dem genannten Lagebericht. Danach hat der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Manfred Novak, nach seinem Sri-Lanka-Besuch im Herbst 2007 festgestellt, dass Folter als gängige Praxis im Rahmen der Terrorismusbekämpfung angewendet wird. Weiter sind dem Auswärtigen Amt im Frühjahr 2007 Fälle bekannt geworden, in denen im Jahr 2005 nach Sri Lanka zurückgeschobene Tamilen von LTTE und Sicherheitskräften gefoltert worden sind.
41 
Nach der maßgeblichen Erkenntnislage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ist danach festzustellen, dass sich die allgemeine politische Lage in Sri Lanka in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte und insbesondere in Bezug auf das Risiko von Tamilen, wegen des Verdachts der Unterstützung der LTTE verfolgt zu werden, im Vergleich zum Jahr 1998 nicht verbessert, sondern eher verschlechtert hat. Auch in der Person des Klägers haben sich keine Änderungen ergeben, die es als zumutbar erscheinen ließen, ihn auf den Schutz seines Heimatstaates zu verweisen. Die Beklagte hat keine stichhaltigen Gründe aufgezeigt, aus denen sich ergeben könnte, dass der vorverfolgt ausgereiste Kläger bei einer Rückkehr nicht (erneut) von einem sonstigen ernsthaften Schaden im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG bedroht wird. Derartige stichhaltige Gründe ergeben sich zunächst nicht aus dem Vortrag der Beklagten, dass die LTTE gegenwärtig nur noch ein Gebiet in der Größe von ca. 60 Quadratkilometern kontrolliere, und deren Vermutung, sofern die Rebellen - erwartungsgemäß - deshalb zukünftig einen Guerillakampf führen würden, sei davon auszugehen, dass sich die Sicherheitskräfte dann noch gezielter als bisher auf die Bekämpfung aktiver, die Sicherheit des Landes konkret bedrohender LTTE-Angehöriger konzentrieren würden; der Kläger sei dieser Personengruppe nicht zuzurechnen. Dem stehen die Ausführungen im aktuellen Lagebericht vom 07.04.2009 entgegen, wonach es innerhalb Sri Lankas keine Gebiete mehr gibt, in denen die beschriebenen Verfolgungshandlungen nicht ausgeübt werden, auch wenn die Intensität der Bedrohung sich in den einzelnen Landesteilen unterscheidet. Nach der sogenannten „Befreiung“ des von der LTTE infiltrierten Gebiets im Osten durch die Regierung bleibt die Lage dort nach wie vor angespannt. Im Norden herrscht weiter offener Krieg, dessen Ende möglich, aber nicht abzusehen ist. Im Übrigen beruht die von der Beklagten vermutete künftige Entwicklung des Verfolgungsrisikos des Klägers allein auf Spekulation, was zur Feststellung stichhaltiger (Gegen-)Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie nicht ausreicht. Auch soweit die Beklagte ausführt, für nach Colombo zurückkehrende Tamilen bestehe keine generelle Gefahr einer menschenunwürdigen Behandlung, allein im Großraum der Hauptstadt Colombo lebten mehr als 300.000 Tamilen und Kontrollen und Inhaftierungen beträfen lediglich einen Personenkreis von ca. 60 Betroffenen pro Woche, die zudem mehrheitlich nach der Personenkontrolle wieder freigelassen würden, erschüttert sie damit nicht den sich gemäß Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie aus der Vorverfolgung des Klägers ergebenden Hinweis, dass dieser bei einer Rückkehr nach Sri Lanka tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden (im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG) zu erleiden.
42 
Offen bleiben kann die vom Bundesverwaltungsgericht dem Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften mit Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - (juris) vorgelegte Frage, ob Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie einen inneren Zusammenhang zwischen einer erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung und dem Sachverhalt, der bei einer Rückkehr erneut zu einer Verfolgung führen könnte, voraussetzt, denn dieser Zusammenhang ist vorliegend gegeben. Die Vorverfolgung, die den Kläger zur Ausreise aus Sri Lanka veranlasst hat, unterscheidet sich nicht von der ihm derzeit bei einer Rückkehr drohenden Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG.
43 
Über die weiteren Hilfsanträge braucht der Senat nicht zu entscheiden, da sie nur für den Fall gestellt sind, dass der (erste) Hilfsantrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG keinen Erfolg hat.
44 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 83b AsylVfG, wobei der Senat von einem „Wert“ des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG von etwa 1/3 ausgeht (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 9.5.1998 - 9 C 5.98 -, AuAS 1998, 224).
45 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 25. Mai 2007 - A 3 K 10535/05 - geändert. Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des - gerichtkostenfreien - Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Flüchtlingseigenschaft.
Der Kläger, ein nach seinen Angaben am 1.1.1975 in Kirkuk/Irak geborener irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, reiste 2001 in das Bundesgebiet ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung berief er sich darauf, dass er - wenn auch unwissentlich - am Schmuggel von Devisen und CDs für die Opposition gegen Saddam Hussein beteiligt gewesen sei. Er befürchte deshalb, dass er der Zugehörigkeit zur Opposition beschuldigt werde.
Das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, im Folgenden: Bundesamt) lehnte durch Bescheid vom 4.4.2001 den Asylantrag ab, stellte zugleich aber fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes hinsichtlich des Iraks vorliegen, da aufgrund der illegalen Ausreise des Klägers aus seinem Heimatland sowie des Umstands, dass er in Deutschland einen Asylantrag gestellt habe, nicht ausgeschlossen werden könne, dass er bei einer Rückkehr in den Irak mit Verfolgung zu rechnen habe.
Nach vorheriger Anhörung des Klägers widerrief das Bundesamt mit Bescheid vom 23.6.2005 die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung führte es aus, von dem ehemaligen Regime Saddam Husseins könne keine politische Verfolgung mehr ausgehen. Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger von der irakischen Übergangsregierung politische Verfolgung drohe, gebe es nicht. Das Vorliegen einer individuell konkreten Gefahr sei nicht dargelegt worden. Die angespannte Sicherheits- und Versorgungslage stelle eine allgemeine Gefahr i.S.d. § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG dar. Die schlechte Sicherheits- und Versorgungslage begründe keine Extremgefahr.
Der Kläger hat am 12.7.2005 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage erhoben und beantragt, den Bescheid des Bundesamts vom 23.6.2005 aufzuheben, hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung des insoweit entgegenstehenden Bescheids zu verpflichten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in Bezug auf den Irak festzustellen.
Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt.
Durch Urteil vom 25.5.2007 hat das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamts vom 23.6.2005 aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der durch das Zuwanderungsgesetz vom 30.07.2004 geltenden Fassung lägen nicht vor. Es könne offen bleiben, ob nach Art. 1 C Nr. 5 GFK dem Flüchtling eine Rückkehr erst dann zumutbar sei, wenn in seinem Herkunftsstaat eine weitgehend funktionierende Regierung vorhanden sei, die sich grundlegender Verwaltungsstrukturen bedienen könne, um eine angemessene Infrastruktur aufzubauen und zu unterhalten, innerhalb derer die Einwohner ihr Recht auf eine Existenzgrundlage wahrnehmen könnten. Sowohl der Wortlaut als auch Sinn und Zweck der Regelung dürften eine solche Auslegung nahe legen. Jedenfalls müssten im Herkunftsland Verhältnisse herrschen, die mit hinreichender Sicherheit eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG ausschlössen. Danach lägen die Voraussetzungen für ein Widerruf der Flüchtlingseigenschaft des Klägers nicht vor. Zwar habe sich die Situation im Irak seit der Gewährung von Abschiebungsschutz insoweit grundlegend geändert, als das Regime Saddam Husseins durch den Einsatz amerikanischer und verbündeter Truppen beseitigt worden sei und die damals herrschenden Gruppen keine staatliche Macht mehr ausübten. Auch könne aufgrund der vorliegenden Informationen davon ausgegangen werden, dass dieses Regime nicht wieder an die Macht kommen werde. Es sei jedoch nicht hinreichend sicher, dass dem Kläger als besonders hervorgetretener Kritiker des Saddam-Regimes keine Verfolgung durch Anhänger dieses Regimes drohe, vor der ihm weder irakische Sicherheitskräfte noch multinationale Streitkräfte Schutz böten. Auch stehe ihm als Kurden aus Kirkuk keine inländische Fluchtalternative in den kurdisch verwalteten Provinzen des Nordirak zu Verfügung.
Auf Antrag der Beklagten hat der Senat mit Beschluss vom 9.2.2009 die Berufung zugelassen.
Die Beklagte beantragt,
10 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 25.5.2007 - A 3 K 10535/05 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
11 
Der Kläger beantragt,
12 
die Berufung zurückzuweisen.
13 
Dem Senat liegen die angefallenen Akten des Bundesamts und die des Verwaltungsgerichts vor. Auf deren Inhalt und auf die mit dem Schreiben vom 12. März 2010 mitgeteilten Erkenntnismittel wird wegen der weiteren Einzelheiten verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
14 
Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben, da der Widerruf der Feststellung, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, rechtmäßig ist und den Kläger daher nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Bescheid ferner zutreffend festgestellt, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2, 3, und 7 Satz 1 und 2 AufenthG nicht vorliegen.
15 
1. Der Widerruf der vom Bundesamt am 4.4.2001 getroffenen Feststellung, dass in der Person des Klägers der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gegeben sind, ist durch § 73 Abs. 1 AsylVfG gedeckt.
16 
Die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, ist nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist nach Satz 2 insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Dies gilt nach Satz 3 nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann. Danach muss die asylrelevante Verfolgungsgefahr objektiv entfallen sein, d.h. die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse müssen sich nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so geändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. Das ist hier der Fall.
17 
a) Wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise aus dem Irak drohen dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine politischen Verfolgungsmaßnahmen (mehr). Das im Zeitpunkt des Erlasses des widerrufenen Bescheids noch herrschende Baath-Regime hat seit der Festnahme, Verurteilung und Hinrichtung Saddam Husseins seine politische Macht über den Irak unumkehrbar verloren. Damit hat ein Verhalten, das unter der Herrschaft Saddam Husseins zu einer Gefährdung hätte führen können, wie die damals illegale Ausreise aus dem Irak, das illegale Verbleiben im Ausland und die Asylantragstellung, seine asylrechtliche Bedeutung verloren. Das Gleiche gilt für die vom Kläger behauptete, vom Bundesamt allerdings nicht festgestellte Tätigkeit für die Opposition gegen das frühere Regime.
18 
b) Dem Kläger droht auch nicht aus anderen Gründen asylrechtlich relevante Verfolgung. Nach § 60 Abs. 1 AufenthG in der Fassung der Neubekanntmachung vom 25.2.2008 (BGBl. I 162) darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Gemäß Satz 4 dieser Vorschrift kann eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Gemäß Satz 5 sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sogenannte Qualifikationsrichtlinie) ergänzend anzuwenden.
19 
Nach diesem Maßstab droht dem Kläger im Irak keine asylrechtlich relevante Verfolgung. Das Verwaltungsgericht hat zwar angenommen, dass der Kläger "als exponierter Kritiker des Regimes Saddam Husseins" vor einer Verfolgung durch Anhänger dieses Systems nicht hinreichend sicher sei und weder die irakischen Sicherheitskräfte noch die multinationalen Streitkräfte in der Lage seien, Schutz vor einer solchen Verfolgung zu bieten und dass keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Den im verwaltungsgerichtlichen Urteil getroffenen Feststellungen können jedoch keine Anhaltspunkte für eine erkennbare Gegnerschaft des Klägers gegen das Regime Saddam Husseins entnommen werden. Aus dem zur Begründung des im Jahre 2001 gestellten Asylantrags behaupteten - unwissentlichen - Schmuggel von Devisen und CDs für gegen das Saddam-Regime gerichtete Kräfte lässt sich eine solche erkennbare Gegnerschaft nicht herleiten. Davon abgesehen ist die Glaubhaftigkeit dieser Angaben im Behördenverfahren nicht überprüft und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ohne Begründung unterstellt worden. Auch dazu, welche Gründe die Anhänger des früheren Herrschaftssystems haben sollten, gegen den nach seinem eigenen Vortrag allenfalls am äußeren Rand gegen dieses System tätigen Kläger vorzugehen, kann dem Urteil des Verwaltungsgerichts nichts entnommen werden. Eine Verfolgung oder Bedrohung durch die Anhänger des früheren Regimes macht im Übrigen auch der Kläger selbst nicht geltend.
20 
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG.
21 
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung, ob dem Kläger der begehrte Abschiebungsschutz zusteht, ist gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG die neue, seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007 am 28.8.2007 geltende Rechtslage. Diese Rechtsänderung hat zur Folge, dass sich der Streitgegenstand bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG geändert hat und hinsichtlich der vom Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak geltend gemachten Gefahren die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG einen eigenständigen, vorrangig vor den sonstigen herkunftslandbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverboten zu prüfenden Streitgegenstand bzw. einen abtrennbaren Streitgegenstandsteil bilden (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198).
22 
a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift, mit der die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. An diesen Voraussetzungen fehlt es im vorliegenden Fall.
23 
Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wofür Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe typische Beispiele sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z.B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, aaO).
24 
Die Frage, ob die derzeitige Situation im Irak die landesweit oder auch nur regional gültige Annahme eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts rechtfertigt, dürfte hiervon ausgehend zu verneinen sein. Die Frage kann jedoch auf sich beruhen, da selbst bei der Annahme eines solchen Konflikts ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG nur besteht, wenn der Ausländer einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben "im Rahmen" dieses Konflikts ausgesetzt ist. Eine solche Gefahr lässt sich im Fall des Klägers nicht feststellen.
25 
Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.7.2009 - 10 C 9.08 - (BVerwGE 134, 188) kann sich die nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG erforderliche Individualisierung der sich aus einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ergebenden allgemeinen Gefahr nicht nur aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann vielmehr unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Gefahrerhöhende Umstände in seiner Person werden vom Kläger nicht geltend gemacht. Für das Vorliegen solcher Umstände vermag auch der Senat nichts zu erkennen. Die erforderliche Individualisierung könnte sich daher nur durch einen besonders hohen Grad der dem Kläger in seiner Heimatregion drohenden Gefahren ergeben, vor denen er auch in den übrigen Teilen des Irak keinen Schutz finden kann. Ein so hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, lässt sich jedoch für die Provinz Tamim, aus welcher der Kläger nach seinen Angaben stammt, nicht feststellen.
26 
Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 12.8.2009 ist davon auszugehen, dass die Sicherheitslage im Irak nach wie vor verheerend ist. Zwar hat seit Frühsommer 2007 die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle um ca. 80 % abgenommen. Besonders gefährdet sind jedoch nach wie vor Polizisten, Soldaten, Intellektuelle und alle Mitglieder der Regierung bzw. Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der neuen Regierung zusammenarbeiten, Mitglieder politischer Parteien, Mitarbeiter von Medien und freie Journalisten sowie Ärzte und medizinisches Personal. Dabei überlagern sich mehrere ineinander greifende Konflikte: der Kampf der irakischen Regierung und der multinationalen Streitkräfte gegen Aufständische; Terroranschläge gegen die Zivilbevölkerung; konfessionell-ethnische Auseinandersetzungen sowohl zwischen den großen Bevölkerungsgruppen (arabische Sunniten, arabische Schiiten und Kurden) als auch mit den Minderheiten (vor allem Christen und Jesiden); Kämpfe zwischen Milizen um Macht und Ressourcen. Insgesamt hat aber die interkonfessionelle Gewalt seit dem Durchgreifen der irakischen Regierung gegen die Milizen seit dem Frühjahr 2008 nachgelassen.
27 
Auch nach der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts "Irak, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte" vom Januar 2010 besteht für die irakische Bevölkerung weiterhin die Gefahr, das Opfer von Anschlägen zu werden, deren Urheber meist nicht eindeutig identifizierbar seien. Insbesondere in den Provinzen Bagdad, Diyala und Ninive komme es weiterhin zu zahlreichen Vorfällen mit Todesopfern. Die Gefahr, durch militärische Aktionen im klassischen Sinne zu Schaden zu kommen, sei jedoch zurückgegangen. Auch nach den Erkenntnissen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom November 2009 habe sich die Sicherheitslage im Zentral- und Südirak seit 2007 allgemein verbessert. Dennoch komme es weiterhin zu Anschlägen auf Militär, Polizei und Zivilisten. Die militanten Gruppierungen seien zwar geschwächt, jedoch noch immer in der Lage, Anschläge mit hohen Opferzahlen zu verüben. Bombenanschläge, Selbstmordanschläge und Sprengfallen gegen die Zivilbevölkerung führten zu Hunderten von Toten. Gezielten Anschlägen fielen vor allem Sicherheitspersonal, Beamte, religiöse und politische Führer, spezielle Berufsgruppen wie Journalisten, Lehrer, medizinisches Personal, Richter und Anwälte, aber auch Angehörige von Minderheiten zum Opfer. Die Sicherheitslage in den sogenannten umstrittenen Gebieten habe sich verschlechtert. Ein Großteil der Gewalt sei in Provinzen mit gemischt ethnischer/religiöser Bevölkerung zu verzeichnen gewesen, insbesondere in den Gebieten in und um Bagdad sowie in den nördlichen Provinzen Ninive, Tamim und Diyala, wobei hier häufig Minderheiten betroffen gewesen seien.
28 
Diese Einschätzung deckt sich im Wesentlichen mit der in der genannten Ausarbeitung des Informationszentrums ebenfalls wiedergegebenen Lagebeschreibung des amerikanischen Verteidigungsministeriums, wonach sich die Sicherheitslage im Irak verbessert habe, wenn auch unsicher sei, ob dieser Fortschritt bzw. Zustand erhalten werden könne. Die Aufständischen blieben aber in der Lage, sog. „High Profile Attacks“ durchzuführen, die die Zivilbevölkerung und die irakischen Sicherheitskräfte zum Ziel hätten. Unter diese „High Profile Attacks“ fielen Autobombenanschläge, Selbstmordanschläge mit Autobomben und sonstige Selbstmordattentate, die überwiegend gemischte Gebiete, wie Bagdad, Diyala, Mossul (Provinz Ninive) und Kirkuk (Provinz Tamim) beträfen.
29 
Um den sich aus dieser Situation ergebenden Gefahrengrad abschätzen zu können, muss die Zahl der Opfer von Anschlägen in Relation zu der Zahl der gesamten Bevölkerung des Irak gesetzt werden. Nach dem in der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts zitierten Bericht der britischen Nichtregierungsorganisation Iraq Body Count, die seit dem Einmarsch der Koalitionsstreitkräfte in den Irak die Verluste unter der irakischen Zivilbevölkerung zählt, sind diese im Jahr 2009 auf den niedrigsten Stand seit 2003 gefallen. Im Jahr 2009 habe die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei etwa 4.645 gelegen. Im Jahr 2008 habe die Zahl noch über 9.000 betragen. Das Informationszentrum Asyl und Migration zitiert ferner einen Bericht des amerikanischen Verteidigungsministeriums vom Juni 2009, in dem bezogen auf den Zeitraum März bis Mai 2009 eine durchschnittlichen Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung von 9,2 pro Tag genannt wird. In einen späteren Bericht vom September 2009, der sich auf den Zeitraum Juni bis August 2009 beziehe, sei von durchschnittlich 204 Anschlägen pro Woche gegen die Zivilbevölkerung, die irakischen Sicherheitskräfte und die Koalitionstruppen die Rede, die damit um 19 % gegenüber dem vorangegangenen Berichtszeitraum zurückgegangen seien. Die Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung sei in diesem Zeitraum allerdings leicht auf 9,5 Tote pro Tag angestiegen. In der Provinz Tamim mit der Provinzhauptstadt Kirkuk, in der insgesamt zwischen 900.000 und 1.130.000 Menschen leben (davon ca. 750.000 in der Hauptstadt Kirkuk), habe es im Jahr 2009 99 Anschläge mit insgesamt 288 Toten gegeben. Dies seien bei 900.000 Einwohnern 31,9 Tote je 100.000 Einwohner bzw. bei Annahme einer Einwohnerzahl von 1.130.000 25,5 Tote je 100.000 Einwohner.
30 
Nach diesen Erkenntnissen kann selbst bei Annahme eines innerstaatlichen oder internationalen Konflikts in der Provinz Tamim nicht davon ausgegangen werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist.
31 
b) Auch ein (national begründetes) Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist im Falle des Klägers nicht erkennbar. Nach dieser Norm soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn diesem dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer hingegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird - abgesehen von Fällen der richtlinienkonformen Auslegung bei Anwendung von Art. 15 lit. c der Qualifikationsrichtlinie für internationale oder innerstaatliche bewaffnete Konflikte - der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Beim Fehlen einer solchen Regelung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 GG) in Betracht, d.h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, aaO <211 f.>). Eine solche extreme konkrete Gefahrenlage besteht für den Kläger im Hinblick auf das unter a) Ausgeführte nicht.
32 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.
33 
Die Revision ist nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
14 
Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben, da der Widerruf der Feststellung, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, rechtmäßig ist und den Kläger daher nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Bescheid ferner zutreffend festgestellt, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2, 3, und 7 Satz 1 und 2 AufenthG nicht vorliegen.
15 
1. Der Widerruf der vom Bundesamt am 4.4.2001 getroffenen Feststellung, dass in der Person des Klägers der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gegeben sind, ist durch § 73 Abs. 1 AsylVfG gedeckt.
16 
Die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, ist nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist nach Satz 2 insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Dies gilt nach Satz 3 nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann. Danach muss die asylrelevante Verfolgungsgefahr objektiv entfallen sein, d.h. die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse müssen sich nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so geändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. Das ist hier der Fall.
17 
a) Wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise aus dem Irak drohen dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine politischen Verfolgungsmaßnahmen (mehr). Das im Zeitpunkt des Erlasses des widerrufenen Bescheids noch herrschende Baath-Regime hat seit der Festnahme, Verurteilung und Hinrichtung Saddam Husseins seine politische Macht über den Irak unumkehrbar verloren. Damit hat ein Verhalten, das unter der Herrschaft Saddam Husseins zu einer Gefährdung hätte führen können, wie die damals illegale Ausreise aus dem Irak, das illegale Verbleiben im Ausland und die Asylantragstellung, seine asylrechtliche Bedeutung verloren. Das Gleiche gilt für die vom Kläger behauptete, vom Bundesamt allerdings nicht festgestellte Tätigkeit für die Opposition gegen das frühere Regime.
18 
b) Dem Kläger droht auch nicht aus anderen Gründen asylrechtlich relevante Verfolgung. Nach § 60 Abs. 1 AufenthG in der Fassung der Neubekanntmachung vom 25.2.2008 (BGBl. I 162) darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Gemäß Satz 4 dieser Vorschrift kann eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Gemäß Satz 5 sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sogenannte Qualifikationsrichtlinie) ergänzend anzuwenden.
19 
Nach diesem Maßstab droht dem Kläger im Irak keine asylrechtlich relevante Verfolgung. Das Verwaltungsgericht hat zwar angenommen, dass der Kläger "als exponierter Kritiker des Regimes Saddam Husseins" vor einer Verfolgung durch Anhänger dieses Systems nicht hinreichend sicher sei und weder die irakischen Sicherheitskräfte noch die multinationalen Streitkräfte in der Lage seien, Schutz vor einer solchen Verfolgung zu bieten und dass keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Den im verwaltungsgerichtlichen Urteil getroffenen Feststellungen können jedoch keine Anhaltspunkte für eine erkennbare Gegnerschaft des Klägers gegen das Regime Saddam Husseins entnommen werden. Aus dem zur Begründung des im Jahre 2001 gestellten Asylantrags behaupteten - unwissentlichen - Schmuggel von Devisen und CDs für gegen das Saddam-Regime gerichtete Kräfte lässt sich eine solche erkennbare Gegnerschaft nicht herleiten. Davon abgesehen ist die Glaubhaftigkeit dieser Angaben im Behördenverfahren nicht überprüft und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ohne Begründung unterstellt worden. Auch dazu, welche Gründe die Anhänger des früheren Herrschaftssystems haben sollten, gegen den nach seinem eigenen Vortrag allenfalls am äußeren Rand gegen dieses System tätigen Kläger vorzugehen, kann dem Urteil des Verwaltungsgerichts nichts entnommen werden. Eine Verfolgung oder Bedrohung durch die Anhänger des früheren Regimes macht im Übrigen auch der Kläger selbst nicht geltend.
20 
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG.
21 
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung, ob dem Kläger der begehrte Abschiebungsschutz zusteht, ist gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG die neue, seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007 am 28.8.2007 geltende Rechtslage. Diese Rechtsänderung hat zur Folge, dass sich der Streitgegenstand bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG geändert hat und hinsichtlich der vom Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak geltend gemachten Gefahren die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG einen eigenständigen, vorrangig vor den sonstigen herkunftslandbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverboten zu prüfenden Streitgegenstand bzw. einen abtrennbaren Streitgegenstandsteil bilden (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198).
22 
a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift, mit der die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. An diesen Voraussetzungen fehlt es im vorliegenden Fall.
23 
Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wofür Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe typische Beispiele sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z.B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, aaO).
24 
Die Frage, ob die derzeitige Situation im Irak die landesweit oder auch nur regional gültige Annahme eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts rechtfertigt, dürfte hiervon ausgehend zu verneinen sein. Die Frage kann jedoch auf sich beruhen, da selbst bei der Annahme eines solchen Konflikts ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG nur besteht, wenn der Ausländer einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben "im Rahmen" dieses Konflikts ausgesetzt ist. Eine solche Gefahr lässt sich im Fall des Klägers nicht feststellen.
25 
Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.7.2009 - 10 C 9.08 - (BVerwGE 134, 188) kann sich die nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG erforderliche Individualisierung der sich aus einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ergebenden allgemeinen Gefahr nicht nur aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann vielmehr unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Gefahrerhöhende Umstände in seiner Person werden vom Kläger nicht geltend gemacht. Für das Vorliegen solcher Umstände vermag auch der Senat nichts zu erkennen. Die erforderliche Individualisierung könnte sich daher nur durch einen besonders hohen Grad der dem Kläger in seiner Heimatregion drohenden Gefahren ergeben, vor denen er auch in den übrigen Teilen des Irak keinen Schutz finden kann. Ein so hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, lässt sich jedoch für die Provinz Tamim, aus welcher der Kläger nach seinen Angaben stammt, nicht feststellen.
26 
Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 12.8.2009 ist davon auszugehen, dass die Sicherheitslage im Irak nach wie vor verheerend ist. Zwar hat seit Frühsommer 2007 die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle um ca. 80 % abgenommen. Besonders gefährdet sind jedoch nach wie vor Polizisten, Soldaten, Intellektuelle und alle Mitglieder der Regierung bzw. Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der neuen Regierung zusammenarbeiten, Mitglieder politischer Parteien, Mitarbeiter von Medien und freie Journalisten sowie Ärzte und medizinisches Personal. Dabei überlagern sich mehrere ineinander greifende Konflikte: der Kampf der irakischen Regierung und der multinationalen Streitkräfte gegen Aufständische; Terroranschläge gegen die Zivilbevölkerung; konfessionell-ethnische Auseinandersetzungen sowohl zwischen den großen Bevölkerungsgruppen (arabische Sunniten, arabische Schiiten und Kurden) als auch mit den Minderheiten (vor allem Christen und Jesiden); Kämpfe zwischen Milizen um Macht und Ressourcen. Insgesamt hat aber die interkonfessionelle Gewalt seit dem Durchgreifen der irakischen Regierung gegen die Milizen seit dem Frühjahr 2008 nachgelassen.
27 
Auch nach der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts "Irak, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte" vom Januar 2010 besteht für die irakische Bevölkerung weiterhin die Gefahr, das Opfer von Anschlägen zu werden, deren Urheber meist nicht eindeutig identifizierbar seien. Insbesondere in den Provinzen Bagdad, Diyala und Ninive komme es weiterhin zu zahlreichen Vorfällen mit Todesopfern. Die Gefahr, durch militärische Aktionen im klassischen Sinne zu Schaden zu kommen, sei jedoch zurückgegangen. Auch nach den Erkenntnissen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom November 2009 habe sich die Sicherheitslage im Zentral- und Südirak seit 2007 allgemein verbessert. Dennoch komme es weiterhin zu Anschlägen auf Militär, Polizei und Zivilisten. Die militanten Gruppierungen seien zwar geschwächt, jedoch noch immer in der Lage, Anschläge mit hohen Opferzahlen zu verüben. Bombenanschläge, Selbstmordanschläge und Sprengfallen gegen die Zivilbevölkerung führten zu Hunderten von Toten. Gezielten Anschlägen fielen vor allem Sicherheitspersonal, Beamte, religiöse und politische Führer, spezielle Berufsgruppen wie Journalisten, Lehrer, medizinisches Personal, Richter und Anwälte, aber auch Angehörige von Minderheiten zum Opfer. Die Sicherheitslage in den sogenannten umstrittenen Gebieten habe sich verschlechtert. Ein Großteil der Gewalt sei in Provinzen mit gemischt ethnischer/religiöser Bevölkerung zu verzeichnen gewesen, insbesondere in den Gebieten in und um Bagdad sowie in den nördlichen Provinzen Ninive, Tamim und Diyala, wobei hier häufig Minderheiten betroffen gewesen seien.
28 
Diese Einschätzung deckt sich im Wesentlichen mit der in der genannten Ausarbeitung des Informationszentrums ebenfalls wiedergegebenen Lagebeschreibung des amerikanischen Verteidigungsministeriums, wonach sich die Sicherheitslage im Irak verbessert habe, wenn auch unsicher sei, ob dieser Fortschritt bzw. Zustand erhalten werden könne. Die Aufständischen blieben aber in der Lage, sog. „High Profile Attacks“ durchzuführen, die die Zivilbevölkerung und die irakischen Sicherheitskräfte zum Ziel hätten. Unter diese „High Profile Attacks“ fielen Autobombenanschläge, Selbstmordanschläge mit Autobomben und sonstige Selbstmordattentate, die überwiegend gemischte Gebiete, wie Bagdad, Diyala, Mossul (Provinz Ninive) und Kirkuk (Provinz Tamim) beträfen.
29 
Um den sich aus dieser Situation ergebenden Gefahrengrad abschätzen zu können, muss die Zahl der Opfer von Anschlägen in Relation zu der Zahl der gesamten Bevölkerung des Irak gesetzt werden. Nach dem in der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts zitierten Bericht der britischen Nichtregierungsorganisation Iraq Body Count, die seit dem Einmarsch der Koalitionsstreitkräfte in den Irak die Verluste unter der irakischen Zivilbevölkerung zählt, sind diese im Jahr 2009 auf den niedrigsten Stand seit 2003 gefallen. Im Jahr 2009 habe die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei etwa 4.645 gelegen. Im Jahr 2008 habe die Zahl noch über 9.000 betragen. Das Informationszentrum Asyl und Migration zitiert ferner einen Bericht des amerikanischen Verteidigungsministeriums vom Juni 2009, in dem bezogen auf den Zeitraum März bis Mai 2009 eine durchschnittlichen Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung von 9,2 pro Tag genannt wird. In einen späteren Bericht vom September 2009, der sich auf den Zeitraum Juni bis August 2009 beziehe, sei von durchschnittlich 204 Anschlägen pro Woche gegen die Zivilbevölkerung, die irakischen Sicherheitskräfte und die Koalitionstruppen die Rede, die damit um 19 % gegenüber dem vorangegangenen Berichtszeitraum zurückgegangen seien. Die Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung sei in diesem Zeitraum allerdings leicht auf 9,5 Tote pro Tag angestiegen. In der Provinz Tamim mit der Provinzhauptstadt Kirkuk, in der insgesamt zwischen 900.000 und 1.130.000 Menschen leben (davon ca. 750.000 in der Hauptstadt Kirkuk), habe es im Jahr 2009 99 Anschläge mit insgesamt 288 Toten gegeben. Dies seien bei 900.000 Einwohnern 31,9 Tote je 100.000 Einwohner bzw. bei Annahme einer Einwohnerzahl von 1.130.000 25,5 Tote je 100.000 Einwohner.
30 
Nach diesen Erkenntnissen kann selbst bei Annahme eines innerstaatlichen oder internationalen Konflikts in der Provinz Tamim nicht davon ausgegangen werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist.
31 
b) Auch ein (national begründetes) Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist im Falle des Klägers nicht erkennbar. Nach dieser Norm soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn diesem dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer hingegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird - abgesehen von Fällen der richtlinienkonformen Auslegung bei Anwendung von Art. 15 lit. c der Qualifikationsrichtlinie für internationale oder innerstaatliche bewaffnete Konflikte - der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Beim Fehlen einer solchen Regelung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 GG) in Betracht, d.h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, aaO <211 f.>). Eine solche extreme konkrete Gefahrenlage besteht für den Kläger im Hinblick auf das unter a) Ausgeführte nicht.
32 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.
33 
Die Revision ist nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.

(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger, der irakischer Staatsangehöriger ist, wurde am ....1964 in der Region Sulaymania/Nordirak geboren. Er gehört der Volksgruppe der Kurden und der Religionsgruppe der Sunniten an. Nach einer Ausbildung als Kfz-Mechaniker und Wehrdienstableistung war er in Bagdad in einem staatlichen Betrieb als Industrielehrer tätig.

Am 29.11.1995 reiste er von Bagdad aus kommend in Deutschland auf dem Landweg ein und stellte unter Vorlage eines irakischen Personalausweises am 7.12.1995 einen Asylantrag.

Bei seiner persönlichen Anhörung am 13.12.1995 (Behördenakte Bl. 18 ff.) trug er zur Begründung im Wesentlichen vor, er habe nach Ableistung seines Militärdienstes von 1987 bis 1991 sodann in einem staatlichen Betrieb in Bagdad gearbeitet, und zwar ab 1993 als Industrielehrer. In diesem Betrieb seien Militärfahrzeuge wie Panzer und andere Fahrzeuge repariert worden. Über diese Fahrzeuge und Geräte habe er Leute der kurdischen Partei PUK im Nordirak informiert. Er sei nur Sympathisant dieser Partei und Mitglied einer Unterorganisation gewesen. Am 1.11.1995 sei er vom Sicherheitsbeauftragten des Betriebs gewarnt worden, dass wegen der Weitergabe militärischer Informationen an seine Leute im Nordirak von der PUK ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden sei. Er sei bereits während seiner Militärzeit im Jahr 1990 wegen des gleichen Grundes festgenommen und nach zwei Monaten mangels Beweisen freigelassen worden. Am 2.11.1995 habe er Bagdad verlassen und sei über die Türkei nach Deutschland gelangt. Im Falle seiner Rückkehr in den Irak befürchte er, wegen Hochverrats und Desertion hingerichtet zu werden.

Durch Bescheid vom 4.3.1996 (Behördenakte Bl. 32) wurde der Asylantrag des Klägers mit Blick auf die Drittstaatenregelung abgelehnt, indessen Abschiebungsschutz „aufgrund des von dem Antragsteller“ geschilderten Sachverhalts (Bescheid S. 3) bejaht, da bereits die Asylantragstellung zu Verfolgungsmaßnahmen durch das irakische Regime führe.

Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 leitete die Beklagte mit Vermerk vom 30.8.2004 (Widerrufsakte Bl. 1) das Widerrufsverfahren mit Blick auf die neuen Verhältnisse im Irak ein und hörte den Kläger mit Schreiben vom 2.9.2004 zu dem beabsichtigten Widerruf an.

In dem Anhörungsverfahren machte der Kläger mit Schreiben vom 29.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 13) geltend, auch nach der Entmachtung Saddam Husseins sei von dessen Anhängern bei einer heutigen Rückkehr in den Irak weiterhin politische Verfolgung wegen Landesverrats zu befürchten. Eine grundlegende Veränderung der politischen Situation liege im Irak nach wie vor nicht vor. Es widerspreche der humanitären Intention der Genfer Flüchtlingskonvention, bei nicht hinreichend stabiler Veränderung der Verhältnisse im Heimatland einen einmal gewährten Flüchtlingsstatus zu entziehen. Die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft bedürfe eines Grundmaßes an Stabilität, wovon im Irak auch nach dem Sturz Saddam Husseins nicht die Rede sein könne. Auch bestehe keine ausreichende wirtschaftliche Existenzsicherung für Rückkehrer, was als zwingender Grund der Rückkehr entgegenstehe. Die Strukturen des ehemaligen Regimes Saddam Husseins seien bislang nicht zerschlagen.

Mit Bescheid vom 19.10.2004 (Widerrufsakte Bl. 18) widerrief die Beklagte die Flüchtlingsanerkennung in ihrem früheren Bescheid vom 4.3.1996 und stellte zusätzlich fest, Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG lägen nicht vor. Die Beklagte stellte sich auf den Standpunkt, dass sich die politische Situation im Irak grundlegend verändert habe und es keine Anhaltspunkte für eine Wiedererlangung der Macht durch das alte Regime gebe. Von der irakischen Übergangsregierung sei eine politische Verfolgung des Klägers nicht zu erwarten. Weiterhin sei es nicht nachvollziehbar, dass eine politisch motivierte Verfolgung des Klägers von Anhängern des alten Regimes ausgehe. Der Widerrufsbescheid wurde am 21.10.2004 zur Post gegeben.

Am 28.10.2004 hat der Kläger Klage erhoben.

Zur Begründung hat er im Wesentlichen vorgetragen: Seine ursprüngliche Anerkennung beruhe auf seinem individuellen Verfolgungsschicksal. Bei seiner Anhörung am 13.12.1995 habe er militärischen Geheimnisverrat zugunsten der kurdischen PUK geltend gemacht. Wegen dieses Sachverhalts hätte der Kläger zum Zeitpunkt seiner Flucht aus dem Irak auf jeden Fall mit politisch geprägter Verfolgung durch das Regime von Saddam Hussein rechnen müssen. Auch jetzt gebe es Gegensätze zwischen Arabern und Kurden im Irak, so dass der Kläger bei einer heutigen Rückkehr in das Heimatland wegen des früher begangenen militärischen Geheimnisverrats weiterhin zur Rechenschaft gezogen werde. Dem stehe nicht entgegen, dass das frühere Regime nicht mehr an der Macht sei. Als Kurde, der militärischen Geheimnisverrat begangen habe, müsse er auch heute von den aktuell an der Macht Befindlichen Verfolgung befürchten. Dabei könne er auch nicht auf den Nordirak als inländische Fluchtalternative verwiesen werden, da er dort ein ausreichendes Existenzminimum nur bei familiärer Bindung zum Nordirak erhalten könnte, an der es aber fehle. Dagegen werde der Kläger im Zentralirak aufgrund des von ihm begangenen militärischen Geheimnisverrats an die Kurden als Kollaborateur der USA angesehen. Die anhaltenden Anschläge im Irak würden nach dem Widerrufsbescheid gerade denjenigen Personen gelten, die der Kollaboration mit den USA verdächtigt würden. Die Übergangsregierung sei nicht in der Lage, den erforderlichen Schutz zu gewähren.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 19.10.2004 aufzuheben,

hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 19.10.2004 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegen.

Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf den angefochtenen Widerrufsbescheid schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 14.3.2006 – 2 K 35/06.A – die Klage abgewiesen.

Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, die im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung maßgeblichen Verhältnisse hätten sich nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erheblich und nicht nur vorübergehend verändert, sodass bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung drohe. Durch den allgemeinkundigen politischen Systemwechsel im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins durch die amerikanischen und britischen Truppen sei die früher von dessen Unrechtsregime ausgehende Gefahr einer politischen Verfolgung nunmehr eindeutig landesweit entfallen. Ungeachtet der nach wie vor schwierig abzuschätzenden künftigen Verhältnisse im Irak bestehe kein Anhaltspunkt für die Annahme, dass das gestürzte Regime Saddam Hussein jemals wieder an die Macht kommen werde und staatliche Verfolgungsmaßnahmen veranlassen könne. Früheres Verhalten, das unter dem gestürzten Regime Saddam Hussein zu einer Gefährdung hätte führen können, habe seine asylrelevante Bedeutung verloren. Dies gelte auch dann, wenn man zugunsten des Klägers annehme, dass er tatsächlich zum Nachteil des früheren Regimes von Saddam Hussein militärische Informationen an die kurdische Opposition weitergegeben habe. Von den amtierenden Machthabern im Irak, die selbst in Gegnerschaft zu Saddam Hussein stünden und selbst verfolgt worden seien, habe er aus diesen Gründen keine Verfolgungsmaßnahmen zu erwarten. Ebenso wenig sei feststellbar, dass er im Fall seiner Rückkehr in den Irak eine von nichtstaatlichen Akteuren nach Maßgabe des § 60 I 4 AufenthG ausgehende Verfolgung zu erwarten habe. Die Befürchtung des Klägers, dass er jetzt noch wegen des damaligen Geheimnisverrats von Anhängern des früheren Regimes als Kollaborateur der USA angesehen und verfolgt werde, stütze sich nicht auf konkrete Tatsachen.

Auch würden keine Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Insbesondere seien die Voraussetzungen einer Extremgefahr nach § 60 VII 1 AufenthG nicht einschlägig. Eine extreme Gefahrenlage liege im Irak nicht vor, ungeachtet der nach dem Sturz Saddam Husseins stark angestiegenen Kriminalität, verbunden mit Überfällen, Entführungen und täglich stattfindenden terroristischen Anschlägen, die auch zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung forderten. Auch wenn die zivilen Opfer der Terrorakte auf über 15.000, nach anderen Quellen auf 100.000 geschätzt würden, rechtfertige dies in der Relation zu der Bevölkerungszahl des Irak von rund 25 Millionen ersichtlich nicht die Annahme, jeder Iraker werde im Falle seiner Rückkehr unmittelbar und landesweit sehenden Auges Gefahr laufen, Opfer entsprechender terroristischer Anschläge zu werden. Überdies sei die Sicherheitslage im Nordirak im Allgemeinen besser als in Bagdad. Auch die allgemeine Versorgungslage rechtfertige keine Extremgefahr, denn es gebe keine konkreten Anhaltspunkte für eine drohende Nahrungsmittelknappheit oder gar eine Hungerkatastrophe, zumal ein Großteil der Bevölkerung weiterhin Lebensmittelrationen aus einem Programm der Vereinten Nationen erhalte.

Das Urteil wurde dem Kläger am 22.3.2006 zugestellt.

Am 5.4.2006 hat der Kläger Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt.

Mit Beschluss vom 10.5.2006 – 3 Q 103/06 – (Gerichtsakte Bl. 99) hat der Senat die Berufung wegen Grundsatzbedeutung zugelassen.

Der Kläger hat seine Berufung fristgemäß begründet.

Er trägt im Wesentlichen vor: Im Flüchtlingsrecht sei allgemein anerkannt, dass die politische Verfolgung des Bürgers eines Staates mit der Abwesenheit staatlichen Schutzes vor Verfolgung für den Betroffenen gleichzusetzen sei. Dies habe zur Konsequenz, dass ein Widerruf der Anerkennung als Flüchtling nur dann erfolgen könne, wenn für den Betroffenen in seinem Heimatland effektiver staatlicher Schutz wiederhergestellt sei und er unter Beachtung seiner Menschenwürde zurückkehren könne.

Dies setze zunächst einmal voraus, dass überhaupt funktionierende staatliche Strukturen bestünden. Das Bundesverwaltungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – zu Afghanistan die Feststellungen des OVG Schleswig-Holstein hinsichtlich des Bestehens einer effektiven staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt als nicht ausreichend angesehen; dies gelte auch für die Ausführungen des erstinstanzlichen Gerichts zum Bestehen einer effektiven staatlichen Gewalt im Irak.

Das Bundesverwaltungsgericht habe in diesem Urteil allerdings noch nicht zu der Frage Stellung genommen, ob für den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung die Wiederherstellung effektiven Schutzes durch den früheren Verfolgerstaat erforderlich sei und ebenso wenig dazu, ob dieser effektive Schutz im Irak wieder hergestellt sei.

Der Kläger begründet insbesondere mit Blick auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24.11.2005 seine Auffassung näher, dass das Regime Saddam Hussein zwar zwischenzeitlich gestürzt sei, effektiver staatlicher Schutz im Irak aber nicht wieder hergestellt sei. Die Regierung habe über die „grüne Zone“ Bagdads hinaus keinen Einfluss, während die Anhänger des früheren Diktators Saddam Hussein immer noch verfolgungsmächtig seien. Soweit sich die Regierung auf die Truppen der Allianz unter amerikanischer Führung stütze, reiche dies für die Wiederherstellung effektiven staatlichen Schutzes im Irak nicht aus, da vielmehr die Rückübertragung dieses Schutzes auf den Irak selbst erforderlich sei.

Unabhängig von der Frage des effektiven Schutzes habe sich die innenpolitische Situation im Irak nicht nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verändert. Die Änderung der maßgeblichen Verhältnisse müsse auf Dauer angelegt sein, und dafür sei eine Zukunftsprognose anzustellen. Das erstinstanzliche Gericht habe prognostiziert, dass Saddam Hussein nicht wieder an die Macht kommen werde und staatliche Verfolgungsmaßnahmen veranlassen könne; seine Prognose habe das Gericht aber nicht begründet. Demgegenüber sei festzuhalten, dass im Land immer noch eine starke Anhängerschaft des Regimes von Saddam Hussein vorhanden sei, die sich in zahlreichen, tagtäglich stattfindenden Anschlägen gegen die Besatzungstruppen sowie gegen die Sicherheitskräfte des aktuellen Regimes äußere. Die Herrschaft Saddam Husseins basiere auf einem Clan-System, das als solches weiter existiere und das auch ohne Saddam Hussein an der Spitze lebensfähig sei. Von einer hochgradig instabilen Lage gehe auch das VG Köln aus, das von dem OVG Münster bisher, etwa mit dem Beschluss vom 19.7.2005 – 9 A 2944/05.A – bestätigt worden sei. Auch das VG Sigmaringen halte mit Urteil vom 26.10.2005 – A 3 K 11212/04 – wegen der instabilen Verhältnisse eine hinreichend sichere Prognose über die politische Zukunft des Landes derzeit nicht für möglich. Mit Blick auf die Verschärfung der Lage habe etwa der Politiker Allawi ausweislich der Nachrichten des Deutschlandfunks vom 19.3.2006 davon gesprochen, dass sich das Land im Bürgerkrieg befinde. Herrsche aber Bürgerkrieg, so sei die Zukunft offen und es sei dann nicht auszuschließen, dass die Kräfte um den früheren Diktator Saddam Hussein wieder an die Macht gelangten. Der Machtclan könne sich auch, wie der Vietnamkrieg zeige, gegen eine Weltmacht durchsetzen. Die Zukunft des Irak sei auch dann offen, wenn man nicht von einem Bürgerkrieg ausgehe, sondern von einem Kampfgeschehen im Sinne eines Krieges von niedriger Intensität.

Entgegen der Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts sei auch derzeit vom Bestehen einer extremen allgemeinen Gefährdungslage im Sinne der verfassungskonformen Auslegung von § 60 VII AufenthG für den Irak auszugehen. Die irakischen Behörden seien derzeit nicht im Stande, den Bürgern des Landes auch nur ein Minimum an Schutz vor gewalttätigen Übergriffen zu gewähren; dies gelte nach Auffassung von UNHCR landesweit, so dass keine Region des Irak als hinreichend sicher angesehen werden könne. Auch insoweit könne auf das Urteil des VG Sigmaringen vom 26.10.2005 – A 3 K 11212/04 – verwiesen werden. Die irakischen Behörden seien danach nach wie vor nicht im Stande, die Zivilbevölkerung wirksam vor der hohen Zahl gezielter Anschläge und gewalttätiger Übergriffe zu schützen. Im Irak bestehe die realistische Gefahr, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen. Auch habe das Auswärtige Amt am 29.7.2005 eine Reisewarnung für den Irak herausgegeben, und dabei insbesondere darauf hingewiesen, Überfälle mit Waffengewalt seien an der Tagesordnung und das Risiko von Entführungen sei sehr hoch.

Gehe man davon aus, dass sich der Irak im Bürgerkrieg befinde oder gehe man zumindest davon aus, dass derzeit im Irak ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde, müsse man auch vom Bestehen einer extremen allgemeinen Gefährdungslage im Sinne von § 60 VII AufenthG ausgehen. Nach allem sei der Berufung stattzugeben.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 14.3.2006 – 2 K 35/06.A – den Bescheid der Beklagten vom 19.10.2004 aufzuheben,

hilfsweise, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 19.10.2004 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt in der mündlichen Verhandlung den ergangenen Bescheid. Sie sieht sich nach Analyse des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – in ihrer Rechtsauffassung bestätigt; danach komme es auf effektiven Schutz bietende staatliche Strukturen nicht an, vielmehr nur darauf, ob mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen sei. Die Terroranschläge bedrohten alle Iraker und müssten als allgemein drohende Gefahren beim Widerruf außer Betracht bleiben. Den ursprünglichen Verfolgungsvortrag des Klägers bestreitet die Beklagte.

Den Beteiligten ist die Dokumentationsliste des Senats für den Irak mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung sowie eine Ergänzung dazu zugesandt worden. Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Behördenakten der Beklagten F 2 056007, der Widerrufsakte der Beklagten 511 83 87-438 sowie der Ausländerakte Bezug genommen und auf das in der Dokumentationsliste und der Ergänzung aufgeführte Erkenntnismaterial.

Entscheidungsgründe

Die zugelassene und auch ansonsten zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Der Widerrufsbescheid der Beklagten vom 19.10.2004 erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (§ 77 I 1 AsylVfG) als rechtmäßig (unten I.). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die - hilfsweise begehrte - Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von sonstigen Abschiebungsverboten im Sinne von § 60 II bis VII AufenthG (unten II.)

I.

Der mit Blick auf den Systemwechsel im Irak ergangene Widerrufsbescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Das Aufhebungsbegehren des Klägers ist mangels einschlägiger Übergangsregelungen nach der neuen, durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage zu beurteilen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, für Widerrufsfälle.

Rechtsgrundlage ist mithin § 73 I 1 AsylVfG in der ab 1.1.2005 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950). Die Vorschrift lautet:

Die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, sind unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

In der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, liegen die Widerrufsvoraussetzungen dann vor, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, zitiert nach Juris; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, ähnlich Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, § 73 AsylVfG Rdnr. 7, im Sinne eines Wegfalls der asylrelevanten Umstände als Beseitigung der Verfolgungsgefahr; weiter gehend im Sinne einer grundlegenden und dauerhaften Änderung der Verhältnisse und nicht nur eines spiegelbildlichen Wegfalls der ursprünglich die Verfolgung begründenden Umstände VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -; Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 73 Rdnr. 77 und 79, im Sinne einer Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland von grundlegender Natur und Dauer mit dem Ergebnis einer eingetretenen relativen politischen und wirtschaftlichen Stabilität.

Eine wesentliche Weichenstellung für die hier einschlägige Beurteilung eines politischen Systemwechsels liegt darin, ob nur die Beseitigung des Unrechtsregimes und seiner Verfolgungsmaßnahmen selbst endgültig sein muss oder ob zusätzlich in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung und allgemeinen Gefahren durch stabile Verhältnisse vorherrschen muss. Das Bundesverwaltungsgericht, dem der Senat folgt, stellt allein darauf ab, dass die Beseitigung des Regimes dauerhaft ist.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, dort für Afghanistan; ebenso BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22/03 -, für den Irak, wobei das Bundesverwaltungsgericht im Wege eigener Tatsachenwürdigung es als ausreichend ansieht, dass das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist und damit Asylberechtigte offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen haben; ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, S. 11 des amtl. Umdruck, das es genügen lässt, dass das Regime Saddam Hussein seine politische und militärische Herrschaft über den Irak endgültig verloren hat und eine Rückkehr des alten Regimes nach den aktuellen Machtverhältnissen ausgeschlossen ist.

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Gefahr einer wiederholten Verfolgung wegfällt, und dies hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich für den Irak unter Billigung des Widerrufs entschieden.

BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 – 1 C 22/03 – zitiert nach Juris.

Der Kläger hält dem eine – in der mündlichen Verhandlung vertiefte - grundsätzliche Betrachtung zur Existenz effektiver staatlicher Gewalt und effektiven staatlichen Schutzes vor denkbarer Verfolgung bereits als Widerrufsvoraussetzung entgegen. Im Flüchtlingsrecht sei anerkannt, dass die politische Verfolgung des Bürgers eines Staates mit der Abwesenheit staatlichen Schutzes vor Verfolgung gleichzusetzen sei. Dies setze funktionierende staatliche Strukturen voraus, die aber im Irak nicht vorhanden seien. Nach den Grundsätzen der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – sei bereits das Bestehen einer effektiven staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt im Irak in Frage zu stellen, zumindest sei dies vom Verwaltungsgericht nicht ausreichend festgestellt. Die Regierung des Irak habe über die grüne Zone Bagdads hinaus keinen Einfluss auf die Wiederherstellung eines effektiven staatlichen Schutzes im Irak, und zwar auch nicht durch die Truppen der Allianz, da für die Wiederherstellung effektiven staatlichen Schutzes eine Rückübertragung an das Herkunftsland erforderlich sei. Die aufgeworfene Frage der Wiederherstellung effektiven Schutzes durch den früheren Verfolgungsstaat sei durch das Bundesverwaltungsgericht noch nicht entschieden.

Die Beklagte widerspricht dem und meint, auf effektiven Schutz bietende staatliche Strukturen im Sinne einer stabilen Schutzmacht komme es bei fehlender Verfolgung rechtlich nicht an.

Klar auseinander zu halten sind die Fragen, ob ein Staat überhaupt besteht und dafür das Erfordernis der Ausübung staatlicher Gewalt prinzipiell erfüllt, und ob in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung sowie vor allgemeinen Gefahren bestehen muss. Damit hat der Kläger Grundsatzfragen mit weit reichender – länderübergreifender - Bedeutung aufgeworfen. Die Fragen sind indes vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 - entschieden, und zwar nicht im Sinne des Klägers.

Was zunächst die Frage der Existenz eines Staates angeht, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 – im Gegensatz zur Vorinstanz, dem OVG Schleswig-Holstein, die Existenz von Afghanistan als Staat nicht ernsthaft in Frage gestellt. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (Seite 9 des Juris-Ausdrucks) genügt es, dass eine Übergangsregierung Gebietsgewalt im Sinne einer übergreifenden prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtigen Ordnung ausübt; dem stehe nicht entgegen, dass sich die Regierungsgewalt auch auf internationale Truppen stütze. Auch ein ausgesprochen schwacher Staat ist nach diesen Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts ein Staat und die internationalen Truppen werden dem Staat zugerechnet. Dies stimmt überein mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der es im Asylrecht weniger auf abstrakte staatstheoretische Begriffsmerkmale ankommt und zugunsten des Flüchtlings nur geringe Anforderungen an das Vorliegen eines Staates zu stellen sind, wobei in Bürgerkriegsfällen bereits ein Kernterritorium genügt.

BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Danach ist der Irak eindeutig ein Staat.

Der Irakkrieg von 2003 zielte zwar darauf ab, das Unrechtsregime von Saddam Hussein zu beseitigen, indessen nicht auf die Beseitigung des irakischen Staates. Vielmehr wurde nach Ablauf der Besatzungszeit die irakische Souveränität am 28.6.2004 wiederhergestellt, wie in Rechtsprechung und Erkenntnismaterial anerkannt ist.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.9.2004 – A 2 S 51/01 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 – A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 – 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, Seite 1; ebenso unterscheidet die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Auskunft vom 27.1.2006 (Seite 3) klar erkennbar zwischen der bejahten Existenz des irakischen Staates und der verneinten Frage, ob der irakische Staat die Bürger schützen könne, die nachweislich Verfolgung befürchten müssten.

Die nur erforderliche prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtige Gebietsgewalt unter Einbeziehung der internationalen Truppen ist zu bejahen, da der irakische Staat mit deren Hilfe zumindest in der Lage ist, dem bisherigen Regime von Saddam Hussein den Prozess zu machen, dadurch seine Unrechtsmaßnahmen zu beenden und den neuen Untergrundkrieg mit den Terroristen mit allerdings nur einzelnen Erfolgen aufgenommen hat und dabei den sunnitischen Widerstand verfolgt, mithin nicht etwa prinzipiell ohne Macht ist. Auch die kritische Organisation UNHCR, der sich amnesty international angeschlossen hat, stellt die effektive Herrschaft der irakischen Übergangsregierung lediglich für einzelne Teile des irakischen Staatsgebiets, vor allem im Zentralirak, in Frage.

UNHCR, Hinweise von April 2005; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Ebenso geht das VG Sigmaringen in seiner kritischen Rechtsprechung nicht von einer fehlenden Staatsmacht aus, sondern nimmt an, der Übergangsregierung sei es noch nicht gelungen, ihre Macht im gesamten Irak zu etablieren.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 – A 3 K 11212/04 -, S. 8 des Umdrucks.

Auf das gesamte Territorium kommt es aber nicht an.

Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt bereits ein Kernterritorium.

BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Weiterhin muss gesehen werden, dass der irakische Widerstand seit der von ihm verlorenen zweiten Schlacht um Falludscha im November 2004 angesichts der Übermacht der US-Truppen nicht mehr bestimmte Gebiete verteidigen, sondern mit Anschlägen den Wiederaufbau des Landes nachhaltig stören will.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006.

Nach den dargelegten Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts kann unter Einbeziehung der internationalen Truppen die Existenz des Staates Irak mit der prinzipiellen Ausübung von Staatsgewalt nach Ansicht des Senats nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden.

Von der Frage der Existenz des Staates Iraks ist die weitere Frage eines effektiven Schutzes durch den Staat Irak als stabile Schutzmacht vor möglicher Verfolgung und allgemeinen Gefahren zu unterscheiden.

Der Kläger zieht die Effektivitätsfrage gewissermaßen vor die Klammer der Verfolgungsprüfung. Vorrangig wird effektiver Schutz geprüft. Fehlt es daran, steht die Verfolgung fest und der Widerruf scheitert. Letztlich hat der effektive Schutz dann absolute Bedeutung für den Widerruf. Der Kläger meint weiter, die Frage des effektiven staatlichen Schutzes sei von dem Bundesverwaltungsgericht noch nicht, auch nicht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 –, entschieden; dem hat die Beklagte widersprochen.

Diese Auslegung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Kläger überzeugt nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – die nur relative Bedeutung eines effektiven Verfolgungsschutzes herausgestellt, diese Rechtsauffassung jedenfalls konkludent bereits in seinen beiden zuvor zum Irak ergangenen Entscheidungen vom 11.2.2004 – 1 C 23/02 – und vom 25.8.2004 – 1 C 22.03 – zugrunde gelegt und sodann die Frage einer stabilen Schutzmacht im Beschluss

vom 26.1.2006 – 1 B 135.05 –

ausdrücklich als nicht entscheidungserheblich bei fehlender Verfolgung behandelt.

In seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 – (Juris-Ausdruck Seite 6) hat das Bundesverwaltungsgericht für die Prüfung von Widerrufsfällen entschieden, dass nach der auch beim Widerruf anzuwendenden Vorschrift des § 60 I 4 AufenthG

eine Verfolgung nunmehr auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (kann), sofern der Staat, wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat nach der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht die gewissermaßen absolute Bedeutung, dass ein Widerruf ausscheidet. Ein fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat in Widerrufsfällen vielmehr nur die relative Bedeutung, dass vorrangig tatsächliche Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure zu prüfen sind. Die dargelegte Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet, dass effektiver staatlicher Schutz nicht bereits eine Widerrufsvoraussetzung ist; der Widerruf scheitert nicht von vornherein an fehlendem effektivem staatlichen Schutz durch eine stabile Schutzmacht.

Dieselbe Rechtsauffassung hat das Bundesverwaltungsgericht auch schon konkludent in einem unmittelbar den Irak betreffenden Urteil vom 25.8.2004 – 1 C 22.03 – in einem Widerrufsverfahren zugrunde gelegt. Auch dort wird die Frage der effektiven Schutzfähigkeit nicht als Widerrufshindernis geprüft. Vielmehr ist ausgeführt (Seite 3 des Juris-Ausdrucks):

Der Kläger hat bei einer Rückkehr in den Irak inzwischen offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen.

Es werden also nur Verfolgungsmaßnahmen ausgeschlossen. Dazu wird dargelegt, das irakische Regime sei durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden und andere Gründe, aus denen der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland politischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein könnte, seien nicht ersichtlich. Die effektive Schutzfähigkeit durch den irakischen Staat prüft das Bundesverwaltungsgericht nicht. Der Irak war im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (25.8.2004) gerade erst (am 28.6.2004) aus dem Besatzungsstatut in die Souveränität entlassen worden und vergleichbar schwach wie heute. Die fehlende effektive Schutzfähigkeit des Irak kann also kein absolutes Widerrufshindernis sein. Weiterhin hat das Bundesverwaltungsgericht in eigener Revisionswürdigung schon während der Besatzungszeit des Iraks eine Verfolgungsgefahr ausgeschlossen, ohne die effektive Schutzfähigkeit des Irak zu prüfen.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 – 1 C 23/02 -, dort betreffend einen Anerkennungsfall.

In den drei vom Senat aufgeführten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts aus 2004 und 2005 zum Irak und zu Afghanistan ist als gemeinsame klare Linie der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu entnehmen, dass in keinem der Fälle die effektive Schutzfähigkeit des Staates gewissermaßen als absolute Anforderung vor die Klammer gezogen wird und der Flüchtling bereits deshalb Verfolgter ist, weil sein Heimatstaat keinen effektiven Schutz durch eine stabile Schutzmacht gegen denkbare Verfolgungen bietet. Vielmehr ist vorrangig für das Bundesverwaltungsgericht, ob asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen nach den maßgebenden Kriterien der Rechtsprechung überhaupt zu befürchten sind. Für den Irak hat das Bundesverwaltungsgericht eine solche Verfolgungsgefahr verneint und bereits deshalb nicht die effektive Schutzfähigkeit des Staates vor denkbarer Verfolgung geprüft. In dem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/05 – ist die nur relative Bedeutung des effektiven staatlichen Schutzes vor Verfolgung hervorgehoben.

Sodann hat das Bundesverwaltungsgericht die Frage nach der Notwendigkeit einer stabilen Schutzmacht in einem neueren Revisionszulassungsverfahren auch ausdrücklich erörtert.

Beschluss des BVerwG vom 26.1.2006 – 1 B 135.05 -.

Es hat die aufgeworfene Frage der stabilen Schutzmacht als nicht entscheidungserheblich bei fehlender Verfolgung behandelt.

Dem folgt auch der Senat.

Mithin ist die vom Kläger aufgeworfene Grundsatzfrage der Bedeutung des effektiven Schutzes des Staates als stabiler Schutzmacht vor Verfolgung übereinstimmend mit der Meinung der Beklagten bereits höchstrichterlich geklärt; der Senat schließt sich der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an, wonach diese Frage nur relative Bedeutung bei vorrangig festzustellender tatsächlicher Verfolgungsgefahr hat.

Sodann ist mit Blick auf die Auffassung des UNHCR die Frage zu erörtern, ob nach dem politischen Systemwechsel über den Ausschluss erneuter Verfolgung hinaus auch noch Schutz vor allgemeinen Gefahren durch eine stabile Lage verlangt werden kann. Die Stabilitätsfrage wird also nochmals gestellt, aber nunmehr nicht mit Blick auf die Verfolgung, sondern mit Blick auf allgemeine Gefahren. Auch diese Frage hat grundsätzliche und zugleich länderübergreifende Bedeutung, ist aber vom Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden.

Die Widerrufsregelung des Gesetzgebers zielte nach der ursprünglichen Gesetzesbegründung auf den Fall, dass in dem Verfolgungsland ein Wechsel des politischen Systems eingetreten ist, sodass eine weitere Verfolgung nicht mehr zu befürchten ist.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, unter Darstellung der Gesetzesmaterialien.

Der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck bezieht sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausschließlich auf den Ausschluss erneuter Verfolgungsmaßnahmen, nicht auf Schutz vor allgemeinen Gefahren.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Die den Rechtsstandpunkt des Klägers stützende Gegenmeinung, die insbesondere von der Flüchtlingshilfeorganisation UNHCR näher begründet wird, geht über den Verfolgungsausschluss hinaus und verlangt für den Widerruf zusätzlich stabile Verhältnisse im Herkunftsland.

UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention auf irakische Flüchtlinge von April 2005, S. 2.

UNHCR nimmt dabei an, dass der internationale Flüchtlingsschutz nicht nur dem Schutz vor erlittener oder drohender Verfolgung diene, sondern auch der Schaffung dauerhafter Lösungen für Flüchtlinge; deshalb könnten Flüchtlinge nicht zur Rückkehr in die instabilen Verhältnisse des Irak gezwungen sein mit der Gefahr, dass immer neue Flüchtlingsströme entstehen.

UNHCR-Hinweise von April 2005, S. 2.

Dieser vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vertiefte Gesichtspunkt leuchtet dem Senat durchaus rechtspolitisch ein.

Es geht um die Erweiterung des Schutzzwecks auf allgemeine Gefahren zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme. Unter Hinweis auf die Interessenwürdigung durch UNHCR verlangt auch Marx relative politische und wirtschaftliche Stabilität in dem Land nach dem Systemwechsel.

Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 73 Rdnr. 79.

Das VG Köln, auf das sich der Kläger beruft, ist dieser Auffassung gefolgt.

VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -, wonach eine instabile beziehungsweise unsichere Lage im Herkunftsland Irak einem Widerruf entgegenstehe.

Besonders deutlich wird diese Rechtsposition durch das VG Sigmaringen dargestellt, auf das sich der Kläger ebenfalls beruft.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -.

Danach geht es bei dem Widerruf nicht nur um Verfolgungsschutz, sondern erweiternd um effektive Schutzgewährung, und ein wesentlicher Aspekt der effektiven Schutzgewährung ist die allgemeine Sicherheitslage.

Ungeachtet der rechtspolitischen Vorzüge der Ansicht von UNHCR folgt der Senat der systematisch begründeten Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach der Widerruf keinen Gefahrenausschluss durch stabile Verhältnisse voraussetzt. Diese Auslegung ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Nach Art. 16 a I GG dient das Asylrecht dem Schutz politisch Verfolgter

Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 7. Auflage 2004, Art. 16 a Rdnr. 1, wonach das Asylgrundrecht auf die Erfahrung mit dem Dritten Reich und den damals rassistisch und politisch Verfolgten zurückgeht und Menschen in einer ähnlichen politischen Lage in anderen Ländern helfen soll.

Dagegen ist das Grundrecht nach der Verfassungsrechtsprechung nicht in der Lage, auch einen effektiven Schutz vor politisch und wirtschaftlich instabilen Verhältnissen, oder sogar vor anarchischen Zuständen mit Auflösung der Staatsgewalt zu gewähren.

Zum Letzteren BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Ist dies aber der Fall, verbietet das Grundgesetz auch unter Einschluss des vom Kläger zitierten Art. 1 I GG nicht einen geminderten Flüchtlingsschutz für Fälle des Staatszerfalls.

Darüber hinaus ist die grundrechtskonforme Begrenzung des Gesetzeszwecks auf den Verfolgungsschutz nach der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowohl völkerrechtskonform als auch europarechtskonform.

Die Widerrufsvorschrift des deutschen Rechts geht zurück auf Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - vom 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560), wonach eine Person nicht mehr unter den Schutz des Flüchtlingsabkommens fällt,

wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wollte der deutsche Gesetzgeber mit seiner Widerrufsbestimmung die materiellen Anforderungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention übernehmen und hat dies auch getan.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Nach der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet Wegfall der Umstände im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK eine nachträgliche erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Unter Schutz im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK ist danach ausschließlich der Schutz vor zu erwartenden erneuten Verfolgungsmaßnahmen zu verstehen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/06 -.

Das Bundesverwaltungsgericht beruft sich für seine Rechtsauffassung auf eine systematische Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention. Der Begriff Schutz des Landes in dieser Wegfallbestimmung hat danach keine andere Bedeutung als der gleich lautende Begriff Schutz dieses Landes in Art. 1 A Nr. 2 GFK, der die Flüchtlingseigenschaft begründet. Nach dieser Vorschrift kommt es insbesondere darauf an, dass der Betroffene aus begründeter Furcht vor Verfolgung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann. Nach dem Zusammenhang dieser Definitionsvorschrift kann mit dem Schutz des Landes nur der Schutz vor den befürchteten Verfolgungsmaßnahmen gemeint sein; ein Schutz vor instabilen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen als Begründung der Flüchtlingseigenschaft ist ersichtlich nicht mit umfasst. Die instabile Lage begründet nicht die Verfolgteneigenschaft Dies gilt konsequent auch für den Wegfall der Flüchtlingseigenschaft, und deshalb beenden auch nicht erst stabile Verhältnisse die Verfolgteneigenschaft.

Der Senat folgt der systematischen Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts.

Zusätzlich ist noch auf folgenden in der mündlichen Verhandlung erörterten Auslegungsgesichtspunkt hinzuweisen:

Die unmittelbar anschließende völkerrechtliche Widerrufsregelung für Staatenlose in Art. 1 C Nr. 6 GFK enthält keine Schutzklausel. Dies kann schwerlich bedeuten, dass damit Staatenlosen der sonst zu gewährende effektive Schutz entzogen wird. Vielmehr spricht diese Regelung dafür, dass mit dem völkerrechtlichen Begriff „Schutz“ nur der prinzipielle Schutz des Herkunftsstaates für seine Staatsangehörigen gemeint ist, der naturgemäß nicht auf Staatenlose übertragen werden kann.

Auch dies spricht für die Auslegung des Völkerrechts durch das Bundesverwaltungsgericht.

Ergänzend zu berücksichtigen ist für die Auslegung des deutschen Rechts das Europarecht. Dabei geht es um die Vorwirkung der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikationsrichtlinie - bereits vor dem bevorstehenden Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006.

Nach der Rechtsprechung des EuGH, der sich der Senat angeschlossen hat, ist nationales Recht schon vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist bereits erlassener Richtlinien so auszulegen, dass der Zweck der Richtlinie erreicht werden kann.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 - C 211/03 -, Rz 44; Urteil des Senats vom 3.2.2006 - 3 R 7/05 - Seite 49 des amtl. Umdrucks, beide Entscheidungen ergangen zum Arzneimittelrecht.

Inhaltlich führt die europäische Richtlinie aber zu keiner anderen Rechtslage als der bereits dargelegten völkerrechtlichen Regelung der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern sie bestätigt noch zusätzlich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.

Wesentlich ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass die völkerrechtliche Wegfallklausel der Genfer Flüchtlingskonvention in die Qualifikationsrichtlinie ebenso wörtlich übernommen ist wie der symmetrische Schutzbegriff sowohl bei der Begründung der Flüchtlingseigenschaft als auch bei dem Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft. Nach Art. I e der Qualifikationsrichtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser nicht mehr Flüchtling, wenn er

nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Für die Begründung der Flüchtlingseigenschaft stellt Art. 2 c der Qualifikationsrichtlinie unter eigenständiger Formulierung der Verfolgungsmerkmale ebenso wie die Genfer Flüchtlingskonvention auf die begründete Furcht vor Verfolgung ab und verlangt sodann wörtlich übereinstimmend, dass der Flüchtling

sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann .....

Die vom Bundesverwaltungsgericht bereits im Zusammenhang mit dem Völkerrecht ausgelegten Parallelbegriffe „Schutz des Landes“ sowie „Schutz dieses Landes“ finden sich also wörtlich gleich lautend in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der umzusetzenden Qualifikationsrichtlinie der EG. Das Bundesverwaltungsgericht hat auch konsequenterweise in einem Nichtzulassungsbeschluss bereits ausgeführt, die Annahme einer Vorwirkung der Richtlinie 2004/83/EG führe nicht zu einem günstigeren Auslegungsergebnis der Widerrufsvorschrift.

BVerwG, Beschluss vom 15.2.2006 - 1 B 120/05 -, ohne eingehende Begründung; eben so Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; a. A. das VG Köln in seinem Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -, das aus den übereinstimmenden Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie einen Schutz auch vor einer instabilen Lage in Anspruch nimmt.

Hinzu kommt, dass die europäische Richtlinie die Wegfallklausel in Art. 11 II über das Völkerrecht hinaus dahin gehend präzisiert, dass die Mitgliedstaaten zu untersuchen haben,

ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist.

Damit wird der Schwerpunkt der Prüfung auf die Veränderung selbst gelegt, nicht auf stabile Verhältnisse.

Dies entspricht exakt der Auslegung des deutschen Rechts durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die mithin durch das neue Europarecht bestätigt wird.

Zusammengefasst ergibt sich aus der dargelegten systematisch überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entgegen der rechtspolitisch vorzugswürdigen Ansicht von UNHCR als grundsätzliche Weichenstellung der Widerrufsmaßstab, dass nur der Verfolgungsausschluss maßgebend ist. Die Gefahr von erneuten Verfolgungsmaßnahmen ist nach den Kriterien der Rechtsprechung zu prüfen. Allgemeine Gefahren etwa aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage bleiben bei dem Widerruf außer Betracht.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Verfolgungsgefahr wegfällt.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23/02 -, zitiert nach Juris.

Erweist sich die Beseitigung eines Regimes mit dessen spezifischen Verfolgungsmaßnahmen als endgültig, kann über den Wegfall der tatsächlichen Verfolgungsgefahr hinaus ein stabiler Staat weder zum Verfolgungsausschluss noch zum Gefahrenausschluss verlangt werden. Der Staat braucht also nicht stark zu sein. Die dargestellte Weichenstellung hinsichtlich stabiler Verhältnisse ist der Hauptgrund dafür, dass der Flüchtlingswiderruf in der Rechtsprechung einiger Instanzgerichte als rechtswidrig beurteilt wird; darauf ist noch einzugehen.

Die dargelegte erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der Verhältnisse muss nach dem anzulegenden Maßstab dazu führen, dass die Verfolgungsmaßnahmen nicht mehr wiederholt werden. Mit Blick auf die Vorverfolgung des Klägers gilt dafür der herabgestufte Maßstab der hinreichenden Sicherheit.

BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - BVerwG 9 C 6.96 -, BVerwGE 104, 97; ebenso BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21.04 -, zitiert nach Juris.

Dem bereits Vorverfolgten soll nicht das Risiko einer Wiederholung der Verfolgung aufgebürdet werden. Dabei braucht die Gefahr des Eintritts wiederholter Verfolgungsmaßnahmen nach diesem Maßstab nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen zu werden, so dass bereits geringe Zweifel dem Begehren zum Erfolg verhelfen würden. Vielmehr ist eine Wiederholungsgefahr der Verfolgung nach diesem Prognosemaßstab zu bejahen, wenn sich ernsthafte Bedenken nicht ausräumen lassen.

BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - BVerwG 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97.

Nach dem dargelegten Maßstab ist durch die Entmachtung Saddam Husseins eine erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der politischen Verhältnisse eingetreten, die nicht mehr umkehrbar ist. Dies steht mit hinreichender Sicherheit fest. Das Regime von Saddam Hussein ist gestürzt, seine Armee und seine Polizei sind aufgelöst, die Baath-Partei ist verboten, seine Verfolgungsmaßnahmen sind beendet, einige Mitglieder des Regimes sind getötet und Saddam Hussein und dem Kern seines Regimes wird im Irak der Prozess gemacht. Gerade darin liegt der Verfolgungsschutz des Klägers vor weiteren Unrechtsmaßnahmen des Regimes von Saddam Hussein, der keinen ernsthaften Bedenken unterliegt.

Dem hält der Kläger die eigene Einschätzung entgegen, angesichts der anerkannt labilen Sicherheitslage und der hohen Zahl der täglichen Anschläge sei in einem Bürgerkrieg oder jedenfalls einem Krieg von niedriger Intensität die Zukunft offen und es sei nicht auszuschließen, dass die Kräfte um den früheren Diktator Saddam Hussein wieder an die Macht gelangten, sein Machtclan sei noch vorhanden.

Dem Kläger ist zwar hinsichtlich der instabilen, manchmal eskalierenden Sicherheitslage, des hohen Gewaltniveaus durch tägliche Anschläge aus dem Untergrund im Sinne eines Untergrundkriegs und damit einer offenen Lage nach dem übereinstimmenden Erkenntnismaterial Recht zu geben.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005: amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005 und Jahresbericht 2006, UNHCR, Position von September 2005, vgl. auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Der Irak steht – wie es das OVG Koblenz prägnant formuliert – am Scheideweg zwischen Demokratie und Staatszerfall.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Insofern ist die Zukunft offen. Sie schließt den offenen Ausbruch eines Bürgerkriegs und ein Auseinanderbrechen des Irak ein.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

In dem hier entscheidenden Punkt, ob der Sturz des Regimes von Saddam Hussein und seines Machtclans in absehbarer Zeit unumkehrbar ist, besteht aber entgegen der Meinung des Klägers in Rechtsprechung und im Erkenntnismaterial ungeachtet der unterschiedlich kritischen Beurteilung des Iraks die fast einhellige Überzeugung, dass die Entmachtung Saddam Husseins und seines Clans nicht mehr umkehrbar ist.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den während des Laufs mehrerer Revisionsverfahren 2003 eingetretenen Sturz von Saddam Hussein abschließend selbst beurteilt mit dem Ergebnis, dass mit einer Wiederholung der Verfolgung offenkundig nicht mehr zu rechnen sei.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -; BVerwG Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, jeweils zitiert nach Juris.

Das Bundesverwaltungsgericht hält es also für offenkundig, dass Saddam Hussein und sein Clan nicht an die Macht zurückkehren.

Die Obergerichte teilen diesen Standpunkt. Nach der Auffassung des OVG Münster hat das bisherige Regime Saddam Husseins seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch den am 20.3.2003 begonnenen Militärschlag unter Führung der USA endgültig verloren und eine Rückkehr des alten Regimes ist nach den aktuellen Machtverhältnissen ebenso ausgeschlossen wie die Bildung einer Struktur, die eine vom früheren Regime gesehene Gegnerschaft als solche übernimmt und wiederholend verfolgt.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Der VGH Baden-Württemberg hält es mit hinreichender Sicherheit für ausgeschlossen, dass Anhänger des früheren Baath-Regimes bei realistischer Betrachtung wieder staatliche Herrschaftsgewalt ausüben könnten und zwar ungeachtet der äußerst angespannten Sicherheitslage.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Nach der Einschätzung des OVG Lüneburg ist der Sturz des Regimes von Saddam Hussein nach allen vorliegenden Erkenntnissen eindeutig und unumkehrbar, und zwar trotz der problematischen und oft eskalierenden Sicherheitslage im Irak.

OVG Lüneburg, Urteil vom 13.2.2006 - 9 LB 75/03 -.

Nach der Beurteilung des Bayerischen VGH gibt es keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass Saddam Hussein oder Angehörige seines früheren Regimes in absehbarer Zeit in der Lage sein könnten, sich neu zu formieren und staatliche Verfolgungsmaßnahmen zu veranlassen.

BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -.

Nach der Einschätzung des OVG Koblenz ist die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein vollständig; die tragenden Personen sind nicht nur durch das irakische Volk abgewählt, sondern zum Teil getötet oder außer Landes und ihm selbst und seinen führenden Helfern wird der Prozess gemacht, so dass eine weitere Verfolgung durch die persönliche Diktatur auszuschließen ist.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 107/95/05.OVG -.

Auch das OVG Schleswig-Holstein und das Sächsische OVG sehen den Machtverlust des diktatorischen Regimes von Saddam Hussein als endgültig an.

OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 18.5.2006 – 1 LB 117/05 -; Sächsisches OVG, Beschluss vom 28.8.2003 - A 4 B 573/02 -.

Soweit sich der Kläger auf die Rechtsprechung einiger Instanzgerichte beruft, die für den Irak die Widerrufsvoraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung verneinen, werden bei vergleichbarer Tatsachenwürdigung die rechtlichen Weichen anders gestellt. Das VG Köln ist der Auffassung, dass der Wegfall der ursprünglich die Verfolgung begründenden Verhältnisse nicht genüge und deshalb der Sturz des Regimes von Saddam Hussein allein nicht ausreiche; vielmehr müsse der Charakter der Veränderungen selbst stabil sein, was angesichts der hochgradigen instabilen Lage im Irak nicht der Fall sei.

VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -.

Allerdings ist die Rechtsprechung des VG Köln zur Rechtswidrigkeit des Widerrufs entgegen der Meinung des Klägers von dem OVG Münster nicht inhaltlich bestätigt worden. So hat das OVG Münster zwar in einem Beschluss vom 20.10.2005 (nicht: 19.7.2005) – 9 A 2944/05.A – ein entsprechendes Urteil des VG Köln aus prozessualen Gründen bestätigt. In seiner Rechtsprechung in der Sache selbst hat das OVG Münster aber wie dargelegt den Widerruf unter Abänderung einer Entscheidung des VG Köln als rechtmäßig angesehen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 – 9 A 3590/05.A – unter Abänderung des Urteils des VG Köln vom 24.8.2005 – 18 K 5732/04.A -.

Besonders deutlich wird die unterschiedliche rechtliche Weichenstellung bei im Wesentlichen gleicher Tatsacheneinschätzung in der Beurteilung des VG Sigmaringen, auf das sich der Kläger beruft.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -.

Nach der Rechtsprechung des VG Sigmaringen wurde durch die Militäraktion ein grundlegender Systemwechsel bewirkt; eine Rückkehr zu den alten Machtverhältnissen ist ausgeschlossen. Bei der Widerrufsentscheidung darf dagegen nicht die allgemeine Sicherheitslage ausgeklammert werden und wegen der erheblichen Unsicherheit der politischen Entwicklung und der realistischen Gefahr von Terroranschlägen hat ein Widerruf zu unterbleiben. Die abweichende Rechtsauffassung des VG Sigmaringen beruht also bei grundsätzlich gleicher Lagebeurteilung auf einer Rechtsauffassung, die das Bundesverwaltungsgericht und dem folgend der Senat nicht teilt.

Der Einschätzung durch die Rechtsprechung entspricht grundsätzlich auch die Beurteilung durch das vorliegende Erkenntnismaterial. In dem aktuellen Erkenntnismaterial wird meist nicht einmal mehr die Frage aufgeworfen, ob Saddam Hussein oder sein Clan an die Macht zurückkehren könnte.

Das Auswärtige Amt stellt eine Umsetzung des politischen Prozesses durch demokratische Wahlen bei gleichzeitig hohem Gewaltniveau und einer Annäherung an bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen fest; es geht davon aus, dass in dem am 19.10.2005 eröffneten Strafverfahren gegen Saddam Hussein und sieben weitere Repräsentanten der Diktatur den Angeklagten die Todesstrafe droht, rechnet also ersichtlich nicht mit einer erneuten Machtergreifung von Saddam Hussein und seinem Clan.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe würdigt in ihrer Analyse den politischen Übergang des Iraks zur Demokratie bei gleichzeitig äußerst schlechter Sicherheitslage.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Nach der Einschätzung der kritischen Flüchtlingshilfeorganisation UNHCR hat der Sturz des Regimes von Saddam Hussein noch nicht überall im Land zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen geführt; nach dem Sturz bestehen aber keine Anhaltspunkte dafür, dass Saddam Hussein selbst wieder die Macht erlangen könnte. Die Zukunft sei insofern unsicher, als es zu Sezessionsbestrebungen kommen könne.

UNHCR, UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention auf irakische Flüchtlinge von April 2005.

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international hat sich der Beurteilung durch UNHCR angeschlossen, dass nach dem Wegfall der autoritären Zentralgewalt der Sturz der Regierung von Saddam Hussein noch nicht im gesamten Irak zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen geführt hat; die Frage einer Rückkehr wird nicht aufgeworfen.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Das Deutsche Orient-Institut sieht in den Terroranschlägen lediglich einen Versuch, die politische Entwicklung des Irak zu bestimmen; die Rückkehrfrage von Saddam Hussein oder seines Machtclans wird nicht gestellt.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006.

Bei einer Gesamtwürdigung ist erkennbar, dass die vorliegende Rechtsprechung explizit von der Unumkehrbarkeit des Sturzes von Saddam Hussein in absehbarer Zeit ausgeht, während das aktuelle Erkenntnismaterial überwiegend die Frage bereits nicht mehr aufwirft. Soweit ersichtlich enthält das Erkenntnismaterial keinen näher begründeten ernsthaften Anhaltspunkt dafür, Saddam Hussein oder sein Machtclan könnte die Herrschaft im Irak wieder ergreifen und die Verfolgung ihrer früheren Gegner fortsetzen.

Dem Kläger ist einzuräumen, dass die Tatsache des praktisch einhelligen Ergebnisses in Rechtsprechung und Erkenntnismaterial eine Begründung dieser Prognose nicht ersetzt. Er beanstandet es, dass das Verwaltungsgericht seine Prognose zur Unumkehrbarkeit der Verhältnisse nicht begründet hat.

In der Rechtsprechung findet sich indessen eine tragfähige Begründung der Unumkehrbarkeit der Verhältnisse, die auch gegenüber der Argumentation des Klägers mit Blick auf die offene Lage überzeugt.

Wesentliche Bedeutung für die Unumkehrbarkeit des Verlustes der Macht hat die Art der Entmachtung des Regimes. Das Bundesverwaltungsgericht hat Gewicht darauf gelegt, dass das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -; BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -; jeweils zitiert nach Juris.

Ebenso hat das OVG Münster darauf abgestellt, dass das bisherige Regime von Saddam Hussein seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die am 20.3.2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren hat.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Das Regime von Saddam Hussein ist mithin nicht durch einen umkehrbaren Putsch oder durch die Intervention eines ähnlich starken Nachbarlandes entmachtet worden, sondern hat den Krieg gegen eine führende Macht der Welt endgültig verloren. In diesem Kriegsverlust liegt ein Unterschied zu dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung erwähnten Vietnamkrieg, in dem das nordvietnamesische Regime von den Amerikanern nicht besiegt und beseitigt wurde und sich erst danach neu etabliert hat. Ausdrückliches und erreichtes Kriegsziel im Irakkrieg war die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein. Der Verlust eines solchen Krieges lässt sich realistischerweise nicht einfach umkehren. Auch der sunnitische Widerstand geht in seiner Einschätzung von einer Übermacht der US-Truppen im Irak und nicht von einem Kräftegleichgewicht aus.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Die Kräfte sind zu ungleich, um mit dem Kläger insoweit eine offene Lage zu sehen. Deshalb bestehen auch keine ernsthaften Bedenken gegenüber der Unumkehrbarkeit des Sturzes von Saddam Hussein und seines Machtclans einschließlich seiner spezifischen Verfolgungsmaßnahmen.

Wenn der Kläger demgegenüber meint, die Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein seien nicht zerschlagen, da das Clan-System existiere und lebensfähig sei, überzeugt das nicht. Zu den Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein gehörten abgesehen von dem Clan vor allem seine Armee, seine Polizei und die Baath-Partei. Seine Armee und die Polizei sind zerschlagen worden, die Baath-Partei ist verboten. Die das Regime tragenden Personen des Machtclans sind vom irakischen Volk abgewählt, zum Teil getötet, und dem Kern des Regimes wird der Prozess gemacht, so dass bei einer Gesamtwürdigung von einer Beseitigung der persönlichen Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein auszugehen ist.

So überzeugend OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Alle diese Herrschaftsstrukturen sind endgültig zerschlagen. Allenfalls kann man mit der Einschätzung von UNHCR und amnesty international annehmen, dass es noch nicht überall im Land zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen gekommen ist, aber auch UNHCR sieht darin keinen Gesichtspunkt dafür, Saddam Hussein könne wieder die Macht erlangen.

Von Bedeutung ist, dass das Clan-System von Saddam Hussein allein in einer Minderheitsgruppe verankert war. Das OVG Münster stützt seine Prognose darauf, dass es nicht wieder zu einer Ballung der Macht bei einer der Volksgruppen kommen werde, zumal nicht in der Hand der nur eine Minderheit darstellenden Gruppe der Sunniten, in der das Regime Saddam Husseins vor allem verankert war.

OVG Münster, Urteil vom 17.5.2004 - 20 H 1810/02.A -.

Die arabischen Sunnitinnen und Sunniten stellen im Irak einen Bevölkerungsanteil von etwa 17 bis 22 % dar.

Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006.

Die gewaltsame Wiedererlangung der Macht einer diktatorischen sunnitischen Minderheit durch Bombenanschläge sowohl gegen die Mehrheit der großen Volksgruppen des Irak als auch gegen das erreichte Kriegsziel einer Weltmacht ist nicht realistisch.

Das bestätigt auch die bisherige demokratische Entwicklung des Irak, die durch einen Untergrundkrieg des Widerstands mit täglichen Bombenanschlägen nicht zu verhindern war. Die Entwicklung im Irak ist sowohl durch die demokratische Neugestaltung als auch den Untergrundkrieg mit Bombenanschlägen geprägt.

Die seit dem Irakkrieg 2003 eingetretene politische Entwicklung, insbesondere die demokratische Beteiligung der wesentlichen Gruppen des Iraks, der Schiiten, der arabischen Sunniten und der Kurden, lässt keinen Anhaltspunkt für eine nochmalige diktatorische Minderheitsherrschaft der Sunniten zu, wobei die von Saddam Hussein verfolgte Mehrheit der Schiiten realistischerweise auch nicht als Bündnispartner der Diktatur der Sunnitenminderheit bereit steht.

Am 28.6.2004 wurde unter Beendigung der amerikanisch-britischen Besatzung die Souveränität des Irak wieder hergestellt.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Die am 30.1.2005 erstmals durchgeführten demokratischen Wahlen führten zu einer demokratischen Legitimierung der irakischen Regierung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005.

Aufgrund dieser ersten Wahlen stellten die Schiiten den Ministerpräsidenten und 16 Minister, die Kurden 8 Minister, die Sunniten 6 Minister und die Christen und Turkmenen je einen Minister. Zum Staatspräsidenten wurde am 6.4.2005 der Kurde Talabani gewählt. Seine Stellvertreter wurden ein Schiit und ein sunnitischer Araber. Am 15.10.2005 hat die irakische Bevölkerung in einem Referendum die neue irakische Verfassung entgegen den Bombenandrohungen mit einer Wahlbeteiligung von immerhin 63 % angenommen. Die Verfassung bestimmt, dass der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat ist. Der Islam ist eine Hauptquelle der Gesetzgebung; die Verfassung enthält einen umfassenden Menschenrechtskatalog und garantiert eine Frauenquote von 25 % im Parlament. Am 19.10.2005 hat ein irakisches Sondergericht zur Aufarbeitung der Verbrechen des ehemaligen Regimes das erste Verfahren gegen Saddam Hussein sowie sieben weitere Repräsentanten des früheren Regimes eröffnet.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005, amnesty international, Jahresbericht 2006.

Am 15.12.2005 fanden im Irak Parlamentswahlen mit einer Wahlbeteiligung von immerhin 75 % der Wahlberechtigten ungeachtet der Bombendrohungen statt. Von den 275 Parlamentssitzen errangen die religiöse Schiiten-Allianz 128, das kurdische Wahlbündnis 53 und die sunnitische Irakische Konsensfront 44 Sitze.

Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006.

Die Regierungsbildung war sehr langwierig, da die Kurden und die Sunniten den bisherigen schiitischen Ministerpräsidenten Dschaafari ablehnten. Erst im Mai 2006 wurde eine neue Regierung durch das irakische Parlament bestätigt. Neuer Ministerpräsident ist der Schiit Al-Maliki. Der Ölminister ist Schiit, der Außenminister Kurde und der Vizepremier Sunnit.

Vgl. zur Regierungsbildung Süddeutsche Zeitung vom 22.5.2006.

Insgesamt spiegelt das vollständige Kabinett mit 20 Schiiten, 8 Kurden, 8 Sunniten und 4 Säkularen den ethnisch-konfessionellen Proporz des Irak wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Der Kurde Talabani wurde am 22.4.2006 erneut zum Staatspräsidenten gewählt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Angesichts der Entwicklung der Machtverhältnisse, die von einer Mehrheit der unter dem sunnitischen Regime unterdrückten schiitischen und kurdischen Bevölkerungsgruppen geprägt ist, hält es der Senat mit hinreichender Sicherheit für ausgeschlossen, dass Anhänger des früheren Baath-Regimes bei realistischer Betrachtung als Minderheitsgruppe wieder diktatorische Herrschaftsgewalt ausüben werden, dafür die zuvor von Saddam Hussein verfolgten Volksgruppen gewinnen und sodann die Verfolgung wieder aufnehmen.

Der Verlust des Krieges gegen eine Weltmacht kann realistischerweise nicht mehr umgekehrt werden und dies ist auch wie dargelegt im Vietnamkrieg nicht geschehen.

Nach allem liegt in der Entmachtung von Saddam Hussein und des Minderheitsregimes der arabischen Sunniten einschließlich der spezifischen Verfolgungsmaßnahmen des Regimes eine unumkehrbare Entwicklung. Der Kläger hat mithin offenkundig nicht mehr mit einer wiederholten politischen Verfolgung zu rechnen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Wegfall der politischen Verfolgung bereits im Jahr 2004 als offenkundig bezeichnet, BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, unter eigener Beurteilung der Entwicklung in der Revisionsinstanz.

Der Kläger ist also hinreichend sicher davor, dass der Clan um Saddam Hussein nach dem verlorenen Krieg gegen eine Weltmacht erneut eine sunnitische Minderheitsdiktatur begründet und die Verfolgung des Klägers gerade dort aufnimmt, wo sie 1995 beendet wurde, nämlich mit der vorgetragenen drohenden Verhaftung wegen der Übermittlung von Einzelheiten der Militärfahrzeuge Saddam Husseins an die kurdische Partei PUK im Nordirak. Nach dem herabgesetzten Prognosemaßstab ist der Kläger mithin vor einer solchen Wiederholung dieser spezifischen Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher.

Nach diesem Maßstab droht dem Kläger keine erneute Verfolgung.

Allerdings befürchtet der Kläger dennoch, er werde ungeachtet des Regimewechsels wegen des plausibel vorgetragenen früher begangenen militärischen Geheimnisverrats zugunsten der kurdischen Partei PUK weiterhin zur Rechenschaft gezogen. Dieser in der mündlichen Verhandlung von der Beklagten bestrittene Verfolgungsvortrag kann zugunsten des Klägers als richtig unterstellt werden. Auf Grund der vorgetragenen Verfolgung meint der Kläger nach seinem erstinstanzlichen Vorbringen, er müsse heute von den aktuell an der Macht Befindlichen Verfolgung befürchten, mithin von der irakischen Regierung.

Eine solche Individualverfolgung durch den – an sich verfolgungsfähigen - neuen irakischen Staat ist aber auszuschließen. Saddam Hussein ist durch die Militärmacht der Amerikaner und Engländer entmachtet worden. Die seinerzeit verfolgte und vom Kläger unterstützte kurdische Partei PUK wird nunmehr von Talabani geleitet, der selbst Staatspräsident des Irak ist.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die jetzige, demokratisch legitimierte Regierung des Irak setzt sich aus Gegnern Saddam Husseins zusammen. Insbesondere wurde der schiitische Ministerpräsident Al-Maliki unter Saddam Hussein zum Tode verurteilt; der Ölminister Al-Schahristani war unter Saddam Hussein inhaftiert und gefoltert worden, weil er sich weigerte, an der Entwicklung einer Atombombe und damit der militärischen Macht Saddam Husseins mitzuarbeiten.

Süddeutsche Zeitung vom 22.5.2006.

Ein nachträglicher Schutz einzelner Daten der Militärmacht Saddam Husseins nach dem Stand von 1995 durch die Strafgerichte des neuen irakischen Staats oder durch andere staatliche Maßnahmen liegt außerhalb jeder realen Möglichkeit. Im Visier der Regierungsmaßnahmen ist der sunnitisch-arabische Widerstand. Dazu gehört der Kläger eindeutig nicht, was keiner näheren Darlegung bedarf.

Weiterhin fürchtet der Kläger wegen der damaligen Weitergabe der Daten der Militärfahrzeuge eine Individualverfolgung durch nichtstaatliche Akteure (§ 60 I 4 c AufenthG), und zwar durch das sunnitische Terrorpotenzial, das den neuen irakischen Staat bekämpft. Der Kläger befürchtet einen individuellen Racheakt.

Eine solche Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu prüfen, wenn der Staat beziehungsweise gebietsmächtige Organisationen einschließlich internationaler Organisationen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 -.

Nach der zutreffenden Einschätzung von UNHCR sind die Koalitionstruppen und die irakischen Sicherheitskräfte, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, nicht im Stande, die Sicherheit vor Attentaten zu gewährleisten.

UNHCR, Hinweise von April 2005; Position von September 2005; ebenso UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Mithin ist die Gefahr eines individuellen Attentats auf den Kläger zu prüfen.

In der irakischen Wirklichkeit kommen individuelle Racheakte vor. Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich insbesondere, dass Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der Regierung zusammenarbeiten, mit Racheakten des bewaffneten sunnitischen Widerstands rechnen müssen.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und schon vom 24.11.2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005 sowie vom 9.6.2004: frühere exponierte Parteimitglieder und Angehörige des früheren Regimes, die die Seite gewechselt haben; keine Berichterstattung über solche Fälle in amnesty international, Jahresbericht 2006.

So hat sich das Deutsche Orient-Institut insbesondere mit dem Fall eines Arztes befasst, der nach dem Ende des Saddam-Regimes einen Lagerwechsel vornahm, politisch gegen das ehemalige Regime arbeitete und dafür von dem sunnitischen Widerstand gezielt ermordet wurde; hier hat das Deutsche Orient-Institut eine individuelle Gefahr auch für den Bruder des ermordeten Arztes bejaht.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006.

Insofern werden Seitenwechsler als Verräter und Kollaborateure im Einzelfall von dem sunnitischen Widerstand durch Racheakte bestraft.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006.

Zu diesen Personen gehört der Kläger aber nicht, der als bereits ursprünglicher Gegner Saddam Husseins und Anhänger der kurdischen Sache zu keinem Zeitpunkt die Seite gewechselt hat. Vielmehr hat er nach seiner Erstanhörung vom 13.12.1995 die Zusammenarbeit mit der Baath-Partei von Saddam Hussein abgelehnt.

Im Einzelfall kommen auch Racheakte von ehemaligen Anti-Saddamisten an Saddamisten vor, wenn es auch im Irak keine „Nacht der langen Messer“ gegeben hat.

Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 3.4.2006.

Auch davon ist der Kläger nicht betroffen, da er kein Saddamist war.

Im Übrigen kommen auch individuelle Racheakte im Verhältnis von Schiiten und Sunniten vor, die sich gegenseitig die begangenen Morde vorrechnen; diejenigen, die sich für ihre Racheakte Opfer suchen, tun dies auf ganz direkte Weise und aus ganz direkten Gründen.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006.

Bezogen auf die Vergangenheit kommt es in Einzelfällen zu individuellen Racheakten aus dem ganz direkten Grund, dass jemand persönlich Blut an seinen Händen hat.

So das Deutsche Orient-Institut in seinen Gutachten vom 14.6.2005 und vom 31.3.2005.

Auch eine solche Individualgefahr von Racheakten betrifft den Kläger nicht, der bereits nach seinem ursprünglichen Vortrag bei seiner Erstanhörung in Deutschland vom 13.12.1995 bis einschließlich der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nichts über eine Verwicklung in eine Bluttat vorgetragen hat.

Indirekte Gründe begründen dagegen nicht die realistische Gefahr eines Racheaktes. Insbesondere haben selbst die früheren Kämpfe gegen die Kurden heute nicht mehr das Gewicht, das für einen Racheakt einer der beiden Seiten erforderlich wäre.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.6.2005, mit Ausnahme der persönlichen Verantwortlichkeit für ein Massaker, die hier aber ersichtlich nicht vorliegt.

Ist aber bereits die direkte Beteiligung an früheren Kämpfen zwischen Kurden und Arabern heute nicht mehr unter dem Gesichtspunkt von gegenseitigen individuellen Racheakten von Gewicht, gilt dies erst recht für die bloß indirekte Beteiligung an den Kämpfen durch Übermittlung von Fahrzeugdaten der Militärfahrzeuge Saddam Husseins nach dem Stand von 1995. Die damaligen Übermittlungen des Klägers von Fahrzeugdaten an die Kurden fanden acht Jahre vor dem entscheidenden Irak-Krieg von 2003 statt, durch den Saddam Hussein die Macht verloren hat. Zu diesem entscheidenden Irak-Krieg hat der Kläger, der in Deutschland war, nichts beigetragen. Die militärischen Einzelheiten von Armeefahrzeugen Saddam Husseins nach dem seinerzeitigen Stand von 1995 haben keine Bedeutung für den jetzigen sunnitischen Widerstand, der den aktuellen Staat aus dem Untergrund mit Autobomben und Selbstmordattentaten – und nicht etwa mit Panzern und Armeefahrzeugen - bekämpft. Deshalb ist der Kläger bei realistischer Betrachtung nicht in Gefahr, wegen seiner indirekten Unterstützung der kurdischen Sache im Jahr 1995 persönliche Zielscheibe eines Attentats des sunnitischen Widerstands zu werden.

Nach allem ist der Kläger hinreichend sicher vor einer Individualverfolgung wegen seiner vorgetragenen früheren indirekten Unterstützung der kurdischen Sache.

Auf den Streit der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung, ob der durchaus plausible ursprüngliche Verfolgungsvortrag des Klägers zutrifft, kommt es daher nicht an.

Sonstige Gesichtspunkte für eine Individualverfolgung des Klägers sind weder ersichtlich noch vorgetragen.

Zu prüfen ist sodann die in der mündlichen Verhandlung erörterte mögliche Gruppenverfolgung des Klägers als Mitglied der kurdisch-sunnitischen Volksgruppe durch Terrorkräfte als private Akteure. Bei der ethnisch-religiösen Gruppenverfolgung durch Private handelt es sich um eine gänzlich anders geartete Verfolgung als bisher behandelt ohne jeden Zusammenhang mit der Vorverfolgung durch Saddam Hussein, und deshalb ist im Rahmen der Widerrufsreglung nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – BVerwG 1 C 15.05 -.

Ein Ereignis ist dann beachtlich wahrscheinlich, wenn die für den Eintritt sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen.

BVerwG, Urteil vom 14.12.1993 – 9 C 45.92 -.

Ausgehend von diesem Maßstab droht dem Kläger als Mitglied der kurdischen Volksgruppe landesweit keine Gruppenverfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Als tatsächlicher Grund für eine solche Verfolgung sind die Terroranschläge im Irak zu prüfen.

Das größte Risiko für alle Menschen im Irak ist die instabile, manchmal eskalierende Sicherheitslage durch die Terroranschläge aus dem Untergrund, die an der Tagesordnung sind.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005 und Jahresbericht 2006; zur landesweit anhaltenden Gewalt auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Im Irak gibt es täglich landesweit mehr als hundert Anschläge aus dem Untergrund.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -, S. 15; zu den Anschlagsarten SFH, Position vom 9.6.2004.

Das entspricht einem Untergrundkrieg, wie auch in der mündlichen Verhandlung erörtert wurde.

Insgesamt hat die Sicherheitslage im Irak einen Tiefpunkt erreicht.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Sicherheitslage ist nicht nur in Bagdad prekär, sondern auch in den anderen großen Städten des Zentral- und Südirak sehr angespannt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Nach der zutreffenden Einschätzung von UNHCR sind die Koalitionstruppen und die irakischen Sicherheitskräfte, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, nicht imstande, die Sicherheit der irakischen Bevölkerung vor Attentaten und Sprengstoffanschlägen zu garantieren.

UNHCR, Hinweise von April 2005, UNHCR, Position von September 2005; UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Die darzulegenden Gefahren sollen hier im Rahmen des rechtlichen Ansatzes des Senats nach dem Maßstab der landesweiten Gruppenverfolgung dahingehend betrachtet werden, ob sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung zu Lasten des Klägers, der ein sunnitischer Kurde ist, begründen lässt; danach ist auf eine Fluchtalternative einzugehen.

Die den Untergrundkrieg führende bewaffnete Opposition im Irak setzt sich aus verschiedenen Gruppierungen zusammen mit einem harten Kern von ungefähr 12.000 bis 40.000 Mitgliedern, die teils einen islamistischen Hintergrund, teils einen arabisch-nationalistischen Hintergrund haben.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, wonach sich bei 20.000 Militanten eine klar Trennlinie zwischen baathistischen und islamistischen Rebellen nicht ziehen lässt.

Zwischenzeitlich besteht der bewaffnete Widerstand im Untergrund ganz überwiegend aus sunnitischen Arabern.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands, unter Hinweis darauf, dass etliche prominente und vor allem ausländische Mitglieder der Al-Qaida inzwischen durch den beträchtlichen Druck der amerikanischen Besatzungstruppen entweder festgenommen worden sind oder bereits im Kampf gefallen sind.

Der Hauptzweck des bewaffneten Widerstandes wird in dem Erkenntnismaterial praktisch einhellig darin gesehen, den Wiederaufbau des Landes zu verhindern oder wenigstens nachhaltig zu stören.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien vom 4.2.2006; Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands; sinngemäß auch UNHCR, Hinweise von April 2005, dort in personalisierter Form des Ziels mit Blick auf die Personen des Wiederaufbaus.

Für den bewaffneten irakischen Widerstand stellt die schiitisch dominierte irakische Regierung derzeit den Hauptgegner dar, irakische Truppeneinheiten sind ein bevorzugtes Angriffsziel.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Es gibt derzeit landesweit etwa 240.000 irakische Soldaten und Polizisten.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Im Erkenntnismaterial besteht im Wesentlichen Übereinstimmung, dass zu dem Hauptziel der Anschläge die irakische Regierung und die irakischen Sicherheitskräfte gehören.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, zu den irakischen Sicherheitskräften; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 6.9.2005, zu den irakischen Sicherheitskräften; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, zu den Regierungsmitgliedern; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 9.6.2004, zu den neuen irakischen Sicherheitskräften; UNHCR, Hinweise von April 2005, zu den Mitarbeitern der irakischen Regierung und zu Polizisten; amnesty international, Jahresbericht 2006.

Diese Personen sind als Zielscheibe des Terrors einem erhöhten Risiko ausgesetzt, durch Bombenanschläge in dem Untergrundkampf umzukommen. Nach der Einschätzung von amnesty international sind alle Personen, die bei den multinationalen Streitkräften oder bei der irakischen Polizei angestellt sind, in Gefahr, gezielt bei der Arbeit oder in ihrer Freizeit als Kollaborateur ermordet zu werden.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; amnesty international, Jahresbericht 2006.

Der Kläger gehört eindeutig nicht zu diesem erhöht gefährdeten Personenkreis.

Entsprechend dem dargelegten Ziel des bewaffneten Widerstandes, den Wiederaufbau im Irak zu verhindern, gehören zu den engeren Anschlagszielen über Regierung und Sicherheitskräfte hinaus die öffentlichen Personen des Wiederaufbaus.

Zu den exponierten Personen gehören nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe Personen der Öffentlichkeit wie Intellektuelle, Ärzte, Anwälte, Richter, Menschenrechtsaktivisten, führende Persönlichkeiten irakischer Parteien, religiöse Würdenträger, Medienschaffende und irakische Unternehmer.

Vgl. die insgesamt sehr umfangreiche Auflistung erhöht gefährdeter Personen des Wiederaufbaus in den Berichten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9.6.2004 und vom 15.6.2005.

Damit vergleichbar sind nach der Einschätzung von UNHCR insbesondere Personen gefährdet, die sich um den Wiederaufbau im Irak bemühen, wie über Regierungsmitglieder und Polizisten hinaus Richter, Rechtsanwälte, Intellektuelle, Ärzte und Journalisten.

UNHCR, Hinweise von April 2005 und Positionspapier von Oktober 2004.

Anschlagsziele sind nach der vergleichbaren Darlegung von amnesty international auch Angestellte des öffentlichen Dienstes, Regierungsbeamte, Richter und Journalisten.

amnesty international, Jahresbericht 2006.

Auch nach der Würdigung des Auswärtigen Amtes richten sich die Anschläge zunächst vor allem gegen Personen, die mit dem politischen oder wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes verbunden werden.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, in der Zusammenfassung; im Einzelnen werden insbesondere Anschläge auf Politiker, Journalisten und Professoren sowie Ärzte dargestellt.

Der Senat legt für seine Rechtsprechung die im Wesentlichen übereinstimmende Einschätzung des Auswärtigen Amtes, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von UNHCR zugrunde, dass die Anschläge insbesondere auch öffentlichen Personen des Wiederaufbaus im Irak gelten.

Zur terminologischen Klarstellung sei noch darauf hingewiesen, dass teilweise die Personen, die lediglich gegenwärtig am Wiederaufbau teilnehmen, schon deshalb ohne weiteren Vergangenheitsbezug als Kollaborateure angesehen werden (im Gegensatz zu den bereits dargestellten Seitenwechslern). So sind nach der Einstufung von amnesty international alle Personen, die derzeit bei den multinationalen Streitkräften oder bei der irakischen Polizei angestellt sind, in Gefahr, gezielt als Kollaborateur ermordet zu werden.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; für Angestellte der multinationalen Streitkräfte nochmals amnesty international, Jahresbericht 2006.

In diesem weiten Sinn gebraucht auch der vom Kläger herangezogene Widerrufsbescheid vom 19.10.2004, S. 8 (Widerrufsakte Bl. 25) den Begriff Kollaborateur, wonach die anhaltenden Anschläge im Irak in aller Regel zielorientiert den multinationalen Truppen gelten, den irakischen Polizeistationen sowie der Kollaboration verdächtigten Repräsentanten irakischer Institutionen sowie ausländischen Zivileinrichtungen.

Dieser weit gefasste Begriff der Kollaboration knüpft allein an die gegenwärtige Wiederaufbaubeteiligung an.

Ähnlich Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006, wonach kooperations- und beteiligungswillige arabische Sunniten von den gewalttätigen Kräften als Kollaborateure angesehen werden.

Nach allem ist der Senat mit Blick auf die übereinstimmende Würdigung des Auswärtigen Amts, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von UNHCR der Auffassung, dass engere Anschlagsziele über Regierung und Sicherheitskräfte hinaus die öffentlichen Personen des Wiederaufbaus mit einer daraus folgenden erhöhten Gefährdung sind.

Zu dieser Personengruppe gehört der Kläger nicht. Er ist bezogen auf den gegenwärtigen Wiederaufbau des Irak schon wegen seiner über zehnjährigen Abwesenheit seit 1995 keine öffentliche Person des Wiederaufbaus. Mithin kann realistischerweise ausgeschlossen werden, dass der Kläger nach einer Rückkehr in den Irak als öffentliche Person des Wiederaufbaus und in diesem Sinn als Kollaborateur zu den engeren Anschlagszielen des bewaffneten irakischen Widerstands gehört.

Da der sunnitische Widerstand vor allem die schiitisch dominierte Regierung als Hauptgegner ansieht, gerät die schiitische Volksgruppe insgesamt in das Blickfeld des Widerstands und kommt es im Sinne von weiter gestreuten Zielen auch zu Selbstmordattentaten insbesondere in schiitischen Vierteln Bagdads, die überwiegend der schiitischen Volksgruppe gelten.

Vgl. zu einem solchen Attentat mit 140 getöteten Zivilpersonen amnesty international, Jahresbericht 2006, S. 209; zur internen Diskussion von Anschlägen auf Schiiten vgl. Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstandes.

Auf die Bedrohung der schiitischen Volksgruppe ist noch einzugehen.

Solche Anschläge bedeuten aber zugleich eine Gefahr für alle Zivilpersonen, die sich – auch als Nichtschiiten wie der Kläger – zufällig in einem solchen schiitischen Stadtviertel aufhalten.

Im Falle einer Rückkehr in den Irak ist der Kläger auch als Kurde der landesweiten Gefahr von Terroranschlägen letztlich ebenso ausgesetzt wie die Zivilbevölkerung des Irak, und zwar ohne hinreichenden Schutz der Sicherheitskräfte. Als allgemeine Gefahr für die gesamte Zivilbevölkerung wird die Anschlagswelle auch im Erkenntnismaterial gesehen.

Das Auswärtige Amt würdigt die Anschläge ausdrücklich als enorme allgemeine Bedrohung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Das Deutsche Orient-Institut sieht dies ebenso. Die zahlreichen Anschläge gelten danach insbesondere Institutionen der irakischen Sicherheitskräfte, von ihnen sind aber alle Irakerinnen und Iraker bedroht; die Terroristen nehmen den Tod völlig Unbeteiligter massenhaft in Kauf.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 6.9.2005.

Nach der Feststellung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe werden Zivilisten oft Opfer, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 9.6.2004.

Nach der Würdigung des Auswärtigen Amtes trägt die weitgehend ungeschützte Zivilbevölkerung den Großteil der Opferlast.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Passanten werden regelmäßig Opfer von Gewalt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Nach Darlegung von amnesty international kommen Zivilpersonen ums Leben bei Autobomben oder Anschlägen von Selbstmordattentätern, die an sich der irakischen Polizei, Regierungstruppen, Militärkonvois und Stützpunkten der multinationalen Truppen gelten.

amnesty international, Jahresbericht 2006.

Bei den Sprengstoffanschlägen werden nach Darlegung von UNHCR unbeteiligte zivile Opfer von den Akteuren bewusst in Kauf genommen.

UNHCR, Hinweise von April 2005.

Ein Minimum an Schutz der Zivilbevölkerung vor den Bombenanschlägen besteht nicht.

UNHCR, Position von September 2005.

Der Senat geht sodann auf die landesweite Anschlagsdichte ein.

Entsprechend der Betrachtungsweise, dass die Zivilbevölkerung insgesamt Opfer der Terroranschläge ist, enthält das Erkenntnismaterial summierte Zahlen über die zivilen Opfer für den gesamten Irak.

Die Anschlagsopfer unter den Sicherheitskräften einerseits und unter der Zivilbevölkerung andererseits werden im Erkenntnismaterial verglichen. Besonders hohe Verluste haben die irakischen Sicherheitskräfte mit – allein 2005 – 4300 getöteten Polizisten und Soldaten.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Amnesty international hat sowohl die Opfer unter den amerikanischen Soldaten als auch unter der Zivilbevölkerung landesweit konkret dargelegt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Danach wurden durch die Anschläge 1.572 US-Soldaten getötet und 12.174 verletzt. Bei den Anschlägen kamen 2.300 Zivilisten ums Leben und die Anzahl der zivilen Opfer insgesamt wird zwischen 21.239 und 24.106 eingeschätzt. Das Auswärtige Amt gibt eine – pauschale - höhere Zahl von Opfern unter den Zivilisten zwischen 30.000 und 100.000 wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Bezogen auf die Zivilbevölkerung des Irak ist zunächst mit Blick auf das Gewicht der Verfolgungshandlungen von dem schwersten asylerheblichen Eingriff der Anschläge mit Todesfolge auszugehen und die Anschlagsdichte festzustellen.

Die – jährlich wachsende - Bevölkerung des Irak beträgt rund 27 Millionen Menschen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die mehrjährigen Todesopfer unter der Zivilbevölkerung durch Massenanschläge gibt amnesty international mit über 2.300 Menschen an.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort S. 10.

Die Anschlagsdichte der tödlichen Anschläge beträgt mithin für die gesamte Zivilbevölkerung des Irak im Durchschnitt 1:12.000.

Nach dem schwerstmöglichen Eingriff der Tötung ist auf die Verletzungsgefahr durch Massenanschläge abzustellen. Dafür liegen sowohl konkrete Zahlen als auch pauschale Abschätzungen vor. Nach den konkreten Zahlen von amnesty international wurden landesweit zwischen 21.239 und 24.106 zivile Opfer durch Anschläge geschätzt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, S. 10.

Auszugehen ist von der Maximalzahl von 24.106 Opfern. Bezogen auf die Verletzungsgefahr ist damit die Anschlagsdichte auf der Grundlage der Zahlen von amnesty international 1:1100.

Eine nochmals viermal höhere pauschale Schätzung für die zivilen Opfer gibt das Auswärtige Amt mit 30.000 bis 100.000 Opfern wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, dort S. 15.

Nach den derzeitigen Zahlen wurden jeden Monat 3.000 Iraker verletzt oder getötet.

Süddeutsche Zeitung vom 4.9.2006, S. 1, unter Wiedergabe einer Analyse des amerikanischen Verteidigungsministeriums.

Das entspricht auf das Jahr bezogen rund 36.000 Anschlagsopfern.

Geht man von der noch höheren Schätzung des Auswärtigen Amtes von 100.000 Anschlagsopfern aus, ergibt sich als Höchstabschätzung eine landesweite Anschlagsdichte von 1:270.

Zahlen liegen auch für Bagdad vor, die einen Vergleich von Tötungsrate und Entführungsrate ermöglichen. So beträgt nach den Zahlen von amnesty international speziell die Tötungsrate in Bagdad, hier aber einschließlich der Kriminalität, 90 von 100.000 Einwohnern.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort S. 10; zu einer Gewalteskalation in Bagdad mit 1091 Tötungen im April 2006 vgl. Süddeutsche Zeitung von 11.5.2006, S. 7.

Auf dieser Grundlage besteht die Gefahr, in Bagdad durch Anschläge oder anschlagsunabhängig durch Kriminelle getötet zu werden, rund 1:1.100.

Ähnlich groß ist in Bagdad die Entführungsgefahr. Ausgehend von täglich 10 bis 15 meist kriminellen Entführungsfällen

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/005.OVG -, S. 15

ergeben sich bei täglich 15 Fällen im Jahr rund 5500 Entführungen und damit bezogen auf die 5-Millionen-Stadt eine Entführungsrate von rund 1:900.

Die Entführungsrate ist also der Tötungsrate vergleichbar.

Die dargelegten Zahlen belegen die äußerst problematische und manchmal eskalierende Sicherheitslage im Irak und die Gefahr der Zivilbevölkerung, durch einen Anschlag verletzt oder getötet oder entführt zu werden. Ein vollständiges Ausweichen vor den Anschlägen ist der Zivilbevölkerung des Irak landesweit nicht möglich, auch wenn im kurdisch verwalteten Nordirak die Anschlagsdichte insgesamt geringer ist.

Vgl. zu Letzterem übereinstimmend Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006 sowie Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, wonach die Sicherheitslage im Nordirak mit Ausnahme von wenigen Anschlägen stabil ist, und UNHCR, Position von September 2005, wonach deutlich weniger Gewalttaten verübt werden.

Mithin liegt eine allgemeine Gefahr für die Zivilbevölkerung vor, der sie landesweit nicht vollständig ausweichen kann. Es ist verständlich, dass der Kläger in ein solches Land nicht zurückkehren möchte, in dem er sich nach seinem persönlichen Vorbringen in der mündlichen Verhandlung überdies als Ausländer fühlt.

Für den Widerruf entscheidend ist aber nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts allein das Vorliegen einer Verfolgungsgefahr, nicht einer allgemeinen Gefahr. Deshalb muss der Senat prüfen, ob sich die Gefahr zugunsten des Klägers rechtlich als Gruppenverfolgungsgefahr würdigen lässt.

Als Gruppenverfolgung kommt hier die private Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure, insbesondere den sunnitischen Untergrund, in Betracht.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner neuen Rechtsprechung klargestellt, dass für die private Gruppenverfolgung grundsätzlich die gleichen Anforderungen wie für eine staatliche Gruppenverfolgung gelten.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Diesem Maßstab schließt sich der Senat an.

Der Senat prüft im Folgenden als generelle Verfolgungsmuster im Irak nacheinander eine Gruppenverfolgung der Zivilbevölkerung und dann der großen Volksgruppen.

Die allgemeine Anschlagsgefahr kann zugunsten des Klägers nicht bereits als Gruppenverfolgung der Zivilbevölkerung des Irak insgesamt angesehen werden. Das ergibt sich sowohl aus dem erforderlichen Ausgrenzungsgesichtspunkt der Verfolgung als auch aus dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet die politische Verfolgung grundrechtlich eine Ausgrenzung durch intensive Rechtsverletzungen.

BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 231.

Die Zivilbevölkerung des Irak kann nicht im Ganzen aus dem irakischen Volk ausgegrenzt werden.

Das Europarecht führt mit Eindeutigkeit zu demselben Ergebnis. Nach Art. 10 I d der neuen als Auslegungshilfe heranziehbaren europäischen Qualifikationsrichtlinie muss eine verfolgte Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität haben und von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Dies scheidet bei der Zivilbevölkerung des Irak aus, denn für sie existiert keine sie umgebende Gesellschaft.

Weiterhin fehlt es selbst bei unterstellter Ausgrenzung an dem Merkmal der Verfolgungsdichte. Die Gruppenverfolgung bedeutet eine Regelvermutung der eigenen Verfolgung.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Eine Gruppenverfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voraus, dass jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muss; die eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen muss als eher zufällig anzusehen sein.

Zu diesen Merkmalen BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216-231 und 232.

Bei der Verfolgungsdichte ist sodann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwischen großen und kleinen Gruppen zu unterscheiden, da eine bestimmte absolute Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe als bedrohlich erweist, eine große Gruppe nicht im Ganzen bedroht.

BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158/94 -, zitiert nach Juris.

Als große Gruppe hat das Bundesverwaltungsgericht insbesondere eine Gruppe von knapp 2 Millionen Kosovo-Albanern sowie eine Gruppe von 4 Millionen Kurden in bestimmten Gebieten der Türkei angesehen, als kleine Gruppe insbesondere eine Gruppe syrisch-orthodoxer Christen in der Türkei von etwa 1.300 Personen.

Zu den großen Gruppen BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158/94 -; Urteil vom 30.4.1996 - 9 C 170/95 -; zu der kleinen Gruppe Beschluss vom 22.5.1996 - 9 B 136/96 -.

Bei der Zivilbevölkerung des Irak von 27 Millionen Menschen läge im Sinne der Rechtsprechung zur Verfolgungsdichte eine große Gruppe vor. Einen Anhaltspunkt für die erforderliche Verfolgungsdichte ergibt sich aus der dargelegten Verfassungsrechtsprechung, wonach die eigene bisherige Verschonung eher zufällig sein muss. Dies erfordert zwar nicht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit von Eingriffen, da auch eine qualitative Betrachtung erforderlich ist. Bezogen auf eine große Gruppe hat das Bundesverwaltungsgericht eine Verfolgungsdichte von etwa einem Drittel als im Ansatz ausreichend angesehen, die aber auf entsprechender Tatsachengrundlage belegt werden muss.

BVerwG, Urteil vom 30.4.1996 - 9 C 170/95 -, wonach der Ansatz des Berufungsgerichts von 1,5 Millionen Eingriffen gegenüber 4 Millionen Kurden mit Blick auf die erforderliche Verfolgungsdichte nicht beanstandet wird, wohl aber mit Blick auf die Belegung durch Tatsachenfeststellungen.

Die genaue Grenzziehung kann offen bleiben. Im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird die notwendige Verfolgungsdichte bei einer großen Gruppe allenfalls noch bei einer Verfolgungsdichte von 1:10 erreicht; dann könnte noch von einer Regelvermutung der eigenen Verfolgung gesprochen werden. Positiv gewendet überleben bei dieser Verfolgungsdichte 90 % der Mitglieder der großen Volksgruppe die Anschläge unverletzt. In diesem Fall kann es im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr als Zufall angesehen werden, dass ein einzelnes Mitglied der Volksgruppe unverletzt überlebt.

Die dargelegte Anschlagsdichte für die Zivilbevölkerung nach den konkreten Zahlen von amnesty international für Verletzungsopfer von 1:1100 und selbst nach den höheren pauschalen Zahlen des Auswärtigen Amtes von 1:270 wahrt einen sicheren Abstand von der kritischen Verfolgungsdichte von 1:10. Bei der festgestellten landesweiten Anschlagsdichte im Irak kann es ungeachtet der Furchtbarkeit der Einzelschicksale nicht mehr als bloßer Zufall angesehen werden, dass ein Gruppenmitglied bisher selbst von einem Anschlag verschont worden ist und im Irak unverletzt überlebt. Vielmehr ist es ein Zufall, selbst von einem Anschlag getroffen zu werden. Die Tötungs- und Entführungsgefahr ist wie dargelegt geringer als die Verletzungsgefahr. Bei einer qualitativen Wertung kann ausgeschlossen werden, dass entsprechend den Verfolgungsvoraussetzungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die gesamte Zivilbevölkerung des Irak gezwungen wäre, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage ihr Land zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen.

Zu dieser Voraussetzung BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 230.

Ungeachtet der landesweit ungewöhnlich hohen Anschlagszahlen im Irak und der problematischen Sicherheitslage besteht nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jedes Mitglied der Zivilbevölkerung allenfalls noch zufällig ohne Entführung und unverletzt überleben kann, in eine ausweglose Lage gebracht wird und das Land verlassen muss.

Bei der Frage der Gruppenverfolgung ist nach der Zivilbevölkerung als größtmöglicher Gruppe auch die Aufgliederung des Irak in große Bevölkerungsgruppen als generelles Verfolgungsmuster in den Blick zu nehmen.

Die größte Bevölkerungsgruppe bilden die arabischen Schiitinnen und Schiiten, die rund 60 % bis 65 % der Bevölkerung ausmachen und vor allem im Südosten und Süden des Landes wohnen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe sind die arabischen Sunnitinnen und Sunniten mit etwa 17 bis 22 % der Bevölkerung und damit rund 5 Millionen, die ihren Schwerpunkt im Zentralirak und Westirak haben.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die vor allem im Norden des Landes lebenden überwiegend ebenfalls sunnitischen Kurdinnen und Kurden machen mit 15 bis 20 % der Bevölkerung rund 5 Millionen aus.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

In Bagdad leben unterschiedliche Bevölkerungsgruppen teilweise in eigenen Vierteln.

Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; amnesty international, Jahresbericht 2006 für schiitische Viertel.

Engeres Ziel der Anschläge des irakischen Widerstandes sind die irakischen Sicherheitskräfte, d.h. die irakischen Truppeneinheiten und die neue irakische Polizei. Der Truppen- und Polizeieinsatz der irakischen Sicherheitskräfte erfolgt landesweit. Da diese Sicherheitskräfte Zielscheibe des Terrors sind, erfolgen die Anschläge nach dem Erkenntnismaterial landesweit und sind nicht etwa auf den Zentralirak begrenzt.

Zu den landesweiten Anschlägen eingehend Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005, ebenfalls zu den landesweiten Anschlägen amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, zur Gefahr für jeden Iraker Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Auch im Nordirak erfolgen Anschläge etwa auf Polizeirekruten.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Ungeachtet der Binnenströme der Bevölkerung jeweils zu ihren eigenen Hochburgen

vgl. zu Binnenvertreibungen aus den Hochburgen anderer Bevölkerungsgruppen außerhalb Bagdads insbesondere Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; zu Binnenvertreibungen von 35.000 Menschen aufgrund des Anschlags auf die schiitische Moschee von Samarra Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

treffen bei einer Gesamtbetrachtung die landesweiten Bombenanschläge im Irak neben dem eigentlichen Ziel der irakischen Sicherheitskräfte auch immer die Zivilbevölkerung jedes Geschlechts und Alters in ihrer jeweiligen Volksgruppenprägung. Die Terroristen nehmen den Tod völlig unpolitisch-unbeteiligter Irakerinnen und Iraker massenhaft in Kauf, und Zivilpersonen werden oft Opfer, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind.

Amnesty international, Jahresbericht 2006; Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005 und Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004, UNHCR, Hinweise von April 2005.

Die Zivilbevölkerung trägt den Großteil der Opferlast der Anschläge.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Dieser Zusammenhang von Operationen gegen die irakischen Polizei- und Militärkräfte und gegen die Zivilbevölkerung ist auch dem bewaffneten irakischen Widerstand bewusst und führt dort zu Differenzen.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Solange der Tod der unpolitisch-unbeteiligten Zivilbevölkerung massenhaft in Kauf genommen wird, ist jede Irakerin und jeder Iraker, ungeachtet der Religionszugehörigkeit, von diesen Anschlägen bedroht.

So überzeugend Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Nach der demografischen Zusammensetzung des Irak sind rund 60 % der Bevölkerung Frauen – also etwa 17 Millionen – und 50 % der Bevölkerung – also etwa 13,5 Millionen – sind unter 18 Jahren alt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die gewaltsamen Anschläge können gleichsam blind jeden treffen.

OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -.

Auch Kinder sind Opfer der Bombenanschläge.

Amnesty international, Jahresbericht 2006.

Bei dieser Sachlage fehlt es aber bei den Anschlägen an einer Ausgrenzung jedenfalls der großen Volksgruppen mit Ausnahme allenfalls der schiitischen Volksgruppe. Nach der Verfassungsrechtsprechung knüpft die Gruppenverfolgung an kollektive Merkmale einer Gruppe an.

BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 231.

Die dargelegten Terroranschläge, die eigentlich auf die Sicherheitskräfte und auf öffentliche Personen des Wiederaufbaus zielen, treffen wegen des Terrormittels der Bombenexplosionen je nach dem Wohnviertel immer auch die jeweilige unbeteiligte Zivilbevölkerung, in einem schiitischen Wohnviertel mithin vor allem Schiiten. Der Kampf des sunnitischen Widerstandes gegen die schiitisch dominierte Regierung kann allerdings auch die große schiitische Volksgruppe in den Blick nehmen und im Weiteren etwa auch schiitische Stadtviertel Bagdads einschließen.

Zur Vorgehensweise amnesty international, Jahresbericht 2006; zu den Widerstandszielen einschließlich der kontrovers diskutierten Anschläge auf Schiiten Le Monde diplomatique vom 12.5.2006.

Bei solchen Selbstmordanschlägen und Autobomben wird aber zugleich die unbeteiligte Zivilbevölkerung auch von Sunniten und Kurden mit betroffen.

Allenfalls bei Anschlägen in Form gezielter Erschießungen nach Kontrolle der Volkszugehörigkeit an Hand der Ausweise kann es vorkommen, dass bei demselben Attentat nach dem Gruppenmerkmal Schiiten getötet und Sunniten verschont werden.

Vgl. den in der NZZ vom 6.6.2006, S. 1, geschilderten Busüberfall mit der Erschießung von 24 Schiiten und der Verschonung von Sunniten; der Jahresbericht 2006 von amnesty international enthält nur einen allgemeinen, nicht konkretisierten Hinweis auf Anschläge wegen Zugehörigkeit zu religiösen oder ethnischen Gruppen.

Über derart gezielte Anschläge speziell nach dem Gruppenmerkmal der kurdischen Volkszugehörigkeit wird nicht berichtet. Vielmehr kann insofern nur auf arabisch-kurdische Spannungen in den – nicht unter kurdischer Verwaltung stehenden – multiethnischen Städten Mosul und Kirkuk hingewiesen werden, die sich insbesondere in Autobombenanschlägen zu Lasten der Zivilbevölkerung entladen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, wonach es in Kirkuk 2005 zu über 70 Autobombenanschlägen gekommen ist.

Davon abgesehen steht die kurdische Volksgruppe landesweit nicht derart im Blickfeld des sunnitischen Widerstands wie die schiitische Volksgruppe.

Die unmenschliche Anschlagswirklichkeit im Untergrundkampf wird durch die landesweiten Bombenanschläge insbesondere in Form von Selbstmordattentaten und Autobomben geprägt, die die Zivilbevölkerung insgesamt blind treffen. So wird die Wirkung der Anschläge ersichtlich auch im Erkenntnismaterial gesehen. Das Auswärtige Amt gliedert seine pauschale Schätzung der Opfer nicht nach Volksgruppen auf.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, und methodisch ebenso Lagebericht vom 24.11.2005.

Das Auswärtige Amt hält Passanten für regelmäßige Opfer der Gewalt und sieht den Großteil der Opferlast bei der Zivilbevölkerung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Organisation amnesty international gibt bei den Anschlägen die landesweite Zahl der zivilen Opfer wieder, gibt sie konkret mit 21.239 bis 24.106 an und gliedert sie ebenfalls nicht nach Bevölkerungsgruppen auf.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Das Auswärtige Amt berichtet über den Anschlag auf die schiitische Moschee in Samarra am 22.2.2006 und über Gegenanschläge auf sunnitische Moscheen und gibt die Opfer dieser konfessionell motivierten gegenseitigen Gewalt mit über 1000 Menschen an, gliedert sie aber nicht nach Schiiten und Sunniten auf.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Bezogen auf Volksgruppen als Anschlagsopfer referiert amnesty international einen konkreten Bombenanschlag auf vorwiegend Schiiten mit 114 getöteten Zivilpersonen, bezieht aber die landesweit aufsummierten Opferzahlen allein auf Zivilpersonen ohne Aufspaltung auf die Volksgruppen.

Vgl. zum Ersteren amnesty international, Jahresbericht 2006; zum Letzteren allgemeine Zahlen im Gutachten vom 16.8.2005.

Das Deutsche Orient-Institut hält wie dargelegt jede Irakerin und jeden Iraker ungeachtet seiner Religionszugehörigkeit durch die Anschläge der Terroristen für bedroht. Die Anschläge sind also weder auf den Zentralirak noch auf bestimmte Gruppen begrenzt.

Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe sieht den Zusammenhang, dass irakische Zivilisten oft Opfer sind, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind; Zivilpersonen können bei Anschlägen nicht geschützt werden.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Übereinstimmend damit ist auch die Sichtweise von UNHCR, wonach im Irak tägliche Attentate und Sprengstoffanschläge vor allem gegen Polizisten und Polizeirekruten sowie Mitarbeiter der Regierung verübt werden und unbeteiligte zivile Opfer dabei von den Akteuren bewusst in Kauf genommen werden.

UNHCR, Hinweise von April 2005, zu Opfern unter Christen UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Nach den dargelegten Kriterien der Gruppenverfolgung in der Verfassungsrechtsprechung und den Ausgrenzungskriterien des Europarechts kann schwerlich angenommen werden, alle großen Volksgruppen – Schiiten, Sunniten und Kurden – und damit insgesamt fast alle der 27 Millionen Iraker würden von dem Untergrundkrieg aus der umgebenden verbleibenden Gesellschaft ausgegrenzt. Insbesondere spricht nichts für eine Ausgrenzung der Kurden, und zwar weder landesweit noch für den Zentralirak. Am ehesten könnte eine Ausgrenzung der größten schiitischen Volksgruppe von rund 17 Millionen Irakern durch den sunnitisch geprägten Widerstand angenommen werden. Das rechtlich erforderliche Ausgrenzungsmerkmal spricht aber letztlich gegen eine Ausgrenzung der großen Volksgruppen.

Andererseits kann nach der zu beachtenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine tatsächlich stattfindende Gruppenverfolgung nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, auch andere Bevölkerungsgruppen oder Minderheiten würden in ähnlicher Weise drangsaliert.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Deshalb unterstellt der Senat landesweit eine Ausgrenzung der großen Bevölkerungsgruppen und geht auf den Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte ein. Die Anschlagsopfer sind also nunmehr auf diese Bevölkerungsgruppen zu beziehen.

Die mehrjährigen Todesopfer unter der Bevölkerung des Iraks durch Massenanschläge betragen wie dargelegt nach den zugrunde zu legenden konkreten Zahlen von amnesty international über 2.300 Menschen, die Verletzten maximal 24.106 Menschen.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Sie sind der Wiedergabe pauschaler Schätzungen durch das Auswärtige Amt vorzuziehen, die im Übrigen nicht zu einem qualitativ anderen Ergebnis führen würden und keine ausweglose Lage der großen Volksgruppen begründen könnten. Zugrunde zu legen sind nunmehr die konkreten Zahlen von amnesty international. Danach geht der Senat von einer unterstellten Maximalabschätzung aus, bei der die aufsummierten konkreten Anschlagsopfer im Irak nur jeweils einer Volksgruppe als Opfer zugerechnet werden. In Relation gesetzt werden die gesamten Anschlagszahlen jetzt nicht zu der Gesamtbevölkerung des Irak von 27 Millionen, sondern nacheinander zu den größeren Bevölkerungsgruppen der arabischen Schiiten mit rund 17 Millionen, der arabischen Sunniten mit rund 5 Millionen und der Kurden mit rund 5 Millionen.

Zunächst ist auf die Schiiten einzugehen.

Da das Erkenntnismaterial die Opfer der schiitischen Volksgruppe nicht konkret summiert, geht der Senat bei diesem Schritt der unterstellten Maximalbetrachtung davon aus, dass alle Anschläge im Irak den Schiiten gelten. Bei der schiitischen Volksgruppe als unterstelltem alleinigem Anschlagsziel ergäbe sich dann eine Anschlagsdichte mit tödlichen Opfern von durchschnittlich 1:7400. Für die Entführungsgefahr ist wie dargelegt von einer vergleichbaren Größenordnung wie für Tötungen wie dargelegt von 1:7400 auszugehen. Sodann ergäbe sich mit Blick auf die Zahl der verletzten zivilen Opfer nach amnesty international von 24.106 Menschen eine höhere Anschlagsdichte mit Verletzten von 1:700 für die Schiiten.

Unterstellt man als nächsten Schritt, dass alle Anschläge im Irak den rund 5 Millionen Sunniten gelten, ergibt sich eine Anschlagsdichte bei den Todesopfern von rund 1:2000, ähnlich hoch für Entführungen und bei den Verletzungsopfern von rund 1:200. Die gleichen Zahlen ergeben sich landesweit für die hier betroffene Volksgruppe der Kurden.

Eine derart große Anschlagsdichte bezogen auf eine einzige große Volksgruppe – insbesondere die Kurden – wie in der Maximalabschätzung des Senats wird soweit ersichtlich nirgends im Erkenntnismaterial angenommen. Im Erkenntnismaterial wird auch nicht – wie vom Kläger vorgeschlagen – eine allein auf den Zentralirak bezogene Gruppenverfolgung von Kurden angenommen. Entscheidend ist, dass selbst bei dieser unterstellten Maximalabschätzung die landesweite Anschlagsdichte im Sinne einer Anschlagsverletzung von Kurden nach den Zahlen von amnesty international äußerstenfalls 1:200 beträgt. Tötungs- und Entführungsgefahr sind geringer. Positiv gewendet bleiben bei dieser Anschlagsdichte 99,5 % aller Menschen der kurdischen Volksgruppe unverletzt. Selbst nach den pauschalen Zahlen des Auswärtigen Amtes würde die äußerste Anschlagsdichte 1:50 betragen; positiv gewendet würden immerhin 98 % der kurdischen Volksgruppe die Anschläge unverletzt überleben. Eine Regelvermutung der eigenen Verfolgung kann nicht aufgestellt werden. Die Angehören der kurdischen Volksgruppe überleben landesweit betrachtet in keinem Fall nur durch Zufall unverletzt und werden nicht in eine ausweglose Lage gebracht, in der sie das Land verlassen müssen.

Dasselbe gilt für die sunnitische und erst recht die schiitische Volksgruppe.

Unabhängig von der dargelegten Maximalabschätzung ist für die hier maßgebende Volksgruppe der Kurden konkret festzustellen, dass die gewaltsamen Auseinandersetzungen vor allem die Volksgruppen der arabischen Sunniten und der arabischen Schiiten untereinander betreffen; an diesen Auseinandersetzungen sind die sunnitischen Kurden jedenfalls nicht unmittelbar beteiligt.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -; zur Auseinandersetzung (nur) zwischen Sunniten und Schiiten Le Monde diplomatique vom 12.5.2006; vgl. auch den Jahresbericht 2006 von amnesty international, der für den Nordirak nur einzelne Menschenrechtsverletzungen auflistet, aber keine Gruppenverfolgung einer Volksgruppe.

Auch das Auswärtige Amt legt das Schwergewicht auf die Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen und sunnitischen Konfessionen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Lediglich die Mäßigungsaufrufe der schiitischen und sunnitischen religiösen Führer haben bisher den Ausbruch eines offenen Bürgerkriegs zwischen diesen Konfessionen verhindern können.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Volksgruppe der Kurdinnen und Kurden ist mithin nicht Zielscheibe, sondern landesweit im Wesentlichen Zufallsopfer der Anschläge im Irak. Ausgehend davon ist die Anschlagsdichte für Kurden realistischerweise wesentlich geringer anzusetzen, als es der Maximalabschätzung des Senats mit 1:200 entspricht. Eine landesweite oder auf den Zentralirak bezogene Gruppenverfolgung der Kurden als großer Bevölkerungsgruppe von 5 Millionen Menschen wird im Erkenntnismaterial soweit ersichtlich nicht angenommen.

Nach dem dargelegten Ergebnis der Prüfung des Senats besteht für den Kläger als Gruppenmitglied der Kurden unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte landesweit keine Verfolgungsgefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Unabhängig von dieser landesweiten Betrachtung bejaht der Senat als selbstständige Entscheidungsgrundlage auch die Voraussetzungen einer Fluchtalternative des Klägers in den kurdisch verwalteten Nordirak, in dem seine Geburtsregion Sulaymania liegt.

Die Bejahung einer Fluchtalternative setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass die Zurückkehrenden am erreichbaren Ort der Fluchtalternative nach dem herabgestuften Prognosemaßstab hinreichend sicher vor politischer Verfolgung leben können und dass ihnen dort nach dem allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch keine unzumutbaren Nachteile drohen, die an ihrem Herkunftsort so nicht bestünden.

BVerwG, zusammenfassend Beschluss vom 5.10.1999 - BVerwG 9 C 15.99 -.

Weiterhin muss dem Rückkehrer dort das wirtschaftliche Existenzminimum in dem Sinn zustehen, dass er nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann.

BVerwG, Beschluss vom 17.5.2006 – 1 B 101/05 -.

Diese Voraussetzungen sind hier insgesamt zu bejahen.

Die Sicherheitslage in dem kurdisch kontrollierten Nordirak ist nach der praktisch einheitlichen Einschätzung im Erkenntnismaterial bezogen auf Anschläge besser als im Irak insgesamt, insbesondere in Bagdad. Dies gilt zunächst nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Anschläge auf besonders gefährdete Personengruppen wie etwa Polizeirekruten finden statt, insgesamt ist aber die Wahrscheinlichkeit, durch einen gegen Dritte gerichteten Anschlag getötet zu werden, im Nordirak geringer.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Für die kurdisch verwalteten Städte Arbil und Sulaimaniya referiert das Auswärtige Amt für das Jahr 2005 jeweils ein Attentat mit der Tötung von 50 beziehungsweise neun Menschen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 17.

In dem hier maßgebenden kurdisch verwalteten Nordirak wird die Sicherheitslage auch im kritischen Erkenntnismaterial als insgesamt stabil betrachtet.

Nach Einschätzung von UNHCR ist die allgemeine politische Situation im kurdischen Nordirak durch ein gewisses Maß an Stabilität gekennzeichnet; es werden dort deutlich weniger Gewalttaten verübt.

UNHCR, Position von September 2005; zu den stabileren Verhältnissen auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Nach der Beurteilung von amnesty international ist die Sicherheitslage in den kurdischen Gebieten im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ stabil.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Nach Darlegung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist die Sicherheitslage im kurdisch kontrollierten Nordirak mit Ausnahme von wenigen Anschlägen in Arbil und Dohuk stabil, wenn auch nicht voraussehbar, und ein engmaschiges Sicherheitsnetz von etwa 80.000 kurdischen Milizionären gewährleistet dort die Sicherheit.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Diese Milizen sollen nicht aufgelöst, sondern sollen staatliche Sicherheitskräfte werden.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann der Schutz bereits von nichtstaatlichen Organisationen ausgehen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 -, S. 6 des Juris-Ausdrucks.

Nach allem ist die Verfolgung der kurdischen Volksgruppe im kurdisch verwalteten und durch kurdische Milizen gesicherten Nordteil des Landes unwahrscheinlich und zwar nach dem Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit.

Ebenso OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Die hinreichende Verfolgungssicherheit des Klägers am Ort der Fluchtalternative im Nordirak ist mithin uneingeschränkt zu bejahen.

Der kurdisch verwaltete Nordirak ist auch abgesehen von dem möglichen Landweg von Bagdad aus unmittelbar - ohne Aufenthalt in Bagdad – auf dem Luftweg über Arbil (auch: Erbil) seit September 2005 erreichbar.

Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, zu einer Flugverbindung von Frankfurt nach Arbil/Nordirak, sowie zur Einreise durch die Türkei.

Damit lassen sich auch Bedenken von UNHCR gegen einen innerirakischen Wohnsitzwechsel auf dem Landweg wegen der Sicherheitslage ausräumen.

Zu diesen Bedenken UNHCR, Position von September 2005.

Weiterhin muss auch das Existenzminimum am Ort der Fluchtalternative einhaltbar sein.

Diesen Gesichtspunkt stellt der Kläger in seinem erstinstanzlichen Vortrag in Frage. Er trägt vor, es gelte der Grundsatz, dass Kurden im Nordirak nur dann über ein ausreichendes Existenzminimum verfügen könnten, wenn sie an die dortige Clan-Gesellschaft familiär angebunden seien. An einer solchen familiären oder sonstigen Bindung zum Nordirak fehle es hier, und ihm nütze es deshalb wenig, dass er zu früheren Zeiten militärische Daten des Regimes von Saddam Hussein an die Kurden verraten habe.

Das überzeugt so nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits nach den neuen politischen Verhältnissen die Fluchtalternative eines Kurden aus dem Zentralirak in den Nordirak bejaht einschließlich der Frage der Existenzsicherung, ohne dabei auf Familienanbindung abzustellen.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -, dort mit Blick auf die Situation in Flüchtlingslagern und die Möglichkeit, für arbeitsfähige Männer einen Job zu bekommen.

Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich, dass für Rückkehrer sowohl die Aufnahme und Versorgung durch die Familie als auch Parteiverbindungen von erheblichem Vorteil für die die Existenzsicherung sind.

Nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes können Rückkehrer im Irak auf Aufnahme und Versorgung durch Familie oder Stammesstrukturen und Sippe zählen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

UNHCR hält eine Einbindung in familiäre oder soziale Strukturen für erforderlich, allerdings nach dem – strengeren - Maßstab einer vollständigen Eingliederung, der das Maß des Existenzminimums übersteigt.

UNHCR, Position von September 2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe stellt auf mehrere Gesichtspunkte ab. Personen im Nordirak bedürfen danach zur Existenzsicherung eines sozialen Netzes.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Personen ohne Parteiverbindungen haben Probleme bei der Eröffnung von Geschäften mit der kurdischen Verwaltung.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Nach der Einschätzung von amnesty international sind die wirtschaftlichen Existenzbedingungen im Nordirak nicht garantiert, vielmehr wird der Zugang zu großen Teilen des Arbeitsmarktes durch persönliche oder familiäre Beziehungen erleichtert beziehungsweise erst ermöglicht.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Daran gemessen mag der Kläger nach seinem Vortrag zwar keine gegenwärtigen familiären Bindungen zum Nordirak haben, immerhin hat er aber bei einer Gesamtbetrachtung eine Chance auf eine Arbeitsmöglichkeit, jedenfalls aber eine Existenzmöglichkeit. Der Kläger war ursprünglich in der Region Sulaymania im Nordirak beheimatet. Er kann seinen Geburtsort im Nordirak und damit ein gewisses Maß an Zugehörigkeit zum Nordirak durch seinen Ausweis jederzeit beweisen. Zwar muss seine vorgetragene Unterstützungstätigkeit für die kurdische Partei PUK, der auch der Staatspräsident Talabani angehört, gänzlich außer Betracht bleiben, da sie von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung bestritten worden ist und der plausible Verfolgungsvortrag des Klägers jedenfalls nicht erwiesen ist. Eine Unterstellung zu Lasten des Klägers scheidet aus.

Zugunsten des Klägers spricht aber weiter, dass der unstreitig erlernte Beruf eines Kraftfahrzeug-Mechanikers wenn auch nach Anfangsschwierigkeiten eine nützliche Tätigkeit ist und damit bei realistischer Betrachtung nach Anfangsschwierigkeiten eine Existenz ermöglicht.

Vor allem muss mit Blick auf die Existenzsicherheit berücksichtigt werden, dass 96 % aller irakischen Haushalte Lebensmittelhilfe beziehen.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, dort ohne eine Einschränkung für den Nordirak; nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006 stammt ein wesentlicher Teil der Lebensmittelrationen, nämlich für 60 % der Bevölkerung, aus einem Programm der Vereinten Nationen.

Nach der Einschätzung des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien ist im Nordirak trotz einer prekären wirtschaftlichen Lage insgesamt mit einem Rutschen unterhalb des Existenzminimums derzeit eher selten zu rechnen.

Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006.

Da der Kläger zumindest positive Gesichtspunkte für eine Berufstätigkeit aufzuweisen hat, spricht kein vernünftiger Grund dafür, dass er entgegen der allgemeinen Lage im Nordirak unter das Existenzminimum abrutschen wird. Mithin ist davon auszugehen, dass der Kläger nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige im Nordirak erlangen kann.

Weiterhin setzt die innerstaatliche Fluchtalternative nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass dem Kläger an dem Ort der Fluchtalternative keine anderen unzumutbaren Nachteile mit asylerheblicher Intensität drohen, die an seinem Herkunftsort im Sinne des Ausreiseortes so nicht bestünden. Im Nordirak dürfen mithin keine unzumutbaren Nachteile für den Kläger bestehen, die so in Bagdad nicht bestehen würden. Auch dies ist zu bejahen.

Nach Einschätzung von UNHCR heben sich die Lebensbedingungen im Nordirak positiv gegenüber denen im übrigen Staatsgebiet ab.

UNHCR, Position von Oktober 2004.

Das Auswärtige Amt kommt zu derselben Beurteilung wie UNHCR.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Auch die Schweizerischen Flüchtlingshilfe zieht eine positive Gesamtbilanz für den Nordirak: Die Sicherheitslage und sozioökonomische Situation im Nordirak stellen sich danach besser dar als in den übrigen Landesteilen.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Das Europäische Zentrum für Kurdische Studien würdigt einen Wechsel von dem Zentralirak in den Nordirak insgesamt positiv.

Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006, dort sogar für die hier nicht zur Entscheidung stehende sehr kleine Gruppe der Mandäer.

Nach allem ist der Kläger bei einer Fluchtalternative in den Nordirak keinen unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt, denen er nicht bereits in seinem Ausreiseort Bagdad ausgesetzt wäre.

Im Ergebnis sind damit alle Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative in den kurdisch verwalteten Nordirak nach den Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts zu bejahen.

Im Rahmen der hier maßgebenden Prüfung der Widerrufsentscheidung ist der Kläger vor erneuter Verfolgung landesweit aus denselben Verfolgungsgründen hinreichend sicher und andersartige Verfolgungsmaßnahmen drohen ihm landesweit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit; unabhängig davon besitzt er mit hinreichender Verfolgungssicherheit die inländische Fluchtalternative in den Nordirak, die für ihn vorzugswürdig ist. Beide Gesichtspunkte führen unabhängig voneinander zur Verneinung der asylerheblichen Verfolgungsgefahr.

Dagegen kommt es, wie noch einmal hervorzuheben ist, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, hier nicht auf einen effektiven Schutz vor allgemeinen Gefahren wie Krieg, Naturkatastrophen oder schlechte Wirtschaftslage oder eine stabile Schutzmacht an.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; Beschluss vom 26.1.2006 – 1 B 135/05 -.

Der Untergrundkrieg des sunnitischen Widerstands steht damit dem Widerruf rechtlich nicht entgegen.

Damit ist der materielle Teil des Widerrufstatbestandes des § 73 I 1 AsylVfG erfüllt.

Indessen muss in diesem Fall die materielle Ausnahmevorschrift des § 73 3 AsylVfG geprüft werden, die nach der Normstruktur zu einem Absehen von dem Widerruf führt. Vorausgesetzt wird dafür, dass sich der Ausländer

auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Inhaltlich entspricht diese deutsche Regelung der entsprechenden Ausnahmevorschrift für den Widerruf in Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 GFK, wonach der Widerruf auf einen Flüchtling keine Anwendung findet,

der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Dagegen enthält die als Auslegungsmaßstab zu beachtende Wegfallklausel in Art. 11 der Europäischen Qualifikationsrichtlinie keine Ausnahmevorschrift von einem Widerruf. Diese für den Flüchtling ungünstige europäische Regelung hat aber keinen entscheidenden Einfluss auf die Auslegung der günstigeren deutschen Regelung, da die EU-Richtlinie nach Art. 1 lediglich Mindestnormen zugunsten der Flüchtlinge enthält und die Mitgliedstaaten nach Art. 3 der EU-Richtlinie grundsätzlich günstigere Normen zur Flüchtlingseigenschaft beibehalten können.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die dargelegte Ausnahmevorschrift in seinem Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 - unter ausdrücklicher Beachtung des völkerrechtlichen Zusammenhangs mit der Genfer Flüchtlingskonvention dahingehend ausgelegt, sie enthalte eine einzelfallbezogene Ausnahme von der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft. Sie schütze weder vor allgemeinen Gefahren noch könne sie nach allgemeinen Zumutbarkeitskriterien ausgelegt werden. Vielmehr trage sie nach ihrer historischen Entstehung der psychischen Sondersituation solcher Personen Rechnung, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hätten und denen es deshalb selbst lange Zeit danach - auch ungeachtet veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar sei, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren. Bei der Schaffung von Art. 1 c Nr. 5 Satz 2 GFK hatten danach die beteiligten Staaten das Schicksal jüdischer Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland vor Augen gehabt.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, Juris-Ausdruck, S. 12.

Der Senat stimmt dieser Rechtsprechung zu.

Dieser Auslegung haben sich sowohl der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg als auch das OVG Münster in neueren Entscheidungen angeschlossen.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Auch Renner, den der Kläger für eine weiter gehende Auslegung im Sinne einer aktuellen Existenzsicherung zitiert, handelt zwar eingehend die Auslegungsmöglichkeiten ab, schließt sich aber abschließend der Auffassung an, es werde den besonderen Belastungen schwer Verfolgter Rechnung getragen.

Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 73 AsylVfG, Rdnrn. 10 bis 12 sowie abschließend Rdnr. 13.

Auch Marx stellt auf eine besonders schwere, nachhaltig wirkende Verfolgung ab und sieht einen Unzumutbarkeitsfall etwa darin, dass der Verfolgte vor der Ausreise Jahre lang inhaftiert gewesen und dadurch physisch zerstört ist.

Marx, Asylverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2005, § 73 Rdnrn. 127 und 135.

Ein solch fortwirkend schweres Schicksal, insbesondere eine langjährige Inhaftierung, hat der Kläger bei seiner Erstanhörung vom 13.12.1995 nicht vorgetragen und auch im Verwaltungsgerichtsprozess einschließlich der mündlichen Verhandlung ein derartiges Schicksal nicht behauptet.

Bei seiner Anhörung im Widerrufsverfahren hat der Kläger mit Schreiben vom 29.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 13/14) die Anwendung dieser Vorschrift auf sich bejaht und dazu die Rechtsmeinung zugrunde gelegt, es genüge, wenn dem früher Verfolgten nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland eine Rückkehr in das Heimatland aus aktuellen Gründen der wirtschaftlichen Existenzsicherung nicht mehr zugemutet werden könne. Soweit er für seine Auffassung die Kommentierung von Renner in Anspruch nimmt, trifft dies wie dargelegt nicht zu. Entscheidend ist aber, dass die Auslegung des Klägers der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Sinn der Ausnahmevorschrift eindeutig widerspricht. Nach der Ausnahmevorschrift kommt es nicht auf allgemeine Zumutbarkeitskriterien an wie hier den geltend gemachten langen Aufenthalt in Deutschland und auf Existenzsicherungsprobleme. Die Ausnahmevorschrift greift zu seinen Gunsten nicht ein. Mithin ist ohne Ermessensspielraum nach § 73 I 1 AsylVfG der Widerruf zwingend auszusprechen.

Materiell ist der Widerrufsbescheid nach dem Prüfungsergebnis des Senats rechtmäßig.

Die angefochtene Widerrufsentscheidung des Bundesamts ist auch in verwaltungsverfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.

Ob der Widerruf unverzüglich erfolgt ist, wie § 73 I 1 AsylVfG es verlangt, bedarf keiner Entscheidung, da das Gebot des unverzüglichen Widerrufs ausschließlich öffentliche Interessen schützt, so dass ein Verstoß hiergegen keine subjektiven Rechte des betroffenen Ausländers verletzen kann.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Unabhängig davon war das Abwarten des Bundesamtes von rund anderthalb Jahren nach dem Kriegsende sinnvoll, um den Machtwechsel im Irak als hinreichend gefestigt zu beurteilen, und deshalb auch noch unverzüglich.

Weiterhin ist aus dem mit Wirkung vom 1.1.2005 eingeführten mehrstufigen Prüfungsverfahren nach § 73 II a AsylVfG kein Rechtsfehler herzuleiten. § 73 II a Satz 1 AsylVfG lautet:

Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach Absatz 1 oder eine Rücknahme nach Absatz 2 vorliegen, hat spätestens nach Ablauf von 3 Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen (gemeint ist die Anerkennungsentscheidung).

Bei der neu eingeführten Dreijahresfrist handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts um einen in die Zukunft gerichteten Prüfungsauftrag an das Bundesamt.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Wegen der Zukunftsgerichtetheit des Prüfungsauftrags hat eine Prüfung vorhandener Anerkennungsfälle spätestens bis zum 1.1.2008 zu erfolgen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Der hier zur Prüfung anstehende Widerrufsbescheid der Flüchtlingsanerkennung von 1996 ist am 19.10.2004 ergangen und damit noch vor dem Inkrafttreten des gesetzgeberischen Prüfungsauftrags am 1.1.2005. An einer rückwirkenden Einführung des Verfahrens durch eine entsprechende Übergangsvorschrift fehlt es hier.

BVerwG, Urteil vom 1.12.2005 - 1 C 21/04 -.

Damit ist die dreijährige Prüfungsfrist im vorliegenden Fall nicht einschlägig.

Keiner Entscheidung bedarf die Frage, ob verwaltungsverfahrensrechtlich die Jahresfrist nach § 49 II 2, § 48 IV VwVfG auch bei Widerrufsverfügungen nach § 73 I 1 VwVfG zu beachten ist.

Offen gelassen in dem Urteil des BVerwG vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Denn die Jahresfrist beginnt frühestens nach Anhörung des Klägers mit einer angemessenen Frist zur Stellungnahme zu laufen, und zwar mit dem behördlichen Anhörungsschreiben.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Danach ist die Einjahresfrist, sofern sie anwendbar ist, hier eingehalten. Die Anhörungsverfügung der Behörde datiert vom 2.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 7) und der Widerrufsbescheid erging am 19.10.2004 (Widerrufsakte Bl. 18).

Nach dem Prüfungsergebnis des Senats ist mithin der Widerrufsbescheid weder materiellrechtlich noch verfahrensrechtlich zu beanstanden. Er ist insgesamt rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Der als Hauptantrag gestellte Aufhebungsantrag des Klägers hat mithin auch im Rahmen des Berufungsverfahrens keinen Erfolg.

II.

Auch hinsichtlich des Hilfsantrags hat die Berufung keinen Erfolg.

Der Kläger hat nicht den gegen die Beklagte hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses mit Blick auf konkrete Gefahren nach § 60 II bis VII AufenthG.

Der Kläger ist weder der konkreten Gefahr der Folter (§ 60 II AufenthG) noch der Todesstrafe (§ 60 III AufenthG) oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (§ 60 V AufenthG) ausgesetzt.

Der vom Gesetzgeber verwendete Maßstab der konkreten Gefahr (vgl. § 60 II, 60 VII 1 AufenthG) ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu der inhaltsgleichen Vorgängervorschrift des § 53 AuslG bereits geklärt. Danach ist für die Feststellung der Gefahr der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit maßgebend, ohne eine Herabstufung für Vorverfolgte, da die Gefahren hier außerhalb des Verfolgungstatbestandes betrachtet werden.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324-330.

Einzubeziehen in die Gefahr sind nunmehr auch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 I 4 c AufenthG. Die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure auch in konkrete Gefahren nach § 60 II ff. AufenthG ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus der deutschen gesetzlichen Regelung. Indessen folgt sie aus der für die Auslegung zu beachtenden Vorwirkung von Art. 6 der europäischen Qualifikationsrichtlinie, der die Einbeziehung der nichtstaatlichen Akteure gleichmäßig sowohl für die Verfolgung als auch für den ernsthaften Schaden und mit Letzterem die konkrete Gefahr im Sinne des deutschen Rechts fordert.

So überzeugend Renner, § 60 AufenthG Rdnr. 36; offen gelassen im Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Dem Kläger droht hier weder von staatlicher noch von nichtstaatlicher Seite die konkrete Gefahr der Folter. Der Senat hat bereits im Rahmen des Widerrufssachverhalts dargelegt, dass der Kläger hinreichend sicher ist vor individuellen Racheakten mit Blick auf seine indirekte Unterstützung der kurdischen Kämpfe im Jahr 1995; dies gilt erst recht für einen zugespitzten Racheakt in Form der Folter, für den sich eine konkrete Gefahr – mit überdies beachtlicher Wahrscheinlichkeit - nicht herleiten lässt. Das Gleiche gilt für die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.

Für die Gefahr der Verhängung der Todesstrafe durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure fehlt es gänzlich an einem Anhaltspunkt; der Kläger hat die Gefahr der Todesstrafe auch selbst nicht behauptet.

Sodann fehlt es an der zwischen den Beteiligten streitigen allgemeinen Extremgefahr nach § 60 VII AufenthG.

Der Kläger stützt sich in seiner Berufungsbegründung und in der mündlichen Verhandlung auf eine extreme allgemeine Gefährdungslage im Irak. Er beruft sich dabei insbesondere auf die landesweite Gefahr von Terroranschlägen auf die Zivilbevölkerung; gehe man davon aus, dass sich der Irak im Bürgerkrieg befinde oder jedenfalls ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde, müsse man auch vom Bestehen einer extremen allgemeinen Gefährdungslage im Sinne von § 60 VII AufenthG ausgehen.

Mit Blick auf die vorgetragene landesweite Extremgefahr hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses in verfassungskonformer Anwendung des § 60 VII AufenthG.

§ 60 VII 2 AufenthG verweist für Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist, auf einen allgemeinen ausländerbehördlichen Abschiebungsstopp nach § 60 a I 1 AufenthG als Schutz des Ausländers. Dies führt aber hier nicht weiter, da nach der Auskunft des Saarländischen Innenministeriums vom 26.5.2006 (Gerichtsakte Bl. 104) im Saarland derzeit keine behördliche Regelung zur Aussetzung von Abschiebungen in den Irak besteht. Die in anderen Bundesländern bestehenden Abschiebestoppregelungen beruhen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darauf, dass bis vor kurzem die Flugverbindungen unterbrochen waren und noch derzeit kein Rücknahmeabkommen mit dem Irak besteht.

BVerwG, Urteil vom 27.6.2006 – 1 C 14.09 -.

Der verfassungsrechtlich gebotene Schutz von Ausländern vor Extremgefahren ist in der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt.

Eingehend Urteil des BVerwG vom 12.7.2001 - 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 379, 384 bis 386, dort für die inhaltsgleiche Vorgängerregelung des § 53 VI AuslG.

Nach dieser Rechtsprechung kommt es sowohl auf die rechtliche als auch die tatsächliche Schutzbedürftigkeit des Ausländers an.

Was zunächst die Frage der rechtlichen Schutzbedürftigkeit angeht, ist eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 VII AufenthG nur dann geboten, wenn der einzelne Asylbewerber sonst schutzlos bliebe. Ein Schutz vor einer extremen Gefahrenlage kann zum einen durch einen allgemein ausländerbehördlichen Abschiebungsstopp im Sinne einer Duldung bestehen, an dem es aber hier im Saarland fehlt. Es genügt aber nach dieser Rechtsprechung auch ein anderer gleichwertiger Schutztitel vor Abschiebung, wenn dieser tatsächlich besteht. So genügt es, wenn der Ausländer im entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung oder mindestens einer Duldung ist, die vom Asylverfahren unabhängig erteilt worden ist. Ein solcher Aufenthaltstitel muss indessen bestehen, nicht genügend sind unentschiedene Duldungsansprüche. Davon ausgehend lässt der VGH Baden-Württemberg eine Aufenthaltserlaubnis nach neuem Recht zum Schutz des Ausländers genügen.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -, der aber diesen Schutz in bedenklicher Weise sogar auf eine widerrufene Aufenthaltserlaubnis wegen des Suspensiveffekts erstreckt, was der vom Bundesverwaltungsgericht verworfenen Schwebelage entspricht.

Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Kläger besitzt nach der Ausländerakte seit dem 18.11.2004 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ursprünglich nach § 35 AuslG, nach neuem Recht nach § 26 AufenthG. Darüber hinaus hat die Ausländerbehörde, die Landeshauptstadt A-Stadt, bereits mit Schreiben vom 2.9.2004 in Kenntnis des Widerrufverfahrens erklärt, es sei auch bei einem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung momentan nicht mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu rechnen. Angesichts der langjährigen Integration des Klägers in Deutschland ist dies auch vernünftig. Mithin ist der Kläger derzeit noch im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, wie die Stadt A-Stadt nochmals mit Schreiben vom 13.9.2006 bestätigt hat, und damit nicht schutzlos.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat ein Anspruch auf Feststellung des Abschiebungshindernisses der Extremgefahr nur dann Erfolg, wenn rechtliche und tatsächliche Schutzbedürftigkeit vorliegt.

BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 379 - 385.

Das Gericht ist nicht gehindert im Sinne selbständiger Entscheidungsgrundlagen festzustellen, dass unabhängig voneinander hinreichender rechtlicher Schutz vor Abschiebung vorhanden ist und eine extreme Gefahrenlage nicht besteht.

So ist das OVG Münster vorgegangen in seinem Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

So liegt der Fall hier. Zum einen besitzt der Kläger wie dargelegt einen unwiderrufenen Schutztitel. Zum anderen ist aber auch eine Extremgefahr im Irak zu verneinen.

Ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Bei der erforderlichen Prüfung einer Extremgefahr ist zunächst der Prognosemaßstab klarzustellen. Maßgebend ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der auch bei Vorverfolgung nicht herabgestuft wird.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 - 330.

Inhaltlich hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung den Rechtsbegriff der Extremgefahr mit der Formulierung geprägt, es müsse vermieden werden, dass der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

BVerwG, Urteil vom 16.6.2004 - BVerwG 1 C 27.03 -; BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -; BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 -; BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -; BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -; BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -.

In zeitlicher Hinsicht muss sich die Extremgefahr nicht sofort nach Rückkehr in den Heimatstaat, sondern bald verwirklichen.

BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 -.

Im Gegensatz zu der sicher verständlichen – in der mündlichen Verhandlung erörterten - Rechtsansicht des Klägers hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung die Extremgefahr nicht bereits an die Existenz eines Bürgerkriegs geknüpft, sondern an qualifizierte Voraussetzungen. Folglich würde die vom Kläger erstrebte Bejahung eines Bürgerkriegs nicht schon die Extremgefahr begründen. Auch das vom Senat bejahte Vorliegen eines Untergrundkriegs begründet nicht automatisch eine Extremgefahr.

In den beurteilten Bürgerkriegsfällen hat das Bundesverwaltungsgericht die Extremgefahr konkret dann bejaht, wenn die Bürgerkriegskämpfe bereits am Ankunftsort stattfinden und sich der Ausländer ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes mithin nicht entziehen kann.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -; BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -.

So hat das Bundesverwaltungsgericht die konkrete Bürgerkriegssituation in Afghanistan im Jahr 1995 als Extremgefahr für Rückkehrer anerkannt. Dort war eine Abschiebung nur über den Flughafen Kabul möglich, der Bürgerkrieg tobte aber nach den seinerzeitigen Tatsachenfeststellungen hauptsächlich im Bereich dieser Stadt, die größere Teile der Bevölkerung bereits wegen der unerträglichen Lebensverhältnisse verlassen hatten.

BVerwG, Urteil vom 17.1.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 - 330.

Eine Extremgefahr hat das Bundesverwaltungsgericht weiter für die konkrete Bürgerkriegssituation 1997 in Somalia bejaht. Dort kam nur eine Abschiebung über den Flughafen in Mogadischu in Betracht. Nach den zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen wäre der dortige Kläger bei einer Abschiebung über den Flughafen von Mogadischu in die dort besonders heftigen Kämpfe hineingeraten; er wäre sehenden Auges der extremen Gefahr ausgesetzt worden, entweder am Flughafen sofort getötet oder schwer verletzt zu werden oder in Mogadischu an Hunger oder Krankheit zu sterben, ohne überhaupt noch sichere Landesteile erreichen zu können.

BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -.

Weiterhin hat das Bundesverwaltungsgericht ergänzend zu der Bürgerkriegsrechtsprechung in zwei Afghanistan betreffenden Fällen eine Extremgefahr bejaht, da der Ausländer dort dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert worden wäre.

BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 - sowie Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 2.01 -, wobei im letzteren Fall die Gefahr eines sicheren Hungertodes zwar bejaht wurde, die dortige Klägerin aber anderweitigen Abschiebungsschutz besaß.

Bezogen auf Armenien hat das Bundesverwaltungsgericht eine Extremgefahr verneint, wenn eine katastrophale wirtschaftliche und soziale Situation mit Obdachlosigkeit, Unterernährung und unzureichender medizinischer Versorgung vorliegt, den Rückkehrer aber nicht der sichere Tod oder schwerste Beeinträchtigungen alsbald nach seiner Ankunft erwarten.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -.

Auch desolate hygienische Verhältnisse und ein praktisch kaum leistungsfähiges Gesundheitssystem in Angola mit hoher statistischer Kindersterblichkeit reichen als Extremgefahr nicht aus, soweit die betroffenen Rückkehrer nicht nach tragfähiger Feststellung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden.

BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -.

Weiterhin begründen besondere existenzielle Schwierigkeiten in Nigeria für eine allein stehende Mutter keine Extremgefahr, solange die Klägerin nicht gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

BVerwG, Urteil vom 16.6.2004 - 1 C 27.03 -.

Aufgrund der dargelegten Rechtsprechung zu Bürgerkriegs- und Hungerfällen ist die landesweite Situation im Irak mit Blick auf eine allgemeine Extremgefahr im Einzelnen zu würdigen.

Auszugehen ist nach praktisch allgemeiner Ansicht von einer instabilen, manchmal eskalierenden Sicherheitslage mit täglich etwa 100 terroristischen Anschlägen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006 im Sinne eines Tiefpunkts der Sicherheitslage; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort betreffend die allgemeine Sicherheitslage; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005, dort zur allgemeinen Sicherheitslage; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; UNHCR, Hinweise von April 2005; sowie UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006; zum bewaffneten Widerstand auch Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands; zur Gewaltwelle gegen Zivilisten NZZ vom 6.6.2006, Seite 1.

Der Kläger sieht die Situation übereinstimmend mit einer dargelegten Äußerung des Politikers Allawi vom 19.3.2006 im Deutschlandfunk so, dass sich das Land im Bürgerkrieg befinde, zumindest aber ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde. Der seinerzeitige Interimsministerpräsident Allawi war am 17.4.2005 selbst einem Attentat nur knapp entgangen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005.

Die Situation im Irak würdigt der Senat nicht als einen offenen Bürgerkrieg, sondern einen Untergrundkrieg durch tägliche Bombenanschläge. Er kommt damit der Beurteilung des Klägers nahe.

Die nichtstaatlichen Akteure bleiben im Verborgenen; ein Bürgerkrieg mit offenen Frontlinien besteht nicht. Das Erkenntnismaterial ist – auch mit Blick auf kritische Organisationen – zurückhaltend und nimmt einen offenen Bürgerkrieg derzeit nicht an.

Das Auswärtige Amt kommt der Auffassung des Klägers wie der Senat nahe. Es verneint einen offenen Bürgerkrieg, sieht aber eine Annäherung an offene bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen und sunnitischen Konfessionen im Anschluss an den Anschlag vom 22.2.2006 auf das schiitische Heiligtum in Samarra.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 19/20.

UNHCR sieht einen teilweise gewaltsam ausgetragenen Machtkampf im Irak.

UNHCR, Hinweise von April 2005; ähnlich Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Auch amnesty international spricht von einem teilweise gewaltsamen ausgetragenen Machtkampf und in einer neueren Beurteilung zurückhaltend von der anhaltend unsicheren Lage.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; sowie zur neueren Beurteilung amnesty international, Jahresbericht 2006.

Das Deutsche Orient-Institut sieht die Sicherheitslage im Sinne eines Untergrundkampfes.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005.

Dies spricht für die vom Senat vorgenommene Einordnung als Untergrundkrieg.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe würdigt die Sicherheitslage dahingehend, der bewaffnete Widerstand versuche unvermindert, den politischen Wiederaufbau mit Bomben- und Mordkampagnen zu hintertreiben und alle Aktivitäten zur Anstachelung eines offenen Bürgerkrieges hielten an.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Die Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bedeutet, dass die Gefahr eines offenen Bürgerkrieges gesehen, ein tatsächlicher offener Bürgerkrieg aber nicht angenommen wird.

Der bewaffnete Widerstand im Irak ist seit der von ihm verlorenen Schlacht um Falludscha im November 2004 zu dem Ergebnis gekommen, dass er angesichts der Übermacht der US-Truppen nicht mehr bestimmte Gebiete verteidigen kann, vielmehr soll mit einer flexiblen Taktik der Anschläge der Wiederaufbau des Landes nachhaltig gestört werden.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstandes.

In Falludscha kam es im Frühjahr und im Herbst 2004 zu offenen Kämpfen zwischen den US-Streitkräften und den Aufständischen; im November 2004 floh ein Großteil der Zivilbevölkerung der 250.000 Einwohner von Falludscha.

Auswärtiges Amt, Lagebericht 24.11.2005.

Für die dargelegte Situation in Falludscha selbst waren die qualifizierten Voraussetzungen einer bürgerkriegsbezogenen Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfüllt. Die Kämpfe hatten nämlich ein Ausmaß erreicht, dass größere Teile der Bevölkerung die Stadt verlassen mussten.

Vgl. zu diesem Maßstab BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -.

Die dargelegten seinerzeitigen Verhältnisse in Falludscha 2004 entsprechen aber nicht der jetzigen landesweiten Gewaltsituation im Irak, insbesondere nicht bei einer Betrachtung des Luftweges an den Ankunftsorten, der 5-Millionen-Stadt Bagdad in Zentralirak oder der Stadt Arbil (Erbil) im kurdisch verwalteten Nordirak. Insgesamt sind ausgedehnte offene Kampfhandlungen zwischenzeitlich landesweit zurückgegangen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; zum Kampf des Widerstandes im Verborgenen OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG; vgl. noch zu einem Luftangriff auf die sunnitische Hochburg al-Ramadi amnesty international, Jahresbericht 2006.

Ungeachtet der täglichen Bombenanschläge gerade auch in schiitischen Stadtvierteln ist in Bagdad nach Auswertung des Erkenntnismaterials klar erkennbar nicht eine Lage entstanden, in der größere Teile der Bevölkerung die 5-Millionen-Stadt verlassen haben. Es kann also nicht festgestellt werden, dass eine Rückkehr nach Bagdad eine Irakerin oder einen Iraker sehenden Auges dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen überliefern würde. Dies gilt, wie ausdrücklich klarzustellen ist, nach der eindeutigen Gefahrenformel unabhängig davon, ob ein Bürgerkrieg, eine bürgerkriegsähnliche Situation oder wie hier ein Untergrundkrieg von dem Gericht angenommen wird.

Hinzu kommt, dass Bagdad nicht die einzige Einreisemöglichkeit ist und für Kurden sich eine Einreise in den Irak wie dargelegt auf dem Luftweg über Arbil (Erbil) anbietet. Nach der Einschätzung von amnesty international ist die Sicherheitslage in den kurdischen Gebieten im Nordirak im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ stabil.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Nach Darlegung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist die Sicherheitslage im kurdisch kontrollierten Nordirak stabil, wenn auch nicht voraussehbar, und ein engmaschiges Sicherheitsnetz von etwa 80.000 kurdischen Milizionären gewährleistet dort die Sicherheit.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist die Sicherheitslage in dem kurdisch kontrollierten Nordirak besser bezogen auf Anschläge als im Irak insgesamt, insbesondere in Bagdad.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Zu nennenswerten offenen Kämpfen im Nordirak kommt es nach dem Erkenntnismaterial nicht.

Auch amnesty international berichtet im Jahresbericht 2006 von Menschenrechtsverletzungen im Nordirak, aber nicht durch offene Kämpfe.

Insgesamt besteht landesweit keine Lage im Irak, die den Rückkehrer bereits am Ankunftsort in Bagdad oder im nordirakischen Arbil (Erbil) in heftige Kämpfe verwickeln würde, was im Sinne der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Bürgerkriegssituationen eine allgemeine Extremgefahr bedeuten würde.

Mit Blick auf die allgemeine Extremgefahr sind nochmals die täglich etwa 100 Bombenanschläge landesweit im Irak zu würdigen. Sie stellen eine enorme allgemeine Bedrohung da.

So ausdrücklich Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 18.

Der Kläger beruft sich mit Blick auf die Extremgefahr auf das Urteil des VG Sigmaringen vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -. Das VG Sigmaringen hat sich in diesem Urteil zwar nicht unmittelbar mit der Extremgefahr befasst, aber im Rahmen der Prüfung eines Widerrufsbescheides eine realistische Gefahr von Terroranschlägen festgestellt.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005, Seite 9 des amtl. Umdrucks.

Das VG Sigmaringen geht wie der Senat ebenfalls von einer Größenordnung von mehreren Tausend Menschen aus, die bei Anschlägen ums Leben gekommen sind. Es setzt diese Zahlen aber nicht in Beziehung zu der irakischen Gesamtbevölkerung von rund 27 Millionen Menschen. Ungeachtet der Furchtbarkeit der Anschläge im Einzelfall kommt es aber im Rahmen der Extremgefahr wiederum auf die Anschlagsdichte an.

Zutreffend OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Nach den konkreten Zahlen von amnesty international werden die zivilen Opfer der Anschläge zwischen 21.239 und 24.106 geschätzt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Auf der Grundlage der Höchstzahl von 24.106 Opfern beträgt die Anschlagsdichte mithin rund 1:1100. Geht man von der – pauschalen – noch höheren Zahl von Opfern unter den Zivilisten von äußerstenfalls 100.000 aus, die das Auswärtige Amt wiedergibt,

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005,

ergibt sich landesweit äußerstenfalls eine Verletzungsgefahr durch die Anschläge von 1:270. Damit lässt sich aber nicht - zudem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - feststellen, ein einzelner Rückkehrer werde alsbald sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert.

Zu einem anderen Ergebnis führen auch nicht Reisewarnungen des Auswärtigen Amts für Reisende. Der Kläger hat sich mit dem VG Sigmaringen darauf berufen, das Auswärtige Amt habe seine Reisewarnung vom 29.7.2005 auf die Anschlagsopfer sowie die Entführungen gestützt.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -, Seite 9 des amtl. Umdrucks.

In einer solchen Warnung für Touristen und Geschäftsreisende liegt kein Wertungswiderspruch zur Verneinung einer Extremgefahr. Die Warnungen enthalten keine verbindliche Regelung im Sinne eines Schutzes der Menschenwürde, sondern eine unverbindliche Information. Ein Informationsbedürfnis besteht schon wesentlich früher als erst bei einer Situation, in der Reisende sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert werden. Die Schwelle für eine Reisewarnung ist wesentlich niedriger und bedeutet als solche keine Extremgefahr.

Auch die mit dem Untergrundkrieg einhergehende angespannte Versorgungslage einschließlich der medizinischen Versorgung im Irak führt nicht zur Bejahung einer Extremgefahr, zumal keine Hungergefahr besteht.

Die Versorgungslage im Irak ist zwar angespannt.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; zur prekären wirtschaftlichen Lage auch Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Indessen beziehen 96 % aller irakischen Haushalte Lebensmittelhilfe.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Für eine extreme Verknappung der Lebensmittel oder gar eine Hungerkatastrophe oder eine Wasserkatastrophe fehlt jeder Anhaltspunkt.

Schon mit Blick auf die bestehende Lebensmittelhilfe kann realistischerweise nicht angenommen werden, der Kläger würde im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nach seiner Rückkehr dem baldigen sicheren Hungertod ausgesetzt. Selbst eine katastrophale wirtschaftliche Situation mit Obdachlosigkeit und Unterernährung bedeutet dann keine Extremgefahr, wenn Rückkehrer nicht dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -.

Auch mit Blick auf die medizinische Versorgung ist eine allgemeine Extremgefahr zu verneinen. Die medizinische Versorgung ist allerdings angespannt.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 9.6.2006 und vom 24.11.2005.

Die Situation im Gesundheitswesen wird als extrem schwierig angesehen.

Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 4.2.2006.

Nach der Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist das irakische Gesundheitssystem schlechter als vor dem Krieg, bedarf dringend der Erneuerung, indessen ist die medizinische Grundversorgung zumeist gewährleistet.

So der zusammengefasste Inhalt der Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9.6.2004 sowie des Updates der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 15.6.2005.

Nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Extremgefahr begründen eine unzureichende medizinische Versorgung und eine kaum leistungsfähige Gesundheitsversorgung nicht bereits eine allgemeine Extremgefahr.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -, zu Armenien sowie BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -, zu einer kaum leistungsfähigen Gesundheitsversorgung in Angola mit desolaten hygienischen Verhältnissen.

Auch bei einer Gesamtwürdigung der sozioökonomischen Situation des Iraks

vgl. dazu Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, Abschnitt sozioökonomische Situation, Seite 11/12

ist ungeachtet der unzulänglichen Sicherheits- und Versorgungssituation nicht eine allgemeine Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem Ausmaß zu bejahen, dass ein Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Mithin ist im Irak der Tatbestand einer allgemeinen Extremgefahr zu verneinen.

Ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; sowie bereits BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -.

Nach dem vom Senat gefundenen Gesamtergebnis bleiben Hauptantrag und Hilfsantrag des Klägers erfolglos; die Berufung ist mithin zurückzuweisen.

Gerichtskosten werden nach § 83 b AsylVfG nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung über die außergerichtlichen Kosten ergibt sich aus § 154 II VwGO.

Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 II VwGO liegen nicht vor.

Gründe

Die zugelassene und auch ansonsten zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Der Widerrufsbescheid der Beklagten vom 19.10.2004 erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (§ 77 I 1 AsylVfG) als rechtmäßig (unten I.). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die - hilfsweise begehrte - Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von sonstigen Abschiebungsverboten im Sinne von § 60 II bis VII AufenthG (unten II.)

I.

Der mit Blick auf den Systemwechsel im Irak ergangene Widerrufsbescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Das Aufhebungsbegehren des Klägers ist mangels einschlägiger Übergangsregelungen nach der neuen, durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage zu beurteilen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, für Widerrufsfälle.

Rechtsgrundlage ist mithin § 73 I 1 AsylVfG in der ab 1.1.2005 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950). Die Vorschrift lautet:

Die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, sind unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

In der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, liegen die Widerrufsvoraussetzungen dann vor, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, zitiert nach Juris; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, ähnlich Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, § 73 AsylVfG Rdnr. 7, im Sinne eines Wegfalls der asylrelevanten Umstände als Beseitigung der Verfolgungsgefahr; weiter gehend im Sinne einer grundlegenden und dauerhaften Änderung der Verhältnisse und nicht nur eines spiegelbildlichen Wegfalls der ursprünglich die Verfolgung begründenden Umstände VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -; Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 73 Rdnr. 77 und 79, im Sinne einer Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland von grundlegender Natur und Dauer mit dem Ergebnis einer eingetretenen relativen politischen und wirtschaftlichen Stabilität.

Eine wesentliche Weichenstellung für die hier einschlägige Beurteilung eines politischen Systemwechsels liegt darin, ob nur die Beseitigung des Unrechtsregimes und seiner Verfolgungsmaßnahmen selbst endgültig sein muss oder ob zusätzlich in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung und allgemeinen Gefahren durch stabile Verhältnisse vorherrschen muss. Das Bundesverwaltungsgericht, dem der Senat folgt, stellt allein darauf ab, dass die Beseitigung des Regimes dauerhaft ist.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, dort für Afghanistan; ebenso BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22/03 -, für den Irak, wobei das Bundesverwaltungsgericht im Wege eigener Tatsachenwürdigung es als ausreichend ansieht, dass das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist und damit Asylberechtigte offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen haben; ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, S. 11 des amtl. Umdruck, das es genügen lässt, dass das Regime Saddam Hussein seine politische und militärische Herrschaft über den Irak endgültig verloren hat und eine Rückkehr des alten Regimes nach den aktuellen Machtverhältnissen ausgeschlossen ist.

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Gefahr einer wiederholten Verfolgung wegfällt, und dies hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich für den Irak unter Billigung des Widerrufs entschieden.

BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 – 1 C 22/03 – zitiert nach Juris.

Der Kläger hält dem eine – in der mündlichen Verhandlung vertiefte - grundsätzliche Betrachtung zur Existenz effektiver staatlicher Gewalt und effektiven staatlichen Schutzes vor denkbarer Verfolgung bereits als Widerrufsvoraussetzung entgegen. Im Flüchtlingsrecht sei anerkannt, dass die politische Verfolgung des Bürgers eines Staates mit der Abwesenheit staatlichen Schutzes vor Verfolgung gleichzusetzen sei. Dies setze funktionierende staatliche Strukturen voraus, die aber im Irak nicht vorhanden seien. Nach den Grundsätzen der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – sei bereits das Bestehen einer effektiven staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt im Irak in Frage zu stellen, zumindest sei dies vom Verwaltungsgericht nicht ausreichend festgestellt. Die Regierung des Irak habe über die grüne Zone Bagdads hinaus keinen Einfluss auf die Wiederherstellung eines effektiven staatlichen Schutzes im Irak, und zwar auch nicht durch die Truppen der Allianz, da für die Wiederherstellung effektiven staatlichen Schutzes eine Rückübertragung an das Herkunftsland erforderlich sei. Die aufgeworfene Frage der Wiederherstellung effektiven Schutzes durch den früheren Verfolgungsstaat sei durch das Bundesverwaltungsgericht noch nicht entschieden.

Die Beklagte widerspricht dem und meint, auf effektiven Schutz bietende staatliche Strukturen im Sinne einer stabilen Schutzmacht komme es bei fehlender Verfolgung rechtlich nicht an.

Klar auseinander zu halten sind die Fragen, ob ein Staat überhaupt besteht und dafür das Erfordernis der Ausübung staatlicher Gewalt prinzipiell erfüllt, und ob in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung sowie vor allgemeinen Gefahren bestehen muss. Damit hat der Kläger Grundsatzfragen mit weit reichender – länderübergreifender - Bedeutung aufgeworfen. Die Fragen sind indes vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 - entschieden, und zwar nicht im Sinne des Klägers.

Was zunächst die Frage der Existenz eines Staates angeht, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 – im Gegensatz zur Vorinstanz, dem OVG Schleswig-Holstein, die Existenz von Afghanistan als Staat nicht ernsthaft in Frage gestellt. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (Seite 9 des Juris-Ausdrucks) genügt es, dass eine Übergangsregierung Gebietsgewalt im Sinne einer übergreifenden prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtigen Ordnung ausübt; dem stehe nicht entgegen, dass sich die Regierungsgewalt auch auf internationale Truppen stütze. Auch ein ausgesprochen schwacher Staat ist nach diesen Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts ein Staat und die internationalen Truppen werden dem Staat zugerechnet. Dies stimmt überein mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der es im Asylrecht weniger auf abstrakte staatstheoretische Begriffsmerkmale ankommt und zugunsten des Flüchtlings nur geringe Anforderungen an das Vorliegen eines Staates zu stellen sind, wobei in Bürgerkriegsfällen bereits ein Kernterritorium genügt.

BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Danach ist der Irak eindeutig ein Staat.

Der Irakkrieg von 2003 zielte zwar darauf ab, das Unrechtsregime von Saddam Hussein zu beseitigen, indessen nicht auf die Beseitigung des irakischen Staates. Vielmehr wurde nach Ablauf der Besatzungszeit die irakische Souveränität am 28.6.2004 wiederhergestellt, wie in Rechtsprechung und Erkenntnismaterial anerkannt ist.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.9.2004 – A 2 S 51/01 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 – A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 – 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, Seite 1; ebenso unterscheidet die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Auskunft vom 27.1.2006 (Seite 3) klar erkennbar zwischen der bejahten Existenz des irakischen Staates und der verneinten Frage, ob der irakische Staat die Bürger schützen könne, die nachweislich Verfolgung befürchten müssten.

Die nur erforderliche prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtige Gebietsgewalt unter Einbeziehung der internationalen Truppen ist zu bejahen, da der irakische Staat mit deren Hilfe zumindest in der Lage ist, dem bisherigen Regime von Saddam Hussein den Prozess zu machen, dadurch seine Unrechtsmaßnahmen zu beenden und den neuen Untergrundkrieg mit den Terroristen mit allerdings nur einzelnen Erfolgen aufgenommen hat und dabei den sunnitischen Widerstand verfolgt, mithin nicht etwa prinzipiell ohne Macht ist. Auch die kritische Organisation UNHCR, der sich amnesty international angeschlossen hat, stellt die effektive Herrschaft der irakischen Übergangsregierung lediglich für einzelne Teile des irakischen Staatsgebiets, vor allem im Zentralirak, in Frage.

UNHCR, Hinweise von April 2005; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Ebenso geht das VG Sigmaringen in seiner kritischen Rechtsprechung nicht von einer fehlenden Staatsmacht aus, sondern nimmt an, der Übergangsregierung sei es noch nicht gelungen, ihre Macht im gesamten Irak zu etablieren.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 – A 3 K 11212/04 -, S. 8 des Umdrucks.

Auf das gesamte Territorium kommt es aber nicht an.

Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt bereits ein Kernterritorium.

BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Weiterhin muss gesehen werden, dass der irakische Widerstand seit der von ihm verlorenen zweiten Schlacht um Falludscha im November 2004 angesichts der Übermacht der US-Truppen nicht mehr bestimmte Gebiete verteidigen, sondern mit Anschlägen den Wiederaufbau des Landes nachhaltig stören will.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006.

Nach den dargelegten Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts kann unter Einbeziehung der internationalen Truppen die Existenz des Staates Irak mit der prinzipiellen Ausübung von Staatsgewalt nach Ansicht des Senats nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden.

Von der Frage der Existenz des Staates Iraks ist die weitere Frage eines effektiven Schutzes durch den Staat Irak als stabile Schutzmacht vor möglicher Verfolgung und allgemeinen Gefahren zu unterscheiden.

Der Kläger zieht die Effektivitätsfrage gewissermaßen vor die Klammer der Verfolgungsprüfung. Vorrangig wird effektiver Schutz geprüft. Fehlt es daran, steht die Verfolgung fest und der Widerruf scheitert. Letztlich hat der effektive Schutz dann absolute Bedeutung für den Widerruf. Der Kläger meint weiter, die Frage des effektiven staatlichen Schutzes sei von dem Bundesverwaltungsgericht noch nicht, auch nicht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 –, entschieden; dem hat die Beklagte widersprochen.

Diese Auslegung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Kläger überzeugt nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – die nur relative Bedeutung eines effektiven Verfolgungsschutzes herausgestellt, diese Rechtsauffassung jedenfalls konkludent bereits in seinen beiden zuvor zum Irak ergangenen Entscheidungen vom 11.2.2004 – 1 C 23/02 – und vom 25.8.2004 – 1 C 22.03 – zugrunde gelegt und sodann die Frage einer stabilen Schutzmacht im Beschluss

vom 26.1.2006 – 1 B 135.05 –

ausdrücklich als nicht entscheidungserheblich bei fehlender Verfolgung behandelt.

In seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 – (Juris-Ausdruck Seite 6) hat das Bundesverwaltungsgericht für die Prüfung von Widerrufsfällen entschieden, dass nach der auch beim Widerruf anzuwendenden Vorschrift des § 60 I 4 AufenthG

eine Verfolgung nunmehr auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (kann), sofern der Staat, wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat nach der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht die gewissermaßen absolute Bedeutung, dass ein Widerruf ausscheidet. Ein fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat in Widerrufsfällen vielmehr nur die relative Bedeutung, dass vorrangig tatsächliche Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure zu prüfen sind. Die dargelegte Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet, dass effektiver staatlicher Schutz nicht bereits eine Widerrufsvoraussetzung ist; der Widerruf scheitert nicht von vornherein an fehlendem effektivem staatlichen Schutz durch eine stabile Schutzmacht.

Dieselbe Rechtsauffassung hat das Bundesverwaltungsgericht auch schon konkludent in einem unmittelbar den Irak betreffenden Urteil vom 25.8.2004 – 1 C 22.03 – in einem Widerrufsverfahren zugrunde gelegt. Auch dort wird die Frage der effektiven Schutzfähigkeit nicht als Widerrufshindernis geprüft. Vielmehr ist ausgeführt (Seite 3 des Juris-Ausdrucks):

Der Kläger hat bei einer Rückkehr in den Irak inzwischen offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen.

Es werden also nur Verfolgungsmaßnahmen ausgeschlossen. Dazu wird dargelegt, das irakische Regime sei durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden und andere Gründe, aus denen der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland politischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein könnte, seien nicht ersichtlich. Die effektive Schutzfähigkeit durch den irakischen Staat prüft das Bundesverwaltungsgericht nicht. Der Irak war im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (25.8.2004) gerade erst (am 28.6.2004) aus dem Besatzungsstatut in die Souveränität entlassen worden und vergleichbar schwach wie heute. Die fehlende effektive Schutzfähigkeit des Irak kann also kein absolutes Widerrufshindernis sein. Weiterhin hat das Bundesverwaltungsgericht in eigener Revisionswürdigung schon während der Besatzungszeit des Iraks eine Verfolgungsgefahr ausgeschlossen, ohne die effektive Schutzfähigkeit des Irak zu prüfen.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 – 1 C 23/02 -, dort betreffend einen Anerkennungsfall.

In den drei vom Senat aufgeführten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts aus 2004 und 2005 zum Irak und zu Afghanistan ist als gemeinsame klare Linie der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu entnehmen, dass in keinem der Fälle die effektive Schutzfähigkeit des Staates gewissermaßen als absolute Anforderung vor die Klammer gezogen wird und der Flüchtling bereits deshalb Verfolgter ist, weil sein Heimatstaat keinen effektiven Schutz durch eine stabile Schutzmacht gegen denkbare Verfolgungen bietet. Vielmehr ist vorrangig für das Bundesverwaltungsgericht, ob asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen nach den maßgebenden Kriterien der Rechtsprechung überhaupt zu befürchten sind. Für den Irak hat das Bundesverwaltungsgericht eine solche Verfolgungsgefahr verneint und bereits deshalb nicht die effektive Schutzfähigkeit des Staates vor denkbarer Verfolgung geprüft. In dem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/05 – ist die nur relative Bedeutung des effektiven staatlichen Schutzes vor Verfolgung hervorgehoben.

Sodann hat das Bundesverwaltungsgericht die Frage nach der Notwendigkeit einer stabilen Schutzmacht in einem neueren Revisionszulassungsverfahren auch ausdrücklich erörtert.

Beschluss des BVerwG vom 26.1.2006 – 1 B 135.05 -.

Es hat die aufgeworfene Frage der stabilen Schutzmacht als nicht entscheidungserheblich bei fehlender Verfolgung behandelt.

Dem folgt auch der Senat.

Mithin ist die vom Kläger aufgeworfene Grundsatzfrage der Bedeutung des effektiven Schutzes des Staates als stabiler Schutzmacht vor Verfolgung übereinstimmend mit der Meinung der Beklagten bereits höchstrichterlich geklärt; der Senat schließt sich der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an, wonach diese Frage nur relative Bedeutung bei vorrangig festzustellender tatsächlicher Verfolgungsgefahr hat.

Sodann ist mit Blick auf die Auffassung des UNHCR die Frage zu erörtern, ob nach dem politischen Systemwechsel über den Ausschluss erneuter Verfolgung hinaus auch noch Schutz vor allgemeinen Gefahren durch eine stabile Lage verlangt werden kann. Die Stabilitätsfrage wird also nochmals gestellt, aber nunmehr nicht mit Blick auf die Verfolgung, sondern mit Blick auf allgemeine Gefahren. Auch diese Frage hat grundsätzliche und zugleich länderübergreifende Bedeutung, ist aber vom Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden.

Die Widerrufsregelung des Gesetzgebers zielte nach der ursprünglichen Gesetzesbegründung auf den Fall, dass in dem Verfolgungsland ein Wechsel des politischen Systems eingetreten ist, sodass eine weitere Verfolgung nicht mehr zu befürchten ist.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, unter Darstellung der Gesetzesmaterialien.

Der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck bezieht sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausschließlich auf den Ausschluss erneuter Verfolgungsmaßnahmen, nicht auf Schutz vor allgemeinen Gefahren.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Die den Rechtsstandpunkt des Klägers stützende Gegenmeinung, die insbesondere von der Flüchtlingshilfeorganisation UNHCR näher begründet wird, geht über den Verfolgungsausschluss hinaus und verlangt für den Widerruf zusätzlich stabile Verhältnisse im Herkunftsland.

UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention auf irakische Flüchtlinge von April 2005, S. 2.

UNHCR nimmt dabei an, dass der internationale Flüchtlingsschutz nicht nur dem Schutz vor erlittener oder drohender Verfolgung diene, sondern auch der Schaffung dauerhafter Lösungen für Flüchtlinge; deshalb könnten Flüchtlinge nicht zur Rückkehr in die instabilen Verhältnisse des Irak gezwungen sein mit der Gefahr, dass immer neue Flüchtlingsströme entstehen.

UNHCR-Hinweise von April 2005, S. 2.

Dieser vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vertiefte Gesichtspunkt leuchtet dem Senat durchaus rechtspolitisch ein.

Es geht um die Erweiterung des Schutzzwecks auf allgemeine Gefahren zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme. Unter Hinweis auf die Interessenwürdigung durch UNHCR verlangt auch Marx relative politische und wirtschaftliche Stabilität in dem Land nach dem Systemwechsel.

Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 73 Rdnr. 79.

Das VG Köln, auf das sich der Kläger beruft, ist dieser Auffassung gefolgt.

VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -, wonach eine instabile beziehungsweise unsichere Lage im Herkunftsland Irak einem Widerruf entgegenstehe.

Besonders deutlich wird diese Rechtsposition durch das VG Sigmaringen dargestellt, auf das sich der Kläger ebenfalls beruft.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -.

Danach geht es bei dem Widerruf nicht nur um Verfolgungsschutz, sondern erweiternd um effektive Schutzgewährung, und ein wesentlicher Aspekt der effektiven Schutzgewährung ist die allgemeine Sicherheitslage.

Ungeachtet der rechtspolitischen Vorzüge der Ansicht von UNHCR folgt der Senat der systematisch begründeten Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach der Widerruf keinen Gefahrenausschluss durch stabile Verhältnisse voraussetzt. Diese Auslegung ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Nach Art. 16 a I GG dient das Asylrecht dem Schutz politisch Verfolgter

Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 7. Auflage 2004, Art. 16 a Rdnr. 1, wonach das Asylgrundrecht auf die Erfahrung mit dem Dritten Reich und den damals rassistisch und politisch Verfolgten zurückgeht und Menschen in einer ähnlichen politischen Lage in anderen Ländern helfen soll.

Dagegen ist das Grundrecht nach der Verfassungsrechtsprechung nicht in der Lage, auch einen effektiven Schutz vor politisch und wirtschaftlich instabilen Verhältnissen, oder sogar vor anarchischen Zuständen mit Auflösung der Staatsgewalt zu gewähren.

Zum Letzteren BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Ist dies aber der Fall, verbietet das Grundgesetz auch unter Einschluss des vom Kläger zitierten Art. 1 I GG nicht einen geminderten Flüchtlingsschutz für Fälle des Staatszerfalls.

Darüber hinaus ist die grundrechtskonforme Begrenzung des Gesetzeszwecks auf den Verfolgungsschutz nach der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowohl völkerrechtskonform als auch europarechtskonform.

Die Widerrufsvorschrift des deutschen Rechts geht zurück auf Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - vom 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560), wonach eine Person nicht mehr unter den Schutz des Flüchtlingsabkommens fällt,

wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wollte der deutsche Gesetzgeber mit seiner Widerrufsbestimmung die materiellen Anforderungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention übernehmen und hat dies auch getan.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Nach der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet Wegfall der Umstände im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK eine nachträgliche erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Unter Schutz im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK ist danach ausschließlich der Schutz vor zu erwartenden erneuten Verfolgungsmaßnahmen zu verstehen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/06 -.

Das Bundesverwaltungsgericht beruft sich für seine Rechtsauffassung auf eine systematische Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention. Der Begriff Schutz des Landes in dieser Wegfallbestimmung hat danach keine andere Bedeutung als der gleich lautende Begriff Schutz dieses Landes in Art. 1 A Nr. 2 GFK, der die Flüchtlingseigenschaft begründet. Nach dieser Vorschrift kommt es insbesondere darauf an, dass der Betroffene aus begründeter Furcht vor Verfolgung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann. Nach dem Zusammenhang dieser Definitionsvorschrift kann mit dem Schutz des Landes nur der Schutz vor den befürchteten Verfolgungsmaßnahmen gemeint sein; ein Schutz vor instabilen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen als Begründung der Flüchtlingseigenschaft ist ersichtlich nicht mit umfasst. Die instabile Lage begründet nicht die Verfolgteneigenschaft Dies gilt konsequent auch für den Wegfall der Flüchtlingseigenschaft, und deshalb beenden auch nicht erst stabile Verhältnisse die Verfolgteneigenschaft.

Der Senat folgt der systematischen Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts.

Zusätzlich ist noch auf folgenden in der mündlichen Verhandlung erörterten Auslegungsgesichtspunkt hinzuweisen:

Die unmittelbar anschließende völkerrechtliche Widerrufsregelung für Staatenlose in Art. 1 C Nr. 6 GFK enthält keine Schutzklausel. Dies kann schwerlich bedeuten, dass damit Staatenlosen der sonst zu gewährende effektive Schutz entzogen wird. Vielmehr spricht diese Regelung dafür, dass mit dem völkerrechtlichen Begriff „Schutz“ nur der prinzipielle Schutz des Herkunftsstaates für seine Staatsangehörigen gemeint ist, der naturgemäß nicht auf Staatenlose übertragen werden kann.

Auch dies spricht für die Auslegung des Völkerrechts durch das Bundesverwaltungsgericht.

Ergänzend zu berücksichtigen ist für die Auslegung des deutschen Rechts das Europarecht. Dabei geht es um die Vorwirkung der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikationsrichtlinie - bereits vor dem bevorstehenden Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006.

Nach der Rechtsprechung des EuGH, der sich der Senat angeschlossen hat, ist nationales Recht schon vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist bereits erlassener Richtlinien so auszulegen, dass der Zweck der Richtlinie erreicht werden kann.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 - C 211/03 -, Rz 44; Urteil des Senats vom 3.2.2006 - 3 R 7/05 - Seite 49 des amtl. Umdrucks, beide Entscheidungen ergangen zum Arzneimittelrecht.

Inhaltlich führt die europäische Richtlinie aber zu keiner anderen Rechtslage als der bereits dargelegten völkerrechtlichen Regelung der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern sie bestätigt noch zusätzlich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.

Wesentlich ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass die völkerrechtliche Wegfallklausel der Genfer Flüchtlingskonvention in die Qualifikationsrichtlinie ebenso wörtlich übernommen ist wie der symmetrische Schutzbegriff sowohl bei der Begründung der Flüchtlingseigenschaft als auch bei dem Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft. Nach Art. I e der Qualifikationsrichtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser nicht mehr Flüchtling, wenn er

nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Für die Begründung der Flüchtlingseigenschaft stellt Art. 2 c der Qualifikationsrichtlinie unter eigenständiger Formulierung der Verfolgungsmerkmale ebenso wie die Genfer Flüchtlingskonvention auf die begründete Furcht vor Verfolgung ab und verlangt sodann wörtlich übereinstimmend, dass der Flüchtling

sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann .....

Die vom Bundesverwaltungsgericht bereits im Zusammenhang mit dem Völkerrecht ausgelegten Parallelbegriffe „Schutz des Landes“ sowie „Schutz dieses Landes“ finden sich also wörtlich gleich lautend in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der umzusetzenden Qualifikationsrichtlinie der EG. Das Bundesverwaltungsgericht hat auch konsequenterweise in einem Nichtzulassungsbeschluss bereits ausgeführt, die Annahme einer Vorwirkung der Richtlinie 2004/83/EG führe nicht zu einem günstigeren Auslegungsergebnis der Widerrufsvorschrift.

BVerwG, Beschluss vom 15.2.2006 - 1 B 120/05 -, ohne eingehende Begründung; eben so Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; a. A. das VG Köln in seinem Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -, das aus den übereinstimmenden Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie einen Schutz auch vor einer instabilen Lage in Anspruch nimmt.

Hinzu kommt, dass die europäische Richtlinie die Wegfallklausel in Art. 11 II über das Völkerrecht hinaus dahin gehend präzisiert, dass die Mitgliedstaaten zu untersuchen haben,

ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist.

Damit wird der Schwerpunkt der Prüfung auf die Veränderung selbst gelegt, nicht auf stabile Verhältnisse.

Dies entspricht exakt der Auslegung des deutschen Rechts durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die mithin durch das neue Europarecht bestätigt wird.

Zusammengefasst ergibt sich aus der dargelegten systematisch überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entgegen der rechtspolitisch vorzugswürdigen Ansicht von UNHCR als grundsätzliche Weichenstellung der Widerrufsmaßstab, dass nur der Verfolgungsausschluss maßgebend ist. Die Gefahr von erneuten Verfolgungsmaßnahmen ist nach den Kriterien der Rechtsprechung zu prüfen. Allgemeine Gefahren etwa aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage bleiben bei dem Widerruf außer Betracht.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Verfolgungsgefahr wegfällt.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23/02 -, zitiert nach Juris.

Erweist sich die Beseitigung eines Regimes mit dessen spezifischen Verfolgungsmaßnahmen als endgültig, kann über den Wegfall der tatsächlichen Verfolgungsgefahr hinaus ein stabiler Staat weder zum Verfolgungsausschluss noch zum Gefahrenausschluss verlangt werden. Der Staat braucht also nicht stark zu sein. Die dargestellte Weichenstellung hinsichtlich stabiler Verhältnisse ist der Hauptgrund dafür, dass der Flüchtlingswiderruf in der Rechtsprechung einiger Instanzgerichte als rechtswidrig beurteilt wird; darauf ist noch einzugehen.

Die dargelegte erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der Verhältnisse muss nach dem anzulegenden Maßstab dazu führen, dass die Verfolgungsmaßnahmen nicht mehr wiederholt werden. Mit Blick auf die Vorverfolgung des Klägers gilt dafür der herabgestufte Maßstab der hinreichenden Sicherheit.

BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - BVerwG 9 C 6.96 -, BVerwGE 104, 97; ebenso BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21.04 -, zitiert nach Juris.

Dem bereits Vorverfolgten soll nicht das Risiko einer Wiederholung der Verfolgung aufgebürdet werden. Dabei braucht die Gefahr des Eintritts wiederholter Verfolgungsmaßnahmen nach diesem Maßstab nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen zu werden, so dass bereits geringe Zweifel dem Begehren zum Erfolg verhelfen würden. Vielmehr ist eine Wiederholungsgefahr der Verfolgung nach diesem Prognosemaßstab zu bejahen, wenn sich ernsthafte Bedenken nicht ausräumen lassen.

BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - BVerwG 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97.

Nach dem dargelegten Maßstab ist durch die Entmachtung Saddam Husseins eine erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der politischen Verhältnisse eingetreten, die nicht mehr umkehrbar ist. Dies steht mit hinreichender Sicherheit fest. Das Regime von Saddam Hussein ist gestürzt, seine Armee und seine Polizei sind aufgelöst, die Baath-Partei ist verboten, seine Verfolgungsmaßnahmen sind beendet, einige Mitglieder des Regimes sind getötet und Saddam Hussein und dem Kern seines Regimes wird im Irak der Prozess gemacht. Gerade darin liegt der Verfolgungsschutz des Klägers vor weiteren Unrechtsmaßnahmen des Regimes von Saddam Hussein, der keinen ernsthaften Bedenken unterliegt.

Dem hält der Kläger die eigene Einschätzung entgegen, angesichts der anerkannt labilen Sicherheitslage und der hohen Zahl der täglichen Anschläge sei in einem Bürgerkrieg oder jedenfalls einem Krieg von niedriger Intensität die Zukunft offen und es sei nicht auszuschließen, dass die Kräfte um den früheren Diktator Saddam Hussein wieder an die Macht gelangten, sein Machtclan sei noch vorhanden.

Dem Kläger ist zwar hinsichtlich der instabilen, manchmal eskalierenden Sicherheitslage, des hohen Gewaltniveaus durch tägliche Anschläge aus dem Untergrund im Sinne eines Untergrundkriegs und damit einer offenen Lage nach dem übereinstimmenden Erkenntnismaterial Recht zu geben.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005: amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005 und Jahresbericht 2006, UNHCR, Position von September 2005, vgl. auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Der Irak steht – wie es das OVG Koblenz prägnant formuliert – am Scheideweg zwischen Demokratie und Staatszerfall.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Insofern ist die Zukunft offen. Sie schließt den offenen Ausbruch eines Bürgerkriegs und ein Auseinanderbrechen des Irak ein.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

In dem hier entscheidenden Punkt, ob der Sturz des Regimes von Saddam Hussein und seines Machtclans in absehbarer Zeit unumkehrbar ist, besteht aber entgegen der Meinung des Klägers in Rechtsprechung und im Erkenntnismaterial ungeachtet der unterschiedlich kritischen Beurteilung des Iraks die fast einhellige Überzeugung, dass die Entmachtung Saddam Husseins und seines Clans nicht mehr umkehrbar ist.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den während des Laufs mehrerer Revisionsverfahren 2003 eingetretenen Sturz von Saddam Hussein abschließend selbst beurteilt mit dem Ergebnis, dass mit einer Wiederholung der Verfolgung offenkundig nicht mehr zu rechnen sei.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -; BVerwG Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, jeweils zitiert nach Juris.

Das Bundesverwaltungsgericht hält es also für offenkundig, dass Saddam Hussein und sein Clan nicht an die Macht zurückkehren.

Die Obergerichte teilen diesen Standpunkt. Nach der Auffassung des OVG Münster hat das bisherige Regime Saddam Husseins seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch den am 20.3.2003 begonnenen Militärschlag unter Führung der USA endgültig verloren und eine Rückkehr des alten Regimes ist nach den aktuellen Machtverhältnissen ebenso ausgeschlossen wie die Bildung einer Struktur, die eine vom früheren Regime gesehene Gegnerschaft als solche übernimmt und wiederholend verfolgt.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Der VGH Baden-Württemberg hält es mit hinreichender Sicherheit für ausgeschlossen, dass Anhänger des früheren Baath-Regimes bei realistischer Betrachtung wieder staatliche Herrschaftsgewalt ausüben könnten und zwar ungeachtet der äußerst angespannten Sicherheitslage.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Nach der Einschätzung des OVG Lüneburg ist der Sturz des Regimes von Saddam Hussein nach allen vorliegenden Erkenntnissen eindeutig und unumkehrbar, und zwar trotz der problematischen und oft eskalierenden Sicherheitslage im Irak.

OVG Lüneburg, Urteil vom 13.2.2006 - 9 LB 75/03 -.

Nach der Beurteilung des Bayerischen VGH gibt es keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass Saddam Hussein oder Angehörige seines früheren Regimes in absehbarer Zeit in der Lage sein könnten, sich neu zu formieren und staatliche Verfolgungsmaßnahmen zu veranlassen.

BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -.

Nach der Einschätzung des OVG Koblenz ist die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein vollständig; die tragenden Personen sind nicht nur durch das irakische Volk abgewählt, sondern zum Teil getötet oder außer Landes und ihm selbst und seinen führenden Helfern wird der Prozess gemacht, so dass eine weitere Verfolgung durch die persönliche Diktatur auszuschließen ist.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 107/95/05.OVG -.

Auch das OVG Schleswig-Holstein und das Sächsische OVG sehen den Machtverlust des diktatorischen Regimes von Saddam Hussein als endgültig an.

OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 18.5.2006 – 1 LB 117/05 -; Sächsisches OVG, Beschluss vom 28.8.2003 - A 4 B 573/02 -.

Soweit sich der Kläger auf die Rechtsprechung einiger Instanzgerichte beruft, die für den Irak die Widerrufsvoraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung verneinen, werden bei vergleichbarer Tatsachenwürdigung die rechtlichen Weichen anders gestellt. Das VG Köln ist der Auffassung, dass der Wegfall der ursprünglich die Verfolgung begründenden Verhältnisse nicht genüge und deshalb der Sturz des Regimes von Saddam Hussein allein nicht ausreiche; vielmehr müsse der Charakter der Veränderungen selbst stabil sein, was angesichts der hochgradigen instabilen Lage im Irak nicht der Fall sei.

VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -.

Allerdings ist die Rechtsprechung des VG Köln zur Rechtswidrigkeit des Widerrufs entgegen der Meinung des Klägers von dem OVG Münster nicht inhaltlich bestätigt worden. So hat das OVG Münster zwar in einem Beschluss vom 20.10.2005 (nicht: 19.7.2005) – 9 A 2944/05.A – ein entsprechendes Urteil des VG Köln aus prozessualen Gründen bestätigt. In seiner Rechtsprechung in der Sache selbst hat das OVG Münster aber wie dargelegt den Widerruf unter Abänderung einer Entscheidung des VG Köln als rechtmäßig angesehen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 – 9 A 3590/05.A – unter Abänderung des Urteils des VG Köln vom 24.8.2005 – 18 K 5732/04.A -.

Besonders deutlich wird die unterschiedliche rechtliche Weichenstellung bei im Wesentlichen gleicher Tatsacheneinschätzung in der Beurteilung des VG Sigmaringen, auf das sich der Kläger beruft.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -.

Nach der Rechtsprechung des VG Sigmaringen wurde durch die Militäraktion ein grundlegender Systemwechsel bewirkt; eine Rückkehr zu den alten Machtverhältnissen ist ausgeschlossen. Bei der Widerrufsentscheidung darf dagegen nicht die allgemeine Sicherheitslage ausgeklammert werden und wegen der erheblichen Unsicherheit der politischen Entwicklung und der realistischen Gefahr von Terroranschlägen hat ein Widerruf zu unterbleiben. Die abweichende Rechtsauffassung des VG Sigmaringen beruht also bei grundsätzlich gleicher Lagebeurteilung auf einer Rechtsauffassung, die das Bundesverwaltungsgericht und dem folgend der Senat nicht teilt.

Der Einschätzung durch die Rechtsprechung entspricht grundsätzlich auch die Beurteilung durch das vorliegende Erkenntnismaterial. In dem aktuellen Erkenntnismaterial wird meist nicht einmal mehr die Frage aufgeworfen, ob Saddam Hussein oder sein Clan an die Macht zurückkehren könnte.

Das Auswärtige Amt stellt eine Umsetzung des politischen Prozesses durch demokratische Wahlen bei gleichzeitig hohem Gewaltniveau und einer Annäherung an bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen fest; es geht davon aus, dass in dem am 19.10.2005 eröffneten Strafverfahren gegen Saddam Hussein und sieben weitere Repräsentanten der Diktatur den Angeklagten die Todesstrafe droht, rechnet also ersichtlich nicht mit einer erneuten Machtergreifung von Saddam Hussein und seinem Clan.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe würdigt in ihrer Analyse den politischen Übergang des Iraks zur Demokratie bei gleichzeitig äußerst schlechter Sicherheitslage.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Nach der Einschätzung der kritischen Flüchtlingshilfeorganisation UNHCR hat der Sturz des Regimes von Saddam Hussein noch nicht überall im Land zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen geführt; nach dem Sturz bestehen aber keine Anhaltspunkte dafür, dass Saddam Hussein selbst wieder die Macht erlangen könnte. Die Zukunft sei insofern unsicher, als es zu Sezessionsbestrebungen kommen könne.

UNHCR, UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention auf irakische Flüchtlinge von April 2005.

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international hat sich der Beurteilung durch UNHCR angeschlossen, dass nach dem Wegfall der autoritären Zentralgewalt der Sturz der Regierung von Saddam Hussein noch nicht im gesamten Irak zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen geführt hat; die Frage einer Rückkehr wird nicht aufgeworfen.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Das Deutsche Orient-Institut sieht in den Terroranschlägen lediglich einen Versuch, die politische Entwicklung des Irak zu bestimmen; die Rückkehrfrage von Saddam Hussein oder seines Machtclans wird nicht gestellt.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006.

Bei einer Gesamtwürdigung ist erkennbar, dass die vorliegende Rechtsprechung explizit von der Unumkehrbarkeit des Sturzes von Saddam Hussein in absehbarer Zeit ausgeht, während das aktuelle Erkenntnismaterial überwiegend die Frage bereits nicht mehr aufwirft. Soweit ersichtlich enthält das Erkenntnismaterial keinen näher begründeten ernsthaften Anhaltspunkt dafür, Saddam Hussein oder sein Machtclan könnte die Herrschaft im Irak wieder ergreifen und die Verfolgung ihrer früheren Gegner fortsetzen.

Dem Kläger ist einzuräumen, dass die Tatsache des praktisch einhelligen Ergebnisses in Rechtsprechung und Erkenntnismaterial eine Begründung dieser Prognose nicht ersetzt. Er beanstandet es, dass das Verwaltungsgericht seine Prognose zur Unumkehrbarkeit der Verhältnisse nicht begründet hat.

In der Rechtsprechung findet sich indessen eine tragfähige Begründung der Unumkehrbarkeit der Verhältnisse, die auch gegenüber der Argumentation des Klägers mit Blick auf die offene Lage überzeugt.

Wesentliche Bedeutung für die Unumkehrbarkeit des Verlustes der Macht hat die Art der Entmachtung des Regimes. Das Bundesverwaltungsgericht hat Gewicht darauf gelegt, dass das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -; BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -; jeweils zitiert nach Juris.

Ebenso hat das OVG Münster darauf abgestellt, dass das bisherige Regime von Saddam Hussein seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die am 20.3.2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren hat.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Das Regime von Saddam Hussein ist mithin nicht durch einen umkehrbaren Putsch oder durch die Intervention eines ähnlich starken Nachbarlandes entmachtet worden, sondern hat den Krieg gegen eine führende Macht der Welt endgültig verloren. In diesem Kriegsverlust liegt ein Unterschied zu dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung erwähnten Vietnamkrieg, in dem das nordvietnamesische Regime von den Amerikanern nicht besiegt und beseitigt wurde und sich erst danach neu etabliert hat. Ausdrückliches und erreichtes Kriegsziel im Irakkrieg war die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein. Der Verlust eines solchen Krieges lässt sich realistischerweise nicht einfach umkehren. Auch der sunnitische Widerstand geht in seiner Einschätzung von einer Übermacht der US-Truppen im Irak und nicht von einem Kräftegleichgewicht aus.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Die Kräfte sind zu ungleich, um mit dem Kläger insoweit eine offene Lage zu sehen. Deshalb bestehen auch keine ernsthaften Bedenken gegenüber der Unumkehrbarkeit des Sturzes von Saddam Hussein und seines Machtclans einschließlich seiner spezifischen Verfolgungsmaßnahmen.

Wenn der Kläger demgegenüber meint, die Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein seien nicht zerschlagen, da das Clan-System existiere und lebensfähig sei, überzeugt das nicht. Zu den Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein gehörten abgesehen von dem Clan vor allem seine Armee, seine Polizei und die Baath-Partei. Seine Armee und die Polizei sind zerschlagen worden, die Baath-Partei ist verboten. Die das Regime tragenden Personen des Machtclans sind vom irakischen Volk abgewählt, zum Teil getötet, und dem Kern des Regimes wird der Prozess gemacht, so dass bei einer Gesamtwürdigung von einer Beseitigung der persönlichen Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein auszugehen ist.

So überzeugend OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Alle diese Herrschaftsstrukturen sind endgültig zerschlagen. Allenfalls kann man mit der Einschätzung von UNHCR und amnesty international annehmen, dass es noch nicht überall im Land zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen gekommen ist, aber auch UNHCR sieht darin keinen Gesichtspunkt dafür, Saddam Hussein könne wieder die Macht erlangen.

Von Bedeutung ist, dass das Clan-System von Saddam Hussein allein in einer Minderheitsgruppe verankert war. Das OVG Münster stützt seine Prognose darauf, dass es nicht wieder zu einer Ballung der Macht bei einer der Volksgruppen kommen werde, zumal nicht in der Hand der nur eine Minderheit darstellenden Gruppe der Sunniten, in der das Regime Saddam Husseins vor allem verankert war.

OVG Münster, Urteil vom 17.5.2004 - 20 H 1810/02.A -.

Die arabischen Sunnitinnen und Sunniten stellen im Irak einen Bevölkerungsanteil von etwa 17 bis 22 % dar.

Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006.

Die gewaltsame Wiedererlangung der Macht einer diktatorischen sunnitischen Minderheit durch Bombenanschläge sowohl gegen die Mehrheit der großen Volksgruppen des Irak als auch gegen das erreichte Kriegsziel einer Weltmacht ist nicht realistisch.

Das bestätigt auch die bisherige demokratische Entwicklung des Irak, die durch einen Untergrundkrieg des Widerstands mit täglichen Bombenanschlägen nicht zu verhindern war. Die Entwicklung im Irak ist sowohl durch die demokratische Neugestaltung als auch den Untergrundkrieg mit Bombenanschlägen geprägt.

Die seit dem Irakkrieg 2003 eingetretene politische Entwicklung, insbesondere die demokratische Beteiligung der wesentlichen Gruppen des Iraks, der Schiiten, der arabischen Sunniten und der Kurden, lässt keinen Anhaltspunkt für eine nochmalige diktatorische Minderheitsherrschaft der Sunniten zu, wobei die von Saddam Hussein verfolgte Mehrheit der Schiiten realistischerweise auch nicht als Bündnispartner der Diktatur der Sunnitenminderheit bereit steht.

Am 28.6.2004 wurde unter Beendigung der amerikanisch-britischen Besatzung die Souveränität des Irak wieder hergestellt.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Die am 30.1.2005 erstmals durchgeführten demokratischen Wahlen führten zu einer demokratischen Legitimierung der irakischen Regierung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005.

Aufgrund dieser ersten Wahlen stellten die Schiiten den Ministerpräsidenten und 16 Minister, die Kurden 8 Minister, die Sunniten 6 Minister und die Christen und Turkmenen je einen Minister. Zum Staatspräsidenten wurde am 6.4.2005 der Kurde Talabani gewählt. Seine Stellvertreter wurden ein Schiit und ein sunnitischer Araber. Am 15.10.2005 hat die irakische Bevölkerung in einem Referendum die neue irakische Verfassung entgegen den Bombenandrohungen mit einer Wahlbeteiligung von immerhin 63 % angenommen. Die Verfassung bestimmt, dass der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat ist. Der Islam ist eine Hauptquelle der Gesetzgebung; die Verfassung enthält einen umfassenden Menschenrechtskatalog und garantiert eine Frauenquote von 25 % im Parlament. Am 19.10.2005 hat ein irakisches Sondergericht zur Aufarbeitung der Verbrechen des ehemaligen Regimes das erste Verfahren gegen Saddam Hussein sowie sieben weitere Repräsentanten des früheren Regimes eröffnet.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005, amnesty international, Jahresbericht 2006.

Am 15.12.2005 fanden im Irak Parlamentswahlen mit einer Wahlbeteiligung von immerhin 75 % der Wahlberechtigten ungeachtet der Bombendrohungen statt. Von den 275 Parlamentssitzen errangen die religiöse Schiiten-Allianz 128, das kurdische Wahlbündnis 53 und die sunnitische Irakische Konsensfront 44 Sitze.

Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006.

Die Regierungsbildung war sehr langwierig, da die Kurden und die Sunniten den bisherigen schiitischen Ministerpräsidenten Dschaafari ablehnten. Erst im Mai 2006 wurde eine neue Regierung durch das irakische Parlament bestätigt. Neuer Ministerpräsident ist der Schiit Al-Maliki. Der Ölminister ist Schiit, der Außenminister Kurde und der Vizepremier Sunnit.

Vgl. zur Regierungsbildung Süddeutsche Zeitung vom 22.5.2006.

Insgesamt spiegelt das vollständige Kabinett mit 20 Schiiten, 8 Kurden, 8 Sunniten und 4 Säkularen den ethnisch-konfessionellen Proporz des Irak wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Der Kurde Talabani wurde am 22.4.2006 erneut zum Staatspräsidenten gewählt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Angesichts der Entwicklung der Machtverhältnisse, die von einer Mehrheit der unter dem sunnitischen Regime unterdrückten schiitischen und kurdischen Bevölkerungsgruppen geprägt ist, hält es der Senat mit hinreichender Sicherheit für ausgeschlossen, dass Anhänger des früheren Baath-Regimes bei realistischer Betrachtung als Minderheitsgruppe wieder diktatorische Herrschaftsgewalt ausüben werden, dafür die zuvor von Saddam Hussein verfolgten Volksgruppen gewinnen und sodann die Verfolgung wieder aufnehmen.

Der Verlust des Krieges gegen eine Weltmacht kann realistischerweise nicht mehr umgekehrt werden und dies ist auch wie dargelegt im Vietnamkrieg nicht geschehen.

Nach allem liegt in der Entmachtung von Saddam Hussein und des Minderheitsregimes der arabischen Sunniten einschließlich der spezifischen Verfolgungsmaßnahmen des Regimes eine unumkehrbare Entwicklung. Der Kläger hat mithin offenkundig nicht mehr mit einer wiederholten politischen Verfolgung zu rechnen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Wegfall der politischen Verfolgung bereits im Jahr 2004 als offenkundig bezeichnet, BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, unter eigener Beurteilung der Entwicklung in der Revisionsinstanz.

Der Kläger ist also hinreichend sicher davor, dass der Clan um Saddam Hussein nach dem verlorenen Krieg gegen eine Weltmacht erneut eine sunnitische Minderheitsdiktatur begründet und die Verfolgung des Klägers gerade dort aufnimmt, wo sie 1995 beendet wurde, nämlich mit der vorgetragenen drohenden Verhaftung wegen der Übermittlung von Einzelheiten der Militärfahrzeuge Saddam Husseins an die kurdische Partei PUK im Nordirak. Nach dem herabgesetzten Prognosemaßstab ist der Kläger mithin vor einer solchen Wiederholung dieser spezifischen Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher.

Nach diesem Maßstab droht dem Kläger keine erneute Verfolgung.

Allerdings befürchtet der Kläger dennoch, er werde ungeachtet des Regimewechsels wegen des plausibel vorgetragenen früher begangenen militärischen Geheimnisverrats zugunsten der kurdischen Partei PUK weiterhin zur Rechenschaft gezogen. Dieser in der mündlichen Verhandlung von der Beklagten bestrittene Verfolgungsvortrag kann zugunsten des Klägers als richtig unterstellt werden. Auf Grund der vorgetragenen Verfolgung meint der Kläger nach seinem erstinstanzlichen Vorbringen, er müsse heute von den aktuell an der Macht Befindlichen Verfolgung befürchten, mithin von der irakischen Regierung.

Eine solche Individualverfolgung durch den – an sich verfolgungsfähigen - neuen irakischen Staat ist aber auszuschließen. Saddam Hussein ist durch die Militärmacht der Amerikaner und Engländer entmachtet worden. Die seinerzeit verfolgte und vom Kläger unterstützte kurdische Partei PUK wird nunmehr von Talabani geleitet, der selbst Staatspräsident des Irak ist.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die jetzige, demokratisch legitimierte Regierung des Irak setzt sich aus Gegnern Saddam Husseins zusammen. Insbesondere wurde der schiitische Ministerpräsident Al-Maliki unter Saddam Hussein zum Tode verurteilt; der Ölminister Al-Schahristani war unter Saddam Hussein inhaftiert und gefoltert worden, weil er sich weigerte, an der Entwicklung einer Atombombe und damit der militärischen Macht Saddam Husseins mitzuarbeiten.

Süddeutsche Zeitung vom 22.5.2006.

Ein nachträglicher Schutz einzelner Daten der Militärmacht Saddam Husseins nach dem Stand von 1995 durch die Strafgerichte des neuen irakischen Staats oder durch andere staatliche Maßnahmen liegt außerhalb jeder realen Möglichkeit. Im Visier der Regierungsmaßnahmen ist der sunnitisch-arabische Widerstand. Dazu gehört der Kläger eindeutig nicht, was keiner näheren Darlegung bedarf.

Weiterhin fürchtet der Kläger wegen der damaligen Weitergabe der Daten der Militärfahrzeuge eine Individualverfolgung durch nichtstaatliche Akteure (§ 60 I 4 c AufenthG), und zwar durch das sunnitische Terrorpotenzial, das den neuen irakischen Staat bekämpft. Der Kläger befürchtet einen individuellen Racheakt.

Eine solche Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu prüfen, wenn der Staat beziehungsweise gebietsmächtige Organisationen einschließlich internationaler Organisationen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 -.

Nach der zutreffenden Einschätzung von UNHCR sind die Koalitionstruppen und die irakischen Sicherheitskräfte, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, nicht im Stande, die Sicherheit vor Attentaten zu gewährleisten.

UNHCR, Hinweise von April 2005; Position von September 2005; ebenso UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Mithin ist die Gefahr eines individuellen Attentats auf den Kläger zu prüfen.

In der irakischen Wirklichkeit kommen individuelle Racheakte vor. Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich insbesondere, dass Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der Regierung zusammenarbeiten, mit Racheakten des bewaffneten sunnitischen Widerstands rechnen müssen.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und schon vom 24.11.2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005 sowie vom 9.6.2004: frühere exponierte Parteimitglieder und Angehörige des früheren Regimes, die die Seite gewechselt haben; keine Berichterstattung über solche Fälle in amnesty international, Jahresbericht 2006.

So hat sich das Deutsche Orient-Institut insbesondere mit dem Fall eines Arztes befasst, der nach dem Ende des Saddam-Regimes einen Lagerwechsel vornahm, politisch gegen das ehemalige Regime arbeitete und dafür von dem sunnitischen Widerstand gezielt ermordet wurde; hier hat das Deutsche Orient-Institut eine individuelle Gefahr auch für den Bruder des ermordeten Arztes bejaht.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006.

Insofern werden Seitenwechsler als Verräter und Kollaborateure im Einzelfall von dem sunnitischen Widerstand durch Racheakte bestraft.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006.

Zu diesen Personen gehört der Kläger aber nicht, der als bereits ursprünglicher Gegner Saddam Husseins und Anhänger der kurdischen Sache zu keinem Zeitpunkt die Seite gewechselt hat. Vielmehr hat er nach seiner Erstanhörung vom 13.12.1995 die Zusammenarbeit mit der Baath-Partei von Saddam Hussein abgelehnt.

Im Einzelfall kommen auch Racheakte von ehemaligen Anti-Saddamisten an Saddamisten vor, wenn es auch im Irak keine „Nacht der langen Messer“ gegeben hat.

Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 3.4.2006.

Auch davon ist der Kläger nicht betroffen, da er kein Saddamist war.

Im Übrigen kommen auch individuelle Racheakte im Verhältnis von Schiiten und Sunniten vor, die sich gegenseitig die begangenen Morde vorrechnen; diejenigen, die sich für ihre Racheakte Opfer suchen, tun dies auf ganz direkte Weise und aus ganz direkten Gründen.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006.

Bezogen auf die Vergangenheit kommt es in Einzelfällen zu individuellen Racheakten aus dem ganz direkten Grund, dass jemand persönlich Blut an seinen Händen hat.

So das Deutsche Orient-Institut in seinen Gutachten vom 14.6.2005 und vom 31.3.2005.

Auch eine solche Individualgefahr von Racheakten betrifft den Kläger nicht, der bereits nach seinem ursprünglichen Vortrag bei seiner Erstanhörung in Deutschland vom 13.12.1995 bis einschließlich der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nichts über eine Verwicklung in eine Bluttat vorgetragen hat.

Indirekte Gründe begründen dagegen nicht die realistische Gefahr eines Racheaktes. Insbesondere haben selbst die früheren Kämpfe gegen die Kurden heute nicht mehr das Gewicht, das für einen Racheakt einer der beiden Seiten erforderlich wäre.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.6.2005, mit Ausnahme der persönlichen Verantwortlichkeit für ein Massaker, die hier aber ersichtlich nicht vorliegt.

Ist aber bereits die direkte Beteiligung an früheren Kämpfen zwischen Kurden und Arabern heute nicht mehr unter dem Gesichtspunkt von gegenseitigen individuellen Racheakten von Gewicht, gilt dies erst recht für die bloß indirekte Beteiligung an den Kämpfen durch Übermittlung von Fahrzeugdaten der Militärfahrzeuge Saddam Husseins nach dem Stand von 1995. Die damaligen Übermittlungen des Klägers von Fahrzeugdaten an die Kurden fanden acht Jahre vor dem entscheidenden Irak-Krieg von 2003 statt, durch den Saddam Hussein die Macht verloren hat. Zu diesem entscheidenden Irak-Krieg hat der Kläger, der in Deutschland war, nichts beigetragen. Die militärischen Einzelheiten von Armeefahrzeugen Saddam Husseins nach dem seinerzeitigen Stand von 1995 haben keine Bedeutung für den jetzigen sunnitischen Widerstand, der den aktuellen Staat aus dem Untergrund mit Autobomben und Selbstmordattentaten – und nicht etwa mit Panzern und Armeefahrzeugen - bekämpft. Deshalb ist der Kläger bei realistischer Betrachtung nicht in Gefahr, wegen seiner indirekten Unterstützung der kurdischen Sache im Jahr 1995 persönliche Zielscheibe eines Attentats des sunnitischen Widerstands zu werden.

Nach allem ist der Kläger hinreichend sicher vor einer Individualverfolgung wegen seiner vorgetragenen früheren indirekten Unterstützung der kurdischen Sache.

Auf den Streit der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung, ob der durchaus plausible ursprüngliche Verfolgungsvortrag des Klägers zutrifft, kommt es daher nicht an.

Sonstige Gesichtspunkte für eine Individualverfolgung des Klägers sind weder ersichtlich noch vorgetragen.

Zu prüfen ist sodann die in der mündlichen Verhandlung erörterte mögliche Gruppenverfolgung des Klägers als Mitglied der kurdisch-sunnitischen Volksgruppe durch Terrorkräfte als private Akteure. Bei der ethnisch-religiösen Gruppenverfolgung durch Private handelt es sich um eine gänzlich anders geartete Verfolgung als bisher behandelt ohne jeden Zusammenhang mit der Vorverfolgung durch Saddam Hussein, und deshalb ist im Rahmen der Widerrufsreglung nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – BVerwG 1 C 15.05 -.

Ein Ereignis ist dann beachtlich wahrscheinlich, wenn die für den Eintritt sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen.

BVerwG, Urteil vom 14.12.1993 – 9 C 45.92 -.

Ausgehend von diesem Maßstab droht dem Kläger als Mitglied der kurdischen Volksgruppe landesweit keine Gruppenverfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Als tatsächlicher Grund für eine solche Verfolgung sind die Terroranschläge im Irak zu prüfen.

Das größte Risiko für alle Menschen im Irak ist die instabile, manchmal eskalierende Sicherheitslage durch die Terroranschläge aus dem Untergrund, die an der Tagesordnung sind.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005 und Jahresbericht 2006; zur landesweit anhaltenden Gewalt auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Im Irak gibt es täglich landesweit mehr als hundert Anschläge aus dem Untergrund.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -, S. 15; zu den Anschlagsarten SFH, Position vom 9.6.2004.

Das entspricht einem Untergrundkrieg, wie auch in der mündlichen Verhandlung erörtert wurde.

Insgesamt hat die Sicherheitslage im Irak einen Tiefpunkt erreicht.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Sicherheitslage ist nicht nur in Bagdad prekär, sondern auch in den anderen großen Städten des Zentral- und Südirak sehr angespannt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Nach der zutreffenden Einschätzung von UNHCR sind die Koalitionstruppen und die irakischen Sicherheitskräfte, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, nicht imstande, die Sicherheit der irakischen Bevölkerung vor Attentaten und Sprengstoffanschlägen zu garantieren.

UNHCR, Hinweise von April 2005, UNHCR, Position von September 2005; UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Die darzulegenden Gefahren sollen hier im Rahmen des rechtlichen Ansatzes des Senats nach dem Maßstab der landesweiten Gruppenverfolgung dahingehend betrachtet werden, ob sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung zu Lasten des Klägers, der ein sunnitischer Kurde ist, begründen lässt; danach ist auf eine Fluchtalternative einzugehen.

Die den Untergrundkrieg führende bewaffnete Opposition im Irak setzt sich aus verschiedenen Gruppierungen zusammen mit einem harten Kern von ungefähr 12.000 bis 40.000 Mitgliedern, die teils einen islamistischen Hintergrund, teils einen arabisch-nationalistischen Hintergrund haben.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, wonach sich bei 20.000 Militanten eine klar Trennlinie zwischen baathistischen und islamistischen Rebellen nicht ziehen lässt.

Zwischenzeitlich besteht der bewaffnete Widerstand im Untergrund ganz überwiegend aus sunnitischen Arabern.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands, unter Hinweis darauf, dass etliche prominente und vor allem ausländische Mitglieder der Al-Qaida inzwischen durch den beträchtlichen Druck der amerikanischen Besatzungstruppen entweder festgenommen worden sind oder bereits im Kampf gefallen sind.

Der Hauptzweck des bewaffneten Widerstandes wird in dem Erkenntnismaterial praktisch einhellig darin gesehen, den Wiederaufbau des Landes zu verhindern oder wenigstens nachhaltig zu stören.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien vom 4.2.2006; Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands; sinngemäß auch UNHCR, Hinweise von April 2005, dort in personalisierter Form des Ziels mit Blick auf die Personen des Wiederaufbaus.

Für den bewaffneten irakischen Widerstand stellt die schiitisch dominierte irakische Regierung derzeit den Hauptgegner dar, irakische Truppeneinheiten sind ein bevorzugtes Angriffsziel.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Es gibt derzeit landesweit etwa 240.000 irakische Soldaten und Polizisten.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Im Erkenntnismaterial besteht im Wesentlichen Übereinstimmung, dass zu dem Hauptziel der Anschläge die irakische Regierung und die irakischen Sicherheitskräfte gehören.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, zu den irakischen Sicherheitskräften; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 6.9.2005, zu den irakischen Sicherheitskräften; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, zu den Regierungsmitgliedern; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 9.6.2004, zu den neuen irakischen Sicherheitskräften; UNHCR, Hinweise von April 2005, zu den Mitarbeitern der irakischen Regierung und zu Polizisten; amnesty international, Jahresbericht 2006.

Diese Personen sind als Zielscheibe des Terrors einem erhöhten Risiko ausgesetzt, durch Bombenanschläge in dem Untergrundkampf umzukommen. Nach der Einschätzung von amnesty international sind alle Personen, die bei den multinationalen Streitkräften oder bei der irakischen Polizei angestellt sind, in Gefahr, gezielt bei der Arbeit oder in ihrer Freizeit als Kollaborateur ermordet zu werden.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; amnesty international, Jahresbericht 2006.

Der Kläger gehört eindeutig nicht zu diesem erhöht gefährdeten Personenkreis.

Entsprechend dem dargelegten Ziel des bewaffneten Widerstandes, den Wiederaufbau im Irak zu verhindern, gehören zu den engeren Anschlagszielen über Regierung und Sicherheitskräfte hinaus die öffentlichen Personen des Wiederaufbaus.

Zu den exponierten Personen gehören nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe Personen der Öffentlichkeit wie Intellektuelle, Ärzte, Anwälte, Richter, Menschenrechtsaktivisten, führende Persönlichkeiten irakischer Parteien, religiöse Würdenträger, Medienschaffende und irakische Unternehmer.

Vgl. die insgesamt sehr umfangreiche Auflistung erhöht gefährdeter Personen des Wiederaufbaus in den Berichten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9.6.2004 und vom 15.6.2005.

Damit vergleichbar sind nach der Einschätzung von UNHCR insbesondere Personen gefährdet, die sich um den Wiederaufbau im Irak bemühen, wie über Regierungsmitglieder und Polizisten hinaus Richter, Rechtsanwälte, Intellektuelle, Ärzte und Journalisten.

UNHCR, Hinweise von April 2005 und Positionspapier von Oktober 2004.

Anschlagsziele sind nach der vergleichbaren Darlegung von amnesty international auch Angestellte des öffentlichen Dienstes, Regierungsbeamte, Richter und Journalisten.

amnesty international, Jahresbericht 2006.

Auch nach der Würdigung des Auswärtigen Amtes richten sich die Anschläge zunächst vor allem gegen Personen, die mit dem politischen oder wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes verbunden werden.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, in der Zusammenfassung; im Einzelnen werden insbesondere Anschläge auf Politiker, Journalisten und Professoren sowie Ärzte dargestellt.

Der Senat legt für seine Rechtsprechung die im Wesentlichen übereinstimmende Einschätzung des Auswärtigen Amtes, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von UNHCR zugrunde, dass die Anschläge insbesondere auch öffentlichen Personen des Wiederaufbaus im Irak gelten.

Zur terminologischen Klarstellung sei noch darauf hingewiesen, dass teilweise die Personen, die lediglich gegenwärtig am Wiederaufbau teilnehmen, schon deshalb ohne weiteren Vergangenheitsbezug als Kollaborateure angesehen werden (im Gegensatz zu den bereits dargestellten Seitenwechslern). So sind nach der Einstufung von amnesty international alle Personen, die derzeit bei den multinationalen Streitkräften oder bei der irakischen Polizei angestellt sind, in Gefahr, gezielt als Kollaborateur ermordet zu werden.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; für Angestellte der multinationalen Streitkräfte nochmals amnesty international, Jahresbericht 2006.

In diesem weiten Sinn gebraucht auch der vom Kläger herangezogene Widerrufsbescheid vom 19.10.2004, S. 8 (Widerrufsakte Bl. 25) den Begriff Kollaborateur, wonach die anhaltenden Anschläge im Irak in aller Regel zielorientiert den multinationalen Truppen gelten, den irakischen Polizeistationen sowie der Kollaboration verdächtigten Repräsentanten irakischer Institutionen sowie ausländischen Zivileinrichtungen.

Dieser weit gefasste Begriff der Kollaboration knüpft allein an die gegenwärtige Wiederaufbaubeteiligung an.

Ähnlich Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006, wonach kooperations- und beteiligungswillige arabische Sunniten von den gewalttätigen Kräften als Kollaborateure angesehen werden.

Nach allem ist der Senat mit Blick auf die übereinstimmende Würdigung des Auswärtigen Amts, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von UNHCR der Auffassung, dass engere Anschlagsziele über Regierung und Sicherheitskräfte hinaus die öffentlichen Personen des Wiederaufbaus mit einer daraus folgenden erhöhten Gefährdung sind.

Zu dieser Personengruppe gehört der Kläger nicht. Er ist bezogen auf den gegenwärtigen Wiederaufbau des Irak schon wegen seiner über zehnjährigen Abwesenheit seit 1995 keine öffentliche Person des Wiederaufbaus. Mithin kann realistischerweise ausgeschlossen werden, dass der Kläger nach einer Rückkehr in den Irak als öffentliche Person des Wiederaufbaus und in diesem Sinn als Kollaborateur zu den engeren Anschlagszielen des bewaffneten irakischen Widerstands gehört.

Da der sunnitische Widerstand vor allem die schiitisch dominierte Regierung als Hauptgegner ansieht, gerät die schiitische Volksgruppe insgesamt in das Blickfeld des Widerstands und kommt es im Sinne von weiter gestreuten Zielen auch zu Selbstmordattentaten insbesondere in schiitischen Vierteln Bagdads, die überwiegend der schiitischen Volksgruppe gelten.

Vgl. zu einem solchen Attentat mit 140 getöteten Zivilpersonen amnesty international, Jahresbericht 2006, S. 209; zur internen Diskussion von Anschlägen auf Schiiten vgl. Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstandes.

Auf die Bedrohung der schiitischen Volksgruppe ist noch einzugehen.

Solche Anschläge bedeuten aber zugleich eine Gefahr für alle Zivilpersonen, die sich – auch als Nichtschiiten wie der Kläger – zufällig in einem solchen schiitischen Stadtviertel aufhalten.

Im Falle einer Rückkehr in den Irak ist der Kläger auch als Kurde der landesweiten Gefahr von Terroranschlägen letztlich ebenso ausgesetzt wie die Zivilbevölkerung des Irak, und zwar ohne hinreichenden Schutz der Sicherheitskräfte. Als allgemeine Gefahr für die gesamte Zivilbevölkerung wird die Anschlagswelle auch im Erkenntnismaterial gesehen.

Das Auswärtige Amt würdigt die Anschläge ausdrücklich als enorme allgemeine Bedrohung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Das Deutsche Orient-Institut sieht dies ebenso. Die zahlreichen Anschläge gelten danach insbesondere Institutionen der irakischen Sicherheitskräfte, von ihnen sind aber alle Irakerinnen und Iraker bedroht; die Terroristen nehmen den Tod völlig Unbeteiligter massenhaft in Kauf.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 6.9.2005.

Nach der Feststellung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe werden Zivilisten oft Opfer, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 9.6.2004.

Nach der Würdigung des Auswärtigen Amtes trägt die weitgehend ungeschützte Zivilbevölkerung den Großteil der Opferlast.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Passanten werden regelmäßig Opfer von Gewalt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Nach Darlegung von amnesty international kommen Zivilpersonen ums Leben bei Autobomben oder Anschlägen von Selbstmordattentätern, die an sich der irakischen Polizei, Regierungstruppen, Militärkonvois und Stützpunkten der multinationalen Truppen gelten.

amnesty international, Jahresbericht 2006.

Bei den Sprengstoffanschlägen werden nach Darlegung von UNHCR unbeteiligte zivile Opfer von den Akteuren bewusst in Kauf genommen.

UNHCR, Hinweise von April 2005.

Ein Minimum an Schutz der Zivilbevölkerung vor den Bombenanschlägen besteht nicht.

UNHCR, Position von September 2005.

Der Senat geht sodann auf die landesweite Anschlagsdichte ein.

Entsprechend der Betrachtungsweise, dass die Zivilbevölkerung insgesamt Opfer der Terroranschläge ist, enthält das Erkenntnismaterial summierte Zahlen über die zivilen Opfer für den gesamten Irak.

Die Anschlagsopfer unter den Sicherheitskräften einerseits und unter der Zivilbevölkerung andererseits werden im Erkenntnismaterial verglichen. Besonders hohe Verluste haben die irakischen Sicherheitskräfte mit – allein 2005 – 4300 getöteten Polizisten und Soldaten.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Amnesty international hat sowohl die Opfer unter den amerikanischen Soldaten als auch unter der Zivilbevölkerung landesweit konkret dargelegt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Danach wurden durch die Anschläge 1.572 US-Soldaten getötet und 12.174 verletzt. Bei den Anschlägen kamen 2.300 Zivilisten ums Leben und die Anzahl der zivilen Opfer insgesamt wird zwischen 21.239 und 24.106 eingeschätzt. Das Auswärtige Amt gibt eine – pauschale - höhere Zahl von Opfern unter den Zivilisten zwischen 30.000 und 100.000 wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Bezogen auf die Zivilbevölkerung des Irak ist zunächst mit Blick auf das Gewicht der Verfolgungshandlungen von dem schwersten asylerheblichen Eingriff der Anschläge mit Todesfolge auszugehen und die Anschlagsdichte festzustellen.

Die – jährlich wachsende - Bevölkerung des Irak beträgt rund 27 Millionen Menschen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die mehrjährigen Todesopfer unter der Zivilbevölkerung durch Massenanschläge gibt amnesty international mit über 2.300 Menschen an.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort S. 10.

Die Anschlagsdichte der tödlichen Anschläge beträgt mithin für die gesamte Zivilbevölkerung des Irak im Durchschnitt 1:12.000.

Nach dem schwerstmöglichen Eingriff der Tötung ist auf die Verletzungsgefahr durch Massenanschläge abzustellen. Dafür liegen sowohl konkrete Zahlen als auch pauschale Abschätzungen vor. Nach den konkreten Zahlen von amnesty international wurden landesweit zwischen 21.239 und 24.106 zivile Opfer durch Anschläge geschätzt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, S. 10.

Auszugehen ist von der Maximalzahl von 24.106 Opfern. Bezogen auf die Verletzungsgefahr ist damit die Anschlagsdichte auf der Grundlage der Zahlen von amnesty international 1:1100.

Eine nochmals viermal höhere pauschale Schätzung für die zivilen Opfer gibt das Auswärtige Amt mit 30.000 bis 100.000 Opfern wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, dort S. 15.

Nach den derzeitigen Zahlen wurden jeden Monat 3.000 Iraker verletzt oder getötet.

Süddeutsche Zeitung vom 4.9.2006, S. 1, unter Wiedergabe einer Analyse des amerikanischen Verteidigungsministeriums.

Das entspricht auf das Jahr bezogen rund 36.000 Anschlagsopfern.

Geht man von der noch höheren Schätzung des Auswärtigen Amtes von 100.000 Anschlagsopfern aus, ergibt sich als Höchstabschätzung eine landesweite Anschlagsdichte von 1:270.

Zahlen liegen auch für Bagdad vor, die einen Vergleich von Tötungsrate und Entführungsrate ermöglichen. So beträgt nach den Zahlen von amnesty international speziell die Tötungsrate in Bagdad, hier aber einschließlich der Kriminalität, 90 von 100.000 Einwohnern.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort S. 10; zu einer Gewalteskalation in Bagdad mit 1091 Tötungen im April 2006 vgl. Süddeutsche Zeitung von 11.5.2006, S. 7.

Auf dieser Grundlage besteht die Gefahr, in Bagdad durch Anschläge oder anschlagsunabhängig durch Kriminelle getötet zu werden, rund 1:1.100.

Ähnlich groß ist in Bagdad die Entführungsgefahr. Ausgehend von täglich 10 bis 15 meist kriminellen Entführungsfällen

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/005.OVG -, S. 15

ergeben sich bei täglich 15 Fällen im Jahr rund 5500 Entführungen und damit bezogen auf die 5-Millionen-Stadt eine Entführungsrate von rund 1:900.

Die Entführungsrate ist also der Tötungsrate vergleichbar.

Die dargelegten Zahlen belegen die äußerst problematische und manchmal eskalierende Sicherheitslage im Irak und die Gefahr der Zivilbevölkerung, durch einen Anschlag verletzt oder getötet oder entführt zu werden. Ein vollständiges Ausweichen vor den Anschlägen ist der Zivilbevölkerung des Irak landesweit nicht möglich, auch wenn im kurdisch verwalteten Nordirak die Anschlagsdichte insgesamt geringer ist.

Vgl. zu Letzterem übereinstimmend Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006 sowie Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, wonach die Sicherheitslage im Nordirak mit Ausnahme von wenigen Anschlägen stabil ist, und UNHCR, Position von September 2005, wonach deutlich weniger Gewalttaten verübt werden.

Mithin liegt eine allgemeine Gefahr für die Zivilbevölkerung vor, der sie landesweit nicht vollständig ausweichen kann. Es ist verständlich, dass der Kläger in ein solches Land nicht zurückkehren möchte, in dem er sich nach seinem persönlichen Vorbringen in der mündlichen Verhandlung überdies als Ausländer fühlt.

Für den Widerruf entscheidend ist aber nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts allein das Vorliegen einer Verfolgungsgefahr, nicht einer allgemeinen Gefahr. Deshalb muss der Senat prüfen, ob sich die Gefahr zugunsten des Klägers rechtlich als Gruppenverfolgungsgefahr würdigen lässt.

Als Gruppenverfolgung kommt hier die private Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure, insbesondere den sunnitischen Untergrund, in Betracht.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner neuen Rechtsprechung klargestellt, dass für die private Gruppenverfolgung grundsätzlich die gleichen Anforderungen wie für eine staatliche Gruppenverfolgung gelten.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Diesem Maßstab schließt sich der Senat an.

Der Senat prüft im Folgenden als generelle Verfolgungsmuster im Irak nacheinander eine Gruppenverfolgung der Zivilbevölkerung und dann der großen Volksgruppen.

Die allgemeine Anschlagsgefahr kann zugunsten des Klägers nicht bereits als Gruppenverfolgung der Zivilbevölkerung des Irak insgesamt angesehen werden. Das ergibt sich sowohl aus dem erforderlichen Ausgrenzungsgesichtspunkt der Verfolgung als auch aus dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet die politische Verfolgung grundrechtlich eine Ausgrenzung durch intensive Rechtsverletzungen.

BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 231.

Die Zivilbevölkerung des Irak kann nicht im Ganzen aus dem irakischen Volk ausgegrenzt werden.

Das Europarecht führt mit Eindeutigkeit zu demselben Ergebnis. Nach Art. 10 I d der neuen als Auslegungshilfe heranziehbaren europäischen Qualifikationsrichtlinie muss eine verfolgte Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität haben und von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Dies scheidet bei der Zivilbevölkerung des Irak aus, denn für sie existiert keine sie umgebende Gesellschaft.

Weiterhin fehlt es selbst bei unterstellter Ausgrenzung an dem Merkmal der Verfolgungsdichte. Die Gruppenverfolgung bedeutet eine Regelvermutung der eigenen Verfolgung.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Eine Gruppenverfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voraus, dass jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muss; die eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen muss als eher zufällig anzusehen sein.

Zu diesen Merkmalen BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216-231 und 232.

Bei der Verfolgungsdichte ist sodann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwischen großen und kleinen Gruppen zu unterscheiden, da eine bestimmte absolute Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe als bedrohlich erweist, eine große Gruppe nicht im Ganzen bedroht.

BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158/94 -, zitiert nach Juris.

Als große Gruppe hat das Bundesverwaltungsgericht insbesondere eine Gruppe von knapp 2 Millionen Kosovo-Albanern sowie eine Gruppe von 4 Millionen Kurden in bestimmten Gebieten der Türkei angesehen, als kleine Gruppe insbesondere eine Gruppe syrisch-orthodoxer Christen in der Türkei von etwa 1.300 Personen.

Zu den großen Gruppen BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158/94 -; Urteil vom 30.4.1996 - 9 C 170/95 -; zu der kleinen Gruppe Beschluss vom 22.5.1996 - 9 B 136/96 -.

Bei der Zivilbevölkerung des Irak von 27 Millionen Menschen läge im Sinne der Rechtsprechung zur Verfolgungsdichte eine große Gruppe vor. Einen Anhaltspunkt für die erforderliche Verfolgungsdichte ergibt sich aus der dargelegten Verfassungsrechtsprechung, wonach die eigene bisherige Verschonung eher zufällig sein muss. Dies erfordert zwar nicht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit von Eingriffen, da auch eine qualitative Betrachtung erforderlich ist. Bezogen auf eine große Gruppe hat das Bundesverwaltungsgericht eine Verfolgungsdichte von etwa einem Drittel als im Ansatz ausreichend angesehen, die aber auf entsprechender Tatsachengrundlage belegt werden muss.

BVerwG, Urteil vom 30.4.1996 - 9 C 170/95 -, wonach der Ansatz des Berufungsgerichts von 1,5 Millionen Eingriffen gegenüber 4 Millionen Kurden mit Blick auf die erforderliche Verfolgungsdichte nicht beanstandet wird, wohl aber mit Blick auf die Belegung durch Tatsachenfeststellungen.

Die genaue Grenzziehung kann offen bleiben. Im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird die notwendige Verfolgungsdichte bei einer großen Gruppe allenfalls noch bei einer Verfolgungsdichte von 1:10 erreicht; dann könnte noch von einer Regelvermutung der eigenen Verfolgung gesprochen werden. Positiv gewendet überleben bei dieser Verfolgungsdichte 90 % der Mitglieder der großen Volksgruppe die Anschläge unverletzt. In diesem Fall kann es im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr als Zufall angesehen werden, dass ein einzelnes Mitglied der Volksgruppe unverletzt überlebt.

Die dargelegte Anschlagsdichte für die Zivilbevölkerung nach den konkreten Zahlen von amnesty international für Verletzungsopfer von 1:1100 und selbst nach den höheren pauschalen Zahlen des Auswärtigen Amtes von 1:270 wahrt einen sicheren Abstand von der kritischen Verfolgungsdichte von 1:10. Bei der festgestellten landesweiten Anschlagsdichte im Irak kann es ungeachtet der Furchtbarkeit der Einzelschicksale nicht mehr als bloßer Zufall angesehen werden, dass ein Gruppenmitglied bisher selbst von einem Anschlag verschont worden ist und im Irak unverletzt überlebt. Vielmehr ist es ein Zufall, selbst von einem Anschlag getroffen zu werden. Die Tötungs- und Entführungsgefahr ist wie dargelegt geringer als die Verletzungsgefahr. Bei einer qualitativen Wertung kann ausgeschlossen werden, dass entsprechend den Verfolgungsvoraussetzungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die gesamte Zivilbevölkerung des Irak gezwungen wäre, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage ihr Land zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen.

Zu dieser Voraussetzung BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 230.

Ungeachtet der landesweit ungewöhnlich hohen Anschlagszahlen im Irak und der problematischen Sicherheitslage besteht nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jedes Mitglied der Zivilbevölkerung allenfalls noch zufällig ohne Entführung und unverletzt überleben kann, in eine ausweglose Lage gebracht wird und das Land verlassen muss.

Bei der Frage der Gruppenverfolgung ist nach der Zivilbevölkerung als größtmöglicher Gruppe auch die Aufgliederung des Irak in große Bevölkerungsgruppen als generelles Verfolgungsmuster in den Blick zu nehmen.

Die größte Bevölkerungsgruppe bilden die arabischen Schiitinnen und Schiiten, die rund 60 % bis 65 % der Bevölkerung ausmachen und vor allem im Südosten und Süden des Landes wohnen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe sind die arabischen Sunnitinnen und Sunniten mit etwa 17 bis 22 % der Bevölkerung und damit rund 5 Millionen, die ihren Schwerpunkt im Zentralirak und Westirak haben.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die vor allem im Norden des Landes lebenden überwiegend ebenfalls sunnitischen Kurdinnen und Kurden machen mit 15 bis 20 % der Bevölkerung rund 5 Millionen aus.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

In Bagdad leben unterschiedliche Bevölkerungsgruppen teilweise in eigenen Vierteln.

Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; amnesty international, Jahresbericht 2006 für schiitische Viertel.

Engeres Ziel der Anschläge des irakischen Widerstandes sind die irakischen Sicherheitskräfte, d.h. die irakischen Truppeneinheiten und die neue irakische Polizei. Der Truppen- und Polizeieinsatz der irakischen Sicherheitskräfte erfolgt landesweit. Da diese Sicherheitskräfte Zielscheibe des Terrors sind, erfolgen die Anschläge nach dem Erkenntnismaterial landesweit und sind nicht etwa auf den Zentralirak begrenzt.

Zu den landesweiten Anschlägen eingehend Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005, ebenfalls zu den landesweiten Anschlägen amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, zur Gefahr für jeden Iraker Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Auch im Nordirak erfolgen Anschläge etwa auf Polizeirekruten.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Ungeachtet der Binnenströme der Bevölkerung jeweils zu ihren eigenen Hochburgen

vgl. zu Binnenvertreibungen aus den Hochburgen anderer Bevölkerungsgruppen außerhalb Bagdads insbesondere Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; zu Binnenvertreibungen von 35.000 Menschen aufgrund des Anschlags auf die schiitische Moschee von Samarra Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

treffen bei einer Gesamtbetrachtung die landesweiten Bombenanschläge im Irak neben dem eigentlichen Ziel der irakischen Sicherheitskräfte auch immer die Zivilbevölkerung jedes Geschlechts und Alters in ihrer jeweiligen Volksgruppenprägung. Die Terroristen nehmen den Tod völlig unpolitisch-unbeteiligter Irakerinnen und Iraker massenhaft in Kauf, und Zivilpersonen werden oft Opfer, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind.

Amnesty international, Jahresbericht 2006; Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005 und Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004, UNHCR, Hinweise von April 2005.

Die Zivilbevölkerung trägt den Großteil der Opferlast der Anschläge.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Dieser Zusammenhang von Operationen gegen die irakischen Polizei- und Militärkräfte und gegen die Zivilbevölkerung ist auch dem bewaffneten irakischen Widerstand bewusst und führt dort zu Differenzen.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Solange der Tod der unpolitisch-unbeteiligten Zivilbevölkerung massenhaft in Kauf genommen wird, ist jede Irakerin und jeder Iraker, ungeachtet der Religionszugehörigkeit, von diesen Anschlägen bedroht.

So überzeugend Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Nach der demografischen Zusammensetzung des Irak sind rund 60 % der Bevölkerung Frauen – also etwa 17 Millionen – und 50 % der Bevölkerung – also etwa 13,5 Millionen – sind unter 18 Jahren alt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die gewaltsamen Anschläge können gleichsam blind jeden treffen.

OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -.

Auch Kinder sind Opfer der Bombenanschläge.

Amnesty international, Jahresbericht 2006.

Bei dieser Sachlage fehlt es aber bei den Anschlägen an einer Ausgrenzung jedenfalls der großen Volksgruppen mit Ausnahme allenfalls der schiitischen Volksgruppe. Nach der Verfassungsrechtsprechung knüpft die Gruppenverfolgung an kollektive Merkmale einer Gruppe an.

BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 231.

Die dargelegten Terroranschläge, die eigentlich auf die Sicherheitskräfte und auf öffentliche Personen des Wiederaufbaus zielen, treffen wegen des Terrormittels der Bombenexplosionen je nach dem Wohnviertel immer auch die jeweilige unbeteiligte Zivilbevölkerung, in einem schiitischen Wohnviertel mithin vor allem Schiiten. Der Kampf des sunnitischen Widerstandes gegen die schiitisch dominierte Regierung kann allerdings auch die große schiitische Volksgruppe in den Blick nehmen und im Weiteren etwa auch schiitische Stadtviertel Bagdads einschließen.

Zur Vorgehensweise amnesty international, Jahresbericht 2006; zu den Widerstandszielen einschließlich der kontrovers diskutierten Anschläge auf Schiiten Le Monde diplomatique vom 12.5.2006.

Bei solchen Selbstmordanschlägen und Autobomben wird aber zugleich die unbeteiligte Zivilbevölkerung auch von Sunniten und Kurden mit betroffen.

Allenfalls bei Anschlägen in Form gezielter Erschießungen nach Kontrolle der Volkszugehörigkeit an Hand der Ausweise kann es vorkommen, dass bei demselben Attentat nach dem Gruppenmerkmal Schiiten getötet und Sunniten verschont werden.

Vgl. den in der NZZ vom 6.6.2006, S. 1, geschilderten Busüberfall mit der Erschießung von 24 Schiiten und der Verschonung von Sunniten; der Jahresbericht 2006 von amnesty international enthält nur einen allgemeinen, nicht konkretisierten Hinweis auf Anschläge wegen Zugehörigkeit zu religiösen oder ethnischen Gruppen.

Über derart gezielte Anschläge speziell nach dem Gruppenmerkmal der kurdischen Volkszugehörigkeit wird nicht berichtet. Vielmehr kann insofern nur auf arabisch-kurdische Spannungen in den – nicht unter kurdischer Verwaltung stehenden – multiethnischen Städten Mosul und Kirkuk hingewiesen werden, die sich insbesondere in Autobombenanschlägen zu Lasten der Zivilbevölkerung entladen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, wonach es in Kirkuk 2005 zu über 70 Autobombenanschlägen gekommen ist.

Davon abgesehen steht die kurdische Volksgruppe landesweit nicht derart im Blickfeld des sunnitischen Widerstands wie die schiitische Volksgruppe.

Die unmenschliche Anschlagswirklichkeit im Untergrundkampf wird durch die landesweiten Bombenanschläge insbesondere in Form von Selbstmordattentaten und Autobomben geprägt, die die Zivilbevölkerung insgesamt blind treffen. So wird die Wirkung der Anschläge ersichtlich auch im Erkenntnismaterial gesehen. Das Auswärtige Amt gliedert seine pauschale Schätzung der Opfer nicht nach Volksgruppen auf.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, und methodisch ebenso Lagebericht vom 24.11.2005.

Das Auswärtige Amt hält Passanten für regelmäßige Opfer der Gewalt und sieht den Großteil der Opferlast bei der Zivilbevölkerung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Organisation amnesty international gibt bei den Anschlägen die landesweite Zahl der zivilen Opfer wieder, gibt sie konkret mit 21.239 bis 24.106 an und gliedert sie ebenfalls nicht nach Bevölkerungsgruppen auf.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Das Auswärtige Amt berichtet über den Anschlag auf die schiitische Moschee in Samarra am 22.2.2006 und über Gegenanschläge auf sunnitische Moscheen und gibt die Opfer dieser konfessionell motivierten gegenseitigen Gewalt mit über 1000 Menschen an, gliedert sie aber nicht nach Schiiten und Sunniten auf.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Bezogen auf Volksgruppen als Anschlagsopfer referiert amnesty international einen konkreten Bombenanschlag auf vorwiegend Schiiten mit 114 getöteten Zivilpersonen, bezieht aber die landesweit aufsummierten Opferzahlen allein auf Zivilpersonen ohne Aufspaltung auf die Volksgruppen.

Vgl. zum Ersteren amnesty international, Jahresbericht 2006; zum Letzteren allgemeine Zahlen im Gutachten vom 16.8.2005.

Das Deutsche Orient-Institut hält wie dargelegt jede Irakerin und jeden Iraker ungeachtet seiner Religionszugehörigkeit durch die Anschläge der Terroristen für bedroht. Die Anschläge sind also weder auf den Zentralirak noch auf bestimmte Gruppen begrenzt.

Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe sieht den Zusammenhang, dass irakische Zivilisten oft Opfer sind, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind; Zivilpersonen können bei Anschlägen nicht geschützt werden.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Übereinstimmend damit ist auch die Sichtweise von UNHCR, wonach im Irak tägliche Attentate und Sprengstoffanschläge vor allem gegen Polizisten und Polizeirekruten sowie Mitarbeiter der Regierung verübt werden und unbeteiligte zivile Opfer dabei von den Akteuren bewusst in Kauf genommen werden.

UNHCR, Hinweise von April 2005, zu Opfern unter Christen UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Nach den dargelegten Kriterien der Gruppenverfolgung in der Verfassungsrechtsprechung und den Ausgrenzungskriterien des Europarechts kann schwerlich angenommen werden, alle großen Volksgruppen – Schiiten, Sunniten und Kurden – und damit insgesamt fast alle der 27 Millionen Iraker würden von dem Untergrundkrieg aus der umgebenden verbleibenden Gesellschaft ausgegrenzt. Insbesondere spricht nichts für eine Ausgrenzung der Kurden, und zwar weder landesweit noch für den Zentralirak. Am ehesten könnte eine Ausgrenzung der größten schiitischen Volksgruppe von rund 17 Millionen Irakern durch den sunnitisch geprägten Widerstand angenommen werden. Das rechtlich erforderliche Ausgrenzungsmerkmal spricht aber letztlich gegen eine Ausgrenzung der großen Volksgruppen.

Andererseits kann nach der zu beachtenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine tatsächlich stattfindende Gruppenverfolgung nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, auch andere Bevölkerungsgruppen oder Minderheiten würden in ähnlicher Weise drangsaliert.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Deshalb unterstellt der Senat landesweit eine Ausgrenzung der großen Bevölkerungsgruppen und geht auf den Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte ein. Die Anschlagsopfer sind also nunmehr auf diese Bevölkerungsgruppen zu beziehen.

Die mehrjährigen Todesopfer unter der Bevölkerung des Iraks durch Massenanschläge betragen wie dargelegt nach den zugrunde zu legenden konkreten Zahlen von amnesty international über 2.300 Menschen, die Verletzten maximal 24.106 Menschen.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Sie sind der Wiedergabe pauschaler Schätzungen durch das Auswärtige Amt vorzuziehen, die im Übrigen nicht zu einem qualitativ anderen Ergebnis führen würden und keine ausweglose Lage der großen Volksgruppen begründen könnten. Zugrunde zu legen sind nunmehr die konkreten Zahlen von amnesty international. Danach geht der Senat von einer unterstellten Maximalabschätzung aus, bei der die aufsummierten konkreten Anschlagsopfer im Irak nur jeweils einer Volksgruppe als Opfer zugerechnet werden. In Relation gesetzt werden die gesamten Anschlagszahlen jetzt nicht zu der Gesamtbevölkerung des Irak von 27 Millionen, sondern nacheinander zu den größeren Bevölkerungsgruppen der arabischen Schiiten mit rund 17 Millionen, der arabischen Sunniten mit rund 5 Millionen und der Kurden mit rund 5 Millionen.

Zunächst ist auf die Schiiten einzugehen.

Da das Erkenntnismaterial die Opfer der schiitischen Volksgruppe nicht konkret summiert, geht der Senat bei diesem Schritt der unterstellten Maximalbetrachtung davon aus, dass alle Anschläge im Irak den Schiiten gelten. Bei der schiitischen Volksgruppe als unterstelltem alleinigem Anschlagsziel ergäbe sich dann eine Anschlagsdichte mit tödlichen Opfern von durchschnittlich 1:7400. Für die Entführungsgefahr ist wie dargelegt von einer vergleichbaren Größenordnung wie für Tötungen wie dargelegt von 1:7400 auszugehen. Sodann ergäbe sich mit Blick auf die Zahl der verletzten zivilen Opfer nach amnesty international von 24.106 Menschen eine höhere Anschlagsdichte mit Verletzten von 1:700 für die Schiiten.

Unterstellt man als nächsten Schritt, dass alle Anschläge im Irak den rund 5 Millionen Sunniten gelten, ergibt sich eine Anschlagsdichte bei den Todesopfern von rund 1:2000, ähnlich hoch für Entführungen und bei den Verletzungsopfern von rund 1:200. Die gleichen Zahlen ergeben sich landesweit für die hier betroffene Volksgruppe der Kurden.

Eine derart große Anschlagsdichte bezogen auf eine einzige große Volksgruppe – insbesondere die Kurden – wie in der Maximalabschätzung des Senats wird soweit ersichtlich nirgends im Erkenntnismaterial angenommen. Im Erkenntnismaterial wird auch nicht – wie vom Kläger vorgeschlagen – eine allein auf den Zentralirak bezogene Gruppenverfolgung von Kurden angenommen. Entscheidend ist, dass selbst bei dieser unterstellten Maximalabschätzung die landesweite Anschlagsdichte im Sinne einer Anschlagsverletzung von Kurden nach den Zahlen von amnesty international äußerstenfalls 1:200 beträgt. Tötungs- und Entführungsgefahr sind geringer. Positiv gewendet bleiben bei dieser Anschlagsdichte 99,5 % aller Menschen der kurdischen Volksgruppe unverletzt. Selbst nach den pauschalen Zahlen des Auswärtigen Amtes würde die äußerste Anschlagsdichte 1:50 betragen; positiv gewendet würden immerhin 98 % der kurdischen Volksgruppe die Anschläge unverletzt überleben. Eine Regelvermutung der eigenen Verfolgung kann nicht aufgestellt werden. Die Angehören der kurdischen Volksgruppe überleben landesweit betrachtet in keinem Fall nur durch Zufall unverletzt und werden nicht in eine ausweglose Lage gebracht, in der sie das Land verlassen müssen.

Dasselbe gilt für die sunnitische und erst recht die schiitische Volksgruppe.

Unabhängig von der dargelegten Maximalabschätzung ist für die hier maßgebende Volksgruppe der Kurden konkret festzustellen, dass die gewaltsamen Auseinandersetzungen vor allem die Volksgruppen der arabischen Sunniten und der arabischen Schiiten untereinander betreffen; an diesen Auseinandersetzungen sind die sunnitischen Kurden jedenfalls nicht unmittelbar beteiligt.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -; zur Auseinandersetzung (nur) zwischen Sunniten und Schiiten Le Monde diplomatique vom 12.5.2006; vgl. auch den Jahresbericht 2006 von amnesty international, der für den Nordirak nur einzelne Menschenrechtsverletzungen auflistet, aber keine Gruppenverfolgung einer Volksgruppe.

Auch das Auswärtige Amt legt das Schwergewicht auf die Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen und sunnitischen Konfessionen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Lediglich die Mäßigungsaufrufe der schiitischen und sunnitischen religiösen Führer haben bisher den Ausbruch eines offenen Bürgerkriegs zwischen diesen Konfessionen verhindern können.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Volksgruppe der Kurdinnen und Kurden ist mithin nicht Zielscheibe, sondern landesweit im Wesentlichen Zufallsopfer der Anschläge im Irak. Ausgehend davon ist die Anschlagsdichte für Kurden realistischerweise wesentlich geringer anzusetzen, als es der Maximalabschätzung des Senats mit 1:200 entspricht. Eine landesweite oder auf den Zentralirak bezogene Gruppenverfolgung der Kurden als großer Bevölkerungsgruppe von 5 Millionen Menschen wird im Erkenntnismaterial soweit ersichtlich nicht angenommen.

Nach dem dargelegten Ergebnis der Prüfung des Senats besteht für den Kläger als Gruppenmitglied der Kurden unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte landesweit keine Verfolgungsgefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Unabhängig von dieser landesweiten Betrachtung bejaht der Senat als selbstständige Entscheidungsgrundlage auch die Voraussetzungen einer Fluchtalternative des Klägers in den kurdisch verwalteten Nordirak, in dem seine Geburtsregion Sulaymania liegt.

Die Bejahung einer Fluchtalternative setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass die Zurückkehrenden am erreichbaren Ort der Fluchtalternative nach dem herabgestuften Prognosemaßstab hinreichend sicher vor politischer Verfolgung leben können und dass ihnen dort nach dem allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch keine unzumutbaren Nachteile drohen, die an ihrem Herkunftsort so nicht bestünden.

BVerwG, zusammenfassend Beschluss vom 5.10.1999 - BVerwG 9 C 15.99 -.

Weiterhin muss dem Rückkehrer dort das wirtschaftliche Existenzminimum in dem Sinn zustehen, dass er nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann.

BVerwG, Beschluss vom 17.5.2006 – 1 B 101/05 -.

Diese Voraussetzungen sind hier insgesamt zu bejahen.

Die Sicherheitslage in dem kurdisch kontrollierten Nordirak ist nach der praktisch einheitlichen Einschätzung im Erkenntnismaterial bezogen auf Anschläge besser als im Irak insgesamt, insbesondere in Bagdad. Dies gilt zunächst nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Anschläge auf besonders gefährdete Personengruppen wie etwa Polizeirekruten finden statt, insgesamt ist aber die Wahrscheinlichkeit, durch einen gegen Dritte gerichteten Anschlag getötet zu werden, im Nordirak geringer.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Für die kurdisch verwalteten Städte Arbil und Sulaimaniya referiert das Auswärtige Amt für das Jahr 2005 jeweils ein Attentat mit der Tötung von 50 beziehungsweise neun Menschen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 17.

In dem hier maßgebenden kurdisch verwalteten Nordirak wird die Sicherheitslage auch im kritischen Erkenntnismaterial als insgesamt stabil betrachtet.

Nach Einschätzung von UNHCR ist die allgemeine politische Situation im kurdischen Nordirak durch ein gewisses Maß an Stabilität gekennzeichnet; es werden dort deutlich weniger Gewalttaten verübt.

UNHCR, Position von September 2005; zu den stabileren Verhältnissen auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Nach der Beurteilung von amnesty international ist die Sicherheitslage in den kurdischen Gebieten im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ stabil.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Nach Darlegung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist die Sicherheitslage im kurdisch kontrollierten Nordirak mit Ausnahme von wenigen Anschlägen in Arbil und Dohuk stabil, wenn auch nicht voraussehbar, und ein engmaschiges Sicherheitsnetz von etwa 80.000 kurdischen Milizionären gewährleistet dort die Sicherheit.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Diese Milizen sollen nicht aufgelöst, sondern sollen staatliche Sicherheitskräfte werden.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann der Schutz bereits von nichtstaatlichen Organisationen ausgehen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 -, S. 6 des Juris-Ausdrucks.

Nach allem ist die Verfolgung der kurdischen Volksgruppe im kurdisch verwalteten und durch kurdische Milizen gesicherten Nordteil des Landes unwahrscheinlich und zwar nach dem Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit.

Ebenso OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Die hinreichende Verfolgungssicherheit des Klägers am Ort der Fluchtalternative im Nordirak ist mithin uneingeschränkt zu bejahen.

Der kurdisch verwaltete Nordirak ist auch abgesehen von dem möglichen Landweg von Bagdad aus unmittelbar - ohne Aufenthalt in Bagdad – auf dem Luftweg über Arbil (auch: Erbil) seit September 2005 erreichbar.

Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, zu einer Flugverbindung von Frankfurt nach Arbil/Nordirak, sowie zur Einreise durch die Türkei.

Damit lassen sich auch Bedenken von UNHCR gegen einen innerirakischen Wohnsitzwechsel auf dem Landweg wegen der Sicherheitslage ausräumen.

Zu diesen Bedenken UNHCR, Position von September 2005.

Weiterhin muss auch das Existenzminimum am Ort der Fluchtalternative einhaltbar sein.

Diesen Gesichtspunkt stellt der Kläger in seinem erstinstanzlichen Vortrag in Frage. Er trägt vor, es gelte der Grundsatz, dass Kurden im Nordirak nur dann über ein ausreichendes Existenzminimum verfügen könnten, wenn sie an die dortige Clan-Gesellschaft familiär angebunden seien. An einer solchen familiären oder sonstigen Bindung zum Nordirak fehle es hier, und ihm nütze es deshalb wenig, dass er zu früheren Zeiten militärische Daten des Regimes von Saddam Hussein an die Kurden verraten habe.

Das überzeugt so nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits nach den neuen politischen Verhältnissen die Fluchtalternative eines Kurden aus dem Zentralirak in den Nordirak bejaht einschließlich der Frage der Existenzsicherung, ohne dabei auf Familienanbindung abzustellen.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -, dort mit Blick auf die Situation in Flüchtlingslagern und die Möglichkeit, für arbeitsfähige Männer einen Job zu bekommen.

Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich, dass für Rückkehrer sowohl die Aufnahme und Versorgung durch die Familie als auch Parteiverbindungen von erheblichem Vorteil für die die Existenzsicherung sind.

Nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes können Rückkehrer im Irak auf Aufnahme und Versorgung durch Familie oder Stammesstrukturen und Sippe zählen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

UNHCR hält eine Einbindung in familiäre oder soziale Strukturen für erforderlich, allerdings nach dem – strengeren - Maßstab einer vollständigen Eingliederung, der das Maß des Existenzminimums übersteigt.

UNHCR, Position von September 2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe stellt auf mehrere Gesichtspunkte ab. Personen im Nordirak bedürfen danach zur Existenzsicherung eines sozialen Netzes.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Personen ohne Parteiverbindungen haben Probleme bei der Eröffnung von Geschäften mit der kurdischen Verwaltung.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Nach der Einschätzung von amnesty international sind die wirtschaftlichen Existenzbedingungen im Nordirak nicht garantiert, vielmehr wird der Zugang zu großen Teilen des Arbeitsmarktes durch persönliche oder familiäre Beziehungen erleichtert beziehungsweise erst ermöglicht.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Daran gemessen mag der Kläger nach seinem Vortrag zwar keine gegenwärtigen familiären Bindungen zum Nordirak haben, immerhin hat er aber bei einer Gesamtbetrachtung eine Chance auf eine Arbeitsmöglichkeit, jedenfalls aber eine Existenzmöglichkeit. Der Kläger war ursprünglich in der Region Sulaymania im Nordirak beheimatet. Er kann seinen Geburtsort im Nordirak und damit ein gewisses Maß an Zugehörigkeit zum Nordirak durch seinen Ausweis jederzeit beweisen. Zwar muss seine vorgetragene Unterstützungstätigkeit für die kurdische Partei PUK, der auch der Staatspräsident Talabani angehört, gänzlich außer Betracht bleiben, da sie von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung bestritten worden ist und der plausible Verfolgungsvortrag des Klägers jedenfalls nicht erwiesen ist. Eine Unterstellung zu Lasten des Klägers scheidet aus.

Zugunsten des Klägers spricht aber weiter, dass der unstreitig erlernte Beruf eines Kraftfahrzeug-Mechanikers wenn auch nach Anfangsschwierigkeiten eine nützliche Tätigkeit ist und damit bei realistischer Betrachtung nach Anfangsschwierigkeiten eine Existenz ermöglicht.

Vor allem muss mit Blick auf die Existenzsicherheit berücksichtigt werden, dass 96 % aller irakischen Haushalte Lebensmittelhilfe beziehen.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, dort ohne eine Einschränkung für den Nordirak; nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006 stammt ein wesentlicher Teil der Lebensmittelrationen, nämlich für 60 % der Bevölkerung, aus einem Programm der Vereinten Nationen.

Nach der Einschätzung des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien ist im Nordirak trotz einer prekären wirtschaftlichen Lage insgesamt mit einem Rutschen unterhalb des Existenzminimums derzeit eher selten zu rechnen.

Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006.

Da der Kläger zumindest positive Gesichtspunkte für eine Berufstätigkeit aufzuweisen hat, spricht kein vernünftiger Grund dafür, dass er entgegen der allgemeinen Lage im Nordirak unter das Existenzminimum abrutschen wird. Mithin ist davon auszugehen, dass der Kläger nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige im Nordirak erlangen kann.

Weiterhin setzt die innerstaatliche Fluchtalternative nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass dem Kläger an dem Ort der Fluchtalternative keine anderen unzumutbaren Nachteile mit asylerheblicher Intensität drohen, die an seinem Herkunftsort im Sinne des Ausreiseortes so nicht bestünden. Im Nordirak dürfen mithin keine unzumutbaren Nachteile für den Kläger bestehen, die so in Bagdad nicht bestehen würden. Auch dies ist zu bejahen.

Nach Einschätzung von UNHCR heben sich die Lebensbedingungen im Nordirak positiv gegenüber denen im übrigen Staatsgebiet ab.

UNHCR, Position von Oktober 2004.

Das Auswärtige Amt kommt zu derselben Beurteilung wie UNHCR.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Auch die Schweizerischen Flüchtlingshilfe zieht eine positive Gesamtbilanz für den Nordirak: Die Sicherheitslage und sozioökonomische Situation im Nordirak stellen sich danach besser dar als in den übrigen Landesteilen.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Das Europäische Zentrum für Kurdische Studien würdigt einen Wechsel von dem Zentralirak in den Nordirak insgesamt positiv.

Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006, dort sogar für die hier nicht zur Entscheidung stehende sehr kleine Gruppe der Mandäer.

Nach allem ist der Kläger bei einer Fluchtalternative in den Nordirak keinen unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt, denen er nicht bereits in seinem Ausreiseort Bagdad ausgesetzt wäre.

Im Ergebnis sind damit alle Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative in den kurdisch verwalteten Nordirak nach den Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts zu bejahen.

Im Rahmen der hier maßgebenden Prüfung der Widerrufsentscheidung ist der Kläger vor erneuter Verfolgung landesweit aus denselben Verfolgungsgründen hinreichend sicher und andersartige Verfolgungsmaßnahmen drohen ihm landesweit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit; unabhängig davon besitzt er mit hinreichender Verfolgungssicherheit die inländische Fluchtalternative in den Nordirak, die für ihn vorzugswürdig ist. Beide Gesichtspunkte führen unabhängig voneinander zur Verneinung der asylerheblichen Verfolgungsgefahr.

Dagegen kommt es, wie noch einmal hervorzuheben ist, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, hier nicht auf einen effektiven Schutz vor allgemeinen Gefahren wie Krieg, Naturkatastrophen oder schlechte Wirtschaftslage oder eine stabile Schutzmacht an.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; Beschluss vom 26.1.2006 – 1 B 135/05 -.

Der Untergrundkrieg des sunnitischen Widerstands steht damit dem Widerruf rechtlich nicht entgegen.

Damit ist der materielle Teil des Widerrufstatbestandes des § 73 I 1 AsylVfG erfüllt.

Indessen muss in diesem Fall die materielle Ausnahmevorschrift des § 73 3 AsylVfG geprüft werden, die nach der Normstruktur zu einem Absehen von dem Widerruf führt. Vorausgesetzt wird dafür, dass sich der Ausländer

auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Inhaltlich entspricht diese deutsche Regelung der entsprechenden Ausnahmevorschrift für den Widerruf in Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 GFK, wonach der Widerruf auf einen Flüchtling keine Anwendung findet,

der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Dagegen enthält die als Auslegungsmaßstab zu beachtende Wegfallklausel in Art. 11 der Europäischen Qualifikationsrichtlinie keine Ausnahmevorschrift von einem Widerruf. Diese für den Flüchtling ungünstige europäische Regelung hat aber keinen entscheidenden Einfluss auf die Auslegung der günstigeren deutschen Regelung, da die EU-Richtlinie nach Art. 1 lediglich Mindestnormen zugunsten der Flüchtlinge enthält und die Mitgliedstaaten nach Art. 3 der EU-Richtlinie grundsätzlich günstigere Normen zur Flüchtlingseigenschaft beibehalten können.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die dargelegte Ausnahmevorschrift in seinem Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 - unter ausdrücklicher Beachtung des völkerrechtlichen Zusammenhangs mit der Genfer Flüchtlingskonvention dahingehend ausgelegt, sie enthalte eine einzelfallbezogene Ausnahme von der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft. Sie schütze weder vor allgemeinen Gefahren noch könne sie nach allgemeinen Zumutbarkeitskriterien ausgelegt werden. Vielmehr trage sie nach ihrer historischen Entstehung der psychischen Sondersituation solcher Personen Rechnung, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hätten und denen es deshalb selbst lange Zeit danach - auch ungeachtet veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar sei, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren. Bei der Schaffung von Art. 1 c Nr. 5 Satz 2 GFK hatten danach die beteiligten Staaten das Schicksal jüdischer Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland vor Augen gehabt.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, Juris-Ausdruck, S. 12.

Der Senat stimmt dieser Rechtsprechung zu.

Dieser Auslegung haben sich sowohl der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg als auch das OVG Münster in neueren Entscheidungen angeschlossen.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Auch Renner, den der Kläger für eine weiter gehende Auslegung im Sinne einer aktuellen Existenzsicherung zitiert, handelt zwar eingehend die Auslegungsmöglichkeiten ab, schließt sich aber abschließend der Auffassung an, es werde den besonderen Belastungen schwer Verfolgter Rechnung getragen.

Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 73 AsylVfG, Rdnrn. 10 bis 12 sowie abschließend Rdnr. 13.

Auch Marx stellt auf eine besonders schwere, nachhaltig wirkende Verfolgung ab und sieht einen Unzumutbarkeitsfall etwa darin, dass der Verfolgte vor der Ausreise Jahre lang inhaftiert gewesen und dadurch physisch zerstört ist.

Marx, Asylverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2005, § 73 Rdnrn. 127 und 135.

Ein solch fortwirkend schweres Schicksal, insbesondere eine langjährige Inhaftierung, hat der Kläger bei seiner Erstanhörung vom 13.12.1995 nicht vorgetragen und auch im Verwaltungsgerichtsprozess einschließlich der mündlichen Verhandlung ein derartiges Schicksal nicht behauptet.

Bei seiner Anhörung im Widerrufsverfahren hat der Kläger mit Schreiben vom 29.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 13/14) die Anwendung dieser Vorschrift auf sich bejaht und dazu die Rechtsmeinung zugrunde gelegt, es genüge, wenn dem früher Verfolgten nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland eine Rückkehr in das Heimatland aus aktuellen Gründen der wirtschaftlichen Existenzsicherung nicht mehr zugemutet werden könne. Soweit er für seine Auffassung die Kommentierung von Renner in Anspruch nimmt, trifft dies wie dargelegt nicht zu. Entscheidend ist aber, dass die Auslegung des Klägers der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Sinn der Ausnahmevorschrift eindeutig widerspricht. Nach der Ausnahmevorschrift kommt es nicht auf allgemeine Zumutbarkeitskriterien an wie hier den geltend gemachten langen Aufenthalt in Deutschland und auf Existenzsicherungsprobleme. Die Ausnahmevorschrift greift zu seinen Gunsten nicht ein. Mithin ist ohne Ermessensspielraum nach § 73 I 1 AsylVfG der Widerruf zwingend auszusprechen.

Materiell ist der Widerrufsbescheid nach dem Prüfungsergebnis des Senats rechtmäßig.

Die angefochtene Widerrufsentscheidung des Bundesamts ist auch in verwaltungsverfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.

Ob der Widerruf unverzüglich erfolgt ist, wie § 73 I 1 AsylVfG es verlangt, bedarf keiner Entscheidung, da das Gebot des unverzüglichen Widerrufs ausschließlich öffentliche Interessen schützt, so dass ein Verstoß hiergegen keine subjektiven Rechte des betroffenen Ausländers verletzen kann.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Unabhängig davon war das Abwarten des Bundesamtes von rund anderthalb Jahren nach dem Kriegsende sinnvoll, um den Machtwechsel im Irak als hinreichend gefestigt zu beurteilen, und deshalb auch noch unverzüglich.

Weiterhin ist aus dem mit Wirkung vom 1.1.2005 eingeführten mehrstufigen Prüfungsverfahren nach § 73 II a AsylVfG kein Rechtsfehler herzuleiten. § 73 II a Satz 1 AsylVfG lautet:

Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach Absatz 1 oder eine Rücknahme nach Absatz 2 vorliegen, hat spätestens nach Ablauf von 3 Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen (gemeint ist die Anerkennungsentscheidung).

Bei der neu eingeführten Dreijahresfrist handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts um einen in die Zukunft gerichteten Prüfungsauftrag an das Bundesamt.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Wegen der Zukunftsgerichtetheit des Prüfungsauftrags hat eine Prüfung vorhandener Anerkennungsfälle spätestens bis zum 1.1.2008 zu erfolgen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Der hier zur Prüfung anstehende Widerrufsbescheid der Flüchtlingsanerkennung von 1996 ist am 19.10.2004 ergangen und damit noch vor dem Inkrafttreten des gesetzgeberischen Prüfungsauftrags am 1.1.2005. An einer rückwirkenden Einführung des Verfahrens durch eine entsprechende Übergangsvorschrift fehlt es hier.

BVerwG, Urteil vom 1.12.2005 - 1 C 21/04 -.

Damit ist die dreijährige Prüfungsfrist im vorliegenden Fall nicht einschlägig.

Keiner Entscheidung bedarf die Frage, ob verwaltungsverfahrensrechtlich die Jahresfrist nach § 49 II 2, § 48 IV VwVfG auch bei Widerrufsverfügungen nach § 73 I 1 VwVfG zu beachten ist.

Offen gelassen in dem Urteil des BVerwG vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Denn die Jahresfrist beginnt frühestens nach Anhörung des Klägers mit einer angemessenen Frist zur Stellungnahme zu laufen, und zwar mit dem behördlichen Anhörungsschreiben.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Danach ist die Einjahresfrist, sofern sie anwendbar ist, hier eingehalten. Die Anhörungsverfügung der Behörde datiert vom 2.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 7) und der Widerrufsbescheid erging am 19.10.2004 (Widerrufsakte Bl. 18).

Nach dem Prüfungsergebnis des Senats ist mithin der Widerrufsbescheid weder materiellrechtlich noch verfahrensrechtlich zu beanstanden. Er ist insgesamt rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Der als Hauptantrag gestellte Aufhebungsantrag des Klägers hat mithin auch im Rahmen des Berufungsverfahrens keinen Erfolg.

II.

Auch hinsichtlich des Hilfsantrags hat die Berufung keinen Erfolg.

Der Kläger hat nicht den gegen die Beklagte hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses mit Blick auf konkrete Gefahren nach § 60 II bis VII AufenthG.

Der Kläger ist weder der konkreten Gefahr der Folter (§ 60 II AufenthG) noch der Todesstrafe (§ 60 III AufenthG) oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (§ 60 V AufenthG) ausgesetzt.

Der vom Gesetzgeber verwendete Maßstab der konkreten Gefahr (vgl. § 60 II, 60 VII 1 AufenthG) ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu der inhaltsgleichen Vorgängervorschrift des § 53 AuslG bereits geklärt. Danach ist für die Feststellung der Gefahr der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit maßgebend, ohne eine Herabstufung für Vorverfolgte, da die Gefahren hier außerhalb des Verfolgungstatbestandes betrachtet werden.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324-330.

Einzubeziehen in die Gefahr sind nunmehr auch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 I 4 c AufenthG. Die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure auch in konkrete Gefahren nach § 60 II ff. AufenthG ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus der deutschen gesetzlichen Regelung. Indessen folgt sie aus der für die Auslegung zu beachtenden Vorwirkung von Art. 6 der europäischen Qualifikationsrichtlinie, der die Einbeziehung der nichtstaatlichen Akteure gleichmäßig sowohl für die Verfolgung als auch für den ernsthaften Schaden und mit Letzterem die konkrete Gefahr im Sinne des deutschen Rechts fordert.

So überzeugend Renner, § 60 AufenthG Rdnr. 36; offen gelassen im Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Dem Kläger droht hier weder von staatlicher noch von nichtstaatlicher Seite die konkrete Gefahr der Folter. Der Senat hat bereits im Rahmen des Widerrufssachverhalts dargelegt, dass der Kläger hinreichend sicher ist vor individuellen Racheakten mit Blick auf seine indirekte Unterstützung der kurdischen Kämpfe im Jahr 1995; dies gilt erst recht für einen zugespitzten Racheakt in Form der Folter, für den sich eine konkrete Gefahr – mit überdies beachtlicher Wahrscheinlichkeit - nicht herleiten lässt. Das Gleiche gilt für die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.

Für die Gefahr der Verhängung der Todesstrafe durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure fehlt es gänzlich an einem Anhaltspunkt; der Kläger hat die Gefahr der Todesstrafe auch selbst nicht behauptet.

Sodann fehlt es an der zwischen den Beteiligten streitigen allgemeinen Extremgefahr nach § 60 VII AufenthG.

Der Kläger stützt sich in seiner Berufungsbegründung und in der mündlichen Verhandlung auf eine extreme allgemeine Gefährdungslage im Irak. Er beruft sich dabei insbesondere auf die landesweite Gefahr von Terroranschlägen auf die Zivilbevölkerung; gehe man davon aus, dass sich der Irak im Bürgerkrieg befinde oder jedenfalls ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde, müsse man auch vom Bestehen einer extremen allgemeinen Gefährdungslage im Sinne von § 60 VII AufenthG ausgehen.

Mit Blick auf die vorgetragene landesweite Extremgefahr hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses in verfassungskonformer Anwendung des § 60 VII AufenthG.

§ 60 VII 2 AufenthG verweist für Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist, auf einen allgemeinen ausländerbehördlichen Abschiebungsstopp nach § 60 a I 1 AufenthG als Schutz des Ausländers. Dies führt aber hier nicht weiter, da nach der Auskunft des Saarländischen Innenministeriums vom 26.5.2006 (Gerichtsakte Bl. 104) im Saarland derzeit keine behördliche Regelung zur Aussetzung von Abschiebungen in den Irak besteht. Die in anderen Bundesländern bestehenden Abschiebestoppregelungen beruhen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darauf, dass bis vor kurzem die Flugverbindungen unterbrochen waren und noch derzeit kein Rücknahmeabkommen mit dem Irak besteht.

BVerwG, Urteil vom 27.6.2006 – 1 C 14.09 -.

Der verfassungsrechtlich gebotene Schutz von Ausländern vor Extremgefahren ist in der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt.

Eingehend Urteil des BVerwG vom 12.7.2001 - 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 379, 384 bis 386, dort für die inhaltsgleiche Vorgängerregelung des § 53 VI AuslG.

Nach dieser Rechtsprechung kommt es sowohl auf die rechtliche als auch die tatsächliche Schutzbedürftigkeit des Ausländers an.

Was zunächst die Frage der rechtlichen Schutzbedürftigkeit angeht, ist eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 VII AufenthG nur dann geboten, wenn der einzelne Asylbewerber sonst schutzlos bliebe. Ein Schutz vor einer extremen Gefahrenlage kann zum einen durch einen allgemein ausländerbehördlichen Abschiebungsstopp im Sinne einer Duldung bestehen, an dem es aber hier im Saarland fehlt. Es genügt aber nach dieser Rechtsprechung auch ein anderer gleichwertiger Schutztitel vor Abschiebung, wenn dieser tatsächlich besteht. So genügt es, wenn der Ausländer im entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung oder mindestens einer Duldung ist, die vom Asylverfahren unabhängig erteilt worden ist. Ein solcher Aufenthaltstitel muss indessen bestehen, nicht genügend sind unentschiedene Duldungsansprüche. Davon ausgehend lässt der VGH Baden-Württemberg eine Aufenthaltserlaubnis nach neuem Recht zum Schutz des Ausländers genügen.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -, der aber diesen Schutz in bedenklicher Weise sogar auf eine widerrufene Aufenthaltserlaubnis wegen des Suspensiveffekts erstreckt, was der vom Bundesverwaltungsgericht verworfenen Schwebelage entspricht.

Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Kläger besitzt nach der Ausländerakte seit dem 18.11.2004 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ursprünglich nach § 35 AuslG, nach neuem Recht nach § 26 AufenthG. Darüber hinaus hat die Ausländerbehörde, die Landeshauptstadt A-Stadt, bereits mit Schreiben vom 2.9.2004 in Kenntnis des Widerrufverfahrens erklärt, es sei auch bei einem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung momentan nicht mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu rechnen. Angesichts der langjährigen Integration des Klägers in Deutschland ist dies auch vernünftig. Mithin ist der Kläger derzeit noch im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, wie die Stadt A-Stadt nochmals mit Schreiben vom 13.9.2006 bestätigt hat, und damit nicht schutzlos.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat ein Anspruch auf Feststellung des Abschiebungshindernisses der Extremgefahr nur dann Erfolg, wenn rechtliche und tatsächliche Schutzbedürftigkeit vorliegt.

BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 379 - 385.

Das Gericht ist nicht gehindert im Sinne selbständiger Entscheidungsgrundlagen festzustellen, dass unabhängig voneinander hinreichender rechtlicher Schutz vor Abschiebung vorhanden ist und eine extreme Gefahrenlage nicht besteht.

So ist das OVG Münster vorgegangen in seinem Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

So liegt der Fall hier. Zum einen besitzt der Kläger wie dargelegt einen unwiderrufenen Schutztitel. Zum anderen ist aber auch eine Extremgefahr im Irak zu verneinen.

Ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Bei der erforderlichen Prüfung einer Extremgefahr ist zunächst der Prognosemaßstab klarzustellen. Maßgebend ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der auch bei Vorverfolgung nicht herabgestuft wird.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 - 330.

Inhaltlich hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung den Rechtsbegriff der Extremgefahr mit der Formulierung geprägt, es müsse vermieden werden, dass der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

BVerwG, Urteil vom 16.6.2004 - BVerwG 1 C 27.03 -; BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -; BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 -; BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -; BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -; BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -.

In zeitlicher Hinsicht muss sich die Extremgefahr nicht sofort nach Rückkehr in den Heimatstaat, sondern bald verwirklichen.

BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 -.

Im Gegensatz zu der sicher verständlichen – in der mündlichen Verhandlung erörterten - Rechtsansicht des Klägers hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung die Extremgefahr nicht bereits an die Existenz eines Bürgerkriegs geknüpft, sondern an qualifizierte Voraussetzungen. Folglich würde die vom Kläger erstrebte Bejahung eines Bürgerkriegs nicht schon die Extremgefahr begründen. Auch das vom Senat bejahte Vorliegen eines Untergrundkriegs begründet nicht automatisch eine Extremgefahr.

In den beurteilten Bürgerkriegsfällen hat das Bundesverwaltungsgericht die Extremgefahr konkret dann bejaht, wenn die Bürgerkriegskämpfe bereits am Ankunftsort stattfinden und sich der Ausländer ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes mithin nicht entziehen kann.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -; BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -.

So hat das Bundesverwaltungsgericht die konkrete Bürgerkriegssituation in Afghanistan im Jahr 1995 als Extremgefahr für Rückkehrer anerkannt. Dort war eine Abschiebung nur über den Flughafen Kabul möglich, der Bürgerkrieg tobte aber nach den seinerzeitigen Tatsachenfeststellungen hauptsächlich im Bereich dieser Stadt, die größere Teile der Bevölkerung bereits wegen der unerträglichen Lebensverhältnisse verlassen hatten.

BVerwG, Urteil vom 17.1.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 - 330.

Eine Extremgefahr hat das Bundesverwaltungsgericht weiter für die konkrete Bürgerkriegssituation 1997 in Somalia bejaht. Dort kam nur eine Abschiebung über den Flughafen in Mogadischu in Betracht. Nach den zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen wäre der dortige Kläger bei einer Abschiebung über den Flughafen von Mogadischu in die dort besonders heftigen Kämpfe hineingeraten; er wäre sehenden Auges der extremen Gefahr ausgesetzt worden, entweder am Flughafen sofort getötet oder schwer verletzt zu werden oder in Mogadischu an Hunger oder Krankheit zu sterben, ohne überhaupt noch sichere Landesteile erreichen zu können.

BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -.

Weiterhin hat das Bundesverwaltungsgericht ergänzend zu der Bürgerkriegsrechtsprechung in zwei Afghanistan betreffenden Fällen eine Extremgefahr bejaht, da der Ausländer dort dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert worden wäre.

BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 - sowie Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 2.01 -, wobei im letzteren Fall die Gefahr eines sicheren Hungertodes zwar bejaht wurde, die dortige Klägerin aber anderweitigen Abschiebungsschutz besaß.

Bezogen auf Armenien hat das Bundesverwaltungsgericht eine Extremgefahr verneint, wenn eine katastrophale wirtschaftliche und soziale Situation mit Obdachlosigkeit, Unterernährung und unzureichender medizinischer Versorgung vorliegt, den Rückkehrer aber nicht der sichere Tod oder schwerste Beeinträchtigungen alsbald nach seiner Ankunft erwarten.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -.

Auch desolate hygienische Verhältnisse und ein praktisch kaum leistungsfähiges Gesundheitssystem in Angola mit hoher statistischer Kindersterblichkeit reichen als Extremgefahr nicht aus, soweit die betroffenen Rückkehrer nicht nach tragfähiger Feststellung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden.

BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -.

Weiterhin begründen besondere existenzielle Schwierigkeiten in Nigeria für eine allein stehende Mutter keine Extremgefahr, solange die Klägerin nicht gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

BVerwG, Urteil vom 16.6.2004 - 1 C 27.03 -.

Aufgrund der dargelegten Rechtsprechung zu Bürgerkriegs- und Hungerfällen ist die landesweite Situation im Irak mit Blick auf eine allgemeine Extremgefahr im Einzelnen zu würdigen.

Auszugehen ist nach praktisch allgemeiner Ansicht von einer instabilen, manchmal eskalierenden Sicherheitslage mit täglich etwa 100 terroristischen Anschlägen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006 im Sinne eines Tiefpunkts der Sicherheitslage; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort betreffend die allgemeine Sicherheitslage; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005, dort zur allgemeinen Sicherheitslage; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; UNHCR, Hinweise von April 2005; sowie UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006; zum bewaffneten Widerstand auch Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands; zur Gewaltwelle gegen Zivilisten NZZ vom 6.6.2006, Seite 1.

Der Kläger sieht die Situation übereinstimmend mit einer dargelegten Äußerung des Politikers Allawi vom 19.3.2006 im Deutschlandfunk so, dass sich das Land im Bürgerkrieg befinde, zumindest aber ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde. Der seinerzeitige Interimsministerpräsident Allawi war am 17.4.2005 selbst einem Attentat nur knapp entgangen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005.

Die Situation im Irak würdigt der Senat nicht als einen offenen Bürgerkrieg, sondern einen Untergrundkrieg durch tägliche Bombenanschläge. Er kommt damit der Beurteilung des Klägers nahe.

Die nichtstaatlichen Akteure bleiben im Verborgenen; ein Bürgerkrieg mit offenen Frontlinien besteht nicht. Das Erkenntnismaterial ist – auch mit Blick auf kritische Organisationen – zurückhaltend und nimmt einen offenen Bürgerkrieg derzeit nicht an.

Das Auswärtige Amt kommt der Auffassung des Klägers wie der Senat nahe. Es verneint einen offenen Bürgerkrieg, sieht aber eine Annäherung an offene bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen und sunnitischen Konfessionen im Anschluss an den Anschlag vom 22.2.2006 auf das schiitische Heiligtum in Samarra.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 19/20.

UNHCR sieht einen teilweise gewaltsam ausgetragenen Machtkampf im Irak.

UNHCR, Hinweise von April 2005; ähnlich Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Auch amnesty international spricht von einem teilweise gewaltsamen ausgetragenen Machtkampf und in einer neueren Beurteilung zurückhaltend von der anhaltend unsicheren Lage.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; sowie zur neueren Beurteilung amnesty international, Jahresbericht 2006.

Das Deutsche Orient-Institut sieht die Sicherheitslage im Sinne eines Untergrundkampfes.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005.

Dies spricht für die vom Senat vorgenommene Einordnung als Untergrundkrieg.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe würdigt die Sicherheitslage dahingehend, der bewaffnete Widerstand versuche unvermindert, den politischen Wiederaufbau mit Bomben- und Mordkampagnen zu hintertreiben und alle Aktivitäten zur Anstachelung eines offenen Bürgerkrieges hielten an.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Die Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bedeutet, dass die Gefahr eines offenen Bürgerkrieges gesehen, ein tatsächlicher offener Bürgerkrieg aber nicht angenommen wird.

Der bewaffnete Widerstand im Irak ist seit der von ihm verlorenen Schlacht um Falludscha im November 2004 zu dem Ergebnis gekommen, dass er angesichts der Übermacht der US-Truppen nicht mehr bestimmte Gebiete verteidigen kann, vielmehr soll mit einer flexiblen Taktik der Anschläge der Wiederaufbau des Landes nachhaltig gestört werden.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstandes.

In Falludscha kam es im Frühjahr und im Herbst 2004 zu offenen Kämpfen zwischen den US-Streitkräften und den Aufständischen; im November 2004 floh ein Großteil der Zivilbevölkerung der 250.000 Einwohner von Falludscha.

Auswärtiges Amt, Lagebericht 24.11.2005.

Für die dargelegte Situation in Falludscha selbst waren die qualifizierten Voraussetzungen einer bürgerkriegsbezogenen Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfüllt. Die Kämpfe hatten nämlich ein Ausmaß erreicht, dass größere Teile der Bevölkerung die Stadt verlassen mussten.

Vgl. zu diesem Maßstab BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -.

Die dargelegten seinerzeitigen Verhältnisse in Falludscha 2004 entsprechen aber nicht der jetzigen landesweiten Gewaltsituation im Irak, insbesondere nicht bei einer Betrachtung des Luftweges an den Ankunftsorten, der 5-Millionen-Stadt Bagdad in Zentralirak oder der Stadt Arbil (Erbil) im kurdisch verwalteten Nordirak. Insgesamt sind ausgedehnte offene Kampfhandlungen zwischenzeitlich landesweit zurückgegangen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; zum Kampf des Widerstandes im Verborgenen OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG; vgl. noch zu einem Luftangriff auf die sunnitische Hochburg al-Ramadi amnesty international, Jahresbericht 2006.

Ungeachtet der täglichen Bombenanschläge gerade auch in schiitischen Stadtvierteln ist in Bagdad nach Auswertung des Erkenntnismaterials klar erkennbar nicht eine Lage entstanden, in der größere Teile der Bevölkerung die 5-Millionen-Stadt verlassen haben. Es kann also nicht festgestellt werden, dass eine Rückkehr nach Bagdad eine Irakerin oder einen Iraker sehenden Auges dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen überliefern würde. Dies gilt, wie ausdrücklich klarzustellen ist, nach der eindeutigen Gefahrenformel unabhängig davon, ob ein Bürgerkrieg, eine bürgerkriegsähnliche Situation oder wie hier ein Untergrundkrieg von dem Gericht angenommen wird.

Hinzu kommt, dass Bagdad nicht die einzige Einreisemöglichkeit ist und für Kurden sich eine Einreise in den Irak wie dargelegt auf dem Luftweg über Arbil (Erbil) anbietet. Nach der Einschätzung von amnesty international ist die Sicherheitslage in den kurdischen Gebieten im Nordirak im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ stabil.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Nach Darlegung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist die Sicherheitslage im kurdisch kontrollierten Nordirak stabil, wenn auch nicht voraussehbar, und ein engmaschiges Sicherheitsnetz von etwa 80.000 kurdischen Milizionären gewährleistet dort die Sicherheit.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist die Sicherheitslage in dem kurdisch kontrollierten Nordirak besser bezogen auf Anschläge als im Irak insgesamt, insbesondere in Bagdad.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Zu nennenswerten offenen Kämpfen im Nordirak kommt es nach dem Erkenntnismaterial nicht.

Auch amnesty international berichtet im Jahresbericht 2006 von Menschenrechtsverletzungen im Nordirak, aber nicht durch offene Kämpfe.

Insgesamt besteht landesweit keine Lage im Irak, die den Rückkehrer bereits am Ankunftsort in Bagdad oder im nordirakischen Arbil (Erbil) in heftige Kämpfe verwickeln würde, was im Sinne der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Bürgerkriegssituationen eine allgemeine Extremgefahr bedeuten würde.

Mit Blick auf die allgemeine Extremgefahr sind nochmals die täglich etwa 100 Bombenanschläge landesweit im Irak zu würdigen. Sie stellen eine enorme allgemeine Bedrohung da.

So ausdrücklich Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 18.

Der Kläger beruft sich mit Blick auf die Extremgefahr auf das Urteil des VG Sigmaringen vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -. Das VG Sigmaringen hat sich in diesem Urteil zwar nicht unmittelbar mit der Extremgefahr befasst, aber im Rahmen der Prüfung eines Widerrufsbescheides eine realistische Gefahr von Terroranschlägen festgestellt.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005, Seite 9 des amtl. Umdrucks.

Das VG Sigmaringen geht wie der Senat ebenfalls von einer Größenordnung von mehreren Tausend Menschen aus, die bei Anschlägen ums Leben gekommen sind. Es setzt diese Zahlen aber nicht in Beziehung zu der irakischen Gesamtbevölkerung von rund 27 Millionen Menschen. Ungeachtet der Furchtbarkeit der Anschläge im Einzelfall kommt es aber im Rahmen der Extremgefahr wiederum auf die Anschlagsdichte an.

Zutreffend OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Nach den konkreten Zahlen von amnesty international werden die zivilen Opfer der Anschläge zwischen 21.239 und 24.106 geschätzt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Auf der Grundlage der Höchstzahl von 24.106 Opfern beträgt die Anschlagsdichte mithin rund 1:1100. Geht man von der – pauschalen – noch höheren Zahl von Opfern unter den Zivilisten von äußerstenfalls 100.000 aus, die das Auswärtige Amt wiedergibt,

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005,

ergibt sich landesweit äußerstenfalls eine Verletzungsgefahr durch die Anschläge von 1:270. Damit lässt sich aber nicht - zudem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - feststellen, ein einzelner Rückkehrer werde alsbald sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert.

Zu einem anderen Ergebnis führen auch nicht Reisewarnungen des Auswärtigen Amts für Reisende. Der Kläger hat sich mit dem VG Sigmaringen darauf berufen, das Auswärtige Amt habe seine Reisewarnung vom 29.7.2005 auf die Anschlagsopfer sowie die Entführungen gestützt.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -, Seite 9 des amtl. Umdrucks.

In einer solchen Warnung für Touristen und Geschäftsreisende liegt kein Wertungswiderspruch zur Verneinung einer Extremgefahr. Die Warnungen enthalten keine verbindliche Regelung im Sinne eines Schutzes der Menschenwürde, sondern eine unverbindliche Information. Ein Informationsbedürfnis besteht schon wesentlich früher als erst bei einer Situation, in der Reisende sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert werden. Die Schwelle für eine Reisewarnung ist wesentlich niedriger und bedeutet als solche keine Extremgefahr.

Auch die mit dem Untergrundkrieg einhergehende angespannte Versorgungslage einschließlich der medizinischen Versorgung im Irak führt nicht zur Bejahung einer Extremgefahr, zumal keine Hungergefahr besteht.

Die Versorgungslage im Irak ist zwar angespannt.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; zur prekären wirtschaftlichen Lage auch Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Indessen beziehen 96 % aller irakischen Haushalte Lebensmittelhilfe.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Für eine extreme Verknappung der Lebensmittel oder gar eine Hungerkatastrophe oder eine Wasserkatastrophe fehlt jeder Anhaltspunkt.

Schon mit Blick auf die bestehende Lebensmittelhilfe kann realistischerweise nicht angenommen werden, der Kläger würde im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nach seiner Rückkehr dem baldigen sicheren Hungertod ausgesetzt. Selbst eine katastrophale wirtschaftliche Situation mit Obdachlosigkeit und Unterernährung bedeutet dann keine Extremgefahr, wenn Rückkehrer nicht dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -.

Auch mit Blick auf die medizinische Versorgung ist eine allgemeine Extremgefahr zu verneinen. Die medizinische Versorgung ist allerdings angespannt.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 9.6.2006 und vom 24.11.2005.

Die Situation im Gesundheitswesen wird als extrem schwierig angesehen.

Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 4.2.2006.

Nach der Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist das irakische Gesundheitssystem schlechter als vor dem Krieg, bedarf dringend der Erneuerung, indessen ist die medizinische Grundversorgung zumeist gewährleistet.

So der zusammengefasste Inhalt der Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9.6.2004 sowie des Updates der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 15.6.2005.

Nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Extremgefahr begründen eine unzureichende medizinische Versorgung und eine kaum leistungsfähige Gesundheitsversorgung nicht bereits eine allgemeine Extremgefahr.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -, zu Armenien sowie BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -, zu einer kaum leistungsfähigen Gesundheitsversorgung in Angola mit desolaten hygienischen Verhältnissen.

Auch bei einer Gesamtwürdigung der sozioökonomischen Situation des Iraks

vgl. dazu Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, Abschnitt sozioökonomische Situation, Seite 11/12

ist ungeachtet der unzulänglichen Sicherheits- und Versorgungssituation nicht eine allgemeine Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem Ausmaß zu bejahen, dass ein Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Mithin ist im Irak der Tatbestand einer allgemeinen Extremgefahr zu verneinen.

Ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; sowie bereits BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -.

Nach dem vom Senat gefundenen Gesamtergebnis bleiben Hauptantrag und Hilfsantrag des Klägers erfolglos; die Berufung ist mithin zurückzuweisen.

Gerichtskosten werden nach § 83 b AsylVfG nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung über die außergerichtlichen Kosten ergibt sich aus § 154 II VwGO.

Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 II VwGO liegen nicht vor.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Die Aufenthaltserlaubnis ist ein befristeter Aufenthaltstitel. Sie wird zu den in den nachfolgenden Abschnitten genannten Aufenthaltszwecken erteilt. In begründeten Fällen kann eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen von diesem Gesetz nicht vorgesehenen Aufenthaltszweck erteilt werden. Die Aufenthaltserlaubnis nach Satz 3 berechtigt nicht zur Erwerbstätigkeit; sie kann nach § 4a Absatz 1 erlaubt werden.

(2) Die Aufenthaltserlaubnis ist unter Berücksichtigung des beabsichtigten Aufenthaltszwecks zu befristen. Ist eine für die Erteilung, die Verlängerung oder die Bestimmung der Geltungsdauer wesentliche Voraussetzung entfallen, so kann die Frist auch nachträglich verkürzt werden.

Tatbestand

1

Der Kläger erstrebt unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutz wegen Gefahren aufgrund eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts, hilfsweise nationalen Abschiebungsschutz wegen ihm drohender (extremer) Gefahr für Leib und Leben vor allem durch Mangelernährung.

2

Der 1981 geborene, ledige Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört zur Volksgruppe der Hazara und stammt aus der Provinz Ghazni. Er reiste im Februar 2003 nach Deutschland ein und betrieb hier erfolglos ein Asylverfahren. Im November 2006 stellte er einen Asylfolgeantrag. Mit Bescheid vom 21. Dezember 2006 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und eine Änderung seiner Feststellung zum Nichtvorliegen eines Abschiebungshindernisses ab. Im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht beschränkte der Kläger seine Klage auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Das Verwaltungsgericht hat der Klage im April 2007 stattgegeben.

3

Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Im Berufungsverfahren hat der Kläger geltend gemacht, dass auch die Voraussetzungen des Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG vorlägen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten im Mai 2008 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Dem Kläger sei in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG Abschiebungsschutz zu gewähren. Er sei zwar jung und gesund, verfüge aber nicht über eine Berufsausbildung. Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt in Afghanistan sei die Wahrscheinlichkeit gering, dass der Kläger auf Dauer eine Arbeit finden und damit seinen eigenen Lebensunterhalt sichern könne. Auf familiäre Unterstützung könne er nicht rechnen. Unter diesen Umständen würden dem Kläger ausschließlich Tee und Brot als Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Diese Versorgungssituation werde durch Unterstützungsmaßnahmen der afghanischen Regierung oder internationaler Organisationen nicht wesentlich verbessert. Die Möglichkeit, eine winterfeste Unterkunft zu erlangen, sei für einen mittellosen Rückkehrer, der - wie der Kläger - nicht auf familiäre Hilfe zurückgreifen könne, minimal. Die medizinische Versorgung sei selbst in Kabul völlig unzureichend. Auch die hygienischen Verhältnisse, unter denen der Kläger als mittelloser Rückkehrer leben müsse, seien völlig unzulänglich. Angesichts dieser Lebensbedingungen bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger zwangsläufig in einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen geraten würde. Insbesondere die durch die Mangelernährung erhöhte Infektanfälligkeit werde in Verbindung mit dem ebenfalls ernährungsbedingten Eisenmangel zu schwerwiegenden Infektionen der Atmungs- und Verdauungsorgane führen. Den anderen Oberverwaltungsgerichten, die dies gegenteilig beurteilten, hätten die vom Berufungsgericht eingeholten Gutachten nicht vorgelegen. Angesichts dieser Einschätzung erübrige sich eine Entscheidung darüber, ob auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vorlägen und dem Kläger deshalb gemeinschaftsrechtlicher subsidiärer Schutz zu gewähren sei.

4

Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision beanstandet die Beklagte vor allem, dass sich das Berufungsgericht im Hinblick auf die vom Kläger befürchteten allgemeinen Gefahren auf zu schmaler Tatsachengrundlage über die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG hinweggesetzt habe.

Entscheidungsgründe

5

Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt in mehrfacher Hinsicht Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil in der Sache nicht abschließend entscheiden kann, ist das Verfahren an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

6

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist zunächst das Verpflichtungsbegehren des Klägers auf Feststellung eines - unionsrechtlich begründeten - Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Dieses Begehren ist mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (BGBl I 2007, 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - im August 2007 Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Nach der Rechtsprechung des Senats gilt dies jedenfalls dann, wenn - wie hier - das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - in seinem Ablehnungsbescheid über sämtliche zielstaatsbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverbote sachlich entschieden und der Kläger die neuen, auf Unionsrecht beruhenden subsidiären Abschiebungsverbote in das anhängige gerichtliche Verfahren einbezogen hat (vgl. Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 -, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen). Gegenstand des Revisionsverfahrens ist ferner das Verpflichtungsbegehren des Klägers auf Feststellung eines (nationalen) Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nicht mehr Gegenstand des Verfahrens ist die Frage eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, nachdem der Kläger seine Klage insoweit - vor der gesetzlichen Neuordnung der Streitgegenstände durch das Richtlinienumsetzungsgesetz - zurückgenommen und den Ablehnungsbescheid des Bundesamts damit hat bestandskräftig werden lassen. Eine Abschiebungsandrohung ist ebenfalls nicht Gegenstand des Verfahrens. Auch insoweit hat der Kläger seine Klage zurückgenommen.

7

Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht, weil es den Vorrang des unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes vor dem nationalen Abschiebungsschutz nicht berücksichtigt hat (1.). Es verletzt ferner Bundesrecht, weil es beim nationalen Abschiebungsschutz den Anforderungen an die verfassungskonforme Auslegung und Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG im Fall allgemeiner Gefahren nicht hinreichend Rechnung getragen hat (2.). Schließlich verletzt es Bundesrecht, weil seine Feststellungen zur Gefahrenprognose bei verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhalten (3.).

8

1. Das Berufungsgericht hätte nicht offenlassen dürfen, ob der Kläger die Voraussetzungen für die Feststellung eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbots erfüllt. Im Entscheidungsfall kommt in diesem Zusammenhang allein ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in Betracht. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 oder 3 AufenthG scheiden auch nach Auffassung des Klägers von vornherein aus.

9

Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, der die Regelung des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 - sog. Qualifikationsrichtlinie - umgesetzt hat, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Nach der Rechtsprechung des Senats bildet dieser unionsrechtlich begründete Abschiebungsschutz gegenüber dem sonstigen (nationalen) Abschiebungsschutz einen selbstständigen Streitgegenstand. Die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG wird nach der typischen Interessenlage des Schutzsuchenden vorrangig vor der Feststellung eines sonstigen zielstaatsbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverbots begehrt (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 = Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 22, jeweils Rn. 10 ff.).

10

Dieses Rangverhältnis zwischen dem unionsrechtlichen und dem nationalen Abschiebungsschutz hat das Berufungsgericht nicht berücksichtigt. Es hätte das Verpflichtungsbegehren des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG der Sache nach nicht als Hilfsantrag behandeln dürfen, sondern darüber vor dem Begehren auf nationalen Abschiebungsschutz befinden müssen. Zwar hat der Kläger bei seiner Antragstellung im Berufungsverfahren kein bestimmtes Rangverhältnis kenntlich gemacht. Er hat aber auch nicht erkennen lassen, dass der unionsrechtliche Abschiebungsschutz nicht oder erst nach dem nationalen Abschiebungsschutz geprüft werden soll. Bei dieser Verfahrenskonstellation hätte das Berufungsgericht - entsprechend der typischen Interessenlage des Schutzsuchenden - das Begehren des Klägers dahingehend auslegen müssen, dass primär über dessen Hauptantrag auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots in Bezug auf Afghanistan gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entschieden werden soll. Auf dieser rechtsfehlerhaften Behandlung der Anträge des Klägers beruht die Entscheidung des Berufungsgerichts. Daran ändert auch die hilfsweise angeführte Begründung des Berufungsgerichts nichts, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG im Übrigen auch nicht erfüllt seien. Denn in dieser Begründung stellt das Berufungsgericht darauf ab, dass selbst bei Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach dieser Vorschrift wegen der auch in diesem Fall geltenden Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nur bei einer - hier offenbar nicht gegebenen - extremen Gefahr in Betracht komme. Diese Rechtsansicht ist nach dem inzwischen ergangenen Urteil des Senats vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - (a.a.O. Rn. 30 ff.) nicht mit Bundesrecht vereinbar, da § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG richtlinienkonform dahingehend auszulegen ist, dass er bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie bzw. des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG keine Sperrwirkung entfaltet. Mangels hinreichender Feststellungen im Berufungsurteil zum Vorliegen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist es dem Senat verwehrt, sich selbst näher mit den Voraussetzungen eines derartigen Abschiebungsverbots zu befassen. Im erneuten Berufungsverfahren wird das Oberverwaltungsgericht vorrangig über diesen Hauptantrag zu entscheiden haben.

11

2. Indem das Berufungsgericht dem Kläger Abschiebungsschutz nach nationalem Recht in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG zugesprochen hat, ohne das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG rechtsfehlerfrei zu prüfen und auszuschließen, hat es auch die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Voraussetzungen für die verfassungskonforme Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in Fällen einer allgemeinen Gefahr verkannt. Auch insofern ist das Berufungsurteil nicht mit Bundesrecht vereinbar.

12

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens sechs Monate ausgesetzt wird. Eine derartige Abschiebestopp-Anordnung besteht für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht (mehr). Mit seinem Hinweis auf die unzureichende Versorgungslage in Afghanistan, die für Rückkehrer ohne Berufsausbildung und familiäre Unterstützung besteht, macht der Kläger allgemeine Gefahren geltend, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen können. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats kann diese Sperrwirkung nur dann im Wege einer verfassungskonformen Auslegung eingeschränkt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine verfassungswidrige Schutzlücke besteht (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - a.a.O. Rn. 32 m.w.N.). Eine Schutzlücke besteht für den Kläger indes nicht, falls er die Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG beanspruchen kann (vgl. hierzu nochmals Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - a.a.O. Rn. 32 m.w.N.). Das Berufungsgericht hätte sich daher auch aus diesem Grund mit der Frage des unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes befassen müssen, ehe es sich mittels verfassungskonformer Auslegung über die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG hinwegsetzt.

13

3. Schließlich ist die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch das Berufungsgericht auch deshalb mit Bundesrecht nicht vereinbar, weil seine Feststellungen zum Vorliegen einer extremen Gefahr im Falle einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhalten. Das Berufungsgericht hat zwar zutreffend erkannt, dass eine unmittelbare Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausscheidet, weil der Kläger keine individuellen, nur ihm drohenden Gefahren, sondern allgemeine Gefahren geltend macht. Es ist aber bei der verfassungskonformen Anwendung der Vorschrift in mehrfacher Hinsicht hinter den maßgeblichen rechtlichen Anforderungen zurückgeblieben. So hat es die vom Senat zum Vorliegen einer extremen Gefahrenlage entwickelten rechtlichen Maßstäbe verfehlt. Es ist in diesem Zusammenhang auch den Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung nicht gerecht geworden und hat seine Entscheidung auf eine zu schmale Tatsachengrundlage gestützt.

14

Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die den Kläger in Afghanistan erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, kann er Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.

15

Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde" (vgl. Urteil vom 12. Juli 2001 - BVerwG 1 C 5.01 - BVerwGE 115, 1 <9 f.> m.w.N.). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. etwa Urteil vom 12. Juli 2001 - BVerwG 1 C 5.01 - a.a.O.).

16

Das Berufungsgericht hat diese rechtlichen Maßstäbe für die verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zwar im Wesentlichen zutreffend wiedergegeben. Seine rechtliche Subsumtion wird jedoch nicht von den getroffenen tatsächlichen Feststellungen getragen. Vor allem fehlt eine tatrichterliche Gesamtwürdigung der den Kläger betreffenden Lebensbedingungen in Afghanistan insbesondere im Hinblick auf die bei der verfassungskonformen Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gebotene erhöhte Wahrscheinlichkeit des Eintritts der extremen Gefahren.

17

Das Berufungsgericht hat sich zwar ausdrücklich auf diesen hohen Wahrscheinlichkeitsmaßstab bezogen und in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des Senats zitiert (UA S. 7). Auch spricht es am Ende seiner Entscheidung zusammenfassend von der "hohen Wahrscheinlichkeit", dass der Kläger durch seine Abschiebung nach Afghanistan zwangsläufig in einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen geraten würde (UA S. 15). Diese rechtliche Schlussfolgerung ist durch die getroffenen tatsächlichen Feststellungen und deren Würdigung aber nicht gedeckt. So ist das Berufungsgericht maßgeblich davon ausgegangen, dass der Kläger sich ausschließlich von Tee und Brot ernähren müsste. Auf der Grundlage dieser Prämisse hat sich das Berufungsgericht von einer Ernährungsmedizinerin die gesundheitlichen Risiken dieser Mangelernährung schildern lassen. Gleichzeitig hat es sich auf Erkenntnisquellen bezogen, nach denen sich jeder zweite Einwohner von Kabul nur von Tee und Brot ernähren kann, 8,9 % der Bevölkerung von Kabul unter akuter Unterernährung leiden und "fast ein Viertel aller Haushalte" in Afghanistan die Grundversorgung an Nahrungsmitteln nicht selbstständig sichern kann (UA S. 11). Das Berufungsgericht hat weiter erwähnt, dass dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 7. März 2008 zufolge internationale Hilfsorganisationen Millionen von Afghanen mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern versorgen und sich die Versorgungslage in Kabul grundsätzlich verbessert hat. Es ist dem aber nicht hinreichend nachgegangen, sondern hat ohne nähere Prüfung gefolgert, dass die Versorgungssituation durch Unterstützungsmaßnahmen der afghanischen Regierung oder internationaler Organisationen nicht wesentlich verbessert werde (UA S. 11 und 12). All dies macht deutlich, dass sich das Berufungsgericht schon bei der Würdigung dieses zentralen Teilkomplexes auf eine zu schmale Tatsachengrundlage gestützt und den erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeitsmaßstab verfehlt hat.

18

Dies gilt auch für die Würdigung der anderen Teilkomplexe. Bei der Möglichkeit, sich eine wirtschaftliche Existenz aus eigener Kraft zu sichern, spricht das Berufungsgericht zwar von einer "hohen Wahrscheinlichkeit", dass dem Kläger diese Sicherung nicht gelingen werde. Es stützt sich dabei aber zum Teil auf Erkenntnisquellen, die sich mit den Chancen befassen, "auf Dauer" eine Arbeit zu finden bzw. eine berufliche "Wiedereingliederung" zu erreichen (UA S. 9).

19

Das Berufungsgericht hat seine Prognose, dass dem Kläger extreme Gefahren drohen, zudem in der Weise gewonnen, dass es bei der Beurteilung der Lebensbedingungen in Afghanistan die erwähnten und weitere sachliche Teilkomplexe u.a. zur Problematik einer winterfesten Unterkunft, medizinischer Versorgung und hygienischer Verhältnisse gebildet hat. Es hat damit die Gefahrenprognose in mehrere hintereinander geschaltete Teilprognosen aufgespalten, deren Schlussfolgerungen aufeinander aufbauen. Die bei dieser Vorgehensweise erforderliche Gesamtprognose, mit der die Lebensbedingungen und die sich daraus für den Kläger ergebenden Risiken anhand des hohen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs insgesamt gewürdigt werden, ist nicht erfolgt. Der vom Berufungsgericht gezogene Gesamtschluss wäre selbst dann rechtsfehlerhaft, wenn dieses bei jedem der von ihm untersuchten Teilbereiche eine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit festgestellt hätte. Denn eine hohe Wahrscheinlichkeit hinsichtlich der Verwirklichung jedes Einzelglieds einer Kausalkette rechtfertigt ohne wertende Gesamtbetrachtung nicht zwingend den Schluss, dass das am Ende stehende Ergebnis ebenfalls mit dem gleichen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad eintritt. Unverzichtbar ist vielmehr eine Gesamtwürdigung dahingehend, dass die von der Ernährungsmedizinerin beschriebenen schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr des Klägers eintreten würden.

20

Dadurch, dass das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung den erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeitsmaßstab verfehlt hat, ist auch seine Aussage nicht tragfähig, dass der Kläger "alsbald" in eine extreme Gefahrenlage geraten würde. Im Übrigen spricht viel dafür, dass das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang einen zu weiten Maßstab angewendet hat. Denn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts droht dem Kläger nicht der Hungertod, sondern ein körperlicher Verfallsprozess, der durch Mangelernährung und eine dadurch erhöhte Infektanfälligkeit ausgelöst werden kann. Dass die extreme Gefahr unter diesen Umständen mit hoher Wahrscheinlichkeit "alsbald" eintritt, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt.

21

Dadurch, dass das Berufungsgericht die rechtlichen Maßstäbe fehlerhaft angewendet hat, hat es auch seine tatrichterliche Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) fehlerhaft gebildet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der Überzeugungsgrundsatz dann verletzt, wenn die Überzeugungsbildung - wie hier - an inneren Mängeln leidet (vgl. etwa Beschluss vom 14. August 1998 - BVerwG 4 B 81.98 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 280). Ein Mangel bei der Überzeugungsbildung liegt zusätzlich auch insoweit vor, als das Berufungsgericht von fehlender familiärer Unterstützung für den Kläger in Afghanistan ausgegangen ist. Der Umstand, ob ein Rückkehrer auf eine derartige Unterstützung rechnen kann, ist für das Berufungsgericht von wesentlicher Bedeutung gewesen. So führt es beispielsweise aus, da in Afghanistan staatliche soziale Sicherungssysteme nicht vorhanden seien, werde die "soziale Absicherung ... (von) Familien und Stammesverbänden" übernommen (UA S. 11). Das Berufungsurteil lässt jedoch nicht erkennen, worauf sich die Überzeugung gründen lässt, dass im Entscheidungsfall eine familiäre Unterstützung fehlt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht hat der Kläger ausweislich des Sitzungsprotokolls erklärt, er habe in Afghanistan keine Verwandten und auch keine Bekannten mehr. Jedenfalls habe er "insoweit keinerlei Kontakte mehr". Der Bedeutung dieser Äußerung ist das Berufungsgericht nicht weiter nachgegangen. Das Berufungsgericht hat sich auch nicht damit befasst, von wem der Kläger als Minderjähriger nach dem Tod seiner Eltern bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan unterstützt worden ist. Auch zu denkbaren Unterstützungsmaßnahmen seitens seines Stammes verhält sich das Berufungsurteil nicht.

22

Bei der Überzeugungsbildung des Berufungsgerichts und der Darstellung der Gründe, die für seine Überzeugungsbildung leitend gewesen sind, ist schließlich zu beanstanden, dass sich das Berufungsgericht mit der gegenteiligen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte nur unzureichend auseinandergesetzt hat. Vier - vom Berufungsgericht zitierte - Oberverwaltungsgerichte haben verneint, dass Rückkehrern wie dem Kläger extreme Gefahren in Afghanistan drohen. Sie haben insbesondere die Hilfsmaßnahmen internationaler Organisationen und auch die Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt in Afghanistan abweichend beurteilt. Zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung hat kein anderes Oberverwaltungsgericht die Einschätzung des Berufungsgerichts geteilt. Das Argument des Berufungsgerichts, den anderen Oberverwaltungsgerichten hätten die von ihm eingeholten Erkenntnismittel nicht vorgelegen, trägt jedenfalls insoweit nicht, als es um die für das Berufungsgericht zentralen Ausführungen der Ernährungsmedizinerin geht. Denn diese ist auf der Grundlage einer vom Berufungsgericht aus dem Gesamtzusammenhang herausgelösten (hypothetischen) Einzelprämisse gehört worden.

23

Bei der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist ein Gericht gehalten, den Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung und die gebotene Auseinandersetzung mit abweichender Tatsachen- und Lagebeurteilung anderer (Ober-)Verwaltungsgerichte in besonderer Weise gerecht zu werden. Dies ist dem Berufungsgericht, wie ausgeführt, in mehrfacher Hinsicht nicht gelungen.

24

Für das erneute Berufungsverfahren weist der Senat darauf hin, dass es sich vorliegend um ein Asylfolgeverfahren handelt und deshalb zunächst die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens zu prüfen sind (vgl. Urteil vom 20. Oktober 2004 - BVerwG 1 C 15.03 - BVerwGE 122, 103 <105 ff.> m.w.N.). Diese Prüfung hat das Berufungsgericht bisher nicht durchgeführt.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 3. Mai 2006 - A 4 K 12446/05 - geändert. Nr. 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12.07.2005 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Sri Lanka nach § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.

Der Kläger trägt 2/3 und die Beklagte 1/3 der Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens beider Rechtszüge.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der am … 1976 geborene Kläger ist srilankischer Staatsangehöriger tamilischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 04.09.1995 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik ein, wo er am 06.09.1995 die Anerkennung als Asylberechtigter beantragte. Bei seinen Anhörungen im September 1995 trug er vor: Er habe in Sri Lanka im Jaffna-Gebiet gelebt. 1993 sei sein älterer Bruder von der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) erschossen worden. Im Dezember 1994 habe er nach Colombo gehen wollen, weil er Angst gehabt habe, von der Tigerbewegung getötet zu werden. In Vavuniya sei er am 01.12.1994 von der Armee festgenommen worden. Wegen vorhandener Verletzungen sei er verdächtigt worden, Tiger-Angehöriger zu sein. Im Rahmen seiner Festnahme sei er auch gefesselt und geschlagen worden. Am 12.12.1994 sei er wieder freigelassen worden. Sein in Vavuniya lebender Onkel habe ihn freigekauft. Dieser habe ihm geraten, das Land zu verlassen. Mit der Tigerbewegung habe er keine Probleme gehabt, aber er sei vor fünf Jahren bei einem Hubschrauberangriff der Armee auf sein Dorf am Arm angeschossen und schwer verletzt worden. Mit Bescheid vom 06.10.1995 lehnte das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt -) den Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte zugleich fest, das die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. sowie Abschiebungshindernisse im Sinne des § 53 AuslG a.F. nicht vorliegen. Auf die hiergegen beim Verwaltungsgericht Stuttgart erhobene Klage wurde die Beklagte mit (rechtskräftigem) Urteil vom 20.01.1998 (- A 3 K 16180/95 -) unter Aufhebung des Bescheids vom 06.10.1995 verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. vorliegen. Dem kam das Bundesamt mit Bescheid vom 19.03.1998 nach.
Der Kläger ist in der Bundesrepublik wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten: Er wurde vom Amtsgericht Ludwigsburg am 28.01.1997 (- 8 CS 52 JS 98074/96 1245 VRS -) zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen, am 21.07.1997 (- 8 CS 57 JS 42838/97 1245 VRS -) zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen und am 11.11.1997 (- 8 CS 57 JS 83514/97 1245 VRS -) zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen - jeweils wegen Verstößen gegen das Asylverfahrensgesetz - verurteilt. Eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen erhielt er durch das Amtsgericht Ludwigsburg am 30.12.1997 (- 8 CS 57 JS 92701/97 1245 VRS -) wegen Leistungserschleichung in drei Fällen, Diebstahls und Beihilfe zum versuchten geringwertigen Betrug. Am 23.04.1998 wurde er durch das Amtsgericht Stuttgart (- B 18 CS 104 JS 13988/98 1245 VRS -) wegen Missbrauchs von Ausweispapieren zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen verurteilt. Durch Beschluss des Amtsgerichts Ludwigsburg vom 20.07.1998 (- 8 CS 57 JS 42838/97 1245 VRS) wurde aus den Entscheidungen des Amtsgerichts Ludwigsburg vom 21.07.1997 und vom 30.12.1997 eine nachträgliche Gesamtstrafe von 42 Tagessätzen gebildet. Mit Urteil vom 02.11.2000 (- 16 KLS 201 JS 82491/99 3253 VRS -) wurde er vom Landgericht Stuttgart wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 22 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger war Mitglied einer im Stuttgarter Raum ansässigen Gruppierung srilankischer Staatsangehöriger tamilischer Volkszugehörigkeit, die sich zusammenfand, um eine unbestimmte Anzahl von Personen zumeist tamilischer Volkszugehörigkeit ohne das erforderliche Einreisevisum nach Deutschland und die eingereisten oder andere in Deutschland aufenthaltsberechtigte Personen von Stuttgart aus über den Seeweg - via Frankreich oder Belgien unter Verstoß gegen Einreisebestimmungen - nach Großbritannien zu bringen. Die Ausreisewilligen hatten hierfür erhebliche Geldbeträge zu zahlen. Der Kläger begleitete zusammen mit Mittätern die Personen, die ohne die erforderlichen Einreisepapiere über Frankreich oder Belgien nach Großbritannien gelangen wollten, bis zu den Kanalhäfen nach Belgien oder Frankreich. Sie suchten auf Lkw-Parkplätzen geeignete Speditionslaster, die auf dem Weg nach Großbritannien waren. Sie öffneten die Planen der Lkws, versteckten die Ausreisewilligen auf der Ladefläche und verplombten anschließend die Planen wieder. Der Kläger führte auch eigenverantwortlich zahlreiche Personentransporte unter Verstoß gegen Einreise- und Ausreisebestimmungen durch. Hierfür setzte er zwei Fahrer ein. Auch andere Mitglieder der Gruppe organisierten teilweise selbständig Schleusungsfahrten und halfen sich gegenseitig - etwa mit Fahrern oder Vermittlung von „know how“ - aus. Das gemeinsame Interesse ging dahin, Anlaufstelle für ausreisewillige Personen zu sein, um sämtlichen Mitgliedern der Gruppe eine dauernde Einnahmequelle zu verschaffen. Der Kläger erhielt für jeden ausreisewilligen Erwachsenen, den er nach Belgien oder Frankreich brachte, ca. 1.100,-- DM bzw. erhoffte sich einen Betrag in dieser Höhe. In der Zeit von August 1999 bis Januar 2000 führte der Kläger 22 Fahrten durch, bei denen er zusammen mit einem von ihm bezahlten Fahrer die Schleusungswilligen nach Belgien oder Frankreich brachte. Im Rahmen einer der Fahrten im Zeitraum vom 22.10.1999 bis 24.10.1999 wurde der Kläger von der belgischen Polizei festgenommen und befand sich bis zum 23.11.2000 in belgischer Haft. Im Anschluss hieran setzte er seine Schleusertätigkeit fort, bis er am 23.01.2000 von der deutschen Polizei festgenommen wurde. Der Kläger wurde am 09.04.2003 - bei einer Bewährungszeit von drei Jahren - aus der Haft entlassen. Am 28.02.2005 wurde er vom Amtsgericht Limburg an der Lahn (- 7 JS 4989/05 52CS -) wegen Diebstahls und Unterschlagung geringwertiger Sachen zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt. Daraufhin wurde die Bewährungszeit um ein Jahr bis zum 21.03.2007 verlängert. Am 09.05.2007 verurteilte ihn das Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt (- C 3 Cs 34 Js 37383/07 3258 VRs -) wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen. Am 29.01.2008 wurde er vom Amtsgericht Tübingen (- 4 Cs 15 Js 21770/07 960 VRs -) wegen gefährlichen Eingriffen in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit Nötigung zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt, die Fahrerlaubnis wurde ihm bis zum 28.07.2008 gesperrt.
Mit bestandskräftiger Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 17.04.2002 wurde der Kläger aus dem Bundesgebiet ausgewiesen.
Mit Schreiben vom 13.10.2004 gab das Bundesamt dem Kläger Gelegenheit, sich innerhalb eines Monats zum beabsichtigten Widerruf des Anerkennungsbescheids vom 19.03.1998 zu äußern. Es führte zur Begründung an, die Sachlage in Sri Lanka habe sich geändert. Eine Gruppenverfolgung der Tamilen bestehe inzwischen nicht mehr. Unabhängig hiervon stehe der Großraum Colombo als inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Auch die in seinem Fall als Grundlage für die Anerkennung als Asylberechtigter durch das Verwaltungsgericht Stuttgart angenommene Festnahme durch srilankische Sicherheitskräfte vor seiner Ausreise führe zu keiner anderen Einschätzung. Mit Schreiben vom 18.10.2004 wandte der Kläger ein, unverändert ließen die Verhältnisse in Sri Lanka eine Rückkehr nicht zu. Weiter habe er nach der Verhaftung am 23.01.2000 in einem „Schleuserverfahren“ „ausgepackt“ und dadurch dazu beigetragen, dass eine Reihe von Schleusern hätten überführt werden können. Sein Vater sei am 26.05.2001 von der LTTE erschossen worden. Die von ihm Verratenen hätten die LTTE mit monatlichen Beiträgen unterstützt. Die Ermordung des Vaters sei eine Reaktion auf sein Verhalten gewesen. Bei einer Rückkehr würde er sicher ebenfalls unbeschadet des stagnierenden Friedensprozesses als Verräter umgebracht werden. Er bedauere seine Straftaten. Eine Wiederholung sei im Übrigen schon dadurch ausgeschlossen, dass er für die einschlägigen Kreise durch seine Zusammenarbeit mit der Polizei „verbrannt“ sei. Das Bundesamt widerrief mit Bescheid vom 12.07.2005 die Anerkennung als Asylberechtigter (Nr. 1) sowie die mit Bescheid vom 19.03.1998 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 AuslG a.F. vorliegen (Nr. 2). Gleichzeitig stellte es fest, dass weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 3) noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen (Nr. 4). In der Begründung heißt es im Wesentlichen: Der Kläger habe bei einer Rückkehr in seine Heimat nicht mehr mit politisch motivierter Verfolgung zu rechnen. Soweit im verpflichtenden Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart festgestellt worden sei, dass er aufgrund der Narben als LTTE-Zugehöriger angesehen werden könne, könne dies nunmehr keine besondere Gefährdung mehr darstellen. Er sei nach eigener Aussage bereits fast zehn Jahre lang nicht mehr in seiner Heimat gewesen, was auch den srilankischen Sicherheitskräften nicht verborgen bleiben dürfte, wenn er jetzt nach Sri Lanka zurückkehren würde. Allein diese lange Abwesenheit aus der Heimat beweise bereits, dass er nicht der LTTE zugehörig sei. Die Einlassung, er habe in einem Schleuserverfahren ausgesagt und deshalb drohe ihm bei einer Rückkehr der Tod, könne nicht nachvollzogen werden. Es sei nicht substantiiert dargetan worden, inwieweit seine Aussagen im Schleuserverfahren in Zusammenhang mit einer potentiellen Gefahr bei einer Rückkehr stünden. Auf Grund seiner tamilischen Volkszugehörigkeit habe er politische Verfolgung nicht mehr zu befürchten. Seit dem 24.12.2001 hielten Regierung und LTTE eine Waffenruhe ein.
Die hiergegen am 18.07.2005 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom 03.05.2006 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Beklagte habe zu Recht von der zwingenden Vorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG Gebrauch gemacht. Eine von der Rechtskraft befreiende entscheidungserhebliche Änderung der Sachlage sei im Falle des Klägers gegeben, berücksichtige man die für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen wesentlichen Faktoren, wie die allgemeine und politische Lage und die allgemeine Menschenrechtslage in Sri Lanka. Die frühere Verfolgungsprognose sei darauf gestützt gewesen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungsmaßnahmen der LTTE im Norden zu rechnen habe und eine Inhaftierung durch die Sicherheitskräfte im Süden des Landes erlitten hätte. Diese für den Kläger angenommene Gefährdungslage habe sich so nachhaltig verändert, dass auf sie die angenommene Verfolgungsprognose nicht mehr gestützt werden könne. Vielmehr sei er jetzt vor einer derartigen Verfolgung hinreichend sicher.
Mit der vom Senat durch Beschluss vom 15.01.2009 - 4 S 656/06 -antragsgemäß zugelassenen Berufung beantragt der Kläger,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 03. Mai 2006 - A 4 K 12446/05 - zu ändern und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12.07.2005 aufzuheben,
hilfsweise,
die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 4 des Bescheids vom 12.07.2005 zu verpflichten festzustellen, dass bei ihm ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Sri Lanka nach § 60 Abs. 2 AufenthG,
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hilfsweise nach § 60 Abs. 5 AufenthG,
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hilfsweise nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt.
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Zur Begründung trägt er vor: Die Situation in Sri Lanka habe sich weiter drastisch verschlechtert. Im Hinblick auf die aktuelle Verfolgungssituation der tamilischen Minderheit in Sri Lanka liege die Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung, jedenfalls für Untergruppen jüngerer Tamilinnen und Tamilen im Rekrutierungsalter der LTTE sowie der paramilitärischen tamilischen Gruppierungen, mithin im Alter von etwa 15 bis etwa 40 Jahren, vor. Insoweit bestehe zwischen allen Personen und Institutionen, die in letzter Zeit Berichte zur Menschenrechtsituation in Sri Lanka abgegeben hätten, Einigkeit dahingehend, dass von einer drastischen Verschärfung der Verfolgungssituation für Tamilen in Sri Lanka seit dem Amtsantritt des jetzigen Präsidenten gesprochen werden müsse. Die srilankische Regierung verfolge eine allein militärische Strategie und wolle die LTTE „niederwerfen“. Dies habe zu einem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs geführt, der bis heute andauere. Im Zuge dieses Bürgerkriegs sei zu konstatieren, dass Angehörige der tamilischen Minderheit einem „Generalverdacht“ unterlägen, die LTTE als separatistische Ziele verfolgende Gruppierung zu unterstützen. Gerade auf Grund des angesprochenen Generalverdachts müsse jedes Mitglied der tamilischen Bevölkerung in Sri Lanka, zumindest Angehörige dieser Ethnie in der vorstehend gebildeten Untergruppe, damit rechnen, willkürlich inhaftiert, misshandelt und gegebenenfalls auch getötet zu werden. Die Zahlen der hiervon Betroffenen - soweit überhaupt feststellbar - seien extrem nach oben geschnellt, so habe die Zahl der Verschwundenen in Sri Lanka im letzten Jahr derart zugenommen, dass Sri Lanka im Weltvergleich einen unrühmlichen Spitzenplatz einnehme. Die nunmehrigen gesetzlichen Bestimmungen - sofern selbst diese noch eingehalten würden - erlaubten es den srilankischen Sicherheitsorganen, Personen praktisch grenzenlos festzuhalten, ohne dass eine effektive gerichtliche Überprüfung möglich sei. Es sei zu konstatieren, dass es offenbar staatlichem Willen entspreche, die Sicherheitskräfte völlig grenzen- und kontrolllos walten zu lassen, ohne dass diese in irgendeiner Art und Weise befürchten müssten, bei menschenrechtswidrigen Übergriffen zur Verantwortung gezogen zu werden. Erst recht gelte dies dann für Angehörige der paramilitärischen Gruppierungen wie etwa der sogenannten Karuna-Gruppe, die im Osten Sri Lankas nach den Ausführungen des Auswärtigen Amts förmlich eine „Schreckensherrschaft“ etabliert hätten. Bei dieser Situation sei die Lage für Angehörige der tamilischen Minderheit vollkommen aussichtslos, es bleibe allein dem Zufall überlassen, ob sie Opfer derartiger Übergriffe würden oder nicht. Die Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung lägen daher vor, dies gelte erst recht für die Gruppe jüngerer Tamilinnen und Tamilen, denen - wie bereits in den 90er Jahren - in besonderem Maße pauschal eine Affinität zur LTTE unterstellt werde und die deshalb erst recht mit asylrelevanten Maßnahmen der vorstehend beschriebenen Art und Weise rechnen müssten. Dies müsse insbesondere dann gelten, wenn ein tamilischer Flüchtling seine Heimat seinerzeit auch individuell unter dem Druck entsprechender Verfolgungsmaßnahmen bzw. der konkreten Gefahr derartiger Verfolgungsmaßnahmen verlassen habe. Er habe - unbestritten und auch im Widerrufsverfahren nicht in Frage gestellt - vorgetragen, dass er Sri Lanka verlassen habe, weil er asylrechtlich erhebliche Übergriffe sowohl von Seiten der srilankischen Sicherheitsbehörden als auch von Seiten der LTTE befürchte. Angesichts der vorstehend skizzierten Situation in Sri Lanka sei davon auszugehen, dass derartige Verfolgungsmaßnahmen weiterhin zumindest überwiegend wahrscheinlich seien, jedenfalls nicht - nur dies könne einen Widerruf rechtfertigen - nach menschlichem Ermessen praktisch ausgeschlossen seien. Soweit die Beklagte auf § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG abstelle, weise sie selbst darauf hin, dass es nach der Verurteilung im Jahr 2005 keinerlei Auffälligkeiten mehr gegeben habe. Strafrechtliche Verfehlungen seien also seitdem über einen Zeitraum von ca. 5 Jahren nicht mehr aufgetreten. Die Wertung der Beklagten, seine Bestrafung habe bei ihm keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, sei nicht nachvollziehbar.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie führt aus: Es entspreche ihrer grundsätzlichen gegenwärtigen Praxis, Widerrufsbescheide in Verfahren srilankischer Staatsangehöriger tamilischer Herkunft im Hinblick auf die zur Zeit fragliche hinreichende Rückkehrsicherheit aufzuheben. Die Voraussetzungen für das weitere Bestehen der Asylanerkennung bzw. der Feststellung eines Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG a.F. sei in Bezug auf den Kläger aber gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG weggefallen. Insoweit verweist die Beklagte auf ihre Ausführungen im Berufungszulassungsverfahren, wonach bei dem Kläger die konkrete Gefahr gegeben sei, dass er im Bundesgebiet weitere schwere Straftaten begehe. Hierfür spreche zunächst die gesamte „kriminelle Karriere“ des Klägers, der bereits vor seiner Asylanerkennung mehrfach straffällig geworden sei und dessen Straftaten sich bis zu der Verurteilung vom 02.11.2000 in ihrer Schwere gesteigert hätten. Die Verurteilung wegen des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 22 Fällen belege, dass der Kläger in ein kriminelles Netzwerk eingebunden gewesen sei und mit hoher krimineller Energie gehandelt habe. Nach der Aussetzung der zu verbüßenden Restfreiheitsstrafe zur Bewährung habe er sich des Diebstahls und der Unterschlagung schuldig gemacht und dadurch seine rechtsfeindliche Gesinnung gezeigt. Das Wohlverhalten, welches der Kläger seit zwei Jahren augenscheinlich zeige, könne nicht verdecken, dass er fast während seines gesamten bisherigen Aufenthalts in Deutschland eine kriminelle Existenz am Rande der Gesellschaft geführt habe und dass er überwiegend von Gelegenheitsarbeiten und Sozialhilfe gelebt habe. Nach der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 17.04.2002 sei die religiös angetraute Ehefrau des Klägers ebenfalls wegen Straftaten aus Deutschland ausgewiesen worden. Anhaltspunkte für eine nachhaltige, positive Veränderung der persönlichen Verhältnisse des Klägers lägen nicht vor. Daher rechtfertige die langdauernde, schwere Straffälligkeit des Klägers die Prognose, dass von ihm weitere Straftaten mittelfristig zu erwarten seien. Straftaten, die so schwerwiegend seien, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt hätten, seien typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verbunden. Dieser Einschätzung stehe die Aussetzung eines Strafrests zur Bewährung grundsätzlich nicht entgegen. Im Hinblick auf die bereits solchermaßen gegebene Rechtmäßigkeit der Widerrufsentscheidung komme es nicht entscheidungserheblich darauf an, ob sich die tatsächliche Verfolgungssituation im Herkunftsland geändert habe. Der Kläger sei zeitnah zur Aussetzung des Strafrests zur Bewährung im Jahr 2004 wiederum straffällig geworden, was zur erneuten Verurteilung im Jahr 2005 und zu einer einjährigen Verlängerung der Bewährungsfrist geführt habe. Allein hierdurch habe der Kläger demonstriert, dass die bis dato erfolgten Verurteilungen im Ergebnis keinen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen hätten. Etwaige Abschiebungshindernisse lägen ebenfalls nicht vor. Hier sei der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen. Insoweit sei festzustellen, dass die tamilische Bevölkerung zwar allein auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit nicht systematisch verfolgt werde, dass aber eine Art Generalverdacht der Sicherheitskräfte gegen sie bestehe, der im Einzelfall bei Vorverfolgung zu einer erneuten Beeinträchtigung der Sicherheit führen könne. Jeder, der der Nähe zur LTTE verdächtigt werde, müsse mit Verhaftung rechnen. Nach aktuellen Erkenntnissen kontrolliere die LTTE gegenwärtig nur noch ein Gebiet in der Größe von ca. 60 Quadratkilometern. Sofern die Rebellen - erwartungsgemäß - deshalb zukünftig einen Guerillakampf führen würden, sei davon auszugehen, dass sich die Sicherheitskräfte dann noch gezielter als bisher auf die Bekämpfung aktiver, die Sicherheit des Landes konkret bedrohender LTTE-Anhänger konzentrieren würden. Der Kläger sei dieser Personengruppe nicht zuzurechnen. Er habe nicht glaubhaft machen können, während seines Aufenthalts im Bundesgebiet den Kampf der LTTE in seinem Heimatland mit persönlichem Einsatz unterstützt bzw. die Ziele der genannten Terrorgruppe in irgendeiner sonstigen Weise gefördert zu haben. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte führe in seinem Urteil vom 17.07.2008 - Application no. 25904/07 - aus, dass für nach Colombo zurückkehrende Tamilen keine generelle Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung bestehe. Es bedürfe vielmehr der individuellen Prüfung eines jeden Einzelfalls. Zu berücksichtigen sei in diesem Zusammenhang, dass allein im Großraum der Hauptstadt Colombo mehr als 300.000 Tamilen lebten. Die Internetseite TAMILNET berichte kontinuierlich von angeblichen Kontrollen und Inhaftierungen (angeblich meist junger) Tamilen. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Aussagen handele es sich allerdings schon nach den weiteren dortigen Behauptungen lediglich um einen Personenkreis von ca. 60 Betroffenen pro Woche, der zudem mehrheitlich nach der Personenkontrolle wieder freigelassen werde. Es liege auf der Hand, dass hierdurch eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Inhaftierung nicht abgeleitet werden könne. Ebenso wenig sei beachtlich wahrscheinlich, dass ausgerechnet der Kläger - bei rein theoretischer Unterstellung einer vorübergehenden Festnahme - gelegentlich einer etwaigen solchen Kontrolle einer rechtswidrigen Behandlung unterzogen würde, die die Feststellung eines Abschiebungshindernisses z.B. gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG rechtfertige.
16 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung angehört; hierzu wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
17 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts-, die vorgelegten Behörden- sowie die beigezogenen Strafakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
18 
Der Senat konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten verhandeln und entscheiden; denn auf diese Möglichkeit war in der auch im Übrigen ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen worden (§§ 125 Abs. 1, 102 Abs. 2 VwGO).
19 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist zum Teil begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht in vollem Umfang abgewiesen. Zwar erweist sich der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 12.07.2005 im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG) als rechtmäßig, soweit die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter sowie die mit Bescheid vom 19.03.1998 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. vorliegen, widerrufen worden sind und festgestellt wird, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen (hierzu unter 1.). Der streitgegenständliche Bescheid ist aber rechtswidrig, soweit er unter Nr. 4 feststellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, denn der Kläger hat - wie hilfsweise begehrt - einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Sri Lanka nach § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt (hierzu unter 2.).
20 
1. Ermächtigungsgrundlage für die Widerrufsentscheidung des Bundesamts ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Diese Bestimmung ist verfassungsgemäß (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21.04 -, DVBl. 2006, 511).
21 
Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind - vorbehaltlich des Satzes 3 - die Asylanerkennung und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. die bisherige Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG a.F.) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Das ist hier der Fall.
22 
Die Voraussetzungen sind gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG weggefallen. Nach dieser Bestimmung findet § 60 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG schließt nicht nur den Anspruch gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG aus, sondern auch den Anspruch auf Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG. Dies ergibt sich bei systematischer Gesetzesauslegung schon aus § 30 Abs. 4 AsylVfG, wonach ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG vorliegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.03.1999 - 9 C 31.98 -, BVerwGE 109, 1; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008 - 15 A 620/07.A -, juris, OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 01.12.2006 - 10 A 10887/06 -, juris).
23 
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG liegen insoweit vor, als der Kläger durch (rechtskräftiges) Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 02.11.2000 wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 22 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden ist.
24 
Weiter zu prüfen ist, ob der Kläger auch noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt als Gefahr für die Allgemeinheit i.S.v. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG anzusehen ist. Dabei ist spezialpräventiv auf die von dem Ausländer konkret ausgehende Wiederholungs- oder Rückfallgefahr abzustellen. Das bedeutet, dass in Zukunft eine Gefahr für die Allgemeinheit durch neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft drohen muss, die lediglich entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten genügt dagegen nicht. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zu dem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Dabei ist die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegende Wertung zu beachten, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind. Allein der Umstand, dass der Ausländer die Freiheitsstrafe verbüßt hat, lässt nicht auf einen Wegfall des Wiederholungsrisikos schließen. Denn rechtskräftige Verurteilungen im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG führen regelmäßig zur Verbüßung der Freiheitsstrafe, da eine Aussetzung ihrer Vollstreckung zur Bewährung nach § 56 StGB wegen der Strafhöhe von vornherein nicht in Betracht kommt. Würde der bloße mit der Strafverbüßung verbundene Zeitablauf regelmäßig zum Wegfall des Ausschlussgrundes führen, liefe die Vorschrift praktisch weitgehend leer. Dies gilt zumal in Asylverfahren, da es hier gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG im Falle eines Rechtsstreits auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, BVerwGE 112, 185 ff. zu der inhaltsgleichen Vorgängerregelung in § 51 Abs. 3 AuslG a.F.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.).
25 
Von diesen Grundsätzen ausgehend ist beim Kläger eine konkrete Wiederholungsgefahr der Begehung neuer vergleichbarer Straftaten zu bejahen.
26 
Insofern spricht gegen den Kläger bereits das typischerweise hohe Wiederholungsrisiko bei Straftaten, die eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren nach sich gezogen haben, zumal im vorliegenden Fall die verhängte Strafe die gesetzliche Mindeststrafe des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG um zwei Jahre übersteigt. Die vom Kläger verwirklichte Straftat gemäß § 92b Abs. 1 AuslG a.F. gehört zu den besonders schweren Formen des Schleusens illegaler Ausländer und ist Ausdruck erheblicher krimineller Energie. Zu Gunsten des Klägers spricht nach dem Strafurteil vom 02.11.2000 im Wesentlichen, dass er schon bei seiner polizeilichen Vernehmung Taten angegeben hat, die sonst nicht bekannt geworden wären, und er auch einen Großteil der Taten in der strafrechtlichen Hauptverhandlung einräumte. Hinzu kommen sein von Reue getragenes Geständnis und der Umstand, dass ihn die erlittene (Untersuchungs-)Haft als Erstverbüßer, der zudem der deutschen Sprache nicht mächtig ist, besonders hart trifft. Zu Lasten des Klägers ist nach den Ausführungen des Strafgerichts dagegen zu berücksichtigen, dass er im Rahmen der Stuttgarter Gruppierung Organisator eigener Schleusungsfahrten war und es sich um eine Vielzahl von Taten handelte, die teilweise innerhalb sehr kurzer Zeiträume begangen wurden. Hierbei wurde vom Strafgericht allerdings auch berücksichtigt, dass mit zunehmender Anzahl der Taten die zu überwindende Hemmschwelle abnahm. Zu Lasten des Klägers wurde weiter berücksichtigt, dass er die in Belgien erlittene Haft als Warnung nicht beachtet und nach seiner Haftentlassung die Schleusertätigkeit fast umgehend wieder aufgenommen hat. Gegen den Kläger spricht nach dem Strafurteil weiterhin die Vorbestrafung, auch wenn es sich hierbei lediglich um Verurteilungen zu Geldstrafen gehandelt hat. Der Kläger hat mit seinem Verhalten gezeigt, dass er bereit ist, gegebenenfalls seinen Lebensunterhalt auch mit schwerwiegenden Verstößen gegen die Rechtsordnung zu bestreiten.
27 
Der Beschluss des Landgerichts Karlsruhe - Auswärtige Strafvollstreckungskammer Pforzheim - vom 07.03.2003 (- StVK 137/03 -), mit dem die weitere Vollstreckung der Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 02.11.2000 zur Bewährung ausgesetzt worden ist, steht der Annahme einer Wiederholungsgefahr ebenso wenig entgegen wie der Beschluss vom 16.06.2005, mit dem die Bewährungszeit des Klägers um ein Jahr auf insgesamt vier Jahre (bis 21.03.2007) verlängert worden ist. Die im Zusammenhang mit der Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zu treffende Entscheidung der Strafgerichte bindet weder die für die Anwendung des § 60 Abs. 8 AufenthG zuständigen Behörden noch die Verwaltungsgerichte (vgl. BVerwG, Urteile vom 31.03.1998 - 1 C 28.97 -, NVwZ 1998, 740, und vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, NVwZ 2001, 442; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.) Das Bundesamt bzw. das dessen Entscheidungen überprüfende Verwaltungsgericht haben vielmehr eine eigenständige Prognose bezüglich des Bestehens einer Wiederholungsgefahr zu treffen. Dies gilt schon deshalb, weil der anzulegende Prognosemaßstab in beiden Fällen ein anderer ist (vgl. zu § 57 Abs. 1 StGB: BVerwG, Urteil vom 16.11.2000, a.a.O.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.). Bei der strafgerichtlichen Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung stehen naturgemäß Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund (auch wenn gemäß der seit 1998 geltenden Fassung des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit besonders zu berücksichtigen ist). Eine günstige Sozialprognose in dem Sinn, dass verantwortet werden kann, den Verurteilten in Freiheit zu erproben, setzt keine weitgehende Gewissheit des Erfolgs der Bewährungsaussetzung voraus, sondern kann auch bei Bestehen eines gewissen Restrisikos getroffen werden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 26.02.1999 - 2 WS 14/99 -, StraFO 1999,175). Dabei kann das Strafgericht zu einer günstigen Sozialprognose auch unter Heranziehung der Erwägung gelangen, dass der von der Vollstreckung ausgesetzte Strafrest einen nachhaltigen Druck auf den Verurteilten ausüben wird, sich in der Bewährungszeit straffrei zu verhalten (vgl. BGH, Beschluss vom 15.01.1990 - 1 StE 3/81 StB 39/89 -, EzSt StGB § 57 Nr. 1). Demgegenüber haben Ausländerbehörde und Verwaltungsgericht ausschließlich ordnungsbehördliche Überlegungen anzustellen, in deren Mittelpunkt der Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten des Ausländers steht. Sie sind, da Resozialisierungsgesichtspunkte bzw. den obigen Überlegungen vergleichbare Vorgaben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielen, bei der Einschätzung des Maßes der Wiederholungsgefahr nicht gehalten, ein gleich großes Restrisiko in Kauf zu nehmen wie die Strafgerichte. Ihre Prognose orientiert sich daher im Regelfall an strengeren Kriterien. Unabhängig davon verlangt die ausländerrechtlich erforderliche Prognose - im Gegensatz zu der der Strafgerichte im Rahmen des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB - eine über die Bewährungsdauer hinausgehende längerfristige Gefahrenprognose (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000, a.a.O.). Das bedeutet, dass auch die Frage prognostisch zu beantworten ist, ob der Ausländer sich nach Ablauf der Bewährungszeit, d. h. wenn der Druck der bei Bewährungsversagen drohenden Verbüßung der Reststrafe weggefallen ist, voraussichtlich straffrei verhalten wird. Schließlich können Umstände, die den Strafgerichten nicht bekannt gewesen oder von ihnen nicht beachtet worden sind, ebenso wie eine andere Würdigung des feststehenden Sachverhalts zu einer abweichenden Prognoseentscheidung führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000, a.a.O.). Die Entscheidungen der Strafgerichte gemäß § 57 Abs. 1 StGB haben nach alledem lediglich die Bedeutung eines - regelmäßig allerdings gewichtigen - Indizes (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.).
28 
Hiervon ausgehend rechtfertigt der Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom 07.03.2003 nicht die Annahme, dass von dem Kläger auch längerfristig keine Gefahr für die Allgemeinheit i.S.v. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG mehr ausgeht. Das Gericht war davon überzeugt, dass die lange Dauer der Untersuchungs- und der anschließenden Vollstreckungshaft ausreichend Eindruck auf den Kläger gemacht habe, sich künftig straffrei zu führen. Die nachfolgenden - wenn auch nur mit Geldstrafen geahndeten - drei Straftaten zeigen jedoch, dass diese Annahme verfehlt war. Der Kläger hat die erste Straftat nach der Verurteilung vom 02.11.2000 am 14.11.2004 und damit noch innerhalb seiner Bewährungszeit begangen. Der Diebstahl einer geringwertigen Sache erfolgte unter Ausnutzung seines damaligen Arbeitsverhältnisses als Reinigungskraft und führte zur Verhängung einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen durch Strafbefehl des Amtsgerichts Limburg an der Lahn vom 28.02.2005. Daraufhin wurde die Bewährungszeit des Klägers um ein Jahr verlängert. Der Kläger hat sich mit diesem straffälligen Verhalten dem Risiko eines Widerrufs der Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus der Verurteilung vom 02.11.2000 ausgesetzt. Der Druck der Bewährungszeit und die damit drohende (weitere) Strafhaft haben ihn nicht von der Begehung einer Straftat abgehalten. Darüber hinaus hat er durch den Diebstahl im Rahmen seiner damaligen Beschäftigung auch arbeitsrechtliche Konsequenzen in Kauf genommen. Das Landgericht konnte bei seiner Prognose auch das Verhalten des Klägers nach der (verlängerten) Bewährungszeit nicht berücksichtigen. Dieser hat unmittelbar, nachdem mit Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom 10.04.2007 die zur Bewährung ausgesetzte Restfreiheitsstrafe erlassen worden war, am 14.04.2007 einen weiteren Diebstahl begangen, der mit Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 09.05.2007 mit einer Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen geahndet wurde. Hinzu kamen die am 15.10.2007 verwirklichten gefährlichen Eingriffe in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Gefährdung des Straßenverkehrs und Nötigung gemäß §§ 315b Abs. 1 Nr. 2 und 3, 315c Abs. 1 Nr. 2b, 240 Abs. 1, 52, 69, 69a StGB, die zu einer vom Amtsgericht Tübingen mit Strafbefehl vom 29.01.2008 verhängten Geldstrafe von 50 Tagessätzen führten. Damit hat der Kläger Straftaten innerhalb seiner Bewährungszeit, unmittelbar danach und auch im zeitlichen Abstand dazu verwirklicht. Die verbüßte Haftstrafe - selbst teilweise der Bewährungsdruck - hat ihn nicht von der Verwirklichung weiterer Straftaten abgehalten und damit erkennbar nicht ausreichend Eindruck auf ihn gemacht, sich künftig straffrei zu führen, wovon das Landgericht Karlsruhe bei der Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung ausgegangen ist.
29 
Zwar hat sich mit der Geburt seines Sohnes im Juli 2008 die familiäre Situation des Klägers geändert. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass den Kläger das Zusammenleben mit seiner religiös angetrauten Ehefrau und deren leiblicher Tochter bislang nicht davon abgehalten hat, weitere Straftaten zu begehen, zumal es sich bei seiner Ehefrau um eine mitangeklagte Mittäterin des mit Strafurteil vom 02.11.2000 geahndeten gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 22 Fällen handelt. Auch wenn er seit der Verurteilung vom 02.11.2000 keine Straftaten von vergleichbarem Gewicht mehr verwirklicht hat, kann unter Berücksichtigung sämtlicher für und gegen den Kläger sprechenden Umstände derzeit eine positive längerfristige Prognose dahingehend, dass er keine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, (noch) nicht gestellt werden.
30 
Ob das Bundesamt den Widerruf unverzüglich im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ausgesprochen hat, ist nicht entscheidungserheblich. Die Pflicht zum unverzüglichen Widerruf dient ausschließlich öffentlichen Interessen. Ein etwaiger Verstoß hiergegen verletzt keine Rechte des betroffenen Ausländers (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005, a.a.O.).
31 
§ 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG steht der Widerrufsentscheidung des Bundesamts nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte). Dadurch soll der Sondersituation solcher Personen Rechnung getragen werden, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Flüchtlingsschicksal erlitten haben und denen es deshalb selbst lange Zeit danach - auch ungeachtet etwaiger veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005, a.a.O.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.11.2007 - A 6 S 1097/05 -, juris). Eine derartiges Verfolgungsschicksal hat der Kläger nach dem seinem Asylbegehren stattgebenden Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 20.01.1998 nicht erlitten. Er hat sich auf derartige Gründe auch im Übrigen nicht berufen.
32 
§ 73 Abs. 2a AsylVfG steht der Widerrufsentscheidung des Bundesamts ebenfalls nicht entgegen.
33 
Schließlich bedarf es keiner Entscheidung, ob die Jahresfrist nach §§ 49 Abs. 2 Satz 2, 48 Abs. 4 VwVfG bei Widerrufsentscheidungen gemäß § 73 Abs. 1 AsylVfG zu beachten ist. Die Jahresfrist wäre hier eingehalten. Ihr Lauf beginnt frühestens nach einer Anhörung des Ausländers mit einer angemessenen Frist zur Stellungnahme (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.11.2005, a.a.O., und vom 08.05.2003 - 1 C 15.02 -, BVerwGE 118, 174). Der Widerrufsbescheid erging am 12.07.2005, nachdem das Bundesamt dem Kläger durch Schreiben vom 13.10.2004 Gelegenheit zur Stellungnahme binnen eines Monats gegeben hatte.
34 
Ist der Widerruf nach dem Vorstehenden bereits gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG wegen der rechtskräftigen Verurteilung des Klägers vom 02.11.2000 und der von diesem nach wie vor ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit gerechtfertigt, so kommt es für dessen Rechtmäßigkeit nicht entscheidungserheblich darauf an, ob sich die tatsächliche Verfolgungssituation des Klägers in Sri Lanka geändert hat, wovon das Bundesamt noch im Bescheid vom 12.07.2005 ausgegangen ist.
35 
Erweist sich somit der angefochtene Widerruf als rechtmäßig, so ist des Weiteren nicht zu beanstanden, dass die Beklagte im Zusammenhang damit festgestellt hat, dass auch die Voraussetzungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen. Die Ermächtigungsgrundlage hierfür ergibt sich aus einer Rechtsanalogie zu den §§ 24 Abs. 2, 31 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, 32, 39 Abs. 2 sowie 73 Abs. 1 bis 3 AsylVfG. Im Hinblick darauf, dass § 60 AufenthG die früheren §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG a.F. ersetzt, gilt nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nichts anderes (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.). Im Übrigen hat die Feststellung ohnehin keinen selbständigen Regelungscharakter. Denn das Nichtvorliegen der genannten Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Widerruf ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des ausgesprochenen Widerrufs (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 38.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 27) und (bereits) in diesem Zusammenhang geprüft worden.
36 
2. Die Klage hat Erfolg, soweit der Kläger - hilfsweise - unter Aufhebung von Nr. 4 des Bescheids des Bundesamts vom 12.07.2005 die Verpflichtung der Beklagten begehrt festzustellen, dass bei ihm ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Sri Lanka nach § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt.
37 
Die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wird durch § 60 Abs. 8 AufenthG nicht ausgeschlossen (vgl. zu § 53 AuslG: BVerfG, Beschluss vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142; BVerwG, Urteil vom 30.03.1999 - 9 C 31.98 -, BVerwGE 109, 1).
38 
Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. § 60 Abs. 2 AufenthG erfasst nicht nur ver-folgungsunabhängige, sondern auch verfolgungstypische Gefahren, die in den Anwendungsbereich des Art. 16a GG und des § 60 Abs. 1 AufenthG fallen.
39 
Erheblich sind die in § 60 Abs. 2 AufenthG benannten Gefahren bzw. Repressalien grundsätzlich nur dann, wenn sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Allerdings gilt - was die Beklagte verkennt - gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12, - Qualifikationsrichtlinie -) im Fall bereits erlittener Schädigung eine Beweiserleichterung. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die Voraussetzungen von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie liegen in der Person des Klägers vor.
40 
Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Stuttgart im Urteil vom 20.01.1998 war der Kläger, der aufgrund vorhandener Narben wegen Verdachts der LTTE-Zugehörigkeit in Sri Lanka durch die Armee festgehalten und misshandelt worden war, von politischer Verfolgung unmittelbar bedroht. Er hat damit Sri Lanka auch nach Maßgabe von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie als Vorverfolgter verlassen (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 -, BVerwGE 128, 199). Es sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass der Kläger bei einer Rückkehr derzeit erneut von einem sonstigen ernsthaften Schaden im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG bedroht wird. Vielmehr ergibt sich aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 07.04.2009, dass sich die Situation für Tamilen in Sri Lanka in den letzten Monaten weiter verschärft hat. Danach gibt es für eine systematische Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen allein wegen ihrer Rasse, Nationalität, Religion oder politischer Überzeugung seit der Aufkündigung des Waffenstillstandabkommens zwischen der Regierung und der LTTE im Januar 2008 immer mehr Anzeichen. Es kommt zu staatlichen repressiven Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen. Davon sind fast ausschließlich Tamilen betroffen, da sie unter dem Generalverdacht stehen, die LTTE zu unterstützen. Tamilen werden nicht allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit systematisch verfolgt, müssen aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - jederzeit mit staatlichen Repressionen rechnen. Die ständigen Razzien, PKW-Kontrollen und Verhaftungen bei Vorliegen schon geringster Verdachtsmomente richten sich vor allem gegen Tamilen. Durch die im Dezember 2006 verfügte Wiederaufnahme des mit dem Waffenstillstandsabkommen 2002 ausgesetzten Sicherheitsgesetzes „Prevention of Terrorism Act“ von 1979 ist die richterliche Kontrolle solcher Verfolgungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wird, muss mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder gar einer Anklageerhebung kommen muss. Jeder, der in den Augen der Sicherheitskräfte der Nähe der LTTE verdächtig ist, muss damit rechnen, verhaftet zu werden. Ein Anfangsverdacht, der LTTE nahe zu stehen, trifft Rückkehrer, die aus den nördlichen oder östlichen Landesteilen stammen und sich nun erstmals in Colombo oder dem Süden niederlassen. Ebenso steht unter Verdacht, wer bereits früher als Anhänger der LTTE auffällig geworden war. Der Kläger, der nicht nur bereits unter LTTE-Verdacht verhaftet und misshandelt worden ist, sondern darüber hinaus aus dem Norden stammt und weiterhin Narben aufweist, muss nach alledem konkret mit einer Verhaftung rechnen. Dass es bei derartigen Verhaftungen auch (erneut) zu Misshandlungen und damit einer zumindest erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG kommen kann, ergibt sich ebenfalls aus dem genannten Lagebericht. Danach hat der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Manfred Novak, nach seinem Sri-Lanka-Besuch im Herbst 2007 festgestellt, dass Folter als gängige Praxis im Rahmen der Terrorismusbekämpfung angewendet wird. Weiter sind dem Auswärtigen Amt im Frühjahr 2007 Fälle bekannt geworden, in denen im Jahr 2005 nach Sri Lanka zurückgeschobene Tamilen von LTTE und Sicherheitskräften gefoltert worden sind.
41 
Nach der maßgeblichen Erkenntnislage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ist danach festzustellen, dass sich die allgemeine politische Lage in Sri Lanka in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte und insbesondere in Bezug auf das Risiko von Tamilen, wegen des Verdachts der Unterstützung der LTTE verfolgt zu werden, im Vergleich zum Jahr 1998 nicht verbessert, sondern eher verschlechtert hat. Auch in der Person des Klägers haben sich keine Änderungen ergeben, die es als zumutbar erscheinen ließen, ihn auf den Schutz seines Heimatstaates zu verweisen. Die Beklagte hat keine stichhaltigen Gründe aufgezeigt, aus denen sich ergeben könnte, dass der vorverfolgt ausgereiste Kläger bei einer Rückkehr nicht (erneut) von einem sonstigen ernsthaften Schaden im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG bedroht wird. Derartige stichhaltige Gründe ergeben sich zunächst nicht aus dem Vortrag der Beklagten, dass die LTTE gegenwärtig nur noch ein Gebiet in der Größe von ca. 60 Quadratkilometern kontrolliere, und deren Vermutung, sofern die Rebellen - erwartungsgemäß - deshalb zukünftig einen Guerillakampf führen würden, sei davon auszugehen, dass sich die Sicherheitskräfte dann noch gezielter als bisher auf die Bekämpfung aktiver, die Sicherheit des Landes konkret bedrohender LTTE-Angehöriger konzentrieren würden; der Kläger sei dieser Personengruppe nicht zuzurechnen. Dem stehen die Ausführungen im aktuellen Lagebericht vom 07.04.2009 entgegen, wonach es innerhalb Sri Lankas keine Gebiete mehr gibt, in denen die beschriebenen Verfolgungshandlungen nicht ausgeübt werden, auch wenn die Intensität der Bedrohung sich in den einzelnen Landesteilen unterscheidet. Nach der sogenannten „Befreiung“ des von der LTTE infiltrierten Gebiets im Osten durch die Regierung bleibt die Lage dort nach wie vor angespannt. Im Norden herrscht weiter offener Krieg, dessen Ende möglich, aber nicht abzusehen ist. Im Übrigen beruht die von der Beklagten vermutete künftige Entwicklung des Verfolgungsrisikos des Klägers allein auf Spekulation, was zur Feststellung stichhaltiger (Gegen-)Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie nicht ausreicht. Auch soweit die Beklagte ausführt, für nach Colombo zurückkehrende Tamilen bestehe keine generelle Gefahr einer menschenunwürdigen Behandlung, allein im Großraum der Hauptstadt Colombo lebten mehr als 300.000 Tamilen und Kontrollen und Inhaftierungen beträfen lediglich einen Personenkreis von ca. 60 Betroffenen pro Woche, die zudem mehrheitlich nach der Personenkontrolle wieder freigelassen würden, erschüttert sie damit nicht den sich gemäß Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie aus der Vorverfolgung des Klägers ergebenden Hinweis, dass dieser bei einer Rückkehr nach Sri Lanka tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden (im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG) zu erleiden.
42 
Offen bleiben kann die vom Bundesverwaltungsgericht dem Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften mit Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - (juris) vorgelegte Frage, ob Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie einen inneren Zusammenhang zwischen einer erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung und dem Sachverhalt, der bei einer Rückkehr erneut zu einer Verfolgung führen könnte, voraussetzt, denn dieser Zusammenhang ist vorliegend gegeben. Die Vorverfolgung, die den Kläger zur Ausreise aus Sri Lanka veranlasst hat, unterscheidet sich nicht von der ihm derzeit bei einer Rückkehr drohenden Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG.
43 
Über die weiteren Hilfsanträge braucht der Senat nicht zu entscheiden, da sie nur für den Fall gestellt sind, dass der (erste) Hilfsantrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG keinen Erfolg hat.
44 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 83b AsylVfG, wobei der Senat von einem „Wert“ des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG von etwa 1/3 ausgeht (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 9.5.1998 - 9 C 5.98 -, AuAS 1998, 224).
45 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
18 
Der Senat konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten verhandeln und entscheiden; denn auf diese Möglichkeit war in der auch im Übrigen ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen worden (§§ 125 Abs. 1, 102 Abs. 2 VwGO).
19 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist zum Teil begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht in vollem Umfang abgewiesen. Zwar erweist sich der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 12.07.2005 im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG) als rechtmäßig, soweit die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter sowie die mit Bescheid vom 19.03.1998 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. vorliegen, widerrufen worden sind und festgestellt wird, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen (hierzu unter 1.). Der streitgegenständliche Bescheid ist aber rechtswidrig, soweit er unter Nr. 4 feststellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, denn der Kläger hat - wie hilfsweise begehrt - einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Sri Lanka nach § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt (hierzu unter 2.).
20 
1. Ermächtigungsgrundlage für die Widerrufsentscheidung des Bundesamts ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Diese Bestimmung ist verfassungsgemäß (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21.04 -, DVBl. 2006, 511).
21 
Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind - vorbehaltlich des Satzes 3 - die Asylanerkennung und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. die bisherige Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG a.F.) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Das ist hier der Fall.
22 
Die Voraussetzungen sind gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG weggefallen. Nach dieser Bestimmung findet § 60 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG schließt nicht nur den Anspruch gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG aus, sondern auch den Anspruch auf Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG. Dies ergibt sich bei systematischer Gesetzesauslegung schon aus § 30 Abs. 4 AsylVfG, wonach ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG vorliegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.03.1999 - 9 C 31.98 -, BVerwGE 109, 1; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008 - 15 A 620/07.A -, juris, OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 01.12.2006 - 10 A 10887/06 -, juris).
23 
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG liegen insoweit vor, als der Kläger durch (rechtskräftiges) Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 02.11.2000 wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 22 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden ist.
24 
Weiter zu prüfen ist, ob der Kläger auch noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt als Gefahr für die Allgemeinheit i.S.v. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG anzusehen ist. Dabei ist spezialpräventiv auf die von dem Ausländer konkret ausgehende Wiederholungs- oder Rückfallgefahr abzustellen. Das bedeutet, dass in Zukunft eine Gefahr für die Allgemeinheit durch neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft drohen muss, die lediglich entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten genügt dagegen nicht. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zu dem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Dabei ist die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegende Wertung zu beachten, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind. Allein der Umstand, dass der Ausländer die Freiheitsstrafe verbüßt hat, lässt nicht auf einen Wegfall des Wiederholungsrisikos schließen. Denn rechtskräftige Verurteilungen im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG führen regelmäßig zur Verbüßung der Freiheitsstrafe, da eine Aussetzung ihrer Vollstreckung zur Bewährung nach § 56 StGB wegen der Strafhöhe von vornherein nicht in Betracht kommt. Würde der bloße mit der Strafverbüßung verbundene Zeitablauf regelmäßig zum Wegfall des Ausschlussgrundes führen, liefe die Vorschrift praktisch weitgehend leer. Dies gilt zumal in Asylverfahren, da es hier gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG im Falle eines Rechtsstreits auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, BVerwGE 112, 185 ff. zu der inhaltsgleichen Vorgängerregelung in § 51 Abs. 3 AuslG a.F.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.).
25 
Von diesen Grundsätzen ausgehend ist beim Kläger eine konkrete Wiederholungsgefahr der Begehung neuer vergleichbarer Straftaten zu bejahen.
26 
Insofern spricht gegen den Kläger bereits das typischerweise hohe Wiederholungsrisiko bei Straftaten, die eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren nach sich gezogen haben, zumal im vorliegenden Fall die verhängte Strafe die gesetzliche Mindeststrafe des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG um zwei Jahre übersteigt. Die vom Kläger verwirklichte Straftat gemäß § 92b Abs. 1 AuslG a.F. gehört zu den besonders schweren Formen des Schleusens illegaler Ausländer und ist Ausdruck erheblicher krimineller Energie. Zu Gunsten des Klägers spricht nach dem Strafurteil vom 02.11.2000 im Wesentlichen, dass er schon bei seiner polizeilichen Vernehmung Taten angegeben hat, die sonst nicht bekannt geworden wären, und er auch einen Großteil der Taten in der strafrechtlichen Hauptverhandlung einräumte. Hinzu kommen sein von Reue getragenes Geständnis und der Umstand, dass ihn die erlittene (Untersuchungs-)Haft als Erstverbüßer, der zudem der deutschen Sprache nicht mächtig ist, besonders hart trifft. Zu Lasten des Klägers ist nach den Ausführungen des Strafgerichts dagegen zu berücksichtigen, dass er im Rahmen der Stuttgarter Gruppierung Organisator eigener Schleusungsfahrten war und es sich um eine Vielzahl von Taten handelte, die teilweise innerhalb sehr kurzer Zeiträume begangen wurden. Hierbei wurde vom Strafgericht allerdings auch berücksichtigt, dass mit zunehmender Anzahl der Taten die zu überwindende Hemmschwelle abnahm. Zu Lasten des Klägers wurde weiter berücksichtigt, dass er die in Belgien erlittene Haft als Warnung nicht beachtet und nach seiner Haftentlassung die Schleusertätigkeit fast umgehend wieder aufgenommen hat. Gegen den Kläger spricht nach dem Strafurteil weiterhin die Vorbestrafung, auch wenn es sich hierbei lediglich um Verurteilungen zu Geldstrafen gehandelt hat. Der Kläger hat mit seinem Verhalten gezeigt, dass er bereit ist, gegebenenfalls seinen Lebensunterhalt auch mit schwerwiegenden Verstößen gegen die Rechtsordnung zu bestreiten.
27 
Der Beschluss des Landgerichts Karlsruhe - Auswärtige Strafvollstreckungskammer Pforzheim - vom 07.03.2003 (- StVK 137/03 -), mit dem die weitere Vollstreckung der Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 02.11.2000 zur Bewährung ausgesetzt worden ist, steht der Annahme einer Wiederholungsgefahr ebenso wenig entgegen wie der Beschluss vom 16.06.2005, mit dem die Bewährungszeit des Klägers um ein Jahr auf insgesamt vier Jahre (bis 21.03.2007) verlängert worden ist. Die im Zusammenhang mit der Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zu treffende Entscheidung der Strafgerichte bindet weder die für die Anwendung des § 60 Abs. 8 AufenthG zuständigen Behörden noch die Verwaltungsgerichte (vgl. BVerwG, Urteile vom 31.03.1998 - 1 C 28.97 -, NVwZ 1998, 740, und vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, NVwZ 2001, 442; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.) Das Bundesamt bzw. das dessen Entscheidungen überprüfende Verwaltungsgericht haben vielmehr eine eigenständige Prognose bezüglich des Bestehens einer Wiederholungsgefahr zu treffen. Dies gilt schon deshalb, weil der anzulegende Prognosemaßstab in beiden Fällen ein anderer ist (vgl. zu § 57 Abs. 1 StGB: BVerwG, Urteil vom 16.11.2000, a.a.O.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.). Bei der strafgerichtlichen Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung stehen naturgemäß Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund (auch wenn gemäß der seit 1998 geltenden Fassung des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit besonders zu berücksichtigen ist). Eine günstige Sozialprognose in dem Sinn, dass verantwortet werden kann, den Verurteilten in Freiheit zu erproben, setzt keine weitgehende Gewissheit des Erfolgs der Bewährungsaussetzung voraus, sondern kann auch bei Bestehen eines gewissen Restrisikos getroffen werden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 26.02.1999 - 2 WS 14/99 -, StraFO 1999,175). Dabei kann das Strafgericht zu einer günstigen Sozialprognose auch unter Heranziehung der Erwägung gelangen, dass der von der Vollstreckung ausgesetzte Strafrest einen nachhaltigen Druck auf den Verurteilten ausüben wird, sich in der Bewährungszeit straffrei zu verhalten (vgl. BGH, Beschluss vom 15.01.1990 - 1 StE 3/81 StB 39/89 -, EzSt StGB § 57 Nr. 1). Demgegenüber haben Ausländerbehörde und Verwaltungsgericht ausschließlich ordnungsbehördliche Überlegungen anzustellen, in deren Mittelpunkt der Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten des Ausländers steht. Sie sind, da Resozialisierungsgesichtspunkte bzw. den obigen Überlegungen vergleichbare Vorgaben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielen, bei der Einschätzung des Maßes der Wiederholungsgefahr nicht gehalten, ein gleich großes Restrisiko in Kauf zu nehmen wie die Strafgerichte. Ihre Prognose orientiert sich daher im Regelfall an strengeren Kriterien. Unabhängig davon verlangt die ausländerrechtlich erforderliche Prognose - im Gegensatz zu der der Strafgerichte im Rahmen des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB - eine über die Bewährungsdauer hinausgehende längerfristige Gefahrenprognose (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000, a.a.O.). Das bedeutet, dass auch die Frage prognostisch zu beantworten ist, ob der Ausländer sich nach Ablauf der Bewährungszeit, d. h. wenn der Druck der bei Bewährungsversagen drohenden Verbüßung der Reststrafe weggefallen ist, voraussichtlich straffrei verhalten wird. Schließlich können Umstände, die den Strafgerichten nicht bekannt gewesen oder von ihnen nicht beachtet worden sind, ebenso wie eine andere Würdigung des feststehenden Sachverhalts zu einer abweichenden Prognoseentscheidung führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000, a.a.O.). Die Entscheidungen der Strafgerichte gemäß § 57 Abs. 1 StGB haben nach alledem lediglich die Bedeutung eines - regelmäßig allerdings gewichtigen - Indizes (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.).
28 
Hiervon ausgehend rechtfertigt der Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom 07.03.2003 nicht die Annahme, dass von dem Kläger auch längerfristig keine Gefahr für die Allgemeinheit i.S.v. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG mehr ausgeht. Das Gericht war davon überzeugt, dass die lange Dauer der Untersuchungs- und der anschließenden Vollstreckungshaft ausreichend Eindruck auf den Kläger gemacht habe, sich künftig straffrei zu führen. Die nachfolgenden - wenn auch nur mit Geldstrafen geahndeten - drei Straftaten zeigen jedoch, dass diese Annahme verfehlt war. Der Kläger hat die erste Straftat nach der Verurteilung vom 02.11.2000 am 14.11.2004 und damit noch innerhalb seiner Bewährungszeit begangen. Der Diebstahl einer geringwertigen Sache erfolgte unter Ausnutzung seines damaligen Arbeitsverhältnisses als Reinigungskraft und führte zur Verhängung einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen durch Strafbefehl des Amtsgerichts Limburg an der Lahn vom 28.02.2005. Daraufhin wurde die Bewährungszeit des Klägers um ein Jahr verlängert. Der Kläger hat sich mit diesem straffälligen Verhalten dem Risiko eines Widerrufs der Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus der Verurteilung vom 02.11.2000 ausgesetzt. Der Druck der Bewährungszeit und die damit drohende (weitere) Strafhaft haben ihn nicht von der Begehung einer Straftat abgehalten. Darüber hinaus hat er durch den Diebstahl im Rahmen seiner damaligen Beschäftigung auch arbeitsrechtliche Konsequenzen in Kauf genommen. Das Landgericht konnte bei seiner Prognose auch das Verhalten des Klägers nach der (verlängerten) Bewährungszeit nicht berücksichtigen. Dieser hat unmittelbar, nachdem mit Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom 10.04.2007 die zur Bewährung ausgesetzte Restfreiheitsstrafe erlassen worden war, am 14.04.2007 einen weiteren Diebstahl begangen, der mit Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 09.05.2007 mit einer Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen geahndet wurde. Hinzu kamen die am 15.10.2007 verwirklichten gefährlichen Eingriffe in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Gefährdung des Straßenverkehrs und Nötigung gemäß §§ 315b Abs. 1 Nr. 2 und 3, 315c Abs. 1 Nr. 2b, 240 Abs. 1, 52, 69, 69a StGB, die zu einer vom Amtsgericht Tübingen mit Strafbefehl vom 29.01.2008 verhängten Geldstrafe von 50 Tagessätzen führten. Damit hat der Kläger Straftaten innerhalb seiner Bewährungszeit, unmittelbar danach und auch im zeitlichen Abstand dazu verwirklicht. Die verbüßte Haftstrafe - selbst teilweise der Bewährungsdruck - hat ihn nicht von der Verwirklichung weiterer Straftaten abgehalten und damit erkennbar nicht ausreichend Eindruck auf ihn gemacht, sich künftig straffrei zu führen, wovon das Landgericht Karlsruhe bei der Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung ausgegangen ist.
29 
Zwar hat sich mit der Geburt seines Sohnes im Juli 2008 die familiäre Situation des Klägers geändert. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass den Kläger das Zusammenleben mit seiner religiös angetrauten Ehefrau und deren leiblicher Tochter bislang nicht davon abgehalten hat, weitere Straftaten zu begehen, zumal es sich bei seiner Ehefrau um eine mitangeklagte Mittäterin des mit Strafurteil vom 02.11.2000 geahndeten gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 22 Fällen handelt. Auch wenn er seit der Verurteilung vom 02.11.2000 keine Straftaten von vergleichbarem Gewicht mehr verwirklicht hat, kann unter Berücksichtigung sämtlicher für und gegen den Kläger sprechenden Umstände derzeit eine positive längerfristige Prognose dahingehend, dass er keine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, (noch) nicht gestellt werden.
30 
Ob das Bundesamt den Widerruf unverzüglich im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ausgesprochen hat, ist nicht entscheidungserheblich. Die Pflicht zum unverzüglichen Widerruf dient ausschließlich öffentlichen Interessen. Ein etwaiger Verstoß hiergegen verletzt keine Rechte des betroffenen Ausländers (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005, a.a.O.).
31 
§ 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG steht der Widerrufsentscheidung des Bundesamts nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte). Dadurch soll der Sondersituation solcher Personen Rechnung getragen werden, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Flüchtlingsschicksal erlitten haben und denen es deshalb selbst lange Zeit danach - auch ungeachtet etwaiger veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005, a.a.O.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.11.2007 - A 6 S 1097/05 -, juris). Eine derartiges Verfolgungsschicksal hat der Kläger nach dem seinem Asylbegehren stattgebenden Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 20.01.1998 nicht erlitten. Er hat sich auf derartige Gründe auch im Übrigen nicht berufen.
32 
§ 73 Abs. 2a AsylVfG steht der Widerrufsentscheidung des Bundesamts ebenfalls nicht entgegen.
33 
Schließlich bedarf es keiner Entscheidung, ob die Jahresfrist nach §§ 49 Abs. 2 Satz 2, 48 Abs. 4 VwVfG bei Widerrufsentscheidungen gemäß § 73 Abs. 1 AsylVfG zu beachten ist. Die Jahresfrist wäre hier eingehalten. Ihr Lauf beginnt frühestens nach einer Anhörung des Ausländers mit einer angemessenen Frist zur Stellungnahme (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.11.2005, a.a.O., und vom 08.05.2003 - 1 C 15.02 -, BVerwGE 118, 174). Der Widerrufsbescheid erging am 12.07.2005, nachdem das Bundesamt dem Kläger durch Schreiben vom 13.10.2004 Gelegenheit zur Stellungnahme binnen eines Monats gegeben hatte.
34 
Ist der Widerruf nach dem Vorstehenden bereits gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG wegen der rechtskräftigen Verurteilung des Klägers vom 02.11.2000 und der von diesem nach wie vor ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit gerechtfertigt, so kommt es für dessen Rechtmäßigkeit nicht entscheidungserheblich darauf an, ob sich die tatsächliche Verfolgungssituation des Klägers in Sri Lanka geändert hat, wovon das Bundesamt noch im Bescheid vom 12.07.2005 ausgegangen ist.
35 
Erweist sich somit der angefochtene Widerruf als rechtmäßig, so ist des Weiteren nicht zu beanstanden, dass die Beklagte im Zusammenhang damit festgestellt hat, dass auch die Voraussetzungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen. Die Ermächtigungsgrundlage hierfür ergibt sich aus einer Rechtsanalogie zu den §§ 24 Abs. 2, 31 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, 32, 39 Abs. 2 sowie 73 Abs. 1 bis 3 AsylVfG. Im Hinblick darauf, dass § 60 AufenthG die früheren §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG a.F. ersetzt, gilt nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nichts anderes (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008, a.a.O.). Im Übrigen hat die Feststellung ohnehin keinen selbständigen Regelungscharakter. Denn das Nichtvorliegen der genannten Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Widerruf ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des ausgesprochenen Widerrufs (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 38.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 27) und (bereits) in diesem Zusammenhang geprüft worden.
36 
2. Die Klage hat Erfolg, soweit der Kläger - hilfsweise - unter Aufhebung von Nr. 4 des Bescheids des Bundesamts vom 12.07.2005 die Verpflichtung der Beklagten begehrt festzustellen, dass bei ihm ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Sri Lanka nach § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt.
37 
Die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wird durch § 60 Abs. 8 AufenthG nicht ausgeschlossen (vgl. zu § 53 AuslG: BVerfG, Beschluss vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142; BVerwG, Urteil vom 30.03.1999 - 9 C 31.98 -, BVerwGE 109, 1).
38 
Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. § 60 Abs. 2 AufenthG erfasst nicht nur ver-folgungsunabhängige, sondern auch verfolgungstypische Gefahren, die in den Anwendungsbereich des Art. 16a GG und des § 60 Abs. 1 AufenthG fallen.
39 
Erheblich sind die in § 60 Abs. 2 AufenthG benannten Gefahren bzw. Repressalien grundsätzlich nur dann, wenn sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Allerdings gilt - was die Beklagte verkennt - gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12, - Qualifikationsrichtlinie -) im Fall bereits erlittener Schädigung eine Beweiserleichterung. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die Voraussetzungen von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie liegen in der Person des Klägers vor.
40 
Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Stuttgart im Urteil vom 20.01.1998 war der Kläger, der aufgrund vorhandener Narben wegen Verdachts der LTTE-Zugehörigkeit in Sri Lanka durch die Armee festgehalten und misshandelt worden war, von politischer Verfolgung unmittelbar bedroht. Er hat damit Sri Lanka auch nach Maßgabe von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie als Vorverfolgter verlassen (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 -, BVerwGE 128, 199). Es sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass der Kläger bei einer Rückkehr derzeit erneut von einem sonstigen ernsthaften Schaden im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG bedroht wird. Vielmehr ergibt sich aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 07.04.2009, dass sich die Situation für Tamilen in Sri Lanka in den letzten Monaten weiter verschärft hat. Danach gibt es für eine systematische Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen allein wegen ihrer Rasse, Nationalität, Religion oder politischer Überzeugung seit der Aufkündigung des Waffenstillstandabkommens zwischen der Regierung und der LTTE im Januar 2008 immer mehr Anzeichen. Es kommt zu staatlichen repressiven Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen. Davon sind fast ausschließlich Tamilen betroffen, da sie unter dem Generalverdacht stehen, die LTTE zu unterstützen. Tamilen werden nicht allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit systematisch verfolgt, müssen aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - jederzeit mit staatlichen Repressionen rechnen. Die ständigen Razzien, PKW-Kontrollen und Verhaftungen bei Vorliegen schon geringster Verdachtsmomente richten sich vor allem gegen Tamilen. Durch die im Dezember 2006 verfügte Wiederaufnahme des mit dem Waffenstillstandsabkommen 2002 ausgesetzten Sicherheitsgesetzes „Prevention of Terrorism Act“ von 1979 ist die richterliche Kontrolle solcher Verfolgungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wird, muss mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder gar einer Anklageerhebung kommen muss. Jeder, der in den Augen der Sicherheitskräfte der Nähe der LTTE verdächtig ist, muss damit rechnen, verhaftet zu werden. Ein Anfangsverdacht, der LTTE nahe zu stehen, trifft Rückkehrer, die aus den nördlichen oder östlichen Landesteilen stammen und sich nun erstmals in Colombo oder dem Süden niederlassen. Ebenso steht unter Verdacht, wer bereits früher als Anhänger der LTTE auffällig geworden war. Der Kläger, der nicht nur bereits unter LTTE-Verdacht verhaftet und misshandelt worden ist, sondern darüber hinaus aus dem Norden stammt und weiterhin Narben aufweist, muss nach alledem konkret mit einer Verhaftung rechnen. Dass es bei derartigen Verhaftungen auch (erneut) zu Misshandlungen und damit einer zumindest erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG kommen kann, ergibt sich ebenfalls aus dem genannten Lagebericht. Danach hat der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Manfred Novak, nach seinem Sri-Lanka-Besuch im Herbst 2007 festgestellt, dass Folter als gängige Praxis im Rahmen der Terrorismusbekämpfung angewendet wird. Weiter sind dem Auswärtigen Amt im Frühjahr 2007 Fälle bekannt geworden, in denen im Jahr 2005 nach Sri Lanka zurückgeschobene Tamilen von LTTE und Sicherheitskräften gefoltert worden sind.
41 
Nach der maßgeblichen Erkenntnislage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ist danach festzustellen, dass sich die allgemeine politische Lage in Sri Lanka in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte und insbesondere in Bezug auf das Risiko von Tamilen, wegen des Verdachts der Unterstützung der LTTE verfolgt zu werden, im Vergleich zum Jahr 1998 nicht verbessert, sondern eher verschlechtert hat. Auch in der Person des Klägers haben sich keine Änderungen ergeben, die es als zumutbar erscheinen ließen, ihn auf den Schutz seines Heimatstaates zu verweisen. Die Beklagte hat keine stichhaltigen Gründe aufgezeigt, aus denen sich ergeben könnte, dass der vorverfolgt ausgereiste Kläger bei einer Rückkehr nicht (erneut) von einem sonstigen ernsthaften Schaden im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG bedroht wird. Derartige stichhaltige Gründe ergeben sich zunächst nicht aus dem Vortrag der Beklagten, dass die LTTE gegenwärtig nur noch ein Gebiet in der Größe von ca. 60 Quadratkilometern kontrolliere, und deren Vermutung, sofern die Rebellen - erwartungsgemäß - deshalb zukünftig einen Guerillakampf führen würden, sei davon auszugehen, dass sich die Sicherheitskräfte dann noch gezielter als bisher auf die Bekämpfung aktiver, die Sicherheit des Landes konkret bedrohender LTTE-Angehöriger konzentrieren würden; der Kläger sei dieser Personengruppe nicht zuzurechnen. Dem stehen die Ausführungen im aktuellen Lagebericht vom 07.04.2009 entgegen, wonach es innerhalb Sri Lankas keine Gebiete mehr gibt, in denen die beschriebenen Verfolgungshandlungen nicht ausgeübt werden, auch wenn die Intensität der Bedrohung sich in den einzelnen Landesteilen unterscheidet. Nach der sogenannten „Befreiung“ des von der LTTE infiltrierten Gebiets im Osten durch die Regierung bleibt die Lage dort nach wie vor angespannt. Im Norden herrscht weiter offener Krieg, dessen Ende möglich, aber nicht abzusehen ist. Im Übrigen beruht die von der Beklagten vermutete künftige Entwicklung des Verfolgungsrisikos des Klägers allein auf Spekulation, was zur Feststellung stichhaltiger (Gegen-)Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie nicht ausreicht. Auch soweit die Beklagte ausführt, für nach Colombo zurückkehrende Tamilen bestehe keine generelle Gefahr einer menschenunwürdigen Behandlung, allein im Großraum der Hauptstadt Colombo lebten mehr als 300.000 Tamilen und Kontrollen und Inhaftierungen beträfen lediglich einen Personenkreis von ca. 60 Betroffenen pro Woche, die zudem mehrheitlich nach der Personenkontrolle wieder freigelassen würden, erschüttert sie damit nicht den sich gemäß Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie aus der Vorverfolgung des Klägers ergebenden Hinweis, dass dieser bei einer Rückkehr nach Sri Lanka tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden (im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG) zu erleiden.
42 
Offen bleiben kann die vom Bundesverwaltungsgericht dem Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften mit Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - (juris) vorgelegte Frage, ob Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie einen inneren Zusammenhang zwischen einer erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung und dem Sachverhalt, der bei einer Rückkehr erneut zu einer Verfolgung führen könnte, voraussetzt, denn dieser Zusammenhang ist vorliegend gegeben. Die Vorverfolgung, die den Kläger zur Ausreise aus Sri Lanka veranlasst hat, unterscheidet sich nicht von der ihm derzeit bei einer Rückkehr drohenden Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG.
43 
Über die weiteren Hilfsanträge braucht der Senat nicht zu entscheiden, da sie nur für den Fall gestellt sind, dass der (erste) Hilfsantrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG keinen Erfolg hat.
44 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 83b AsylVfG, wobei der Senat von einem „Wert“ des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG von etwa 1/3 ausgeht (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 9.5.1998 - 9 C 5.98 -, AuAS 1998, 224).
45 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 25. Mai 2007 - A 3 K 10535/05 - geändert. Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des - gerichtkostenfreien - Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Flüchtlingseigenschaft.
Der Kläger, ein nach seinen Angaben am 1.1.1975 in Kirkuk/Irak geborener irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, reiste 2001 in das Bundesgebiet ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung berief er sich darauf, dass er - wenn auch unwissentlich - am Schmuggel von Devisen und CDs für die Opposition gegen Saddam Hussein beteiligt gewesen sei. Er befürchte deshalb, dass er der Zugehörigkeit zur Opposition beschuldigt werde.
Das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, im Folgenden: Bundesamt) lehnte durch Bescheid vom 4.4.2001 den Asylantrag ab, stellte zugleich aber fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes hinsichtlich des Iraks vorliegen, da aufgrund der illegalen Ausreise des Klägers aus seinem Heimatland sowie des Umstands, dass er in Deutschland einen Asylantrag gestellt habe, nicht ausgeschlossen werden könne, dass er bei einer Rückkehr in den Irak mit Verfolgung zu rechnen habe.
Nach vorheriger Anhörung des Klägers widerrief das Bundesamt mit Bescheid vom 23.6.2005 die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung führte es aus, von dem ehemaligen Regime Saddam Husseins könne keine politische Verfolgung mehr ausgehen. Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger von der irakischen Übergangsregierung politische Verfolgung drohe, gebe es nicht. Das Vorliegen einer individuell konkreten Gefahr sei nicht dargelegt worden. Die angespannte Sicherheits- und Versorgungslage stelle eine allgemeine Gefahr i.S.d. § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG dar. Die schlechte Sicherheits- und Versorgungslage begründe keine Extremgefahr.
Der Kläger hat am 12.7.2005 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage erhoben und beantragt, den Bescheid des Bundesamts vom 23.6.2005 aufzuheben, hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung des insoweit entgegenstehenden Bescheids zu verpflichten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in Bezug auf den Irak festzustellen.
Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt.
Durch Urteil vom 25.5.2007 hat das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamts vom 23.6.2005 aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der durch das Zuwanderungsgesetz vom 30.07.2004 geltenden Fassung lägen nicht vor. Es könne offen bleiben, ob nach Art. 1 C Nr. 5 GFK dem Flüchtling eine Rückkehr erst dann zumutbar sei, wenn in seinem Herkunftsstaat eine weitgehend funktionierende Regierung vorhanden sei, die sich grundlegender Verwaltungsstrukturen bedienen könne, um eine angemessene Infrastruktur aufzubauen und zu unterhalten, innerhalb derer die Einwohner ihr Recht auf eine Existenzgrundlage wahrnehmen könnten. Sowohl der Wortlaut als auch Sinn und Zweck der Regelung dürften eine solche Auslegung nahe legen. Jedenfalls müssten im Herkunftsland Verhältnisse herrschen, die mit hinreichender Sicherheit eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG ausschlössen. Danach lägen die Voraussetzungen für ein Widerruf der Flüchtlingseigenschaft des Klägers nicht vor. Zwar habe sich die Situation im Irak seit der Gewährung von Abschiebungsschutz insoweit grundlegend geändert, als das Regime Saddam Husseins durch den Einsatz amerikanischer und verbündeter Truppen beseitigt worden sei und die damals herrschenden Gruppen keine staatliche Macht mehr ausübten. Auch könne aufgrund der vorliegenden Informationen davon ausgegangen werden, dass dieses Regime nicht wieder an die Macht kommen werde. Es sei jedoch nicht hinreichend sicher, dass dem Kläger als besonders hervorgetretener Kritiker des Saddam-Regimes keine Verfolgung durch Anhänger dieses Regimes drohe, vor der ihm weder irakische Sicherheitskräfte noch multinationale Streitkräfte Schutz böten. Auch stehe ihm als Kurden aus Kirkuk keine inländische Fluchtalternative in den kurdisch verwalteten Provinzen des Nordirak zu Verfügung.
Auf Antrag der Beklagten hat der Senat mit Beschluss vom 9.2.2009 die Berufung zugelassen.
Die Beklagte beantragt,
10 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 25.5.2007 - A 3 K 10535/05 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
11 
Der Kläger beantragt,
12 
die Berufung zurückzuweisen.
13 
Dem Senat liegen die angefallenen Akten des Bundesamts und die des Verwaltungsgerichts vor. Auf deren Inhalt und auf die mit dem Schreiben vom 12. März 2010 mitgeteilten Erkenntnismittel wird wegen der weiteren Einzelheiten verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
14 
Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben, da der Widerruf der Feststellung, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, rechtmäßig ist und den Kläger daher nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Bescheid ferner zutreffend festgestellt, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2, 3, und 7 Satz 1 und 2 AufenthG nicht vorliegen.
15 
1. Der Widerruf der vom Bundesamt am 4.4.2001 getroffenen Feststellung, dass in der Person des Klägers der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gegeben sind, ist durch § 73 Abs. 1 AsylVfG gedeckt.
16 
Die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, ist nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist nach Satz 2 insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Dies gilt nach Satz 3 nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann. Danach muss die asylrelevante Verfolgungsgefahr objektiv entfallen sein, d.h. die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse müssen sich nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so geändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. Das ist hier der Fall.
17 
a) Wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise aus dem Irak drohen dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine politischen Verfolgungsmaßnahmen (mehr). Das im Zeitpunkt des Erlasses des widerrufenen Bescheids noch herrschende Baath-Regime hat seit der Festnahme, Verurteilung und Hinrichtung Saddam Husseins seine politische Macht über den Irak unumkehrbar verloren. Damit hat ein Verhalten, das unter der Herrschaft Saddam Husseins zu einer Gefährdung hätte führen können, wie die damals illegale Ausreise aus dem Irak, das illegale Verbleiben im Ausland und die Asylantragstellung, seine asylrechtliche Bedeutung verloren. Das Gleiche gilt für die vom Kläger behauptete, vom Bundesamt allerdings nicht festgestellte Tätigkeit für die Opposition gegen das frühere Regime.
18 
b) Dem Kläger droht auch nicht aus anderen Gründen asylrechtlich relevante Verfolgung. Nach § 60 Abs. 1 AufenthG in der Fassung der Neubekanntmachung vom 25.2.2008 (BGBl. I 162) darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Gemäß Satz 4 dieser Vorschrift kann eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Gemäß Satz 5 sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sogenannte Qualifikationsrichtlinie) ergänzend anzuwenden.
19 
Nach diesem Maßstab droht dem Kläger im Irak keine asylrechtlich relevante Verfolgung. Das Verwaltungsgericht hat zwar angenommen, dass der Kläger "als exponierter Kritiker des Regimes Saddam Husseins" vor einer Verfolgung durch Anhänger dieses Systems nicht hinreichend sicher sei und weder die irakischen Sicherheitskräfte noch die multinationalen Streitkräfte in der Lage seien, Schutz vor einer solchen Verfolgung zu bieten und dass keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Den im verwaltungsgerichtlichen Urteil getroffenen Feststellungen können jedoch keine Anhaltspunkte für eine erkennbare Gegnerschaft des Klägers gegen das Regime Saddam Husseins entnommen werden. Aus dem zur Begründung des im Jahre 2001 gestellten Asylantrags behaupteten - unwissentlichen - Schmuggel von Devisen und CDs für gegen das Saddam-Regime gerichtete Kräfte lässt sich eine solche erkennbare Gegnerschaft nicht herleiten. Davon abgesehen ist die Glaubhaftigkeit dieser Angaben im Behördenverfahren nicht überprüft und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ohne Begründung unterstellt worden. Auch dazu, welche Gründe die Anhänger des früheren Herrschaftssystems haben sollten, gegen den nach seinem eigenen Vortrag allenfalls am äußeren Rand gegen dieses System tätigen Kläger vorzugehen, kann dem Urteil des Verwaltungsgerichts nichts entnommen werden. Eine Verfolgung oder Bedrohung durch die Anhänger des früheren Regimes macht im Übrigen auch der Kläger selbst nicht geltend.
20 
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG.
21 
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung, ob dem Kläger der begehrte Abschiebungsschutz zusteht, ist gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG die neue, seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007 am 28.8.2007 geltende Rechtslage. Diese Rechtsänderung hat zur Folge, dass sich der Streitgegenstand bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG geändert hat und hinsichtlich der vom Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak geltend gemachten Gefahren die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG einen eigenständigen, vorrangig vor den sonstigen herkunftslandbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverboten zu prüfenden Streitgegenstand bzw. einen abtrennbaren Streitgegenstandsteil bilden (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198).
22 
a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift, mit der die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. An diesen Voraussetzungen fehlt es im vorliegenden Fall.
23 
Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wofür Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe typische Beispiele sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z.B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, aaO).
24 
Die Frage, ob die derzeitige Situation im Irak die landesweit oder auch nur regional gültige Annahme eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts rechtfertigt, dürfte hiervon ausgehend zu verneinen sein. Die Frage kann jedoch auf sich beruhen, da selbst bei der Annahme eines solchen Konflikts ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG nur besteht, wenn der Ausländer einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben "im Rahmen" dieses Konflikts ausgesetzt ist. Eine solche Gefahr lässt sich im Fall des Klägers nicht feststellen.
25 
Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.7.2009 - 10 C 9.08 - (BVerwGE 134, 188) kann sich die nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG erforderliche Individualisierung der sich aus einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ergebenden allgemeinen Gefahr nicht nur aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann vielmehr unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Gefahrerhöhende Umstände in seiner Person werden vom Kläger nicht geltend gemacht. Für das Vorliegen solcher Umstände vermag auch der Senat nichts zu erkennen. Die erforderliche Individualisierung könnte sich daher nur durch einen besonders hohen Grad der dem Kläger in seiner Heimatregion drohenden Gefahren ergeben, vor denen er auch in den übrigen Teilen des Irak keinen Schutz finden kann. Ein so hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, lässt sich jedoch für die Provinz Tamim, aus welcher der Kläger nach seinen Angaben stammt, nicht feststellen.
26 
Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 12.8.2009 ist davon auszugehen, dass die Sicherheitslage im Irak nach wie vor verheerend ist. Zwar hat seit Frühsommer 2007 die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle um ca. 80 % abgenommen. Besonders gefährdet sind jedoch nach wie vor Polizisten, Soldaten, Intellektuelle und alle Mitglieder der Regierung bzw. Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der neuen Regierung zusammenarbeiten, Mitglieder politischer Parteien, Mitarbeiter von Medien und freie Journalisten sowie Ärzte und medizinisches Personal. Dabei überlagern sich mehrere ineinander greifende Konflikte: der Kampf der irakischen Regierung und der multinationalen Streitkräfte gegen Aufständische; Terroranschläge gegen die Zivilbevölkerung; konfessionell-ethnische Auseinandersetzungen sowohl zwischen den großen Bevölkerungsgruppen (arabische Sunniten, arabische Schiiten und Kurden) als auch mit den Minderheiten (vor allem Christen und Jesiden); Kämpfe zwischen Milizen um Macht und Ressourcen. Insgesamt hat aber die interkonfessionelle Gewalt seit dem Durchgreifen der irakischen Regierung gegen die Milizen seit dem Frühjahr 2008 nachgelassen.
27 
Auch nach der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts "Irak, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte" vom Januar 2010 besteht für die irakische Bevölkerung weiterhin die Gefahr, das Opfer von Anschlägen zu werden, deren Urheber meist nicht eindeutig identifizierbar seien. Insbesondere in den Provinzen Bagdad, Diyala und Ninive komme es weiterhin zu zahlreichen Vorfällen mit Todesopfern. Die Gefahr, durch militärische Aktionen im klassischen Sinne zu Schaden zu kommen, sei jedoch zurückgegangen. Auch nach den Erkenntnissen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom November 2009 habe sich die Sicherheitslage im Zentral- und Südirak seit 2007 allgemein verbessert. Dennoch komme es weiterhin zu Anschlägen auf Militär, Polizei und Zivilisten. Die militanten Gruppierungen seien zwar geschwächt, jedoch noch immer in der Lage, Anschläge mit hohen Opferzahlen zu verüben. Bombenanschläge, Selbstmordanschläge und Sprengfallen gegen die Zivilbevölkerung führten zu Hunderten von Toten. Gezielten Anschlägen fielen vor allem Sicherheitspersonal, Beamte, religiöse und politische Führer, spezielle Berufsgruppen wie Journalisten, Lehrer, medizinisches Personal, Richter und Anwälte, aber auch Angehörige von Minderheiten zum Opfer. Die Sicherheitslage in den sogenannten umstrittenen Gebieten habe sich verschlechtert. Ein Großteil der Gewalt sei in Provinzen mit gemischt ethnischer/religiöser Bevölkerung zu verzeichnen gewesen, insbesondere in den Gebieten in und um Bagdad sowie in den nördlichen Provinzen Ninive, Tamim und Diyala, wobei hier häufig Minderheiten betroffen gewesen seien.
28 
Diese Einschätzung deckt sich im Wesentlichen mit der in der genannten Ausarbeitung des Informationszentrums ebenfalls wiedergegebenen Lagebeschreibung des amerikanischen Verteidigungsministeriums, wonach sich die Sicherheitslage im Irak verbessert habe, wenn auch unsicher sei, ob dieser Fortschritt bzw. Zustand erhalten werden könne. Die Aufständischen blieben aber in der Lage, sog. „High Profile Attacks“ durchzuführen, die die Zivilbevölkerung und die irakischen Sicherheitskräfte zum Ziel hätten. Unter diese „High Profile Attacks“ fielen Autobombenanschläge, Selbstmordanschläge mit Autobomben und sonstige Selbstmordattentate, die überwiegend gemischte Gebiete, wie Bagdad, Diyala, Mossul (Provinz Ninive) und Kirkuk (Provinz Tamim) beträfen.
29 
Um den sich aus dieser Situation ergebenden Gefahrengrad abschätzen zu können, muss die Zahl der Opfer von Anschlägen in Relation zu der Zahl der gesamten Bevölkerung des Irak gesetzt werden. Nach dem in der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts zitierten Bericht der britischen Nichtregierungsorganisation Iraq Body Count, die seit dem Einmarsch der Koalitionsstreitkräfte in den Irak die Verluste unter der irakischen Zivilbevölkerung zählt, sind diese im Jahr 2009 auf den niedrigsten Stand seit 2003 gefallen. Im Jahr 2009 habe die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei etwa 4.645 gelegen. Im Jahr 2008 habe die Zahl noch über 9.000 betragen. Das Informationszentrum Asyl und Migration zitiert ferner einen Bericht des amerikanischen Verteidigungsministeriums vom Juni 2009, in dem bezogen auf den Zeitraum März bis Mai 2009 eine durchschnittlichen Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung von 9,2 pro Tag genannt wird. In einen späteren Bericht vom September 2009, der sich auf den Zeitraum Juni bis August 2009 beziehe, sei von durchschnittlich 204 Anschlägen pro Woche gegen die Zivilbevölkerung, die irakischen Sicherheitskräfte und die Koalitionstruppen die Rede, die damit um 19 % gegenüber dem vorangegangenen Berichtszeitraum zurückgegangen seien. Die Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung sei in diesem Zeitraum allerdings leicht auf 9,5 Tote pro Tag angestiegen. In der Provinz Tamim mit der Provinzhauptstadt Kirkuk, in der insgesamt zwischen 900.000 und 1.130.000 Menschen leben (davon ca. 750.000 in der Hauptstadt Kirkuk), habe es im Jahr 2009 99 Anschläge mit insgesamt 288 Toten gegeben. Dies seien bei 900.000 Einwohnern 31,9 Tote je 100.000 Einwohner bzw. bei Annahme einer Einwohnerzahl von 1.130.000 25,5 Tote je 100.000 Einwohner.
30 
Nach diesen Erkenntnissen kann selbst bei Annahme eines innerstaatlichen oder internationalen Konflikts in der Provinz Tamim nicht davon ausgegangen werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist.
31 
b) Auch ein (national begründetes) Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist im Falle des Klägers nicht erkennbar. Nach dieser Norm soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn diesem dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer hingegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird - abgesehen von Fällen der richtlinienkonformen Auslegung bei Anwendung von Art. 15 lit. c der Qualifikationsrichtlinie für internationale oder innerstaatliche bewaffnete Konflikte - der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Beim Fehlen einer solchen Regelung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 GG) in Betracht, d.h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, aaO <211 f.>). Eine solche extreme konkrete Gefahrenlage besteht für den Kläger im Hinblick auf das unter a) Ausgeführte nicht.
32 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.
33 
Die Revision ist nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
14 
Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben, da der Widerruf der Feststellung, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, rechtmäßig ist und den Kläger daher nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Bescheid ferner zutreffend festgestellt, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2, 3, und 7 Satz 1 und 2 AufenthG nicht vorliegen.
15 
1. Der Widerruf der vom Bundesamt am 4.4.2001 getroffenen Feststellung, dass in der Person des Klägers der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gegeben sind, ist durch § 73 Abs. 1 AsylVfG gedeckt.
16 
Die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, ist nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist nach Satz 2 insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Dies gilt nach Satz 3 nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann. Danach muss die asylrelevante Verfolgungsgefahr objektiv entfallen sein, d.h. die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse müssen sich nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so geändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. Das ist hier der Fall.
17 
a) Wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise aus dem Irak drohen dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine politischen Verfolgungsmaßnahmen (mehr). Das im Zeitpunkt des Erlasses des widerrufenen Bescheids noch herrschende Baath-Regime hat seit der Festnahme, Verurteilung und Hinrichtung Saddam Husseins seine politische Macht über den Irak unumkehrbar verloren. Damit hat ein Verhalten, das unter der Herrschaft Saddam Husseins zu einer Gefährdung hätte führen können, wie die damals illegale Ausreise aus dem Irak, das illegale Verbleiben im Ausland und die Asylantragstellung, seine asylrechtliche Bedeutung verloren. Das Gleiche gilt für die vom Kläger behauptete, vom Bundesamt allerdings nicht festgestellte Tätigkeit für die Opposition gegen das frühere Regime.
18 
b) Dem Kläger droht auch nicht aus anderen Gründen asylrechtlich relevante Verfolgung. Nach § 60 Abs. 1 AufenthG in der Fassung der Neubekanntmachung vom 25.2.2008 (BGBl. I 162) darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Gemäß Satz 4 dieser Vorschrift kann eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Gemäß Satz 5 sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sogenannte Qualifikationsrichtlinie) ergänzend anzuwenden.
19 
Nach diesem Maßstab droht dem Kläger im Irak keine asylrechtlich relevante Verfolgung. Das Verwaltungsgericht hat zwar angenommen, dass der Kläger "als exponierter Kritiker des Regimes Saddam Husseins" vor einer Verfolgung durch Anhänger dieses Systems nicht hinreichend sicher sei und weder die irakischen Sicherheitskräfte noch die multinationalen Streitkräfte in der Lage seien, Schutz vor einer solchen Verfolgung zu bieten und dass keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Den im verwaltungsgerichtlichen Urteil getroffenen Feststellungen können jedoch keine Anhaltspunkte für eine erkennbare Gegnerschaft des Klägers gegen das Regime Saddam Husseins entnommen werden. Aus dem zur Begründung des im Jahre 2001 gestellten Asylantrags behaupteten - unwissentlichen - Schmuggel von Devisen und CDs für gegen das Saddam-Regime gerichtete Kräfte lässt sich eine solche erkennbare Gegnerschaft nicht herleiten. Davon abgesehen ist die Glaubhaftigkeit dieser Angaben im Behördenverfahren nicht überprüft und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ohne Begründung unterstellt worden. Auch dazu, welche Gründe die Anhänger des früheren Herrschaftssystems haben sollten, gegen den nach seinem eigenen Vortrag allenfalls am äußeren Rand gegen dieses System tätigen Kläger vorzugehen, kann dem Urteil des Verwaltungsgerichts nichts entnommen werden. Eine Verfolgung oder Bedrohung durch die Anhänger des früheren Regimes macht im Übrigen auch der Kläger selbst nicht geltend.
20 
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG.
21 
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung, ob dem Kläger der begehrte Abschiebungsschutz zusteht, ist gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG die neue, seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007 am 28.8.2007 geltende Rechtslage. Diese Rechtsänderung hat zur Folge, dass sich der Streitgegenstand bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG geändert hat und hinsichtlich der vom Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak geltend gemachten Gefahren die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG einen eigenständigen, vorrangig vor den sonstigen herkunftslandbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverboten zu prüfenden Streitgegenstand bzw. einen abtrennbaren Streitgegenstandsteil bilden (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198).
22 
a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift, mit der die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. An diesen Voraussetzungen fehlt es im vorliegenden Fall.
23 
Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wofür Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe typische Beispiele sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z.B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, aaO).
24 
Die Frage, ob die derzeitige Situation im Irak die landesweit oder auch nur regional gültige Annahme eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts rechtfertigt, dürfte hiervon ausgehend zu verneinen sein. Die Frage kann jedoch auf sich beruhen, da selbst bei der Annahme eines solchen Konflikts ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG nur besteht, wenn der Ausländer einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben "im Rahmen" dieses Konflikts ausgesetzt ist. Eine solche Gefahr lässt sich im Fall des Klägers nicht feststellen.
25 
Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.7.2009 - 10 C 9.08 - (BVerwGE 134, 188) kann sich die nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG erforderliche Individualisierung der sich aus einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ergebenden allgemeinen Gefahr nicht nur aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann vielmehr unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Gefahrerhöhende Umstände in seiner Person werden vom Kläger nicht geltend gemacht. Für das Vorliegen solcher Umstände vermag auch der Senat nichts zu erkennen. Die erforderliche Individualisierung könnte sich daher nur durch einen besonders hohen Grad der dem Kläger in seiner Heimatregion drohenden Gefahren ergeben, vor denen er auch in den übrigen Teilen des Irak keinen Schutz finden kann. Ein so hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, lässt sich jedoch für die Provinz Tamim, aus welcher der Kläger nach seinen Angaben stammt, nicht feststellen.
26 
Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 12.8.2009 ist davon auszugehen, dass die Sicherheitslage im Irak nach wie vor verheerend ist. Zwar hat seit Frühsommer 2007 die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle um ca. 80 % abgenommen. Besonders gefährdet sind jedoch nach wie vor Polizisten, Soldaten, Intellektuelle und alle Mitglieder der Regierung bzw. Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der neuen Regierung zusammenarbeiten, Mitglieder politischer Parteien, Mitarbeiter von Medien und freie Journalisten sowie Ärzte und medizinisches Personal. Dabei überlagern sich mehrere ineinander greifende Konflikte: der Kampf der irakischen Regierung und der multinationalen Streitkräfte gegen Aufständische; Terroranschläge gegen die Zivilbevölkerung; konfessionell-ethnische Auseinandersetzungen sowohl zwischen den großen Bevölkerungsgruppen (arabische Sunniten, arabische Schiiten und Kurden) als auch mit den Minderheiten (vor allem Christen und Jesiden); Kämpfe zwischen Milizen um Macht und Ressourcen. Insgesamt hat aber die interkonfessionelle Gewalt seit dem Durchgreifen der irakischen Regierung gegen die Milizen seit dem Frühjahr 2008 nachgelassen.
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Auch nach der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts "Irak, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte" vom Januar 2010 besteht für die irakische Bevölkerung weiterhin die Gefahr, das Opfer von Anschlägen zu werden, deren Urheber meist nicht eindeutig identifizierbar seien. Insbesondere in den Provinzen Bagdad, Diyala und Ninive komme es weiterhin zu zahlreichen Vorfällen mit Todesopfern. Die Gefahr, durch militärische Aktionen im klassischen Sinne zu Schaden zu kommen, sei jedoch zurückgegangen. Auch nach den Erkenntnissen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom November 2009 habe sich die Sicherheitslage im Zentral- und Südirak seit 2007 allgemein verbessert. Dennoch komme es weiterhin zu Anschlägen auf Militär, Polizei und Zivilisten. Die militanten Gruppierungen seien zwar geschwächt, jedoch noch immer in der Lage, Anschläge mit hohen Opferzahlen zu verüben. Bombenanschläge, Selbstmordanschläge und Sprengfallen gegen die Zivilbevölkerung führten zu Hunderten von Toten. Gezielten Anschlägen fielen vor allem Sicherheitspersonal, Beamte, religiöse und politische Führer, spezielle Berufsgruppen wie Journalisten, Lehrer, medizinisches Personal, Richter und Anwälte, aber auch Angehörige von Minderheiten zum Opfer. Die Sicherheitslage in den sogenannten umstrittenen Gebieten habe sich verschlechtert. Ein Großteil der Gewalt sei in Provinzen mit gemischt ethnischer/religiöser Bevölkerung zu verzeichnen gewesen, insbesondere in den Gebieten in und um Bagdad sowie in den nördlichen Provinzen Ninive, Tamim und Diyala, wobei hier häufig Minderheiten betroffen gewesen seien.
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Diese Einschätzung deckt sich im Wesentlichen mit der in der genannten Ausarbeitung des Informationszentrums ebenfalls wiedergegebenen Lagebeschreibung des amerikanischen Verteidigungsministeriums, wonach sich die Sicherheitslage im Irak verbessert habe, wenn auch unsicher sei, ob dieser Fortschritt bzw. Zustand erhalten werden könne. Die Aufständischen blieben aber in der Lage, sog. „High Profile Attacks“ durchzuführen, die die Zivilbevölkerung und die irakischen Sicherheitskräfte zum Ziel hätten. Unter diese „High Profile Attacks“ fielen Autobombenanschläge, Selbstmordanschläge mit Autobomben und sonstige Selbstmordattentate, die überwiegend gemischte Gebiete, wie Bagdad, Diyala, Mossul (Provinz Ninive) und Kirkuk (Provinz Tamim) beträfen.
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Um den sich aus dieser Situation ergebenden Gefahrengrad abschätzen zu können, muss die Zahl der Opfer von Anschlägen in Relation zu der Zahl der gesamten Bevölkerung des Irak gesetzt werden. Nach dem in der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts zitierten Bericht der britischen Nichtregierungsorganisation Iraq Body Count, die seit dem Einmarsch der Koalitionsstreitkräfte in den Irak die Verluste unter der irakischen Zivilbevölkerung zählt, sind diese im Jahr 2009 auf den niedrigsten Stand seit 2003 gefallen. Im Jahr 2009 habe die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei etwa 4.645 gelegen. Im Jahr 2008 habe die Zahl noch über 9.000 betragen. Das Informationszentrum Asyl und Migration zitiert ferner einen Bericht des amerikanischen Verteidigungsministeriums vom Juni 2009, in dem bezogen auf den Zeitraum März bis Mai 2009 eine durchschnittlichen Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung von 9,2 pro Tag genannt wird. In einen späteren Bericht vom September 2009, der sich auf den Zeitraum Juni bis August 2009 beziehe, sei von durchschnittlich 204 Anschlägen pro Woche gegen die Zivilbevölkerung, die irakischen Sicherheitskräfte und die Koalitionstruppen die Rede, die damit um 19 % gegenüber dem vorangegangenen Berichtszeitraum zurückgegangen seien. Die Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung sei in diesem Zeitraum allerdings leicht auf 9,5 Tote pro Tag angestiegen. In der Provinz Tamim mit der Provinzhauptstadt Kirkuk, in der insgesamt zwischen 900.000 und 1.130.000 Menschen leben (davon ca. 750.000 in der Hauptstadt Kirkuk), habe es im Jahr 2009 99 Anschläge mit insgesamt 288 Toten gegeben. Dies seien bei 900.000 Einwohnern 31,9 Tote je 100.000 Einwohner bzw. bei Annahme einer Einwohnerzahl von 1.130.000 25,5 Tote je 100.000 Einwohner.
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Nach diesen Erkenntnissen kann selbst bei Annahme eines innerstaatlichen oder internationalen Konflikts in der Provinz Tamim nicht davon ausgegangen werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist.
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b) Auch ein (national begründetes) Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist im Falle des Klägers nicht erkennbar. Nach dieser Norm soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn diesem dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer hingegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird - abgesehen von Fällen der richtlinienkonformen Auslegung bei Anwendung von Art. 15 lit. c der Qualifikationsrichtlinie für internationale oder innerstaatliche bewaffnete Konflikte - der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Beim Fehlen einer solchen Regelung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 GG) in Betracht, d.h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, aaO <211 f.>). Eine solche extreme konkrete Gefahrenlage besteht für den Kläger im Hinblick auf das unter a) Ausgeführte nicht.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.
33 
Die Revision ist nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.

(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.