Oberverwaltungsgericht des Saarlandes Urteil, 29. Sept. 2006 - 3 R 6/06

bei uns veröffentlicht am29.09.2006

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger, der irakischer Staatsangehöriger ist, wurde am ....1964 in der Region Sulaymania/Nordirak geboren. Er gehört der Volksgruppe der Kurden und der Religionsgruppe der Sunniten an. Nach einer Ausbildung als Kfz-Mechaniker und Wehrdienstableistung war er in Bagdad in einem staatlichen Betrieb als Industrielehrer tätig.

Am 29.11.1995 reiste er von Bagdad aus kommend in Deutschland auf dem Landweg ein und stellte unter Vorlage eines irakischen Personalausweises am 7.12.1995 einen Asylantrag.

Bei seiner persönlichen Anhörung am 13.12.1995 (Behördenakte Bl. 18 ff.) trug er zur Begründung im Wesentlichen vor, er habe nach Ableistung seines Militärdienstes von 1987 bis 1991 sodann in einem staatlichen Betrieb in Bagdad gearbeitet, und zwar ab 1993 als Industrielehrer. In diesem Betrieb seien Militärfahrzeuge wie Panzer und andere Fahrzeuge repariert worden. Über diese Fahrzeuge und Geräte habe er Leute der kurdischen Partei PUK im Nordirak informiert. Er sei nur Sympathisant dieser Partei und Mitglied einer Unterorganisation gewesen. Am 1.11.1995 sei er vom Sicherheitsbeauftragten des Betriebs gewarnt worden, dass wegen der Weitergabe militärischer Informationen an seine Leute im Nordirak von der PUK ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden sei. Er sei bereits während seiner Militärzeit im Jahr 1990 wegen des gleichen Grundes festgenommen und nach zwei Monaten mangels Beweisen freigelassen worden. Am 2.11.1995 habe er Bagdad verlassen und sei über die Türkei nach Deutschland gelangt. Im Falle seiner Rückkehr in den Irak befürchte er, wegen Hochverrats und Desertion hingerichtet zu werden.

Durch Bescheid vom 4.3.1996 (Behördenakte Bl. 32) wurde der Asylantrag des Klägers mit Blick auf die Drittstaatenregelung abgelehnt, indessen Abschiebungsschutz „aufgrund des von dem Antragsteller“ geschilderten Sachverhalts (Bescheid S. 3) bejaht, da bereits die Asylantragstellung zu Verfolgungsmaßnahmen durch das irakische Regime führe.

Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 leitete die Beklagte mit Vermerk vom 30.8.2004 (Widerrufsakte Bl. 1) das Widerrufsverfahren mit Blick auf die neuen Verhältnisse im Irak ein und hörte den Kläger mit Schreiben vom 2.9.2004 zu dem beabsichtigten Widerruf an.

In dem Anhörungsverfahren machte der Kläger mit Schreiben vom 29.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 13) geltend, auch nach der Entmachtung Saddam Husseins sei von dessen Anhängern bei einer heutigen Rückkehr in den Irak weiterhin politische Verfolgung wegen Landesverrats zu befürchten. Eine grundlegende Veränderung der politischen Situation liege im Irak nach wie vor nicht vor. Es widerspreche der humanitären Intention der Genfer Flüchtlingskonvention, bei nicht hinreichend stabiler Veränderung der Verhältnisse im Heimatland einen einmal gewährten Flüchtlingsstatus zu entziehen. Die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft bedürfe eines Grundmaßes an Stabilität, wovon im Irak auch nach dem Sturz Saddam Husseins nicht die Rede sein könne. Auch bestehe keine ausreichende wirtschaftliche Existenzsicherung für Rückkehrer, was als zwingender Grund der Rückkehr entgegenstehe. Die Strukturen des ehemaligen Regimes Saddam Husseins seien bislang nicht zerschlagen.

Mit Bescheid vom 19.10.2004 (Widerrufsakte Bl. 18) widerrief die Beklagte die Flüchtlingsanerkennung in ihrem früheren Bescheid vom 4.3.1996 und stellte zusätzlich fest, Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG lägen nicht vor. Die Beklagte stellte sich auf den Standpunkt, dass sich die politische Situation im Irak grundlegend verändert habe und es keine Anhaltspunkte für eine Wiedererlangung der Macht durch das alte Regime gebe. Von der irakischen Übergangsregierung sei eine politische Verfolgung des Klägers nicht zu erwarten. Weiterhin sei es nicht nachvollziehbar, dass eine politisch motivierte Verfolgung des Klägers von Anhängern des alten Regimes ausgehe. Der Widerrufsbescheid wurde am 21.10.2004 zur Post gegeben.

Am 28.10.2004 hat der Kläger Klage erhoben.

Zur Begründung hat er im Wesentlichen vorgetragen: Seine ursprüngliche Anerkennung beruhe auf seinem individuellen Verfolgungsschicksal. Bei seiner Anhörung am 13.12.1995 habe er militärischen Geheimnisverrat zugunsten der kurdischen PUK geltend gemacht. Wegen dieses Sachverhalts hätte der Kläger zum Zeitpunkt seiner Flucht aus dem Irak auf jeden Fall mit politisch geprägter Verfolgung durch das Regime von Saddam Hussein rechnen müssen. Auch jetzt gebe es Gegensätze zwischen Arabern und Kurden im Irak, so dass der Kläger bei einer heutigen Rückkehr in das Heimatland wegen des früher begangenen militärischen Geheimnisverrats weiterhin zur Rechenschaft gezogen werde. Dem stehe nicht entgegen, dass das frühere Regime nicht mehr an der Macht sei. Als Kurde, der militärischen Geheimnisverrat begangen habe, müsse er auch heute von den aktuell an der Macht Befindlichen Verfolgung befürchten. Dabei könne er auch nicht auf den Nordirak als inländische Fluchtalternative verwiesen werden, da er dort ein ausreichendes Existenzminimum nur bei familiärer Bindung zum Nordirak erhalten könnte, an der es aber fehle. Dagegen werde der Kläger im Zentralirak aufgrund des von ihm begangenen militärischen Geheimnisverrats an die Kurden als Kollaborateur der USA angesehen. Die anhaltenden Anschläge im Irak würden nach dem Widerrufsbescheid gerade denjenigen Personen gelten, die der Kollaboration mit den USA verdächtigt würden. Die Übergangsregierung sei nicht in der Lage, den erforderlichen Schutz zu gewähren.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 19.10.2004 aufzuheben,

hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 19.10.2004 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegen.

Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf den angefochtenen Widerrufsbescheid schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 14.3.2006 – 2 K 35/06.A – die Klage abgewiesen.

Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, die im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung maßgeblichen Verhältnisse hätten sich nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erheblich und nicht nur vorübergehend verändert, sodass bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung drohe. Durch den allgemeinkundigen politischen Systemwechsel im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins durch die amerikanischen und britischen Truppen sei die früher von dessen Unrechtsregime ausgehende Gefahr einer politischen Verfolgung nunmehr eindeutig landesweit entfallen. Ungeachtet der nach wie vor schwierig abzuschätzenden künftigen Verhältnisse im Irak bestehe kein Anhaltspunkt für die Annahme, dass das gestürzte Regime Saddam Hussein jemals wieder an die Macht kommen werde und staatliche Verfolgungsmaßnahmen veranlassen könne. Früheres Verhalten, das unter dem gestürzten Regime Saddam Hussein zu einer Gefährdung hätte führen können, habe seine asylrelevante Bedeutung verloren. Dies gelte auch dann, wenn man zugunsten des Klägers annehme, dass er tatsächlich zum Nachteil des früheren Regimes von Saddam Hussein militärische Informationen an die kurdische Opposition weitergegeben habe. Von den amtierenden Machthabern im Irak, die selbst in Gegnerschaft zu Saddam Hussein stünden und selbst verfolgt worden seien, habe er aus diesen Gründen keine Verfolgungsmaßnahmen zu erwarten. Ebenso wenig sei feststellbar, dass er im Fall seiner Rückkehr in den Irak eine von nichtstaatlichen Akteuren nach Maßgabe des § 60 I 4 AufenthG ausgehende Verfolgung zu erwarten habe. Die Befürchtung des Klägers, dass er jetzt noch wegen des damaligen Geheimnisverrats von Anhängern des früheren Regimes als Kollaborateur der USA angesehen und verfolgt werde, stütze sich nicht auf konkrete Tatsachen.

Auch würden keine Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Insbesondere seien die Voraussetzungen einer Extremgefahr nach § 60 VII 1 AufenthG nicht einschlägig. Eine extreme Gefahrenlage liege im Irak nicht vor, ungeachtet der nach dem Sturz Saddam Husseins stark angestiegenen Kriminalität, verbunden mit Überfällen, Entführungen und täglich stattfindenden terroristischen Anschlägen, die auch zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung forderten. Auch wenn die zivilen Opfer der Terrorakte auf über 15.000, nach anderen Quellen auf 100.000 geschätzt würden, rechtfertige dies in der Relation zu der Bevölkerungszahl des Irak von rund 25 Millionen ersichtlich nicht die Annahme, jeder Iraker werde im Falle seiner Rückkehr unmittelbar und landesweit sehenden Auges Gefahr laufen, Opfer entsprechender terroristischer Anschläge zu werden. Überdies sei die Sicherheitslage im Nordirak im Allgemeinen besser als in Bagdad. Auch die allgemeine Versorgungslage rechtfertige keine Extremgefahr, denn es gebe keine konkreten Anhaltspunkte für eine drohende Nahrungsmittelknappheit oder gar eine Hungerkatastrophe, zumal ein Großteil der Bevölkerung weiterhin Lebensmittelrationen aus einem Programm der Vereinten Nationen erhalte.

Das Urteil wurde dem Kläger am 22.3.2006 zugestellt.

Am 5.4.2006 hat der Kläger Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt.

Mit Beschluss vom 10.5.2006 – 3 Q 103/06 – (Gerichtsakte Bl. 99) hat der Senat die Berufung wegen Grundsatzbedeutung zugelassen.

Der Kläger hat seine Berufung fristgemäß begründet.

Er trägt im Wesentlichen vor: Im Flüchtlingsrecht sei allgemein anerkannt, dass die politische Verfolgung des Bürgers eines Staates mit der Abwesenheit staatlichen Schutzes vor Verfolgung für den Betroffenen gleichzusetzen sei. Dies habe zur Konsequenz, dass ein Widerruf der Anerkennung als Flüchtling nur dann erfolgen könne, wenn für den Betroffenen in seinem Heimatland effektiver staatlicher Schutz wiederhergestellt sei und er unter Beachtung seiner Menschenwürde zurückkehren könne.

Dies setze zunächst einmal voraus, dass überhaupt funktionierende staatliche Strukturen bestünden. Das Bundesverwaltungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – zu Afghanistan die Feststellungen des OVG Schleswig-Holstein hinsichtlich des Bestehens einer effektiven staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt als nicht ausreichend angesehen; dies gelte auch für die Ausführungen des erstinstanzlichen Gerichts zum Bestehen einer effektiven staatlichen Gewalt im Irak.

Das Bundesverwaltungsgericht habe in diesem Urteil allerdings noch nicht zu der Frage Stellung genommen, ob für den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung die Wiederherstellung effektiven Schutzes durch den früheren Verfolgerstaat erforderlich sei und ebenso wenig dazu, ob dieser effektive Schutz im Irak wieder hergestellt sei.

Der Kläger begründet insbesondere mit Blick auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24.11.2005 seine Auffassung näher, dass das Regime Saddam Hussein zwar zwischenzeitlich gestürzt sei, effektiver staatlicher Schutz im Irak aber nicht wieder hergestellt sei. Die Regierung habe über die „grüne Zone“ Bagdads hinaus keinen Einfluss, während die Anhänger des früheren Diktators Saddam Hussein immer noch verfolgungsmächtig seien. Soweit sich die Regierung auf die Truppen der Allianz unter amerikanischer Führung stütze, reiche dies für die Wiederherstellung effektiven staatlichen Schutzes im Irak nicht aus, da vielmehr die Rückübertragung dieses Schutzes auf den Irak selbst erforderlich sei.

Unabhängig von der Frage des effektiven Schutzes habe sich die innenpolitische Situation im Irak nicht nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verändert. Die Änderung der maßgeblichen Verhältnisse müsse auf Dauer angelegt sein, und dafür sei eine Zukunftsprognose anzustellen. Das erstinstanzliche Gericht habe prognostiziert, dass Saddam Hussein nicht wieder an die Macht kommen werde und staatliche Verfolgungsmaßnahmen veranlassen könne; seine Prognose habe das Gericht aber nicht begründet. Demgegenüber sei festzuhalten, dass im Land immer noch eine starke Anhängerschaft des Regimes von Saddam Hussein vorhanden sei, die sich in zahlreichen, tagtäglich stattfindenden Anschlägen gegen die Besatzungstruppen sowie gegen die Sicherheitskräfte des aktuellen Regimes äußere. Die Herrschaft Saddam Husseins basiere auf einem Clan-System, das als solches weiter existiere und das auch ohne Saddam Hussein an der Spitze lebensfähig sei. Von einer hochgradig instabilen Lage gehe auch das VG Köln aus, das von dem OVG Münster bisher, etwa mit dem Beschluss vom 19.7.2005 – 9 A 2944/05.A – bestätigt worden sei. Auch das VG Sigmaringen halte mit Urteil vom 26.10.2005 – A 3 K 11212/04 – wegen der instabilen Verhältnisse eine hinreichend sichere Prognose über die politische Zukunft des Landes derzeit nicht für möglich. Mit Blick auf die Verschärfung der Lage habe etwa der Politiker Allawi ausweislich der Nachrichten des Deutschlandfunks vom 19.3.2006 davon gesprochen, dass sich das Land im Bürgerkrieg befinde. Herrsche aber Bürgerkrieg, so sei die Zukunft offen und es sei dann nicht auszuschließen, dass die Kräfte um den früheren Diktator Saddam Hussein wieder an die Macht gelangten. Der Machtclan könne sich auch, wie der Vietnamkrieg zeige, gegen eine Weltmacht durchsetzen. Die Zukunft des Irak sei auch dann offen, wenn man nicht von einem Bürgerkrieg ausgehe, sondern von einem Kampfgeschehen im Sinne eines Krieges von niedriger Intensität.

Entgegen der Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts sei auch derzeit vom Bestehen einer extremen allgemeinen Gefährdungslage im Sinne der verfassungskonformen Auslegung von § 60 VII AufenthG für den Irak auszugehen. Die irakischen Behörden seien derzeit nicht im Stande, den Bürgern des Landes auch nur ein Minimum an Schutz vor gewalttätigen Übergriffen zu gewähren; dies gelte nach Auffassung von UNHCR landesweit, so dass keine Region des Irak als hinreichend sicher angesehen werden könne. Auch insoweit könne auf das Urteil des VG Sigmaringen vom 26.10.2005 – A 3 K 11212/04 – verwiesen werden. Die irakischen Behörden seien danach nach wie vor nicht im Stande, die Zivilbevölkerung wirksam vor der hohen Zahl gezielter Anschläge und gewalttätiger Übergriffe zu schützen. Im Irak bestehe die realistische Gefahr, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen. Auch habe das Auswärtige Amt am 29.7.2005 eine Reisewarnung für den Irak herausgegeben, und dabei insbesondere darauf hingewiesen, Überfälle mit Waffengewalt seien an der Tagesordnung und das Risiko von Entführungen sei sehr hoch.

Gehe man davon aus, dass sich der Irak im Bürgerkrieg befinde oder gehe man zumindest davon aus, dass derzeit im Irak ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde, müsse man auch vom Bestehen einer extremen allgemeinen Gefährdungslage im Sinne von § 60 VII AufenthG ausgehen. Nach allem sei der Berufung stattzugeben.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 14.3.2006 – 2 K 35/06.A – den Bescheid der Beklagten vom 19.10.2004 aufzuheben,

hilfsweise, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 19.10.2004 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt in der mündlichen Verhandlung den ergangenen Bescheid. Sie sieht sich nach Analyse des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – in ihrer Rechtsauffassung bestätigt; danach komme es auf effektiven Schutz bietende staatliche Strukturen nicht an, vielmehr nur darauf, ob mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen sei. Die Terroranschläge bedrohten alle Iraker und müssten als allgemein drohende Gefahren beim Widerruf außer Betracht bleiben. Den ursprünglichen Verfolgungsvortrag des Klägers bestreitet die Beklagte.

Den Beteiligten ist die Dokumentationsliste des Senats für den Irak mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung sowie eine Ergänzung dazu zugesandt worden. Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Behördenakten der Beklagten F 2 056007, der Widerrufsakte der Beklagten 511 83 87-438 sowie der Ausländerakte Bezug genommen und auf das in der Dokumentationsliste und der Ergänzung aufgeführte Erkenntnismaterial.

Entscheidungsgründe

Die zugelassene und auch ansonsten zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Der Widerrufsbescheid der Beklagten vom 19.10.2004 erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (§ 77 I 1 AsylVfG) als rechtmäßig (unten I.). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die - hilfsweise begehrte - Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von sonstigen Abschiebungsverboten im Sinne von § 60 II bis VII AufenthG (unten II.)

I.

Der mit Blick auf den Systemwechsel im Irak ergangene Widerrufsbescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Das Aufhebungsbegehren des Klägers ist mangels einschlägiger Übergangsregelungen nach der neuen, durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage zu beurteilen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, für Widerrufsfälle.

Rechtsgrundlage ist mithin § 73 I 1 AsylVfG in der ab 1.1.2005 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950). Die Vorschrift lautet:

Die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, sind unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

In der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, liegen die Widerrufsvoraussetzungen dann vor, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, zitiert nach Juris; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, ähnlich Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, § 73 AsylVfG Rdnr. 7, im Sinne eines Wegfalls der asylrelevanten Umstände als Beseitigung der Verfolgungsgefahr; weiter gehend im Sinne einer grundlegenden und dauerhaften Änderung der Verhältnisse und nicht nur eines spiegelbildlichen Wegfalls der ursprünglich die Verfolgung begründenden Umstände VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -; Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 73 Rdnr. 77 und 79, im Sinne einer Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland von grundlegender Natur und Dauer mit dem Ergebnis einer eingetretenen relativen politischen und wirtschaftlichen Stabilität.

Eine wesentliche Weichenstellung für die hier einschlägige Beurteilung eines politischen Systemwechsels liegt darin, ob nur die Beseitigung des Unrechtsregimes und seiner Verfolgungsmaßnahmen selbst endgültig sein muss oder ob zusätzlich in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung und allgemeinen Gefahren durch stabile Verhältnisse vorherrschen muss. Das Bundesverwaltungsgericht, dem der Senat folgt, stellt allein darauf ab, dass die Beseitigung des Regimes dauerhaft ist.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, dort für Afghanistan; ebenso BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22/03 -, für den Irak, wobei das Bundesverwaltungsgericht im Wege eigener Tatsachenwürdigung es als ausreichend ansieht, dass das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist und damit Asylberechtigte offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen haben; ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, S. 11 des amtl. Umdruck, das es genügen lässt, dass das Regime Saddam Hussein seine politische und militärische Herrschaft über den Irak endgültig verloren hat und eine Rückkehr des alten Regimes nach den aktuellen Machtverhältnissen ausgeschlossen ist.

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Gefahr einer wiederholten Verfolgung wegfällt, und dies hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich für den Irak unter Billigung des Widerrufs entschieden.

BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 – 1 C 22/03 – zitiert nach Juris.

Der Kläger hält dem eine – in der mündlichen Verhandlung vertiefte - grundsätzliche Betrachtung zur Existenz effektiver staatlicher Gewalt und effektiven staatlichen Schutzes vor denkbarer Verfolgung bereits als Widerrufsvoraussetzung entgegen. Im Flüchtlingsrecht sei anerkannt, dass die politische Verfolgung des Bürgers eines Staates mit der Abwesenheit staatlichen Schutzes vor Verfolgung gleichzusetzen sei. Dies setze funktionierende staatliche Strukturen voraus, die aber im Irak nicht vorhanden seien. Nach den Grundsätzen der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – sei bereits das Bestehen einer effektiven staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt im Irak in Frage zu stellen, zumindest sei dies vom Verwaltungsgericht nicht ausreichend festgestellt. Die Regierung des Irak habe über die grüne Zone Bagdads hinaus keinen Einfluss auf die Wiederherstellung eines effektiven staatlichen Schutzes im Irak, und zwar auch nicht durch die Truppen der Allianz, da für die Wiederherstellung effektiven staatlichen Schutzes eine Rückübertragung an das Herkunftsland erforderlich sei. Die aufgeworfene Frage der Wiederherstellung effektiven Schutzes durch den früheren Verfolgungsstaat sei durch das Bundesverwaltungsgericht noch nicht entschieden.

Die Beklagte widerspricht dem und meint, auf effektiven Schutz bietende staatliche Strukturen im Sinne einer stabilen Schutzmacht komme es bei fehlender Verfolgung rechtlich nicht an.

Klar auseinander zu halten sind die Fragen, ob ein Staat überhaupt besteht und dafür das Erfordernis der Ausübung staatlicher Gewalt prinzipiell erfüllt, und ob in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung sowie vor allgemeinen Gefahren bestehen muss. Damit hat der Kläger Grundsatzfragen mit weit reichender – länderübergreifender - Bedeutung aufgeworfen. Die Fragen sind indes vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 - entschieden, und zwar nicht im Sinne des Klägers.

Was zunächst die Frage der Existenz eines Staates angeht, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 – im Gegensatz zur Vorinstanz, dem OVG Schleswig-Holstein, die Existenz von Afghanistan als Staat nicht ernsthaft in Frage gestellt. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (Seite 9 des Juris-Ausdrucks) genügt es, dass eine Übergangsregierung Gebietsgewalt im Sinne einer übergreifenden prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtigen Ordnung ausübt; dem stehe nicht entgegen, dass sich die Regierungsgewalt auch auf internationale Truppen stütze. Auch ein ausgesprochen schwacher Staat ist nach diesen Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts ein Staat und die internationalen Truppen werden dem Staat zugerechnet. Dies stimmt überein mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der es im Asylrecht weniger auf abstrakte staatstheoretische Begriffsmerkmale ankommt und zugunsten des Flüchtlings nur geringe Anforderungen an das Vorliegen eines Staates zu stellen sind, wobei in Bürgerkriegsfällen bereits ein Kernterritorium genügt.

BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Danach ist der Irak eindeutig ein Staat.

Der Irakkrieg von 2003 zielte zwar darauf ab, das Unrechtsregime von Saddam Hussein zu beseitigen, indessen nicht auf die Beseitigung des irakischen Staates. Vielmehr wurde nach Ablauf der Besatzungszeit die irakische Souveränität am 28.6.2004 wiederhergestellt, wie in Rechtsprechung und Erkenntnismaterial anerkannt ist.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.9.2004 – A 2 S 51/01 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 – A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 – 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, Seite 1; ebenso unterscheidet die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Auskunft vom 27.1.2006 (Seite 3) klar erkennbar zwischen der bejahten Existenz des irakischen Staates und der verneinten Frage, ob der irakische Staat die Bürger schützen könne, die nachweislich Verfolgung befürchten müssten.

Die nur erforderliche prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtige Gebietsgewalt unter Einbeziehung der internationalen Truppen ist zu bejahen, da der irakische Staat mit deren Hilfe zumindest in der Lage ist, dem bisherigen Regime von Saddam Hussein den Prozess zu machen, dadurch seine Unrechtsmaßnahmen zu beenden und den neuen Untergrundkrieg mit den Terroristen mit allerdings nur einzelnen Erfolgen aufgenommen hat und dabei den sunnitischen Widerstand verfolgt, mithin nicht etwa prinzipiell ohne Macht ist. Auch die kritische Organisation UNHCR, der sich amnesty international angeschlossen hat, stellt die effektive Herrschaft der irakischen Übergangsregierung lediglich für einzelne Teile des irakischen Staatsgebiets, vor allem im Zentralirak, in Frage.

UNHCR, Hinweise von April 2005; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Ebenso geht das VG Sigmaringen in seiner kritischen Rechtsprechung nicht von einer fehlenden Staatsmacht aus, sondern nimmt an, der Übergangsregierung sei es noch nicht gelungen, ihre Macht im gesamten Irak zu etablieren.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 – A 3 K 11212/04 -, S. 8 des Umdrucks.

Auf das gesamte Territorium kommt es aber nicht an.

Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt bereits ein Kernterritorium.

BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Weiterhin muss gesehen werden, dass der irakische Widerstand seit der von ihm verlorenen zweiten Schlacht um Falludscha im November 2004 angesichts der Übermacht der US-Truppen nicht mehr bestimmte Gebiete verteidigen, sondern mit Anschlägen den Wiederaufbau des Landes nachhaltig stören will.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006.

Nach den dargelegten Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts kann unter Einbeziehung der internationalen Truppen die Existenz des Staates Irak mit der prinzipiellen Ausübung von Staatsgewalt nach Ansicht des Senats nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden.

Von der Frage der Existenz des Staates Iraks ist die weitere Frage eines effektiven Schutzes durch den Staat Irak als stabile Schutzmacht vor möglicher Verfolgung und allgemeinen Gefahren zu unterscheiden.

Der Kläger zieht die Effektivitätsfrage gewissermaßen vor die Klammer der Verfolgungsprüfung. Vorrangig wird effektiver Schutz geprüft. Fehlt es daran, steht die Verfolgung fest und der Widerruf scheitert. Letztlich hat der effektive Schutz dann absolute Bedeutung für den Widerruf. Der Kläger meint weiter, die Frage des effektiven staatlichen Schutzes sei von dem Bundesverwaltungsgericht noch nicht, auch nicht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 –, entschieden; dem hat die Beklagte widersprochen.

Diese Auslegung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Kläger überzeugt nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – die nur relative Bedeutung eines effektiven Verfolgungsschutzes herausgestellt, diese Rechtsauffassung jedenfalls konkludent bereits in seinen beiden zuvor zum Irak ergangenen Entscheidungen vom 11.2.2004 – 1 C 23/02 – und vom 25.8.2004 – 1 C 22.03 – zugrunde gelegt und sodann die Frage einer stabilen Schutzmacht im Beschluss

vom 26.1.2006 – 1 B 135.05 –

ausdrücklich als nicht entscheidungserheblich bei fehlender Verfolgung behandelt.

In seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 – (Juris-Ausdruck Seite 6) hat das Bundesverwaltungsgericht für die Prüfung von Widerrufsfällen entschieden, dass nach der auch beim Widerruf anzuwendenden Vorschrift des § 60 I 4 AufenthG

eine Verfolgung nunmehr auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (kann), sofern der Staat, wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat nach der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht die gewissermaßen absolute Bedeutung, dass ein Widerruf ausscheidet. Ein fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat in Widerrufsfällen vielmehr nur die relative Bedeutung, dass vorrangig tatsächliche Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure zu prüfen sind. Die dargelegte Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet, dass effektiver staatlicher Schutz nicht bereits eine Widerrufsvoraussetzung ist; der Widerruf scheitert nicht von vornherein an fehlendem effektivem staatlichen Schutz durch eine stabile Schutzmacht.

Dieselbe Rechtsauffassung hat das Bundesverwaltungsgericht auch schon konkludent in einem unmittelbar den Irak betreffenden Urteil vom 25.8.2004 – 1 C 22.03 – in einem Widerrufsverfahren zugrunde gelegt. Auch dort wird die Frage der effektiven Schutzfähigkeit nicht als Widerrufshindernis geprüft. Vielmehr ist ausgeführt (Seite 3 des Juris-Ausdrucks):

Der Kläger hat bei einer Rückkehr in den Irak inzwischen offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen.

Es werden also nur Verfolgungsmaßnahmen ausgeschlossen. Dazu wird dargelegt, das irakische Regime sei durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden und andere Gründe, aus denen der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland politischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein könnte, seien nicht ersichtlich. Die effektive Schutzfähigkeit durch den irakischen Staat prüft das Bundesverwaltungsgericht nicht. Der Irak war im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (25.8.2004) gerade erst (am 28.6.2004) aus dem Besatzungsstatut in die Souveränität entlassen worden und vergleichbar schwach wie heute. Die fehlende effektive Schutzfähigkeit des Irak kann also kein absolutes Widerrufshindernis sein. Weiterhin hat das Bundesverwaltungsgericht in eigener Revisionswürdigung schon während der Besatzungszeit des Iraks eine Verfolgungsgefahr ausgeschlossen, ohne die effektive Schutzfähigkeit des Irak zu prüfen.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 – 1 C 23/02 -, dort betreffend einen Anerkennungsfall.

In den drei vom Senat aufgeführten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts aus 2004 und 2005 zum Irak und zu Afghanistan ist als gemeinsame klare Linie der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu entnehmen, dass in keinem der Fälle die effektive Schutzfähigkeit des Staates gewissermaßen als absolute Anforderung vor die Klammer gezogen wird und der Flüchtling bereits deshalb Verfolgter ist, weil sein Heimatstaat keinen effektiven Schutz durch eine stabile Schutzmacht gegen denkbare Verfolgungen bietet. Vielmehr ist vorrangig für das Bundesverwaltungsgericht, ob asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen nach den maßgebenden Kriterien der Rechtsprechung überhaupt zu befürchten sind. Für den Irak hat das Bundesverwaltungsgericht eine solche Verfolgungsgefahr verneint und bereits deshalb nicht die effektive Schutzfähigkeit des Staates vor denkbarer Verfolgung geprüft. In dem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/05 – ist die nur relative Bedeutung des effektiven staatlichen Schutzes vor Verfolgung hervorgehoben.

Sodann hat das Bundesverwaltungsgericht die Frage nach der Notwendigkeit einer stabilen Schutzmacht in einem neueren Revisionszulassungsverfahren auch ausdrücklich erörtert.

Beschluss des BVerwG vom 26.1.2006 – 1 B 135.05 -.

Es hat die aufgeworfene Frage der stabilen Schutzmacht als nicht entscheidungserheblich bei fehlender Verfolgung behandelt.

Dem folgt auch der Senat.

Mithin ist die vom Kläger aufgeworfene Grundsatzfrage der Bedeutung des effektiven Schutzes des Staates als stabiler Schutzmacht vor Verfolgung übereinstimmend mit der Meinung der Beklagten bereits höchstrichterlich geklärt; der Senat schließt sich der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an, wonach diese Frage nur relative Bedeutung bei vorrangig festzustellender tatsächlicher Verfolgungsgefahr hat.

Sodann ist mit Blick auf die Auffassung des UNHCR die Frage zu erörtern, ob nach dem politischen Systemwechsel über den Ausschluss erneuter Verfolgung hinaus auch noch Schutz vor allgemeinen Gefahren durch eine stabile Lage verlangt werden kann. Die Stabilitätsfrage wird also nochmals gestellt, aber nunmehr nicht mit Blick auf die Verfolgung, sondern mit Blick auf allgemeine Gefahren. Auch diese Frage hat grundsätzliche und zugleich länderübergreifende Bedeutung, ist aber vom Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden.

Die Widerrufsregelung des Gesetzgebers zielte nach der ursprünglichen Gesetzesbegründung auf den Fall, dass in dem Verfolgungsland ein Wechsel des politischen Systems eingetreten ist, sodass eine weitere Verfolgung nicht mehr zu befürchten ist.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, unter Darstellung der Gesetzesmaterialien.

Der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck bezieht sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausschließlich auf den Ausschluss erneuter Verfolgungsmaßnahmen, nicht auf Schutz vor allgemeinen Gefahren.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Die den Rechtsstandpunkt des Klägers stützende Gegenmeinung, die insbesondere von der Flüchtlingshilfeorganisation UNHCR näher begründet wird, geht über den Verfolgungsausschluss hinaus und verlangt für den Widerruf zusätzlich stabile Verhältnisse im Herkunftsland.

UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention auf irakische Flüchtlinge von April 2005, S. 2.

UNHCR nimmt dabei an, dass der internationale Flüchtlingsschutz nicht nur dem Schutz vor erlittener oder drohender Verfolgung diene, sondern auch der Schaffung dauerhafter Lösungen für Flüchtlinge; deshalb könnten Flüchtlinge nicht zur Rückkehr in die instabilen Verhältnisse des Irak gezwungen sein mit der Gefahr, dass immer neue Flüchtlingsströme entstehen.

UNHCR-Hinweise von April 2005, S. 2.

Dieser vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vertiefte Gesichtspunkt leuchtet dem Senat durchaus rechtspolitisch ein.

Es geht um die Erweiterung des Schutzzwecks auf allgemeine Gefahren zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme. Unter Hinweis auf die Interessenwürdigung durch UNHCR verlangt auch Marx relative politische und wirtschaftliche Stabilität in dem Land nach dem Systemwechsel.

Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 73 Rdnr. 79.

Das VG Köln, auf das sich der Kläger beruft, ist dieser Auffassung gefolgt.

VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -, wonach eine instabile beziehungsweise unsichere Lage im Herkunftsland Irak einem Widerruf entgegenstehe.

Besonders deutlich wird diese Rechtsposition durch das VG Sigmaringen dargestellt, auf das sich der Kläger ebenfalls beruft.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -.

Danach geht es bei dem Widerruf nicht nur um Verfolgungsschutz, sondern erweiternd um effektive Schutzgewährung, und ein wesentlicher Aspekt der effektiven Schutzgewährung ist die allgemeine Sicherheitslage.

Ungeachtet der rechtspolitischen Vorzüge der Ansicht von UNHCR folgt der Senat der systematisch begründeten Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach der Widerruf keinen Gefahrenausschluss durch stabile Verhältnisse voraussetzt. Diese Auslegung ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Nach Art. 16 a I GG dient das Asylrecht dem Schutz politisch Verfolgter

Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 7. Auflage 2004, Art. 16 a Rdnr. 1, wonach das Asylgrundrecht auf die Erfahrung mit dem Dritten Reich und den damals rassistisch und politisch Verfolgten zurückgeht und Menschen in einer ähnlichen politischen Lage in anderen Ländern helfen soll.

Dagegen ist das Grundrecht nach der Verfassungsrechtsprechung nicht in der Lage, auch einen effektiven Schutz vor politisch und wirtschaftlich instabilen Verhältnissen, oder sogar vor anarchischen Zuständen mit Auflösung der Staatsgewalt zu gewähren.

Zum Letzteren BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Ist dies aber der Fall, verbietet das Grundgesetz auch unter Einschluss des vom Kläger zitierten Art. 1 I GG nicht einen geminderten Flüchtlingsschutz für Fälle des Staatszerfalls.

Darüber hinaus ist die grundrechtskonforme Begrenzung des Gesetzeszwecks auf den Verfolgungsschutz nach der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowohl völkerrechtskonform als auch europarechtskonform.

Die Widerrufsvorschrift des deutschen Rechts geht zurück auf Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - vom 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560), wonach eine Person nicht mehr unter den Schutz des Flüchtlingsabkommens fällt,

wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wollte der deutsche Gesetzgeber mit seiner Widerrufsbestimmung die materiellen Anforderungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention übernehmen und hat dies auch getan.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Nach der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet Wegfall der Umstände im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK eine nachträgliche erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Unter Schutz im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK ist danach ausschließlich der Schutz vor zu erwartenden erneuten Verfolgungsmaßnahmen zu verstehen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/06 -.

Das Bundesverwaltungsgericht beruft sich für seine Rechtsauffassung auf eine systematische Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention. Der Begriff Schutz des Landes in dieser Wegfallbestimmung hat danach keine andere Bedeutung als der gleich lautende Begriff Schutz dieses Landes in Art. 1 A Nr. 2 GFK, der die Flüchtlingseigenschaft begründet. Nach dieser Vorschrift kommt es insbesondere darauf an, dass der Betroffene aus begründeter Furcht vor Verfolgung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann. Nach dem Zusammenhang dieser Definitionsvorschrift kann mit dem Schutz des Landes nur der Schutz vor den befürchteten Verfolgungsmaßnahmen gemeint sein; ein Schutz vor instabilen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen als Begründung der Flüchtlingseigenschaft ist ersichtlich nicht mit umfasst. Die instabile Lage begründet nicht die Verfolgteneigenschaft Dies gilt konsequent auch für den Wegfall der Flüchtlingseigenschaft, und deshalb beenden auch nicht erst stabile Verhältnisse die Verfolgteneigenschaft.

Der Senat folgt der systematischen Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts.

Zusätzlich ist noch auf folgenden in der mündlichen Verhandlung erörterten Auslegungsgesichtspunkt hinzuweisen:

Die unmittelbar anschließende völkerrechtliche Widerrufsregelung für Staatenlose in Art. 1 C Nr. 6 GFK enthält keine Schutzklausel. Dies kann schwerlich bedeuten, dass damit Staatenlosen der sonst zu gewährende effektive Schutz entzogen wird. Vielmehr spricht diese Regelung dafür, dass mit dem völkerrechtlichen Begriff „Schutz“ nur der prinzipielle Schutz des Herkunftsstaates für seine Staatsangehörigen gemeint ist, der naturgemäß nicht auf Staatenlose übertragen werden kann.

Auch dies spricht für die Auslegung des Völkerrechts durch das Bundesverwaltungsgericht.

Ergänzend zu berücksichtigen ist für die Auslegung des deutschen Rechts das Europarecht. Dabei geht es um die Vorwirkung der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikationsrichtlinie - bereits vor dem bevorstehenden Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006.

Nach der Rechtsprechung des EuGH, der sich der Senat angeschlossen hat, ist nationales Recht schon vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist bereits erlassener Richtlinien so auszulegen, dass der Zweck der Richtlinie erreicht werden kann.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 - C 211/03 -, Rz 44; Urteil des Senats vom 3.2.2006 - 3 R 7/05 - Seite 49 des amtl. Umdrucks, beide Entscheidungen ergangen zum Arzneimittelrecht.

Inhaltlich führt die europäische Richtlinie aber zu keiner anderen Rechtslage als der bereits dargelegten völkerrechtlichen Regelung der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern sie bestätigt noch zusätzlich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.

Wesentlich ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass die völkerrechtliche Wegfallklausel der Genfer Flüchtlingskonvention in die Qualifikationsrichtlinie ebenso wörtlich übernommen ist wie der symmetrische Schutzbegriff sowohl bei der Begründung der Flüchtlingseigenschaft als auch bei dem Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft. Nach Art. I e der Qualifikationsrichtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser nicht mehr Flüchtling, wenn er

nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Für die Begründung der Flüchtlingseigenschaft stellt Art. 2 c der Qualifikationsrichtlinie unter eigenständiger Formulierung der Verfolgungsmerkmale ebenso wie die Genfer Flüchtlingskonvention auf die begründete Furcht vor Verfolgung ab und verlangt sodann wörtlich übereinstimmend, dass der Flüchtling

sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann .....

Die vom Bundesverwaltungsgericht bereits im Zusammenhang mit dem Völkerrecht ausgelegten Parallelbegriffe „Schutz des Landes“ sowie „Schutz dieses Landes“ finden sich also wörtlich gleich lautend in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der umzusetzenden Qualifikationsrichtlinie der EG. Das Bundesverwaltungsgericht hat auch konsequenterweise in einem Nichtzulassungsbeschluss bereits ausgeführt, die Annahme einer Vorwirkung der Richtlinie 2004/83/EG führe nicht zu einem günstigeren Auslegungsergebnis der Widerrufsvorschrift.

BVerwG, Beschluss vom 15.2.2006 - 1 B 120/05 -, ohne eingehende Begründung; eben so Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; a. A. das VG Köln in seinem Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -, das aus den übereinstimmenden Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie einen Schutz auch vor einer instabilen Lage in Anspruch nimmt.

Hinzu kommt, dass die europäische Richtlinie die Wegfallklausel in Art. 11 II über das Völkerrecht hinaus dahin gehend präzisiert, dass die Mitgliedstaaten zu untersuchen haben,

ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist.

Damit wird der Schwerpunkt der Prüfung auf die Veränderung selbst gelegt, nicht auf stabile Verhältnisse.

Dies entspricht exakt der Auslegung des deutschen Rechts durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die mithin durch das neue Europarecht bestätigt wird.

Zusammengefasst ergibt sich aus der dargelegten systematisch überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entgegen der rechtspolitisch vorzugswürdigen Ansicht von UNHCR als grundsätzliche Weichenstellung der Widerrufsmaßstab, dass nur der Verfolgungsausschluss maßgebend ist. Die Gefahr von erneuten Verfolgungsmaßnahmen ist nach den Kriterien der Rechtsprechung zu prüfen. Allgemeine Gefahren etwa aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage bleiben bei dem Widerruf außer Betracht.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Verfolgungsgefahr wegfällt.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23/02 -, zitiert nach Juris.

Erweist sich die Beseitigung eines Regimes mit dessen spezifischen Verfolgungsmaßnahmen als endgültig, kann über den Wegfall der tatsächlichen Verfolgungsgefahr hinaus ein stabiler Staat weder zum Verfolgungsausschluss noch zum Gefahrenausschluss verlangt werden. Der Staat braucht also nicht stark zu sein. Die dargestellte Weichenstellung hinsichtlich stabiler Verhältnisse ist der Hauptgrund dafür, dass der Flüchtlingswiderruf in der Rechtsprechung einiger Instanzgerichte als rechtswidrig beurteilt wird; darauf ist noch einzugehen.

Die dargelegte erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der Verhältnisse muss nach dem anzulegenden Maßstab dazu führen, dass die Verfolgungsmaßnahmen nicht mehr wiederholt werden. Mit Blick auf die Vorverfolgung des Klägers gilt dafür der herabgestufte Maßstab der hinreichenden Sicherheit.

BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - BVerwG 9 C 6.96 -, BVerwGE 104, 97; ebenso BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21.04 -, zitiert nach Juris.

Dem bereits Vorverfolgten soll nicht das Risiko einer Wiederholung der Verfolgung aufgebürdet werden. Dabei braucht die Gefahr des Eintritts wiederholter Verfolgungsmaßnahmen nach diesem Maßstab nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen zu werden, so dass bereits geringe Zweifel dem Begehren zum Erfolg verhelfen würden. Vielmehr ist eine Wiederholungsgefahr der Verfolgung nach diesem Prognosemaßstab zu bejahen, wenn sich ernsthafte Bedenken nicht ausräumen lassen.

BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - BVerwG 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97.

Nach dem dargelegten Maßstab ist durch die Entmachtung Saddam Husseins eine erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der politischen Verhältnisse eingetreten, die nicht mehr umkehrbar ist. Dies steht mit hinreichender Sicherheit fest. Das Regime von Saddam Hussein ist gestürzt, seine Armee und seine Polizei sind aufgelöst, die Baath-Partei ist verboten, seine Verfolgungsmaßnahmen sind beendet, einige Mitglieder des Regimes sind getötet und Saddam Hussein und dem Kern seines Regimes wird im Irak der Prozess gemacht. Gerade darin liegt der Verfolgungsschutz des Klägers vor weiteren Unrechtsmaßnahmen des Regimes von Saddam Hussein, der keinen ernsthaften Bedenken unterliegt.

Dem hält der Kläger die eigene Einschätzung entgegen, angesichts der anerkannt labilen Sicherheitslage und der hohen Zahl der täglichen Anschläge sei in einem Bürgerkrieg oder jedenfalls einem Krieg von niedriger Intensität die Zukunft offen und es sei nicht auszuschließen, dass die Kräfte um den früheren Diktator Saddam Hussein wieder an die Macht gelangten, sein Machtclan sei noch vorhanden.

Dem Kläger ist zwar hinsichtlich der instabilen, manchmal eskalierenden Sicherheitslage, des hohen Gewaltniveaus durch tägliche Anschläge aus dem Untergrund im Sinne eines Untergrundkriegs und damit einer offenen Lage nach dem übereinstimmenden Erkenntnismaterial Recht zu geben.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005: amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005 und Jahresbericht 2006, UNHCR, Position von September 2005, vgl. auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Der Irak steht – wie es das OVG Koblenz prägnant formuliert – am Scheideweg zwischen Demokratie und Staatszerfall.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Insofern ist die Zukunft offen. Sie schließt den offenen Ausbruch eines Bürgerkriegs und ein Auseinanderbrechen des Irak ein.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

In dem hier entscheidenden Punkt, ob der Sturz des Regimes von Saddam Hussein und seines Machtclans in absehbarer Zeit unumkehrbar ist, besteht aber entgegen der Meinung des Klägers in Rechtsprechung und im Erkenntnismaterial ungeachtet der unterschiedlich kritischen Beurteilung des Iraks die fast einhellige Überzeugung, dass die Entmachtung Saddam Husseins und seines Clans nicht mehr umkehrbar ist.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den während des Laufs mehrerer Revisionsverfahren 2003 eingetretenen Sturz von Saddam Hussein abschließend selbst beurteilt mit dem Ergebnis, dass mit einer Wiederholung der Verfolgung offenkundig nicht mehr zu rechnen sei.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -; BVerwG Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, jeweils zitiert nach Juris.

Das Bundesverwaltungsgericht hält es also für offenkundig, dass Saddam Hussein und sein Clan nicht an die Macht zurückkehren.

Die Obergerichte teilen diesen Standpunkt. Nach der Auffassung des OVG Münster hat das bisherige Regime Saddam Husseins seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch den am 20.3.2003 begonnenen Militärschlag unter Führung der USA endgültig verloren und eine Rückkehr des alten Regimes ist nach den aktuellen Machtverhältnissen ebenso ausgeschlossen wie die Bildung einer Struktur, die eine vom früheren Regime gesehene Gegnerschaft als solche übernimmt und wiederholend verfolgt.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Der VGH Baden-Württemberg hält es mit hinreichender Sicherheit für ausgeschlossen, dass Anhänger des früheren Baath-Regimes bei realistischer Betrachtung wieder staatliche Herrschaftsgewalt ausüben könnten und zwar ungeachtet der äußerst angespannten Sicherheitslage.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Nach der Einschätzung des OVG Lüneburg ist der Sturz des Regimes von Saddam Hussein nach allen vorliegenden Erkenntnissen eindeutig und unumkehrbar, und zwar trotz der problematischen und oft eskalierenden Sicherheitslage im Irak.

OVG Lüneburg, Urteil vom 13.2.2006 - 9 LB 75/03 -.

Nach der Beurteilung des Bayerischen VGH gibt es keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass Saddam Hussein oder Angehörige seines früheren Regimes in absehbarer Zeit in der Lage sein könnten, sich neu zu formieren und staatliche Verfolgungsmaßnahmen zu veranlassen.

BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -.

Nach der Einschätzung des OVG Koblenz ist die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein vollständig; die tragenden Personen sind nicht nur durch das irakische Volk abgewählt, sondern zum Teil getötet oder außer Landes und ihm selbst und seinen führenden Helfern wird der Prozess gemacht, so dass eine weitere Verfolgung durch die persönliche Diktatur auszuschließen ist.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 107/95/05.OVG -.

Auch das OVG Schleswig-Holstein und das Sächsische OVG sehen den Machtverlust des diktatorischen Regimes von Saddam Hussein als endgültig an.

OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 18.5.2006 – 1 LB 117/05 -; Sächsisches OVG, Beschluss vom 28.8.2003 - A 4 B 573/02 -.

Soweit sich der Kläger auf die Rechtsprechung einiger Instanzgerichte beruft, die für den Irak die Widerrufsvoraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung verneinen, werden bei vergleichbarer Tatsachenwürdigung die rechtlichen Weichen anders gestellt. Das VG Köln ist der Auffassung, dass der Wegfall der ursprünglich die Verfolgung begründenden Verhältnisse nicht genüge und deshalb der Sturz des Regimes von Saddam Hussein allein nicht ausreiche; vielmehr müsse der Charakter der Veränderungen selbst stabil sein, was angesichts der hochgradigen instabilen Lage im Irak nicht der Fall sei.

VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -.

Allerdings ist die Rechtsprechung des VG Köln zur Rechtswidrigkeit des Widerrufs entgegen der Meinung des Klägers von dem OVG Münster nicht inhaltlich bestätigt worden. So hat das OVG Münster zwar in einem Beschluss vom 20.10.2005 (nicht: 19.7.2005) – 9 A 2944/05.A – ein entsprechendes Urteil des VG Köln aus prozessualen Gründen bestätigt. In seiner Rechtsprechung in der Sache selbst hat das OVG Münster aber wie dargelegt den Widerruf unter Abänderung einer Entscheidung des VG Köln als rechtmäßig angesehen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 – 9 A 3590/05.A – unter Abänderung des Urteils des VG Köln vom 24.8.2005 – 18 K 5732/04.A -.

Besonders deutlich wird die unterschiedliche rechtliche Weichenstellung bei im Wesentlichen gleicher Tatsacheneinschätzung in der Beurteilung des VG Sigmaringen, auf das sich der Kläger beruft.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -.

Nach der Rechtsprechung des VG Sigmaringen wurde durch die Militäraktion ein grundlegender Systemwechsel bewirkt; eine Rückkehr zu den alten Machtverhältnissen ist ausgeschlossen. Bei der Widerrufsentscheidung darf dagegen nicht die allgemeine Sicherheitslage ausgeklammert werden und wegen der erheblichen Unsicherheit der politischen Entwicklung und der realistischen Gefahr von Terroranschlägen hat ein Widerruf zu unterbleiben. Die abweichende Rechtsauffassung des VG Sigmaringen beruht also bei grundsätzlich gleicher Lagebeurteilung auf einer Rechtsauffassung, die das Bundesverwaltungsgericht und dem folgend der Senat nicht teilt.

Der Einschätzung durch die Rechtsprechung entspricht grundsätzlich auch die Beurteilung durch das vorliegende Erkenntnismaterial. In dem aktuellen Erkenntnismaterial wird meist nicht einmal mehr die Frage aufgeworfen, ob Saddam Hussein oder sein Clan an die Macht zurückkehren könnte.

Das Auswärtige Amt stellt eine Umsetzung des politischen Prozesses durch demokratische Wahlen bei gleichzeitig hohem Gewaltniveau und einer Annäherung an bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen fest; es geht davon aus, dass in dem am 19.10.2005 eröffneten Strafverfahren gegen Saddam Hussein und sieben weitere Repräsentanten der Diktatur den Angeklagten die Todesstrafe droht, rechnet also ersichtlich nicht mit einer erneuten Machtergreifung von Saddam Hussein und seinem Clan.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe würdigt in ihrer Analyse den politischen Übergang des Iraks zur Demokratie bei gleichzeitig äußerst schlechter Sicherheitslage.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Nach der Einschätzung der kritischen Flüchtlingshilfeorganisation UNHCR hat der Sturz des Regimes von Saddam Hussein noch nicht überall im Land zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen geführt; nach dem Sturz bestehen aber keine Anhaltspunkte dafür, dass Saddam Hussein selbst wieder die Macht erlangen könnte. Die Zukunft sei insofern unsicher, als es zu Sezessionsbestrebungen kommen könne.

UNHCR, UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention auf irakische Flüchtlinge von April 2005.

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international hat sich der Beurteilung durch UNHCR angeschlossen, dass nach dem Wegfall der autoritären Zentralgewalt der Sturz der Regierung von Saddam Hussein noch nicht im gesamten Irak zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen geführt hat; die Frage einer Rückkehr wird nicht aufgeworfen.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Das Deutsche Orient-Institut sieht in den Terroranschlägen lediglich einen Versuch, die politische Entwicklung des Irak zu bestimmen; die Rückkehrfrage von Saddam Hussein oder seines Machtclans wird nicht gestellt.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006.

Bei einer Gesamtwürdigung ist erkennbar, dass die vorliegende Rechtsprechung explizit von der Unumkehrbarkeit des Sturzes von Saddam Hussein in absehbarer Zeit ausgeht, während das aktuelle Erkenntnismaterial überwiegend die Frage bereits nicht mehr aufwirft. Soweit ersichtlich enthält das Erkenntnismaterial keinen näher begründeten ernsthaften Anhaltspunkt dafür, Saddam Hussein oder sein Machtclan könnte die Herrschaft im Irak wieder ergreifen und die Verfolgung ihrer früheren Gegner fortsetzen.

Dem Kläger ist einzuräumen, dass die Tatsache des praktisch einhelligen Ergebnisses in Rechtsprechung und Erkenntnismaterial eine Begründung dieser Prognose nicht ersetzt. Er beanstandet es, dass das Verwaltungsgericht seine Prognose zur Unumkehrbarkeit der Verhältnisse nicht begründet hat.

In der Rechtsprechung findet sich indessen eine tragfähige Begründung der Unumkehrbarkeit der Verhältnisse, die auch gegenüber der Argumentation des Klägers mit Blick auf die offene Lage überzeugt.

Wesentliche Bedeutung für die Unumkehrbarkeit des Verlustes der Macht hat die Art der Entmachtung des Regimes. Das Bundesverwaltungsgericht hat Gewicht darauf gelegt, dass das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -; BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -; jeweils zitiert nach Juris.

Ebenso hat das OVG Münster darauf abgestellt, dass das bisherige Regime von Saddam Hussein seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die am 20.3.2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren hat.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Das Regime von Saddam Hussein ist mithin nicht durch einen umkehrbaren Putsch oder durch die Intervention eines ähnlich starken Nachbarlandes entmachtet worden, sondern hat den Krieg gegen eine führende Macht der Welt endgültig verloren. In diesem Kriegsverlust liegt ein Unterschied zu dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung erwähnten Vietnamkrieg, in dem das nordvietnamesische Regime von den Amerikanern nicht besiegt und beseitigt wurde und sich erst danach neu etabliert hat. Ausdrückliches und erreichtes Kriegsziel im Irakkrieg war die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein. Der Verlust eines solchen Krieges lässt sich realistischerweise nicht einfach umkehren. Auch der sunnitische Widerstand geht in seiner Einschätzung von einer Übermacht der US-Truppen im Irak und nicht von einem Kräftegleichgewicht aus.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Die Kräfte sind zu ungleich, um mit dem Kläger insoweit eine offene Lage zu sehen. Deshalb bestehen auch keine ernsthaften Bedenken gegenüber der Unumkehrbarkeit des Sturzes von Saddam Hussein und seines Machtclans einschließlich seiner spezifischen Verfolgungsmaßnahmen.

Wenn der Kläger demgegenüber meint, die Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein seien nicht zerschlagen, da das Clan-System existiere und lebensfähig sei, überzeugt das nicht. Zu den Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein gehörten abgesehen von dem Clan vor allem seine Armee, seine Polizei und die Baath-Partei. Seine Armee und die Polizei sind zerschlagen worden, die Baath-Partei ist verboten. Die das Regime tragenden Personen des Machtclans sind vom irakischen Volk abgewählt, zum Teil getötet, und dem Kern des Regimes wird der Prozess gemacht, so dass bei einer Gesamtwürdigung von einer Beseitigung der persönlichen Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein auszugehen ist.

So überzeugend OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Alle diese Herrschaftsstrukturen sind endgültig zerschlagen. Allenfalls kann man mit der Einschätzung von UNHCR und amnesty international annehmen, dass es noch nicht überall im Land zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen gekommen ist, aber auch UNHCR sieht darin keinen Gesichtspunkt dafür, Saddam Hussein könne wieder die Macht erlangen.

Von Bedeutung ist, dass das Clan-System von Saddam Hussein allein in einer Minderheitsgruppe verankert war. Das OVG Münster stützt seine Prognose darauf, dass es nicht wieder zu einer Ballung der Macht bei einer der Volksgruppen kommen werde, zumal nicht in der Hand der nur eine Minderheit darstellenden Gruppe der Sunniten, in der das Regime Saddam Husseins vor allem verankert war.

OVG Münster, Urteil vom 17.5.2004 - 20 H 1810/02.A -.

Die arabischen Sunnitinnen und Sunniten stellen im Irak einen Bevölkerungsanteil von etwa 17 bis 22 % dar.

Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006.

Die gewaltsame Wiedererlangung der Macht einer diktatorischen sunnitischen Minderheit durch Bombenanschläge sowohl gegen die Mehrheit der großen Volksgruppen des Irak als auch gegen das erreichte Kriegsziel einer Weltmacht ist nicht realistisch.

Das bestätigt auch die bisherige demokratische Entwicklung des Irak, die durch einen Untergrundkrieg des Widerstands mit täglichen Bombenanschlägen nicht zu verhindern war. Die Entwicklung im Irak ist sowohl durch die demokratische Neugestaltung als auch den Untergrundkrieg mit Bombenanschlägen geprägt.

Die seit dem Irakkrieg 2003 eingetretene politische Entwicklung, insbesondere die demokratische Beteiligung der wesentlichen Gruppen des Iraks, der Schiiten, der arabischen Sunniten und der Kurden, lässt keinen Anhaltspunkt für eine nochmalige diktatorische Minderheitsherrschaft der Sunniten zu, wobei die von Saddam Hussein verfolgte Mehrheit der Schiiten realistischerweise auch nicht als Bündnispartner der Diktatur der Sunnitenminderheit bereit steht.

Am 28.6.2004 wurde unter Beendigung der amerikanisch-britischen Besatzung die Souveränität des Irak wieder hergestellt.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Die am 30.1.2005 erstmals durchgeführten demokratischen Wahlen führten zu einer demokratischen Legitimierung der irakischen Regierung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005.

Aufgrund dieser ersten Wahlen stellten die Schiiten den Ministerpräsidenten und 16 Minister, die Kurden 8 Minister, die Sunniten 6 Minister und die Christen und Turkmenen je einen Minister. Zum Staatspräsidenten wurde am 6.4.2005 der Kurde Talabani gewählt. Seine Stellvertreter wurden ein Schiit und ein sunnitischer Araber. Am 15.10.2005 hat die irakische Bevölkerung in einem Referendum die neue irakische Verfassung entgegen den Bombenandrohungen mit einer Wahlbeteiligung von immerhin 63 % angenommen. Die Verfassung bestimmt, dass der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat ist. Der Islam ist eine Hauptquelle der Gesetzgebung; die Verfassung enthält einen umfassenden Menschenrechtskatalog und garantiert eine Frauenquote von 25 % im Parlament. Am 19.10.2005 hat ein irakisches Sondergericht zur Aufarbeitung der Verbrechen des ehemaligen Regimes das erste Verfahren gegen Saddam Hussein sowie sieben weitere Repräsentanten des früheren Regimes eröffnet.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005, amnesty international, Jahresbericht 2006.

Am 15.12.2005 fanden im Irak Parlamentswahlen mit einer Wahlbeteiligung von immerhin 75 % der Wahlberechtigten ungeachtet der Bombendrohungen statt. Von den 275 Parlamentssitzen errangen die religiöse Schiiten-Allianz 128, das kurdische Wahlbündnis 53 und die sunnitische Irakische Konsensfront 44 Sitze.

Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006.

Die Regierungsbildung war sehr langwierig, da die Kurden und die Sunniten den bisherigen schiitischen Ministerpräsidenten Dschaafari ablehnten. Erst im Mai 2006 wurde eine neue Regierung durch das irakische Parlament bestätigt. Neuer Ministerpräsident ist der Schiit Al-Maliki. Der Ölminister ist Schiit, der Außenminister Kurde und der Vizepremier Sunnit.

Vgl. zur Regierungsbildung Süddeutsche Zeitung vom 22.5.2006.

Insgesamt spiegelt das vollständige Kabinett mit 20 Schiiten, 8 Kurden, 8 Sunniten und 4 Säkularen den ethnisch-konfessionellen Proporz des Irak wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Der Kurde Talabani wurde am 22.4.2006 erneut zum Staatspräsidenten gewählt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Angesichts der Entwicklung der Machtverhältnisse, die von einer Mehrheit der unter dem sunnitischen Regime unterdrückten schiitischen und kurdischen Bevölkerungsgruppen geprägt ist, hält es der Senat mit hinreichender Sicherheit für ausgeschlossen, dass Anhänger des früheren Baath-Regimes bei realistischer Betrachtung als Minderheitsgruppe wieder diktatorische Herrschaftsgewalt ausüben werden, dafür die zuvor von Saddam Hussein verfolgten Volksgruppen gewinnen und sodann die Verfolgung wieder aufnehmen.

Der Verlust des Krieges gegen eine Weltmacht kann realistischerweise nicht mehr umgekehrt werden und dies ist auch wie dargelegt im Vietnamkrieg nicht geschehen.

Nach allem liegt in der Entmachtung von Saddam Hussein und des Minderheitsregimes der arabischen Sunniten einschließlich der spezifischen Verfolgungsmaßnahmen des Regimes eine unumkehrbare Entwicklung. Der Kläger hat mithin offenkundig nicht mehr mit einer wiederholten politischen Verfolgung zu rechnen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Wegfall der politischen Verfolgung bereits im Jahr 2004 als offenkundig bezeichnet, BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, unter eigener Beurteilung der Entwicklung in der Revisionsinstanz.

Der Kläger ist also hinreichend sicher davor, dass der Clan um Saddam Hussein nach dem verlorenen Krieg gegen eine Weltmacht erneut eine sunnitische Minderheitsdiktatur begründet und die Verfolgung des Klägers gerade dort aufnimmt, wo sie 1995 beendet wurde, nämlich mit der vorgetragenen drohenden Verhaftung wegen der Übermittlung von Einzelheiten der Militärfahrzeuge Saddam Husseins an die kurdische Partei PUK im Nordirak. Nach dem herabgesetzten Prognosemaßstab ist der Kläger mithin vor einer solchen Wiederholung dieser spezifischen Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher.

Nach diesem Maßstab droht dem Kläger keine erneute Verfolgung.

Allerdings befürchtet der Kläger dennoch, er werde ungeachtet des Regimewechsels wegen des plausibel vorgetragenen früher begangenen militärischen Geheimnisverrats zugunsten der kurdischen Partei PUK weiterhin zur Rechenschaft gezogen. Dieser in der mündlichen Verhandlung von der Beklagten bestrittene Verfolgungsvortrag kann zugunsten des Klägers als richtig unterstellt werden. Auf Grund der vorgetragenen Verfolgung meint der Kläger nach seinem erstinstanzlichen Vorbringen, er müsse heute von den aktuell an der Macht Befindlichen Verfolgung befürchten, mithin von der irakischen Regierung.

Eine solche Individualverfolgung durch den – an sich verfolgungsfähigen - neuen irakischen Staat ist aber auszuschließen. Saddam Hussein ist durch die Militärmacht der Amerikaner und Engländer entmachtet worden. Die seinerzeit verfolgte und vom Kläger unterstützte kurdische Partei PUK wird nunmehr von Talabani geleitet, der selbst Staatspräsident des Irak ist.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die jetzige, demokratisch legitimierte Regierung des Irak setzt sich aus Gegnern Saddam Husseins zusammen. Insbesondere wurde der schiitische Ministerpräsident Al-Maliki unter Saddam Hussein zum Tode verurteilt; der Ölminister Al-Schahristani war unter Saddam Hussein inhaftiert und gefoltert worden, weil er sich weigerte, an der Entwicklung einer Atombombe und damit der militärischen Macht Saddam Husseins mitzuarbeiten.

Süddeutsche Zeitung vom 22.5.2006.

Ein nachträglicher Schutz einzelner Daten der Militärmacht Saddam Husseins nach dem Stand von 1995 durch die Strafgerichte des neuen irakischen Staats oder durch andere staatliche Maßnahmen liegt außerhalb jeder realen Möglichkeit. Im Visier der Regierungsmaßnahmen ist der sunnitisch-arabische Widerstand. Dazu gehört der Kläger eindeutig nicht, was keiner näheren Darlegung bedarf.

Weiterhin fürchtet der Kläger wegen der damaligen Weitergabe der Daten der Militärfahrzeuge eine Individualverfolgung durch nichtstaatliche Akteure (§ 60 I 4 c AufenthG), und zwar durch das sunnitische Terrorpotenzial, das den neuen irakischen Staat bekämpft. Der Kläger befürchtet einen individuellen Racheakt.

Eine solche Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu prüfen, wenn der Staat beziehungsweise gebietsmächtige Organisationen einschließlich internationaler Organisationen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 -.

Nach der zutreffenden Einschätzung von UNHCR sind die Koalitionstruppen und die irakischen Sicherheitskräfte, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, nicht im Stande, die Sicherheit vor Attentaten zu gewährleisten.

UNHCR, Hinweise von April 2005; Position von September 2005; ebenso UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Mithin ist die Gefahr eines individuellen Attentats auf den Kläger zu prüfen.

In der irakischen Wirklichkeit kommen individuelle Racheakte vor. Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich insbesondere, dass Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der Regierung zusammenarbeiten, mit Racheakten des bewaffneten sunnitischen Widerstands rechnen müssen.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und schon vom 24.11.2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005 sowie vom 9.6.2004: frühere exponierte Parteimitglieder und Angehörige des früheren Regimes, die die Seite gewechselt haben; keine Berichterstattung über solche Fälle in amnesty international, Jahresbericht 2006.

So hat sich das Deutsche Orient-Institut insbesondere mit dem Fall eines Arztes befasst, der nach dem Ende des Saddam-Regimes einen Lagerwechsel vornahm, politisch gegen das ehemalige Regime arbeitete und dafür von dem sunnitischen Widerstand gezielt ermordet wurde; hier hat das Deutsche Orient-Institut eine individuelle Gefahr auch für den Bruder des ermordeten Arztes bejaht.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006.

Insofern werden Seitenwechsler als Verräter und Kollaborateure im Einzelfall von dem sunnitischen Widerstand durch Racheakte bestraft.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006.

Zu diesen Personen gehört der Kläger aber nicht, der als bereits ursprünglicher Gegner Saddam Husseins und Anhänger der kurdischen Sache zu keinem Zeitpunkt die Seite gewechselt hat. Vielmehr hat er nach seiner Erstanhörung vom 13.12.1995 die Zusammenarbeit mit der Baath-Partei von Saddam Hussein abgelehnt.

Im Einzelfall kommen auch Racheakte von ehemaligen Anti-Saddamisten an Saddamisten vor, wenn es auch im Irak keine „Nacht der langen Messer“ gegeben hat.

Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 3.4.2006.

Auch davon ist der Kläger nicht betroffen, da er kein Saddamist war.

Im Übrigen kommen auch individuelle Racheakte im Verhältnis von Schiiten und Sunniten vor, die sich gegenseitig die begangenen Morde vorrechnen; diejenigen, die sich für ihre Racheakte Opfer suchen, tun dies auf ganz direkte Weise und aus ganz direkten Gründen.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006.

Bezogen auf die Vergangenheit kommt es in Einzelfällen zu individuellen Racheakten aus dem ganz direkten Grund, dass jemand persönlich Blut an seinen Händen hat.

So das Deutsche Orient-Institut in seinen Gutachten vom 14.6.2005 und vom 31.3.2005.

Auch eine solche Individualgefahr von Racheakten betrifft den Kläger nicht, der bereits nach seinem ursprünglichen Vortrag bei seiner Erstanhörung in Deutschland vom 13.12.1995 bis einschließlich der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nichts über eine Verwicklung in eine Bluttat vorgetragen hat.

Indirekte Gründe begründen dagegen nicht die realistische Gefahr eines Racheaktes. Insbesondere haben selbst die früheren Kämpfe gegen die Kurden heute nicht mehr das Gewicht, das für einen Racheakt einer der beiden Seiten erforderlich wäre.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.6.2005, mit Ausnahme der persönlichen Verantwortlichkeit für ein Massaker, die hier aber ersichtlich nicht vorliegt.

Ist aber bereits die direkte Beteiligung an früheren Kämpfen zwischen Kurden und Arabern heute nicht mehr unter dem Gesichtspunkt von gegenseitigen individuellen Racheakten von Gewicht, gilt dies erst recht für die bloß indirekte Beteiligung an den Kämpfen durch Übermittlung von Fahrzeugdaten der Militärfahrzeuge Saddam Husseins nach dem Stand von 1995. Die damaligen Übermittlungen des Klägers von Fahrzeugdaten an die Kurden fanden acht Jahre vor dem entscheidenden Irak-Krieg von 2003 statt, durch den Saddam Hussein die Macht verloren hat. Zu diesem entscheidenden Irak-Krieg hat der Kläger, der in Deutschland war, nichts beigetragen. Die militärischen Einzelheiten von Armeefahrzeugen Saddam Husseins nach dem seinerzeitigen Stand von 1995 haben keine Bedeutung für den jetzigen sunnitischen Widerstand, der den aktuellen Staat aus dem Untergrund mit Autobomben und Selbstmordattentaten – und nicht etwa mit Panzern und Armeefahrzeugen - bekämpft. Deshalb ist der Kläger bei realistischer Betrachtung nicht in Gefahr, wegen seiner indirekten Unterstützung der kurdischen Sache im Jahr 1995 persönliche Zielscheibe eines Attentats des sunnitischen Widerstands zu werden.

Nach allem ist der Kläger hinreichend sicher vor einer Individualverfolgung wegen seiner vorgetragenen früheren indirekten Unterstützung der kurdischen Sache.

Auf den Streit der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung, ob der durchaus plausible ursprüngliche Verfolgungsvortrag des Klägers zutrifft, kommt es daher nicht an.

Sonstige Gesichtspunkte für eine Individualverfolgung des Klägers sind weder ersichtlich noch vorgetragen.

Zu prüfen ist sodann die in der mündlichen Verhandlung erörterte mögliche Gruppenverfolgung des Klägers als Mitglied der kurdisch-sunnitischen Volksgruppe durch Terrorkräfte als private Akteure. Bei der ethnisch-religiösen Gruppenverfolgung durch Private handelt es sich um eine gänzlich anders geartete Verfolgung als bisher behandelt ohne jeden Zusammenhang mit der Vorverfolgung durch Saddam Hussein, und deshalb ist im Rahmen der Widerrufsreglung nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – BVerwG 1 C 15.05 -.

Ein Ereignis ist dann beachtlich wahrscheinlich, wenn die für den Eintritt sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen.

BVerwG, Urteil vom 14.12.1993 – 9 C 45.92 -.

Ausgehend von diesem Maßstab droht dem Kläger als Mitglied der kurdischen Volksgruppe landesweit keine Gruppenverfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Als tatsächlicher Grund für eine solche Verfolgung sind die Terroranschläge im Irak zu prüfen.

Das größte Risiko für alle Menschen im Irak ist die instabile, manchmal eskalierende Sicherheitslage durch die Terroranschläge aus dem Untergrund, die an der Tagesordnung sind.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005 und Jahresbericht 2006; zur landesweit anhaltenden Gewalt auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Im Irak gibt es täglich landesweit mehr als hundert Anschläge aus dem Untergrund.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -, S. 15; zu den Anschlagsarten SFH, Position vom 9.6.2004.

Das entspricht einem Untergrundkrieg, wie auch in der mündlichen Verhandlung erörtert wurde.

Insgesamt hat die Sicherheitslage im Irak einen Tiefpunkt erreicht.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Sicherheitslage ist nicht nur in Bagdad prekär, sondern auch in den anderen großen Städten des Zentral- und Südirak sehr angespannt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Nach der zutreffenden Einschätzung von UNHCR sind die Koalitionstruppen und die irakischen Sicherheitskräfte, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, nicht imstande, die Sicherheit der irakischen Bevölkerung vor Attentaten und Sprengstoffanschlägen zu garantieren.

UNHCR, Hinweise von April 2005, UNHCR, Position von September 2005; UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Die darzulegenden Gefahren sollen hier im Rahmen des rechtlichen Ansatzes des Senats nach dem Maßstab der landesweiten Gruppenverfolgung dahingehend betrachtet werden, ob sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung zu Lasten des Klägers, der ein sunnitischer Kurde ist, begründen lässt; danach ist auf eine Fluchtalternative einzugehen.

Die den Untergrundkrieg führende bewaffnete Opposition im Irak setzt sich aus verschiedenen Gruppierungen zusammen mit einem harten Kern von ungefähr 12.000 bis 40.000 Mitgliedern, die teils einen islamistischen Hintergrund, teils einen arabisch-nationalistischen Hintergrund haben.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, wonach sich bei 20.000 Militanten eine klar Trennlinie zwischen baathistischen und islamistischen Rebellen nicht ziehen lässt.

Zwischenzeitlich besteht der bewaffnete Widerstand im Untergrund ganz überwiegend aus sunnitischen Arabern.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands, unter Hinweis darauf, dass etliche prominente und vor allem ausländische Mitglieder der Al-Qaida inzwischen durch den beträchtlichen Druck der amerikanischen Besatzungstruppen entweder festgenommen worden sind oder bereits im Kampf gefallen sind.

Der Hauptzweck des bewaffneten Widerstandes wird in dem Erkenntnismaterial praktisch einhellig darin gesehen, den Wiederaufbau des Landes zu verhindern oder wenigstens nachhaltig zu stören.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien vom 4.2.2006; Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands; sinngemäß auch UNHCR, Hinweise von April 2005, dort in personalisierter Form des Ziels mit Blick auf die Personen des Wiederaufbaus.

Für den bewaffneten irakischen Widerstand stellt die schiitisch dominierte irakische Regierung derzeit den Hauptgegner dar, irakische Truppeneinheiten sind ein bevorzugtes Angriffsziel.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Es gibt derzeit landesweit etwa 240.000 irakische Soldaten und Polizisten.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Im Erkenntnismaterial besteht im Wesentlichen Übereinstimmung, dass zu dem Hauptziel der Anschläge die irakische Regierung und die irakischen Sicherheitskräfte gehören.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, zu den irakischen Sicherheitskräften; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 6.9.2005, zu den irakischen Sicherheitskräften; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, zu den Regierungsmitgliedern; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 9.6.2004, zu den neuen irakischen Sicherheitskräften; UNHCR, Hinweise von April 2005, zu den Mitarbeitern der irakischen Regierung und zu Polizisten; amnesty international, Jahresbericht 2006.

Diese Personen sind als Zielscheibe des Terrors einem erhöhten Risiko ausgesetzt, durch Bombenanschläge in dem Untergrundkampf umzukommen. Nach der Einschätzung von amnesty international sind alle Personen, die bei den multinationalen Streitkräften oder bei der irakischen Polizei angestellt sind, in Gefahr, gezielt bei der Arbeit oder in ihrer Freizeit als Kollaborateur ermordet zu werden.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; amnesty international, Jahresbericht 2006.

Der Kläger gehört eindeutig nicht zu diesem erhöht gefährdeten Personenkreis.

Entsprechend dem dargelegten Ziel des bewaffneten Widerstandes, den Wiederaufbau im Irak zu verhindern, gehören zu den engeren Anschlagszielen über Regierung und Sicherheitskräfte hinaus die öffentlichen Personen des Wiederaufbaus.

Zu den exponierten Personen gehören nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe Personen der Öffentlichkeit wie Intellektuelle, Ärzte, Anwälte, Richter, Menschenrechtsaktivisten, führende Persönlichkeiten irakischer Parteien, religiöse Würdenträger, Medienschaffende und irakische Unternehmer.

Vgl. die insgesamt sehr umfangreiche Auflistung erhöht gefährdeter Personen des Wiederaufbaus in den Berichten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9.6.2004 und vom 15.6.2005.

Damit vergleichbar sind nach der Einschätzung von UNHCR insbesondere Personen gefährdet, die sich um den Wiederaufbau im Irak bemühen, wie über Regierungsmitglieder und Polizisten hinaus Richter, Rechtsanwälte, Intellektuelle, Ärzte und Journalisten.

UNHCR, Hinweise von April 2005 und Positionspapier von Oktober 2004.

Anschlagsziele sind nach der vergleichbaren Darlegung von amnesty international auch Angestellte des öffentlichen Dienstes, Regierungsbeamte, Richter und Journalisten.

amnesty international, Jahresbericht 2006.

Auch nach der Würdigung des Auswärtigen Amtes richten sich die Anschläge zunächst vor allem gegen Personen, die mit dem politischen oder wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes verbunden werden.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, in der Zusammenfassung; im Einzelnen werden insbesondere Anschläge auf Politiker, Journalisten und Professoren sowie Ärzte dargestellt.

Der Senat legt für seine Rechtsprechung die im Wesentlichen übereinstimmende Einschätzung des Auswärtigen Amtes, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von UNHCR zugrunde, dass die Anschläge insbesondere auch öffentlichen Personen des Wiederaufbaus im Irak gelten.

Zur terminologischen Klarstellung sei noch darauf hingewiesen, dass teilweise die Personen, die lediglich gegenwärtig am Wiederaufbau teilnehmen, schon deshalb ohne weiteren Vergangenheitsbezug als Kollaborateure angesehen werden (im Gegensatz zu den bereits dargestellten Seitenwechslern). So sind nach der Einstufung von amnesty international alle Personen, die derzeit bei den multinationalen Streitkräften oder bei der irakischen Polizei angestellt sind, in Gefahr, gezielt als Kollaborateur ermordet zu werden.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; für Angestellte der multinationalen Streitkräfte nochmals amnesty international, Jahresbericht 2006.

In diesem weiten Sinn gebraucht auch der vom Kläger herangezogene Widerrufsbescheid vom 19.10.2004, S. 8 (Widerrufsakte Bl. 25) den Begriff Kollaborateur, wonach die anhaltenden Anschläge im Irak in aller Regel zielorientiert den multinationalen Truppen gelten, den irakischen Polizeistationen sowie der Kollaboration verdächtigten Repräsentanten irakischer Institutionen sowie ausländischen Zivileinrichtungen.

Dieser weit gefasste Begriff der Kollaboration knüpft allein an die gegenwärtige Wiederaufbaubeteiligung an.

Ähnlich Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006, wonach kooperations- und beteiligungswillige arabische Sunniten von den gewalttätigen Kräften als Kollaborateure angesehen werden.

Nach allem ist der Senat mit Blick auf die übereinstimmende Würdigung des Auswärtigen Amts, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von UNHCR der Auffassung, dass engere Anschlagsziele über Regierung und Sicherheitskräfte hinaus die öffentlichen Personen des Wiederaufbaus mit einer daraus folgenden erhöhten Gefährdung sind.

Zu dieser Personengruppe gehört der Kläger nicht. Er ist bezogen auf den gegenwärtigen Wiederaufbau des Irak schon wegen seiner über zehnjährigen Abwesenheit seit 1995 keine öffentliche Person des Wiederaufbaus. Mithin kann realistischerweise ausgeschlossen werden, dass der Kläger nach einer Rückkehr in den Irak als öffentliche Person des Wiederaufbaus und in diesem Sinn als Kollaborateur zu den engeren Anschlagszielen des bewaffneten irakischen Widerstands gehört.

Da der sunnitische Widerstand vor allem die schiitisch dominierte Regierung als Hauptgegner ansieht, gerät die schiitische Volksgruppe insgesamt in das Blickfeld des Widerstands und kommt es im Sinne von weiter gestreuten Zielen auch zu Selbstmordattentaten insbesondere in schiitischen Vierteln Bagdads, die überwiegend der schiitischen Volksgruppe gelten.

Vgl. zu einem solchen Attentat mit 140 getöteten Zivilpersonen amnesty international, Jahresbericht 2006, S. 209; zur internen Diskussion von Anschlägen auf Schiiten vgl. Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstandes.

Auf die Bedrohung der schiitischen Volksgruppe ist noch einzugehen.

Solche Anschläge bedeuten aber zugleich eine Gefahr für alle Zivilpersonen, die sich – auch als Nichtschiiten wie der Kläger – zufällig in einem solchen schiitischen Stadtviertel aufhalten.

Im Falle einer Rückkehr in den Irak ist der Kläger auch als Kurde der landesweiten Gefahr von Terroranschlägen letztlich ebenso ausgesetzt wie die Zivilbevölkerung des Irak, und zwar ohne hinreichenden Schutz der Sicherheitskräfte. Als allgemeine Gefahr für die gesamte Zivilbevölkerung wird die Anschlagswelle auch im Erkenntnismaterial gesehen.

Das Auswärtige Amt würdigt die Anschläge ausdrücklich als enorme allgemeine Bedrohung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Das Deutsche Orient-Institut sieht dies ebenso. Die zahlreichen Anschläge gelten danach insbesondere Institutionen der irakischen Sicherheitskräfte, von ihnen sind aber alle Irakerinnen und Iraker bedroht; die Terroristen nehmen den Tod völlig Unbeteiligter massenhaft in Kauf.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 6.9.2005.

Nach der Feststellung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe werden Zivilisten oft Opfer, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 9.6.2004.

Nach der Würdigung des Auswärtigen Amtes trägt die weitgehend ungeschützte Zivilbevölkerung den Großteil der Opferlast.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Passanten werden regelmäßig Opfer von Gewalt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Nach Darlegung von amnesty international kommen Zivilpersonen ums Leben bei Autobomben oder Anschlägen von Selbstmordattentätern, die an sich der irakischen Polizei, Regierungstruppen, Militärkonvois und Stützpunkten der multinationalen Truppen gelten.

amnesty international, Jahresbericht 2006.

Bei den Sprengstoffanschlägen werden nach Darlegung von UNHCR unbeteiligte zivile Opfer von den Akteuren bewusst in Kauf genommen.

UNHCR, Hinweise von April 2005.

Ein Minimum an Schutz der Zivilbevölkerung vor den Bombenanschlägen besteht nicht.

UNHCR, Position von September 2005.

Der Senat geht sodann auf die landesweite Anschlagsdichte ein.

Entsprechend der Betrachtungsweise, dass die Zivilbevölkerung insgesamt Opfer der Terroranschläge ist, enthält das Erkenntnismaterial summierte Zahlen über die zivilen Opfer für den gesamten Irak.

Die Anschlagsopfer unter den Sicherheitskräften einerseits und unter der Zivilbevölkerung andererseits werden im Erkenntnismaterial verglichen. Besonders hohe Verluste haben die irakischen Sicherheitskräfte mit – allein 2005 – 4300 getöteten Polizisten und Soldaten.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Amnesty international hat sowohl die Opfer unter den amerikanischen Soldaten als auch unter der Zivilbevölkerung landesweit konkret dargelegt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Danach wurden durch die Anschläge 1.572 US-Soldaten getötet und 12.174 verletzt. Bei den Anschlägen kamen 2.300 Zivilisten ums Leben und die Anzahl der zivilen Opfer insgesamt wird zwischen 21.239 und 24.106 eingeschätzt. Das Auswärtige Amt gibt eine – pauschale - höhere Zahl von Opfern unter den Zivilisten zwischen 30.000 und 100.000 wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Bezogen auf die Zivilbevölkerung des Irak ist zunächst mit Blick auf das Gewicht der Verfolgungshandlungen von dem schwersten asylerheblichen Eingriff der Anschläge mit Todesfolge auszugehen und die Anschlagsdichte festzustellen.

Die – jährlich wachsende - Bevölkerung des Irak beträgt rund 27 Millionen Menschen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die mehrjährigen Todesopfer unter der Zivilbevölkerung durch Massenanschläge gibt amnesty international mit über 2.300 Menschen an.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort S. 10.

Die Anschlagsdichte der tödlichen Anschläge beträgt mithin für die gesamte Zivilbevölkerung des Irak im Durchschnitt 1:12.000.

Nach dem schwerstmöglichen Eingriff der Tötung ist auf die Verletzungsgefahr durch Massenanschläge abzustellen. Dafür liegen sowohl konkrete Zahlen als auch pauschale Abschätzungen vor. Nach den konkreten Zahlen von amnesty international wurden landesweit zwischen 21.239 und 24.106 zivile Opfer durch Anschläge geschätzt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, S. 10.

Auszugehen ist von der Maximalzahl von 24.106 Opfern. Bezogen auf die Verletzungsgefahr ist damit die Anschlagsdichte auf der Grundlage der Zahlen von amnesty international 1:1100.

Eine nochmals viermal höhere pauschale Schätzung für die zivilen Opfer gibt das Auswärtige Amt mit 30.000 bis 100.000 Opfern wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, dort S. 15.

Nach den derzeitigen Zahlen wurden jeden Monat 3.000 Iraker verletzt oder getötet.

Süddeutsche Zeitung vom 4.9.2006, S. 1, unter Wiedergabe einer Analyse des amerikanischen Verteidigungsministeriums.

Das entspricht auf das Jahr bezogen rund 36.000 Anschlagsopfern.

Geht man von der noch höheren Schätzung des Auswärtigen Amtes von 100.000 Anschlagsopfern aus, ergibt sich als Höchstabschätzung eine landesweite Anschlagsdichte von 1:270.

Zahlen liegen auch für Bagdad vor, die einen Vergleich von Tötungsrate und Entführungsrate ermöglichen. So beträgt nach den Zahlen von amnesty international speziell die Tötungsrate in Bagdad, hier aber einschließlich der Kriminalität, 90 von 100.000 Einwohnern.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort S. 10; zu einer Gewalteskalation in Bagdad mit 1091 Tötungen im April 2006 vgl. Süddeutsche Zeitung von 11.5.2006, S. 7.

Auf dieser Grundlage besteht die Gefahr, in Bagdad durch Anschläge oder anschlagsunabhängig durch Kriminelle getötet zu werden, rund 1:1.100.

Ähnlich groß ist in Bagdad die Entführungsgefahr. Ausgehend von täglich 10 bis 15 meist kriminellen Entführungsfällen

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/005.OVG -, S. 15

ergeben sich bei täglich 15 Fällen im Jahr rund 5500 Entführungen und damit bezogen auf die 5-Millionen-Stadt eine Entführungsrate von rund 1:900.

Die Entführungsrate ist also der Tötungsrate vergleichbar.

Die dargelegten Zahlen belegen die äußerst problematische und manchmal eskalierende Sicherheitslage im Irak und die Gefahr der Zivilbevölkerung, durch einen Anschlag verletzt oder getötet oder entführt zu werden. Ein vollständiges Ausweichen vor den Anschlägen ist der Zivilbevölkerung des Irak landesweit nicht möglich, auch wenn im kurdisch verwalteten Nordirak die Anschlagsdichte insgesamt geringer ist.

Vgl. zu Letzterem übereinstimmend Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006 sowie Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, wonach die Sicherheitslage im Nordirak mit Ausnahme von wenigen Anschlägen stabil ist, und UNHCR, Position von September 2005, wonach deutlich weniger Gewalttaten verübt werden.

Mithin liegt eine allgemeine Gefahr für die Zivilbevölkerung vor, der sie landesweit nicht vollständig ausweichen kann. Es ist verständlich, dass der Kläger in ein solches Land nicht zurückkehren möchte, in dem er sich nach seinem persönlichen Vorbringen in der mündlichen Verhandlung überdies als Ausländer fühlt.

Für den Widerruf entscheidend ist aber nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts allein das Vorliegen einer Verfolgungsgefahr, nicht einer allgemeinen Gefahr. Deshalb muss der Senat prüfen, ob sich die Gefahr zugunsten des Klägers rechtlich als Gruppenverfolgungsgefahr würdigen lässt.

Als Gruppenverfolgung kommt hier die private Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure, insbesondere den sunnitischen Untergrund, in Betracht.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner neuen Rechtsprechung klargestellt, dass für die private Gruppenverfolgung grundsätzlich die gleichen Anforderungen wie für eine staatliche Gruppenverfolgung gelten.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Diesem Maßstab schließt sich der Senat an.

Der Senat prüft im Folgenden als generelle Verfolgungsmuster im Irak nacheinander eine Gruppenverfolgung der Zivilbevölkerung und dann der großen Volksgruppen.

Die allgemeine Anschlagsgefahr kann zugunsten des Klägers nicht bereits als Gruppenverfolgung der Zivilbevölkerung des Irak insgesamt angesehen werden. Das ergibt sich sowohl aus dem erforderlichen Ausgrenzungsgesichtspunkt der Verfolgung als auch aus dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet die politische Verfolgung grundrechtlich eine Ausgrenzung durch intensive Rechtsverletzungen.

BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 231.

Die Zivilbevölkerung des Irak kann nicht im Ganzen aus dem irakischen Volk ausgegrenzt werden.

Das Europarecht führt mit Eindeutigkeit zu demselben Ergebnis. Nach Art. 10 I d der neuen als Auslegungshilfe heranziehbaren europäischen Qualifikationsrichtlinie muss eine verfolgte Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität haben und von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Dies scheidet bei der Zivilbevölkerung des Irak aus, denn für sie existiert keine sie umgebende Gesellschaft.

Weiterhin fehlt es selbst bei unterstellter Ausgrenzung an dem Merkmal der Verfolgungsdichte. Die Gruppenverfolgung bedeutet eine Regelvermutung der eigenen Verfolgung.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Eine Gruppenverfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voraus, dass jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muss; die eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen muss als eher zufällig anzusehen sein.

Zu diesen Merkmalen BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216-231 und 232.

Bei der Verfolgungsdichte ist sodann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwischen großen und kleinen Gruppen zu unterscheiden, da eine bestimmte absolute Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe als bedrohlich erweist, eine große Gruppe nicht im Ganzen bedroht.

BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158/94 -, zitiert nach Juris.

Als große Gruppe hat das Bundesverwaltungsgericht insbesondere eine Gruppe von knapp 2 Millionen Kosovo-Albanern sowie eine Gruppe von 4 Millionen Kurden in bestimmten Gebieten der Türkei angesehen, als kleine Gruppe insbesondere eine Gruppe syrisch-orthodoxer Christen in der Türkei von etwa 1.300 Personen.

Zu den großen Gruppen BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158/94 -; Urteil vom 30.4.1996 - 9 C 170/95 -; zu der kleinen Gruppe Beschluss vom 22.5.1996 - 9 B 136/96 -.

Bei der Zivilbevölkerung des Irak von 27 Millionen Menschen läge im Sinne der Rechtsprechung zur Verfolgungsdichte eine große Gruppe vor. Einen Anhaltspunkt für die erforderliche Verfolgungsdichte ergibt sich aus der dargelegten Verfassungsrechtsprechung, wonach die eigene bisherige Verschonung eher zufällig sein muss. Dies erfordert zwar nicht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit von Eingriffen, da auch eine qualitative Betrachtung erforderlich ist. Bezogen auf eine große Gruppe hat das Bundesverwaltungsgericht eine Verfolgungsdichte von etwa einem Drittel als im Ansatz ausreichend angesehen, die aber auf entsprechender Tatsachengrundlage belegt werden muss.

BVerwG, Urteil vom 30.4.1996 - 9 C 170/95 -, wonach der Ansatz des Berufungsgerichts von 1,5 Millionen Eingriffen gegenüber 4 Millionen Kurden mit Blick auf die erforderliche Verfolgungsdichte nicht beanstandet wird, wohl aber mit Blick auf die Belegung durch Tatsachenfeststellungen.

Die genaue Grenzziehung kann offen bleiben. Im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird die notwendige Verfolgungsdichte bei einer großen Gruppe allenfalls noch bei einer Verfolgungsdichte von 1:10 erreicht; dann könnte noch von einer Regelvermutung der eigenen Verfolgung gesprochen werden. Positiv gewendet überleben bei dieser Verfolgungsdichte 90 % der Mitglieder der großen Volksgruppe die Anschläge unverletzt. In diesem Fall kann es im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr als Zufall angesehen werden, dass ein einzelnes Mitglied der Volksgruppe unverletzt überlebt.

Die dargelegte Anschlagsdichte für die Zivilbevölkerung nach den konkreten Zahlen von amnesty international für Verletzungsopfer von 1:1100 und selbst nach den höheren pauschalen Zahlen des Auswärtigen Amtes von 1:270 wahrt einen sicheren Abstand von der kritischen Verfolgungsdichte von 1:10. Bei der festgestellten landesweiten Anschlagsdichte im Irak kann es ungeachtet der Furchtbarkeit der Einzelschicksale nicht mehr als bloßer Zufall angesehen werden, dass ein Gruppenmitglied bisher selbst von einem Anschlag verschont worden ist und im Irak unverletzt überlebt. Vielmehr ist es ein Zufall, selbst von einem Anschlag getroffen zu werden. Die Tötungs- und Entführungsgefahr ist wie dargelegt geringer als die Verletzungsgefahr. Bei einer qualitativen Wertung kann ausgeschlossen werden, dass entsprechend den Verfolgungsvoraussetzungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die gesamte Zivilbevölkerung des Irak gezwungen wäre, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage ihr Land zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen.

Zu dieser Voraussetzung BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 230.

Ungeachtet der landesweit ungewöhnlich hohen Anschlagszahlen im Irak und der problematischen Sicherheitslage besteht nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jedes Mitglied der Zivilbevölkerung allenfalls noch zufällig ohne Entführung und unverletzt überleben kann, in eine ausweglose Lage gebracht wird und das Land verlassen muss.

Bei der Frage der Gruppenverfolgung ist nach der Zivilbevölkerung als größtmöglicher Gruppe auch die Aufgliederung des Irak in große Bevölkerungsgruppen als generelles Verfolgungsmuster in den Blick zu nehmen.

Die größte Bevölkerungsgruppe bilden die arabischen Schiitinnen und Schiiten, die rund 60 % bis 65 % der Bevölkerung ausmachen und vor allem im Südosten und Süden des Landes wohnen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe sind die arabischen Sunnitinnen und Sunniten mit etwa 17 bis 22 % der Bevölkerung und damit rund 5 Millionen, die ihren Schwerpunkt im Zentralirak und Westirak haben.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die vor allem im Norden des Landes lebenden überwiegend ebenfalls sunnitischen Kurdinnen und Kurden machen mit 15 bis 20 % der Bevölkerung rund 5 Millionen aus.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

In Bagdad leben unterschiedliche Bevölkerungsgruppen teilweise in eigenen Vierteln.

Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; amnesty international, Jahresbericht 2006 für schiitische Viertel.

Engeres Ziel der Anschläge des irakischen Widerstandes sind die irakischen Sicherheitskräfte, d.h. die irakischen Truppeneinheiten und die neue irakische Polizei. Der Truppen- und Polizeieinsatz der irakischen Sicherheitskräfte erfolgt landesweit. Da diese Sicherheitskräfte Zielscheibe des Terrors sind, erfolgen die Anschläge nach dem Erkenntnismaterial landesweit und sind nicht etwa auf den Zentralirak begrenzt.

Zu den landesweiten Anschlägen eingehend Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005, ebenfalls zu den landesweiten Anschlägen amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, zur Gefahr für jeden Iraker Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Auch im Nordirak erfolgen Anschläge etwa auf Polizeirekruten.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Ungeachtet der Binnenströme der Bevölkerung jeweils zu ihren eigenen Hochburgen

vgl. zu Binnenvertreibungen aus den Hochburgen anderer Bevölkerungsgruppen außerhalb Bagdads insbesondere Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; zu Binnenvertreibungen von 35.000 Menschen aufgrund des Anschlags auf die schiitische Moschee von Samarra Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

treffen bei einer Gesamtbetrachtung die landesweiten Bombenanschläge im Irak neben dem eigentlichen Ziel der irakischen Sicherheitskräfte auch immer die Zivilbevölkerung jedes Geschlechts und Alters in ihrer jeweiligen Volksgruppenprägung. Die Terroristen nehmen den Tod völlig unpolitisch-unbeteiligter Irakerinnen und Iraker massenhaft in Kauf, und Zivilpersonen werden oft Opfer, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind.

Amnesty international, Jahresbericht 2006; Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005 und Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004, UNHCR, Hinweise von April 2005.

Die Zivilbevölkerung trägt den Großteil der Opferlast der Anschläge.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Dieser Zusammenhang von Operationen gegen die irakischen Polizei- und Militärkräfte und gegen die Zivilbevölkerung ist auch dem bewaffneten irakischen Widerstand bewusst und führt dort zu Differenzen.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Solange der Tod der unpolitisch-unbeteiligten Zivilbevölkerung massenhaft in Kauf genommen wird, ist jede Irakerin und jeder Iraker, ungeachtet der Religionszugehörigkeit, von diesen Anschlägen bedroht.

So überzeugend Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Nach der demografischen Zusammensetzung des Irak sind rund 60 % der Bevölkerung Frauen – also etwa 17 Millionen – und 50 % der Bevölkerung – also etwa 13,5 Millionen – sind unter 18 Jahren alt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die gewaltsamen Anschläge können gleichsam blind jeden treffen.

OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -.

Auch Kinder sind Opfer der Bombenanschläge.

Amnesty international, Jahresbericht 2006.

Bei dieser Sachlage fehlt es aber bei den Anschlägen an einer Ausgrenzung jedenfalls der großen Volksgruppen mit Ausnahme allenfalls der schiitischen Volksgruppe. Nach der Verfassungsrechtsprechung knüpft die Gruppenverfolgung an kollektive Merkmale einer Gruppe an.

BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 231.

Die dargelegten Terroranschläge, die eigentlich auf die Sicherheitskräfte und auf öffentliche Personen des Wiederaufbaus zielen, treffen wegen des Terrormittels der Bombenexplosionen je nach dem Wohnviertel immer auch die jeweilige unbeteiligte Zivilbevölkerung, in einem schiitischen Wohnviertel mithin vor allem Schiiten. Der Kampf des sunnitischen Widerstandes gegen die schiitisch dominierte Regierung kann allerdings auch die große schiitische Volksgruppe in den Blick nehmen und im Weiteren etwa auch schiitische Stadtviertel Bagdads einschließen.

Zur Vorgehensweise amnesty international, Jahresbericht 2006; zu den Widerstandszielen einschließlich der kontrovers diskutierten Anschläge auf Schiiten Le Monde diplomatique vom 12.5.2006.

Bei solchen Selbstmordanschlägen und Autobomben wird aber zugleich die unbeteiligte Zivilbevölkerung auch von Sunniten und Kurden mit betroffen.

Allenfalls bei Anschlägen in Form gezielter Erschießungen nach Kontrolle der Volkszugehörigkeit an Hand der Ausweise kann es vorkommen, dass bei demselben Attentat nach dem Gruppenmerkmal Schiiten getötet und Sunniten verschont werden.

Vgl. den in der NZZ vom 6.6.2006, S. 1, geschilderten Busüberfall mit der Erschießung von 24 Schiiten und der Verschonung von Sunniten; der Jahresbericht 2006 von amnesty international enthält nur einen allgemeinen, nicht konkretisierten Hinweis auf Anschläge wegen Zugehörigkeit zu religiösen oder ethnischen Gruppen.

Über derart gezielte Anschläge speziell nach dem Gruppenmerkmal der kurdischen Volkszugehörigkeit wird nicht berichtet. Vielmehr kann insofern nur auf arabisch-kurdische Spannungen in den – nicht unter kurdischer Verwaltung stehenden – multiethnischen Städten Mosul und Kirkuk hingewiesen werden, die sich insbesondere in Autobombenanschlägen zu Lasten der Zivilbevölkerung entladen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, wonach es in Kirkuk 2005 zu über 70 Autobombenanschlägen gekommen ist.

Davon abgesehen steht die kurdische Volksgruppe landesweit nicht derart im Blickfeld des sunnitischen Widerstands wie die schiitische Volksgruppe.

Die unmenschliche Anschlagswirklichkeit im Untergrundkampf wird durch die landesweiten Bombenanschläge insbesondere in Form von Selbstmordattentaten und Autobomben geprägt, die die Zivilbevölkerung insgesamt blind treffen. So wird die Wirkung der Anschläge ersichtlich auch im Erkenntnismaterial gesehen. Das Auswärtige Amt gliedert seine pauschale Schätzung der Opfer nicht nach Volksgruppen auf.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, und methodisch ebenso Lagebericht vom 24.11.2005.

Das Auswärtige Amt hält Passanten für regelmäßige Opfer der Gewalt und sieht den Großteil der Opferlast bei der Zivilbevölkerung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Organisation amnesty international gibt bei den Anschlägen die landesweite Zahl der zivilen Opfer wieder, gibt sie konkret mit 21.239 bis 24.106 an und gliedert sie ebenfalls nicht nach Bevölkerungsgruppen auf.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Das Auswärtige Amt berichtet über den Anschlag auf die schiitische Moschee in Samarra am 22.2.2006 und über Gegenanschläge auf sunnitische Moscheen und gibt die Opfer dieser konfessionell motivierten gegenseitigen Gewalt mit über 1000 Menschen an, gliedert sie aber nicht nach Schiiten und Sunniten auf.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Bezogen auf Volksgruppen als Anschlagsopfer referiert amnesty international einen konkreten Bombenanschlag auf vorwiegend Schiiten mit 114 getöteten Zivilpersonen, bezieht aber die landesweit aufsummierten Opferzahlen allein auf Zivilpersonen ohne Aufspaltung auf die Volksgruppen.

Vgl. zum Ersteren amnesty international, Jahresbericht 2006; zum Letzteren allgemeine Zahlen im Gutachten vom 16.8.2005.

Das Deutsche Orient-Institut hält wie dargelegt jede Irakerin und jeden Iraker ungeachtet seiner Religionszugehörigkeit durch die Anschläge der Terroristen für bedroht. Die Anschläge sind also weder auf den Zentralirak noch auf bestimmte Gruppen begrenzt.

Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe sieht den Zusammenhang, dass irakische Zivilisten oft Opfer sind, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind; Zivilpersonen können bei Anschlägen nicht geschützt werden.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Übereinstimmend damit ist auch die Sichtweise von UNHCR, wonach im Irak tägliche Attentate und Sprengstoffanschläge vor allem gegen Polizisten und Polizeirekruten sowie Mitarbeiter der Regierung verübt werden und unbeteiligte zivile Opfer dabei von den Akteuren bewusst in Kauf genommen werden.

UNHCR, Hinweise von April 2005, zu Opfern unter Christen UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Nach den dargelegten Kriterien der Gruppenverfolgung in der Verfassungsrechtsprechung und den Ausgrenzungskriterien des Europarechts kann schwerlich angenommen werden, alle großen Volksgruppen – Schiiten, Sunniten und Kurden – und damit insgesamt fast alle der 27 Millionen Iraker würden von dem Untergrundkrieg aus der umgebenden verbleibenden Gesellschaft ausgegrenzt. Insbesondere spricht nichts für eine Ausgrenzung der Kurden, und zwar weder landesweit noch für den Zentralirak. Am ehesten könnte eine Ausgrenzung der größten schiitischen Volksgruppe von rund 17 Millionen Irakern durch den sunnitisch geprägten Widerstand angenommen werden. Das rechtlich erforderliche Ausgrenzungsmerkmal spricht aber letztlich gegen eine Ausgrenzung der großen Volksgruppen.

Andererseits kann nach der zu beachtenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine tatsächlich stattfindende Gruppenverfolgung nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, auch andere Bevölkerungsgruppen oder Minderheiten würden in ähnlicher Weise drangsaliert.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Deshalb unterstellt der Senat landesweit eine Ausgrenzung der großen Bevölkerungsgruppen und geht auf den Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte ein. Die Anschlagsopfer sind also nunmehr auf diese Bevölkerungsgruppen zu beziehen.

Die mehrjährigen Todesopfer unter der Bevölkerung des Iraks durch Massenanschläge betragen wie dargelegt nach den zugrunde zu legenden konkreten Zahlen von amnesty international über 2.300 Menschen, die Verletzten maximal 24.106 Menschen.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Sie sind der Wiedergabe pauschaler Schätzungen durch das Auswärtige Amt vorzuziehen, die im Übrigen nicht zu einem qualitativ anderen Ergebnis führen würden und keine ausweglose Lage der großen Volksgruppen begründen könnten. Zugrunde zu legen sind nunmehr die konkreten Zahlen von amnesty international. Danach geht der Senat von einer unterstellten Maximalabschätzung aus, bei der die aufsummierten konkreten Anschlagsopfer im Irak nur jeweils einer Volksgruppe als Opfer zugerechnet werden. In Relation gesetzt werden die gesamten Anschlagszahlen jetzt nicht zu der Gesamtbevölkerung des Irak von 27 Millionen, sondern nacheinander zu den größeren Bevölkerungsgruppen der arabischen Schiiten mit rund 17 Millionen, der arabischen Sunniten mit rund 5 Millionen und der Kurden mit rund 5 Millionen.

Zunächst ist auf die Schiiten einzugehen.

Da das Erkenntnismaterial die Opfer der schiitischen Volksgruppe nicht konkret summiert, geht der Senat bei diesem Schritt der unterstellten Maximalbetrachtung davon aus, dass alle Anschläge im Irak den Schiiten gelten. Bei der schiitischen Volksgruppe als unterstelltem alleinigem Anschlagsziel ergäbe sich dann eine Anschlagsdichte mit tödlichen Opfern von durchschnittlich 1:7400. Für die Entführungsgefahr ist wie dargelegt von einer vergleichbaren Größenordnung wie für Tötungen wie dargelegt von 1:7400 auszugehen. Sodann ergäbe sich mit Blick auf die Zahl der verletzten zivilen Opfer nach amnesty international von 24.106 Menschen eine höhere Anschlagsdichte mit Verletzten von 1:700 für die Schiiten.

Unterstellt man als nächsten Schritt, dass alle Anschläge im Irak den rund 5 Millionen Sunniten gelten, ergibt sich eine Anschlagsdichte bei den Todesopfern von rund 1:2000, ähnlich hoch für Entführungen und bei den Verletzungsopfern von rund 1:200. Die gleichen Zahlen ergeben sich landesweit für die hier betroffene Volksgruppe der Kurden.

Eine derart große Anschlagsdichte bezogen auf eine einzige große Volksgruppe – insbesondere die Kurden – wie in der Maximalabschätzung des Senats wird soweit ersichtlich nirgends im Erkenntnismaterial angenommen. Im Erkenntnismaterial wird auch nicht – wie vom Kläger vorgeschlagen – eine allein auf den Zentralirak bezogene Gruppenverfolgung von Kurden angenommen. Entscheidend ist, dass selbst bei dieser unterstellten Maximalabschätzung die landesweite Anschlagsdichte im Sinne einer Anschlagsverletzung von Kurden nach den Zahlen von amnesty international äußerstenfalls 1:200 beträgt. Tötungs- und Entführungsgefahr sind geringer. Positiv gewendet bleiben bei dieser Anschlagsdichte 99,5 % aller Menschen der kurdischen Volksgruppe unverletzt. Selbst nach den pauschalen Zahlen des Auswärtigen Amtes würde die äußerste Anschlagsdichte 1:50 betragen; positiv gewendet würden immerhin 98 % der kurdischen Volksgruppe die Anschläge unverletzt überleben. Eine Regelvermutung der eigenen Verfolgung kann nicht aufgestellt werden. Die Angehören der kurdischen Volksgruppe überleben landesweit betrachtet in keinem Fall nur durch Zufall unverletzt und werden nicht in eine ausweglose Lage gebracht, in der sie das Land verlassen müssen.

Dasselbe gilt für die sunnitische und erst recht die schiitische Volksgruppe.

Unabhängig von der dargelegten Maximalabschätzung ist für die hier maßgebende Volksgruppe der Kurden konkret festzustellen, dass die gewaltsamen Auseinandersetzungen vor allem die Volksgruppen der arabischen Sunniten und der arabischen Schiiten untereinander betreffen; an diesen Auseinandersetzungen sind die sunnitischen Kurden jedenfalls nicht unmittelbar beteiligt.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -; zur Auseinandersetzung (nur) zwischen Sunniten und Schiiten Le Monde diplomatique vom 12.5.2006; vgl. auch den Jahresbericht 2006 von amnesty international, der für den Nordirak nur einzelne Menschenrechtsverletzungen auflistet, aber keine Gruppenverfolgung einer Volksgruppe.

Auch das Auswärtige Amt legt das Schwergewicht auf die Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen und sunnitischen Konfessionen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Lediglich die Mäßigungsaufrufe der schiitischen und sunnitischen religiösen Führer haben bisher den Ausbruch eines offenen Bürgerkriegs zwischen diesen Konfessionen verhindern können.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Volksgruppe der Kurdinnen und Kurden ist mithin nicht Zielscheibe, sondern landesweit im Wesentlichen Zufallsopfer der Anschläge im Irak. Ausgehend davon ist die Anschlagsdichte für Kurden realistischerweise wesentlich geringer anzusetzen, als es der Maximalabschätzung des Senats mit 1:200 entspricht. Eine landesweite oder auf den Zentralirak bezogene Gruppenverfolgung der Kurden als großer Bevölkerungsgruppe von 5 Millionen Menschen wird im Erkenntnismaterial soweit ersichtlich nicht angenommen.

Nach dem dargelegten Ergebnis der Prüfung des Senats besteht für den Kläger als Gruppenmitglied der Kurden unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte landesweit keine Verfolgungsgefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Unabhängig von dieser landesweiten Betrachtung bejaht der Senat als selbstständige Entscheidungsgrundlage auch die Voraussetzungen einer Fluchtalternative des Klägers in den kurdisch verwalteten Nordirak, in dem seine Geburtsregion Sulaymania liegt.

Die Bejahung einer Fluchtalternative setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass die Zurückkehrenden am erreichbaren Ort der Fluchtalternative nach dem herabgestuften Prognosemaßstab hinreichend sicher vor politischer Verfolgung leben können und dass ihnen dort nach dem allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch keine unzumutbaren Nachteile drohen, die an ihrem Herkunftsort so nicht bestünden.

BVerwG, zusammenfassend Beschluss vom 5.10.1999 - BVerwG 9 C 15.99 -.

Weiterhin muss dem Rückkehrer dort das wirtschaftliche Existenzminimum in dem Sinn zustehen, dass er nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann.

BVerwG, Beschluss vom 17.5.2006 – 1 B 101/05 -.

Diese Voraussetzungen sind hier insgesamt zu bejahen.

Die Sicherheitslage in dem kurdisch kontrollierten Nordirak ist nach der praktisch einheitlichen Einschätzung im Erkenntnismaterial bezogen auf Anschläge besser als im Irak insgesamt, insbesondere in Bagdad. Dies gilt zunächst nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Anschläge auf besonders gefährdete Personengruppen wie etwa Polizeirekruten finden statt, insgesamt ist aber die Wahrscheinlichkeit, durch einen gegen Dritte gerichteten Anschlag getötet zu werden, im Nordirak geringer.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Für die kurdisch verwalteten Städte Arbil und Sulaimaniya referiert das Auswärtige Amt für das Jahr 2005 jeweils ein Attentat mit der Tötung von 50 beziehungsweise neun Menschen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 17.

In dem hier maßgebenden kurdisch verwalteten Nordirak wird die Sicherheitslage auch im kritischen Erkenntnismaterial als insgesamt stabil betrachtet.

Nach Einschätzung von UNHCR ist die allgemeine politische Situation im kurdischen Nordirak durch ein gewisses Maß an Stabilität gekennzeichnet; es werden dort deutlich weniger Gewalttaten verübt.

UNHCR, Position von September 2005; zu den stabileren Verhältnissen auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Nach der Beurteilung von amnesty international ist die Sicherheitslage in den kurdischen Gebieten im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ stabil.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Nach Darlegung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist die Sicherheitslage im kurdisch kontrollierten Nordirak mit Ausnahme von wenigen Anschlägen in Arbil und Dohuk stabil, wenn auch nicht voraussehbar, und ein engmaschiges Sicherheitsnetz von etwa 80.000 kurdischen Milizionären gewährleistet dort die Sicherheit.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Diese Milizen sollen nicht aufgelöst, sondern sollen staatliche Sicherheitskräfte werden.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann der Schutz bereits von nichtstaatlichen Organisationen ausgehen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 -, S. 6 des Juris-Ausdrucks.

Nach allem ist die Verfolgung der kurdischen Volksgruppe im kurdisch verwalteten und durch kurdische Milizen gesicherten Nordteil des Landes unwahrscheinlich und zwar nach dem Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit.

Ebenso OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Die hinreichende Verfolgungssicherheit des Klägers am Ort der Fluchtalternative im Nordirak ist mithin uneingeschränkt zu bejahen.

Der kurdisch verwaltete Nordirak ist auch abgesehen von dem möglichen Landweg von Bagdad aus unmittelbar - ohne Aufenthalt in Bagdad – auf dem Luftweg über Arbil (auch: Erbil) seit September 2005 erreichbar.

Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, zu einer Flugverbindung von Frankfurt nach Arbil/Nordirak, sowie zur Einreise durch die Türkei.

Damit lassen sich auch Bedenken von UNHCR gegen einen innerirakischen Wohnsitzwechsel auf dem Landweg wegen der Sicherheitslage ausräumen.

Zu diesen Bedenken UNHCR, Position von September 2005.

Weiterhin muss auch das Existenzminimum am Ort der Fluchtalternative einhaltbar sein.

Diesen Gesichtspunkt stellt der Kläger in seinem erstinstanzlichen Vortrag in Frage. Er trägt vor, es gelte der Grundsatz, dass Kurden im Nordirak nur dann über ein ausreichendes Existenzminimum verfügen könnten, wenn sie an die dortige Clan-Gesellschaft familiär angebunden seien. An einer solchen familiären oder sonstigen Bindung zum Nordirak fehle es hier, und ihm nütze es deshalb wenig, dass er zu früheren Zeiten militärische Daten des Regimes von Saddam Hussein an die Kurden verraten habe.

Das überzeugt so nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits nach den neuen politischen Verhältnissen die Fluchtalternative eines Kurden aus dem Zentralirak in den Nordirak bejaht einschließlich der Frage der Existenzsicherung, ohne dabei auf Familienanbindung abzustellen.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -, dort mit Blick auf die Situation in Flüchtlingslagern und die Möglichkeit, für arbeitsfähige Männer einen Job zu bekommen.

Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich, dass für Rückkehrer sowohl die Aufnahme und Versorgung durch die Familie als auch Parteiverbindungen von erheblichem Vorteil für die die Existenzsicherung sind.

Nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes können Rückkehrer im Irak auf Aufnahme und Versorgung durch Familie oder Stammesstrukturen und Sippe zählen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

UNHCR hält eine Einbindung in familiäre oder soziale Strukturen für erforderlich, allerdings nach dem – strengeren - Maßstab einer vollständigen Eingliederung, der das Maß des Existenzminimums übersteigt.

UNHCR, Position von September 2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe stellt auf mehrere Gesichtspunkte ab. Personen im Nordirak bedürfen danach zur Existenzsicherung eines sozialen Netzes.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Personen ohne Parteiverbindungen haben Probleme bei der Eröffnung von Geschäften mit der kurdischen Verwaltung.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Nach der Einschätzung von amnesty international sind die wirtschaftlichen Existenzbedingungen im Nordirak nicht garantiert, vielmehr wird der Zugang zu großen Teilen des Arbeitsmarktes durch persönliche oder familiäre Beziehungen erleichtert beziehungsweise erst ermöglicht.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Daran gemessen mag der Kläger nach seinem Vortrag zwar keine gegenwärtigen familiären Bindungen zum Nordirak haben, immerhin hat er aber bei einer Gesamtbetrachtung eine Chance auf eine Arbeitsmöglichkeit, jedenfalls aber eine Existenzmöglichkeit. Der Kläger war ursprünglich in der Region Sulaymania im Nordirak beheimatet. Er kann seinen Geburtsort im Nordirak und damit ein gewisses Maß an Zugehörigkeit zum Nordirak durch seinen Ausweis jederzeit beweisen. Zwar muss seine vorgetragene Unterstützungstätigkeit für die kurdische Partei PUK, der auch der Staatspräsident Talabani angehört, gänzlich außer Betracht bleiben, da sie von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung bestritten worden ist und der plausible Verfolgungsvortrag des Klägers jedenfalls nicht erwiesen ist. Eine Unterstellung zu Lasten des Klägers scheidet aus.

Zugunsten des Klägers spricht aber weiter, dass der unstreitig erlernte Beruf eines Kraftfahrzeug-Mechanikers wenn auch nach Anfangsschwierigkeiten eine nützliche Tätigkeit ist und damit bei realistischer Betrachtung nach Anfangsschwierigkeiten eine Existenz ermöglicht.

Vor allem muss mit Blick auf die Existenzsicherheit berücksichtigt werden, dass 96 % aller irakischen Haushalte Lebensmittelhilfe beziehen.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, dort ohne eine Einschränkung für den Nordirak; nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006 stammt ein wesentlicher Teil der Lebensmittelrationen, nämlich für 60 % der Bevölkerung, aus einem Programm der Vereinten Nationen.

Nach der Einschätzung des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien ist im Nordirak trotz einer prekären wirtschaftlichen Lage insgesamt mit einem Rutschen unterhalb des Existenzminimums derzeit eher selten zu rechnen.

Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006.

Da der Kläger zumindest positive Gesichtspunkte für eine Berufstätigkeit aufzuweisen hat, spricht kein vernünftiger Grund dafür, dass er entgegen der allgemeinen Lage im Nordirak unter das Existenzminimum abrutschen wird. Mithin ist davon auszugehen, dass der Kläger nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige im Nordirak erlangen kann.

Weiterhin setzt die innerstaatliche Fluchtalternative nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass dem Kläger an dem Ort der Fluchtalternative keine anderen unzumutbaren Nachteile mit asylerheblicher Intensität drohen, die an seinem Herkunftsort im Sinne des Ausreiseortes so nicht bestünden. Im Nordirak dürfen mithin keine unzumutbaren Nachteile für den Kläger bestehen, die so in Bagdad nicht bestehen würden. Auch dies ist zu bejahen.

Nach Einschätzung von UNHCR heben sich die Lebensbedingungen im Nordirak positiv gegenüber denen im übrigen Staatsgebiet ab.

UNHCR, Position von Oktober 2004.

Das Auswärtige Amt kommt zu derselben Beurteilung wie UNHCR.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Auch die Schweizerischen Flüchtlingshilfe zieht eine positive Gesamtbilanz für den Nordirak: Die Sicherheitslage und sozioökonomische Situation im Nordirak stellen sich danach besser dar als in den übrigen Landesteilen.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Das Europäische Zentrum für Kurdische Studien würdigt einen Wechsel von dem Zentralirak in den Nordirak insgesamt positiv.

Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006, dort sogar für die hier nicht zur Entscheidung stehende sehr kleine Gruppe der Mandäer.

Nach allem ist der Kläger bei einer Fluchtalternative in den Nordirak keinen unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt, denen er nicht bereits in seinem Ausreiseort Bagdad ausgesetzt wäre.

Im Ergebnis sind damit alle Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative in den kurdisch verwalteten Nordirak nach den Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts zu bejahen.

Im Rahmen der hier maßgebenden Prüfung der Widerrufsentscheidung ist der Kläger vor erneuter Verfolgung landesweit aus denselben Verfolgungsgründen hinreichend sicher und andersartige Verfolgungsmaßnahmen drohen ihm landesweit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit; unabhängig davon besitzt er mit hinreichender Verfolgungssicherheit die inländische Fluchtalternative in den Nordirak, die für ihn vorzugswürdig ist. Beide Gesichtspunkte führen unabhängig voneinander zur Verneinung der asylerheblichen Verfolgungsgefahr.

Dagegen kommt es, wie noch einmal hervorzuheben ist, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, hier nicht auf einen effektiven Schutz vor allgemeinen Gefahren wie Krieg, Naturkatastrophen oder schlechte Wirtschaftslage oder eine stabile Schutzmacht an.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; Beschluss vom 26.1.2006 – 1 B 135/05 -.

Der Untergrundkrieg des sunnitischen Widerstands steht damit dem Widerruf rechtlich nicht entgegen.

Damit ist der materielle Teil des Widerrufstatbestandes des § 73 I 1 AsylVfG erfüllt.

Indessen muss in diesem Fall die materielle Ausnahmevorschrift des § 73 3 AsylVfG geprüft werden, die nach der Normstruktur zu einem Absehen von dem Widerruf führt. Vorausgesetzt wird dafür, dass sich der Ausländer

auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Inhaltlich entspricht diese deutsche Regelung der entsprechenden Ausnahmevorschrift für den Widerruf in Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 GFK, wonach der Widerruf auf einen Flüchtling keine Anwendung findet,

der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Dagegen enthält die als Auslegungsmaßstab zu beachtende Wegfallklausel in Art. 11 der Europäischen Qualifikationsrichtlinie keine Ausnahmevorschrift von einem Widerruf. Diese für den Flüchtling ungünstige europäische Regelung hat aber keinen entscheidenden Einfluss auf die Auslegung der günstigeren deutschen Regelung, da die EU-Richtlinie nach Art. 1 lediglich Mindestnormen zugunsten der Flüchtlinge enthält und die Mitgliedstaaten nach Art. 3 der EU-Richtlinie grundsätzlich günstigere Normen zur Flüchtlingseigenschaft beibehalten können.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die dargelegte Ausnahmevorschrift in seinem Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 - unter ausdrücklicher Beachtung des völkerrechtlichen Zusammenhangs mit der Genfer Flüchtlingskonvention dahingehend ausgelegt, sie enthalte eine einzelfallbezogene Ausnahme von der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft. Sie schütze weder vor allgemeinen Gefahren noch könne sie nach allgemeinen Zumutbarkeitskriterien ausgelegt werden. Vielmehr trage sie nach ihrer historischen Entstehung der psychischen Sondersituation solcher Personen Rechnung, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hätten und denen es deshalb selbst lange Zeit danach - auch ungeachtet veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar sei, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren. Bei der Schaffung von Art. 1 c Nr. 5 Satz 2 GFK hatten danach die beteiligten Staaten das Schicksal jüdischer Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland vor Augen gehabt.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, Juris-Ausdruck, S. 12.

Der Senat stimmt dieser Rechtsprechung zu.

Dieser Auslegung haben sich sowohl der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg als auch das OVG Münster in neueren Entscheidungen angeschlossen.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Auch Renner, den der Kläger für eine weiter gehende Auslegung im Sinne einer aktuellen Existenzsicherung zitiert, handelt zwar eingehend die Auslegungsmöglichkeiten ab, schließt sich aber abschließend der Auffassung an, es werde den besonderen Belastungen schwer Verfolgter Rechnung getragen.

Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 73 AsylVfG, Rdnrn. 10 bis 12 sowie abschließend Rdnr. 13.

Auch Marx stellt auf eine besonders schwere, nachhaltig wirkende Verfolgung ab und sieht einen Unzumutbarkeitsfall etwa darin, dass der Verfolgte vor der Ausreise Jahre lang inhaftiert gewesen und dadurch physisch zerstört ist.

Marx, Asylverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2005, § 73 Rdnrn. 127 und 135.

Ein solch fortwirkend schweres Schicksal, insbesondere eine langjährige Inhaftierung, hat der Kläger bei seiner Erstanhörung vom 13.12.1995 nicht vorgetragen und auch im Verwaltungsgerichtsprozess einschließlich der mündlichen Verhandlung ein derartiges Schicksal nicht behauptet.

Bei seiner Anhörung im Widerrufsverfahren hat der Kläger mit Schreiben vom 29.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 13/14) die Anwendung dieser Vorschrift auf sich bejaht und dazu die Rechtsmeinung zugrunde gelegt, es genüge, wenn dem früher Verfolgten nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland eine Rückkehr in das Heimatland aus aktuellen Gründen der wirtschaftlichen Existenzsicherung nicht mehr zugemutet werden könne. Soweit er für seine Auffassung die Kommentierung von Renner in Anspruch nimmt, trifft dies wie dargelegt nicht zu. Entscheidend ist aber, dass die Auslegung des Klägers der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Sinn der Ausnahmevorschrift eindeutig widerspricht. Nach der Ausnahmevorschrift kommt es nicht auf allgemeine Zumutbarkeitskriterien an wie hier den geltend gemachten langen Aufenthalt in Deutschland und auf Existenzsicherungsprobleme. Die Ausnahmevorschrift greift zu seinen Gunsten nicht ein. Mithin ist ohne Ermessensspielraum nach § 73 I 1 AsylVfG der Widerruf zwingend auszusprechen.

Materiell ist der Widerrufsbescheid nach dem Prüfungsergebnis des Senats rechtmäßig.

Die angefochtene Widerrufsentscheidung des Bundesamts ist auch in verwaltungsverfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.

Ob der Widerruf unverzüglich erfolgt ist, wie § 73 I 1 AsylVfG es verlangt, bedarf keiner Entscheidung, da das Gebot des unverzüglichen Widerrufs ausschließlich öffentliche Interessen schützt, so dass ein Verstoß hiergegen keine subjektiven Rechte des betroffenen Ausländers verletzen kann.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Unabhängig davon war das Abwarten des Bundesamtes von rund anderthalb Jahren nach dem Kriegsende sinnvoll, um den Machtwechsel im Irak als hinreichend gefestigt zu beurteilen, und deshalb auch noch unverzüglich.

Weiterhin ist aus dem mit Wirkung vom 1.1.2005 eingeführten mehrstufigen Prüfungsverfahren nach § 73 II a AsylVfG kein Rechtsfehler herzuleiten. § 73 II a Satz 1 AsylVfG lautet:

Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach Absatz 1 oder eine Rücknahme nach Absatz 2 vorliegen, hat spätestens nach Ablauf von 3 Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen (gemeint ist die Anerkennungsentscheidung).

Bei der neu eingeführten Dreijahresfrist handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts um einen in die Zukunft gerichteten Prüfungsauftrag an das Bundesamt.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Wegen der Zukunftsgerichtetheit des Prüfungsauftrags hat eine Prüfung vorhandener Anerkennungsfälle spätestens bis zum 1.1.2008 zu erfolgen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Der hier zur Prüfung anstehende Widerrufsbescheid der Flüchtlingsanerkennung von 1996 ist am 19.10.2004 ergangen und damit noch vor dem Inkrafttreten des gesetzgeberischen Prüfungsauftrags am 1.1.2005. An einer rückwirkenden Einführung des Verfahrens durch eine entsprechende Übergangsvorschrift fehlt es hier.

BVerwG, Urteil vom 1.12.2005 - 1 C 21/04 -.

Damit ist die dreijährige Prüfungsfrist im vorliegenden Fall nicht einschlägig.

Keiner Entscheidung bedarf die Frage, ob verwaltungsverfahrensrechtlich die Jahresfrist nach § 49 II 2, § 48 IV VwVfG auch bei Widerrufsverfügungen nach § 73 I 1 VwVfG zu beachten ist.

Offen gelassen in dem Urteil des BVerwG vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Denn die Jahresfrist beginnt frühestens nach Anhörung des Klägers mit einer angemessenen Frist zur Stellungnahme zu laufen, und zwar mit dem behördlichen Anhörungsschreiben.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Danach ist die Einjahresfrist, sofern sie anwendbar ist, hier eingehalten. Die Anhörungsverfügung der Behörde datiert vom 2.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 7) und der Widerrufsbescheid erging am 19.10.2004 (Widerrufsakte Bl. 18).

Nach dem Prüfungsergebnis des Senats ist mithin der Widerrufsbescheid weder materiellrechtlich noch verfahrensrechtlich zu beanstanden. Er ist insgesamt rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Der als Hauptantrag gestellte Aufhebungsantrag des Klägers hat mithin auch im Rahmen des Berufungsverfahrens keinen Erfolg.

II.

Auch hinsichtlich des Hilfsantrags hat die Berufung keinen Erfolg.

Der Kläger hat nicht den gegen die Beklagte hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses mit Blick auf konkrete Gefahren nach § 60 II bis VII AufenthG.

Der Kläger ist weder der konkreten Gefahr der Folter (§ 60 II AufenthG) noch der Todesstrafe (§ 60 III AufenthG) oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (§ 60 V AufenthG) ausgesetzt.

Der vom Gesetzgeber verwendete Maßstab der konkreten Gefahr (vgl. § 60 II, 60 VII 1 AufenthG) ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu der inhaltsgleichen Vorgängervorschrift des § 53 AuslG bereits geklärt. Danach ist für die Feststellung der Gefahr der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit maßgebend, ohne eine Herabstufung für Vorverfolgte, da die Gefahren hier außerhalb des Verfolgungstatbestandes betrachtet werden.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324-330.

Einzubeziehen in die Gefahr sind nunmehr auch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 I 4 c AufenthG. Die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure auch in konkrete Gefahren nach § 60 II ff. AufenthG ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus der deutschen gesetzlichen Regelung. Indessen folgt sie aus der für die Auslegung zu beachtenden Vorwirkung von Art. 6 der europäischen Qualifikationsrichtlinie, der die Einbeziehung der nichtstaatlichen Akteure gleichmäßig sowohl für die Verfolgung als auch für den ernsthaften Schaden und mit Letzterem die konkrete Gefahr im Sinne des deutschen Rechts fordert.

So überzeugend Renner, § 60 AufenthG Rdnr. 36; offen gelassen im Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Dem Kläger droht hier weder von staatlicher noch von nichtstaatlicher Seite die konkrete Gefahr der Folter. Der Senat hat bereits im Rahmen des Widerrufssachverhalts dargelegt, dass der Kläger hinreichend sicher ist vor individuellen Racheakten mit Blick auf seine indirekte Unterstützung der kurdischen Kämpfe im Jahr 1995; dies gilt erst recht für einen zugespitzten Racheakt in Form der Folter, für den sich eine konkrete Gefahr – mit überdies beachtlicher Wahrscheinlichkeit - nicht herleiten lässt. Das Gleiche gilt für die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.

Für die Gefahr der Verhängung der Todesstrafe durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure fehlt es gänzlich an einem Anhaltspunkt; der Kläger hat die Gefahr der Todesstrafe auch selbst nicht behauptet.

Sodann fehlt es an der zwischen den Beteiligten streitigen allgemeinen Extremgefahr nach § 60 VII AufenthG.

Der Kläger stützt sich in seiner Berufungsbegründung und in der mündlichen Verhandlung auf eine extreme allgemeine Gefährdungslage im Irak. Er beruft sich dabei insbesondere auf die landesweite Gefahr von Terroranschlägen auf die Zivilbevölkerung; gehe man davon aus, dass sich der Irak im Bürgerkrieg befinde oder jedenfalls ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde, müsse man auch vom Bestehen einer extremen allgemeinen Gefährdungslage im Sinne von § 60 VII AufenthG ausgehen.

Mit Blick auf die vorgetragene landesweite Extremgefahr hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses in verfassungskonformer Anwendung des § 60 VII AufenthG.

§ 60 VII 2 AufenthG verweist für Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist, auf einen allgemeinen ausländerbehördlichen Abschiebungsstopp nach § 60 a I 1 AufenthG als Schutz des Ausländers. Dies führt aber hier nicht weiter, da nach der Auskunft des Saarländischen Innenministeriums vom 26.5.2006 (Gerichtsakte Bl. 104) im Saarland derzeit keine behördliche Regelung zur Aussetzung von Abschiebungen in den Irak besteht. Die in anderen Bundesländern bestehenden Abschiebestoppregelungen beruhen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darauf, dass bis vor kurzem die Flugverbindungen unterbrochen waren und noch derzeit kein Rücknahmeabkommen mit dem Irak besteht.

BVerwG, Urteil vom 27.6.2006 – 1 C 14.09 -.

Der verfassungsrechtlich gebotene Schutz von Ausländern vor Extremgefahren ist in der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt.

Eingehend Urteil des BVerwG vom 12.7.2001 - 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 379, 384 bis 386, dort für die inhaltsgleiche Vorgängerregelung des § 53 VI AuslG.

Nach dieser Rechtsprechung kommt es sowohl auf die rechtliche als auch die tatsächliche Schutzbedürftigkeit des Ausländers an.

Was zunächst die Frage der rechtlichen Schutzbedürftigkeit angeht, ist eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 VII AufenthG nur dann geboten, wenn der einzelne Asylbewerber sonst schutzlos bliebe. Ein Schutz vor einer extremen Gefahrenlage kann zum einen durch einen allgemein ausländerbehördlichen Abschiebungsstopp im Sinne einer Duldung bestehen, an dem es aber hier im Saarland fehlt. Es genügt aber nach dieser Rechtsprechung auch ein anderer gleichwertiger Schutztitel vor Abschiebung, wenn dieser tatsächlich besteht. So genügt es, wenn der Ausländer im entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung oder mindestens einer Duldung ist, die vom Asylverfahren unabhängig erteilt worden ist. Ein solcher Aufenthaltstitel muss indessen bestehen, nicht genügend sind unentschiedene Duldungsansprüche. Davon ausgehend lässt der VGH Baden-Württemberg eine Aufenthaltserlaubnis nach neuem Recht zum Schutz des Ausländers genügen.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -, der aber diesen Schutz in bedenklicher Weise sogar auf eine widerrufene Aufenthaltserlaubnis wegen des Suspensiveffekts erstreckt, was der vom Bundesverwaltungsgericht verworfenen Schwebelage entspricht.

Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Kläger besitzt nach der Ausländerakte seit dem 18.11.2004 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ursprünglich nach § 35 AuslG, nach neuem Recht nach § 26 AufenthG. Darüber hinaus hat die Ausländerbehörde, die Landeshauptstadt A-Stadt, bereits mit Schreiben vom 2.9.2004 in Kenntnis des Widerrufverfahrens erklärt, es sei auch bei einem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung momentan nicht mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu rechnen. Angesichts der langjährigen Integration des Klägers in Deutschland ist dies auch vernünftig. Mithin ist der Kläger derzeit noch im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, wie die Stadt A-Stadt nochmals mit Schreiben vom 13.9.2006 bestätigt hat, und damit nicht schutzlos.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat ein Anspruch auf Feststellung des Abschiebungshindernisses der Extremgefahr nur dann Erfolg, wenn rechtliche und tatsächliche Schutzbedürftigkeit vorliegt.

BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 379 - 385.

Das Gericht ist nicht gehindert im Sinne selbständiger Entscheidungsgrundlagen festzustellen, dass unabhängig voneinander hinreichender rechtlicher Schutz vor Abschiebung vorhanden ist und eine extreme Gefahrenlage nicht besteht.

So ist das OVG Münster vorgegangen in seinem Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

So liegt der Fall hier. Zum einen besitzt der Kläger wie dargelegt einen unwiderrufenen Schutztitel. Zum anderen ist aber auch eine Extremgefahr im Irak zu verneinen.

Ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Bei der erforderlichen Prüfung einer Extremgefahr ist zunächst der Prognosemaßstab klarzustellen. Maßgebend ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der auch bei Vorverfolgung nicht herabgestuft wird.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 - 330.

Inhaltlich hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung den Rechtsbegriff der Extremgefahr mit der Formulierung geprägt, es müsse vermieden werden, dass der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

BVerwG, Urteil vom 16.6.2004 - BVerwG 1 C 27.03 -; BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -; BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 -; BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -; BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -; BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -.

In zeitlicher Hinsicht muss sich die Extremgefahr nicht sofort nach Rückkehr in den Heimatstaat, sondern bald verwirklichen.

BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 -.

Im Gegensatz zu der sicher verständlichen – in der mündlichen Verhandlung erörterten - Rechtsansicht des Klägers hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung die Extremgefahr nicht bereits an die Existenz eines Bürgerkriegs geknüpft, sondern an qualifizierte Voraussetzungen. Folglich würde die vom Kläger erstrebte Bejahung eines Bürgerkriegs nicht schon die Extremgefahr begründen. Auch das vom Senat bejahte Vorliegen eines Untergrundkriegs begründet nicht automatisch eine Extremgefahr.

In den beurteilten Bürgerkriegsfällen hat das Bundesverwaltungsgericht die Extremgefahr konkret dann bejaht, wenn die Bürgerkriegskämpfe bereits am Ankunftsort stattfinden und sich der Ausländer ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes mithin nicht entziehen kann.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -; BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -.

So hat das Bundesverwaltungsgericht die konkrete Bürgerkriegssituation in Afghanistan im Jahr 1995 als Extremgefahr für Rückkehrer anerkannt. Dort war eine Abschiebung nur über den Flughafen Kabul möglich, der Bürgerkrieg tobte aber nach den seinerzeitigen Tatsachenfeststellungen hauptsächlich im Bereich dieser Stadt, die größere Teile der Bevölkerung bereits wegen der unerträglichen Lebensverhältnisse verlassen hatten.

BVerwG, Urteil vom 17.1.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 - 330.

Eine Extremgefahr hat das Bundesverwaltungsgericht weiter für die konkrete Bürgerkriegssituation 1997 in Somalia bejaht. Dort kam nur eine Abschiebung über den Flughafen in Mogadischu in Betracht. Nach den zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen wäre der dortige Kläger bei einer Abschiebung über den Flughafen von Mogadischu in die dort besonders heftigen Kämpfe hineingeraten; er wäre sehenden Auges der extremen Gefahr ausgesetzt worden, entweder am Flughafen sofort getötet oder schwer verletzt zu werden oder in Mogadischu an Hunger oder Krankheit zu sterben, ohne überhaupt noch sichere Landesteile erreichen zu können.

BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -.

Weiterhin hat das Bundesverwaltungsgericht ergänzend zu der Bürgerkriegsrechtsprechung in zwei Afghanistan betreffenden Fällen eine Extremgefahr bejaht, da der Ausländer dort dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert worden wäre.

BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 - sowie Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 2.01 -, wobei im letzteren Fall die Gefahr eines sicheren Hungertodes zwar bejaht wurde, die dortige Klägerin aber anderweitigen Abschiebungsschutz besaß.

Bezogen auf Armenien hat das Bundesverwaltungsgericht eine Extremgefahr verneint, wenn eine katastrophale wirtschaftliche und soziale Situation mit Obdachlosigkeit, Unterernährung und unzureichender medizinischer Versorgung vorliegt, den Rückkehrer aber nicht der sichere Tod oder schwerste Beeinträchtigungen alsbald nach seiner Ankunft erwarten.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -.

Auch desolate hygienische Verhältnisse und ein praktisch kaum leistungsfähiges Gesundheitssystem in Angola mit hoher statistischer Kindersterblichkeit reichen als Extremgefahr nicht aus, soweit die betroffenen Rückkehrer nicht nach tragfähiger Feststellung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden.

BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -.

Weiterhin begründen besondere existenzielle Schwierigkeiten in Nigeria für eine allein stehende Mutter keine Extremgefahr, solange die Klägerin nicht gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

BVerwG, Urteil vom 16.6.2004 - 1 C 27.03 -.

Aufgrund der dargelegten Rechtsprechung zu Bürgerkriegs- und Hungerfällen ist die landesweite Situation im Irak mit Blick auf eine allgemeine Extremgefahr im Einzelnen zu würdigen.

Auszugehen ist nach praktisch allgemeiner Ansicht von einer instabilen, manchmal eskalierenden Sicherheitslage mit täglich etwa 100 terroristischen Anschlägen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006 im Sinne eines Tiefpunkts der Sicherheitslage; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort betreffend die allgemeine Sicherheitslage; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005, dort zur allgemeinen Sicherheitslage; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; UNHCR, Hinweise von April 2005; sowie UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006; zum bewaffneten Widerstand auch Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands; zur Gewaltwelle gegen Zivilisten NZZ vom 6.6.2006, Seite 1.

Der Kläger sieht die Situation übereinstimmend mit einer dargelegten Äußerung des Politikers Allawi vom 19.3.2006 im Deutschlandfunk so, dass sich das Land im Bürgerkrieg befinde, zumindest aber ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde. Der seinerzeitige Interimsministerpräsident Allawi war am 17.4.2005 selbst einem Attentat nur knapp entgangen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005.

Die Situation im Irak würdigt der Senat nicht als einen offenen Bürgerkrieg, sondern einen Untergrundkrieg durch tägliche Bombenanschläge. Er kommt damit der Beurteilung des Klägers nahe.

Die nichtstaatlichen Akteure bleiben im Verborgenen; ein Bürgerkrieg mit offenen Frontlinien besteht nicht. Das Erkenntnismaterial ist – auch mit Blick auf kritische Organisationen – zurückhaltend und nimmt einen offenen Bürgerkrieg derzeit nicht an.

Das Auswärtige Amt kommt der Auffassung des Klägers wie der Senat nahe. Es verneint einen offenen Bürgerkrieg, sieht aber eine Annäherung an offene bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen und sunnitischen Konfessionen im Anschluss an den Anschlag vom 22.2.2006 auf das schiitische Heiligtum in Samarra.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 19/20.

UNHCR sieht einen teilweise gewaltsam ausgetragenen Machtkampf im Irak.

UNHCR, Hinweise von April 2005; ähnlich Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Auch amnesty international spricht von einem teilweise gewaltsamen ausgetragenen Machtkampf und in einer neueren Beurteilung zurückhaltend von der anhaltend unsicheren Lage.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; sowie zur neueren Beurteilung amnesty international, Jahresbericht 2006.

Das Deutsche Orient-Institut sieht die Sicherheitslage im Sinne eines Untergrundkampfes.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005.

Dies spricht für die vom Senat vorgenommene Einordnung als Untergrundkrieg.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe würdigt die Sicherheitslage dahingehend, der bewaffnete Widerstand versuche unvermindert, den politischen Wiederaufbau mit Bomben- und Mordkampagnen zu hintertreiben und alle Aktivitäten zur Anstachelung eines offenen Bürgerkrieges hielten an.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Die Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bedeutet, dass die Gefahr eines offenen Bürgerkrieges gesehen, ein tatsächlicher offener Bürgerkrieg aber nicht angenommen wird.

Der bewaffnete Widerstand im Irak ist seit der von ihm verlorenen Schlacht um Falludscha im November 2004 zu dem Ergebnis gekommen, dass er angesichts der Übermacht der US-Truppen nicht mehr bestimmte Gebiete verteidigen kann, vielmehr soll mit einer flexiblen Taktik der Anschläge der Wiederaufbau des Landes nachhaltig gestört werden.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstandes.

In Falludscha kam es im Frühjahr und im Herbst 2004 zu offenen Kämpfen zwischen den US-Streitkräften und den Aufständischen; im November 2004 floh ein Großteil der Zivilbevölkerung der 250.000 Einwohner von Falludscha.

Auswärtiges Amt, Lagebericht 24.11.2005.

Für die dargelegte Situation in Falludscha selbst waren die qualifizierten Voraussetzungen einer bürgerkriegsbezogenen Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfüllt. Die Kämpfe hatten nämlich ein Ausmaß erreicht, dass größere Teile der Bevölkerung die Stadt verlassen mussten.

Vgl. zu diesem Maßstab BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -.

Die dargelegten seinerzeitigen Verhältnisse in Falludscha 2004 entsprechen aber nicht der jetzigen landesweiten Gewaltsituation im Irak, insbesondere nicht bei einer Betrachtung des Luftweges an den Ankunftsorten, der 5-Millionen-Stadt Bagdad in Zentralirak oder der Stadt Arbil (Erbil) im kurdisch verwalteten Nordirak. Insgesamt sind ausgedehnte offene Kampfhandlungen zwischenzeitlich landesweit zurückgegangen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; zum Kampf des Widerstandes im Verborgenen OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG; vgl. noch zu einem Luftangriff auf die sunnitische Hochburg al-Ramadi amnesty international, Jahresbericht 2006.

Ungeachtet der täglichen Bombenanschläge gerade auch in schiitischen Stadtvierteln ist in Bagdad nach Auswertung des Erkenntnismaterials klar erkennbar nicht eine Lage entstanden, in der größere Teile der Bevölkerung die 5-Millionen-Stadt verlassen haben. Es kann also nicht festgestellt werden, dass eine Rückkehr nach Bagdad eine Irakerin oder einen Iraker sehenden Auges dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen überliefern würde. Dies gilt, wie ausdrücklich klarzustellen ist, nach der eindeutigen Gefahrenformel unabhängig davon, ob ein Bürgerkrieg, eine bürgerkriegsähnliche Situation oder wie hier ein Untergrundkrieg von dem Gericht angenommen wird.

Hinzu kommt, dass Bagdad nicht die einzige Einreisemöglichkeit ist und für Kurden sich eine Einreise in den Irak wie dargelegt auf dem Luftweg über Arbil (Erbil) anbietet. Nach der Einschätzung von amnesty international ist die Sicherheitslage in den kurdischen Gebieten im Nordirak im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ stabil.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Nach Darlegung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist die Sicherheitslage im kurdisch kontrollierten Nordirak stabil, wenn auch nicht voraussehbar, und ein engmaschiges Sicherheitsnetz von etwa 80.000 kurdischen Milizionären gewährleistet dort die Sicherheit.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist die Sicherheitslage in dem kurdisch kontrollierten Nordirak besser bezogen auf Anschläge als im Irak insgesamt, insbesondere in Bagdad.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Zu nennenswerten offenen Kämpfen im Nordirak kommt es nach dem Erkenntnismaterial nicht.

Auch amnesty international berichtet im Jahresbericht 2006 von Menschenrechtsverletzungen im Nordirak, aber nicht durch offene Kämpfe.

Insgesamt besteht landesweit keine Lage im Irak, die den Rückkehrer bereits am Ankunftsort in Bagdad oder im nordirakischen Arbil (Erbil) in heftige Kämpfe verwickeln würde, was im Sinne der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Bürgerkriegssituationen eine allgemeine Extremgefahr bedeuten würde.

Mit Blick auf die allgemeine Extremgefahr sind nochmals die täglich etwa 100 Bombenanschläge landesweit im Irak zu würdigen. Sie stellen eine enorme allgemeine Bedrohung da.

So ausdrücklich Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 18.

Der Kläger beruft sich mit Blick auf die Extremgefahr auf das Urteil des VG Sigmaringen vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -. Das VG Sigmaringen hat sich in diesem Urteil zwar nicht unmittelbar mit der Extremgefahr befasst, aber im Rahmen der Prüfung eines Widerrufsbescheides eine realistische Gefahr von Terroranschlägen festgestellt.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005, Seite 9 des amtl. Umdrucks.

Das VG Sigmaringen geht wie der Senat ebenfalls von einer Größenordnung von mehreren Tausend Menschen aus, die bei Anschlägen ums Leben gekommen sind. Es setzt diese Zahlen aber nicht in Beziehung zu der irakischen Gesamtbevölkerung von rund 27 Millionen Menschen. Ungeachtet der Furchtbarkeit der Anschläge im Einzelfall kommt es aber im Rahmen der Extremgefahr wiederum auf die Anschlagsdichte an.

Zutreffend OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Nach den konkreten Zahlen von amnesty international werden die zivilen Opfer der Anschläge zwischen 21.239 und 24.106 geschätzt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Auf der Grundlage der Höchstzahl von 24.106 Opfern beträgt die Anschlagsdichte mithin rund 1:1100. Geht man von der – pauschalen – noch höheren Zahl von Opfern unter den Zivilisten von äußerstenfalls 100.000 aus, die das Auswärtige Amt wiedergibt,

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005,

ergibt sich landesweit äußerstenfalls eine Verletzungsgefahr durch die Anschläge von 1:270. Damit lässt sich aber nicht - zudem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - feststellen, ein einzelner Rückkehrer werde alsbald sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert.

Zu einem anderen Ergebnis führen auch nicht Reisewarnungen des Auswärtigen Amts für Reisende. Der Kläger hat sich mit dem VG Sigmaringen darauf berufen, das Auswärtige Amt habe seine Reisewarnung vom 29.7.2005 auf die Anschlagsopfer sowie die Entführungen gestützt.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -, Seite 9 des amtl. Umdrucks.

In einer solchen Warnung für Touristen und Geschäftsreisende liegt kein Wertungswiderspruch zur Verneinung einer Extremgefahr. Die Warnungen enthalten keine verbindliche Regelung im Sinne eines Schutzes der Menschenwürde, sondern eine unverbindliche Information. Ein Informationsbedürfnis besteht schon wesentlich früher als erst bei einer Situation, in der Reisende sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert werden. Die Schwelle für eine Reisewarnung ist wesentlich niedriger und bedeutet als solche keine Extremgefahr.

Auch die mit dem Untergrundkrieg einhergehende angespannte Versorgungslage einschließlich der medizinischen Versorgung im Irak führt nicht zur Bejahung einer Extremgefahr, zumal keine Hungergefahr besteht.

Die Versorgungslage im Irak ist zwar angespannt.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; zur prekären wirtschaftlichen Lage auch Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Indessen beziehen 96 % aller irakischen Haushalte Lebensmittelhilfe.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Für eine extreme Verknappung der Lebensmittel oder gar eine Hungerkatastrophe oder eine Wasserkatastrophe fehlt jeder Anhaltspunkt.

Schon mit Blick auf die bestehende Lebensmittelhilfe kann realistischerweise nicht angenommen werden, der Kläger würde im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nach seiner Rückkehr dem baldigen sicheren Hungertod ausgesetzt. Selbst eine katastrophale wirtschaftliche Situation mit Obdachlosigkeit und Unterernährung bedeutet dann keine Extremgefahr, wenn Rückkehrer nicht dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -.

Auch mit Blick auf die medizinische Versorgung ist eine allgemeine Extremgefahr zu verneinen. Die medizinische Versorgung ist allerdings angespannt.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 9.6.2006 und vom 24.11.2005.

Die Situation im Gesundheitswesen wird als extrem schwierig angesehen.

Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 4.2.2006.

Nach der Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist das irakische Gesundheitssystem schlechter als vor dem Krieg, bedarf dringend der Erneuerung, indessen ist die medizinische Grundversorgung zumeist gewährleistet.

So der zusammengefasste Inhalt der Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9.6.2004 sowie des Updates der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 15.6.2005.

Nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Extremgefahr begründen eine unzureichende medizinische Versorgung und eine kaum leistungsfähige Gesundheitsversorgung nicht bereits eine allgemeine Extremgefahr.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -, zu Armenien sowie BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -, zu einer kaum leistungsfähigen Gesundheitsversorgung in Angola mit desolaten hygienischen Verhältnissen.

Auch bei einer Gesamtwürdigung der sozioökonomischen Situation des Iraks

vgl. dazu Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, Abschnitt sozioökonomische Situation, Seite 11/12

ist ungeachtet der unzulänglichen Sicherheits- und Versorgungssituation nicht eine allgemeine Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem Ausmaß zu bejahen, dass ein Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Mithin ist im Irak der Tatbestand einer allgemeinen Extremgefahr zu verneinen.

Ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; sowie bereits BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -.

Nach dem vom Senat gefundenen Gesamtergebnis bleiben Hauptantrag und Hilfsantrag des Klägers erfolglos; die Berufung ist mithin zurückzuweisen.

Gerichtskosten werden nach § 83 b AsylVfG nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung über die außergerichtlichen Kosten ergibt sich aus § 154 II VwGO.

Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 II VwGO liegen nicht vor.

Gründe

Die zugelassene und auch ansonsten zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Der Widerrufsbescheid der Beklagten vom 19.10.2004 erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (§ 77 I 1 AsylVfG) als rechtmäßig (unten I.). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die - hilfsweise begehrte - Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von sonstigen Abschiebungsverboten im Sinne von § 60 II bis VII AufenthG (unten II.)

I.

Der mit Blick auf den Systemwechsel im Irak ergangene Widerrufsbescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Das Aufhebungsbegehren des Klägers ist mangels einschlägiger Übergangsregelungen nach der neuen, durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage zu beurteilen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, für Widerrufsfälle.

Rechtsgrundlage ist mithin § 73 I 1 AsylVfG in der ab 1.1.2005 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950). Die Vorschrift lautet:

Die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, sind unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

In der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, liegen die Widerrufsvoraussetzungen dann vor, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, zitiert nach Juris; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, ähnlich Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, § 73 AsylVfG Rdnr. 7, im Sinne eines Wegfalls der asylrelevanten Umstände als Beseitigung der Verfolgungsgefahr; weiter gehend im Sinne einer grundlegenden und dauerhaften Änderung der Verhältnisse und nicht nur eines spiegelbildlichen Wegfalls der ursprünglich die Verfolgung begründenden Umstände VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -; Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 73 Rdnr. 77 und 79, im Sinne einer Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland von grundlegender Natur und Dauer mit dem Ergebnis einer eingetretenen relativen politischen und wirtschaftlichen Stabilität.

Eine wesentliche Weichenstellung für die hier einschlägige Beurteilung eines politischen Systemwechsels liegt darin, ob nur die Beseitigung des Unrechtsregimes und seiner Verfolgungsmaßnahmen selbst endgültig sein muss oder ob zusätzlich in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung und allgemeinen Gefahren durch stabile Verhältnisse vorherrschen muss. Das Bundesverwaltungsgericht, dem der Senat folgt, stellt allein darauf ab, dass die Beseitigung des Regimes dauerhaft ist.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, dort für Afghanistan; ebenso BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22/03 -, für den Irak, wobei das Bundesverwaltungsgericht im Wege eigener Tatsachenwürdigung es als ausreichend ansieht, dass das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist und damit Asylberechtigte offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen haben; ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, S. 11 des amtl. Umdruck, das es genügen lässt, dass das Regime Saddam Hussein seine politische und militärische Herrschaft über den Irak endgültig verloren hat und eine Rückkehr des alten Regimes nach den aktuellen Machtverhältnissen ausgeschlossen ist.

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Gefahr einer wiederholten Verfolgung wegfällt, und dies hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich für den Irak unter Billigung des Widerrufs entschieden.

BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 – 1 C 22/03 – zitiert nach Juris.

Der Kläger hält dem eine – in der mündlichen Verhandlung vertiefte - grundsätzliche Betrachtung zur Existenz effektiver staatlicher Gewalt und effektiven staatlichen Schutzes vor denkbarer Verfolgung bereits als Widerrufsvoraussetzung entgegen. Im Flüchtlingsrecht sei anerkannt, dass die politische Verfolgung des Bürgers eines Staates mit der Abwesenheit staatlichen Schutzes vor Verfolgung gleichzusetzen sei. Dies setze funktionierende staatliche Strukturen voraus, die aber im Irak nicht vorhanden seien. Nach den Grundsätzen der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – sei bereits das Bestehen einer effektiven staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt im Irak in Frage zu stellen, zumindest sei dies vom Verwaltungsgericht nicht ausreichend festgestellt. Die Regierung des Irak habe über die grüne Zone Bagdads hinaus keinen Einfluss auf die Wiederherstellung eines effektiven staatlichen Schutzes im Irak, und zwar auch nicht durch die Truppen der Allianz, da für die Wiederherstellung effektiven staatlichen Schutzes eine Rückübertragung an das Herkunftsland erforderlich sei. Die aufgeworfene Frage der Wiederherstellung effektiven Schutzes durch den früheren Verfolgungsstaat sei durch das Bundesverwaltungsgericht noch nicht entschieden.

Die Beklagte widerspricht dem und meint, auf effektiven Schutz bietende staatliche Strukturen im Sinne einer stabilen Schutzmacht komme es bei fehlender Verfolgung rechtlich nicht an.

Klar auseinander zu halten sind die Fragen, ob ein Staat überhaupt besteht und dafür das Erfordernis der Ausübung staatlicher Gewalt prinzipiell erfüllt, und ob in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung sowie vor allgemeinen Gefahren bestehen muss. Damit hat der Kläger Grundsatzfragen mit weit reichender – länderübergreifender - Bedeutung aufgeworfen. Die Fragen sind indes vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 - entschieden, und zwar nicht im Sinne des Klägers.

Was zunächst die Frage der Existenz eines Staates angeht, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 – im Gegensatz zur Vorinstanz, dem OVG Schleswig-Holstein, die Existenz von Afghanistan als Staat nicht ernsthaft in Frage gestellt. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (Seite 9 des Juris-Ausdrucks) genügt es, dass eine Übergangsregierung Gebietsgewalt im Sinne einer übergreifenden prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtigen Ordnung ausübt; dem stehe nicht entgegen, dass sich die Regierungsgewalt auch auf internationale Truppen stütze. Auch ein ausgesprochen schwacher Staat ist nach diesen Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts ein Staat und die internationalen Truppen werden dem Staat zugerechnet. Dies stimmt überein mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der es im Asylrecht weniger auf abstrakte staatstheoretische Begriffsmerkmale ankommt und zugunsten des Flüchtlings nur geringe Anforderungen an das Vorliegen eines Staates zu stellen sind, wobei in Bürgerkriegsfällen bereits ein Kernterritorium genügt.

BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Danach ist der Irak eindeutig ein Staat.

Der Irakkrieg von 2003 zielte zwar darauf ab, das Unrechtsregime von Saddam Hussein zu beseitigen, indessen nicht auf die Beseitigung des irakischen Staates. Vielmehr wurde nach Ablauf der Besatzungszeit die irakische Souveränität am 28.6.2004 wiederhergestellt, wie in Rechtsprechung und Erkenntnismaterial anerkannt ist.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.9.2004 – A 2 S 51/01 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 – A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 – 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, Seite 1; ebenso unterscheidet die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Auskunft vom 27.1.2006 (Seite 3) klar erkennbar zwischen der bejahten Existenz des irakischen Staates und der verneinten Frage, ob der irakische Staat die Bürger schützen könne, die nachweislich Verfolgung befürchten müssten.

Die nur erforderliche prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtige Gebietsgewalt unter Einbeziehung der internationalen Truppen ist zu bejahen, da der irakische Staat mit deren Hilfe zumindest in der Lage ist, dem bisherigen Regime von Saddam Hussein den Prozess zu machen, dadurch seine Unrechtsmaßnahmen zu beenden und den neuen Untergrundkrieg mit den Terroristen mit allerdings nur einzelnen Erfolgen aufgenommen hat und dabei den sunnitischen Widerstand verfolgt, mithin nicht etwa prinzipiell ohne Macht ist. Auch die kritische Organisation UNHCR, der sich amnesty international angeschlossen hat, stellt die effektive Herrschaft der irakischen Übergangsregierung lediglich für einzelne Teile des irakischen Staatsgebiets, vor allem im Zentralirak, in Frage.

UNHCR, Hinweise von April 2005; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Ebenso geht das VG Sigmaringen in seiner kritischen Rechtsprechung nicht von einer fehlenden Staatsmacht aus, sondern nimmt an, der Übergangsregierung sei es noch nicht gelungen, ihre Macht im gesamten Irak zu etablieren.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 – A 3 K 11212/04 -, S. 8 des Umdrucks.

Auf das gesamte Territorium kommt es aber nicht an.

Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt bereits ein Kernterritorium.

BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Weiterhin muss gesehen werden, dass der irakische Widerstand seit der von ihm verlorenen zweiten Schlacht um Falludscha im November 2004 angesichts der Übermacht der US-Truppen nicht mehr bestimmte Gebiete verteidigen, sondern mit Anschlägen den Wiederaufbau des Landes nachhaltig stören will.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006.

Nach den dargelegten Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts kann unter Einbeziehung der internationalen Truppen die Existenz des Staates Irak mit der prinzipiellen Ausübung von Staatsgewalt nach Ansicht des Senats nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden.

Von der Frage der Existenz des Staates Iraks ist die weitere Frage eines effektiven Schutzes durch den Staat Irak als stabile Schutzmacht vor möglicher Verfolgung und allgemeinen Gefahren zu unterscheiden.

Der Kläger zieht die Effektivitätsfrage gewissermaßen vor die Klammer der Verfolgungsprüfung. Vorrangig wird effektiver Schutz geprüft. Fehlt es daran, steht die Verfolgung fest und der Widerruf scheitert. Letztlich hat der effektive Schutz dann absolute Bedeutung für den Widerruf. Der Kläger meint weiter, die Frage des effektiven staatlichen Schutzes sei von dem Bundesverwaltungsgericht noch nicht, auch nicht in seinem Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 –, entschieden; dem hat die Beklagte widersprochen.

Diese Auslegung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Kläger überzeugt nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21.04 – die nur relative Bedeutung eines effektiven Verfolgungsschutzes herausgestellt, diese Rechtsauffassung jedenfalls konkludent bereits in seinen beiden zuvor zum Irak ergangenen Entscheidungen vom 11.2.2004 – 1 C 23/02 – und vom 25.8.2004 – 1 C 22.03 – zugrunde gelegt und sodann die Frage einer stabilen Schutzmacht im Beschluss

vom 26.1.2006 – 1 B 135.05 –

ausdrücklich als nicht entscheidungserheblich bei fehlender Verfolgung behandelt.

In seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 – (Juris-Ausdruck Seite 6) hat das Bundesverwaltungsgericht für die Prüfung von Widerrufsfällen entschieden, dass nach der auch beim Widerruf anzuwendenden Vorschrift des § 60 I 4 AufenthG

eine Verfolgung nunmehr auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (kann), sofern der Staat, wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat nach der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht die gewissermaßen absolute Bedeutung, dass ein Widerruf ausscheidet. Ein fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat in Widerrufsfällen vielmehr nur die relative Bedeutung, dass vorrangig tatsächliche Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure zu prüfen sind. Die dargelegte Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet, dass effektiver staatlicher Schutz nicht bereits eine Widerrufsvoraussetzung ist; der Widerruf scheitert nicht von vornherein an fehlendem effektivem staatlichen Schutz durch eine stabile Schutzmacht.

Dieselbe Rechtsauffassung hat das Bundesverwaltungsgericht auch schon konkludent in einem unmittelbar den Irak betreffenden Urteil vom 25.8.2004 – 1 C 22.03 – in einem Widerrufsverfahren zugrunde gelegt. Auch dort wird die Frage der effektiven Schutzfähigkeit nicht als Widerrufshindernis geprüft. Vielmehr ist ausgeführt (Seite 3 des Juris-Ausdrucks):

Der Kläger hat bei einer Rückkehr in den Irak inzwischen offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen.

Es werden also nur Verfolgungsmaßnahmen ausgeschlossen. Dazu wird dargelegt, das irakische Regime sei durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden und andere Gründe, aus denen der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland politischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein könnte, seien nicht ersichtlich. Die effektive Schutzfähigkeit durch den irakischen Staat prüft das Bundesverwaltungsgericht nicht. Der Irak war im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (25.8.2004) gerade erst (am 28.6.2004) aus dem Besatzungsstatut in die Souveränität entlassen worden und vergleichbar schwach wie heute. Die fehlende effektive Schutzfähigkeit des Irak kann also kein absolutes Widerrufshindernis sein. Weiterhin hat das Bundesverwaltungsgericht in eigener Revisionswürdigung schon während der Besatzungszeit des Iraks eine Verfolgungsgefahr ausgeschlossen, ohne die effektive Schutzfähigkeit des Irak zu prüfen.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 – 1 C 23/02 -, dort betreffend einen Anerkennungsfall.

In den drei vom Senat aufgeführten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts aus 2004 und 2005 zum Irak und zu Afghanistan ist als gemeinsame klare Linie der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu entnehmen, dass in keinem der Fälle die effektive Schutzfähigkeit des Staates gewissermaßen als absolute Anforderung vor die Klammer gezogen wird und der Flüchtling bereits deshalb Verfolgter ist, weil sein Heimatstaat keinen effektiven Schutz durch eine stabile Schutzmacht gegen denkbare Verfolgungen bietet. Vielmehr ist vorrangig für das Bundesverwaltungsgericht, ob asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen nach den maßgebenden Kriterien der Rechtsprechung überhaupt zu befürchten sind. Für den Irak hat das Bundesverwaltungsgericht eine solche Verfolgungsgefahr verneint und bereits deshalb nicht die effektive Schutzfähigkeit des Staates vor denkbarer Verfolgung geprüft. In dem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/05 – ist die nur relative Bedeutung des effektiven staatlichen Schutzes vor Verfolgung hervorgehoben.

Sodann hat das Bundesverwaltungsgericht die Frage nach der Notwendigkeit einer stabilen Schutzmacht in einem neueren Revisionszulassungsverfahren auch ausdrücklich erörtert.

Beschluss des BVerwG vom 26.1.2006 – 1 B 135.05 -.

Es hat die aufgeworfene Frage der stabilen Schutzmacht als nicht entscheidungserheblich bei fehlender Verfolgung behandelt.

Dem folgt auch der Senat.

Mithin ist die vom Kläger aufgeworfene Grundsatzfrage der Bedeutung des effektiven Schutzes des Staates als stabiler Schutzmacht vor Verfolgung übereinstimmend mit der Meinung der Beklagten bereits höchstrichterlich geklärt; der Senat schließt sich der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an, wonach diese Frage nur relative Bedeutung bei vorrangig festzustellender tatsächlicher Verfolgungsgefahr hat.

Sodann ist mit Blick auf die Auffassung des UNHCR die Frage zu erörtern, ob nach dem politischen Systemwechsel über den Ausschluss erneuter Verfolgung hinaus auch noch Schutz vor allgemeinen Gefahren durch eine stabile Lage verlangt werden kann. Die Stabilitätsfrage wird also nochmals gestellt, aber nunmehr nicht mit Blick auf die Verfolgung, sondern mit Blick auf allgemeine Gefahren. Auch diese Frage hat grundsätzliche und zugleich länderübergreifende Bedeutung, ist aber vom Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden.

Die Widerrufsregelung des Gesetzgebers zielte nach der ursprünglichen Gesetzesbegründung auf den Fall, dass in dem Verfolgungsland ein Wechsel des politischen Systems eingetreten ist, sodass eine weitere Verfolgung nicht mehr zu befürchten ist.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, unter Darstellung der Gesetzesmaterialien.

Der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck bezieht sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausschließlich auf den Ausschluss erneuter Verfolgungsmaßnahmen, nicht auf Schutz vor allgemeinen Gefahren.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Die den Rechtsstandpunkt des Klägers stützende Gegenmeinung, die insbesondere von der Flüchtlingshilfeorganisation UNHCR näher begründet wird, geht über den Verfolgungsausschluss hinaus und verlangt für den Widerruf zusätzlich stabile Verhältnisse im Herkunftsland.

UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention auf irakische Flüchtlinge von April 2005, S. 2.

UNHCR nimmt dabei an, dass der internationale Flüchtlingsschutz nicht nur dem Schutz vor erlittener oder drohender Verfolgung diene, sondern auch der Schaffung dauerhafter Lösungen für Flüchtlinge; deshalb könnten Flüchtlinge nicht zur Rückkehr in die instabilen Verhältnisse des Irak gezwungen sein mit der Gefahr, dass immer neue Flüchtlingsströme entstehen.

UNHCR-Hinweise von April 2005, S. 2.

Dieser vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vertiefte Gesichtspunkt leuchtet dem Senat durchaus rechtspolitisch ein.

Es geht um die Erweiterung des Schutzzwecks auf allgemeine Gefahren zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme. Unter Hinweis auf die Interessenwürdigung durch UNHCR verlangt auch Marx relative politische und wirtschaftliche Stabilität in dem Land nach dem Systemwechsel.

Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 73 Rdnr. 79.

Das VG Köln, auf das sich der Kläger beruft, ist dieser Auffassung gefolgt.

VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -, wonach eine instabile beziehungsweise unsichere Lage im Herkunftsland Irak einem Widerruf entgegenstehe.

Besonders deutlich wird diese Rechtsposition durch das VG Sigmaringen dargestellt, auf das sich der Kläger ebenfalls beruft.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -.

Danach geht es bei dem Widerruf nicht nur um Verfolgungsschutz, sondern erweiternd um effektive Schutzgewährung, und ein wesentlicher Aspekt der effektiven Schutzgewährung ist die allgemeine Sicherheitslage.

Ungeachtet der rechtspolitischen Vorzüge der Ansicht von UNHCR folgt der Senat der systematisch begründeten Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach der Widerruf keinen Gefahrenausschluss durch stabile Verhältnisse voraussetzt. Diese Auslegung ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Nach Art. 16 a I GG dient das Asylrecht dem Schutz politisch Verfolgter

Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 7. Auflage 2004, Art. 16 a Rdnr. 1, wonach das Asylgrundrecht auf die Erfahrung mit dem Dritten Reich und den damals rassistisch und politisch Verfolgten zurückgeht und Menschen in einer ähnlichen politischen Lage in anderen Ländern helfen soll.

Dagegen ist das Grundrecht nach der Verfassungsrechtsprechung nicht in der Lage, auch einen effektiven Schutz vor politisch und wirtschaftlich instabilen Verhältnissen, oder sogar vor anarchischen Zuständen mit Auflösung der Staatsgewalt zu gewähren.

Zum Letzteren BVerfG, Beschluss vom 10.8.2000 – 2 BvR 260/98 -.

Ist dies aber der Fall, verbietet das Grundgesetz auch unter Einschluss des vom Kläger zitierten Art. 1 I GG nicht einen geminderten Flüchtlingsschutz für Fälle des Staatszerfalls.

Darüber hinaus ist die grundrechtskonforme Begrenzung des Gesetzeszwecks auf den Verfolgungsschutz nach der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowohl völkerrechtskonform als auch europarechtskonform.

Die Widerrufsvorschrift des deutschen Rechts geht zurück auf Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - vom 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560), wonach eine Person nicht mehr unter den Schutz des Flüchtlingsabkommens fällt,

wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wollte der deutsche Gesetzgeber mit seiner Widerrufsbestimmung die materiellen Anforderungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention übernehmen und hat dies auch getan.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Nach der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet Wegfall der Umstände im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK eine nachträgliche erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Unter Schutz im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK ist danach ausschließlich der Schutz vor zu erwartenden erneuten Verfolgungsmaßnahmen zu verstehen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/06 -.

Das Bundesverwaltungsgericht beruft sich für seine Rechtsauffassung auf eine systematische Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention. Der Begriff Schutz des Landes in dieser Wegfallbestimmung hat danach keine andere Bedeutung als der gleich lautende Begriff Schutz dieses Landes in Art. 1 A Nr. 2 GFK, der die Flüchtlingseigenschaft begründet. Nach dieser Vorschrift kommt es insbesondere darauf an, dass der Betroffene aus begründeter Furcht vor Verfolgung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann. Nach dem Zusammenhang dieser Definitionsvorschrift kann mit dem Schutz des Landes nur der Schutz vor den befürchteten Verfolgungsmaßnahmen gemeint sein; ein Schutz vor instabilen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen als Begründung der Flüchtlingseigenschaft ist ersichtlich nicht mit umfasst. Die instabile Lage begründet nicht die Verfolgteneigenschaft Dies gilt konsequent auch für den Wegfall der Flüchtlingseigenschaft, und deshalb beenden auch nicht erst stabile Verhältnisse die Verfolgteneigenschaft.

Der Senat folgt der systematischen Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts.

Zusätzlich ist noch auf folgenden in der mündlichen Verhandlung erörterten Auslegungsgesichtspunkt hinzuweisen:

Die unmittelbar anschließende völkerrechtliche Widerrufsregelung für Staatenlose in Art. 1 C Nr. 6 GFK enthält keine Schutzklausel. Dies kann schwerlich bedeuten, dass damit Staatenlosen der sonst zu gewährende effektive Schutz entzogen wird. Vielmehr spricht diese Regelung dafür, dass mit dem völkerrechtlichen Begriff „Schutz“ nur der prinzipielle Schutz des Herkunftsstaates für seine Staatsangehörigen gemeint ist, der naturgemäß nicht auf Staatenlose übertragen werden kann.

Auch dies spricht für die Auslegung des Völkerrechts durch das Bundesverwaltungsgericht.

Ergänzend zu berücksichtigen ist für die Auslegung des deutschen Rechts das Europarecht. Dabei geht es um die Vorwirkung der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikationsrichtlinie - bereits vor dem bevorstehenden Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006.

Nach der Rechtsprechung des EuGH, der sich der Senat angeschlossen hat, ist nationales Recht schon vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist bereits erlassener Richtlinien so auszulegen, dass der Zweck der Richtlinie erreicht werden kann.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 - C 211/03 -, Rz 44; Urteil des Senats vom 3.2.2006 - 3 R 7/05 - Seite 49 des amtl. Umdrucks, beide Entscheidungen ergangen zum Arzneimittelrecht.

Inhaltlich führt die europäische Richtlinie aber zu keiner anderen Rechtslage als der bereits dargelegten völkerrechtlichen Regelung der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern sie bestätigt noch zusätzlich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.

Wesentlich ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass die völkerrechtliche Wegfallklausel der Genfer Flüchtlingskonvention in die Qualifikationsrichtlinie ebenso wörtlich übernommen ist wie der symmetrische Schutzbegriff sowohl bei der Begründung der Flüchtlingseigenschaft als auch bei dem Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft. Nach Art. I e der Qualifikationsrichtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser nicht mehr Flüchtling, wenn er

nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Für die Begründung der Flüchtlingseigenschaft stellt Art. 2 c der Qualifikationsrichtlinie unter eigenständiger Formulierung der Verfolgungsmerkmale ebenso wie die Genfer Flüchtlingskonvention auf die begründete Furcht vor Verfolgung ab und verlangt sodann wörtlich übereinstimmend, dass der Flüchtling

sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann .....

Die vom Bundesverwaltungsgericht bereits im Zusammenhang mit dem Völkerrecht ausgelegten Parallelbegriffe „Schutz des Landes“ sowie „Schutz dieses Landes“ finden sich also wörtlich gleich lautend in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der umzusetzenden Qualifikationsrichtlinie der EG. Das Bundesverwaltungsgericht hat auch konsequenterweise in einem Nichtzulassungsbeschluss bereits ausgeführt, die Annahme einer Vorwirkung der Richtlinie 2004/83/EG führe nicht zu einem günstigeren Auslegungsergebnis der Widerrufsvorschrift.

BVerwG, Beschluss vom 15.2.2006 - 1 B 120/05 -, ohne eingehende Begründung; eben so Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; a. A. das VG Köln in seinem Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -, das aus den übereinstimmenden Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie einen Schutz auch vor einer instabilen Lage in Anspruch nimmt.

Hinzu kommt, dass die europäische Richtlinie die Wegfallklausel in Art. 11 II über das Völkerrecht hinaus dahin gehend präzisiert, dass die Mitgliedstaaten zu untersuchen haben,

ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist.

Damit wird der Schwerpunkt der Prüfung auf die Veränderung selbst gelegt, nicht auf stabile Verhältnisse.

Dies entspricht exakt der Auslegung des deutschen Rechts durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die mithin durch das neue Europarecht bestätigt wird.

Zusammengefasst ergibt sich aus der dargelegten systematisch überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entgegen der rechtspolitisch vorzugswürdigen Ansicht von UNHCR als grundsätzliche Weichenstellung der Widerrufsmaßstab, dass nur der Verfolgungsausschluss maßgebend ist. Die Gefahr von erneuten Verfolgungsmaßnahmen ist nach den Kriterien der Rechtsprechung zu prüfen. Allgemeine Gefahren etwa aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage bleiben bei dem Widerruf außer Betracht.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Verfolgungsgefahr wegfällt.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23/02 -, zitiert nach Juris.

Erweist sich die Beseitigung eines Regimes mit dessen spezifischen Verfolgungsmaßnahmen als endgültig, kann über den Wegfall der tatsächlichen Verfolgungsgefahr hinaus ein stabiler Staat weder zum Verfolgungsausschluss noch zum Gefahrenausschluss verlangt werden. Der Staat braucht also nicht stark zu sein. Die dargestellte Weichenstellung hinsichtlich stabiler Verhältnisse ist der Hauptgrund dafür, dass der Flüchtlingswiderruf in der Rechtsprechung einiger Instanzgerichte als rechtswidrig beurteilt wird; darauf ist noch einzugehen.

Die dargelegte erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der Verhältnisse muss nach dem anzulegenden Maßstab dazu führen, dass die Verfolgungsmaßnahmen nicht mehr wiederholt werden. Mit Blick auf die Vorverfolgung des Klägers gilt dafür der herabgestufte Maßstab der hinreichenden Sicherheit.

BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - BVerwG 9 C 6.96 -, BVerwGE 104, 97; ebenso BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21.04 -, zitiert nach Juris.

Dem bereits Vorverfolgten soll nicht das Risiko einer Wiederholung der Verfolgung aufgebürdet werden. Dabei braucht die Gefahr des Eintritts wiederholter Verfolgungsmaßnahmen nach diesem Maßstab nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen zu werden, so dass bereits geringe Zweifel dem Begehren zum Erfolg verhelfen würden. Vielmehr ist eine Wiederholungsgefahr der Verfolgung nach diesem Prognosemaßstab zu bejahen, wenn sich ernsthafte Bedenken nicht ausräumen lassen.

BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - BVerwG 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97.

Nach dem dargelegten Maßstab ist durch die Entmachtung Saddam Husseins eine erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der politischen Verhältnisse eingetreten, die nicht mehr umkehrbar ist. Dies steht mit hinreichender Sicherheit fest. Das Regime von Saddam Hussein ist gestürzt, seine Armee und seine Polizei sind aufgelöst, die Baath-Partei ist verboten, seine Verfolgungsmaßnahmen sind beendet, einige Mitglieder des Regimes sind getötet und Saddam Hussein und dem Kern seines Regimes wird im Irak der Prozess gemacht. Gerade darin liegt der Verfolgungsschutz des Klägers vor weiteren Unrechtsmaßnahmen des Regimes von Saddam Hussein, der keinen ernsthaften Bedenken unterliegt.

Dem hält der Kläger die eigene Einschätzung entgegen, angesichts der anerkannt labilen Sicherheitslage und der hohen Zahl der täglichen Anschläge sei in einem Bürgerkrieg oder jedenfalls einem Krieg von niedriger Intensität die Zukunft offen und es sei nicht auszuschließen, dass die Kräfte um den früheren Diktator Saddam Hussein wieder an die Macht gelangten, sein Machtclan sei noch vorhanden.

Dem Kläger ist zwar hinsichtlich der instabilen, manchmal eskalierenden Sicherheitslage, des hohen Gewaltniveaus durch tägliche Anschläge aus dem Untergrund im Sinne eines Untergrundkriegs und damit einer offenen Lage nach dem übereinstimmenden Erkenntnismaterial Recht zu geben.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005: amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005 und Jahresbericht 2006, UNHCR, Position von September 2005, vgl. auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Der Irak steht – wie es das OVG Koblenz prägnant formuliert – am Scheideweg zwischen Demokratie und Staatszerfall.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Insofern ist die Zukunft offen. Sie schließt den offenen Ausbruch eines Bürgerkriegs und ein Auseinanderbrechen des Irak ein.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

In dem hier entscheidenden Punkt, ob der Sturz des Regimes von Saddam Hussein und seines Machtclans in absehbarer Zeit unumkehrbar ist, besteht aber entgegen der Meinung des Klägers in Rechtsprechung und im Erkenntnismaterial ungeachtet der unterschiedlich kritischen Beurteilung des Iraks die fast einhellige Überzeugung, dass die Entmachtung Saddam Husseins und seines Clans nicht mehr umkehrbar ist.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den während des Laufs mehrerer Revisionsverfahren 2003 eingetretenen Sturz von Saddam Hussein abschließend selbst beurteilt mit dem Ergebnis, dass mit einer Wiederholung der Verfolgung offenkundig nicht mehr zu rechnen sei.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -; BVerwG Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, jeweils zitiert nach Juris.

Das Bundesverwaltungsgericht hält es also für offenkundig, dass Saddam Hussein und sein Clan nicht an die Macht zurückkehren.

Die Obergerichte teilen diesen Standpunkt. Nach der Auffassung des OVG Münster hat das bisherige Regime Saddam Husseins seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch den am 20.3.2003 begonnenen Militärschlag unter Führung der USA endgültig verloren und eine Rückkehr des alten Regimes ist nach den aktuellen Machtverhältnissen ebenso ausgeschlossen wie die Bildung einer Struktur, die eine vom früheren Regime gesehene Gegnerschaft als solche übernimmt und wiederholend verfolgt.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Der VGH Baden-Württemberg hält es mit hinreichender Sicherheit für ausgeschlossen, dass Anhänger des früheren Baath-Regimes bei realistischer Betrachtung wieder staatliche Herrschaftsgewalt ausüben könnten und zwar ungeachtet der äußerst angespannten Sicherheitslage.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Nach der Einschätzung des OVG Lüneburg ist der Sturz des Regimes von Saddam Hussein nach allen vorliegenden Erkenntnissen eindeutig und unumkehrbar, und zwar trotz der problematischen und oft eskalierenden Sicherheitslage im Irak.

OVG Lüneburg, Urteil vom 13.2.2006 - 9 LB 75/03 -.

Nach der Beurteilung des Bayerischen VGH gibt es keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass Saddam Hussein oder Angehörige seines früheren Regimes in absehbarer Zeit in der Lage sein könnten, sich neu zu formieren und staatliche Verfolgungsmaßnahmen zu veranlassen.

BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -.

Nach der Einschätzung des OVG Koblenz ist die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein vollständig; die tragenden Personen sind nicht nur durch das irakische Volk abgewählt, sondern zum Teil getötet oder außer Landes und ihm selbst und seinen führenden Helfern wird der Prozess gemacht, so dass eine weitere Verfolgung durch die persönliche Diktatur auszuschließen ist.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 107/95/05.OVG -.

Auch das OVG Schleswig-Holstein und das Sächsische OVG sehen den Machtverlust des diktatorischen Regimes von Saddam Hussein als endgültig an.

OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 18.5.2006 – 1 LB 117/05 -; Sächsisches OVG, Beschluss vom 28.8.2003 - A 4 B 573/02 -.

Soweit sich der Kläger auf die Rechtsprechung einiger Instanzgerichte beruft, die für den Irak die Widerrufsvoraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung verneinen, werden bei vergleichbarer Tatsachenwürdigung die rechtlichen Weichen anders gestellt. Das VG Köln ist der Auffassung, dass der Wegfall der ursprünglich die Verfolgung begründenden Verhältnisse nicht genüge und deshalb der Sturz des Regimes von Saddam Hussein allein nicht ausreiche; vielmehr müsse der Charakter der Veränderungen selbst stabil sein, was angesichts der hochgradigen instabilen Lage im Irak nicht der Fall sei.

VG Köln, nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.9.2005 - 18 K 3217/04.A -.

Allerdings ist die Rechtsprechung des VG Köln zur Rechtswidrigkeit des Widerrufs entgegen der Meinung des Klägers von dem OVG Münster nicht inhaltlich bestätigt worden. So hat das OVG Münster zwar in einem Beschluss vom 20.10.2005 (nicht: 19.7.2005) – 9 A 2944/05.A – ein entsprechendes Urteil des VG Köln aus prozessualen Gründen bestätigt. In seiner Rechtsprechung in der Sache selbst hat das OVG Münster aber wie dargelegt den Widerruf unter Abänderung einer Entscheidung des VG Köln als rechtmäßig angesehen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 – 9 A 3590/05.A – unter Abänderung des Urteils des VG Köln vom 24.8.2005 – 18 K 5732/04.A -.

Besonders deutlich wird die unterschiedliche rechtliche Weichenstellung bei im Wesentlichen gleicher Tatsacheneinschätzung in der Beurteilung des VG Sigmaringen, auf das sich der Kläger beruft.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -.

Nach der Rechtsprechung des VG Sigmaringen wurde durch die Militäraktion ein grundlegender Systemwechsel bewirkt; eine Rückkehr zu den alten Machtverhältnissen ist ausgeschlossen. Bei der Widerrufsentscheidung darf dagegen nicht die allgemeine Sicherheitslage ausgeklammert werden und wegen der erheblichen Unsicherheit der politischen Entwicklung und der realistischen Gefahr von Terroranschlägen hat ein Widerruf zu unterbleiben. Die abweichende Rechtsauffassung des VG Sigmaringen beruht also bei grundsätzlich gleicher Lagebeurteilung auf einer Rechtsauffassung, die das Bundesverwaltungsgericht und dem folgend der Senat nicht teilt.

Der Einschätzung durch die Rechtsprechung entspricht grundsätzlich auch die Beurteilung durch das vorliegende Erkenntnismaterial. In dem aktuellen Erkenntnismaterial wird meist nicht einmal mehr die Frage aufgeworfen, ob Saddam Hussein oder sein Clan an die Macht zurückkehren könnte.

Das Auswärtige Amt stellt eine Umsetzung des politischen Prozesses durch demokratische Wahlen bei gleichzeitig hohem Gewaltniveau und einer Annäherung an bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen fest; es geht davon aus, dass in dem am 19.10.2005 eröffneten Strafverfahren gegen Saddam Hussein und sieben weitere Repräsentanten der Diktatur den Angeklagten die Todesstrafe droht, rechnet also ersichtlich nicht mit einer erneuten Machtergreifung von Saddam Hussein und seinem Clan.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe würdigt in ihrer Analyse den politischen Übergang des Iraks zur Demokratie bei gleichzeitig äußerst schlechter Sicherheitslage.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Nach der Einschätzung der kritischen Flüchtlingshilfeorganisation UNHCR hat der Sturz des Regimes von Saddam Hussein noch nicht überall im Land zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen geführt; nach dem Sturz bestehen aber keine Anhaltspunkte dafür, dass Saddam Hussein selbst wieder die Macht erlangen könnte. Die Zukunft sei insofern unsicher, als es zu Sezessionsbestrebungen kommen könne.

UNHCR, UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention auf irakische Flüchtlinge von April 2005.

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international hat sich der Beurteilung durch UNHCR angeschlossen, dass nach dem Wegfall der autoritären Zentralgewalt der Sturz der Regierung von Saddam Hussein noch nicht im gesamten Irak zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen geführt hat; die Frage einer Rückkehr wird nicht aufgeworfen.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Das Deutsche Orient-Institut sieht in den Terroranschlägen lediglich einen Versuch, die politische Entwicklung des Irak zu bestimmen; die Rückkehrfrage von Saddam Hussein oder seines Machtclans wird nicht gestellt.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006.

Bei einer Gesamtwürdigung ist erkennbar, dass die vorliegende Rechtsprechung explizit von der Unumkehrbarkeit des Sturzes von Saddam Hussein in absehbarer Zeit ausgeht, während das aktuelle Erkenntnismaterial überwiegend die Frage bereits nicht mehr aufwirft. Soweit ersichtlich enthält das Erkenntnismaterial keinen näher begründeten ernsthaften Anhaltspunkt dafür, Saddam Hussein oder sein Machtclan könnte die Herrschaft im Irak wieder ergreifen und die Verfolgung ihrer früheren Gegner fortsetzen.

Dem Kläger ist einzuräumen, dass die Tatsache des praktisch einhelligen Ergebnisses in Rechtsprechung und Erkenntnismaterial eine Begründung dieser Prognose nicht ersetzt. Er beanstandet es, dass das Verwaltungsgericht seine Prognose zur Unumkehrbarkeit der Verhältnisse nicht begründet hat.

In der Rechtsprechung findet sich indessen eine tragfähige Begründung der Unumkehrbarkeit der Verhältnisse, die auch gegenüber der Argumentation des Klägers mit Blick auf die offene Lage überzeugt.

Wesentliche Bedeutung für die Unumkehrbarkeit des Verlustes der Macht hat die Art der Entmachtung des Regimes. Das Bundesverwaltungsgericht hat Gewicht darauf gelegt, dass das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -; BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -; jeweils zitiert nach Juris.

Ebenso hat das OVG Münster darauf abgestellt, dass das bisherige Regime von Saddam Hussein seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die am 20.3.2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren hat.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Das Regime von Saddam Hussein ist mithin nicht durch einen umkehrbaren Putsch oder durch die Intervention eines ähnlich starken Nachbarlandes entmachtet worden, sondern hat den Krieg gegen eine führende Macht der Welt endgültig verloren. In diesem Kriegsverlust liegt ein Unterschied zu dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung erwähnten Vietnamkrieg, in dem das nordvietnamesische Regime von den Amerikanern nicht besiegt und beseitigt wurde und sich erst danach neu etabliert hat. Ausdrückliches und erreichtes Kriegsziel im Irakkrieg war die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein. Der Verlust eines solchen Krieges lässt sich realistischerweise nicht einfach umkehren. Auch der sunnitische Widerstand geht in seiner Einschätzung von einer Übermacht der US-Truppen im Irak und nicht von einem Kräftegleichgewicht aus.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Die Kräfte sind zu ungleich, um mit dem Kläger insoweit eine offene Lage zu sehen. Deshalb bestehen auch keine ernsthaften Bedenken gegenüber der Unumkehrbarkeit des Sturzes von Saddam Hussein und seines Machtclans einschließlich seiner spezifischen Verfolgungsmaßnahmen.

Wenn der Kläger demgegenüber meint, die Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein seien nicht zerschlagen, da das Clan-System existiere und lebensfähig sei, überzeugt das nicht. Zu den Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein gehörten abgesehen von dem Clan vor allem seine Armee, seine Polizei und die Baath-Partei. Seine Armee und die Polizei sind zerschlagen worden, die Baath-Partei ist verboten. Die das Regime tragenden Personen des Machtclans sind vom irakischen Volk abgewählt, zum Teil getötet, und dem Kern des Regimes wird der Prozess gemacht, so dass bei einer Gesamtwürdigung von einer Beseitigung der persönlichen Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein auszugehen ist.

So überzeugend OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Alle diese Herrschaftsstrukturen sind endgültig zerschlagen. Allenfalls kann man mit der Einschätzung von UNHCR und amnesty international annehmen, dass es noch nicht überall im Land zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen gekommen ist, aber auch UNHCR sieht darin keinen Gesichtspunkt dafür, Saddam Hussein könne wieder die Macht erlangen.

Von Bedeutung ist, dass das Clan-System von Saddam Hussein allein in einer Minderheitsgruppe verankert war. Das OVG Münster stützt seine Prognose darauf, dass es nicht wieder zu einer Ballung der Macht bei einer der Volksgruppen kommen werde, zumal nicht in der Hand der nur eine Minderheit darstellenden Gruppe der Sunniten, in der das Regime Saddam Husseins vor allem verankert war.

OVG Münster, Urteil vom 17.5.2004 - 20 H 1810/02.A -.

Die arabischen Sunnitinnen und Sunniten stellen im Irak einen Bevölkerungsanteil von etwa 17 bis 22 % dar.

Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006.

Die gewaltsame Wiedererlangung der Macht einer diktatorischen sunnitischen Minderheit durch Bombenanschläge sowohl gegen die Mehrheit der großen Volksgruppen des Irak als auch gegen das erreichte Kriegsziel einer Weltmacht ist nicht realistisch.

Das bestätigt auch die bisherige demokratische Entwicklung des Irak, die durch einen Untergrundkrieg des Widerstands mit täglichen Bombenanschlägen nicht zu verhindern war. Die Entwicklung im Irak ist sowohl durch die demokratische Neugestaltung als auch den Untergrundkrieg mit Bombenanschlägen geprägt.

Die seit dem Irakkrieg 2003 eingetretene politische Entwicklung, insbesondere die demokratische Beteiligung der wesentlichen Gruppen des Iraks, der Schiiten, der arabischen Sunniten und der Kurden, lässt keinen Anhaltspunkt für eine nochmalige diktatorische Minderheitsherrschaft der Sunniten zu, wobei die von Saddam Hussein verfolgte Mehrheit der Schiiten realistischerweise auch nicht als Bündnispartner der Diktatur der Sunnitenminderheit bereit steht.

Am 28.6.2004 wurde unter Beendigung der amerikanisch-britischen Besatzung die Souveränität des Irak wieder hergestellt.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Die am 30.1.2005 erstmals durchgeführten demokratischen Wahlen führten zu einer demokratischen Legitimierung der irakischen Regierung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005.

Aufgrund dieser ersten Wahlen stellten die Schiiten den Ministerpräsidenten und 16 Minister, die Kurden 8 Minister, die Sunniten 6 Minister und die Christen und Turkmenen je einen Minister. Zum Staatspräsidenten wurde am 6.4.2005 der Kurde Talabani gewählt. Seine Stellvertreter wurden ein Schiit und ein sunnitischer Araber. Am 15.10.2005 hat die irakische Bevölkerung in einem Referendum die neue irakische Verfassung entgegen den Bombenandrohungen mit einer Wahlbeteiligung von immerhin 63 % angenommen. Die Verfassung bestimmt, dass der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat ist. Der Islam ist eine Hauptquelle der Gesetzgebung; die Verfassung enthält einen umfassenden Menschenrechtskatalog und garantiert eine Frauenquote von 25 % im Parlament. Am 19.10.2005 hat ein irakisches Sondergericht zur Aufarbeitung der Verbrechen des ehemaligen Regimes das erste Verfahren gegen Saddam Hussein sowie sieben weitere Repräsentanten des früheren Regimes eröffnet.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005, amnesty international, Jahresbericht 2006.

Am 15.12.2005 fanden im Irak Parlamentswahlen mit einer Wahlbeteiligung von immerhin 75 % der Wahlberechtigten ungeachtet der Bombendrohungen statt. Von den 275 Parlamentssitzen errangen die religiöse Schiiten-Allianz 128, das kurdische Wahlbündnis 53 und die sunnitische Irakische Konsensfront 44 Sitze.

Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006.

Die Regierungsbildung war sehr langwierig, da die Kurden und die Sunniten den bisherigen schiitischen Ministerpräsidenten Dschaafari ablehnten. Erst im Mai 2006 wurde eine neue Regierung durch das irakische Parlament bestätigt. Neuer Ministerpräsident ist der Schiit Al-Maliki. Der Ölminister ist Schiit, der Außenminister Kurde und der Vizepremier Sunnit.

Vgl. zur Regierungsbildung Süddeutsche Zeitung vom 22.5.2006.

Insgesamt spiegelt das vollständige Kabinett mit 20 Schiiten, 8 Kurden, 8 Sunniten und 4 Säkularen den ethnisch-konfessionellen Proporz des Irak wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Der Kurde Talabani wurde am 22.4.2006 erneut zum Staatspräsidenten gewählt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Angesichts der Entwicklung der Machtverhältnisse, die von einer Mehrheit der unter dem sunnitischen Regime unterdrückten schiitischen und kurdischen Bevölkerungsgruppen geprägt ist, hält es der Senat mit hinreichender Sicherheit für ausgeschlossen, dass Anhänger des früheren Baath-Regimes bei realistischer Betrachtung als Minderheitsgruppe wieder diktatorische Herrschaftsgewalt ausüben werden, dafür die zuvor von Saddam Hussein verfolgten Volksgruppen gewinnen und sodann die Verfolgung wieder aufnehmen.

Der Verlust des Krieges gegen eine Weltmacht kann realistischerweise nicht mehr umgekehrt werden und dies ist auch wie dargelegt im Vietnamkrieg nicht geschehen.

Nach allem liegt in der Entmachtung von Saddam Hussein und des Minderheitsregimes der arabischen Sunniten einschließlich der spezifischen Verfolgungsmaßnahmen des Regimes eine unumkehrbare Entwicklung. Der Kläger hat mithin offenkundig nicht mehr mit einer wiederholten politischen Verfolgung zu rechnen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Wegfall der politischen Verfolgung bereits im Jahr 2004 als offenkundig bezeichnet, BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, unter eigener Beurteilung der Entwicklung in der Revisionsinstanz.

Der Kläger ist also hinreichend sicher davor, dass der Clan um Saddam Hussein nach dem verlorenen Krieg gegen eine Weltmacht erneut eine sunnitische Minderheitsdiktatur begründet und die Verfolgung des Klägers gerade dort aufnimmt, wo sie 1995 beendet wurde, nämlich mit der vorgetragenen drohenden Verhaftung wegen der Übermittlung von Einzelheiten der Militärfahrzeuge Saddam Husseins an die kurdische Partei PUK im Nordirak. Nach dem herabgesetzten Prognosemaßstab ist der Kläger mithin vor einer solchen Wiederholung dieser spezifischen Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher.

Nach diesem Maßstab droht dem Kläger keine erneute Verfolgung.

Allerdings befürchtet der Kläger dennoch, er werde ungeachtet des Regimewechsels wegen des plausibel vorgetragenen früher begangenen militärischen Geheimnisverrats zugunsten der kurdischen Partei PUK weiterhin zur Rechenschaft gezogen. Dieser in der mündlichen Verhandlung von der Beklagten bestrittene Verfolgungsvortrag kann zugunsten des Klägers als richtig unterstellt werden. Auf Grund der vorgetragenen Verfolgung meint der Kläger nach seinem erstinstanzlichen Vorbringen, er müsse heute von den aktuell an der Macht Befindlichen Verfolgung befürchten, mithin von der irakischen Regierung.

Eine solche Individualverfolgung durch den – an sich verfolgungsfähigen - neuen irakischen Staat ist aber auszuschließen. Saddam Hussein ist durch die Militärmacht der Amerikaner und Engländer entmachtet worden. Die seinerzeit verfolgte und vom Kläger unterstützte kurdische Partei PUK wird nunmehr von Talabani geleitet, der selbst Staatspräsident des Irak ist.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die jetzige, demokratisch legitimierte Regierung des Irak setzt sich aus Gegnern Saddam Husseins zusammen. Insbesondere wurde der schiitische Ministerpräsident Al-Maliki unter Saddam Hussein zum Tode verurteilt; der Ölminister Al-Schahristani war unter Saddam Hussein inhaftiert und gefoltert worden, weil er sich weigerte, an der Entwicklung einer Atombombe und damit der militärischen Macht Saddam Husseins mitzuarbeiten.

Süddeutsche Zeitung vom 22.5.2006.

Ein nachträglicher Schutz einzelner Daten der Militärmacht Saddam Husseins nach dem Stand von 1995 durch die Strafgerichte des neuen irakischen Staats oder durch andere staatliche Maßnahmen liegt außerhalb jeder realen Möglichkeit. Im Visier der Regierungsmaßnahmen ist der sunnitisch-arabische Widerstand. Dazu gehört der Kläger eindeutig nicht, was keiner näheren Darlegung bedarf.

Weiterhin fürchtet der Kläger wegen der damaligen Weitergabe der Daten der Militärfahrzeuge eine Individualverfolgung durch nichtstaatliche Akteure (§ 60 I 4 c AufenthG), und zwar durch das sunnitische Terrorpotenzial, das den neuen irakischen Staat bekämpft. Der Kläger befürchtet einen individuellen Racheakt.

Eine solche Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu prüfen, wenn der Staat beziehungsweise gebietsmächtige Organisationen einschließlich internationaler Organisationen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 -.

Nach der zutreffenden Einschätzung von UNHCR sind die Koalitionstruppen und die irakischen Sicherheitskräfte, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, nicht im Stande, die Sicherheit vor Attentaten zu gewährleisten.

UNHCR, Hinweise von April 2005; Position von September 2005; ebenso UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Mithin ist die Gefahr eines individuellen Attentats auf den Kläger zu prüfen.

In der irakischen Wirklichkeit kommen individuelle Racheakte vor. Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich insbesondere, dass Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der Regierung zusammenarbeiten, mit Racheakten des bewaffneten sunnitischen Widerstands rechnen müssen.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und schon vom 24.11.2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005 sowie vom 9.6.2004: frühere exponierte Parteimitglieder und Angehörige des früheren Regimes, die die Seite gewechselt haben; keine Berichterstattung über solche Fälle in amnesty international, Jahresbericht 2006.

So hat sich das Deutsche Orient-Institut insbesondere mit dem Fall eines Arztes befasst, der nach dem Ende des Saddam-Regimes einen Lagerwechsel vornahm, politisch gegen das ehemalige Regime arbeitete und dafür von dem sunnitischen Widerstand gezielt ermordet wurde; hier hat das Deutsche Orient-Institut eine individuelle Gefahr auch für den Bruder des ermordeten Arztes bejaht.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006.

Insofern werden Seitenwechsler als Verräter und Kollaborateure im Einzelfall von dem sunnitischen Widerstand durch Racheakte bestraft.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006.

Zu diesen Personen gehört der Kläger aber nicht, der als bereits ursprünglicher Gegner Saddam Husseins und Anhänger der kurdischen Sache zu keinem Zeitpunkt die Seite gewechselt hat. Vielmehr hat er nach seiner Erstanhörung vom 13.12.1995 die Zusammenarbeit mit der Baath-Partei von Saddam Hussein abgelehnt.

Im Einzelfall kommen auch Racheakte von ehemaligen Anti-Saddamisten an Saddamisten vor, wenn es auch im Irak keine „Nacht der langen Messer“ gegeben hat.

Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 3.4.2006.

Auch davon ist der Kläger nicht betroffen, da er kein Saddamist war.

Im Übrigen kommen auch individuelle Racheakte im Verhältnis von Schiiten und Sunniten vor, die sich gegenseitig die begangenen Morde vorrechnen; diejenigen, die sich für ihre Racheakte Opfer suchen, tun dies auf ganz direkte Weise und aus ganz direkten Gründen.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006.

Bezogen auf die Vergangenheit kommt es in Einzelfällen zu individuellen Racheakten aus dem ganz direkten Grund, dass jemand persönlich Blut an seinen Händen hat.

So das Deutsche Orient-Institut in seinen Gutachten vom 14.6.2005 und vom 31.3.2005.

Auch eine solche Individualgefahr von Racheakten betrifft den Kläger nicht, der bereits nach seinem ursprünglichen Vortrag bei seiner Erstanhörung in Deutschland vom 13.12.1995 bis einschließlich der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nichts über eine Verwicklung in eine Bluttat vorgetragen hat.

Indirekte Gründe begründen dagegen nicht die realistische Gefahr eines Racheaktes. Insbesondere haben selbst die früheren Kämpfe gegen die Kurden heute nicht mehr das Gewicht, das für einen Racheakt einer der beiden Seiten erforderlich wäre.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.6.2005, mit Ausnahme der persönlichen Verantwortlichkeit für ein Massaker, die hier aber ersichtlich nicht vorliegt.

Ist aber bereits die direkte Beteiligung an früheren Kämpfen zwischen Kurden und Arabern heute nicht mehr unter dem Gesichtspunkt von gegenseitigen individuellen Racheakten von Gewicht, gilt dies erst recht für die bloß indirekte Beteiligung an den Kämpfen durch Übermittlung von Fahrzeugdaten der Militärfahrzeuge Saddam Husseins nach dem Stand von 1995. Die damaligen Übermittlungen des Klägers von Fahrzeugdaten an die Kurden fanden acht Jahre vor dem entscheidenden Irak-Krieg von 2003 statt, durch den Saddam Hussein die Macht verloren hat. Zu diesem entscheidenden Irak-Krieg hat der Kläger, der in Deutschland war, nichts beigetragen. Die militärischen Einzelheiten von Armeefahrzeugen Saddam Husseins nach dem seinerzeitigen Stand von 1995 haben keine Bedeutung für den jetzigen sunnitischen Widerstand, der den aktuellen Staat aus dem Untergrund mit Autobomben und Selbstmordattentaten – und nicht etwa mit Panzern und Armeefahrzeugen - bekämpft. Deshalb ist der Kläger bei realistischer Betrachtung nicht in Gefahr, wegen seiner indirekten Unterstützung der kurdischen Sache im Jahr 1995 persönliche Zielscheibe eines Attentats des sunnitischen Widerstands zu werden.

Nach allem ist der Kläger hinreichend sicher vor einer Individualverfolgung wegen seiner vorgetragenen früheren indirekten Unterstützung der kurdischen Sache.

Auf den Streit der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung, ob der durchaus plausible ursprüngliche Verfolgungsvortrag des Klägers zutrifft, kommt es daher nicht an.

Sonstige Gesichtspunkte für eine Individualverfolgung des Klägers sind weder ersichtlich noch vorgetragen.

Zu prüfen ist sodann die in der mündlichen Verhandlung erörterte mögliche Gruppenverfolgung des Klägers als Mitglied der kurdisch-sunnitischen Volksgruppe durch Terrorkräfte als private Akteure. Bei der ethnisch-religiösen Gruppenverfolgung durch Private handelt es sich um eine gänzlich anders geartete Verfolgung als bisher behandelt ohne jeden Zusammenhang mit der Vorverfolgung durch Saddam Hussein, und deshalb ist im Rahmen der Widerrufsreglung nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – BVerwG 1 C 15.05 -.

Ein Ereignis ist dann beachtlich wahrscheinlich, wenn die für den Eintritt sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen.

BVerwG, Urteil vom 14.12.1993 – 9 C 45.92 -.

Ausgehend von diesem Maßstab droht dem Kläger als Mitglied der kurdischen Volksgruppe landesweit keine Gruppenverfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Als tatsächlicher Grund für eine solche Verfolgung sind die Terroranschläge im Irak zu prüfen.

Das größte Risiko für alle Menschen im Irak ist die instabile, manchmal eskalierende Sicherheitslage durch die Terroranschläge aus dem Untergrund, die an der Tagesordnung sind.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005 und Jahresbericht 2006; zur landesweit anhaltenden Gewalt auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Im Irak gibt es täglich landesweit mehr als hundert Anschläge aus dem Untergrund.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -, S. 15; zu den Anschlagsarten SFH, Position vom 9.6.2004.

Das entspricht einem Untergrundkrieg, wie auch in der mündlichen Verhandlung erörtert wurde.

Insgesamt hat die Sicherheitslage im Irak einen Tiefpunkt erreicht.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Sicherheitslage ist nicht nur in Bagdad prekär, sondern auch in den anderen großen Städten des Zentral- und Südirak sehr angespannt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Nach der zutreffenden Einschätzung von UNHCR sind die Koalitionstruppen und die irakischen Sicherheitskräfte, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, nicht imstande, die Sicherheit der irakischen Bevölkerung vor Attentaten und Sprengstoffanschlägen zu garantieren.

UNHCR, Hinweise von April 2005, UNHCR, Position von September 2005; UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Die darzulegenden Gefahren sollen hier im Rahmen des rechtlichen Ansatzes des Senats nach dem Maßstab der landesweiten Gruppenverfolgung dahingehend betrachtet werden, ob sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung zu Lasten des Klägers, der ein sunnitischer Kurde ist, begründen lässt; danach ist auf eine Fluchtalternative einzugehen.

Die den Untergrundkrieg führende bewaffnete Opposition im Irak setzt sich aus verschiedenen Gruppierungen zusammen mit einem harten Kern von ungefähr 12.000 bis 40.000 Mitgliedern, die teils einen islamistischen Hintergrund, teils einen arabisch-nationalistischen Hintergrund haben.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, wonach sich bei 20.000 Militanten eine klar Trennlinie zwischen baathistischen und islamistischen Rebellen nicht ziehen lässt.

Zwischenzeitlich besteht der bewaffnete Widerstand im Untergrund ganz überwiegend aus sunnitischen Arabern.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands, unter Hinweis darauf, dass etliche prominente und vor allem ausländische Mitglieder der Al-Qaida inzwischen durch den beträchtlichen Druck der amerikanischen Besatzungstruppen entweder festgenommen worden sind oder bereits im Kampf gefallen sind.

Der Hauptzweck des bewaffneten Widerstandes wird in dem Erkenntnismaterial praktisch einhellig darin gesehen, den Wiederaufbau des Landes zu verhindern oder wenigstens nachhaltig zu stören.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien vom 4.2.2006; Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands; sinngemäß auch UNHCR, Hinweise von April 2005, dort in personalisierter Form des Ziels mit Blick auf die Personen des Wiederaufbaus.

Für den bewaffneten irakischen Widerstand stellt die schiitisch dominierte irakische Regierung derzeit den Hauptgegner dar, irakische Truppeneinheiten sind ein bevorzugtes Angriffsziel.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Es gibt derzeit landesweit etwa 240.000 irakische Soldaten und Polizisten.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Im Erkenntnismaterial besteht im Wesentlichen Übereinstimmung, dass zu dem Hauptziel der Anschläge die irakische Regierung und die irakischen Sicherheitskräfte gehören.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, zu den irakischen Sicherheitskräften; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 6.9.2005, zu den irakischen Sicherheitskräften; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, zu den Regierungsmitgliedern; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 9.6.2004, zu den neuen irakischen Sicherheitskräften; UNHCR, Hinweise von April 2005, zu den Mitarbeitern der irakischen Regierung und zu Polizisten; amnesty international, Jahresbericht 2006.

Diese Personen sind als Zielscheibe des Terrors einem erhöhten Risiko ausgesetzt, durch Bombenanschläge in dem Untergrundkampf umzukommen. Nach der Einschätzung von amnesty international sind alle Personen, die bei den multinationalen Streitkräften oder bei der irakischen Polizei angestellt sind, in Gefahr, gezielt bei der Arbeit oder in ihrer Freizeit als Kollaborateur ermordet zu werden.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; amnesty international, Jahresbericht 2006.

Der Kläger gehört eindeutig nicht zu diesem erhöht gefährdeten Personenkreis.

Entsprechend dem dargelegten Ziel des bewaffneten Widerstandes, den Wiederaufbau im Irak zu verhindern, gehören zu den engeren Anschlagszielen über Regierung und Sicherheitskräfte hinaus die öffentlichen Personen des Wiederaufbaus.

Zu den exponierten Personen gehören nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe Personen der Öffentlichkeit wie Intellektuelle, Ärzte, Anwälte, Richter, Menschenrechtsaktivisten, führende Persönlichkeiten irakischer Parteien, religiöse Würdenträger, Medienschaffende und irakische Unternehmer.

Vgl. die insgesamt sehr umfangreiche Auflistung erhöht gefährdeter Personen des Wiederaufbaus in den Berichten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9.6.2004 und vom 15.6.2005.

Damit vergleichbar sind nach der Einschätzung von UNHCR insbesondere Personen gefährdet, die sich um den Wiederaufbau im Irak bemühen, wie über Regierungsmitglieder und Polizisten hinaus Richter, Rechtsanwälte, Intellektuelle, Ärzte und Journalisten.

UNHCR, Hinweise von April 2005 und Positionspapier von Oktober 2004.

Anschlagsziele sind nach der vergleichbaren Darlegung von amnesty international auch Angestellte des öffentlichen Dienstes, Regierungsbeamte, Richter und Journalisten.

amnesty international, Jahresbericht 2006.

Auch nach der Würdigung des Auswärtigen Amtes richten sich die Anschläge zunächst vor allem gegen Personen, die mit dem politischen oder wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes verbunden werden.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, in der Zusammenfassung; im Einzelnen werden insbesondere Anschläge auf Politiker, Journalisten und Professoren sowie Ärzte dargestellt.

Der Senat legt für seine Rechtsprechung die im Wesentlichen übereinstimmende Einschätzung des Auswärtigen Amtes, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von UNHCR zugrunde, dass die Anschläge insbesondere auch öffentlichen Personen des Wiederaufbaus im Irak gelten.

Zur terminologischen Klarstellung sei noch darauf hingewiesen, dass teilweise die Personen, die lediglich gegenwärtig am Wiederaufbau teilnehmen, schon deshalb ohne weiteren Vergangenheitsbezug als Kollaborateure angesehen werden (im Gegensatz zu den bereits dargestellten Seitenwechslern). So sind nach der Einstufung von amnesty international alle Personen, die derzeit bei den multinationalen Streitkräften oder bei der irakischen Polizei angestellt sind, in Gefahr, gezielt als Kollaborateur ermordet zu werden.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; für Angestellte der multinationalen Streitkräfte nochmals amnesty international, Jahresbericht 2006.

In diesem weiten Sinn gebraucht auch der vom Kläger herangezogene Widerrufsbescheid vom 19.10.2004, S. 8 (Widerrufsakte Bl. 25) den Begriff Kollaborateur, wonach die anhaltenden Anschläge im Irak in aller Regel zielorientiert den multinationalen Truppen gelten, den irakischen Polizeistationen sowie der Kollaboration verdächtigten Repräsentanten irakischer Institutionen sowie ausländischen Zivileinrichtungen.

Dieser weit gefasste Begriff der Kollaboration knüpft allein an die gegenwärtige Wiederaufbaubeteiligung an.

Ähnlich Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006, wonach kooperations- und beteiligungswillige arabische Sunniten von den gewalttätigen Kräften als Kollaborateure angesehen werden.

Nach allem ist der Senat mit Blick auf die übereinstimmende Würdigung des Auswärtigen Amts, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von UNHCR der Auffassung, dass engere Anschlagsziele über Regierung und Sicherheitskräfte hinaus die öffentlichen Personen des Wiederaufbaus mit einer daraus folgenden erhöhten Gefährdung sind.

Zu dieser Personengruppe gehört der Kläger nicht. Er ist bezogen auf den gegenwärtigen Wiederaufbau des Irak schon wegen seiner über zehnjährigen Abwesenheit seit 1995 keine öffentliche Person des Wiederaufbaus. Mithin kann realistischerweise ausgeschlossen werden, dass der Kläger nach einer Rückkehr in den Irak als öffentliche Person des Wiederaufbaus und in diesem Sinn als Kollaborateur zu den engeren Anschlagszielen des bewaffneten irakischen Widerstands gehört.

Da der sunnitische Widerstand vor allem die schiitisch dominierte Regierung als Hauptgegner ansieht, gerät die schiitische Volksgruppe insgesamt in das Blickfeld des Widerstands und kommt es im Sinne von weiter gestreuten Zielen auch zu Selbstmordattentaten insbesondere in schiitischen Vierteln Bagdads, die überwiegend der schiitischen Volksgruppe gelten.

Vgl. zu einem solchen Attentat mit 140 getöteten Zivilpersonen amnesty international, Jahresbericht 2006, S. 209; zur internen Diskussion von Anschlägen auf Schiiten vgl. Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstandes.

Auf die Bedrohung der schiitischen Volksgruppe ist noch einzugehen.

Solche Anschläge bedeuten aber zugleich eine Gefahr für alle Zivilpersonen, die sich – auch als Nichtschiiten wie der Kläger – zufällig in einem solchen schiitischen Stadtviertel aufhalten.

Im Falle einer Rückkehr in den Irak ist der Kläger auch als Kurde der landesweiten Gefahr von Terroranschlägen letztlich ebenso ausgesetzt wie die Zivilbevölkerung des Irak, und zwar ohne hinreichenden Schutz der Sicherheitskräfte. Als allgemeine Gefahr für die gesamte Zivilbevölkerung wird die Anschlagswelle auch im Erkenntnismaterial gesehen.

Das Auswärtige Amt würdigt die Anschläge ausdrücklich als enorme allgemeine Bedrohung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Das Deutsche Orient-Institut sieht dies ebenso. Die zahlreichen Anschläge gelten danach insbesondere Institutionen der irakischen Sicherheitskräfte, von ihnen sind aber alle Irakerinnen und Iraker bedroht; die Terroristen nehmen den Tod völlig Unbeteiligter massenhaft in Kauf.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 6.9.2005.

Nach der Feststellung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe werden Zivilisten oft Opfer, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 9.6.2004.

Nach der Würdigung des Auswärtigen Amtes trägt die weitgehend ungeschützte Zivilbevölkerung den Großteil der Opferlast.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Passanten werden regelmäßig Opfer von Gewalt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Nach Darlegung von amnesty international kommen Zivilpersonen ums Leben bei Autobomben oder Anschlägen von Selbstmordattentätern, die an sich der irakischen Polizei, Regierungstruppen, Militärkonvois und Stützpunkten der multinationalen Truppen gelten.

amnesty international, Jahresbericht 2006.

Bei den Sprengstoffanschlägen werden nach Darlegung von UNHCR unbeteiligte zivile Opfer von den Akteuren bewusst in Kauf genommen.

UNHCR, Hinweise von April 2005.

Ein Minimum an Schutz der Zivilbevölkerung vor den Bombenanschlägen besteht nicht.

UNHCR, Position von September 2005.

Der Senat geht sodann auf die landesweite Anschlagsdichte ein.

Entsprechend der Betrachtungsweise, dass die Zivilbevölkerung insgesamt Opfer der Terroranschläge ist, enthält das Erkenntnismaterial summierte Zahlen über die zivilen Opfer für den gesamten Irak.

Die Anschlagsopfer unter den Sicherheitskräften einerseits und unter der Zivilbevölkerung andererseits werden im Erkenntnismaterial verglichen. Besonders hohe Verluste haben die irakischen Sicherheitskräfte mit – allein 2005 – 4300 getöteten Polizisten und Soldaten.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Amnesty international hat sowohl die Opfer unter den amerikanischen Soldaten als auch unter der Zivilbevölkerung landesweit konkret dargelegt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Danach wurden durch die Anschläge 1.572 US-Soldaten getötet und 12.174 verletzt. Bei den Anschlägen kamen 2.300 Zivilisten ums Leben und die Anzahl der zivilen Opfer insgesamt wird zwischen 21.239 und 24.106 eingeschätzt. Das Auswärtige Amt gibt eine – pauschale - höhere Zahl von Opfern unter den Zivilisten zwischen 30.000 und 100.000 wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Bezogen auf die Zivilbevölkerung des Irak ist zunächst mit Blick auf das Gewicht der Verfolgungshandlungen von dem schwersten asylerheblichen Eingriff der Anschläge mit Todesfolge auszugehen und die Anschlagsdichte festzustellen.

Die – jährlich wachsende - Bevölkerung des Irak beträgt rund 27 Millionen Menschen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die mehrjährigen Todesopfer unter der Zivilbevölkerung durch Massenanschläge gibt amnesty international mit über 2.300 Menschen an.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort S. 10.

Die Anschlagsdichte der tödlichen Anschläge beträgt mithin für die gesamte Zivilbevölkerung des Irak im Durchschnitt 1:12.000.

Nach dem schwerstmöglichen Eingriff der Tötung ist auf die Verletzungsgefahr durch Massenanschläge abzustellen. Dafür liegen sowohl konkrete Zahlen als auch pauschale Abschätzungen vor. Nach den konkreten Zahlen von amnesty international wurden landesweit zwischen 21.239 und 24.106 zivile Opfer durch Anschläge geschätzt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, S. 10.

Auszugehen ist von der Maximalzahl von 24.106 Opfern. Bezogen auf die Verletzungsgefahr ist damit die Anschlagsdichte auf der Grundlage der Zahlen von amnesty international 1:1100.

Eine nochmals viermal höhere pauschale Schätzung für die zivilen Opfer gibt das Auswärtige Amt mit 30.000 bis 100.000 Opfern wieder.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, dort S. 15.

Nach den derzeitigen Zahlen wurden jeden Monat 3.000 Iraker verletzt oder getötet.

Süddeutsche Zeitung vom 4.9.2006, S. 1, unter Wiedergabe einer Analyse des amerikanischen Verteidigungsministeriums.

Das entspricht auf das Jahr bezogen rund 36.000 Anschlagsopfern.

Geht man von der noch höheren Schätzung des Auswärtigen Amtes von 100.000 Anschlagsopfern aus, ergibt sich als Höchstabschätzung eine landesweite Anschlagsdichte von 1:270.

Zahlen liegen auch für Bagdad vor, die einen Vergleich von Tötungsrate und Entführungsrate ermöglichen. So beträgt nach den Zahlen von amnesty international speziell die Tötungsrate in Bagdad, hier aber einschließlich der Kriminalität, 90 von 100.000 Einwohnern.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort S. 10; zu einer Gewalteskalation in Bagdad mit 1091 Tötungen im April 2006 vgl. Süddeutsche Zeitung von 11.5.2006, S. 7.

Auf dieser Grundlage besteht die Gefahr, in Bagdad durch Anschläge oder anschlagsunabhängig durch Kriminelle getötet zu werden, rund 1:1.100.

Ähnlich groß ist in Bagdad die Entführungsgefahr. Ausgehend von täglich 10 bis 15 meist kriminellen Entführungsfällen

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/005.OVG -, S. 15

ergeben sich bei täglich 15 Fällen im Jahr rund 5500 Entführungen und damit bezogen auf die 5-Millionen-Stadt eine Entführungsrate von rund 1:900.

Die Entführungsrate ist also der Tötungsrate vergleichbar.

Die dargelegten Zahlen belegen die äußerst problematische und manchmal eskalierende Sicherheitslage im Irak und die Gefahr der Zivilbevölkerung, durch einen Anschlag verletzt oder getötet oder entführt zu werden. Ein vollständiges Ausweichen vor den Anschlägen ist der Zivilbevölkerung des Irak landesweit nicht möglich, auch wenn im kurdisch verwalteten Nordirak die Anschlagsdichte insgesamt geringer ist.

Vgl. zu Letzterem übereinstimmend Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006 sowie Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, wonach die Sicherheitslage im Nordirak mit Ausnahme von wenigen Anschlägen stabil ist, und UNHCR, Position von September 2005, wonach deutlich weniger Gewalttaten verübt werden.

Mithin liegt eine allgemeine Gefahr für die Zivilbevölkerung vor, der sie landesweit nicht vollständig ausweichen kann. Es ist verständlich, dass der Kläger in ein solches Land nicht zurückkehren möchte, in dem er sich nach seinem persönlichen Vorbringen in der mündlichen Verhandlung überdies als Ausländer fühlt.

Für den Widerruf entscheidend ist aber nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts allein das Vorliegen einer Verfolgungsgefahr, nicht einer allgemeinen Gefahr. Deshalb muss der Senat prüfen, ob sich die Gefahr zugunsten des Klägers rechtlich als Gruppenverfolgungsgefahr würdigen lässt.

Als Gruppenverfolgung kommt hier die private Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure, insbesondere den sunnitischen Untergrund, in Betracht.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner neuen Rechtsprechung klargestellt, dass für die private Gruppenverfolgung grundsätzlich die gleichen Anforderungen wie für eine staatliche Gruppenverfolgung gelten.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Diesem Maßstab schließt sich der Senat an.

Der Senat prüft im Folgenden als generelle Verfolgungsmuster im Irak nacheinander eine Gruppenverfolgung der Zivilbevölkerung und dann der großen Volksgruppen.

Die allgemeine Anschlagsgefahr kann zugunsten des Klägers nicht bereits als Gruppenverfolgung der Zivilbevölkerung des Irak insgesamt angesehen werden. Das ergibt sich sowohl aus dem erforderlichen Ausgrenzungsgesichtspunkt der Verfolgung als auch aus dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet die politische Verfolgung grundrechtlich eine Ausgrenzung durch intensive Rechtsverletzungen.

BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 231.

Die Zivilbevölkerung des Irak kann nicht im Ganzen aus dem irakischen Volk ausgegrenzt werden.

Das Europarecht führt mit Eindeutigkeit zu demselben Ergebnis. Nach Art. 10 I d der neuen als Auslegungshilfe heranziehbaren europäischen Qualifikationsrichtlinie muss eine verfolgte Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität haben und von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Dies scheidet bei der Zivilbevölkerung des Irak aus, denn für sie existiert keine sie umgebende Gesellschaft.

Weiterhin fehlt es selbst bei unterstellter Ausgrenzung an dem Merkmal der Verfolgungsdichte. Die Gruppenverfolgung bedeutet eine Regelvermutung der eigenen Verfolgung.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Eine Gruppenverfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voraus, dass jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muss; die eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen muss als eher zufällig anzusehen sein.

Zu diesen Merkmalen BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216-231 und 232.

Bei der Verfolgungsdichte ist sodann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwischen großen und kleinen Gruppen zu unterscheiden, da eine bestimmte absolute Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe als bedrohlich erweist, eine große Gruppe nicht im Ganzen bedroht.

BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158/94 -, zitiert nach Juris.

Als große Gruppe hat das Bundesverwaltungsgericht insbesondere eine Gruppe von knapp 2 Millionen Kosovo-Albanern sowie eine Gruppe von 4 Millionen Kurden in bestimmten Gebieten der Türkei angesehen, als kleine Gruppe insbesondere eine Gruppe syrisch-orthodoxer Christen in der Türkei von etwa 1.300 Personen.

Zu den großen Gruppen BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158/94 -; Urteil vom 30.4.1996 - 9 C 170/95 -; zu der kleinen Gruppe Beschluss vom 22.5.1996 - 9 B 136/96 -.

Bei der Zivilbevölkerung des Irak von 27 Millionen Menschen läge im Sinne der Rechtsprechung zur Verfolgungsdichte eine große Gruppe vor. Einen Anhaltspunkt für die erforderliche Verfolgungsdichte ergibt sich aus der dargelegten Verfassungsrechtsprechung, wonach die eigene bisherige Verschonung eher zufällig sein muss. Dies erfordert zwar nicht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit von Eingriffen, da auch eine qualitative Betrachtung erforderlich ist. Bezogen auf eine große Gruppe hat das Bundesverwaltungsgericht eine Verfolgungsdichte von etwa einem Drittel als im Ansatz ausreichend angesehen, die aber auf entsprechender Tatsachengrundlage belegt werden muss.

BVerwG, Urteil vom 30.4.1996 - 9 C 170/95 -, wonach der Ansatz des Berufungsgerichts von 1,5 Millionen Eingriffen gegenüber 4 Millionen Kurden mit Blick auf die erforderliche Verfolgungsdichte nicht beanstandet wird, wohl aber mit Blick auf die Belegung durch Tatsachenfeststellungen.

Die genaue Grenzziehung kann offen bleiben. Im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird die notwendige Verfolgungsdichte bei einer großen Gruppe allenfalls noch bei einer Verfolgungsdichte von 1:10 erreicht; dann könnte noch von einer Regelvermutung der eigenen Verfolgung gesprochen werden. Positiv gewendet überleben bei dieser Verfolgungsdichte 90 % der Mitglieder der großen Volksgruppe die Anschläge unverletzt. In diesem Fall kann es im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr als Zufall angesehen werden, dass ein einzelnes Mitglied der Volksgruppe unverletzt überlebt.

Die dargelegte Anschlagsdichte für die Zivilbevölkerung nach den konkreten Zahlen von amnesty international für Verletzungsopfer von 1:1100 und selbst nach den höheren pauschalen Zahlen des Auswärtigen Amtes von 1:270 wahrt einen sicheren Abstand von der kritischen Verfolgungsdichte von 1:10. Bei der festgestellten landesweiten Anschlagsdichte im Irak kann es ungeachtet der Furchtbarkeit der Einzelschicksale nicht mehr als bloßer Zufall angesehen werden, dass ein Gruppenmitglied bisher selbst von einem Anschlag verschont worden ist und im Irak unverletzt überlebt. Vielmehr ist es ein Zufall, selbst von einem Anschlag getroffen zu werden. Die Tötungs- und Entführungsgefahr ist wie dargelegt geringer als die Verletzungsgefahr. Bei einer qualitativen Wertung kann ausgeschlossen werden, dass entsprechend den Verfolgungsvoraussetzungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die gesamte Zivilbevölkerung des Irak gezwungen wäre, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage ihr Land zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen.

Zu dieser Voraussetzung BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 230.

Ungeachtet der landesweit ungewöhnlich hohen Anschlagszahlen im Irak und der problematischen Sicherheitslage besteht nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jedes Mitglied der Zivilbevölkerung allenfalls noch zufällig ohne Entführung und unverletzt überleben kann, in eine ausweglose Lage gebracht wird und das Land verlassen muss.

Bei der Frage der Gruppenverfolgung ist nach der Zivilbevölkerung als größtmöglicher Gruppe auch die Aufgliederung des Irak in große Bevölkerungsgruppen als generelles Verfolgungsmuster in den Blick zu nehmen.

Die größte Bevölkerungsgruppe bilden die arabischen Schiitinnen und Schiiten, die rund 60 % bis 65 % der Bevölkerung ausmachen und vor allem im Südosten und Süden des Landes wohnen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe sind die arabischen Sunnitinnen und Sunniten mit etwa 17 bis 22 % der Bevölkerung und damit rund 5 Millionen, die ihren Schwerpunkt im Zentralirak und Westirak haben.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die vor allem im Norden des Landes lebenden überwiegend ebenfalls sunnitischen Kurdinnen und Kurden machen mit 15 bis 20 % der Bevölkerung rund 5 Millionen aus.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

In Bagdad leben unterschiedliche Bevölkerungsgruppen teilweise in eigenen Vierteln.

Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005; amnesty international, Jahresbericht 2006 für schiitische Viertel.

Engeres Ziel der Anschläge des irakischen Widerstandes sind die irakischen Sicherheitskräfte, d.h. die irakischen Truppeneinheiten und die neue irakische Polizei. Der Truppen- und Polizeieinsatz der irakischen Sicherheitskräfte erfolgt landesweit. Da diese Sicherheitskräfte Zielscheibe des Terrors sind, erfolgen die Anschläge nach dem Erkenntnismaterial landesweit und sind nicht etwa auf den Zentralirak begrenzt.

Zu den landesweiten Anschlägen eingehend Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005, ebenfalls zu den landesweiten Anschlägen amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, zur Gefahr für jeden Iraker Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Auch im Nordirak erfolgen Anschläge etwa auf Polizeirekruten.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Ungeachtet der Binnenströme der Bevölkerung jeweils zu ihren eigenen Hochburgen

vgl. zu Binnenvertreibungen aus den Hochburgen anderer Bevölkerungsgruppen außerhalb Bagdads insbesondere Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; zu Binnenvertreibungen von 35.000 Menschen aufgrund des Anschlags auf die schiitische Moschee von Samarra Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

treffen bei einer Gesamtbetrachtung die landesweiten Bombenanschläge im Irak neben dem eigentlichen Ziel der irakischen Sicherheitskräfte auch immer die Zivilbevölkerung jedes Geschlechts und Alters in ihrer jeweiligen Volksgruppenprägung. Die Terroristen nehmen den Tod völlig unpolitisch-unbeteiligter Irakerinnen und Iraker massenhaft in Kauf, und Zivilpersonen werden oft Opfer, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind.

Amnesty international, Jahresbericht 2006; Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005 und Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004, UNHCR, Hinweise von April 2005.

Die Zivilbevölkerung trägt den Großteil der Opferlast der Anschläge.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Dieser Zusammenhang von Operationen gegen die irakischen Polizei- und Militärkräfte und gegen die Zivilbevölkerung ist auch dem bewaffneten irakischen Widerstand bewusst und führt dort zu Differenzen.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands.

Solange der Tod der unpolitisch-unbeteiligten Zivilbevölkerung massenhaft in Kauf genommen wird, ist jede Irakerin und jeder Iraker, ungeachtet der Religionszugehörigkeit, von diesen Anschlägen bedroht.

So überzeugend Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Nach der demografischen Zusammensetzung des Irak sind rund 60 % der Bevölkerung Frauen – also etwa 17 Millionen – und 50 % der Bevölkerung – also etwa 13,5 Millionen – sind unter 18 Jahren alt.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die gewaltsamen Anschläge können gleichsam blind jeden treffen.

OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -.

Auch Kinder sind Opfer der Bombenanschläge.

Amnesty international, Jahresbericht 2006.

Bei dieser Sachlage fehlt es aber bei den Anschlägen an einer Ausgrenzung jedenfalls der großen Volksgruppen mit Ausnahme allenfalls der schiitischen Volksgruppe. Nach der Verfassungsrechtsprechung knüpft die Gruppenverfolgung an kollektive Merkmale einer Gruppe an.

BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216, 231.

Die dargelegten Terroranschläge, die eigentlich auf die Sicherheitskräfte und auf öffentliche Personen des Wiederaufbaus zielen, treffen wegen des Terrormittels der Bombenexplosionen je nach dem Wohnviertel immer auch die jeweilige unbeteiligte Zivilbevölkerung, in einem schiitischen Wohnviertel mithin vor allem Schiiten. Der Kampf des sunnitischen Widerstandes gegen die schiitisch dominierte Regierung kann allerdings auch die große schiitische Volksgruppe in den Blick nehmen und im Weiteren etwa auch schiitische Stadtviertel Bagdads einschließen.

Zur Vorgehensweise amnesty international, Jahresbericht 2006; zu den Widerstandszielen einschließlich der kontrovers diskutierten Anschläge auf Schiiten Le Monde diplomatique vom 12.5.2006.

Bei solchen Selbstmordanschlägen und Autobomben wird aber zugleich die unbeteiligte Zivilbevölkerung auch von Sunniten und Kurden mit betroffen.

Allenfalls bei Anschlägen in Form gezielter Erschießungen nach Kontrolle der Volkszugehörigkeit an Hand der Ausweise kann es vorkommen, dass bei demselben Attentat nach dem Gruppenmerkmal Schiiten getötet und Sunniten verschont werden.

Vgl. den in der NZZ vom 6.6.2006, S. 1, geschilderten Busüberfall mit der Erschießung von 24 Schiiten und der Verschonung von Sunniten; der Jahresbericht 2006 von amnesty international enthält nur einen allgemeinen, nicht konkretisierten Hinweis auf Anschläge wegen Zugehörigkeit zu religiösen oder ethnischen Gruppen.

Über derart gezielte Anschläge speziell nach dem Gruppenmerkmal der kurdischen Volkszugehörigkeit wird nicht berichtet. Vielmehr kann insofern nur auf arabisch-kurdische Spannungen in den – nicht unter kurdischer Verwaltung stehenden – multiethnischen Städten Mosul und Kirkuk hingewiesen werden, die sich insbesondere in Autobombenanschlägen zu Lasten der Zivilbevölkerung entladen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, wonach es in Kirkuk 2005 zu über 70 Autobombenanschlägen gekommen ist.

Davon abgesehen steht die kurdische Volksgruppe landesweit nicht derart im Blickfeld des sunnitischen Widerstands wie die schiitische Volksgruppe.

Die unmenschliche Anschlagswirklichkeit im Untergrundkampf wird durch die landesweiten Bombenanschläge insbesondere in Form von Selbstmordattentaten und Autobomben geprägt, die die Zivilbevölkerung insgesamt blind treffen. So wird die Wirkung der Anschläge ersichtlich auch im Erkenntnismaterial gesehen. Das Auswärtige Amt gliedert seine pauschale Schätzung der Opfer nicht nach Volksgruppen auf.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, und methodisch ebenso Lagebericht vom 24.11.2005.

Das Auswärtige Amt hält Passanten für regelmäßige Opfer der Gewalt und sieht den Großteil der Opferlast bei der Zivilbevölkerung.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Organisation amnesty international gibt bei den Anschlägen die landesweite Zahl der zivilen Opfer wieder, gibt sie konkret mit 21.239 bis 24.106 an und gliedert sie ebenfalls nicht nach Bevölkerungsgruppen auf.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Das Auswärtige Amt berichtet über den Anschlag auf die schiitische Moschee in Samarra am 22.2.2006 und über Gegenanschläge auf sunnitische Moscheen und gibt die Opfer dieser konfessionell motivierten gegenseitigen Gewalt mit über 1000 Menschen an, gliedert sie aber nicht nach Schiiten und Sunniten auf.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Bezogen auf Volksgruppen als Anschlagsopfer referiert amnesty international einen konkreten Bombenanschlag auf vorwiegend Schiiten mit 114 getöteten Zivilpersonen, bezieht aber die landesweit aufsummierten Opferzahlen allein auf Zivilpersonen ohne Aufspaltung auf die Volksgruppen.

Vgl. zum Ersteren amnesty international, Jahresbericht 2006; zum Letzteren allgemeine Zahlen im Gutachten vom 16.8.2005.

Das Deutsche Orient-Institut hält wie dargelegt jede Irakerin und jeden Iraker ungeachtet seiner Religionszugehörigkeit durch die Anschläge der Terroristen für bedroht. Die Anschläge sind also weder auf den Zentralirak noch auf bestimmte Gruppen begrenzt.

Deutsches Orient-Institut vom 6.9.2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe sieht den Zusammenhang, dass irakische Zivilisten oft Opfer sind, wenn das eigentliche Ziel Soldaten sind; Zivilpersonen können bei Anschlägen nicht geschützt werden.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Übereinstimmend damit ist auch die Sichtweise von UNHCR, wonach im Irak tägliche Attentate und Sprengstoffanschläge vor allem gegen Polizisten und Polizeirekruten sowie Mitarbeiter der Regierung verübt werden und unbeteiligte zivile Opfer dabei von den Akteuren bewusst in Kauf genommen werden.

UNHCR, Hinweise von April 2005, zu Opfern unter Christen UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Nach den dargelegten Kriterien der Gruppenverfolgung in der Verfassungsrechtsprechung und den Ausgrenzungskriterien des Europarechts kann schwerlich angenommen werden, alle großen Volksgruppen – Schiiten, Sunniten und Kurden – und damit insgesamt fast alle der 27 Millionen Iraker würden von dem Untergrundkrieg aus der umgebenden verbleibenden Gesellschaft ausgegrenzt. Insbesondere spricht nichts für eine Ausgrenzung der Kurden, und zwar weder landesweit noch für den Zentralirak. Am ehesten könnte eine Ausgrenzung der größten schiitischen Volksgruppe von rund 17 Millionen Irakern durch den sunnitisch geprägten Widerstand angenommen werden. Das rechtlich erforderliche Ausgrenzungsmerkmal spricht aber letztlich gegen eine Ausgrenzung der großen Volksgruppen.

Andererseits kann nach der zu beachtenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine tatsächlich stattfindende Gruppenverfolgung nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, auch andere Bevölkerungsgruppen oder Minderheiten würden in ähnlicher Weise drangsaliert.

BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 -.

Deshalb unterstellt der Senat landesweit eine Ausgrenzung der großen Bevölkerungsgruppen und geht auf den Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte ein. Die Anschlagsopfer sind also nunmehr auf diese Bevölkerungsgruppen zu beziehen.

Die mehrjährigen Todesopfer unter der Bevölkerung des Iraks durch Massenanschläge betragen wie dargelegt nach den zugrunde zu legenden konkreten Zahlen von amnesty international über 2.300 Menschen, die Verletzten maximal 24.106 Menschen.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Sie sind der Wiedergabe pauschaler Schätzungen durch das Auswärtige Amt vorzuziehen, die im Übrigen nicht zu einem qualitativ anderen Ergebnis führen würden und keine ausweglose Lage der großen Volksgruppen begründen könnten. Zugrunde zu legen sind nunmehr die konkreten Zahlen von amnesty international. Danach geht der Senat von einer unterstellten Maximalabschätzung aus, bei der die aufsummierten konkreten Anschlagsopfer im Irak nur jeweils einer Volksgruppe als Opfer zugerechnet werden. In Relation gesetzt werden die gesamten Anschlagszahlen jetzt nicht zu der Gesamtbevölkerung des Irak von 27 Millionen, sondern nacheinander zu den größeren Bevölkerungsgruppen der arabischen Schiiten mit rund 17 Millionen, der arabischen Sunniten mit rund 5 Millionen und der Kurden mit rund 5 Millionen.

Zunächst ist auf die Schiiten einzugehen.

Da das Erkenntnismaterial die Opfer der schiitischen Volksgruppe nicht konkret summiert, geht der Senat bei diesem Schritt der unterstellten Maximalbetrachtung davon aus, dass alle Anschläge im Irak den Schiiten gelten. Bei der schiitischen Volksgruppe als unterstelltem alleinigem Anschlagsziel ergäbe sich dann eine Anschlagsdichte mit tödlichen Opfern von durchschnittlich 1:7400. Für die Entführungsgefahr ist wie dargelegt von einer vergleichbaren Größenordnung wie für Tötungen wie dargelegt von 1:7400 auszugehen. Sodann ergäbe sich mit Blick auf die Zahl der verletzten zivilen Opfer nach amnesty international von 24.106 Menschen eine höhere Anschlagsdichte mit Verletzten von 1:700 für die Schiiten.

Unterstellt man als nächsten Schritt, dass alle Anschläge im Irak den rund 5 Millionen Sunniten gelten, ergibt sich eine Anschlagsdichte bei den Todesopfern von rund 1:2000, ähnlich hoch für Entführungen und bei den Verletzungsopfern von rund 1:200. Die gleichen Zahlen ergeben sich landesweit für die hier betroffene Volksgruppe der Kurden.

Eine derart große Anschlagsdichte bezogen auf eine einzige große Volksgruppe – insbesondere die Kurden – wie in der Maximalabschätzung des Senats wird soweit ersichtlich nirgends im Erkenntnismaterial angenommen. Im Erkenntnismaterial wird auch nicht – wie vom Kläger vorgeschlagen – eine allein auf den Zentralirak bezogene Gruppenverfolgung von Kurden angenommen. Entscheidend ist, dass selbst bei dieser unterstellten Maximalabschätzung die landesweite Anschlagsdichte im Sinne einer Anschlagsverletzung von Kurden nach den Zahlen von amnesty international äußerstenfalls 1:200 beträgt. Tötungs- und Entführungsgefahr sind geringer. Positiv gewendet bleiben bei dieser Anschlagsdichte 99,5 % aller Menschen der kurdischen Volksgruppe unverletzt. Selbst nach den pauschalen Zahlen des Auswärtigen Amtes würde die äußerste Anschlagsdichte 1:50 betragen; positiv gewendet würden immerhin 98 % der kurdischen Volksgruppe die Anschläge unverletzt überleben. Eine Regelvermutung der eigenen Verfolgung kann nicht aufgestellt werden. Die Angehören der kurdischen Volksgruppe überleben landesweit betrachtet in keinem Fall nur durch Zufall unverletzt und werden nicht in eine ausweglose Lage gebracht, in der sie das Land verlassen müssen.

Dasselbe gilt für die sunnitische und erst recht die schiitische Volksgruppe.

Unabhängig von der dargelegten Maximalabschätzung ist für die hier maßgebende Volksgruppe der Kurden konkret festzustellen, dass die gewaltsamen Auseinandersetzungen vor allem die Volksgruppen der arabischen Sunniten und der arabischen Schiiten untereinander betreffen; an diesen Auseinandersetzungen sind die sunnitischen Kurden jedenfalls nicht unmittelbar beteiligt.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -; zur Auseinandersetzung (nur) zwischen Sunniten und Schiiten Le Monde diplomatique vom 12.5.2006; vgl. auch den Jahresbericht 2006 von amnesty international, der für den Nordirak nur einzelne Menschenrechtsverletzungen auflistet, aber keine Gruppenverfolgung einer Volksgruppe.

Auch das Auswärtige Amt legt das Schwergewicht auf die Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen und sunnitischen Konfessionen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Lediglich die Mäßigungsaufrufe der schiitischen und sunnitischen religiösen Führer haben bisher den Ausbruch eines offenen Bürgerkriegs zwischen diesen Konfessionen verhindern können.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Die Volksgruppe der Kurdinnen und Kurden ist mithin nicht Zielscheibe, sondern landesweit im Wesentlichen Zufallsopfer der Anschläge im Irak. Ausgehend davon ist die Anschlagsdichte für Kurden realistischerweise wesentlich geringer anzusetzen, als es der Maximalabschätzung des Senats mit 1:200 entspricht. Eine landesweite oder auf den Zentralirak bezogene Gruppenverfolgung der Kurden als großer Bevölkerungsgruppe von 5 Millionen Menschen wird im Erkenntnismaterial soweit ersichtlich nicht angenommen.

Nach dem dargelegten Ergebnis der Prüfung des Senats besteht für den Kläger als Gruppenmitglied der Kurden unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte landesweit keine Verfolgungsgefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Unabhängig von dieser landesweiten Betrachtung bejaht der Senat als selbstständige Entscheidungsgrundlage auch die Voraussetzungen einer Fluchtalternative des Klägers in den kurdisch verwalteten Nordirak, in dem seine Geburtsregion Sulaymania liegt.

Die Bejahung einer Fluchtalternative setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass die Zurückkehrenden am erreichbaren Ort der Fluchtalternative nach dem herabgestuften Prognosemaßstab hinreichend sicher vor politischer Verfolgung leben können und dass ihnen dort nach dem allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch keine unzumutbaren Nachteile drohen, die an ihrem Herkunftsort so nicht bestünden.

BVerwG, zusammenfassend Beschluss vom 5.10.1999 - BVerwG 9 C 15.99 -.

Weiterhin muss dem Rückkehrer dort das wirtschaftliche Existenzminimum in dem Sinn zustehen, dass er nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann.

BVerwG, Beschluss vom 17.5.2006 – 1 B 101/05 -.

Diese Voraussetzungen sind hier insgesamt zu bejahen.

Die Sicherheitslage in dem kurdisch kontrollierten Nordirak ist nach der praktisch einheitlichen Einschätzung im Erkenntnismaterial bezogen auf Anschläge besser als im Irak insgesamt, insbesondere in Bagdad. Dies gilt zunächst nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und vom 24.11.2005.

Anschläge auf besonders gefährdete Personengruppen wie etwa Polizeirekruten finden statt, insgesamt ist aber die Wahrscheinlichkeit, durch einen gegen Dritte gerichteten Anschlag getötet zu werden, im Nordirak geringer.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Für die kurdisch verwalteten Städte Arbil und Sulaimaniya referiert das Auswärtige Amt für das Jahr 2005 jeweils ein Attentat mit der Tötung von 50 beziehungsweise neun Menschen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 17.

In dem hier maßgebenden kurdisch verwalteten Nordirak wird die Sicherheitslage auch im kritischen Erkenntnismaterial als insgesamt stabil betrachtet.

Nach Einschätzung von UNHCR ist die allgemeine politische Situation im kurdischen Nordirak durch ein gewisses Maß an Stabilität gekennzeichnet; es werden dort deutlich weniger Gewalttaten verübt.

UNHCR, Position von September 2005; zu den stabileren Verhältnissen auch UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Nach der Beurteilung von amnesty international ist die Sicherheitslage in den kurdischen Gebieten im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ stabil.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Nach Darlegung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist die Sicherheitslage im kurdisch kontrollierten Nordirak mit Ausnahme von wenigen Anschlägen in Arbil und Dohuk stabil, wenn auch nicht voraussehbar, und ein engmaschiges Sicherheitsnetz von etwa 80.000 kurdischen Milizionären gewährleistet dort die Sicherheit.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Diese Milizen sollen nicht aufgelöst, sondern sollen staatliche Sicherheitskräfte werden.

OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann der Schutz bereits von nichtstaatlichen Organisationen ausgehen.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 – 1 C 21/04 -, S. 6 des Juris-Ausdrucks.

Nach allem ist die Verfolgung der kurdischen Volksgruppe im kurdisch verwalteten und durch kurdische Milizen gesicherten Nordteil des Landes unwahrscheinlich und zwar nach dem Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit.

Ebenso OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG -.

Die hinreichende Verfolgungssicherheit des Klägers am Ort der Fluchtalternative im Nordirak ist mithin uneingeschränkt zu bejahen.

Der kurdisch verwaltete Nordirak ist auch abgesehen von dem möglichen Landweg von Bagdad aus unmittelbar - ohne Aufenthalt in Bagdad – auf dem Luftweg über Arbil (auch: Erbil) seit September 2005 erreichbar.

Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, zu einer Flugverbindung von Frankfurt nach Arbil/Nordirak, sowie zur Einreise durch die Türkei.

Damit lassen sich auch Bedenken von UNHCR gegen einen innerirakischen Wohnsitzwechsel auf dem Landweg wegen der Sicherheitslage ausräumen.

Zu diesen Bedenken UNHCR, Position von September 2005.

Weiterhin muss auch das Existenzminimum am Ort der Fluchtalternative einhaltbar sein.

Diesen Gesichtspunkt stellt der Kläger in seinem erstinstanzlichen Vortrag in Frage. Er trägt vor, es gelte der Grundsatz, dass Kurden im Nordirak nur dann über ein ausreichendes Existenzminimum verfügen könnten, wenn sie an die dortige Clan-Gesellschaft familiär angebunden seien. An einer solchen familiären oder sonstigen Bindung zum Nordirak fehle es hier, und ihm nütze es deshalb wenig, dass er zu früheren Zeiten militärische Daten des Regimes von Saddam Hussein an die Kurden verraten habe.

Das überzeugt so nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits nach den neuen politischen Verhältnissen die Fluchtalternative eines Kurden aus dem Zentralirak in den Nordirak bejaht einschließlich der Frage der Existenzsicherung, ohne dabei auf Familienanbindung abzustellen.

BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -, dort mit Blick auf die Situation in Flüchtlingslagern und die Möglichkeit, für arbeitsfähige Männer einen Job zu bekommen.

Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich, dass für Rückkehrer sowohl die Aufnahme und Versorgung durch die Familie als auch Parteiverbindungen von erheblichem Vorteil für die die Existenzsicherung sind.

Nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes können Rückkehrer im Irak auf Aufnahme und Versorgung durch Familie oder Stammesstrukturen und Sippe zählen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

UNHCR hält eine Einbindung in familiäre oder soziale Strukturen für erforderlich, allerdings nach dem – strengeren - Maßstab einer vollständigen Eingliederung, der das Maß des Existenzminimums übersteigt.

UNHCR, Position von September 2005.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe stellt auf mehrere Gesichtspunkte ab. Personen im Nordirak bedürfen danach zur Existenzsicherung eines sozialen Netzes.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Personen ohne Parteiverbindungen haben Probleme bei der Eröffnung von Geschäften mit der kurdischen Verwaltung.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Nach der Einschätzung von amnesty international sind die wirtschaftlichen Existenzbedingungen im Nordirak nicht garantiert, vielmehr wird der Zugang zu großen Teilen des Arbeitsmarktes durch persönliche oder familiäre Beziehungen erleichtert beziehungsweise erst ermöglicht.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Daran gemessen mag der Kläger nach seinem Vortrag zwar keine gegenwärtigen familiären Bindungen zum Nordirak haben, immerhin hat er aber bei einer Gesamtbetrachtung eine Chance auf eine Arbeitsmöglichkeit, jedenfalls aber eine Existenzmöglichkeit. Der Kläger war ursprünglich in der Region Sulaymania im Nordirak beheimatet. Er kann seinen Geburtsort im Nordirak und damit ein gewisses Maß an Zugehörigkeit zum Nordirak durch seinen Ausweis jederzeit beweisen. Zwar muss seine vorgetragene Unterstützungstätigkeit für die kurdische Partei PUK, der auch der Staatspräsident Talabani angehört, gänzlich außer Betracht bleiben, da sie von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung bestritten worden ist und der plausible Verfolgungsvortrag des Klägers jedenfalls nicht erwiesen ist. Eine Unterstellung zu Lasten des Klägers scheidet aus.

Zugunsten des Klägers spricht aber weiter, dass der unstreitig erlernte Beruf eines Kraftfahrzeug-Mechanikers wenn auch nach Anfangsschwierigkeiten eine nützliche Tätigkeit ist und damit bei realistischer Betrachtung nach Anfangsschwierigkeiten eine Existenz ermöglicht.

Vor allem muss mit Blick auf die Existenzsicherheit berücksichtigt werden, dass 96 % aller irakischen Haushalte Lebensmittelhilfe beziehen.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, dort ohne eine Einschränkung für den Nordirak; nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006 stammt ein wesentlicher Teil der Lebensmittelrationen, nämlich für 60 % der Bevölkerung, aus einem Programm der Vereinten Nationen.

Nach der Einschätzung des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien ist im Nordirak trotz einer prekären wirtschaftlichen Lage insgesamt mit einem Rutschen unterhalb des Existenzminimums derzeit eher selten zu rechnen.

Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006.

Da der Kläger zumindest positive Gesichtspunkte für eine Berufstätigkeit aufzuweisen hat, spricht kein vernünftiger Grund dafür, dass er entgegen der allgemeinen Lage im Nordirak unter das Existenzminimum abrutschen wird. Mithin ist davon auszugehen, dass der Kläger nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige im Nordirak erlangen kann.

Weiterhin setzt die innerstaatliche Fluchtalternative nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass dem Kläger an dem Ort der Fluchtalternative keine anderen unzumutbaren Nachteile mit asylerheblicher Intensität drohen, die an seinem Herkunftsort im Sinne des Ausreiseortes so nicht bestünden. Im Nordirak dürfen mithin keine unzumutbaren Nachteile für den Kläger bestehen, die so in Bagdad nicht bestehen würden. Auch dies ist zu bejahen.

Nach Einschätzung von UNHCR heben sich die Lebensbedingungen im Nordirak positiv gegenüber denen im übrigen Staatsgebiet ab.

UNHCR, Position von Oktober 2004.

Das Auswärtige Amt kommt zu derselben Beurteilung wie UNHCR.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Auch die Schweizerischen Flüchtlingshilfe zieht eine positive Gesamtbilanz für den Nordirak: Die Sicherheitslage und sozioökonomische Situation im Nordirak stellen sich danach besser dar als in den übrigen Landesteilen.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Position vom 9.6.2004.

Das Europäische Zentrum für Kurdische Studien würdigt einen Wechsel von dem Zentralirak in den Nordirak insgesamt positiv.

Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006, dort sogar für die hier nicht zur Entscheidung stehende sehr kleine Gruppe der Mandäer.

Nach allem ist der Kläger bei einer Fluchtalternative in den Nordirak keinen unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt, denen er nicht bereits in seinem Ausreiseort Bagdad ausgesetzt wäre.

Im Ergebnis sind damit alle Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative in den kurdisch verwalteten Nordirak nach den Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts zu bejahen.

Im Rahmen der hier maßgebenden Prüfung der Widerrufsentscheidung ist der Kläger vor erneuter Verfolgung landesweit aus denselben Verfolgungsgründen hinreichend sicher und andersartige Verfolgungsmaßnahmen drohen ihm landesweit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit; unabhängig davon besitzt er mit hinreichender Verfolgungssicherheit die inländische Fluchtalternative in den Nordirak, die für ihn vorzugswürdig ist. Beide Gesichtspunkte führen unabhängig voneinander zur Verneinung der asylerheblichen Verfolgungsgefahr.

Dagegen kommt es, wie noch einmal hervorzuheben ist, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, hier nicht auf einen effektiven Schutz vor allgemeinen Gefahren wie Krieg, Naturkatastrophen oder schlechte Wirtschaftslage oder eine stabile Schutzmacht an.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; Beschluss vom 26.1.2006 – 1 B 135/05 -.

Der Untergrundkrieg des sunnitischen Widerstands steht damit dem Widerruf rechtlich nicht entgegen.

Damit ist der materielle Teil des Widerrufstatbestandes des § 73 I 1 AsylVfG erfüllt.

Indessen muss in diesem Fall die materielle Ausnahmevorschrift des § 73 3 AsylVfG geprüft werden, die nach der Normstruktur zu einem Absehen von dem Widerruf führt. Vorausgesetzt wird dafür, dass sich der Ausländer

auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Inhaltlich entspricht diese deutsche Regelung der entsprechenden Ausnahmevorschrift für den Widerruf in Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 GFK, wonach der Widerruf auf einen Flüchtling keine Anwendung findet,

der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Dagegen enthält die als Auslegungsmaßstab zu beachtende Wegfallklausel in Art. 11 der Europäischen Qualifikationsrichtlinie keine Ausnahmevorschrift von einem Widerruf. Diese für den Flüchtling ungünstige europäische Regelung hat aber keinen entscheidenden Einfluss auf die Auslegung der günstigeren deutschen Regelung, da die EU-Richtlinie nach Art. 1 lediglich Mindestnormen zugunsten der Flüchtlinge enthält und die Mitgliedstaaten nach Art. 3 der EU-Richtlinie grundsätzlich günstigere Normen zur Flüchtlingseigenschaft beibehalten können.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die dargelegte Ausnahmevorschrift in seinem Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 - unter ausdrücklicher Beachtung des völkerrechtlichen Zusammenhangs mit der Genfer Flüchtlingskonvention dahingehend ausgelegt, sie enthalte eine einzelfallbezogene Ausnahme von der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft. Sie schütze weder vor allgemeinen Gefahren noch könne sie nach allgemeinen Zumutbarkeitskriterien ausgelegt werden. Vielmehr trage sie nach ihrer historischen Entstehung der psychischen Sondersituation solcher Personen Rechnung, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hätten und denen es deshalb selbst lange Zeit danach - auch ungeachtet veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar sei, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren. Bei der Schaffung von Art. 1 c Nr. 5 Satz 2 GFK hatten danach die beteiligten Staaten das Schicksal jüdischer Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland vor Augen gehabt.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, Juris-Ausdruck, S. 12.

Der Senat stimmt dieser Rechtsprechung zu.

Dieser Auslegung haben sich sowohl der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg als auch das OVG Münster in neueren Entscheidungen angeschlossen.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Auch Renner, den der Kläger für eine weiter gehende Auslegung im Sinne einer aktuellen Existenzsicherung zitiert, handelt zwar eingehend die Auslegungsmöglichkeiten ab, schließt sich aber abschließend der Auffassung an, es werde den besonderen Belastungen schwer Verfolgter Rechnung getragen.

Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 73 AsylVfG, Rdnrn. 10 bis 12 sowie abschließend Rdnr. 13.

Auch Marx stellt auf eine besonders schwere, nachhaltig wirkende Verfolgung ab und sieht einen Unzumutbarkeitsfall etwa darin, dass der Verfolgte vor der Ausreise Jahre lang inhaftiert gewesen und dadurch physisch zerstört ist.

Marx, Asylverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2005, § 73 Rdnrn. 127 und 135.

Ein solch fortwirkend schweres Schicksal, insbesondere eine langjährige Inhaftierung, hat der Kläger bei seiner Erstanhörung vom 13.12.1995 nicht vorgetragen und auch im Verwaltungsgerichtsprozess einschließlich der mündlichen Verhandlung ein derartiges Schicksal nicht behauptet.

Bei seiner Anhörung im Widerrufsverfahren hat der Kläger mit Schreiben vom 29.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 13/14) die Anwendung dieser Vorschrift auf sich bejaht und dazu die Rechtsmeinung zugrunde gelegt, es genüge, wenn dem früher Verfolgten nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland eine Rückkehr in das Heimatland aus aktuellen Gründen der wirtschaftlichen Existenzsicherung nicht mehr zugemutet werden könne. Soweit er für seine Auffassung die Kommentierung von Renner in Anspruch nimmt, trifft dies wie dargelegt nicht zu. Entscheidend ist aber, dass die Auslegung des Klägers der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Sinn der Ausnahmevorschrift eindeutig widerspricht. Nach der Ausnahmevorschrift kommt es nicht auf allgemeine Zumutbarkeitskriterien an wie hier den geltend gemachten langen Aufenthalt in Deutschland und auf Existenzsicherungsprobleme. Die Ausnahmevorschrift greift zu seinen Gunsten nicht ein. Mithin ist ohne Ermessensspielraum nach § 73 I 1 AsylVfG der Widerruf zwingend auszusprechen.

Materiell ist der Widerrufsbescheid nach dem Prüfungsergebnis des Senats rechtmäßig.

Die angefochtene Widerrufsentscheidung des Bundesamts ist auch in verwaltungsverfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.

Ob der Widerruf unverzüglich erfolgt ist, wie § 73 I 1 AsylVfG es verlangt, bedarf keiner Entscheidung, da das Gebot des unverzüglichen Widerrufs ausschließlich öffentliche Interessen schützt, so dass ein Verstoß hiergegen keine subjektiven Rechte des betroffenen Ausländers verletzen kann.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Unabhängig davon war das Abwarten des Bundesamtes von rund anderthalb Jahren nach dem Kriegsende sinnvoll, um den Machtwechsel im Irak als hinreichend gefestigt zu beurteilen, und deshalb auch noch unverzüglich.

Weiterhin ist aus dem mit Wirkung vom 1.1.2005 eingeführten mehrstufigen Prüfungsverfahren nach § 73 II a AsylVfG kein Rechtsfehler herzuleiten. § 73 II a Satz 1 AsylVfG lautet:

Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach Absatz 1 oder eine Rücknahme nach Absatz 2 vorliegen, hat spätestens nach Ablauf von 3 Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen (gemeint ist die Anerkennungsentscheidung).

Bei der neu eingeführten Dreijahresfrist handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts um einen in die Zukunft gerichteten Prüfungsauftrag an das Bundesamt.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -; OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Wegen der Zukunftsgerichtetheit des Prüfungsauftrags hat eine Prüfung vorhandener Anerkennungsfälle spätestens bis zum 1.1.2008 zu erfolgen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Der hier zur Prüfung anstehende Widerrufsbescheid der Flüchtlingsanerkennung von 1996 ist am 19.10.2004 ergangen und damit noch vor dem Inkrafttreten des gesetzgeberischen Prüfungsauftrags am 1.1.2005. An einer rückwirkenden Einführung des Verfahrens durch eine entsprechende Übergangsvorschrift fehlt es hier.

BVerwG, Urteil vom 1.12.2005 - 1 C 21/04 -.

Damit ist die dreijährige Prüfungsfrist im vorliegenden Fall nicht einschlägig.

Keiner Entscheidung bedarf die Frage, ob verwaltungsverfahrensrechtlich die Jahresfrist nach § 49 II 2, § 48 IV VwVfG auch bei Widerrufsverfügungen nach § 73 I 1 VwVfG zu beachten ist.

Offen gelassen in dem Urteil des BVerwG vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Denn die Jahresfrist beginnt frühestens nach Anhörung des Klägers mit einer angemessenen Frist zur Stellungnahme zu laufen, und zwar mit dem behördlichen Anhörungsschreiben.

BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -.

Danach ist die Einjahresfrist, sofern sie anwendbar ist, hier eingehalten. Die Anhörungsverfügung der Behörde datiert vom 2.9.2004 (Widerrufsakte Bl. 7) und der Widerrufsbescheid erging am 19.10.2004 (Widerrufsakte Bl. 18).

Nach dem Prüfungsergebnis des Senats ist mithin der Widerrufsbescheid weder materiellrechtlich noch verfahrensrechtlich zu beanstanden. Er ist insgesamt rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Der als Hauptantrag gestellte Aufhebungsantrag des Klägers hat mithin auch im Rahmen des Berufungsverfahrens keinen Erfolg.

II.

Auch hinsichtlich des Hilfsantrags hat die Berufung keinen Erfolg.

Der Kläger hat nicht den gegen die Beklagte hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses mit Blick auf konkrete Gefahren nach § 60 II bis VII AufenthG.

Der Kläger ist weder der konkreten Gefahr der Folter (§ 60 II AufenthG) noch der Todesstrafe (§ 60 III AufenthG) oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (§ 60 V AufenthG) ausgesetzt.

Der vom Gesetzgeber verwendete Maßstab der konkreten Gefahr (vgl. § 60 II, 60 VII 1 AufenthG) ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu der inhaltsgleichen Vorgängervorschrift des § 53 AuslG bereits geklärt. Danach ist für die Feststellung der Gefahr der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit maßgebend, ohne eine Herabstufung für Vorverfolgte, da die Gefahren hier außerhalb des Verfolgungstatbestandes betrachtet werden.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324-330.

Einzubeziehen in die Gefahr sind nunmehr auch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 I 4 c AufenthG. Die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure auch in konkrete Gefahren nach § 60 II ff. AufenthG ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus der deutschen gesetzlichen Regelung. Indessen folgt sie aus der für die Auslegung zu beachtenden Vorwirkung von Art. 6 der europäischen Qualifikationsrichtlinie, der die Einbeziehung der nichtstaatlichen Akteure gleichmäßig sowohl für die Verfolgung als auch für den ernsthaften Schaden und mit Letzterem die konkrete Gefahr im Sinne des deutschen Rechts fordert.

So überzeugend Renner, § 60 AufenthG Rdnr. 36; offen gelassen im Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -.

Dem Kläger droht hier weder von staatlicher noch von nichtstaatlicher Seite die konkrete Gefahr der Folter. Der Senat hat bereits im Rahmen des Widerrufssachverhalts dargelegt, dass der Kläger hinreichend sicher ist vor individuellen Racheakten mit Blick auf seine indirekte Unterstützung der kurdischen Kämpfe im Jahr 1995; dies gilt erst recht für einen zugespitzten Racheakt in Form der Folter, für den sich eine konkrete Gefahr – mit überdies beachtlicher Wahrscheinlichkeit - nicht herleiten lässt. Das Gleiche gilt für die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.

Für die Gefahr der Verhängung der Todesstrafe durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure fehlt es gänzlich an einem Anhaltspunkt; der Kläger hat die Gefahr der Todesstrafe auch selbst nicht behauptet.

Sodann fehlt es an der zwischen den Beteiligten streitigen allgemeinen Extremgefahr nach § 60 VII AufenthG.

Der Kläger stützt sich in seiner Berufungsbegründung und in der mündlichen Verhandlung auf eine extreme allgemeine Gefährdungslage im Irak. Er beruft sich dabei insbesondere auf die landesweite Gefahr von Terroranschlägen auf die Zivilbevölkerung; gehe man davon aus, dass sich der Irak im Bürgerkrieg befinde oder jedenfalls ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde, müsse man auch vom Bestehen einer extremen allgemeinen Gefährdungslage im Sinne von § 60 VII AufenthG ausgehen.

Mit Blick auf die vorgetragene landesweite Extremgefahr hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses in verfassungskonformer Anwendung des § 60 VII AufenthG.

§ 60 VII 2 AufenthG verweist für Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist, auf einen allgemeinen ausländerbehördlichen Abschiebungsstopp nach § 60 a I 1 AufenthG als Schutz des Ausländers. Dies führt aber hier nicht weiter, da nach der Auskunft des Saarländischen Innenministeriums vom 26.5.2006 (Gerichtsakte Bl. 104) im Saarland derzeit keine behördliche Regelung zur Aussetzung von Abschiebungen in den Irak besteht. Die in anderen Bundesländern bestehenden Abschiebestoppregelungen beruhen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darauf, dass bis vor kurzem die Flugverbindungen unterbrochen waren und noch derzeit kein Rücknahmeabkommen mit dem Irak besteht.

BVerwG, Urteil vom 27.6.2006 – 1 C 14.09 -.

Der verfassungsrechtlich gebotene Schutz von Ausländern vor Extremgefahren ist in der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt.

Eingehend Urteil des BVerwG vom 12.7.2001 - 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 379, 384 bis 386, dort für die inhaltsgleiche Vorgängerregelung des § 53 VI AuslG.

Nach dieser Rechtsprechung kommt es sowohl auf die rechtliche als auch die tatsächliche Schutzbedürftigkeit des Ausländers an.

Was zunächst die Frage der rechtlichen Schutzbedürftigkeit angeht, ist eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 VII AufenthG nur dann geboten, wenn der einzelne Asylbewerber sonst schutzlos bliebe. Ein Schutz vor einer extremen Gefahrenlage kann zum einen durch einen allgemein ausländerbehördlichen Abschiebungsstopp im Sinne einer Duldung bestehen, an dem es aber hier im Saarland fehlt. Es genügt aber nach dieser Rechtsprechung auch ein anderer gleichwertiger Schutztitel vor Abschiebung, wenn dieser tatsächlich besteht. So genügt es, wenn der Ausländer im entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung oder mindestens einer Duldung ist, die vom Asylverfahren unabhängig erteilt worden ist. Ein solcher Aufenthaltstitel muss indessen bestehen, nicht genügend sind unentschiedene Duldungsansprüche. Davon ausgehend lässt der VGH Baden-Württemberg eine Aufenthaltserlaubnis nach neuem Recht zum Schutz des Ausländers genügen.

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -, der aber diesen Schutz in bedenklicher Weise sogar auf eine widerrufene Aufenthaltserlaubnis wegen des Suspensiveffekts erstreckt, was der vom Bundesverwaltungsgericht verworfenen Schwebelage entspricht.

Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Kläger besitzt nach der Ausländerakte seit dem 18.11.2004 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ursprünglich nach § 35 AuslG, nach neuem Recht nach § 26 AufenthG. Darüber hinaus hat die Ausländerbehörde, die Landeshauptstadt A-Stadt, bereits mit Schreiben vom 2.9.2004 in Kenntnis des Widerrufverfahrens erklärt, es sei auch bei einem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung momentan nicht mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu rechnen. Angesichts der langjährigen Integration des Klägers in Deutschland ist dies auch vernünftig. Mithin ist der Kläger derzeit noch im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, wie die Stadt A-Stadt nochmals mit Schreiben vom 13.9.2006 bestätigt hat, und damit nicht schutzlos.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat ein Anspruch auf Feststellung des Abschiebungshindernisses der Extremgefahr nur dann Erfolg, wenn rechtliche und tatsächliche Schutzbedürftigkeit vorliegt.

BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 379 - 385.

Das Gericht ist nicht gehindert im Sinne selbständiger Entscheidungsgrundlagen festzustellen, dass unabhängig voneinander hinreichender rechtlicher Schutz vor Abschiebung vorhanden ist und eine extreme Gefahrenlage nicht besteht.

So ist das OVG Münster vorgegangen in seinem Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

So liegt der Fall hier. Zum einen besitzt der Kläger wie dargelegt einen unwiderrufenen Schutztitel. Zum anderen ist aber auch eine Extremgefahr im Irak zu verneinen.

Ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Bei der erforderlichen Prüfung einer Extremgefahr ist zunächst der Prognosemaßstab klarzustellen. Maßgebend ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der auch bei Vorverfolgung nicht herabgestuft wird.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 - 330.

Inhaltlich hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung den Rechtsbegriff der Extremgefahr mit der Formulierung geprägt, es müsse vermieden werden, dass der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

BVerwG, Urteil vom 16.6.2004 - BVerwG 1 C 27.03 -; BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -; BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 -; BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -; BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -; BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -.

In zeitlicher Hinsicht muss sich die Extremgefahr nicht sofort nach Rückkehr in den Heimatstaat, sondern bald verwirklichen.

BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 -.

Im Gegensatz zu der sicher verständlichen – in der mündlichen Verhandlung erörterten - Rechtsansicht des Klägers hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung die Extremgefahr nicht bereits an die Existenz eines Bürgerkriegs geknüpft, sondern an qualifizierte Voraussetzungen. Folglich würde die vom Kläger erstrebte Bejahung eines Bürgerkriegs nicht schon die Extremgefahr begründen. Auch das vom Senat bejahte Vorliegen eines Untergrundkriegs begründet nicht automatisch eine Extremgefahr.

In den beurteilten Bürgerkriegsfällen hat das Bundesverwaltungsgericht die Extremgefahr konkret dann bejaht, wenn die Bürgerkriegskämpfe bereits am Ankunftsort stattfinden und sich der Ausländer ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes mithin nicht entziehen kann.

BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -; BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -.

So hat das Bundesverwaltungsgericht die konkrete Bürgerkriegssituation in Afghanistan im Jahr 1995 als Extremgefahr für Rückkehrer anerkannt. Dort war eine Abschiebung nur über den Flughafen Kabul möglich, der Bürgerkrieg tobte aber nach den seinerzeitigen Tatsachenfeststellungen hauptsächlich im Bereich dieser Stadt, die größere Teile der Bevölkerung bereits wegen der unerträglichen Lebensverhältnisse verlassen hatten.

BVerwG, Urteil vom 17.1.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 - 330.

Eine Extremgefahr hat das Bundesverwaltungsgericht weiter für die konkrete Bürgerkriegssituation 1997 in Somalia bejaht. Dort kam nur eine Abschiebung über den Flughafen in Mogadischu in Betracht. Nach den zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen wäre der dortige Kläger bei einer Abschiebung über den Flughafen von Mogadischu in die dort besonders heftigen Kämpfe hineingeraten; er wäre sehenden Auges der extremen Gefahr ausgesetzt worden, entweder am Flughafen sofort getötet oder schwer verletzt zu werden oder in Mogadischu an Hunger oder Krankheit zu sterben, ohne überhaupt noch sichere Landesteile erreichen zu können.

BVerwG, Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -.

Weiterhin hat das Bundesverwaltungsgericht ergänzend zu der Bürgerkriegsrechtsprechung in zwei Afghanistan betreffenden Fällen eine Extremgefahr bejaht, da der Ausländer dort dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert worden wäre.

BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 - sowie Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 2.01 -, wobei im letzteren Fall die Gefahr eines sicheren Hungertodes zwar bejaht wurde, die dortige Klägerin aber anderweitigen Abschiebungsschutz besaß.

Bezogen auf Armenien hat das Bundesverwaltungsgericht eine Extremgefahr verneint, wenn eine katastrophale wirtschaftliche und soziale Situation mit Obdachlosigkeit, Unterernährung und unzureichender medizinischer Versorgung vorliegt, den Rückkehrer aber nicht der sichere Tod oder schwerste Beeinträchtigungen alsbald nach seiner Ankunft erwarten.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -.

Auch desolate hygienische Verhältnisse und ein praktisch kaum leistungsfähiges Gesundheitssystem in Angola mit hoher statistischer Kindersterblichkeit reichen als Extremgefahr nicht aus, soweit die betroffenen Rückkehrer nicht nach tragfähiger Feststellung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden.

BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -.

Weiterhin begründen besondere existenzielle Schwierigkeiten in Nigeria für eine allein stehende Mutter keine Extremgefahr, solange die Klägerin nicht gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

BVerwG, Urteil vom 16.6.2004 - 1 C 27.03 -.

Aufgrund der dargelegten Rechtsprechung zu Bürgerkriegs- und Hungerfällen ist die landesweite Situation im Irak mit Blick auf eine allgemeine Extremgefahr im Einzelnen zu würdigen.

Auszugehen ist nach praktisch allgemeiner Ansicht von einer instabilen, manchmal eskalierenden Sicherheitslage mit täglich etwa 100 terroristischen Anschlägen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006 im Sinne eines Tiefpunkts der Sicherheitslage; amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005, dort betreffend die allgemeine Sicherheitslage; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005, dort zur allgemeinen Sicherheitslage; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005; UNHCR, Hinweise von April 2005; sowie UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006; zum bewaffneten Widerstand auch Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstands; zur Gewaltwelle gegen Zivilisten NZZ vom 6.6.2006, Seite 1.

Der Kläger sieht die Situation übereinstimmend mit einer dargelegten Äußerung des Politikers Allawi vom 19.3.2006 im Deutschlandfunk so, dass sich das Land im Bürgerkrieg befinde, zumindest aber ein Krieg von niedriger Intensität stattfinde. Der seinerzeitige Interimsministerpräsident Allawi war am 17.4.2005 selbst einem Attentat nur knapp entgangen.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005.

Die Situation im Irak würdigt der Senat nicht als einen offenen Bürgerkrieg, sondern einen Untergrundkrieg durch tägliche Bombenanschläge. Er kommt damit der Beurteilung des Klägers nahe.

Die nichtstaatlichen Akteure bleiben im Verborgenen; ein Bürgerkrieg mit offenen Frontlinien besteht nicht. Das Erkenntnismaterial ist – auch mit Blick auf kritische Organisationen – zurückhaltend und nimmt einen offenen Bürgerkrieg derzeit nicht an.

Das Auswärtige Amt kommt der Auffassung des Klägers wie der Senat nahe. Es verneint einen offenen Bürgerkrieg, sieht aber eine Annäherung an offene bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen und sunnitischen Konfessionen im Anschluss an den Anschlag vom 22.2.2006 auf das schiitische Heiligtum in Samarra.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 19/20.

UNHCR sieht einen teilweise gewaltsam ausgetragenen Machtkampf im Irak.

UNHCR, Hinweise von April 2005; ähnlich Hintergrundinformation vom 5.7.2006.

Auch amnesty international spricht von einem teilweise gewaltsamen ausgetragenen Machtkampf und in einer neueren Beurteilung zurückhaltend von der anhaltend unsicheren Lage.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005; sowie zur neueren Beurteilung amnesty international, Jahresbericht 2006.

Das Deutsche Orient-Institut sieht die Sicherheitslage im Sinne eines Untergrundkampfes.

Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 31.1.2005.

Dies spricht für die vom Senat vorgenommene Einordnung als Untergrundkrieg.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe würdigt die Sicherheitslage dahingehend, der bewaffnete Widerstand versuche unvermindert, den politischen Wiederaufbau mit Bomben- und Mordkampagnen zu hintertreiben und alle Aktivitäten zur Anstachelung eines offenen Bürgerkrieges hielten an.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Die Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bedeutet, dass die Gefahr eines offenen Bürgerkrieges gesehen, ein tatsächlicher offener Bürgerkrieg aber nicht angenommen wird.

Der bewaffnete Widerstand im Irak ist seit der von ihm verlorenen Schlacht um Falludscha im November 2004 zu dem Ergebnis gekommen, dass er angesichts der Übermacht der US-Truppen nicht mehr bestimmte Gebiete verteidigen kann, vielmehr soll mit einer flexiblen Taktik der Anschläge der Wiederaufbau des Landes nachhaltig gestört werden.

Le Monde diplomatique vom 12.5.2006, Anatomie des irakischen Widerstandes.

In Falludscha kam es im Frühjahr und im Herbst 2004 zu offenen Kämpfen zwischen den US-Streitkräften und den Aufständischen; im November 2004 floh ein Großteil der Zivilbevölkerung der 250.000 Einwohner von Falludscha.

Auswärtiges Amt, Lagebericht 24.11.2005.

Für die dargelegte Situation in Falludscha selbst waren die qualifizierten Voraussetzungen einer bürgerkriegsbezogenen Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfüllt. Die Kämpfe hatten nämlich ein Ausmaß erreicht, dass größere Teile der Bevölkerung die Stadt verlassen mussten.

Vgl. zu diesem Maßstab BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -.

Die dargelegten seinerzeitigen Verhältnisse in Falludscha 2004 entsprechen aber nicht der jetzigen landesweiten Gewaltsituation im Irak, insbesondere nicht bei einer Betrachtung des Luftweges an den Ankunftsorten, der 5-Millionen-Stadt Bagdad in Zentralirak oder der Stadt Arbil (Erbil) im kurdisch verwalteten Nordirak. Insgesamt sind ausgedehnte offene Kampfhandlungen zwischenzeitlich landesweit zurückgegangen.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; zum Kampf des Widerstandes im Verborgenen OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 – 10 A 10795/05.OVG; vgl. noch zu einem Luftangriff auf die sunnitische Hochburg al-Ramadi amnesty international, Jahresbericht 2006.

Ungeachtet der täglichen Bombenanschläge gerade auch in schiitischen Stadtvierteln ist in Bagdad nach Auswertung des Erkenntnismaterials klar erkennbar nicht eine Lage entstanden, in der größere Teile der Bevölkerung die 5-Millionen-Stadt verlassen haben. Es kann also nicht festgestellt werden, dass eine Rückkehr nach Bagdad eine Irakerin oder einen Iraker sehenden Auges dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen überliefern würde. Dies gilt, wie ausdrücklich klarzustellen ist, nach der eindeutigen Gefahrenformel unabhängig davon, ob ein Bürgerkrieg, eine bürgerkriegsähnliche Situation oder wie hier ein Untergrundkrieg von dem Gericht angenommen wird.

Hinzu kommt, dass Bagdad nicht die einzige Einreisemöglichkeit ist und für Kurden sich eine Einreise in den Irak wie dargelegt auf dem Luftweg über Arbil (Erbil) anbietet. Nach der Einschätzung von amnesty international ist die Sicherheitslage in den kurdischen Gebieten im Nordirak im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ stabil.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Nach Darlegung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist die Sicherheitslage im kurdisch kontrollierten Nordirak stabil, wenn auch nicht voraussehbar, und ein engmaschiges Sicherheitsnetz von etwa 80.000 kurdischen Milizionären gewährleistet dort die Sicherheit.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist die Sicherheitslage in dem kurdisch kontrollierten Nordirak besser bezogen auf Anschläge als im Irak insgesamt, insbesondere in Bagdad.

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006.

Zu nennenswerten offenen Kämpfen im Nordirak kommt es nach dem Erkenntnismaterial nicht.

Auch amnesty international berichtet im Jahresbericht 2006 von Menschenrechtsverletzungen im Nordirak, aber nicht durch offene Kämpfe.

Insgesamt besteht landesweit keine Lage im Irak, die den Rückkehrer bereits am Ankunftsort in Bagdad oder im nordirakischen Arbil (Erbil) in heftige Kämpfe verwickeln würde, was im Sinne der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Bürgerkriegssituationen eine allgemeine Extremgefahr bedeuten würde.

Mit Blick auf die allgemeine Extremgefahr sind nochmals die täglich etwa 100 Bombenanschläge landesweit im Irak zu würdigen. Sie stellen eine enorme allgemeine Bedrohung da.

So ausdrücklich Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 18.

Der Kläger beruft sich mit Blick auf die Extremgefahr auf das Urteil des VG Sigmaringen vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -. Das VG Sigmaringen hat sich in diesem Urteil zwar nicht unmittelbar mit der Extremgefahr befasst, aber im Rahmen der Prüfung eines Widerrufsbescheides eine realistische Gefahr von Terroranschlägen festgestellt.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005, Seite 9 des amtl. Umdrucks.

Das VG Sigmaringen geht wie der Senat ebenfalls von einer Größenordnung von mehreren Tausend Menschen aus, die bei Anschlägen ums Leben gekommen sind. Es setzt diese Zahlen aber nicht in Beziehung zu der irakischen Gesamtbevölkerung von rund 27 Millionen Menschen. Ungeachtet der Furchtbarkeit der Anschläge im Einzelfall kommt es aber im Rahmen der Extremgefahr wiederum auf die Anschlagsdichte an.

Zutreffend OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -.

Nach den konkreten Zahlen von amnesty international werden die zivilen Opfer der Anschläge zwischen 21.239 und 24.106 geschätzt.

amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005.

Auf der Grundlage der Höchstzahl von 24.106 Opfern beträgt die Anschlagsdichte mithin rund 1:1100. Geht man von der – pauschalen – noch höheren Zahl von Opfern unter den Zivilisten von äußerstenfalls 100.000 aus, die das Auswärtige Amt wiedergibt,

Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005,

ergibt sich landesweit äußerstenfalls eine Verletzungsgefahr durch die Anschläge von 1:270. Damit lässt sich aber nicht - zudem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - feststellen, ein einzelner Rückkehrer werde alsbald sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert.

Zu einem anderen Ergebnis führen auch nicht Reisewarnungen des Auswärtigen Amts für Reisende. Der Kläger hat sich mit dem VG Sigmaringen darauf berufen, das Auswärtige Amt habe seine Reisewarnung vom 29.7.2005 auf die Anschlagsopfer sowie die Entführungen gestützt.

VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -, Seite 9 des amtl. Umdrucks.

In einer solchen Warnung für Touristen und Geschäftsreisende liegt kein Wertungswiderspruch zur Verneinung einer Extremgefahr. Die Warnungen enthalten keine verbindliche Regelung im Sinne eines Schutzes der Menschenwürde, sondern eine unverbindliche Information. Ein Informationsbedürfnis besteht schon wesentlich früher als erst bei einer Situation, in der Reisende sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert werden. Die Schwelle für eine Reisewarnung ist wesentlich niedriger und bedeutet als solche keine Extremgefahr.

Auch die mit dem Untergrundkrieg einhergehende angespannte Versorgungslage einschließlich der medizinischen Versorgung im Irak führt nicht zur Bejahung einer Extremgefahr, zumal keine Hungergefahr besteht.

Die Versorgungslage im Irak ist zwar angespannt.

OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006; zur prekären wirtschaftlichen Lage auch Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Indessen beziehen 96 % aller irakischen Haushalte Lebensmittelhilfe.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005.

Für eine extreme Verknappung der Lebensmittel oder gar eine Hungerkatastrophe oder eine Wasserkatastrophe fehlt jeder Anhaltspunkt.

Schon mit Blick auf die bestehende Lebensmittelhilfe kann realistischerweise nicht angenommen werden, der Kläger würde im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nach seiner Rückkehr dem baldigen sicheren Hungertod ausgesetzt. Selbst eine katastrophale wirtschaftliche Situation mit Obdachlosigkeit und Unterernährung bedeutet dann keine Extremgefahr, wenn Rückkehrer nicht dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -.

Auch mit Blick auf die medizinische Versorgung ist eine allgemeine Extremgefahr zu verneinen. Die medizinische Versorgung ist allerdings angespannt.

Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 9.6.2006 und vom 24.11.2005.

Die Situation im Gesundheitswesen wird als extrem schwierig angesehen.

Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 4.2.2006.

Nach der Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist das irakische Gesundheitssystem schlechter als vor dem Krieg, bedarf dringend der Erneuerung, indessen ist die medizinische Grundversorgung zumeist gewährleistet.

So der zusammengefasste Inhalt der Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9.6.2004 sowie des Updates der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 15.6.2005.

Nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Extremgefahr begründen eine unzureichende medizinische Versorgung und eine kaum leistungsfähige Gesundheitsversorgung nicht bereits eine allgemeine Extremgefahr.

BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - BVerwG 9 C 4.98 -, zu Armenien sowie BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - BVerwG 1 C 5.01 -, zu einer kaum leistungsfähigen Gesundheitsversorgung in Angola mit desolaten hygienischen Verhältnissen.

Auch bei einer Gesamtwürdigung der sozioökonomischen Situation des Iraks

vgl. dazu Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, Abschnitt sozioökonomische Situation, Seite 11/12

ist ungeachtet der unzulänglichen Sicherheits- und Versorgungssituation nicht eine allgemeine Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem Ausmaß zu bejahen, dass ein Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dem baldigen sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Mithin ist im Irak der Tatbestand einer allgemeinen Extremgefahr zu verneinen.

Ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -; sowie bereits BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -.

Nach dem vom Senat gefundenen Gesamtergebnis bleiben Hauptantrag und Hilfsantrag des Klägers erfolglos; die Berufung ist mithin zurückzuweisen.

Gerichtskosten werden nach § 83 b AsylVfG nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung über die außergerichtlichen Kosten ergibt sich aus § 154 II VwGO.

Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 II VwGO liegen nicht vor.

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Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

Gesetz


Aufenthaltsgesetz - AufenthG

Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG | § 30 Gegenstandswert in gerichtlichen Verfahren nach dem Asylgesetz


(1) In Klageverfahren nach dem Asylgesetz beträgt der Gegenstandswert 5 000 Euro, in den Fällen des § 77 Absatz 4 Satz 1 des Asylgesetzes 10 000 Euro, in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes 2 500 Euro. Sind mehrere natürliche Personen an demselb

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 26 Dauer des Aufenthalts


(1) Die Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt kann für jeweils längstens drei Jahre erteilt und verlängert werden, in den Fällen des § 25 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5 jedoch für längstens sechs Monate, solange sich der Ausländer noch nicht mindesten

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Oberverwaltungsgericht des Saarlandes Urteil, 03. Feb. 2006 - 3 R 7/05

bei uns veröffentlicht am 03.02.2006

Tenor Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Revision wird nicht zugelassen. Tatbestand Die Klägerin
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Oberverwaltungsgericht des Saarlandes Urteil, 16. Sept. 2011 - 3 A 352/09

bei uns veröffentlicht am 16.09.2011

Tenor Die Berufung wird zurückgewiesen.Gerichtskosten werden nicht erhoben. Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens.Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.Die Revision wird nicht zugelassen. Tat

Oberverwaltungsgericht des Saarlandes Urteil, 01. Juni 2011 - 3 A 429/08

bei uns veröffentlicht am 01.06.2011

Tenor Die Berufung wird zurückgewiesen.Gerichtskosten werden nicht erhoben. Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens.Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.Die Revision wird nicht zugelassen. Tat

Oberverwaltungsgericht des Saarlandes Beschluss, 11. Juli 2007 - 3 Q 160/06

bei uns veröffentlicht am 11.07.2007

Tenor Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 13.10.2006 – 2 K 189/06.A – wird zurückgewiesen. Die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens

Oberverwaltungsgericht des Saarlandes Beschluss, 09. Juli 2007 - 3 Q 158/06

bei uns veröffentlicht am 09.07.2007

Tenor Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 13.10.2006 – 2 K 219/06.A – wird zurückgewiesen. Die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens

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(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin bringt ihr Produkt „W.“ - im Folgenden nur als Produkt bezeichnet - als Nahrungsergänzungsmittel und damit als Lebensmittel in Deutschland mit entsprechender Packungskennzeichnung in den Verkehr. Es handelt sich dabei um indischen Weihrauchextrakt. Die Klägerin bezieht ihr Produkt nach eigenen Angaben aus Österreich, wo es als Lebensmittel im Verkehr ist, und der österreichische Lieferant bezieht es aus Indien.

Mit dem streitigen Untersagungsbescheid vom 23.1.2002 erließ der Beklagte nach Anhörung der Klägerin ein Verkehrsverbot für ihr Produkt auf der Grundlage des § 69 I AMG. Zur Begründung berief sich der Beklagte darauf, Fertigpräparate aus Weihrauchextrakt seien in Indien als Arzneimittel zugelassen und die Verkehrsauffassung sei durch das Fertigarzneimittel aus Indien geprägt mit der Konsequenz, dass ein zulassungspflichtiges Arzneimittel ohne Zulassung vorliege.

Gegen den am 25.1.2002 bekannt gegebenen Untersagungsbescheid hat die Klägerin am 29.1.2002 Klage erhoben.

Die Klägerin hat den Rechtsstandpunkt vertreten, ihr Produkt sei sowohl nach der Einordnung gemäß dem materiell geltenden Lebensmittelrecht ein Lebensmittel als auch auf Grund des freien europäischen Marktes als Importprodukt verkehrsfähig, das sowohl der Importerleichterung des § 47 a LMBG als importiertes Lebensmittel unterliege als auch der verbindlichen Zolltarifauskunft der EG vom 16.9.2002 mit der Einstufung ebenfalls als Lebensmittel.

Bei materieller Betrachtung liege ein Ernährungszweck im Sinne eines Nahrungsergänzungsmittels vor. Nach der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG sei für Nahrungsergänzungsmittel eine breite Palette von Nährstoffen und anderen Zutaten einschließlich Ballaststoffen, Pflanzen und Kräuterextrakten - und damit auch aus der Weihrauchpflanze - zugelassen und die dosierte Form beispielsweise in Tabletten normativ vorgesehen. Dagegen liege ein Arzneimittel im Sinne des europäischen Arzneimittelbegriffs nicht vor. Insbesondere fehle es für ein Funktionsarzneimittel an der pharmakologischen Wirkung in der vorgeschriebenen Dosierung von 400 mg täglich. Der Beklagte habe eine pharmakologische Wirkung nicht erwiesen, sie, die Klägerin, habe dagegen mit den Gutachten Bertram und Reuss den Gegenbeweis geführt, dass eine pharmakologische Wirkung auszuschließen sei. Zumindest fehle es an einem überwiegenden arzneilichen Zweck.

Unabhängig von der materiellen Zusammensetzung sei der Weihrauchextrakt als Lebensmittelimport aus dem EU-Land Österreich gemäß § 47 a LMBG ein verkehrsfähiges Erzeugnis. Aufgrund der verbindlichen Zolltarifauskunft der Gemeinschaft vom 16.9.2002 mit der Einstufung als Lebensmittelzubereitung stehe weiter fest, dass ihr Produkt überall in der EU als Lebensmittel in den Verkehr gebracht werden könne, was auch in Österreich und England der Fall sei. Die Frage der Verkehrsfähigkeit aufgrund der verbindlichen Zolltarifauskunft sei erforderlichenfalls dem EuGH vorzulegen.

Die Klägerin hat beantragt (VG-Akte Bl. 167),

den Untersagungsbescheid des Beklagten vom 23.1.2002 aufzuheben,

hilfsweise,

dem Europäischen Gerichtshof dieses Verfahren mit der folgenden Frage vorzulegen: „Wenn ein Produkt nach einer verbindlichen Zolltarifauskunft für die Europäische Gemeinschaft als Lebensmittel eingestuft worden ist und darüber hinaus in den EU-Mitgliedstaaten Großbritannien und Österreich rechtmäßig im Verkehr ist, darf dann ein Vertriebsverbot von der zuständigen Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgesprochen werden, wenn diese nicht nachweist, dass das Produkt konkret gegen Vorschriften des Gesundheitsschutzes verstößt, sondern die Behörde das Vertriebsverbot mit der Ansicht begründet, dass der Inhalt grundsätzlich als Arzneimittel anzusehen ist, obwohl eine pharmakologische Wirkung erst bei einer Dosierung nachgewiesen werden konnte, die die empfohlene Tagesverzehrmenge des beanstandeten Produktes um das 3-fache übersteigt. Unstreitig wird das Produkt nach der Packungskennzeichnung als „Nahrungsergänzungsmittel“ in der Bundesrepublik Deutschland in den Verkehr gebracht,

hilfsweise,

die Akte mit der folgenden Frage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen: „Kann eine Landesbehörde in der Bundesrepublik Deutschland ein Produkt, das in den EU-Mitgliedstaaten Österreich und England als verkehrsfähiges Lebensmittel im Verkehr ist, eine verbindliche Zolltarifauskunft der Europäischen Gemeinschaft die Lebensmittel-Eigenschaft bestätigt hat, mit dem Hinweis, dass dort keine arzneilichen Angaben auf der Packung enthalten sind, noch als Arzneimittel einstufen, auch wenn die Behörde eine pharmakologische Wirkung in der angegebenen Tagesdosierung nicht nachweisen kann.“

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte ist dem Vorbringen der Klägerin entgegengetreten. Das Produkt stamme aus der traditionellen indischen Ayurveda-Medizin. Ein Ernährungszweck sei nicht nachzuweisen. Stattdessen sei ein Arzneimittelzweck gegeben. Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Unterlagen liege ein Funktionsarzneimittel mit Auswirkungen auf Entzündungsprozesse auch in niedriger Dosis vor. Als Arzneimittel sei Weihrauchextrakt den Verbrauchern insbesondere aus dem Internet bekannt. Die Importerleichterung nach § 47 a LMBG sei hier nicht einschlägig. Auch die Zolltarifauskunft beschränke sich ausschließlich auf den Zolltarif, um den es hier nicht gehe.

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 20.5.2003 - 3 K 47/02 - die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es sich den Rechtsstandpunkt des Beklagten unter Bezugnahme zu Eigen gemacht. Maßgebend sei die überwiegende Zweckbestimmung nach der Verkehrsauffassung. Das Produkt sei nach Aufmachung, Verpackung und Vertrieb wie ein Arzneimittel aufgemacht und werde auch in der Apotheke vertrieben. Die Klägerin mache für ihr Produkt zwar selbst keine Werbung, indessen werde von anderer Seite für ein Konkurrenzprodukt im Internet Werbung als Arzneimittel betrieben. Nach den Verbrauchererwartungen werde das Produkt also als Arzneimittel gekauft. Die Importerleichterung des § 47 a LMBG sei auf Arzneimittel nicht anwendbar und die Zolltarifauskunft binde nicht die Gesundheitsbehörden der deutschen Bundesländer. Angesichts dieser klaren Rechtslage bedürfe es keiner Vorlage an den EuGH, zu der das Verwaltungsgericht ohnedies nicht verpflichtet sei. Nach allem sei die Klage abzuweisen.

Gegen das am 10.6.2003 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 4.7.2003 Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, dem der Senat durch Zulassungsbeschluss vom 16.1.2004 (Berufungsakte Bl. 108) mit Blick auf schwierige Fragen des Gemeinschaftsrechts unter der seinerzeitigen Geschäftsnummer 3 R 1/04 stattgegeben hat. Mit Blick auf eine bevorstehende EuGH-Entscheidung zur Abgrenzung von Arzneimitteln und Lebensmitteln hat der Senat das Verfahren vorübergehend durch Beschluss vom 16.4.2004 ausgesetzt (Berufungsakte Bl. 164). Nach dem Ergehen der EuGH-Entscheidung vom 9.6.2005 - C-211/03 - (Lactobact-Urteil) haben beide Beteiligten das Urteil für ihren Rechtsstandpunkt in Anspruch genommen und halten im fortgesetzten Rechtsstreit 3 R 7/05 an ihrer Rechtsauffassung fest.

Die Klägerin trägt vor: Das Lactobact-Urteil des EuGH stütze ihre Rechtsansicht. Im Bereich der allgemeinen Lebensmittel und der Arzneimittel sei nach dem EuGH-Urteil eine Harmonisierung des Gemeinschaftsrechts noch nicht vorgenommen worden (Rz. 56). Dagegen sei es zu einer europaweiten Harmonisierung bei der hier einschlägigen Untergruppe der Lebensmittel, der Nahrungsergänzungsmittel, gekommen (Rz. 70 ff.). Nachdem der EuGH (Rz. 44) dargelegt habe, dass in Zweifelsfällen bei vollständigen Feststellungen die Arzneimittelrichtlinie gelte, habe er sodann (Rz. 70 ff.) darauf hingewiesen, dass im Bereich der Nahrungsergänzungsmittel eine weitgehende Harmonisierung eingetreten sei; bei den Nahrungsergänzungsmitteln blieben den Mitgliedstaaten nur begrenzte Möglichkeiten, das Inverkehrbringen solcher Nahrungsergänzungsmittel zu beschränken, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat wie hier in Österreich und in Großbritannien rechtmäßig im Verkehr seien. Solche Verkehrsbeschränkungen setzten voraus, dass der Beklagte konkrete Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung nachweise, was nicht geschehen sei.

Ihr Produkt sei bei materieller Betrachtung nach dem fortgeschrittenen Gemeinschaftsrecht als Lebensmittel und als Nahrungsergänzungsmittel einzustufen. Art. 2 der gemeinschaftsrechtlichen Lebensmittelverordnung 178/2002 sei weiter gefasst und stelle nicht mehr auf den Ernährungs- oder Genusszweck des Produkts ab. Ein Nahrungsergänzungsmittel im Sinne des weitgehend harmonisierten Gemeinschaftsrechts liege hier vor. Nach dem Erwägungsgrund 3 gehe es um die Erhaltung einer guten Gesundheit und nach dem Erwägungsgrund 6 handele es sich um eine breite Palette von Stoffen einschließlich Kräuterextrakten. Art. 2 a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie erfordere nicht notwendig Nährstoffe, sondern lasse sonstige Stoffe mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung genügen. Dies sei hier zu bejahen. Aus dem vorgelegten Zusatzgutachten Reuss ergebe sich, dass Weihrauch ein gesundes, natürliches Gewürz darstelle mit der ernährungsspezifischen Wirkung, die Lebensmittel bekömmlicher zu machen. Weihrauchextrakt wirke sich auch positiv auf den Lipoprotein-Haushalt und den Cholesterin-Haushalt aus. Er sei nicht nur in Österreich und Großbritannien, sondern auch in Deutschland abgesehen von dem Produkt der Klägerin als Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt. Nach dem zentralen Bestellsystem der deutschen Apotheken, der Lauer-Taxe, seien 11 verschiedene Weihrauchprodukte anderer Firmen als Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt. Insofern sei Weihrauch bei dem Verbraucher als Nahrungsergänzungsmittel bekannt. Demgegenüber müsse die Internetwerbung für die Arzneiwirkung anderer Weihrauchprodukte nach der vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigen BGH-Rechtsprechung außer Betracht bleiben (BGH, Urteil vom 11.7.2002 - I ZR 273/99 -). Darüber hinaus sei die Einfuhr von Weihrauchprodukten als Arzneimitteln aus der Schweiz oder Indien unzulässig, da es dort an einer staatlichen, mit der deutschen Arzneimittelzulassung vergleichbaren Zulassung fehle. In Indien sei Weihrauchextrakt ein Lebensmittel und unterliege der Lebensmittelüberwachung. Nach allem sei ihr Produkt ein Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel, das nicht durch das Nadelöhr der Arzneimittelüberwachung müsse.

Entgegen der Annahme des Beklagten sei das Vorliegen eines Arzneimittels auszuschließen. Sowohl der EuGH als auch der BGH unterschieden beim europäischen Arzneimittelbegriff zwischen einem Präsentationsarzneimittel und einem Funktionsarzneimittel. Ein Präsentationsarzneimittel liege nach der Rechtsprechung des BGH nur dann vor, wenn es so auf den Verkaufspackungen, nicht lediglich in Werbeangaben in Medien, präsentiert werde. Dies sei eindeutig nicht der Fall. Die Verpackung enthalte eine deutliche Präsentation als Nahrungsergänzungsmittel, eine Verzehrempfehlung und neuerdings den Hinweis, die täglich empfohlene Verzehrempfehlung nicht zu überschreiten.

Ebenso wenig sei ihr Produkt ein Funktionsarzneimittel. Stoffe könnten wie das Vitamin C je nach Dosis eine Doppelfunktion als Lebensmittel und Arzneimittel haben. Dann komme es allein auf die Dosis an. Maßgebend für die Beurteilung sei die Empfehlung, nur ein Mal täglich eine Tablette einzunehmen. Eine Mehrfacheinnahme - wie vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte angenommen - nur zur Begründung pharmakologischer Eigenschaften sei eine nicht wissenschaftliche Unterstellung. Ausgehend von der maßgebenden Dosis habe der Beklagte mit allen vorgelegten Unterlagen den Beweis einer pharmakologischen Wirkung nicht erbracht, dagegen habe sie den Gegenbeweis durch die Gutachten Bertram und Reuss geführt. Soweit der Beklagte sich mit seinen Unterlagen auf die Ayurvedische Medizin aus Indien berufe, liege darin nach neuerer Erkenntnis eher eine Empfehlung für eine gesunde Lebensweise im Sinne einer Nahrungsergänzung als die Behandlung von Krankheiten. Auch die vom Beklagten vorgetragene Bemühung der deutschen Firma P. um eine europäische Zulassung als Arzneimittel sei bisher wegen fehlender Nachweise gescheitert. Eine pharmakologische Wirkung in der vorgeschriebenen Dosis lasse sich nach allem nicht begründen. Der Beklagte habe den Beweis dafür nicht erbracht. Deshalb führten die stofflichen Eigenschaften ihres Produkts dazu, dass allein ein Nahrungsergänzungsmittel vorliege und mangels konkreter Gesundheitsgefahren keine Verbotsgrundlage bestehe.

Wesentlich sei weiter, dass ein EG-Lebensmittelimport vorliege. Der freie Handelsverkehr innerhalb der Gemeinschaft sei nach dem EG-Vertrag geschützt und die Auffassung des Beklagten führe zu unzulässigen Handelshindernissen bei dem Import von Lebensmitteln. Das Produkt werde unmittelbar aus Österreich eingeführt und sei dort rechtmäßig als Lebensmittel im Verkehr. Auf der Grundlage des § 47 a LMBG sei das Produkt aus der Sicht von Österreich einzuordnen und sei damit ein verkehrsfähiges Lebensmittel und kein Arzneimittel. Bezogen auf die Gemeinschaft insgesamt bedeute darüber hinaus die vorgelegte Zolltarifauskunft vom 16.9.2002 mit der Einordnung als Lebensmittelzubereitung den Verkehrsfähigkeitsnachweis für die gesamte Gemeinschaft.

Nach allem sei das Vertriebsverbot aufzuheben; hilfsweise komme eine Vorlage der Sache an den EuGH in Betracht.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 20.5.2003 - 3 K 47/02 - den Untersagungsbescheid des Beklagten vom 23.1.2002 aufzuheben.

Die Klägerin regt hilfsweise an,

dem Europäischen Gerichtshof folgende Frage vorzulegen:

„Kann eine Landesbehörde in der Bundesrepublik Deutschland ein Produkt, das in den EU-Mitgliedstaaten Österreich und England als verkehrsfähiges Lebensmittel im Verkehr ist, dem eine verbindliche Zolltarifauskunft der Europäischen Gemeinschaft die Lebensmittel-Eigenschaft bestätigt hat, mit dem Hinweis, dass dort keine arzneilichen Angaben auf der Packung enthalten sind, noch als Arzneimittel einstufen, auch wenn die Behörde eine pharmakologische Wirkung in der angegebenen Tagesdosierung nicht nachweisen kann.“

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte ist der Auffassung, das Lactobact-Urteil des EuGH vom 9.6.2005 stütze seinen Standpunkt. Aus dem Tenor des EuGH-Urteils ergebe sich, dass die Einstufung als Arzneimittel oder als Nahrungsmittel unabhängig von der Einstufung in anderen EU-Mitgliedstaaten erfolge und in Zweifelsfällen die Arzneimittelrichtlinie einschlägig sei.

Der Beklagte ist der Auffassung, es liege kein Lebensmittel und kein Nahrungsergänzungsmittel vor. Die Nahrungseigenschaft sei nicht nachvollziehbar begründet. Allenfalls liege ein Zweifelsfall vor, der damit als Arzneimittel zu behandeln sei.

Der Arzneimittelbegriff werde durch das Produkt der Klägerin erfüllt. Zwar präsentiere die Klägerin ihr Produkt nicht als Arzneimittel, so dass ein Präsentationsarzneimittel ausscheide. Dagegen liege wegen der pharmakologischen Wirkung ein Funktionsarzneimittel vor. Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Unterlagen nehme indischer Weihrauchextrakt Einfluss auf Entzündungsprozesse im Körper. Bei der Einstufung als Arzneimittel sei nach Auffassung des Bundesinstituts die Möglichkeit einer Mehrfacheinnahme der Tagesdosis zu berücksichtigen. Therapeutische Wirkungen seien bereits in einer Tagesdosis von 900 mg möglich und könnten durch Mehrfacheinnahme erreicht werden. Darüber hinaus ergebe sich aus den Forschungsergebnissen von Prof. Dr. Ammon, dass bei niedriger Dosierung eine Stimulierung der Leukotriensynthese eintreten könne.

Die Einstufung als Arzneimittel ergebe sich auch daraus, dass die europäische Behörde EMEA am 21.10.2002 für die Behandlung von Ödemen bei Gehirntumoren indischem Weihrauchextrakt zugunsten der deutschen Firma P. den Orphan-Drug-Status zuerkannt habe. Nur bei einer Einstufung als Arzneimittel und nicht als Lebensmittel könne ein Präparat einen solchen Status erhalten. Dagegen sei die von der Klägerin vorgelegte Zolltarifauskunft vom 16.9.2002 nicht entscheidungserheblich, da sie sich nach Sinn und Zweck auf die Zollkalkulation beschränke.

Nach allem sei das Weihrauchpräparat der Klägerin ein Funktionsarzneimittel, das zulassungsbedürftig sei, aber keine Zulassung als Arzneimittel habe. Mithin sei der Untersagungsbescheid rechtmäßig.

Zur Ergänzung des Sachverhalts insbesondere mit Blick auf die vorgelegten Unterlagen wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten (2 Hefter) Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung bleibt erfolglos.

Der Streit der Beteiligten betrifft die richtige rechtliche Einordnung des Produkts der Klägerin, der W., das sie von Österreich nach Deutschland einführt. Handelt es sich inhaltlich um ein Lebensmittel in Form eines Nahrungsergänzungsmittels oder um einen rechtlich maßgebenden Lebensmittelimport, wie die Klägerin annimmt, unterliegt es unstreitig grundsätzlich dem freien Warenverkehr und mithin nicht dem vom Beklagten ausgesprochenen Verkehrsverbot nach § 69 AMG. Handelt es sich dagegen rechtlich um ein Fertigarzneimittel, fehlt ihm die erforderliche Zulassung, da es unstreitig weder in Deutschland noch sonst im Bereich der Europäischen Union eine Verkehrsgenehmigung als Arzneimittel hat.

Angesichts der fortgeschrittenen EG-Harmonisierung des Arzneimittelrechts und des Lebensmittelrechts ist zunächst klarzustellen, wer die Qualifizierungszuständigkeit bei der grenzüberschreitenden Verbringung eines Produkts innerhalb der EG hat. Abgesehen von der hier nicht gegebenen Ausnahme einer gemeinschaftsrechtlichen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 vom 22.7.1993 für das Produkt verbleibt die Qualifizierung den nationalen Behörden und Gerichten. Auf eine Vorlage des OVG Münster hin mit dem Ziel einer EG-weiten Qualifizierung eines Produkts durch den EuGH hat der EuGH nach seinem Rechtsverständnis das Europarecht auszulegen, ist aber nicht befugt, über den Sachverhalt zu entscheiden und die Einstufung von Produkten als Arzneimittel oder Lebensmittel gemeinschaftsweit selbst vorzunehmen.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 – u.a. C – 211/03 -, betreffend die Einfuhr streitiger Nahrungsergänzungsmittel von den Niederlanden nach Deutschland auf eine Vorlage des OVG Münster, im Folgenden als Lactobact-Urteil bezeichnet.

Zuständig für die Entscheidung, ob ein Erzeugnis als Arzneimittel oder als Lebensmittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts einzustufen ist, sind nach der Rechtsprechung des EuGH die nationalen Behörden.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 30; ebenso schon EuGH, Urteil vom 16.4.1991 – Upjohn – Rz 35.

Die Einfuhr eines Produkts berührt zwar sowohl den Ausfuhrmitgliedstaat als auch den Einfuhrmitgliedstaat. Bei streitiger Zulässigkeit der Marktverwertung nach Einfuhr entscheidet indessen der jeweilige Einfuhrmitgliedstaat über die Einstufung als Arzneimittel oder Lebensmittel ohne Bindung an die Auffassung des Ausfuhrmitgliedstaats.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 56; ebenso EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, betreffend Vitaminpräparate, Rz 53.

Die nationalen Behörden des Einfuhrmitgliedstaates, hier der Beklagte, haben mithin die Einstufung des streitigen Produkts mit Wirkung nur für ihren Staat vorzunehmen. Die Kontrolle der richtigen Einstufung ist sodann Sache der nationalen Gerichte.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 96 und 97; ebenso EuGH, Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Delattre-Urteil, Rz 35.

Mithin hat der Senat in dem vorliegenden Berufungsverfahren über die Einstufung des streitigen Produkts in Deutschland ohne Vorlage an den EuGH selbst zu entscheiden.

Die Anfechtungsklage hat Erfolg, wenn noch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsakts besteht.

Bader u.a., VwGO, 3. Auflage 2005, § 113 Rdnr. 34.

Der hier streitige Untersagungsbescheid vom 23.1.2002 auf der Grundlage von § 69 I Nr. 1 AMG verbietet das Inverkehrbringen des streitigen Produkts ab Bekanntgabe (25.1.2002) auf Dauer. Dauerverwaltungsakte sind häufig – so auch hier – als sich ständig aktualisierende Verwaltungsakte anzusehen, für die sodann verändertes neues Recht ebenfalls zu beachten ist.

Kopp/Schenke, VwGO, 14. Auflage 2005, § 113 Rdnr. 43; Bader u.a., VwGO, 3. Auflage 2005, § 113 Rdnr. 34.

Der Senat legt seiner Entscheidung das im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltende neue Recht zugrunde und geht auf älteres Recht seit 25.1.2002 (Bescheidbekanntgabe) zusätzlich ein.

Die Klägerin begehrt die Einstufung ihres Produkts als Lebensmittel.

Nach dem ab 7.9.2005 geltenden deutschen Recht werden Lebensmittel in § 2 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuches – LFGB – vom 1.9.2005 (BGBl. I S. 2618) wie folgt definiert:

Lebensmittel sind Lebensmittel im Sinne des Artikels 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002.

Mit Blick auf älteres Recht galt zwar bis zum 6.9.2005 formell noch die Lebensmitteldefinition des § 1 I LMBG in der Fassung vom 9.9.1997 (BGBl. I S. 2296) mit folgendem Wortlaut:

Lebensmittel im Sinne dieses Gesetzes sind Stoffe, die dazu bestimmt sind, in unverändertem, zubereitetem oder verarbeitetem Zustand von Menschen verzehrt zu werden; ausgenommen sind Stoffe, die überwiegend dazu bestimmt sind, zu anderen Zwecken als zur Ernährung oder zum Genuss verzehrt zu werden.

Diese Definitionsvorschrift musste aber bereits seit 21.2.2002 wegen des Anwendungsvorrangs des europäischen Rechts unangewendet bleiben. Die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28.1.2002, in Kraft getreten nach Artikel 65 am 21.2.2002, ist nach Artikel 65 der Verordnung in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Einer Umsetzung bedurfte es mithin nicht. Das Gemeinschaftsrecht hat gegenüber dem nationalen Recht einen Anwendungsvorrang.

Vgl. mit näherer Begründung sowohl aus dem Gemeinschaftsrecht als auch aus dem deutschen Recht mit Blick auf Artikel 23 GG Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 10 EGV Rdnrn. 27 bis 29.

Für die Lebensmitteldefinition ist mithin auszugehen von der Gesamtdefinition (positive und negative Abgrenzung) nach Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 – im Folgenden Lebensmittelverordnung -, die insoweit nicht abgeändert worden ist durch die Änderungsverordnung (EG) Nr. 1642/2003 vom 22.7.2003. Die europäische Lebensmitteldefinition enthält in Artikel 2 I eine Positivdefinition und in Artikel 2 III eine Negativdefinition, auf die nacheinander einzugehen ist. Die Positivdefinition in Artikel 2 I Lebensmittelverordnung lautet:

Im Sinne dieser Verordnung sind „Lebensmittel“ alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden.

Wie die Klägerin zu Recht hervorhebt, stellt die europäische Definition nicht mehr wie die deutsche Definition ausdrücklich auf den Ernährungs- oder Genusszweck ab. Sie ist von dem europäischen Verordnungsgeber bewusst weit gefasst. Dies ergibt sich ausdrücklich aus dem Erwägungsgrund 11 der Lebensmittelverordnung, wonach die Definition für ein hinreichend umfassendes einheitliches Konzept der Lebensmittelsicherheit weit gefasst werden müsse.

Das Produkt der Klägerin fällt nach der Auffassung des Senats bei der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung unter die weite europäische Positivdefinition eines Lebensmittels. Normativ vorausgesetzt sind zunächst einmal „Stoffe“. Das Produkt der Klägerin enthält ausweislich der in Fotokopie vorgelegten Faltschachtel sowohl nach dem jetzigen Stand von 2005 als auch dem von 2002 als einzigen Inhaltsstoff 400 mg indischen Weihrauchtrockenextrakt pro Tablette. Weiterhin ist der Stoff dazu bestimmt, in verarbeitetem Zustand – als Trockenextrakt und mit den Bindemitteln einer Tablette – von Menschen aufgenommen zu werden. Dies ist der Fall, denn nach der Verzehrempfehlung soll täglich eine Tablette nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit verzehrt werden. Zugunsten der Klägerin ist damit die weite europäische Positivdefinition der Lebensmittel erfüllt.

Weiter geht der Senat noch mit Blick auf den Zeitabschnitt Januar/Februar 2002 auf den Streit der Beteiligten um die engere deutsche Positivdefinition ein, die nach § 1 I des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes – LMBG – vom 9.9.1997 (BGBl. I S. 2296) noch zusätzlich einen Ernährungs- oder Genusszweck verlangt. Die Klägerin hat den Genusszweck einleuchtend mit drei Gutachten begründet, wonach Weihrauch seit Jahrtausenden verwendet wird, einen bitterlichen, eigenartigen Geschmack hat, sich für Gewürzzwecke eignet und ein gesundes, natürliches Gewürz darstellt.

Gutachten von Prof. Dr. Bertram vom 22.2.2001, Behördenakte Bl. 50, im Folgenden zitiert als Gutachten Bertram, dort S. 1 und S. 4; ebenso das Erstgutachten des Dipl.-Chemikers Reuss vom 10.1.2001, Behördenakte Blatt 3, im Folgenden zitiert als Gutachten Reuss, dort S. 1 zu Aromaeffekten und S. 3 zur Gewürzfunktion, sowie eingehender zu Genusszweck und ernährungsspezifischer Wirkung das weitere Gutachten des Dipl.-Chemikers Reuss vom 15.6.2003, in der Berufungsakte 3 R 7/05, im Folgenden zitiert als Zusatzgutachten Reuss.

Der Beklagte hat dem in einer relativ engen Betrachtungsweise entgegengehalten, der Weihrauch werde nach der Anwendungsvorschrift nicht als Gewürz gestreut und erfülle insofern nicht den Lebensmittelbegriff. Das überzeugt nicht, denn die deutsche Lebensmitteldefinition stellt in § 1 I LMBG auf den Verzehr selbst und nicht auf besondere Formen des Verzehrs wie etwa die Anwendung von Gewürzen nur als Streumittel ab. In der Kommentierung zur deutschen Lebensmitteldefinition ist anerkannt, dass Stoffe, die einen spezifischen Geruchs- oder Geschmackswert aufweisen wie Gewürze oder Aromastoffe, jedenfalls dem Lebensmittelbegriff unterliegen.

Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Band II, Stand März 2005, § 1 LMBG Rdnr. 42, zum bisherigen deutschen Recht.

Mithin liegt nachweislich ein Aromastoff vor, der auch nach der engeren deutschen Positivdefinition als Lebensmittel anzusehen ist. Für die weitere europäische Positivdefinition genügt wie bereits dargelegt bereits die Bestimmung zur Aufnahme durch Menschen. Genussmittel und Aromastoffe sind von der europäischen Definition ohne Weiteres umfasst, was sich zusätzlich noch durch die besondere Bestimmung des Artikel 2 II Lebensmittelverordnung ergibt, wonach Kaugummi – und damit ein Genussmittel - ausdrücklich zu den Lebensmitteln gerechnet wird.

Vgl. zur deutschen Lebensmitteldefinition Zipfel/Rathke § 1 LMBG Rdnr. 31, wonach Kaugummi wegen des Genusszwecks ein Lebensmittel darstellt.

Nach allem erfüllt das Produkt der Klägerin nach der Auffassung des Senats die europäische Positivdefinition eines Lebensmittels, die bereits seit 21.2.2002 gilt, und zuvor (25.1.-20.2.2002) die deutsche Positivdefinition.

Rein vorsorglich geht der Senat noch auf den Streit der Beteiligten um die derzeitige europäische Zusatzeinstufung als Nahrungsergänzungsmittel ein. Bereits die dosierte Abgabe des Produkts in Tablettenform spricht dafür, dass zusätzlich zu der allgemeinen Lebensmitteldefinition derzeit auch die Positivdefinition eines Nahrungsergänzungsmittels erfüllt ist. Nach Artikel 2 Buchstabe a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG vom 10.6.2002 lautet die europäische Positivdefinition wie folgt:

Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „Nahrungsergänzungsmittel“ Lebensmittel, die dazu bestimmt sind, die normale Ernährung zu ergänzen und die aus Einfach- oder Mehrfachkonzentraten von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung bestehen und in dosierter Form in den Verkehr gebracht werden, d.h. in Form von z.B. Kapseln, Pastillen, Tabletten, Pillen und anderen ähnlichen Darreichungsformen (es folgen weitere Darreichungsformen).

Damit ist im Jahr 2002 erstmals eine gemeinschaftsrechtliche Regelung der Nahrungsergänzungsmittel erfolgt. Die deutsche Umsetzung ist durch die Nahrungsergänzungsmittelverordnung vom 24.5.2004 mit Wirkung vom 28.5.2004 erfolgt, die in § 1 eine inhaltsgleiche Definition enthält. Der EuGH hat die Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie nach dem zutreffenden Hinweis der Klägerin dahingehend gewürdigt, dass sie eine gewisse Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften für die dort definierten Nahrungsergänzungsmittel vornimmt.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 70.

Nahrungsergänzungsmittel müssen sowohl nach der europäischen Definition als nach der umgesetzten inhaltsgleichen deutschen Definition zunächst einmal Lebensmittel sein. Insofern ist nach den bisherigen Darlegungen des Senats – allein – die positive Lebensmitteldefinition erfüllt. Weiter kommt es auf den Nahrungsergänzungszweck an. Darauf weist die Faltschachtel des Produkts der Klägerin ausdrücklich hin; insofern bestehen keine Bedenken. Die Frage, ob Weihrauch ein Nährstoff oder ein sonstiger Stoff ist, ist zwischen den Beteiligten streitig. Ein Nährstoff liegt zwar nicht vor, da das Produkt keine der nach Artikel 4 I in Verbindung mit Anhang I der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie aufgeführten Vitamine und Mineralstoffe enthält und dies in gleicher Weise für das umgesetzte Recht nach § 3 I und Anlage 1 der deutschen Nahrungsmittelergänzungsverordnung gilt. Mit sonstigen Stoffen ist nach dem Erwägungsgrund 6 der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie eine breite Palette von Stoffen gemeint, die auch Kräuterextrakte einschließt und damit erkennbar auch Aromastoffe. Ein Aromastoff liegt wie dargelegt vor.

Weiterhin müssen nach der Definition die sonstigen Stoffe eine ernährungsspezifische oder physiologische Wirkung haben. Mit dem Ausdruck physiologisch sind sprachlich die Lebensvorgänge im Organismus gemeint.

Duden, Das Fremdwörterbuch, 7. Auflage 2001, Stichwort Physiologie; ebenso im Sinne der Wissenschaft von den normalen Lebensvorgängen Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Physiologie.

Demgegenüber bezieht sich die ernährungsspezifische Wirkung speziell auf die Lebensvorgänge bei der Ernährung. Dazu mag die von der Klägerin aufgestellte Behauptung der Auswirkungen etwa auf den Cholesterin-Haushalt gehören. Entscheidungserheblich ist das nicht. Ernährungsspezifische Bedeutung kann bereits ein Stoff mit bitterem Geschmack – wie hier - haben.

Vgl. Zipfel/Rathke, § 1 LMBG Rdnr. 37, dort im Zusammenhang mit der Verwendung von bitterem Chinin aus ernährungsphysiologischen Gründen.

Die Klägerin hat nunmehr mit der Vorlage des Zusatzgutachtens Reuss einleuchtend nachgewiesen, dass Weihrauchextrakt aus ernährungsspezifischer Sicht die Lebensmittel bekömmlicher macht und die Freisetzung von Verdauungssekreten vorbereitet.

Zusatzgutachten Reuss vom 15.6.2003, in der Berufungsakte 3 R 7/05, Bl. 97.

Mindestens liegt aber als physiologische Wirkung die Geschmackswirkung eines Aromastoffs vor. Das genügt der Richtlinie.

Weiter muss nach Artikel 2 Buchstabe a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie und § 1 I Nr. 3 der deutschen Nahrungsergänzungsmittelverordnung ein Produkt in dosierter Form, insbesondere in Form von Tabletten vorliegen. Dies trifft auf das Produkt der Klägerin zu.

Nach dem vom Senat gefundenen Zwischenergebnis erfüllt das streitige Produkt der Klägerin entgegen der Meinung des Beklagten von Anfang an und auch jetzt die europäische und deutsche Positivdefinition eines Lebensmittels und die europäische Positivdefinition eines Nahrungsergänzungsmittels seit Erlass der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie.

Nach der Positivdefinition ist die Negativdefinition zu beachten.

Die als Verordnung unmittelbar verbindliche europäische Lebensmittelverordnung enthält neben der positiven Definition der Lebensmittel in Artikel 2 Abs. 3 auch eine Negativdefinition. Artikel 2 Abs. 3 lit. d lautete:

Nicht zu „Lebensmitteln“ gehören: Arzneimittel im Sinne der Richtlinien 65/65/EWG (21) und 92/73/EWG (22) des Rates.

Durch Artikel 128 der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83 EG vom 6.11.2001 sind alle Bezugnahmen auf die bereits aufgehobenen älteren Arzneimittelrichtlinien durch die Bezugnahme auf die Humanarzneimittelrichtlinie ersetzt. Nicht zu den Lebensmitteln gehören mithin nach der Norm seit 2001 Arzneimittel im Sinne der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83 EG.

Wesentlich ist für die weitere Subsumtion, dass die Negativdefinition allein auf Gemeinschaftsrecht verweist, die Umsetzung des Arzneimittelbegriffs aus den Richtlinien in nationales Recht mithin nach der Verordnung für die Negativabgrenzung außer Betracht bleiben muss.

Die dargelegte europäische Negativabgrenzung zu einem Arzneimittel ist systemgleich für Lebensmittel im Allgemeinen und für die Untergruppe der Nahrungsergänzungsmittel. Die Klägerin meint zwar (Schriftsatz vom 6.10.2005), die Untergruppe der Nahrungsergänzungsmittel sei wegen der besonderen Harmonisierung anders zu beurteilen als die übrigen Lebensmittel und bezieht dies möglicherweise auch auf die Abgrenzung zu Arzneimitteln. Die Abgrenzung ist aber für Lebensmittel im Allgemeinen und Nahrungsergänzungsmittel systemgleich. Dies ergibt sich sowohl aus dem Normvergleich als auch der Rechtsprechung des EuGH. Die Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG führt die Negativabgrenzung in Artikel 1 II wie folgt durch:

Diese Richtlinie gilt nicht für Arzneimittel, die in der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel definiert sind.

Eine „synchrone“ Abgrenzung von Nahrungsergänzungsmitteln und allgemeinen Lebensmitteln einerseits gegenüber Arzneimitteln andererseits wird vom Richtliniengeber zusätzlich dadurch erreicht, dass er in Artikel 2 Buchstabe a der Richtlinie Nahrungsergänzungsmittel ausdrücklich als Lebensmittel mit näher gekennzeichneten Eigenschaften definiert, mithin bereits die Lebensmitteldefinition in Artikel 2 der europäischen Lebensmittelverordnung erfüllt sein muss.

Die normativ angelegte synchrone Abgrenzung wird auch deutlich in dem Lactobact-Urteil des EuGH vom 9.6.2005. In dem Vorabentscheidungsverfahren ging es in dem Ausgangsverfahren des OVG Münster um Produkte, die von den Niederlanden nach Deutschland eingeführt und dort als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebracht werden sollten (Lactobact-Urteil Rz. 20). Der EuGH hat in diesem Urteil (Rz. 41 und 42) die beiden Abgrenzungsregelungen in Artikel 2 Abs. 3 Buchstabe d der Lebensmittelverordnung und Artikel 1 Abs. 2 der Nahrungsergänzungsrichtlinie synchron behandelt und als inhaltsgleich angesehen. Für die weitere gemeinschaftsrechtliche Prüfung kommt es ohne Differenzierung zwischen Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln mithin nur darauf an, ob das Produkt der Klägerin gleichzeitig ein Arzneimittel nach dem europäischen Arzneimittelbegriff ist.

Der Senat prüft nunmehr das Vorliegen eines Arzneimittels. Maßgebend ist dafür das Gemeinschaftsrecht.

Normativ war der europäische Arzneimittelbegriff von vornherein (seit 1965) doppelt angelegt und ist es auch jetzt. Arzneimittel sind sowohl Präsentationsarzneimittel als auch Funktionsarzneimittel.

Vgl. für die ursprüngliche Rechtslage Artikel 1 Nr. 2 Abs. 1 und 2 der Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG vom 26.1.1965; sodann Artikel 1 Nr. 2 Abs. 1 und 2 der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG vom 6.11.2001; nunmehr in der geänderten Fassung von Artikel 1 der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31.3.2004 nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 30.10.2005.

Die beiden Arzneimitteldefinitionen sollen sich nach der Rechtsprechung des EuGH ergänzen.

Urteil des EuGH Upjohn vom 16.4.1991 – C 112/89 -, Rz. 15 bis 18.

Mit der Definition des Präsentationsarzneimittels, das lediglich als Arzneimittel bezeichnet ist, sollen nicht nur Arzneimittel erfasst werden, die tatsächlich therapeutische oder medizinische Wirkung haben, sondern auch die Erzeugnisse, die nicht ausreichend wirksam sind. Die zweite Definition der Funktionsarzneimittel betrifft Erzeugnisse, die zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der Körperfunktionen bestimmt sind und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben können. Durch die zweite Definition sollen auch Stoffe erfasst werden, die Heilungswirkung haben, aber nicht als Arzneimittel bezeichnet werden. Auf die formelle Zulassung kommt es nach beiden Definitionen nicht an.

Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass das Produkt der Klägerin kein Präsentationsarzneimittel ist. Bereits auf der im Jahr 2002 verwendeten Faltschachtel (Fotokopie VG-Akte Bl. 93) wird das Mittel als Nahrungsergänzung bezeichnet mit einer Verzehrempfehlung. Auf der neuen 2005 verwendeten Faltschachtel (Fotokopie Berufungsakte 3 R 7/05, Bl. 51) wird das Produkt als Nahrungsergänzungsmittel bezeichnet und sie enthält den Hinweis, es sei kein vollständiges Lebensmittel und daher nicht als einzige Nahrungsquelle geeignet. Wesentlich für die Subsumtion ist noch, dass die Faltschachtel keinerlei Hinweis auf pharmazeutische Forschung enthält oder auf von Ärzten entwickelte Methoden oder Zeugnisse bestimmter Ärzte zugunsten der Eigenschaften des Produkts.

Zu diesen Kriterien eines Präsentationsarzneimittels vgl. das Delattre-Urteil des EuGH vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 41.

Auch der Beklagte meint, die Klägerin habe eine Präsentation als Arzneimittel vermieden. Mithin ist der Ausschluss eines Präsentationsarzneimittels übereinstimmend mit der Meinung der Beteiligten unproblematisch.

Schwieriger ist die Streitfrage zwischen den Beteiligten zu entscheiden, ob inhaltlich ein Funktionsarzneimittel vorliegt. Die Klägerin verneint dies für die maßgebende Tagesdosis von 400 mg Weihrauch, der Beklagte bejaht die Eigenschaft als Funktionsarzneimittel. Beide haben dafür wissenschaftliche Unterlagen und Gutachten vorgelegt.

Vorweg ist klarzustellen, dass der Inhaltsstoff Weihrauch unstreitig weder in der EG noch in einem Staat der EG über eine Marktgenehmigung als Arzneimittel verfügt und damit auch nicht im Ausfuhrland Österreich (vgl. insbesondere Schriftsatz der Klägerin vom 6.10.2005, S. 4/5, Gerichtsakte 3 R 7/05, Bl. 49/50). Die fehlende Zulassung steht aber der Einstufung als Funktionsarzneimittel von vornherein nicht entgegen, denn nach der Rechtsprechung des EuGH müssen Funktionsarzneimittel nicht als Arzneimittel bezeichnet sein.

EuGH im Upjohn-Urteil vom 16.4.1991, Rz. 18.

Da sie in einer solchen Aufmachung nicht zugelassen werden könnten, ist die Zulassung schon deshalb kein Definitionselement des Funktionsarzneimittels.

Zum begrifflichen Verständnis des europäischen Funktionsarzneimittels geht der Senat auf die Normentwicklung ein.

Die ursprüngliche Definition in Artikel 1 Nr. 2 Abs. 2 der Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG vom 26.1.1965 lautete:

Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden.

Innerhalb des zeitlichen Geltungsbereichs des streitigen Untersagungsbescheides vom 23.1.2002 galt zunächst die Arzneimitteldefinition nach Artikel 1 Nr. 2 Abs. 2 der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG vom 6.11.2001 in der ursprünglichen Fassung mit folgendem Wortlaut:

Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden, gelten ebenfalls als Arzneimittel.

Dem entspricht im Übrigen die ab 2002 geltende Umsetzung in § 2 I Nr. 5 AMG in der Fassung vom 20.6.2002 (BGBl. I. S. 2076) mit folgendem Wortlaut:

Arzneimittel sind Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die dazu bestimmt sind, durch Anwendung am oder im menschlichen oder tierischen Körper die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder seelische Zustände zu beeinflussen.

Nunmehr wird das europäische Funktionsarzneimittel nach Artikel 1 Nr. 2 Buchstabe b der Humanarzneimittelrichtlinie in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31.3.2004 wie folgt definiert:

Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen.

Die letztgenannte aktuelle Definition des Funktionsarzneimittels erschließt sich wegen der zahlreichen medizinischen Fachausdrücke auch bei Hinzuziehung von Fachlexika nicht ohne weiteres, wird aber durch die dargelegte Normgeschichte und die insbesondere noch darzulegende Rechtsprechung des EuGH insgesamt verständlicher. Die Definition soll zunächst wissenschaftsbezogen und alsdann an Hand der Rechtsprechung des EuGH verständlich gemacht werden.

Nach der aktuellen Definition muss ein Funktionsarzneimittel physiologische Funktionen wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen. Das Wort Physiologie bezeichnet die Wissenschaft von den normalen Lebensvorgängen.

Roche Lexikon Medizin, 5. Auflage 2003, Stichwort Physiologie; Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Physiologie.

Bei der Physiologie geht es wissenschaftsbezogen insbesondere um die physikalischen Funktionen des Organismus.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, Stichwort Physiologie.

Die bereits zitierte ursprüngliche Definition in der Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG hatte dafür den allgemein verständlichen Ausdruck Körperfunktionen verwendet, der die Bedeutung auch in der aktuellen Fassung zutreffend wiedergibt. Auch der EuGH verwendet in einem neueren Urteil von 2004 noch den Ausdruck Körperfunktionen mit Blick auf Funktionsarzneimittel.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, betreffend Vitaminpräparate, Rz. 58.

Nach der neuesten Definitionsfassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG wird die Art der Beeinflussung noch präzisiert. Es muss sich um eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung handeln. Bei der Immunologie geht es um die Erkennungs- und Abwehrmechanismen des Organismus gegenüber körperfremden Substanzen und metabolisch bedeutet den Stoffwechsel betreffend.

Beide Definitionen aus Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwörter Immunologie und metabolisch.

Fallbezogen von Bedeutung ist nur die pharmakologische Wirkung eines Stoffes. Aus wissenschaftlicher Sicht ist unter Pharmakologie die Lehre von den Wechselwirkungen zwischen Arzneistoffen und Organismus zu verstehen einschließlich dem Untergebiet Toxikologie.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Pharmakologie.

Die Pharmakologie betrifft ambivalent sowohl die Heilwirkung als auch die Giftwirkung eines Stoffes. Auch die Klägerin bezieht in ihrem Schriftsatz vom 6.12.2005 die toxische Dosierung in die pharmakologische Wirkung ein. Aus wissenschaftlicher Sicht bedeutet ein Pharmakon einen körperfremden oder körpereigenen Stoff, der nach Aufnahme im Körper oder an dessen Oberfläche erwünschte oder schädliche Wirkungen hervorruft.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Pharmakon.

Aus der Sicht der Pharmakologie wirken viele Pharmaka dosisabhängig entweder als Arzneimittel oder als Gift.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Pharmakon.

Quantitativ wird das in der Dosis-Wirkungs-Kurve erfasst.

Hunnius, Stichwort Dosis-Wirkungs-Kurve.

Bei diesem wissenschaftlichen Verständnis umfasst das Funktionsarzneimittel mit seiner pharmakologischen Wirkung nicht nur den Bereich einer positiven, therapeutischen Beeinflussung der Körperfunktionen, sondern auch den Bereich einer negativen, schädlichen Beeinflussung der Körperfunktionen. Kurz gesagt umfasst ein Funktionsarzneimittel positive und negative Auswirkungen auf die Gesundheit.

Das dargelegte wissenschaftsbezogene Verständnis der Definition entspricht auch dem praktischen Verständnis der europäischen Definition nach der Rechtsprechung des EuGH.

Der EuGH hat in einer neueren Entscheidung vom 29.4.2004 – C – 387/99 – betreffend Vitaminpräparate, Rz. 58, eine allgemein verständliche Definition des europäischen Funktionsarzneimittels gegeben:

Für die Einstufung eines Erzeugnisses als Arzneimittel nach der Funktion müssen sich die Behörden daher vergewissern, dass es zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der Körperfunktionen bestimmt ist und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben kann.

Aus demselben Urteil des EuGH vom 29.4.2004 ergibt sich auch, dass er die Auswirkungen auf die Gesundheit ambivalent, als sowohl positiv als auch negativ versteht, da er im Rz. 56 die positive Wirkung der Vitamine zu therapeutischen Zwecken und in Rz. 60 die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Gesundheit einschließlich etwaiger Schädlichkeitsgrade anspricht.

Die ambivalenten heilenden oder schädigenden Gesundheitswirkungen machen wie dargelegt die Besonderheit eines Pharmakons aus. Auf der Normebene hat erst die Änderungsrichtlinie 2004/27/EG die pharmakologische Wirkung ausdrücklich in die Definition des Funktionsarzneimittels aufgenommen. Damit hat der Richtliniengeber aber kein Neuland betreten, sondern die bisherige Rechtsprechung des EuGH übernommen, der in ständiger Rechtsprechung auf die pharmakologischen Eigenschaften des abzugrenzenden Produkts abstellt.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 – betreffend Vitaminpräparate Rz. 62; Upjohn Urteil vom 16.4.1991 – C – 112/89 -, Rz. 23, 24; Delattre-Urteile vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 26.

Die pharmakologischen Eigenschaften des Produkts werden damit als wesentlicher Gesichtspunkt für die Abgrenzung betrachtet. In der Rechtsprechung des EuGH drücken die pharmakologischen Eigenschaften zusammenfassend das aus, was mit der Beeinflussung der Körperfunktionen und somit Auswirkungen auf die Gesundheit konkreter umrissen ist. Deutlich wird der Zusammenhang insbesondere in dem Urteil Upjohn vom 16.4.1991 – C – 112/89 -, Rz. 17-24, in dem zunächst die Beeinflussung der Körperfunktionen mit Auswirkungen auf die Gesundheit dargelegt wird (Rz. 17), im Folgenden die Beeinflussung der Körperfunktionen näher erläutert wird (Rz. 19-22) und im unmittelbaren Anschluss daran (Rz. 23 und 24) zusammenfassend entschieden wird, dass das nationale Gericht auf die pharmakologischen Eigenschaften des betreffenden Erzeugnisses abstellen muss.

Übereinstimmend mit der bisherigen Rechtsprechung definiert der EuGH in seinem Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 52, den Rechtsprechungsbegriff der pharmakologischen Eigenschaften wirkungsbezogen wie folgt:

Die pharmakologischen Eigenschaften eines Erzeugnisses sind der Faktor, auf dessen Grundlage die mitgliedstaatlichen Behörden ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten dieses Erzeugnisses zu beurteilen haben, ob es im Sinne des Artikels 1 Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 dazu bestimmt ist, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden.

Die dargelegte Definition der pharmakologischen Eigenschaften klingt etwas kompliziert, fasst aber nur die bisherige Rechtsprechung zusammen, wonach der Begriff der pharmakologischen Eigenschaften konkret die Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen (Körperfunktionen) bedeutet. Die pharmakologischen Eigenschaften entsprechen also den pharmakologischen Wirkungen im Sinne des neuen Rechts.

Nach dem dargelegten Gesamtzusammenhang ist der bisherige Rechtsprechungsbegriff der pharmakologischen Eigenschaften von dem Richtliniengeber in der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG in Form einer pharmakologischen Wirkung in den Normtext aufgenommen worden. Die im Jahr 2004 geänderte Definition des Funktionsarzneimittels führt mithin nicht zu einer substanziellen Rechtsänderung.

In der Substanz der europäischen Arzneimitteldefinition geht es nach wie vor darum, ob ein Produkt zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der Körperfunktionen bestimmt ist und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben kann.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, betreffend Vitaminpräparate, Rz. 58.

Klar zu unterscheiden von der Auslegung der europäischen Normen, die der EuGH vorgenommen hat, ist die Rechtsanwendung. Im Lactobactfall des EuGH zielte die Vorlagefrage 1 a des OVG Münster, vgl. in der Wiedergabe des EuGH Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 25, unmittelbar auf die Feststellung, ob das Produkt Lactobact Lebensmittel oder Arzneimittel ist mit gegebenenfalls Verbindlichkeit für alle Mitgliedstaaten. Der EuGH hat in dem Lactobact-Urteil (Rz. 96) mit Blick auf die klare Aufgabentrennung zwischen nationalen Gerichten und Gerichtshof klargestellt, dass er im Vorlageverfahren nicht befugt ist über den Sachverhalt zu entscheiden und dass es vielmehr Sache des vorlegenden Gerichts ist, die Einstufung selbst vorzunehmen (Rz. 97). Ungeachtet dessen hat der EuGH in dem Lactobact-Urteil sowie schon zuvor Rechtsanwendungshinweise gegeben, die sich im Sinne einer Vollständigkeitsanforderung zusammenfassen lassen. Bei der Beurteilung eines Erzeugnisses müssen die Behörden (Lactobact-Urteil Rz. 51), alle seine Merkmale, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen Eigenschaften – wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen -, die Modalitäten seines Gebrauchs, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann, berücksichtigen.

Zur Klarstellung weist der Senat aber darauf hin, dass die Berücksichtigung sämtlicher Merkmale nicht deren Gleichrangigkeit bedeutet. Während die Wirkungen des Produkts auf die Körperfunktionen und damit die Gesundheitsauswirkungen als pharmakologische Eigenschaften schon definitionsgemäß wesentliche Bedeutung haben, hat der EuGH im Lauf seiner Rechtsprechung die Bedeutung der anderen Merkmale zu Hilfsmerkmalen herabgestuft. So hat er entschieden, dass etwa die äußere Form des Produkts kein allein ausschlaggebendes Indiz ist und die Modalitäten des Gebrauchs ein nicht an sich ausschlaggebender Umstand sind.

Vgl. zum Ersteren Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 38 und zum Letzteren Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 31.

Weiterhin hat eine unterschiedliche Verbreitung und Verbraucherbekanntheit des Produkts als Arzneimittel oder Lebensmittel in verschiedenen Mitgliedstaaten keine unmittelbar ausschlaggebende Wirkung, da der EuGH die unterschiedliche Einstufung von Erzeugnissen als Arzneimittel oder Lebensmittel in verschiedenen Mitgliedstaaten als rechtlich zulässig betrachtet.

EuGH im Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 56.

Nach der BGH-Rechtsprechung haben für die Produkteinstufung nach dem gemeinschaftsrechtlichen Arzneimittelbegriff Werbeangaben in Zeitschriften verglichen mit den pharmakologischen Wirkungen keine ausschlaggebende Bedeutung.

BGH, Urteil vom 11.7.2002 – I ZR 273/99 -, Juris-Ausdruck Rz. 23.

Der BGH gewichtet die pharmakologische Wirkung der Präparate deutlich stärker als die Verbraucherkenntnisse aus den Medien, was auch dem Sinn der EuGH-Rechtsprechung entspricht. Der EuGH schließt nicht aus, dass ein Produkt im Verkehr im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird, aber dennoch ein Arzneimittel im Sinne des europäischen Rechts ist.

EuGH, Urteil Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 21.

Die allgemeine Verkehrsauffassung ist also nicht ausschlaggebend.

Damit sind die Grundlagen der Einstufung eines Produkts als europäisches Funktionsarzneimittel geklärt.

Auf der dargelegten Grundlage bedarf es einer konkreten Prüfung, ob das Produkt der Klägerin ein Funktionsarzneimittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts ist.

Der Senat nimmt diese Prüfung von Amts wegen vor, worauf die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung hingewiesen worden sind. Dabei sind die von den Beteiligten vorgelegten wissenschaftlichen Unterlagen und Gutachten gleichrangig heranzuziehen.

Nach der vom EuGH geforderten Berücksichtigung aller Merkmale des Produkts ist zunächst die Zusammensetzung zu betrachten. Ausweislich der fotokopierten Faltschachteln von 2002 und 2005 (VG-Akte Bl. 93/94 und OVG-Akte 3 R 7/05 Bl. 51) besteht das Mittel abgesehen von hier nicht interessierenden Tablettenhilfsstoffen nur aus einem Inhaltsstoff, nämlich indischem Weihrauchtrockenextrakt von 400 mg pro Tablette; die Verzehrempfehlung lautet:

Täglich 1 Tablette nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit verzehren.

Die neue Faltschachtel von 2005 enthält zusätzlich den Hinweis, dass die täglich empfohlene Verzehrempfehlung nicht überschritten werden soll. Aus der Verzehrempfehlung ergibt sich zugleich, dass der Inhaltsstoff im menschlichen Körper verwendet werden soll.

Sodann sind im Sinne des EuGH Prüfungsschwerpunkt die pharmakologischen Eigenschaften des Inhaltsstoffs Weihrauch. Es kommt darauf an, ob Weihrauchextrakt physiologische Funktionen beeinflusst, und zwar durch eine pharmakologische Wirkung. Wie bereits dargelegt bedeutet die Prüfung einfacher ausgedrückt, ob Weihrauchextrakt Körperfunktionen beeinflusst mit positiven oder negativen Auswirkungen auf die Gesundheit.

Nach den dem Senat vorliegenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Gutachten zum Wirkstoff Weihrauch handelte es sich ursprünglich um ein traditionelles Mittel in Indien.

Vgl. umfassend die auf Anregung der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) durchgeführte Veröffentlichung von Privatdozent Safayhi und Prof. Dr. Ammon, Pharmakologische Aspekte von Weihrauch und Boswelliasäuren, im Folgenden zitiert als Safayhi/Ammon, in: Sonderdruck der Pharmazeutischen Zeitung Nr. 39, 142. Jahrgang 1997, S. 1 ff., dort S. 1 und S. 2; weiter Ammon Kurzbericht, Salai-Guggal – (Indischer Weihrauch), Gummiharz aus Boswellia serrata, in: Deutsches Ärzteblatt 95, Januar 1998, S. A-30 ff, im folgenden zitiert als Kurzbericht Ammon, dort S. A-30; zur traditionellen therapeutischen Verwendung in Asien und zur Herstellung des Therapeutikums in Indien; vgl. das von der Klägerin vorgelegte Gutachten von Prof. Dr. Bertram vom 22.2.2001 zur pharmakologischen Wirkung von Weihrauch, im Folgenden zitiert als Gutachten Bertram, dort S. 1 und S. 2.

Der Klägerin ist zuzustimmen, dass die Zuordnung eines Produkts zur traditionellen Ayurveda-Medizin ganzheitlich auch im Sinne einer gesunden Lebensweise mit geeigneten Lebensmitteln zu verstehen sein kann und für sich genommen nicht eine pharmakologische Wirkung nach modernen Wissenschaftsmaßstäben indiziert, vgl. zum ganzheitlichen Konzept der Ayurveda (Wissen vom Leben) Roche Lexikon Medizin, 5. Auflage 2003, Stichwort Ayurveda.

Die pharmakologischen Wirkungen der Hauptinhaltsstoffe von Weihrauch wurden indes in jüngster Zeit wissenschaftlich erforscht, und zwar in Untersuchungen ab 1986.

Gutachten Bertram, S. 1, und Jahreszahl bei Safayhi/Ammon, S. 2.

Das Hauptergebnis der bisherigen Forschung liegt nach der Angabe von Fachlexika sowie nach den von beiden Beteiligten vorgelegten wissenschaftlichen Unterlagen und Gutachten darin, dass Weihrauchextrakt mit seinem Gehalt an Boswelliasäuren Entzündungsprozesse beeinflusst.

Safayhi/Ammon, mit ausführlicher Darlegung der Entzündungsmodelle, S. 2 – S. 5; Kurzbericht Ammon, S. A-30; Gutachten Bertram, S. 2, wobei die Bezeichnung antiphlogistische Wirkungen entzündungshemmende Wirkungen bedeutet; Roche Lexikon Medizin, 5. Aufl. 2003, Stichwort Boswellia serrata, mit Hinweis auf die nachgewiesene Wirkung bei den Entzündungskrankheiten Colitis ulcerosa und Enteritis regionalis (Crohn-Krankheit) sowie unterstützend bei Polyarthritis; zurückhaltender im Sinne zugeschriebener Wirkungen bei Entzündungskrankheiten Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Aufl. 2004, Stichwort Boswellia serata unter Weiterverweisung auf das Stichwort Boswellia bhaw-dajiana; zurückhaltend ebenfalls das von der Klägerin vorgelegte Gutachten Reuss, S. 1, wonach Weihrauch nach vorliegenden wissenschaftlichen Publikationen eine arzneiliche Wirkung haben soll und es (S. 2) für entzündliche Erkrankungen einen therapeutisch beanspruchten Anwendungsbereich gibt, positiv Bertsche/Schulz, Kurzbewertung, 2002, Berufungsakte 3 R 7/05 Bl. 71 R.; ebenso Gupta u.a., 2001, Zusammenfassung einer Forschungsarbeit zur Colitis, Berufungsakte 3 R 7/05, Bl. 75.

Die bei chronischen Entzündungen ablaufenden soweit hier einschlägigen Körperprozesse sind bei Safayhi/Ammon S. 2 und 3, als Kausalketten im Sinne eines Entzündungsmodells zusammengefasst. Danach ist die 5 – Lipoxygenase das Schlüsselenzym der Leukotrienbiosynthese. Die Produkte der 5 – Lipoxygenase, die Leukotriene, sind hochwirksame Mediatoren (Förderer) chronischer Entzündungen. Pharmazeutisch gesucht zur Entzündungsbekämpfung werden mithin Inhibitoren (Hemmstoffe), die bereits das Schlüsselenzym, die 5 – Lipoxygenase, hemmen. Solche Hemmstoffe sind zwar in der Forschung bekannt, haben aber regelmäßig reduzierende oder oxidierende Eigenschaften und wirken sich deshalb toxisch aus. Pharmazeutisch gesucht werden deshalb Inhibitoren der chronischen Entzündungen mit besserer Verträglichkeit. Die Boswelliasäuren – chemisch Triterpene - als Inhaltsstoffe des Weihrauchs erweisen sich nach den Forschungsergebnissen als nicht reduzierende oder oxidierende und insofern einmalige Hemmstoffe der Leukotriensynthese und damit chronischer Entzündungen (Safayhi/Ammon S. 4 mit einem Diagramm). Der bei Safayhi/Ammon eingehend dargelegte Wirkungsmechanismus der Leukotrienhemmung wird in anderen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und im Gutachten Bertram der Klägerin kurz dargestellt oder erwähnt.

Kurzbericht Ammon, a.a.O., S. A-31; Kurzbewertung Bertsche/Schulz, S. 1; das von der Klägerin vorgelegte Gutachten Bertram, S. 2/3; zurückhaltend Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, Stichwort Boswellia serrata unter Weiterverweisung auf Boswellya bhaw-dajiana, positiv Bertsche/Schulz, S. 1; Gupta u.a., Zusammenfassung S. 1.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Boswelliasäuren, allerdings in wesentlich höheren Konzentrationen, auch zur Behandlung von Hirnödemen bei Tumoren eingesetzt werden.

Safayhi/Ammon, S. 7, dort zu einer täglichen Dosis von 3600 mg, Bertsche/Schulz, S. 2: mindestens 3600 mg.

Begrenzt auf die Behandlung von Ödemen bei Gehirntumoren und damit auf diesen hoch dosierten Anwendungsbereich ist der vorgelegte Bescheid der Europäischen Kommission vom 21.10.2002 (Berufungsakte Bl. 69 R) ergangen, der Weihrauchextrakt als potenzielles Arzneimittel für diese seltene Krankheit ausweist; auf die Rechtswirkung dieses Bescheides ist noch einzugehen.

Vorliegend ist wesentlich, dass Weihrauchextrakt abgesehen von diesem seltenen Anwendungsbereich ganz allgemein Entzündungen beeinflusst.

Der dargelegte Wirkungsmechanismus bei Entzündungen bedeutet im Sinne der Definition des EuGH, dass die Körperfunktionen beeinflusst werden, und zwar mit Auswirkungen auf die Gesundheit. Chronische Entzündungen werden mit positiver Gesundheitswirkung gehemmt. Bei dem Eingriff in die bei Entzündungen ablaufenden Körperprozesse handelt es sich um eine pharmakologische Wirkung hier im Sinne einer positiven therapeutischen Einwirkung. Eine pharmakologische Wirkung von Weihrauch wird in der Veröffentlichung von Safayhi/Ammon (S. 8) ausdrücklich bejaht. Auch das von der Klägerin selbst vorgelegte Gutachten Bertram gibt an, dass die pharmakologischen Wirkungen der Hauptinhaltsstoffe von Weihrauch erst in jüngster Zeit systematisch beforscht wurden (S. 1), weist auf antientzündliche Wirkungen hin und gibt dazu den wahrscheinlichen Wirkmechanismus an (S. 2).

Damit ist aber nach den vorliegenden Forschungsergebnissen die Wirkung von Weihrauchextrakt auf Entzündungsprozesse noch nicht erschöpft. Weihrauchextrakt kann auch den umgekehrten Effekt haben, dass er – nunmehr in niedriger Konzentration – Entzündungsprozesse fördert. Die pharmakologische Wirkung soll vom Sinn her - dem Gesundheitsschutz des Verbrauchers - die ambivalenten Gesundheitswirkungen insgesamt erfassen. Insofern greift die Argumentation der Klägerin zu kurz, die negative Gesundheitsauswirkungen nur bei Überdosierung, nicht bei Unterdosierung in den Blick nimmt. Ergeben wie hier beim Weihrauchextrakt Forschungsergebnisse eine negative Gesundheitsauswirkung ausnahmsweise bei Unterdosierung, muss sie zum Gesundheitsschutz auch rechtlich als pharmakologische Wirkung beachtet werden.

Das „Umkippen“ der Wirkung erklärt sich aus der chemischen Vielfalt von Weihrauchextrakt. Es gibt keinen einheitlichen Wirkstoff Boswelliasäure, sondern unterschiedliche Boswelliasäuren mit unterschiedlichen pharmazeutischen Wirkungen.

Bertsche/Schulz, S. 1; konkreter zu den unterschiedlichen Boswelliasäuren und ihren Wirkungen vgl. bei Safayhi/Ammon, S. 4, die Tabelle 1; zum Gehalt von indischem Weihrauch an pentazyklischen (fünfringigen) Triterpensäuren und tetrazyklischen (vierringigen) Triterpensäuren Gutachten Bertram, S. 2.

Wesentlich ist das Zusammenwirken der Inhaltsstoffe, die auch antagonistisch (im Sinne der Gegenwirkung) wirken können.

Safayhi/Ammon S. 5 und S. 8, Bertsche/Schulz, S. 1.

Eine hinreichend starke Gegenwirkung bedeutet konkret, dass Weihrauchextrakt dann die Leukotriensynthese und damit den chronischen Entzündungsprozess verstärkt. Gerade für einen solchen Umkehreffekt liegen Forschungsergebnisse vor.

Schlusswort Ammon als Ergänzung des Kurzberichts in: Deutsches Ärzteblatt 95, Oktober 1998, S. A-2482, im Folgenden zitiert als Schlusswort Ammon; ebenso als Forschungsergebnis berücksichtigt in dem von der Klägerin selbst vorgelegten Gutachten Bertram vom 22.2.2001, S. 3; Bertsche/Schulz, S. 1.

Verantwortlich gemacht für den Umkehreffekt werden die Tirucallsäuren.

So als positive Feststellung Bertsche/Schulz, S. 1; als Möglichkeit Gutachten Bertram, S. 3.

Konsequenterweise sehen Bertsche/Schulz die im Weihrauchextrakt enthaltenen Tirucallsäuren als pharmakologisch wirksame Substanzen an.

Bertsche/Schulz, S. 1.

Die Tirucallsäuren wirken bereits bei niedriger Dosierung des Stoffgemischs, die Boswelliasäuren erst bei höherer Dosierung.

In dem zitierten Schlusswort von Ammon (S. A-2482) wird nochmals hervorgehoben, dass Weihrauchextrakte nicht eine einzelne Wirksubstanz enthalten, sondern ein Gemisch von Wirksubstanzen mit nicht einheitlichem Wirkungsmechanismus. Sodann ist ausgeführt, dass die richtige Dosierung eine wesentliche Rolle spielt. Das räumt auch die Klägerin ein. Danach heißt es wörtlich:

Bei niedriger Dosierung eines Extraktes kann es sogar zu einer Stimulierung der Leukotriensynthese kommen.

Wie bereits dargelegt bedeutet die Stimulierung der Leukotriensynthese auch eine Verstärkung der chronischen Entzündungsprozesse und damit eine pharmakologisch negative Wirkung. Das von der Klägerin selbst vorgelegte Gutachten Bertram, S. 3, bestätigt dieses Forschungsergebnis, dass in niedriger Dosierung die Bildung von 5 – Lipoxygenaseprodukten erhöht sein kann und fügt hinzu, diesem Befund müsse weiter nachgegangen werden. Die im Gutachten Bertram genannten 5 – Lipoxygenaseprodukte sind gerade die Leukotriene und fördern als Mediatoren chronische Entzündungen.

Ausführlich zu der gesamten Kausalkette Safayhi/Ammon, S. 3, und kurz zusammengefasst Gutachten Bertram, S. 2.

Das einleuchtend mit der antagonistischen Wirkung und damit mit der Wirkung einzelner Wirkstoffe des Stoffgemischs Weihrauch – Tirucallsäuren - erklärte Forschungsergebnis muss bei den pharmakologischen Wirkungen von Weihrauch beachtet werden.

Die vom Senat aus Verständnisgründen zunächst nur qualitativ dargelegte pharmakologische Wirkung bedarf mit Blick darauf, dass das Produkt der Klägerin eine Tagesdosis von 400 mg Weihrauch in Form einer Tablette empfiehlt, nun auch einer quantitativen Darlegung. Von dieser empfohlenen Menge – die nach der neuen Packungsangabe auch nicht überschritten werden soll – ist vernünftigerweise auszugehen. Die von dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in seiner Stellungnahme vom 29.9.2005 erwähnte Möglichkeit einer Mehrfacheinnahme würde im Grunde jede Dosierungsvorschrift bei anerkannten Arzneimitteln entwerten und überzeugt schon deshalb nicht. Die Kritik der Klägerin an dieser Stellungnahme trifft zu.

Nach den vorliegenden Forschungsergebnissen ist das quantitative Spektrum pharmakologischer Wirkungen (positiv und negativ) des Weihrauchs relativ weit. Nach übereinstimmenden Feststellungen von Safayhi/Ammon, S. 7, und dem Bertramgutachten, S. 3, werden insbesondere Tumorpatienten mit der hohen Tagesdosis von 3600 mg Weihrauch-Trockenextrakt in wissenschaftlichen Studien behandelt. In diesem hoch dosierten Bereich ist auch der positive Bescheid der Europäischen Kommission vom 21.10.2002 zur Ausweisung als Forschungsarzneimittel ergangen. Die Grenze guter Verträglichkeit von Weihrauchextrakt liegt in der Regel bei 1200 mg pro Tag, während hohe Dosen von 3600 mg pro Tag zu Nebenwirkungen führen können.

Safayhi/Ammon, S. 7, zu relativ seltenen Nebenwirkungen Bertsche/Schulz, S. 2.

Für die im vorliegenden Rechtsstreit erhebliche Hauptwirkung von Weihrauch, die antientzündliche Wirkung, wird nach den im Wesentlichen übereinstimmenden Veröffentlichungen und Gutachten eine Tagesdosis von ungefähr 800 bis 1600 mg verabreicht.

So Gutachten Reuss vom 10.1.2001, S. 2, mit Blick auf die publizierten Studien; ähnlich Safayhi/Ammon mit der Tagesdosis von 800 bis 2000 mg in einer Pilotstudie (S. 5) und der Verabreichung von 1050 mg bei Colitis ulcerosa (S. 7); das Gutachten Bertram kommt allerdings unter Einschluss der sehr hohen Dosierungen bei Tumorpatienten (S. 3) zu einer höheren pharmakologischen Dosis zwischen insgesamt 900 und 3600 mg am Tag (S. 4); Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 29.9.2005: ab 900 mg; Bertsche/Schulz, S. 1 und 2: 900 mg bei Asthma, mindestens 3600 mg bei Ödemen.

Eine positive Wirkung auf Entzündungen ist nach dem Forschungsstand, wie er dem Senat aus den vorliegenden Unterlagen ersichtlich ist, mithin ungefähr bei einer Tagesdosis von 800 bis 1600 mg gegeben.

Von der regelmäßigen pharmakologischen Tagesdosis von 800 bis 1600 mg ist der tiefer liegende untere Dosisbereich bei Weihrauch zu unterscheiden. Den unteren Dosisbereich siedelt das Gutachten Bertram bei einer Tagesdosis unter 500 mg an, wie sie hier vorliegt.

Gutachten Bertram vom 22.2.2001, S. 1 (unterer Dosisbereich) im Zusammenhang mit S. 4 (Tagesdosis unter 500 mg).

Da die Untergrenze des positiven therapeutischen Einsatzes von Weihrauchextrakt nach den vorliegenden Veröffentlichungen und Gutachten wie dargelegt bei 800 bis 900 mg Tagesdosis liegt, ist die Hälfte der Untergrenze (ca. 450 mg) sicherlich als niedrige Dosierung anzusehen.

Gerade bei einer niedrigen Dosierung von Weihrauchextrakt kommen nach den dargelegten Forschungsergebnissen aber die antagonistischen Wirkungen des Stoffgemischs aus Boswelliasäuren und Tirucallsäuren zur Geltung. Das Forschungsergebnis der Stimulierung der Leukotriensynthese und damit der Verstärkung von Entzündungsprozessen betrifft den Fall der niedrigen Dosierung des Weihrauchextraktes.

Übereinstimmend Schlusswort Ammon, S. A-2482, Gutachten Bertram, S. 3, und Bertsche/Schulz, S. 1 und 2.

Die dem Gericht vorliegenden Forschungsunterlagen und Gutachten enthalten keine Gegenfeststellung, die dieser antagonistischen Wirkung konkret widerspricht. Konsequenterweise kommen Bertsche/Schulz (S. 1) zu dem Ergebnis, dass die im Weihrauchextrakt enthaltenen Tirucallsäuren als Verursacher des Umkehreffekts in niedriger Konzentration des Weihrauchextrakts pharmakologisch wirksame Substanzen sind.

Diese Konsequenz ziehen die von der Klägerin selbst vorgelegten Gutachten zwar nicht. Die von der Klägerin vorgelegten Gutachten Bertram und Reuss kommen nur deshalb zum Ausschluss einer pharmakologischen Wirkung in niedriger Dosis, weil sie die maßgebende pharmakologische Wirkung auf die therapeutische Wirkung einengen.

Das Gutachten Reuss (S. 2) nimmt von vornherein nur den therapeutisch beanspruchten Anwendungsbereich in den Blick und schließt die therapeutisch verstandene pharmakologische Wirkung bei einer niedrigen Dosis von 30 % beziehungsweise 50 % der üblichen Dosis aus. Nichts anderes gilt für das Gutachten Bertram (S. 4). Die Bewertung der Dosisbereiche wird mit Blick auf den ausdrücklich angeführten therapeutischen Erfolg vorgenommen, und insoweit einer Tagesdosis unter 500 mg keine pharmakologische Wirkung mehr beigemessen. Nur bei dieser aus dem Gutachtentext ersichtlichen Auslegung bleibt das Gutachten widerspruchsfrei, denn der Gutachter Bertram hat bei der Betrachtung des Wirkmechanismus durchaus gesehen (S. 3), dass bei niedrigerer Dosierung die Bildung von Entzündungsverstärkern erhöht sein kann.

Nach allem ist ersichtlich, dass beide von der Klägerin vorgelegten Gutachten Bertram und Reuss nur den therapeutisch beanspruchten Anwendungsbereich bei niedriger Dosierung ausschließen. Eine positive Wirkung fehlt nach den Gutachten in diesem Bereich und eine negative Wirkung wird ausgeblendet.

Entscheidend sind aber die Forschungsergebnisse über einen Umkehreffekt bei niedriger Dosis. Die Hauptwirkung auf Entzündungsprozesse kehrt sich um. Diese Forschungsergebnisse werden in den vorliegenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Gutachten an keiner Stelle konkret angegriffen. Die Forschungsergebnisse sind auch mit Blick auf den dargelegten antagonistischen Effekt des Stoffgemischs für das Gericht einleuchtend nachvollziehbar und überzeugend. Die Tirucallsäuren wirken bereits bei niedriger Dosierung des Stoffgemischs, die Boswelliasäuren erst bei höherer Dosierung. Mithin besteht zwischen den Gutachten und den wissenschaftlichen Veröffentlichungen insgesamt kein konkreter fachlicher Widerspruch, der die Einholung eines Obergutachtens durch den Senat bei der von Amts wegen durchgeführten Prüfung aufdrängen würde.

Nach der dargelegten Würdigung hat das Wirkstoffgemisch Weihrauch bei einer Gesamtbetrachtung der positiven und negativen pharmakologischen Wirkungen ein weites Spektrum der pharmakologisch wirksamen Tagesdosis.

Eine hohe Tagesdosis von etwa 3600 mg entspricht der Ödembehandlung von Tumorpatienten und ist Gegenstand einer europäischen Ausweisung als Forschungsarzneimittel.

Die positive pharmakologische Wirkung im Sinne einer Therapie von Entzündungen besteht in einem Dosisbereich etwa zwischen 800 und 1600 mg Tagesdosis.

Bei einer niedrigen Tagesdosis von 400 bis 500 mg gibt es unwidersprochene Forschungsergebnisse im Sinne einer Verstärkung von Entzündungen insbesondere durch Tirucallsäuren und damit einer negativen pharmakologischen Wirkung. Eine Gesundheitsgefahr ist hier dem Grunde nach zu bejahen. Mit Blick auch auf die antagonistischen Wirkungen kommt auch die wissenschaftliche Veröffentlichung Safayhi/Ammon (S. 8) zu dem Ergebnis, von einer freizügigen Abgabe von Weihrauch sei abzuraten. Bertsche/Schulz warnen mit Blick auf den Umkehreffekt vor nicht ausreichend hoher Dosierung und befürworten sogar die Hochdosierung von 3600 mg.

Bertsche/Schulz, S. 2.

Daran gemessen fällt die tägliche Einnahme von 400 mg Weihrauchextrakt erkennbar in den zu vermeidenden niedrigen Dosisbereich.

Nach allem ist eine Beeinflussung von Körperfunktionen mit pharmakologischer Wirkung und damit positiven oder negativen Auswirkungen auf die Gesundheit für Weihrauchextrakt nicht nur in hohen, sondern auch in niedrigen Tagesdosen wie hier von 400 mg aufgrund der Forschungsergebnisse zu bejahen.

Gesundheitsgefahren sind bei einem Funktionsarzneimittel in jedem Fall zu berücksichtigen.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 - C-211/03 -, Rz. 53, dort als eigenständiger Faktor hervorgehoben.

Die bereits dargelegte gemeinschaftsrechtliche Definition des Funktionsarzneimittels in der Arzneimittelrichtlinie ist erfüllt, da eine Beeinflussung physiologischer Funktionen durch pharmakologische Wirkungen nach dem Forschungsstand zu bejahen ist. Weihrauch hat die pharmakologische Wirkung, dass er die Körperfunktionen bei Entzündungsprozessen mit Auswirkungen auf die Gesundheit beeinflusst.

Mit der Betrachtung der pharmakologischen Eigenschaften des Wirkstoffs in dem streitigen Produkt der Klägerin ist die Subsumtion erst im Schwerpunkt abgeschlossen.

Wie dargelegt bedarf es nach der Rechtsprechung des EuGH für die Einstufung eines Produkts der Berücksichtigung aller seiner Merkmale. Dazu gehören über die geprüfte Zusammensetzung, die pharmakologischen Eigenschaften und die Risiken hinaus noch die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung und die Bekanntheit bei den Verbrauchern.

EuGH im Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 51.

Mithin sind noch diese Hilfsmerkmale nachfolgend zu berücksichtigen.

Zu beginnen ist mit den Modalitäten des Gebrauchs. Nach der Anweisung auf der Faltschachtel ist täglich eine Tablette nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit zu verzehren. Darin liegt einerseits die für Arzneimittel übliche Einnahme, andererseits werden nach Artikel 2 Buchstabe a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG Nahrungsergänzungsmittel ebenfalls in dosierter Form unter anderem in Tablettenform eingenommen. Das Merkmal ist also nicht trennscharf. Auch der EuGH hat dem Umstand, dass ein streitiges Erzeugnis nach der Gebrauchsanweisung in Wasser oder Joghurt verrührt werden sollte, keine an sich ausschlaggebende Bedeutung beigemessen.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 31.

Als nächster Gesichtspunkt ist die Verbreitung des weihrauchhaltigen Produkts der Klägerin in den Blick zu nehmen. Die Klägerin importiert ihr Produkt aus Österreich und bringt es als Nahrungsergänzungsmittel auf den deutschen Markt. Werbung für ihr Produkt wie für ein Arzneimittel betreibt sie nach der insoweit unwidersprochenen Klagebegründung (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 15) nicht. Das namensgleiche Produkt wird in Österreich selbst ebenfalls als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebracht, indessen nicht von der Klägerin, sondern von der Firma G. Die Firma G hat das namensgleiche Produkt in Österreich als Verzehrprodukt angemeldet (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 27) und betreibt in Österreich nach dem belegten Vortrag des Beklagten Werbung für die entzündungshemmende Wirkung der namensgleichen Weihrauchtabletten ebenfalls mit dem Inhalt von 400 mg Weihrauch.

Vortrag des Beklagten im Schriftsatz vom 17.10.2002, S. 2 (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 111) und Auszug aus der Homepage der österreichischen Firma (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 113).

Weiterhin ist das namensgleiche Produkt nach dem belegten Vortrag der Klägerin in Großbritannien als Nahrungsmittel im freien Verkehr.

Bescheinigung des britischen Agrarministers vom 9.8.2001, Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 28.

Ergänzend ist noch die Verbreitung von nicht namensgleichen Konkurrenzprodukten mit dem identischen Inhaltsstoff Weihrauch in den Blick zu nehmen. Insoweit hat die Klägerin nachgewiesen, dass auf dem deutschen Apothekenmarkt ausweislich des zentralen Bestellsystems der Lauer-Taxe insgesamt 11 nicht namensgleiche Weihrauchprodukte als Nahrungsergänzungsmittel bestellt werden können.

Schriftsatz vom 11.8.2005, S. 3/4, OVG Akte 3 R 7/05 Bl. 20/21 mit Anlage K 22, OVG Akte Bl. 23 ff..

Bei einer Würdigung der Verbreitung des namensgleichen Produkts der Klägerin muss gesehen werden, dass das Produkt in drei Staaten der EU – Österreich, Deutschland und Großbritannien - als Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt ist. In Österreich wird es – allerdings nicht von der Klägerin – von der vertreibenden Firma als entzündungshemmend und damit wie ein Arzneimittel beworben.

Zur rechtlichen Qualifizierung vgl. das Urteil des EuGH Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 – Rz. 27, wonach eine Veröffentlichung des Herstellers oder Verkäufers mit der Bezeichnung therapeutischer Wirkungen als entscheidendes Indiz für die Absicht des Herstellers oder Verkäufers anzusehen ist, das Erzeugnis als Präsentationsarzneimittel in den Verkehr zu bringen.

Eine Verkehrsgenehmigung auf EU-Ebene hat hoch dosierter Weihrauchextrakt als Mittel gegen Gehirnödeme noch nicht, wohl aber den Status eines Forschungsarzneimittels.

Den vom Beklagten vorgetragenen Import von Weihrauchextrakt als Fertigarzneimittel aus der Schweiz und aus Indien hält die Klägerin für unzulässig, da es im Fall der Schweiz an einer landesweiten Arzneimittelzulassung und im Fall Indiens an einer mit deutschem Recht vergleichbaren Zulassung fehle, vielmehr Weihrauchextrakt in Indien ein Lebensmittel sei und der Lebensmittelüberwachung unterliege. Dieser Vortrag kann zugunsten der Klägerin als richtig unterstellt werden.

In diesem Fall spricht der Gesichtspunkt der Verbreitung eher für die Einordnung als Lebensmittel. Er hat aber verglichen mit den festgestellten pharmakologischen Wirkungen des Produkts keine für sich entscheidende Bedeutung.

Sodann ist als weiteres Merkmal noch wie dargelegt die Bekanntheit des Produkts bei den Verbrauchern zu würdigen.

Die Klägerin nimmt an, ihr Weihrauchprodukt sei insbesondere mit Blick auf das deutsche Apothekensortiment mit zahlreichen weiteren Weihrauchprodukten als Nahrungsergänzungsmittel dem informierten deutschen Verbraucher als Lebensmittel bekannt. Demgegenüber nimmt der Beklagte an, dem informierten deutschen Verbraucher sei abgesehen von der speziellen Arzneimittelwerbung im Internet für das namensgleiche Produkt in Österreich auch ansonsten durch das Internet die Arzneimitteleigenschaft bekannt, was die Klägerin mit rechtlichen Gesichtspunkten zur Unmaßgeblichkeit von Medienwerbung bekämpft.

Bei der Würdigung der konkreten Verbraucherkenntnisse schließt sich der Senat weder dem Standpunkt der Klägerin noch dem des Beklagten an. Überzeugender erscheint vielmehr das von der Klägerin vorgelegte Gutachten Reuss vom 10.1.2001 (S. 2), wonach die Verkehrsauffassung als mögliches Kriterium für die Abgrenzung zwischen Lebensmitteln und Arzneimitteln im Fall Weihrauch ohne wesentliche Bedeutung ist. Der Gutachter begründet dies damit, dass eine arzneiliche Wirkung beim durchschnittlich informierten deutschen Verbraucher kaum bekannt ist. Eine Bekanntheit von Weihrauch als Nahrungsmittel nimmt der Gutachter aber ersichtlich ebenfalls nicht an, weil anderenfalls die Verkehrsauffassung entgegen seiner Fachmeinung zu einem eindeutigen Ergebnis führte. Die richtige Einordnung von Weihrauch, der eher als Kultmittel bekannt ist, wird einen durchschnittlich informierten Verbraucher kaum berühren. Konkrete Verbraucherkenntnisse über die Lebensmittel- oder Arzneimitteleigenschaft können also nicht erwartet werden.

Der Gesichtspunkt der Verbraucherkenntnisse ist jedenfalls gegenüber den festgestellten pharmakologischen Eigenschaften nicht ausschlaggebend.

Zu den beiden zuletzt genannten Gesichtspunkten der Verbreitung und der Verbraucherkenntnisse führt der Senat noch eine Hilfserwägung durch. Im günstigsten Fall könnte die gerichtliche Würdigung dieser Gesichtspunkte zu dem Ergebnis führen, dass ein Weihrauchprodukt im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird. Selbst diese allgemeine Ansicht würde es aber nicht hindern, dass ein solches Produkt dennoch nach dem europäischen Arzneimittelbegriff als Arzneimittel einzuordnen ist.

So das Urteil des EuGH Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 21, für aus Südamerika eingeführte Kräutertees.

Damit kann der Prüfungsabschnitt über die Einstufung des Produkts der Klägerin als Arzneimittel abgeschlossen werden.

Nach der Überzeugung des Senats ist das weihrauchhaltige Produkt der Klägerin unter Berücksichtigung aller seiner Merkmale, insbesondere seiner Zusammensetzung, seiner pharmakologischen Eigenschaften – wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen – der Modalitäten seines Gebrauchs, des Umfangs seiner Verbreitung, seiner Bekanntheit bei den Verbrauchern und der Risiken nach dem maßgebenden Gemeinschaftsrecht als Funktionsarzneimittel im Sinne sowohl der ursprünglichen Arzneimittelrichtlinie 2001/83/EG als auch der dargelegten Änderungsfassung durch die Arzneimittelrichtlinie 2004/27/EG anzusehen.

Damit führen die bisherigen Prüfungsschritte des Urteils zu dem Doppelergebnis, dass das Produkt der Klägerin mit 400 mg Weihrauchextrakt Tagesdosis nach den europäischen Definitionen sowohl ein Aromastoff und damit ein Lebensmittel ist als auch ein Funktionsarzneimittel mit Blick auf seine antagonistische Wirkung auf Entzündungsprozesse. Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts unterliegt das Produkt mithin nach vollständiger Subsumtion einerseits der Lebensmittelverordnung 178/2002 und zusätzlich der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG, andererseits auch der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG in der ursprünglichen Form und gleichermaßen in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG.

Dieses Doppelergebnis auf der europäischen Rechtsebene bedarf aber einer juristischen Auflösung wegen seiner widersprüchlichen Konsequenzen.

Ein Lebensmittel fällt unstreitig grundsätzlich unter den freien Handelsverkehr der Mitgliedstaaten (vgl. zum Grundsatz Artikel 28 EGV). Anderes gilt für Arzneimittel. Ausnahmen vom Grundsatz der Handelsfreiheit bestehen nach Artikel 30 EGV insbesondere zum Gesundheitsschutz, worunter das Arzneimittelrecht fällt.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 30 Rdnr. 8.

Nach Artikel 6 I der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG bedarf ein Arzneimittel grundsätzlich abgesehen von dem nicht einschlägigen Fall einer unmittelbaren europäischen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung Nr. 2309/93 in jedem Mitgliedstaat einzeln einer Zulassung. Umgesetzt ist diese Regelung im deutschen Recht in § 21 AMG. Unstreitig hat das Produkt der Klägerin weder in der EG noch in einem EG-Staat eine Zulassung als Arzneimittel. Deshalb bedarf das festgestellte Doppelergebnis einer Auflösung.

Nach dem dargelegten Zwischenergebnis bedarf es auf Gemeinschaftsebene einer Entscheidungsregel, ob beim Zusammentreffen beider Definitionen das Arzneimittelrecht oder das Lebensmittelrecht Vorrang hat.

Zusammengefasst kommt der Senat zu der Entscheidung, dass nach dem aktuellen Recht bei der Produktbehandlung das Arzneimittelrecht vor dem Lebensmittelrecht Vorrang aufgrund ausdrücklicher normativer Regelung hat. Für die vorausgehenden Zeitabschnitte ergibt sich dasselbe Ergebnis aus der Beachtung der Rechtsprechung des EuGH, der in ständiger Rechtsprechung bereits seit 1992 eine Art „Strenge-Regel“ aufgestellt hat, wonach das strengere Arzneimittelrecht in der Anwendung Vorrang vor weniger strengen Regelungen anderer Rechtsgebiete hat. Dies ist nunmehr im Einzelnen auszuführen.

Beginnend mit dem neuesten Zeitabschnitt ab 30.10.2005 ist der Anwendungsvorrang des Arzneimittelrechts bereits nach deutschem Recht normativ eindeutig bestimmt. Das deutsche Recht verweist in § 2 III Nr. 1 des ArzneimittelgesetzesAMG – in der Fassung des Gesetzes vom 13.12.2001 (BGBl. I S. 3586) sowie in der jetzigen Fassung vom 12.12.2005 (BGBl. I S. 3394) zur Abgrenzung auf den Lebensmittelbegriff nach dem deutschen Lebensmittelgesetz. § 2 II LFGB in der Fassung vom 1.9.2005 (BGBl. I S. 2618), gültig ab 7.9.2005, verweist für die Lebensmitteldefinition seinerseits unmittelbar auf Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Die europäische Lebensmittelverordnung 178/2002 verweist in ihrer Negativabgrenzung in Art. 2 Abs. 3 d wiederum auf die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG. Die Humanarzneimittelrichtlinie enthält in der Fassung der Änderungsrichtlinie vom 31.3.2004 mit einer Umsetzungsfrist bis 30.10.2005 in Art. 2 Abs. 2 ausdrücklich eine Vorrangregel des Arzneimittelrechts mit folgendem Inhalt:

In Zweifelsfällen, in denen ein Erzeugnis unter Berücksichtigung aller seiner Eigenschaften sowohl unter die Definition von „Arzneimittel“ als auch unter die Definition eines Erzeugnisses fallen kann, das durch andere gemeinschaftliche Rechtsvorschriften geregelt ist, gilt diese Richtlinie.

Mit dieser Richtlinie ist die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG gemeint, was mithin zum Vorrang des Arzneimittelrechts führt. Der EuGH hat die klar formulierte Vorrangregel auch in diesem Sinn verstanden.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 44.

Nach dem aktuell geltenden Gemeinschaftsrecht ist auf das Produkt der Klägerin mithin nur das Arzneimittelrecht anzuwenden. Das aktuelle deutsche Recht verweist darauf.

Für das vorausgehende Recht innerhalb der zeitlichen Reichweite des Dauerverwaltungsaktes vom 23.1.2002 geht der Senat aus Gründen der Übersichtlichkeit auf die Zeitabschnitte zunächst nach dem wie dargelegt maßgeblichen Gemeinschaftsrecht und erst dann nach dem deutschen Recht ein.

Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts war im vorausgehenden Zeitabschnitt vom 31.3.2004 bis zum 29.10.2005 die Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31.3.2004 mit der normativen Vorrangregel des Arzneimittelrechts zwar bereits erlassen, indessen war die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen. Richtlinien setzen zwar ein zweistufiges Rechtsetzungsverfahren mit Erlass auf Gemeinschaftsebene und Umsetzung in nationales Recht voraus.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 249 EGV Rdnr. 8.

Richtlinien sind aber auch als Auslegungsmaßstab heranzuziehen.

Geiger, EUV/EGV, Artikel 249 EGV Rdnr. 12.

Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung, und zwar gerade für die Vorrangregel in der hier vorliegenden Änderungsrichtlinie 2004/27/EG, entschieden, dass eine Richtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist als Auslegungsmaßstab heranzuziehen ist.

Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 44.

Auch für diesen Zeitraum galt als Auslegungsergebnis der Rechtsprechung des EuGH ein normativer Vorrang des Arzneimittelrechts.

Auf Gemeinschaftsebene galt in dem davor liegenden Zeitraum vom 6.11.2001 (mithin vor Erlass des Dauerverwaltungsakts vom 23.1.2002) bis zum 30.3.2004 die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG noch ohne eine normative Vorrangregelung. Die Abgrenzung des gemeinschaftsrechtlichen Arzneimittelbegriffs gegenüber den Konkurrenzbegriffen bedurfte mithin richterlicher Auslegung. Eine solche ständige Rechtsprechung des EuGH liegt vor, die von den Jahren 1991 bis 2005 reicht und damit den Entscheidungszeitraum (Januar 2002 bis Februar 2006) erfasst. Dies ist jetzt darzulegen.

Der Grundgedanke dieser Rechtsprechung ist einfach. Er besteht darin, dass das strengere Arzneimittelrecht wegen der besonderen Gefahren Anwendungsvorrang vor weniger strengem Recht anderer Gebiete besitzt. Erstmals hat der EuGH diesen Gedanken im Urteil Delattre vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 21, zur Abgrenzung von Arzneimitteln gegenüber seinerzeit Kosmetika (Schlankheitsmitteln) geäußert. Zur Begründung hat er (Rz. 21) ausgeführt:

Diese Schlussfolgerung ist im Übrigen die Einzige, die dem mit beiden Richtlinien verfolgten Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit entspricht, da die rechtliche Regelung für Arzneispezialitäten in Anbetracht der besonderen Gefahren, die diese Erzeugnisse für die öffentliche Gesundheit mit sich bringen können und die im Allgemeinen von kosmetischen Mitteln nicht ausgehen, strenger ist als die für kosmetische Mittel.

Im nachfolgenden Jahr 1992 hat der EuGH in seinem Urteil Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 19, diese „Strenge-Regel“ auf die hier einschlägige Abgrenzung von Arzneimittelrecht gegenüber Lebensmittelrecht übertragen. Zur Begründung hat er ausgeführt (Rz. 19), ein Produkt sei selbst dann als Arzneimittel anzusehen und der entsprechenden Regelung zu unterwerfen, wenn es in den Anwendungsbereich einer anderen weniger strengen Gemeinschaftsregelung falle.

Sodann hat der EuGH aktuell in seinem Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 43, nochmals seine Rechtsprechung bestätigt, dass die für Arzneimittel geltenden Bestimmungen auf ein Erzeugnis anzuwenden sind, das sowohl die Voraussetzungen eines Lebensmittels als auch eines Arzneimittels erfülle. Zur Begründung hat er sich (Rz. 43) ausdrücklich auf sein Ter Voort-Urteil C – 219/91 – berufen, dort insbesondere auf die Rz. 19 verwiesen und damit wie dargelegt den Grundsatz, dass ein Produkt auch dann als Arzneimittel anzusehen ist, wenn es dem Anwendungsbereich einer weniger strengen Regelung unterfällt. Zwischen 1991 und jetzt hat der EuGH mithin in ständiger Rechtsprechung die „Strenge-Regel“ seiner Abgrenzung zwischen Arzneimittelrecht und weniger strengem Recht zugrunde gelegt.

Die dargelegte normative Vorrangregel der Richtlinie 2004/27/EG entspricht mithin inhaltlich der ständigen Rechtsprechung des EuGH. Dementsprechend hat sich der EuGH in seinem Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 - sowohl vergangenheitsbezogen auf seine ständige bisherige Rechtsprechung (Rz. 43) als auch zukunftsbezogen auf die neue Richtlinie 2004/27/EG (Rz. 44) berufen. Das Ergebnis der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist mithin der Vorrang des Arzneimittelrechts bei der Abgrenzung gegenüber dem Lebensmittelrecht. Dies steht für den Zeitraum von 1992 bis jetzt fest. Bezogen auf den hier entscheidungserheblichen Zeitraum vom 25.1.2002 (Bekanntgabe des Dauerverwaltungsakts vom 23.1.2002) bis jetzt (Februar 2006) ist die Abgrenzungsfrage auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts mithin immer gleich zu beantworten. Maßgebend für die rechtliche Behandlung ist das strengere Arzneimittelrecht gegenüber dem weniger strengen Lebensmittelrecht.

Für die vorsorglich vorzunehmende Abgrenzungsprüfung nach dem deutschen Recht sind andere Zeitabschnitte zu bilden. Unproblematisch ist der bereits behandelte aktuelle Zeitabschnitt ab dem 7.9.2005. Ab diesem Zeitpunkt verweist wie dargelegt § 2 II LFGB in der Fassung vom 1.9.2005 (BGBl. I S. 2618) für die Lebensmitteldefinition ausdrücklich auf Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002, und damit auch auf die in Artikel 2 Abs. 3 der gemeinschaftsrechtlichen Verordnung vorgenommene Abgrenzung zu Lebensmitteln, für die die EuGH-Rechtsprechung maßgebend ist. Die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts für die Abgrenzung ist vom deutschen Gesetzgeber sichergestellt, da auch § 2 III Nr. 1 AMG für die Abgrenzung auf die Lebensmitteldefinition verweist mit der Konsequenz, dass nach der ausdrücklichen Anordnung des deutschen Gesetzgebers für die Abgrenzung der beiden Rechtsgebiete einheitlich das Gemeinschaftsrecht gilt.

Für den vorausgehenden Zeitabschnitt vom 21.2.2002 bis zum 6.9.2005 hat der deutsche Gesetzgeber zwar nicht ausdrücklich für Rechtsklarheit gesorgt. Die Rechtsklarheit ergibt sich aber aus dem gemeinschaftlichen Verordnungsrecht. Die gemeinschaftsrechtliche Abgrenzung von Lebensmitteln und Arzneimitteln in Artikel 2 der Lebensmittelverordnung galt bereits in diesem Zeitabschnitt. Die Lebensmittelverordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28.1.2002 trat nach Artikel 65 am 21.2.2002 in Kraft. Sie ist nach Artikel 65 in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Anders als bei Richtlinien bedarf es keines zweistufigen Rechtsetzungsverfahrens, vielmehr gilt die Verordnung unmittelbar in jedem Mitgliedstaat ohne Transformation.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 249 EGV, Rdnrn. 6 und 8.

Der deutsche Gesetzgeber hatte aber in diesem Zeitraum der verbindlichen Regelung noch nicht formell Rechnung getragen. Vielmehr war in § 1 LMBG in der Fassung vom 9.9.1997 (BGBl. I S. 2296), gültig vom 1.8.1997 bis 6.9.2005, eine formell abweichende Regelung bestimmt. Produkte waren nach § 1 I LMBG nur dann keine Lebensmitteln, wenn sie überwiegend zu anderen Zwecken als dem der Ernährung oder des Genusses bestimmt waren. Das ältere deutsche Recht legte die Auslegung nahe, dass ein Lebensmittel auch dann vorlag, wenn sich kein überwiegender Verwendungszweck feststellen ließ.

So noch die Kommentierung von Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Stand März 2005, § 1 LMBG Rdnr. 35 und die ältere BGH-Rechtsprechung: BGH, Urteil vom 6.2.1976 – I ZR 125/74 -.

Die deutsche Regelung ließ sich mithin in nahe liegender Auslegung als Vorrang des weniger strengen Lebensmittelrechts vor dem strengeren Arzneimittelrecht verstehen.

Bei diesem Ergebnis kann es aber nicht verbleiben. Das Gemeinschaftsrecht hat grundsätzlich Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 10 EGV Rdnr. 31.

Gerichte und Behörden haben den Vorrang des Gemeinschaftsrechts ohne weiteres zu beachten, und innerstaatliche Vorlageverfahren etwa an ein Verfassungsgericht müssen außer Betracht bleiben.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 10 EGV Rdnr. 31.

Mithin musste die inhaltlich anders gefasste Abgrenzung des deutschen Rechts zwischen Arzneimitteln und Lebensmitteln gegenüber der bindenden europäischen Verordnung außer Betracht bleiben. Vielmehr galt nach der bereits dargelegten Rechtsprechung des EuGH die „Strenge-Regel“, wonach für die Produktbehandlung das strengere Arzneimittelrecht vor weniger strengem Recht in der Anwendung Vorrang hat. Auch für diesen Zeitabschnitt verbleibt es mithin bei dem gefundenen Ergebnis.

In einem vorausgehenden kurzen Zeitabschnitt des Dauerverwaltungsakts knapp einen Monat zwischen seiner Bekanntgabe am 25.1.2002 bis zum 20.2.2002 galt auf der Gemeinschaftsrechtsebene allerdings noch nicht die Lebensmittelverordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28.1.2002, in Kraft ab 21.2.2002. Der Anwendungsvorrang der gemeinschaftsrechtlichen Lebensmittelverordnung muss mithin für diesen kurzen Zeitabschnitt außer Betracht bleiben.

Auch für diese Zeit blieb der Vorrang des Arzneimittelrechts unverändert. Maßgebend ist hier nicht der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts, sondern der Grundsatz der europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts.

Im Zeitraum Januar/Februar 2002 stellte sich die Vorrangfrage vom Arzneimittelrecht her, das im Gegensatz zum seinerzeitigen Lebensmittelrecht schon gemeinschaftsrechtlich normiert war. Wie bereits dargelegt war das gemeinschaftliche Arzneimittelrecht bereits seit 1965 fortlaufend durch Richtlinien kodifiziert, die in nationales Recht umzusetzen waren.

Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG vom 26.1.1965, sodann als Nachfolgerichtlinie die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG sowie deren Änderungsrichtlinie 2004/27/EG.

Das deutsche Arzneimittelgesetz war also bereits in der in diesem Zeitabschnitt (Januar/Februar 2002) maßgebenden Fassung des Änderungsgesetzes vom 13.12.2001 (BGBl. I S. 3586) Umsetzung des europäischen Richtlinienrechts. Zur Abgrenzung von Arzneimitteln und Lebensmitteln verwies § 2 III Nr. 1 AMG 2001 auf § 1 LMBG und damit die bereits dargelegte Regelung, wonach nur eine überwiegende Bestimmung zu anderen Zwecken als dem der Ernährung oder des Genusses maßgebend ist. Auch unabhängig von der Direktwirkung von Richtlinien zu Gunsten Einzelner, vgl. EuGH, Urteil vom 26.9.2000 – C- 443/98 -, Rz. 50; Urteil vom 4.12.1997 – C – 97/96 -, NJW 1998, 129, ist umgesetztes nationales Recht nach der EuGH-Rechtsprechung so auszulegen, dass das mit der Richtlinie verfolgte Ziel erreicht werden kann. EuGH, Urteil vom 11.7.2002 – C – 62/00 -, Rz. 41.

Eine solche europarechtskonforme Auslegung des § 1 LMBG 1997 ist aber möglich und deshalb auch geboten. Zwar ist die Auslegung nahe liegend, dass die überwiegende Zweckbestimmung rein faktisch im Sinne der allgemeinen Verkehrsauffassung zu verstehen ist.

So Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Stand März 2005, § 1 LMBG Rdnr. 34.

Zwingend ist diese Auslegung aber nicht. Die überwiegende Zweckbestimmung kann statt faktisch auch normativ verstanden werden. Die überwiegende Zweckbestimmung ergibt sich dann normativ nach dem strengeren Recht; das strengere Recht prägt die Zweckbestimmung. Das Ziel der einschlägigen Arzneimittelrichtlinie ist nach der Rechtsprechung des EuGH gerade der Schutz vor den besonderen Gefahren, die Arzneimittel mit sich bringen.

EuGH, Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 21, und Ter Voort-Urteil vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 19.

Das umgesetzte deutsche Arzneimittelrecht ist mithin europarechtskonform so auszulegen, dass das dargelegte Ziel der Arzneimittelrichtlinie mit Blick auf den Vorrang des strengeren Rechts erreicht wird. Mithin ist die deutsche Abgrenzungsregelung in den §§ 2 AMG 2001 und 1 LMBG 1997 europarechtskonform auch in dem hier interessierenden Zeitabschnitt vom 25.1.2002 bis zum 20.2.2002 im Sinne einer normativen überwiegenden Zweckbestimmung durch das strengere Arzneimittelrecht auszulegen. Dieser Gesichtspunkt gilt im Übrigen auch für die nachfolgende Zeit, für die aber der Anwendungsvorrang der gemeinschaftsrechtlichen Lebensmittelverordnung hinzukommt.

Mithin ist die Geltung der europäischen Arzneimittelabgrenzung für den gesamten in Anspruch genommenen Zeitraum des angegriffenen Dauerverwaltungsakts seit 25.1.2002 bis jetzt zu beachten.

Für den Zeitraum des Dauerverwaltungsakts ist nach dem Ergebnis der Prüfung des europäischen und des deutschen Rechts einheitlich von dem Vorrang des Arzneimittelrechts gegenüber dem Lebensmittelrecht bei der Produktbehandlung auszugehen.

Die von der Klägerin gegen den Vorrang vorgebrachten Gründe überzeugen nicht.

Soweit die Klägerin eine vollständige Subsumierung als Voraussetzung der Vorrangregelung ansieht, hat der Senat sie vorgenommen.

Soweit die Klägerin meint, für Nahrungsergänzungsmittel gelte eine günstigere Behandlung, trifft dies nicht zu. Sie hat zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass nach der neuen Rechtsprechung des EuGH auf dem Gebiet der Nahrungsergänzungsmittel die Richtlinie 2002/46 eine gewisse Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften vorgenommen hat.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 70.

Nahrungsergänzungsmittel, die den Vorschriften dieser Richtlinie entsprechen, dürfen in der Gemeinschaft grundsätzlich frei in den Verkehr gebracht werden.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C- 211/03 -, Rz. 71.

Die der Klägerin günstige Folge tritt aber nur ein, wenn die Voraussetzungen der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie überhaupt erfüllt sind. Dies ist aber nicht der Fall, weil die Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG ausdrücklich nicht für Arzneimittel gilt (Artikel 1 Abs. 2 der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie) und darüber hinaus Nahrungsergänzungsmittel nach Artikel 2 der Richtlinie 2002/46/EG bereits Lebensmittel sein müssen, mithin auch für Nahrungsergänzungsmittel die allgemeine Abgrenzungsvorschrift von Artikel 2 der Lebensmittelverordnung (EG) Nr. 178/2002 gilt. Dementsprechend führt der EuGH wie dargelegt in seinem Lactobact-Urteil (Rz. 41 und 42) eine synchrone Abgrenzung zwischen Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln einerseits und Arzneimitteln andererseits durch. Für eine anderweitige Abgrenzung mit einer günstigeren Behandlung von Nahrungsergänzungsmitteln ist mithin aus Gründen des Gemeinschaftsrechts kein Raum.

Weiterhin beruft sich die Klägerin zu ihren Gunsten auf eine spezielle deutsche Liberalisierungsvorschrift für die Einfuhr von Lebensmitteln aus EU-Staaten im deutschen Lebensmittelrecht. Ausgehend zunächst von dem neuesten Rechtsstand der Einfuhrliberalisierung begünstigt § 54 LFGB mit Geltung ab dem 7.9.2005 Lebensmittelimporte aus anderen EU-Staaten. Danach dürfen Lebensmittel, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände, die entweder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union hergestellt oder rechtmäßig in den Verkehr gebracht werden oder aus einem Drittstaat stammen und sich in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union rechtmäßig im Verkehr befinden, auch dann in das Inland verbracht und in Verkehr gebracht werden, wenn sie den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Vorschriften für Lebensmittel, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände nicht entsprechen. Eine Ausnahme von der Liberalisierung besteht insbesondere dann, wenn gemäß § 54 I LFGB in Verbindung mit § 54 II zwingende Gründe des Gesundheitsschutzes entgegenstehen, über die durch Allgemeinverfügungen entschieden wird. Die verbleibenden Unterschiede des nationalen Lebensmittelrechts der Mitgliedstaaten stehen mithin dem Import eines Lebensmittels grundsätzlich nicht entgegen.

Diese Liberalisierungsregelung trifft aber nach dem geltenden Recht ausdrücklich nur für Lebensmittel, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände zu, von vorneherein nicht für Arzneimittel. Das ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut des § 54 LFGB und aus dem systematischen Zusammenhang innerhalb der Gesamtregelung des Lebensmittelrechts, nicht des Arzneimittelrechts.

Nichts anderes gilt innerhalb der Zeitdauer des Dauerverwaltungsakts für die im Wesentlichen inhaltsgleiche Vorgängerreglung des § 47 a LMBG in den insoweit übereinstimmenden vorausgehenden Fassungen vom 29.10.2001 (BGBl. I S. 2785) sowie vom 6.8.2002 (BGBl. I S. 3082). Die Liberalisierung von Importen aus anderen Mitgliedstaaten bezieht sich nach dem übereinstimmenden Wortlaut auf „Erzeugnisse im Sinne dieses Gesetzes“. Maßgebend ist also die deutsche Einordnung des Produkts. Durch eine Klammerdefinition ist in § 35 LMBG klargestellt, dass Erzeugnisse im Sinne dieses Gesetzes Lebensmittel, Zusatzstoffe, mit Lebensmittel verwechselbare Erzeugnisse, Tabakerzeugnisse, kosmetische Mittel und Bedarfsgegenstände sind. Arzneimittel gehören nicht dazu. Die Klägerin kommt nur insofern zu einem anderen Ergebnis, als sie behauptet, ihr Nahrungsergänzungsmittel könne mit einem Arzneimittel verwechselt werden. Insoweit stellt aber § 8 LMBG klar, dass die Ausdehnung des Lebensmittelrechts auf verwechselbare Erzeugnisse gerade nicht für zulassungspflichtige Arzneimittel gilt.

Zur generellen einschlägigen Zulassungspflicht von Fertigarzneimitteln § 21 AMG mit hier nicht gegebenen Ausnahmen insbesondere einer gemeinschaftsrechtlichen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 und einer Anwendung zur klinischen Prüfung.

Die Vorschrift zielt erkennbar darauf ab, dass die Zulassungspflicht von Arzneimitteln als Marktschranke nicht etwa in dem ungünstigen Fall, dass importierte Arzneimittel verwechslungsfähig aufgemacht sind, entfällt. Dies wäre auch offensichtlich gefahrenbezogen sachwidrig. Nach den dargelegten Vorschriften gilt die Liberalisierung nach Wortlaut und Sinn nicht für Arzneimittel, und zwar insbesondere auch nicht für mit Lebensmitteln verwechslungsfähig aufgemachte Arzneimittel.

Das Gemeinschaftsrecht bietet sowohl nach den in Betracht kommenden Normen als auch nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH keinen Anlass zu einer weiter gehenden Auslegung dieser lebensmittelrechtlichen Liberalisierungsregelung.

Wie dargelegt fällt ein Lebensmittel zwar grundsätzlich unter den freien Handelsverkehr der Mitgliedstaaten (Artikel 28 EGV). Anderes gilt für Arzneimittel, denn Ausnahmen vom Grundsatz der Handelsfreiheit bestehen nach Artikel 30 EGV insbesondere zum Gesundheitsschutz, worunter das Arzneimittelrecht fällt.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 30 Rdnr. 8.

Nach Artikel 6 I der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG bedarf ein Arzneimittel grundsätzlich abgesehen von dem hier nicht einschlägigen Fall einer unmittelbaren europäischen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 vom 22.7.1993 in jedem Mitgliedstaat einzeln einer Zulassung. Diese Rechtslage nach dem Gemeinschaftsrecht führt allerdings dazu, dass ein Produkt im Exportstaat (hier Österreich) als Lebensmittel und im Importstaat (hier Deutschland) als Arzneimittel eingeordnet werden kann. Gerade diese Divergenz ist nach der ständigen bis heute geltenden Rechtsprechung des EuGH mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar.

EuGH, Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 27; EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 – Rz. 52 und 53, betreffend Vitaminpräparate; EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 56.

In seinem Lactobact-Urteil (Rz. 56) hat der EuGH seine ständige Rechtsprechung wie folgt zusammengefasst:

Dass ein Erzeugnis in einem anderen Mitgliedstaat als Lebensmittel eingestuft ist, hindert somit nicht daran, ihm im Einfuhrmitgliedstaat die Eigenschaft eines Arzneimittels zuzuerkennen, wenn es die entsprechenden Merkmale aufweist.

Die Tatsache, dass das Produkt der Klägerin in Österreich rechtmäßig als Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel im Verkehr ist, führt mithin nicht zu einer Bindung des Einfuhrstaates an österreichisches Recht. Dem nach dem Gemeinschaftsrecht bestehenden Vorrang des strengeren Arzneimittelrechts vor dem weniger strengen Lebensmittelrecht muss in Deutschland selbstständig, ohne Bindung an die Rechtsauffassung in Österreich, Geltung verschafft werden.

Nach allem führt die deutsche Liberalisierungsregelung nicht zur Anerkennung der österreichischen Produkteinordnung und ist deshalb nicht entscheidungserheblich.

Im Folgenden hat der Senat noch die beiden von den Beteiligten vorgelegten europäischen Verwaltungsakte zu würdigen, die eine Einstufung von Weihrauchextrakt in demselben Jahr – 2002 – als Arzneimittel beziehungsweise als Lebensmittel betreffen.

Zusammengefasst sind beide Verwaltungsakte nicht unmittelbar einschlägig für den vorliegenden Verwaltungsrechtsstreit über ein Marktverbot und geben keinen Anlass, von der vom EuGH aufgestellten „Strenge-Regel“ abzuweichen.

Der Beklagte hat einen Bescheid der Europäischen Kommission vom 21.10.2002 vorgelegt, den die EMEA, die Europäische Agentur für Arzneimittel, am 11.12.2002 veröffentlicht hat (Berufungsakte 3 R 7/05, Blatt 69 R). Der Beklagte hat dazu vorgetragen, der Weihrauchextrakt aus Boswellia serrata habe damit den Orphan-drug-Status erhalten (Berufungsakte Blatt 66). Mit dieser Bezeichnung hat es Folgendes auf sich. Die in dem Bescheid der EG-Kommission auch genannte Rechtsgrundlage ist die Verordnung (EG) Nr. 141/2000 vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden. Sinn und Regelungszusammenhang der Verordnung sind in dem Erwägungsgrund 1 zusammengefasst. Danach treten bestimmte Leiden EU-weit so selten auf, dass die Entwicklungskosten von Arzneimitteln durch den zu erwartenden Umsatz nicht mehr gedeckt werden. Die pharmazeutische Industrie wäre in diesen Fällen nicht bereit, das Arzneimittel unter normalen Marktbedingungen zu entwickeln. Diese Arzneimittel werden im englischen Sprachraum als „Orphan medicinal products“, das heißt als Waisenkinder unter den Arzneimitteln bezeichnet. Vor diesem Hintergrund bezweckt die Verordnung nach dem Erwägungsgrund 4, durch die Einführung eines Gemeinschaftsverfahrens potenzielle Arzneimittel als Arzneimittel für seltene Leiden auszuweisen. Die Förderung erfolgt durch Forschungshilfe bei der Entwicklung (Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung) und durch ein späteres Marktexklusivitätsrecht (Artikel 8 der Verordnung). Der Antrag auf Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden kann grundsätzlich in jedem Entwicklungsstadium des Arzneimittels gestellt werden, indessen nur vor dem Antrag auf Verkehrsgenehmigung (Artikel 5 Absatz 1 der Verordnung). Zusammengefasst bedeutet der Bescheid mithin eine Ausweisung von Weihrauchextrakt als Forschungsarzneimittel für die Behandlung der seltenen Krankheit der Gehirnödeme bei Gehirntumor; eine Verkehrsgenehmigung als Arzneimittel bedeutet der Bescheid nicht, wie im letzten Absatz ausdrücklich hervorgehoben ist. Der Bescheid betrifft also keine Marktzulassung.

Der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden liegt nach Artikel 2 a der Humanarzneimittelbegriff nach der Richtlinie 65/65/EWG zugrunde, wobei diese Bezugnahme nunmehr durch eine Bezugnahme auf die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG ersetzt ist (Artikel 128 der Humanarzneimittelrichtlinie). Da die Ödembehandlung bei Tumoren nach den dem Senat vorliegenden wissenschaftlichen Unterlagen ausschließlich den hoch dosierten Bereich von Weihrauchextrakt betrifft,

Safayhi-Ammon, Seite 7; Gutachten Bertram, Seite 3; Bertsche/Schulz, Seite 2

steht damit in diesem Bereich gemeinschaftsrechtlich die Einordnung als Arzneimittel fest.

Zwingend ist dies für die hier maßgebende niedrige Dosis von Weihrauch nicht. Einen Doppelcharakter nach der Dosis hat der EuGH bei Vitaminen anerkannt, die in ganz geringer Menge für die tägliche Ernährung unbedingt erforderlich sind, in starken Dosen aber zu therapeutischen Zwecken bei bestimmten Krankheiten verwendet werden.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, Rz. 56.

Deshalb bedeutet die im Jahr 2002 erfolgte Ausweisung von indischem Weihrauchextrakt als Forschungsarzneimittel für seltene Krankheiten ein - nicht zwingendes - Indiz für die gemeinschaftsrechtliche Einstufung von Weihrauchextrakt insgesamt als Arzneimittel. Der Gegenschluss der Klägerin, die angestrebte Marktzulassung sei bereits gescheitert, überzeugt nicht, da die Zulassungsreife einschließlich Standardisierung eines Stoffgemischs schwer erreichbar und langwierig sein kann.

Ebenso wie der Beklagte hat die Klägerin im Rechtsstreit einen Verwaltungsakt der Europäischen Gemeinschaft vorgelegt, den sie zu ihren Gunsten verwerten will (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 75). Dabei handelt es sich um die verbindliche Zolltarifauskunft vom 16.9.2002. Der Bescheid ist im Namen der Europäischen Gemeinschaft erlassen, die erteilende Zollbehörde ist das Bundesministerium für Finanzen in Wien. Als Berechtigter ist angegeben die österreichische Firma G.. Gegenstand des Bescheides ist das namensidentische Produkt der Klägerin. Inhaltlich betrifft der Bescheid die Einreihung in die Zollnomenklatur als Lebensmittel und zur Begründung ist angegeben, aufgrund des Fehlens einer Ankündigung zur Verwendung bei spezifischen Krankheiten, Leiden oder deren Symptome, sowie der exakten Dosierungsvorschrift, liege keine näher gekennzeichnete Arzneiware vor.

Die Klägerin hat aus dieser verbindlichen Zolltarifauskunft von Anfang an den Schluss gezogen,

Schriftsatz vom 7.10.2002, VG-Akte Bl. 78

das streitige Produkt dürfe in der gesamten Europäischen Union aufgrund der verbindlichen Zolltarifauskunft als Lebensmittel in den Verkehr gebracht werden. Die Verkehrsfähigkeit des von ihr vertriebenen Produktes in Deutschland ergebe sich damit schon aus der amtlichen Bestätigung der Europäischen Union. Zur Bekräftigung ihres Vortrags hat sie erstinstanzlich zwei verschiedene Vorlageanträge an den EuGH angeregt (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 91 und Bl. 133), die jeweils die Auswirkungen der verbindlichen Zolltarifauskunft auf die Zulässigkeit der Vermarktung betreffen. Zweitinstanzlich hat sie ausweislich des Protokolls eine entsprechende Vorlage an den EuGH hilfsweise angeregt.

Das Begehren der Klägerin entspricht offenkundig nicht dem Gemeinschaftsrecht, das eine Auslegung im Sinne der Klägerin nicht zulässt. Es entspricht auch nicht der dargelegten Rechtsprechung des EuGH zur selbstständigen Sachverhaltsbeurteilung der nationalen Behörden und Gerichte im Vermarktungsstreit.

Dafür ist zunächst auf die Rechtsgrundlage der verbindlichen Zolltarifauskunft einzugehen. Wie im Bescheid auch ausdrücklich angegeben, beruht die Zolltarifauskunft auf Art. 12 der – insoweit nicht geänderten - Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 vom 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften – Zollkodexverordnung -. Nach dem Erwägungsgrund 1 geht es bei der Verordnung um die Kodifizierung der bisherigen Zollvorschriften der Gemeinschaft als Zollunion. Betroffen von dem Zollrecht ist nach Art. 1 der Verordnung der Warenverkehr zwischen der Gemeinschaft und Drittländern. Nach Art. 2 gilt das gemeinschaftliche Zollrecht einheitlich im gesamten Zollgebiet der Gemeinschaft. Richtig ist damit der Standpunkt der Klägerin, dass die Zollverwaltungsakte die gesamte Gemeinschaft betreffen. Sodann werden nach Art. 12 Abs. 1 der Zollkodexverordnung auf schriftlichen Antrag von den Zollbehörden verbindliche Zolltarifauskünfte erteilt. Verbindliche Zolltarifauskünfte sind nach der Definitionsvorschrift des Art. 4 Nr. 5 der Zollkodexverordnung hoheitliche Maßnahmen auf dem Gebiet des Zollrechts.

Die Klägerin begehrt eine Vorlage des Sachverhalts zur Entscheidung an den EuGH. Sie hält es nach ihrem Rechtsstandpunkt für eine klärungsbedürftige Auslegungsfrage, wie weit die Verbindlichkeit der Zolltarifauskunft reicht. Sie meint, die Verbindlichkeit betreffe nicht nur den Zolltarif, sondern auch die anschließende Vermarktung. In Wirklichkeit ist aber die Verbindlichkeitsfrage in Art. 12 Abs. 2 der Zollkodexverordnung ohne Auslegungsspielraum wie folgt geregelt:

Die verbindliche Zolltarifauskunft bindet die Zollbehörden gegenüber dem Berechtigten nur hinsichtlich der zolltariflichen Einreihung der Waren.

Das Wort „nur“ lässt keinen Auslegungsspielraum dahingehend zu, die Bindungswirkung erstrecke sich über die zolltarifliche Einreihung der Waren hinaus auch auf die anschließende Vermarktung und die Anwendung des Gesundheitsrechts. Ist mithin die Einschränkung der Verbindlichkeit auf das Zollrecht derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, scheidet eine Vorlagepflicht an den EuGH nach Art. 234 EGV selbst nach den Maßstäben für ein letztinstanzliches Gericht – die hier nicht erfüllt sind – aus.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Art. 234 EGV Rdnr. 16.

Im Übrigen hat das nationale Gericht über die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlagefrage selbst zu befinden.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Art. 234 EGV Rdnr. 12.

Darüber hinaus hat das nationale Gericht über die Vorlage von Amts wegen, unabhängig von der Auffassung der Beteiligten zu entscheiden.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Art. 234 Rdnr. 11.

Entsprechende Anträge der Beteiligten bedeuten prozessual mithin nur die Anregung zu einer Vorlageentscheidung.

Von Amts wegen scheidet eine Vorlage schon deshalb aus, weil Art. 12 Abs. 2 der Zollkodexverordnung auch unabhängig von dem streitigen objektiven Anwendungsbereich auch nach den subjektiven Merkmalen nicht entscheidungserheblich ist.

Vorliegend sind die subjektiven Voraussetzungen der Verbindlichkeitsbestimmung des Art. 12 Abs. 2 der Zollkodexverordnung nicht gegeben. Die verbindliche Zolltarifauskunft bindet nach der Verordnung nur die Zollbehörden gegenüber dem Berechtigten. Zollbehörde ist nach Art. 4 Nr. 3 der Zollkodexverordnung eine für die Anwendung des Zollrechts zuständige Behörde. Der Beklagte als oberste Gesundheitsbehörde ist ebenso wenig eine Zollbehörde im Sinne der Gemeinschaftsvorschrift wie die Klägerin Berechtigte des Bescheides ist, da in dem Bescheid als Berechtigte ausdrücklich die österreichische Firma G. genannt ist. Mithin verbleibt es dabei, dass die Vorschrift des Art. 12 II der Zollkodexverordnung auf den vorliegenden Fall zweifelsfrei subjektiv nicht anwendbar ist.

Unabhängig von der normativen Rechtslage entspricht es auch nicht der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH zu gesundheitsbezogenen Marktverboten gegenüber importierten Produkten, dass das Gesundheitsrecht bindend an das Zollrecht gekoppelt wird. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH haben die nationalen Behörden und zu deren Kontrolle die nationalen Gerichte bei der Frage der rechtlichen Zulässigkeit der Vermarktung in ihrem Staat auch bei importierten Erzeugnissen selbst die Qualifizierungszuständigkeit für den Einzelfall, ob ein Erzeugnis als Arzneimittel oder als Lebensmittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts einzustufen ist.

EuGH Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 30 für die Zuständigkeit der nationalen Behörden und Rz. 97 für die Zuständigkeit des nationalen Gerichts; ebenso schon EuGH, Ter-Voort-Urteil vom 28.10.1992 – C – 219/91 – betreffend die Zulässigkeit der Vermarktung von Kräutertee aus Südamerika, dort zur fallbezogenen Einstufungszuständigkeit der nationalen Gerichte Rz. 32; EuGH Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, dort Rz. 35 zur Einstufungszuständigkeit der nationalen Behörden unter Kontrolle der nationalen Gerichte.

In einem entschiedenen Fall – dem Ter-Voort-Urteil des EuGH von 1992 – betraf die Einstufung die Vermarktung von aus Südamerika eingeführten Produkten. Nach der seinerzeit schon bestehenden Zollunion unterlagen diese Produkte einer Außenzollerhebung und damit einer Zolltarifeinordnung. Die seinerzeitige Vorlagefrage (Rz. 13), ob ein Erzeugnis, das im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird, als Arzneimittel eingestuft werden kann, hätte vom Rechtsstandpunkt der Klägerin damit beantwortet werden müssen, dass die Antwort aus dem Zollrecht folge. Stattdessen lautet die Antwort des EuGH (Rz. 21), dass ein Arzneimittel selbst dann vorliegen kann, wenn es im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird, und (Rz. 32) es Sache der nationalen Gerichte ist, unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Falles die Einordnung vorzunehmen. Auch der Grundgedanke in dem Ter-Voort-Urteil des EuGH, dass (Rz. 19) im Gesundheitsrecht die strengere Gemeinschaftsregelung anzuwenden ist, verträgt sich nicht damit, dass die der Einnahmeerzielung dienende Zolltarifregelung stattdessen einschlägig sein soll. Damit könnten die Gesundheitsgefahren nicht hinlänglich berücksichtigt werden. Mithin scheidet eine Vorlage an den EuGH auch deshalb aus, weil die Rechtsansicht der Klägerin zur Bindung der Vermarktung an das Zollrecht der vorliegenden Rechtsprechung des EuGH widerspricht.

Der Bescheid ist für den vorliegenden Vermarktungsprozess offensichtlich rechtsunerheblich.

Unabhängig von der fehlenden Bindungswirkung kann auch die Begründung der Zolltarifauskunft für den vorliegenden Fall nicht fruchtbar gemacht werden. Begründet ist die Ablehnung einer Arzneiware mit dem Gesichtspunkt des Fehlens einer Ankündigung zur Verwendung bei spezifischen Krankheiten und einer entsprechenden exakten krankheitsbezogenen Dosierungsvorschrift. Mit dieser Überlegung lässt sich aber allein ein Präsentationsarzneimittel ausschließen, was ohnedies unstreitig ist. Dagegen enthält die Begründung keinerlei Gesichtspunkte zu einem Funktionsarzneimittel, da die pharmakologische Wirkung von vornherein nicht behandelt wird. Für den Hauptstreit der Beteiligten über das Vorliegen eines Funktionsarzneimittels lässt sich aus der Begründung des Bescheides nichts gewinnen.

Nach dem Prüfungsergebnis des Senats haben die von den Beteiligten vorgelegten Bescheide nach dem Gemeinschaftsrecht für den vorliegenden Fall keine Bindungswirkung und führen zu keinem anderen Ergebnis.

Mithin hat es bei einer selbstständigen sachverhaltsbezogenen Einstufung des Produkts der Klägerin für die Vermarktung durch die nationalen Behörden und die nationalen Gerichte ohne Vorlagepflicht an den EuGH zu verbleiben.

Nach allem ist der Senat davon überzeugt, dass das Produkt der Klägerin ein Funktionsarzneimittel ist und damit dem strengen Zulassungsrecht für Fertigarzneimittel unterliegt. Der Klägerin ist zwar Recht zu geben, dass in dieser Rechtsanwendung ein Hemmnis für den freien Warenverkehr liegt. Das Produkt muss also nach der plastischen Formulierung der Klägerin durch das „Nadelöhr“ des Arzneimittelrechts. Der Grund dafür liegt aber letztlich in der eindeutigen Weichenstellung des EuGH zu Gunsten des strengeren Gesundheitsrechts. Der EuGH hat dem nunmehr im Gemeinschaftsrecht kodifizierten Gedanken Bedeutung beigemessen, dass die besonderen Gesundheitsgefahren gerade von Arzneimitteln im Zweifel die Anwendung des strengeren Gesundheitsrechts gegenüber dem weniger strengen Lebensmittelrecht erfordern. Diese Gefahrabwägung führt letztlich zu dem Ergebnis, dass hier wegen der festgestellten – negativen - pharmakologischen Wirkung des Produkts in der empfohlenen niedrigen Dosis ein Funktionsarzneimittel vorliegt.

Die Prüfung des Senats führt mithin zu dem Gesamtergebnis, dass gemeinschaftsrechtlich und nach deutschem Recht für die gesamte Geltungszeit des Dauerverwaltungsakts vom 23.1.2002 rechtlich maßgebend ein Funktionsarzneimittel vorliegt, das als Fertigarzneimittel für den Verbraucher gemäß § 21 AMG einer Zulassung bedarf, die aber unstreitig weder nach Gemeinschaftsrecht noch nach deutschem Recht vorhanden ist.

Damit liegt aber zur Überzeugung des Senats der Untersagungstatbestand des § 69 I Nr. 1 AMG in den insoweit übereinstimmenden Fassungen vom 11.12.1998 (BGBl. I Bl. 3586), vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 2031), vom 29.8.2005 (BGBl. I S. 2555) sowie der Bekanntmachung vom 12.12.2005 (BGBl. I S. 3394) vor. Die im Gesetz eingeräumte Ermessensausübung ist von der Klägerin nicht problematisiert worden. Ein Ermessensfehler wäre allenfalls dann in Betracht zu ziehen, wenn die für das Arzneimittel erforderliche Zulassung ausschließlich aus formellen Gründen fehlte, materiell aber die therapeutische Wirksamkeit mit vertretbaren Nebenwirkungen bereits feststünde. Schon die nicht geklärte therapeutische Wirksamkeit würde die Ermessensausübung im Sinne einer Untersagung rechtfertigen. Erst recht gilt das hier, da nach den vorliegenden Forschungsergebnissen für niedrig dosierten Weihrauchextrakt zwar keine positiven pharmakologischen Wirkungen, wohl aber negative pharmakologische Wirkungen in Form der Förderung von Entzündungsprozessen wissenschaftlich festgestellt sind. Bei dieser Sachlage ist allein die Untersagung ermessensgerecht.

Nach allem ist der angefochtene Dauerverwaltungsakt vom 23.1.2002 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Mithin ist ihre Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10 ZPO und die Nichtzulassung der Revision auf § 132 II VwGO.

Gründe

Die zulässige Berufung bleibt erfolglos.

Der Streit der Beteiligten betrifft die richtige rechtliche Einordnung des Produkts der Klägerin, der W., das sie von Österreich nach Deutschland einführt. Handelt es sich inhaltlich um ein Lebensmittel in Form eines Nahrungsergänzungsmittels oder um einen rechtlich maßgebenden Lebensmittelimport, wie die Klägerin annimmt, unterliegt es unstreitig grundsätzlich dem freien Warenverkehr und mithin nicht dem vom Beklagten ausgesprochenen Verkehrsverbot nach § 69 AMG. Handelt es sich dagegen rechtlich um ein Fertigarzneimittel, fehlt ihm die erforderliche Zulassung, da es unstreitig weder in Deutschland noch sonst im Bereich der Europäischen Union eine Verkehrsgenehmigung als Arzneimittel hat.

Angesichts der fortgeschrittenen EG-Harmonisierung des Arzneimittelrechts und des Lebensmittelrechts ist zunächst klarzustellen, wer die Qualifizierungszuständigkeit bei der grenzüberschreitenden Verbringung eines Produkts innerhalb der EG hat. Abgesehen von der hier nicht gegebenen Ausnahme einer gemeinschaftsrechtlichen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 vom 22.7.1993 für das Produkt verbleibt die Qualifizierung den nationalen Behörden und Gerichten. Auf eine Vorlage des OVG Münster hin mit dem Ziel einer EG-weiten Qualifizierung eines Produkts durch den EuGH hat der EuGH nach seinem Rechtsverständnis das Europarecht auszulegen, ist aber nicht befugt, über den Sachverhalt zu entscheiden und die Einstufung von Produkten als Arzneimittel oder Lebensmittel gemeinschaftsweit selbst vorzunehmen.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 – u.a. C – 211/03 -, betreffend die Einfuhr streitiger Nahrungsergänzungsmittel von den Niederlanden nach Deutschland auf eine Vorlage des OVG Münster, im Folgenden als Lactobact-Urteil bezeichnet.

Zuständig für die Entscheidung, ob ein Erzeugnis als Arzneimittel oder als Lebensmittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts einzustufen ist, sind nach der Rechtsprechung des EuGH die nationalen Behörden.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 30; ebenso schon EuGH, Urteil vom 16.4.1991 – Upjohn – Rz 35.

Die Einfuhr eines Produkts berührt zwar sowohl den Ausfuhrmitgliedstaat als auch den Einfuhrmitgliedstaat. Bei streitiger Zulässigkeit der Marktverwertung nach Einfuhr entscheidet indessen der jeweilige Einfuhrmitgliedstaat über die Einstufung als Arzneimittel oder Lebensmittel ohne Bindung an die Auffassung des Ausfuhrmitgliedstaats.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 56; ebenso EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, betreffend Vitaminpräparate, Rz 53.

Die nationalen Behörden des Einfuhrmitgliedstaates, hier der Beklagte, haben mithin die Einstufung des streitigen Produkts mit Wirkung nur für ihren Staat vorzunehmen. Die Kontrolle der richtigen Einstufung ist sodann Sache der nationalen Gerichte.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 96 und 97; ebenso EuGH, Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Delattre-Urteil, Rz 35.

Mithin hat der Senat in dem vorliegenden Berufungsverfahren über die Einstufung des streitigen Produkts in Deutschland ohne Vorlage an den EuGH selbst zu entscheiden.

Die Anfechtungsklage hat Erfolg, wenn noch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsakts besteht.

Bader u.a., VwGO, 3. Auflage 2005, § 113 Rdnr. 34.

Der hier streitige Untersagungsbescheid vom 23.1.2002 auf der Grundlage von § 69 I Nr. 1 AMG verbietet das Inverkehrbringen des streitigen Produkts ab Bekanntgabe (25.1.2002) auf Dauer. Dauerverwaltungsakte sind häufig – so auch hier – als sich ständig aktualisierende Verwaltungsakte anzusehen, für die sodann verändertes neues Recht ebenfalls zu beachten ist.

Kopp/Schenke, VwGO, 14. Auflage 2005, § 113 Rdnr. 43; Bader u.a., VwGO, 3. Auflage 2005, § 113 Rdnr. 34.

Der Senat legt seiner Entscheidung das im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltende neue Recht zugrunde und geht auf älteres Recht seit 25.1.2002 (Bescheidbekanntgabe) zusätzlich ein.

Die Klägerin begehrt die Einstufung ihres Produkts als Lebensmittel.

Nach dem ab 7.9.2005 geltenden deutschen Recht werden Lebensmittel in § 2 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuches – LFGB – vom 1.9.2005 (BGBl. I S. 2618) wie folgt definiert:

Lebensmittel sind Lebensmittel im Sinne des Artikels 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002.

Mit Blick auf älteres Recht galt zwar bis zum 6.9.2005 formell noch die Lebensmitteldefinition des § 1 I LMBG in der Fassung vom 9.9.1997 (BGBl. I S. 2296) mit folgendem Wortlaut:

Lebensmittel im Sinne dieses Gesetzes sind Stoffe, die dazu bestimmt sind, in unverändertem, zubereitetem oder verarbeitetem Zustand von Menschen verzehrt zu werden; ausgenommen sind Stoffe, die überwiegend dazu bestimmt sind, zu anderen Zwecken als zur Ernährung oder zum Genuss verzehrt zu werden.

Diese Definitionsvorschrift musste aber bereits seit 21.2.2002 wegen des Anwendungsvorrangs des europäischen Rechts unangewendet bleiben. Die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28.1.2002, in Kraft getreten nach Artikel 65 am 21.2.2002, ist nach Artikel 65 der Verordnung in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Einer Umsetzung bedurfte es mithin nicht. Das Gemeinschaftsrecht hat gegenüber dem nationalen Recht einen Anwendungsvorrang.

Vgl. mit näherer Begründung sowohl aus dem Gemeinschaftsrecht als auch aus dem deutschen Recht mit Blick auf Artikel 23 GG Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 10 EGV Rdnrn. 27 bis 29.

Für die Lebensmitteldefinition ist mithin auszugehen von der Gesamtdefinition (positive und negative Abgrenzung) nach Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 – im Folgenden Lebensmittelverordnung -, die insoweit nicht abgeändert worden ist durch die Änderungsverordnung (EG) Nr. 1642/2003 vom 22.7.2003. Die europäische Lebensmitteldefinition enthält in Artikel 2 I eine Positivdefinition und in Artikel 2 III eine Negativdefinition, auf die nacheinander einzugehen ist. Die Positivdefinition in Artikel 2 I Lebensmittelverordnung lautet:

Im Sinne dieser Verordnung sind „Lebensmittel“ alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden.

Wie die Klägerin zu Recht hervorhebt, stellt die europäische Definition nicht mehr wie die deutsche Definition ausdrücklich auf den Ernährungs- oder Genusszweck ab. Sie ist von dem europäischen Verordnungsgeber bewusst weit gefasst. Dies ergibt sich ausdrücklich aus dem Erwägungsgrund 11 der Lebensmittelverordnung, wonach die Definition für ein hinreichend umfassendes einheitliches Konzept der Lebensmittelsicherheit weit gefasst werden müsse.

Das Produkt der Klägerin fällt nach der Auffassung des Senats bei der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung unter die weite europäische Positivdefinition eines Lebensmittels. Normativ vorausgesetzt sind zunächst einmal „Stoffe“. Das Produkt der Klägerin enthält ausweislich der in Fotokopie vorgelegten Faltschachtel sowohl nach dem jetzigen Stand von 2005 als auch dem von 2002 als einzigen Inhaltsstoff 400 mg indischen Weihrauchtrockenextrakt pro Tablette. Weiterhin ist der Stoff dazu bestimmt, in verarbeitetem Zustand – als Trockenextrakt und mit den Bindemitteln einer Tablette – von Menschen aufgenommen zu werden. Dies ist der Fall, denn nach der Verzehrempfehlung soll täglich eine Tablette nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit verzehrt werden. Zugunsten der Klägerin ist damit die weite europäische Positivdefinition der Lebensmittel erfüllt.

Weiter geht der Senat noch mit Blick auf den Zeitabschnitt Januar/Februar 2002 auf den Streit der Beteiligten um die engere deutsche Positivdefinition ein, die nach § 1 I des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes – LMBG – vom 9.9.1997 (BGBl. I S. 2296) noch zusätzlich einen Ernährungs- oder Genusszweck verlangt. Die Klägerin hat den Genusszweck einleuchtend mit drei Gutachten begründet, wonach Weihrauch seit Jahrtausenden verwendet wird, einen bitterlichen, eigenartigen Geschmack hat, sich für Gewürzzwecke eignet und ein gesundes, natürliches Gewürz darstellt.

Gutachten von Prof. Dr. Bertram vom 22.2.2001, Behördenakte Bl. 50, im Folgenden zitiert als Gutachten Bertram, dort S. 1 und S. 4; ebenso das Erstgutachten des Dipl.-Chemikers Reuss vom 10.1.2001, Behördenakte Blatt 3, im Folgenden zitiert als Gutachten Reuss, dort S. 1 zu Aromaeffekten und S. 3 zur Gewürzfunktion, sowie eingehender zu Genusszweck und ernährungsspezifischer Wirkung das weitere Gutachten des Dipl.-Chemikers Reuss vom 15.6.2003, in der Berufungsakte 3 R 7/05, im Folgenden zitiert als Zusatzgutachten Reuss.

Der Beklagte hat dem in einer relativ engen Betrachtungsweise entgegengehalten, der Weihrauch werde nach der Anwendungsvorschrift nicht als Gewürz gestreut und erfülle insofern nicht den Lebensmittelbegriff. Das überzeugt nicht, denn die deutsche Lebensmitteldefinition stellt in § 1 I LMBG auf den Verzehr selbst und nicht auf besondere Formen des Verzehrs wie etwa die Anwendung von Gewürzen nur als Streumittel ab. In der Kommentierung zur deutschen Lebensmitteldefinition ist anerkannt, dass Stoffe, die einen spezifischen Geruchs- oder Geschmackswert aufweisen wie Gewürze oder Aromastoffe, jedenfalls dem Lebensmittelbegriff unterliegen.

Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Band II, Stand März 2005, § 1 LMBG Rdnr. 42, zum bisherigen deutschen Recht.

Mithin liegt nachweislich ein Aromastoff vor, der auch nach der engeren deutschen Positivdefinition als Lebensmittel anzusehen ist. Für die weitere europäische Positivdefinition genügt wie bereits dargelegt bereits die Bestimmung zur Aufnahme durch Menschen. Genussmittel und Aromastoffe sind von der europäischen Definition ohne Weiteres umfasst, was sich zusätzlich noch durch die besondere Bestimmung des Artikel 2 II Lebensmittelverordnung ergibt, wonach Kaugummi – und damit ein Genussmittel - ausdrücklich zu den Lebensmitteln gerechnet wird.

Vgl. zur deutschen Lebensmitteldefinition Zipfel/Rathke § 1 LMBG Rdnr. 31, wonach Kaugummi wegen des Genusszwecks ein Lebensmittel darstellt.

Nach allem erfüllt das Produkt der Klägerin nach der Auffassung des Senats die europäische Positivdefinition eines Lebensmittels, die bereits seit 21.2.2002 gilt, und zuvor (25.1.-20.2.2002) die deutsche Positivdefinition.

Rein vorsorglich geht der Senat noch auf den Streit der Beteiligten um die derzeitige europäische Zusatzeinstufung als Nahrungsergänzungsmittel ein. Bereits die dosierte Abgabe des Produkts in Tablettenform spricht dafür, dass zusätzlich zu der allgemeinen Lebensmitteldefinition derzeit auch die Positivdefinition eines Nahrungsergänzungsmittels erfüllt ist. Nach Artikel 2 Buchstabe a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG vom 10.6.2002 lautet die europäische Positivdefinition wie folgt:

Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „Nahrungsergänzungsmittel“ Lebensmittel, die dazu bestimmt sind, die normale Ernährung zu ergänzen und die aus Einfach- oder Mehrfachkonzentraten von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung bestehen und in dosierter Form in den Verkehr gebracht werden, d.h. in Form von z.B. Kapseln, Pastillen, Tabletten, Pillen und anderen ähnlichen Darreichungsformen (es folgen weitere Darreichungsformen).

Damit ist im Jahr 2002 erstmals eine gemeinschaftsrechtliche Regelung der Nahrungsergänzungsmittel erfolgt. Die deutsche Umsetzung ist durch die Nahrungsergänzungsmittelverordnung vom 24.5.2004 mit Wirkung vom 28.5.2004 erfolgt, die in § 1 eine inhaltsgleiche Definition enthält. Der EuGH hat die Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie nach dem zutreffenden Hinweis der Klägerin dahingehend gewürdigt, dass sie eine gewisse Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften für die dort definierten Nahrungsergänzungsmittel vornimmt.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 70.

Nahrungsergänzungsmittel müssen sowohl nach der europäischen Definition als nach der umgesetzten inhaltsgleichen deutschen Definition zunächst einmal Lebensmittel sein. Insofern ist nach den bisherigen Darlegungen des Senats – allein – die positive Lebensmitteldefinition erfüllt. Weiter kommt es auf den Nahrungsergänzungszweck an. Darauf weist die Faltschachtel des Produkts der Klägerin ausdrücklich hin; insofern bestehen keine Bedenken. Die Frage, ob Weihrauch ein Nährstoff oder ein sonstiger Stoff ist, ist zwischen den Beteiligten streitig. Ein Nährstoff liegt zwar nicht vor, da das Produkt keine der nach Artikel 4 I in Verbindung mit Anhang I der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie aufgeführten Vitamine und Mineralstoffe enthält und dies in gleicher Weise für das umgesetzte Recht nach § 3 I und Anlage 1 der deutschen Nahrungsmittelergänzungsverordnung gilt. Mit sonstigen Stoffen ist nach dem Erwägungsgrund 6 der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie eine breite Palette von Stoffen gemeint, die auch Kräuterextrakte einschließt und damit erkennbar auch Aromastoffe. Ein Aromastoff liegt wie dargelegt vor.

Weiterhin müssen nach der Definition die sonstigen Stoffe eine ernährungsspezifische oder physiologische Wirkung haben. Mit dem Ausdruck physiologisch sind sprachlich die Lebensvorgänge im Organismus gemeint.

Duden, Das Fremdwörterbuch, 7. Auflage 2001, Stichwort Physiologie; ebenso im Sinne der Wissenschaft von den normalen Lebensvorgängen Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Physiologie.

Demgegenüber bezieht sich die ernährungsspezifische Wirkung speziell auf die Lebensvorgänge bei der Ernährung. Dazu mag die von der Klägerin aufgestellte Behauptung der Auswirkungen etwa auf den Cholesterin-Haushalt gehören. Entscheidungserheblich ist das nicht. Ernährungsspezifische Bedeutung kann bereits ein Stoff mit bitterem Geschmack – wie hier - haben.

Vgl. Zipfel/Rathke, § 1 LMBG Rdnr. 37, dort im Zusammenhang mit der Verwendung von bitterem Chinin aus ernährungsphysiologischen Gründen.

Die Klägerin hat nunmehr mit der Vorlage des Zusatzgutachtens Reuss einleuchtend nachgewiesen, dass Weihrauchextrakt aus ernährungsspezifischer Sicht die Lebensmittel bekömmlicher macht und die Freisetzung von Verdauungssekreten vorbereitet.

Zusatzgutachten Reuss vom 15.6.2003, in der Berufungsakte 3 R 7/05, Bl. 97.

Mindestens liegt aber als physiologische Wirkung die Geschmackswirkung eines Aromastoffs vor. Das genügt der Richtlinie.

Weiter muss nach Artikel 2 Buchstabe a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie und § 1 I Nr. 3 der deutschen Nahrungsergänzungsmittelverordnung ein Produkt in dosierter Form, insbesondere in Form von Tabletten vorliegen. Dies trifft auf das Produkt der Klägerin zu.

Nach dem vom Senat gefundenen Zwischenergebnis erfüllt das streitige Produkt der Klägerin entgegen der Meinung des Beklagten von Anfang an und auch jetzt die europäische und deutsche Positivdefinition eines Lebensmittels und die europäische Positivdefinition eines Nahrungsergänzungsmittels seit Erlass der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie.

Nach der Positivdefinition ist die Negativdefinition zu beachten.

Die als Verordnung unmittelbar verbindliche europäische Lebensmittelverordnung enthält neben der positiven Definition der Lebensmittel in Artikel 2 Abs. 3 auch eine Negativdefinition. Artikel 2 Abs. 3 lit. d lautete:

Nicht zu „Lebensmitteln“ gehören: Arzneimittel im Sinne der Richtlinien 65/65/EWG (21) und 92/73/EWG (22) des Rates.

Durch Artikel 128 der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83 EG vom 6.11.2001 sind alle Bezugnahmen auf die bereits aufgehobenen älteren Arzneimittelrichtlinien durch die Bezugnahme auf die Humanarzneimittelrichtlinie ersetzt. Nicht zu den Lebensmitteln gehören mithin nach der Norm seit 2001 Arzneimittel im Sinne der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83 EG.

Wesentlich ist für die weitere Subsumtion, dass die Negativdefinition allein auf Gemeinschaftsrecht verweist, die Umsetzung des Arzneimittelbegriffs aus den Richtlinien in nationales Recht mithin nach der Verordnung für die Negativabgrenzung außer Betracht bleiben muss.

Die dargelegte europäische Negativabgrenzung zu einem Arzneimittel ist systemgleich für Lebensmittel im Allgemeinen und für die Untergruppe der Nahrungsergänzungsmittel. Die Klägerin meint zwar (Schriftsatz vom 6.10.2005), die Untergruppe der Nahrungsergänzungsmittel sei wegen der besonderen Harmonisierung anders zu beurteilen als die übrigen Lebensmittel und bezieht dies möglicherweise auch auf die Abgrenzung zu Arzneimitteln. Die Abgrenzung ist aber für Lebensmittel im Allgemeinen und Nahrungsergänzungsmittel systemgleich. Dies ergibt sich sowohl aus dem Normvergleich als auch der Rechtsprechung des EuGH. Die Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG führt die Negativabgrenzung in Artikel 1 II wie folgt durch:

Diese Richtlinie gilt nicht für Arzneimittel, die in der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel definiert sind.

Eine „synchrone“ Abgrenzung von Nahrungsergänzungsmitteln und allgemeinen Lebensmitteln einerseits gegenüber Arzneimitteln andererseits wird vom Richtliniengeber zusätzlich dadurch erreicht, dass er in Artikel 2 Buchstabe a der Richtlinie Nahrungsergänzungsmittel ausdrücklich als Lebensmittel mit näher gekennzeichneten Eigenschaften definiert, mithin bereits die Lebensmitteldefinition in Artikel 2 der europäischen Lebensmittelverordnung erfüllt sein muss.

Die normativ angelegte synchrone Abgrenzung wird auch deutlich in dem Lactobact-Urteil des EuGH vom 9.6.2005. In dem Vorabentscheidungsverfahren ging es in dem Ausgangsverfahren des OVG Münster um Produkte, die von den Niederlanden nach Deutschland eingeführt und dort als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebracht werden sollten (Lactobact-Urteil Rz. 20). Der EuGH hat in diesem Urteil (Rz. 41 und 42) die beiden Abgrenzungsregelungen in Artikel 2 Abs. 3 Buchstabe d der Lebensmittelverordnung und Artikel 1 Abs. 2 der Nahrungsergänzungsrichtlinie synchron behandelt und als inhaltsgleich angesehen. Für die weitere gemeinschaftsrechtliche Prüfung kommt es ohne Differenzierung zwischen Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln mithin nur darauf an, ob das Produkt der Klägerin gleichzeitig ein Arzneimittel nach dem europäischen Arzneimittelbegriff ist.

Der Senat prüft nunmehr das Vorliegen eines Arzneimittels. Maßgebend ist dafür das Gemeinschaftsrecht.

Normativ war der europäische Arzneimittelbegriff von vornherein (seit 1965) doppelt angelegt und ist es auch jetzt. Arzneimittel sind sowohl Präsentationsarzneimittel als auch Funktionsarzneimittel.

Vgl. für die ursprüngliche Rechtslage Artikel 1 Nr. 2 Abs. 1 und 2 der Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG vom 26.1.1965; sodann Artikel 1 Nr. 2 Abs. 1 und 2 der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG vom 6.11.2001; nunmehr in der geänderten Fassung von Artikel 1 der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31.3.2004 nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 30.10.2005.

Die beiden Arzneimitteldefinitionen sollen sich nach der Rechtsprechung des EuGH ergänzen.

Urteil des EuGH Upjohn vom 16.4.1991 – C 112/89 -, Rz. 15 bis 18.

Mit der Definition des Präsentationsarzneimittels, das lediglich als Arzneimittel bezeichnet ist, sollen nicht nur Arzneimittel erfasst werden, die tatsächlich therapeutische oder medizinische Wirkung haben, sondern auch die Erzeugnisse, die nicht ausreichend wirksam sind. Die zweite Definition der Funktionsarzneimittel betrifft Erzeugnisse, die zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der Körperfunktionen bestimmt sind und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben können. Durch die zweite Definition sollen auch Stoffe erfasst werden, die Heilungswirkung haben, aber nicht als Arzneimittel bezeichnet werden. Auf die formelle Zulassung kommt es nach beiden Definitionen nicht an.

Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass das Produkt der Klägerin kein Präsentationsarzneimittel ist. Bereits auf der im Jahr 2002 verwendeten Faltschachtel (Fotokopie VG-Akte Bl. 93) wird das Mittel als Nahrungsergänzung bezeichnet mit einer Verzehrempfehlung. Auf der neuen 2005 verwendeten Faltschachtel (Fotokopie Berufungsakte 3 R 7/05, Bl. 51) wird das Produkt als Nahrungsergänzungsmittel bezeichnet und sie enthält den Hinweis, es sei kein vollständiges Lebensmittel und daher nicht als einzige Nahrungsquelle geeignet. Wesentlich für die Subsumtion ist noch, dass die Faltschachtel keinerlei Hinweis auf pharmazeutische Forschung enthält oder auf von Ärzten entwickelte Methoden oder Zeugnisse bestimmter Ärzte zugunsten der Eigenschaften des Produkts.

Zu diesen Kriterien eines Präsentationsarzneimittels vgl. das Delattre-Urteil des EuGH vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 41.

Auch der Beklagte meint, die Klägerin habe eine Präsentation als Arzneimittel vermieden. Mithin ist der Ausschluss eines Präsentationsarzneimittels übereinstimmend mit der Meinung der Beteiligten unproblematisch.

Schwieriger ist die Streitfrage zwischen den Beteiligten zu entscheiden, ob inhaltlich ein Funktionsarzneimittel vorliegt. Die Klägerin verneint dies für die maßgebende Tagesdosis von 400 mg Weihrauch, der Beklagte bejaht die Eigenschaft als Funktionsarzneimittel. Beide haben dafür wissenschaftliche Unterlagen und Gutachten vorgelegt.

Vorweg ist klarzustellen, dass der Inhaltsstoff Weihrauch unstreitig weder in der EG noch in einem Staat der EG über eine Marktgenehmigung als Arzneimittel verfügt und damit auch nicht im Ausfuhrland Österreich (vgl. insbesondere Schriftsatz der Klägerin vom 6.10.2005, S. 4/5, Gerichtsakte 3 R 7/05, Bl. 49/50). Die fehlende Zulassung steht aber der Einstufung als Funktionsarzneimittel von vornherein nicht entgegen, denn nach der Rechtsprechung des EuGH müssen Funktionsarzneimittel nicht als Arzneimittel bezeichnet sein.

EuGH im Upjohn-Urteil vom 16.4.1991, Rz. 18.

Da sie in einer solchen Aufmachung nicht zugelassen werden könnten, ist die Zulassung schon deshalb kein Definitionselement des Funktionsarzneimittels.

Zum begrifflichen Verständnis des europäischen Funktionsarzneimittels geht der Senat auf die Normentwicklung ein.

Die ursprüngliche Definition in Artikel 1 Nr. 2 Abs. 2 der Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG vom 26.1.1965 lautete:

Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden.

Innerhalb des zeitlichen Geltungsbereichs des streitigen Untersagungsbescheides vom 23.1.2002 galt zunächst die Arzneimitteldefinition nach Artikel 1 Nr. 2 Abs. 2 der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG vom 6.11.2001 in der ursprünglichen Fassung mit folgendem Wortlaut:

Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden, gelten ebenfalls als Arzneimittel.

Dem entspricht im Übrigen die ab 2002 geltende Umsetzung in § 2 I Nr. 5 AMG in der Fassung vom 20.6.2002 (BGBl. I. S. 2076) mit folgendem Wortlaut:

Arzneimittel sind Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die dazu bestimmt sind, durch Anwendung am oder im menschlichen oder tierischen Körper die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder seelische Zustände zu beeinflussen.

Nunmehr wird das europäische Funktionsarzneimittel nach Artikel 1 Nr. 2 Buchstabe b der Humanarzneimittelrichtlinie in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31.3.2004 wie folgt definiert:

Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen.

Die letztgenannte aktuelle Definition des Funktionsarzneimittels erschließt sich wegen der zahlreichen medizinischen Fachausdrücke auch bei Hinzuziehung von Fachlexika nicht ohne weiteres, wird aber durch die dargelegte Normgeschichte und die insbesondere noch darzulegende Rechtsprechung des EuGH insgesamt verständlicher. Die Definition soll zunächst wissenschaftsbezogen und alsdann an Hand der Rechtsprechung des EuGH verständlich gemacht werden.

Nach der aktuellen Definition muss ein Funktionsarzneimittel physiologische Funktionen wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen. Das Wort Physiologie bezeichnet die Wissenschaft von den normalen Lebensvorgängen.

Roche Lexikon Medizin, 5. Auflage 2003, Stichwort Physiologie; Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Physiologie.

Bei der Physiologie geht es wissenschaftsbezogen insbesondere um die physikalischen Funktionen des Organismus.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, Stichwort Physiologie.

Die bereits zitierte ursprüngliche Definition in der Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG hatte dafür den allgemein verständlichen Ausdruck Körperfunktionen verwendet, der die Bedeutung auch in der aktuellen Fassung zutreffend wiedergibt. Auch der EuGH verwendet in einem neueren Urteil von 2004 noch den Ausdruck Körperfunktionen mit Blick auf Funktionsarzneimittel.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, betreffend Vitaminpräparate, Rz. 58.

Nach der neuesten Definitionsfassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG wird die Art der Beeinflussung noch präzisiert. Es muss sich um eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung handeln. Bei der Immunologie geht es um die Erkennungs- und Abwehrmechanismen des Organismus gegenüber körperfremden Substanzen und metabolisch bedeutet den Stoffwechsel betreffend.

Beide Definitionen aus Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwörter Immunologie und metabolisch.

Fallbezogen von Bedeutung ist nur die pharmakologische Wirkung eines Stoffes. Aus wissenschaftlicher Sicht ist unter Pharmakologie die Lehre von den Wechselwirkungen zwischen Arzneistoffen und Organismus zu verstehen einschließlich dem Untergebiet Toxikologie.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Pharmakologie.

Die Pharmakologie betrifft ambivalent sowohl die Heilwirkung als auch die Giftwirkung eines Stoffes. Auch die Klägerin bezieht in ihrem Schriftsatz vom 6.12.2005 die toxische Dosierung in die pharmakologische Wirkung ein. Aus wissenschaftlicher Sicht bedeutet ein Pharmakon einen körperfremden oder körpereigenen Stoff, der nach Aufnahme im Körper oder an dessen Oberfläche erwünschte oder schädliche Wirkungen hervorruft.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Pharmakon.

Aus der Sicht der Pharmakologie wirken viele Pharmaka dosisabhängig entweder als Arzneimittel oder als Gift.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Pharmakon.

Quantitativ wird das in der Dosis-Wirkungs-Kurve erfasst.

Hunnius, Stichwort Dosis-Wirkungs-Kurve.

Bei diesem wissenschaftlichen Verständnis umfasst das Funktionsarzneimittel mit seiner pharmakologischen Wirkung nicht nur den Bereich einer positiven, therapeutischen Beeinflussung der Körperfunktionen, sondern auch den Bereich einer negativen, schädlichen Beeinflussung der Körperfunktionen. Kurz gesagt umfasst ein Funktionsarzneimittel positive und negative Auswirkungen auf die Gesundheit.

Das dargelegte wissenschaftsbezogene Verständnis der Definition entspricht auch dem praktischen Verständnis der europäischen Definition nach der Rechtsprechung des EuGH.

Der EuGH hat in einer neueren Entscheidung vom 29.4.2004 – C – 387/99 – betreffend Vitaminpräparate, Rz. 58, eine allgemein verständliche Definition des europäischen Funktionsarzneimittels gegeben:

Für die Einstufung eines Erzeugnisses als Arzneimittel nach der Funktion müssen sich die Behörden daher vergewissern, dass es zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der Körperfunktionen bestimmt ist und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben kann.

Aus demselben Urteil des EuGH vom 29.4.2004 ergibt sich auch, dass er die Auswirkungen auf die Gesundheit ambivalent, als sowohl positiv als auch negativ versteht, da er im Rz. 56 die positive Wirkung der Vitamine zu therapeutischen Zwecken und in Rz. 60 die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Gesundheit einschließlich etwaiger Schädlichkeitsgrade anspricht.

Die ambivalenten heilenden oder schädigenden Gesundheitswirkungen machen wie dargelegt die Besonderheit eines Pharmakons aus. Auf der Normebene hat erst die Änderungsrichtlinie 2004/27/EG die pharmakologische Wirkung ausdrücklich in die Definition des Funktionsarzneimittels aufgenommen. Damit hat der Richtliniengeber aber kein Neuland betreten, sondern die bisherige Rechtsprechung des EuGH übernommen, der in ständiger Rechtsprechung auf die pharmakologischen Eigenschaften des abzugrenzenden Produkts abstellt.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 – betreffend Vitaminpräparate Rz. 62; Upjohn Urteil vom 16.4.1991 – C – 112/89 -, Rz. 23, 24; Delattre-Urteile vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 26.

Die pharmakologischen Eigenschaften des Produkts werden damit als wesentlicher Gesichtspunkt für die Abgrenzung betrachtet. In der Rechtsprechung des EuGH drücken die pharmakologischen Eigenschaften zusammenfassend das aus, was mit der Beeinflussung der Körperfunktionen und somit Auswirkungen auf die Gesundheit konkreter umrissen ist. Deutlich wird der Zusammenhang insbesondere in dem Urteil Upjohn vom 16.4.1991 – C – 112/89 -, Rz. 17-24, in dem zunächst die Beeinflussung der Körperfunktionen mit Auswirkungen auf die Gesundheit dargelegt wird (Rz. 17), im Folgenden die Beeinflussung der Körperfunktionen näher erläutert wird (Rz. 19-22) und im unmittelbaren Anschluss daran (Rz. 23 und 24) zusammenfassend entschieden wird, dass das nationale Gericht auf die pharmakologischen Eigenschaften des betreffenden Erzeugnisses abstellen muss.

Übereinstimmend mit der bisherigen Rechtsprechung definiert der EuGH in seinem Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 52, den Rechtsprechungsbegriff der pharmakologischen Eigenschaften wirkungsbezogen wie folgt:

Die pharmakologischen Eigenschaften eines Erzeugnisses sind der Faktor, auf dessen Grundlage die mitgliedstaatlichen Behörden ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten dieses Erzeugnisses zu beurteilen haben, ob es im Sinne des Artikels 1 Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 dazu bestimmt ist, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden.

Die dargelegte Definition der pharmakologischen Eigenschaften klingt etwas kompliziert, fasst aber nur die bisherige Rechtsprechung zusammen, wonach der Begriff der pharmakologischen Eigenschaften konkret die Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen (Körperfunktionen) bedeutet. Die pharmakologischen Eigenschaften entsprechen also den pharmakologischen Wirkungen im Sinne des neuen Rechts.

Nach dem dargelegten Gesamtzusammenhang ist der bisherige Rechtsprechungsbegriff der pharmakologischen Eigenschaften von dem Richtliniengeber in der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG in Form einer pharmakologischen Wirkung in den Normtext aufgenommen worden. Die im Jahr 2004 geänderte Definition des Funktionsarzneimittels führt mithin nicht zu einer substanziellen Rechtsänderung.

In der Substanz der europäischen Arzneimitteldefinition geht es nach wie vor darum, ob ein Produkt zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der Körperfunktionen bestimmt ist und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben kann.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, betreffend Vitaminpräparate, Rz. 58.

Klar zu unterscheiden von der Auslegung der europäischen Normen, die der EuGH vorgenommen hat, ist die Rechtsanwendung. Im Lactobactfall des EuGH zielte die Vorlagefrage 1 a des OVG Münster, vgl. in der Wiedergabe des EuGH Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 25, unmittelbar auf die Feststellung, ob das Produkt Lactobact Lebensmittel oder Arzneimittel ist mit gegebenenfalls Verbindlichkeit für alle Mitgliedstaaten. Der EuGH hat in dem Lactobact-Urteil (Rz. 96) mit Blick auf die klare Aufgabentrennung zwischen nationalen Gerichten und Gerichtshof klargestellt, dass er im Vorlageverfahren nicht befugt ist über den Sachverhalt zu entscheiden und dass es vielmehr Sache des vorlegenden Gerichts ist, die Einstufung selbst vorzunehmen (Rz. 97). Ungeachtet dessen hat der EuGH in dem Lactobact-Urteil sowie schon zuvor Rechtsanwendungshinweise gegeben, die sich im Sinne einer Vollständigkeitsanforderung zusammenfassen lassen. Bei der Beurteilung eines Erzeugnisses müssen die Behörden (Lactobact-Urteil Rz. 51), alle seine Merkmale, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen Eigenschaften – wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen -, die Modalitäten seines Gebrauchs, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann, berücksichtigen.

Zur Klarstellung weist der Senat aber darauf hin, dass die Berücksichtigung sämtlicher Merkmale nicht deren Gleichrangigkeit bedeutet. Während die Wirkungen des Produkts auf die Körperfunktionen und damit die Gesundheitsauswirkungen als pharmakologische Eigenschaften schon definitionsgemäß wesentliche Bedeutung haben, hat der EuGH im Lauf seiner Rechtsprechung die Bedeutung der anderen Merkmale zu Hilfsmerkmalen herabgestuft. So hat er entschieden, dass etwa die äußere Form des Produkts kein allein ausschlaggebendes Indiz ist und die Modalitäten des Gebrauchs ein nicht an sich ausschlaggebender Umstand sind.

Vgl. zum Ersteren Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 38 und zum Letzteren Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 31.

Weiterhin hat eine unterschiedliche Verbreitung und Verbraucherbekanntheit des Produkts als Arzneimittel oder Lebensmittel in verschiedenen Mitgliedstaaten keine unmittelbar ausschlaggebende Wirkung, da der EuGH die unterschiedliche Einstufung von Erzeugnissen als Arzneimittel oder Lebensmittel in verschiedenen Mitgliedstaaten als rechtlich zulässig betrachtet.

EuGH im Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 56.

Nach der BGH-Rechtsprechung haben für die Produkteinstufung nach dem gemeinschaftsrechtlichen Arzneimittelbegriff Werbeangaben in Zeitschriften verglichen mit den pharmakologischen Wirkungen keine ausschlaggebende Bedeutung.

BGH, Urteil vom 11.7.2002 – I ZR 273/99 -, Juris-Ausdruck Rz. 23.

Der BGH gewichtet die pharmakologische Wirkung der Präparate deutlich stärker als die Verbraucherkenntnisse aus den Medien, was auch dem Sinn der EuGH-Rechtsprechung entspricht. Der EuGH schließt nicht aus, dass ein Produkt im Verkehr im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird, aber dennoch ein Arzneimittel im Sinne des europäischen Rechts ist.

EuGH, Urteil Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 21.

Die allgemeine Verkehrsauffassung ist also nicht ausschlaggebend.

Damit sind die Grundlagen der Einstufung eines Produkts als europäisches Funktionsarzneimittel geklärt.

Auf der dargelegten Grundlage bedarf es einer konkreten Prüfung, ob das Produkt der Klägerin ein Funktionsarzneimittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts ist.

Der Senat nimmt diese Prüfung von Amts wegen vor, worauf die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung hingewiesen worden sind. Dabei sind die von den Beteiligten vorgelegten wissenschaftlichen Unterlagen und Gutachten gleichrangig heranzuziehen.

Nach der vom EuGH geforderten Berücksichtigung aller Merkmale des Produkts ist zunächst die Zusammensetzung zu betrachten. Ausweislich der fotokopierten Faltschachteln von 2002 und 2005 (VG-Akte Bl. 93/94 und OVG-Akte 3 R 7/05 Bl. 51) besteht das Mittel abgesehen von hier nicht interessierenden Tablettenhilfsstoffen nur aus einem Inhaltsstoff, nämlich indischem Weihrauchtrockenextrakt von 400 mg pro Tablette; die Verzehrempfehlung lautet:

Täglich 1 Tablette nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit verzehren.

Die neue Faltschachtel von 2005 enthält zusätzlich den Hinweis, dass die täglich empfohlene Verzehrempfehlung nicht überschritten werden soll. Aus der Verzehrempfehlung ergibt sich zugleich, dass der Inhaltsstoff im menschlichen Körper verwendet werden soll.

Sodann sind im Sinne des EuGH Prüfungsschwerpunkt die pharmakologischen Eigenschaften des Inhaltsstoffs Weihrauch. Es kommt darauf an, ob Weihrauchextrakt physiologische Funktionen beeinflusst, und zwar durch eine pharmakologische Wirkung. Wie bereits dargelegt bedeutet die Prüfung einfacher ausgedrückt, ob Weihrauchextrakt Körperfunktionen beeinflusst mit positiven oder negativen Auswirkungen auf die Gesundheit.

Nach den dem Senat vorliegenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Gutachten zum Wirkstoff Weihrauch handelte es sich ursprünglich um ein traditionelles Mittel in Indien.

Vgl. umfassend die auf Anregung der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) durchgeführte Veröffentlichung von Privatdozent Safayhi und Prof. Dr. Ammon, Pharmakologische Aspekte von Weihrauch und Boswelliasäuren, im Folgenden zitiert als Safayhi/Ammon, in: Sonderdruck der Pharmazeutischen Zeitung Nr. 39, 142. Jahrgang 1997, S. 1 ff., dort S. 1 und S. 2; weiter Ammon Kurzbericht, Salai-Guggal – (Indischer Weihrauch), Gummiharz aus Boswellia serrata, in: Deutsches Ärzteblatt 95, Januar 1998, S. A-30 ff, im folgenden zitiert als Kurzbericht Ammon, dort S. A-30; zur traditionellen therapeutischen Verwendung in Asien und zur Herstellung des Therapeutikums in Indien; vgl. das von der Klägerin vorgelegte Gutachten von Prof. Dr. Bertram vom 22.2.2001 zur pharmakologischen Wirkung von Weihrauch, im Folgenden zitiert als Gutachten Bertram, dort S. 1 und S. 2.

Der Klägerin ist zuzustimmen, dass die Zuordnung eines Produkts zur traditionellen Ayurveda-Medizin ganzheitlich auch im Sinne einer gesunden Lebensweise mit geeigneten Lebensmitteln zu verstehen sein kann und für sich genommen nicht eine pharmakologische Wirkung nach modernen Wissenschaftsmaßstäben indiziert, vgl. zum ganzheitlichen Konzept der Ayurveda (Wissen vom Leben) Roche Lexikon Medizin, 5. Auflage 2003, Stichwort Ayurveda.

Die pharmakologischen Wirkungen der Hauptinhaltsstoffe von Weihrauch wurden indes in jüngster Zeit wissenschaftlich erforscht, und zwar in Untersuchungen ab 1986.

Gutachten Bertram, S. 1, und Jahreszahl bei Safayhi/Ammon, S. 2.

Das Hauptergebnis der bisherigen Forschung liegt nach der Angabe von Fachlexika sowie nach den von beiden Beteiligten vorgelegten wissenschaftlichen Unterlagen und Gutachten darin, dass Weihrauchextrakt mit seinem Gehalt an Boswelliasäuren Entzündungsprozesse beeinflusst.

Safayhi/Ammon, mit ausführlicher Darlegung der Entzündungsmodelle, S. 2 – S. 5; Kurzbericht Ammon, S. A-30; Gutachten Bertram, S. 2, wobei die Bezeichnung antiphlogistische Wirkungen entzündungshemmende Wirkungen bedeutet; Roche Lexikon Medizin, 5. Aufl. 2003, Stichwort Boswellia serrata, mit Hinweis auf die nachgewiesene Wirkung bei den Entzündungskrankheiten Colitis ulcerosa und Enteritis regionalis (Crohn-Krankheit) sowie unterstützend bei Polyarthritis; zurückhaltender im Sinne zugeschriebener Wirkungen bei Entzündungskrankheiten Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Aufl. 2004, Stichwort Boswellia serata unter Weiterverweisung auf das Stichwort Boswellia bhaw-dajiana; zurückhaltend ebenfalls das von der Klägerin vorgelegte Gutachten Reuss, S. 1, wonach Weihrauch nach vorliegenden wissenschaftlichen Publikationen eine arzneiliche Wirkung haben soll und es (S. 2) für entzündliche Erkrankungen einen therapeutisch beanspruchten Anwendungsbereich gibt, positiv Bertsche/Schulz, Kurzbewertung, 2002, Berufungsakte 3 R 7/05 Bl. 71 R.; ebenso Gupta u.a., 2001, Zusammenfassung einer Forschungsarbeit zur Colitis, Berufungsakte 3 R 7/05, Bl. 75.

Die bei chronischen Entzündungen ablaufenden soweit hier einschlägigen Körperprozesse sind bei Safayhi/Ammon S. 2 und 3, als Kausalketten im Sinne eines Entzündungsmodells zusammengefasst. Danach ist die 5 – Lipoxygenase das Schlüsselenzym der Leukotrienbiosynthese. Die Produkte der 5 – Lipoxygenase, die Leukotriene, sind hochwirksame Mediatoren (Förderer) chronischer Entzündungen. Pharmazeutisch gesucht zur Entzündungsbekämpfung werden mithin Inhibitoren (Hemmstoffe), die bereits das Schlüsselenzym, die 5 – Lipoxygenase, hemmen. Solche Hemmstoffe sind zwar in der Forschung bekannt, haben aber regelmäßig reduzierende oder oxidierende Eigenschaften und wirken sich deshalb toxisch aus. Pharmazeutisch gesucht werden deshalb Inhibitoren der chronischen Entzündungen mit besserer Verträglichkeit. Die Boswelliasäuren – chemisch Triterpene - als Inhaltsstoffe des Weihrauchs erweisen sich nach den Forschungsergebnissen als nicht reduzierende oder oxidierende und insofern einmalige Hemmstoffe der Leukotriensynthese und damit chronischer Entzündungen (Safayhi/Ammon S. 4 mit einem Diagramm). Der bei Safayhi/Ammon eingehend dargelegte Wirkungsmechanismus der Leukotrienhemmung wird in anderen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und im Gutachten Bertram der Klägerin kurz dargestellt oder erwähnt.

Kurzbericht Ammon, a.a.O., S. A-31; Kurzbewertung Bertsche/Schulz, S. 1; das von der Klägerin vorgelegte Gutachten Bertram, S. 2/3; zurückhaltend Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, Stichwort Boswellia serrata unter Weiterverweisung auf Boswellya bhaw-dajiana, positiv Bertsche/Schulz, S. 1; Gupta u.a., Zusammenfassung S. 1.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Boswelliasäuren, allerdings in wesentlich höheren Konzentrationen, auch zur Behandlung von Hirnödemen bei Tumoren eingesetzt werden.

Safayhi/Ammon, S. 7, dort zu einer täglichen Dosis von 3600 mg, Bertsche/Schulz, S. 2: mindestens 3600 mg.

Begrenzt auf die Behandlung von Ödemen bei Gehirntumoren und damit auf diesen hoch dosierten Anwendungsbereich ist der vorgelegte Bescheid der Europäischen Kommission vom 21.10.2002 (Berufungsakte Bl. 69 R) ergangen, der Weihrauchextrakt als potenzielles Arzneimittel für diese seltene Krankheit ausweist; auf die Rechtswirkung dieses Bescheides ist noch einzugehen.

Vorliegend ist wesentlich, dass Weihrauchextrakt abgesehen von diesem seltenen Anwendungsbereich ganz allgemein Entzündungen beeinflusst.

Der dargelegte Wirkungsmechanismus bei Entzündungen bedeutet im Sinne der Definition des EuGH, dass die Körperfunktionen beeinflusst werden, und zwar mit Auswirkungen auf die Gesundheit. Chronische Entzündungen werden mit positiver Gesundheitswirkung gehemmt. Bei dem Eingriff in die bei Entzündungen ablaufenden Körperprozesse handelt es sich um eine pharmakologische Wirkung hier im Sinne einer positiven therapeutischen Einwirkung. Eine pharmakologische Wirkung von Weihrauch wird in der Veröffentlichung von Safayhi/Ammon (S. 8) ausdrücklich bejaht. Auch das von der Klägerin selbst vorgelegte Gutachten Bertram gibt an, dass die pharmakologischen Wirkungen der Hauptinhaltsstoffe von Weihrauch erst in jüngster Zeit systematisch beforscht wurden (S. 1), weist auf antientzündliche Wirkungen hin und gibt dazu den wahrscheinlichen Wirkmechanismus an (S. 2).

Damit ist aber nach den vorliegenden Forschungsergebnissen die Wirkung von Weihrauchextrakt auf Entzündungsprozesse noch nicht erschöpft. Weihrauchextrakt kann auch den umgekehrten Effekt haben, dass er – nunmehr in niedriger Konzentration – Entzündungsprozesse fördert. Die pharmakologische Wirkung soll vom Sinn her - dem Gesundheitsschutz des Verbrauchers - die ambivalenten Gesundheitswirkungen insgesamt erfassen. Insofern greift die Argumentation der Klägerin zu kurz, die negative Gesundheitsauswirkungen nur bei Überdosierung, nicht bei Unterdosierung in den Blick nimmt. Ergeben wie hier beim Weihrauchextrakt Forschungsergebnisse eine negative Gesundheitsauswirkung ausnahmsweise bei Unterdosierung, muss sie zum Gesundheitsschutz auch rechtlich als pharmakologische Wirkung beachtet werden.

Das „Umkippen“ der Wirkung erklärt sich aus der chemischen Vielfalt von Weihrauchextrakt. Es gibt keinen einheitlichen Wirkstoff Boswelliasäure, sondern unterschiedliche Boswelliasäuren mit unterschiedlichen pharmazeutischen Wirkungen.

Bertsche/Schulz, S. 1; konkreter zu den unterschiedlichen Boswelliasäuren und ihren Wirkungen vgl. bei Safayhi/Ammon, S. 4, die Tabelle 1; zum Gehalt von indischem Weihrauch an pentazyklischen (fünfringigen) Triterpensäuren und tetrazyklischen (vierringigen) Triterpensäuren Gutachten Bertram, S. 2.

Wesentlich ist das Zusammenwirken der Inhaltsstoffe, die auch antagonistisch (im Sinne der Gegenwirkung) wirken können.

Safayhi/Ammon S. 5 und S. 8, Bertsche/Schulz, S. 1.

Eine hinreichend starke Gegenwirkung bedeutet konkret, dass Weihrauchextrakt dann die Leukotriensynthese und damit den chronischen Entzündungsprozess verstärkt. Gerade für einen solchen Umkehreffekt liegen Forschungsergebnisse vor.

Schlusswort Ammon als Ergänzung des Kurzberichts in: Deutsches Ärzteblatt 95, Oktober 1998, S. A-2482, im Folgenden zitiert als Schlusswort Ammon; ebenso als Forschungsergebnis berücksichtigt in dem von der Klägerin selbst vorgelegten Gutachten Bertram vom 22.2.2001, S. 3; Bertsche/Schulz, S. 1.

Verantwortlich gemacht für den Umkehreffekt werden die Tirucallsäuren.

So als positive Feststellung Bertsche/Schulz, S. 1; als Möglichkeit Gutachten Bertram, S. 3.

Konsequenterweise sehen Bertsche/Schulz die im Weihrauchextrakt enthaltenen Tirucallsäuren als pharmakologisch wirksame Substanzen an.

Bertsche/Schulz, S. 1.

Die Tirucallsäuren wirken bereits bei niedriger Dosierung des Stoffgemischs, die Boswelliasäuren erst bei höherer Dosierung.

In dem zitierten Schlusswort von Ammon (S. A-2482) wird nochmals hervorgehoben, dass Weihrauchextrakte nicht eine einzelne Wirksubstanz enthalten, sondern ein Gemisch von Wirksubstanzen mit nicht einheitlichem Wirkungsmechanismus. Sodann ist ausgeführt, dass die richtige Dosierung eine wesentliche Rolle spielt. Das räumt auch die Klägerin ein. Danach heißt es wörtlich:

Bei niedriger Dosierung eines Extraktes kann es sogar zu einer Stimulierung der Leukotriensynthese kommen.

Wie bereits dargelegt bedeutet die Stimulierung der Leukotriensynthese auch eine Verstärkung der chronischen Entzündungsprozesse und damit eine pharmakologisch negative Wirkung. Das von der Klägerin selbst vorgelegte Gutachten Bertram, S. 3, bestätigt dieses Forschungsergebnis, dass in niedriger Dosierung die Bildung von 5 – Lipoxygenaseprodukten erhöht sein kann und fügt hinzu, diesem Befund müsse weiter nachgegangen werden. Die im Gutachten Bertram genannten 5 – Lipoxygenaseprodukte sind gerade die Leukotriene und fördern als Mediatoren chronische Entzündungen.

Ausführlich zu der gesamten Kausalkette Safayhi/Ammon, S. 3, und kurz zusammengefasst Gutachten Bertram, S. 2.

Das einleuchtend mit der antagonistischen Wirkung und damit mit der Wirkung einzelner Wirkstoffe des Stoffgemischs Weihrauch – Tirucallsäuren - erklärte Forschungsergebnis muss bei den pharmakologischen Wirkungen von Weihrauch beachtet werden.

Die vom Senat aus Verständnisgründen zunächst nur qualitativ dargelegte pharmakologische Wirkung bedarf mit Blick darauf, dass das Produkt der Klägerin eine Tagesdosis von 400 mg Weihrauch in Form einer Tablette empfiehlt, nun auch einer quantitativen Darlegung. Von dieser empfohlenen Menge – die nach der neuen Packungsangabe auch nicht überschritten werden soll – ist vernünftigerweise auszugehen. Die von dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in seiner Stellungnahme vom 29.9.2005 erwähnte Möglichkeit einer Mehrfacheinnahme würde im Grunde jede Dosierungsvorschrift bei anerkannten Arzneimitteln entwerten und überzeugt schon deshalb nicht. Die Kritik der Klägerin an dieser Stellungnahme trifft zu.

Nach den vorliegenden Forschungsergebnissen ist das quantitative Spektrum pharmakologischer Wirkungen (positiv und negativ) des Weihrauchs relativ weit. Nach übereinstimmenden Feststellungen von Safayhi/Ammon, S. 7, und dem Bertramgutachten, S. 3, werden insbesondere Tumorpatienten mit der hohen Tagesdosis von 3600 mg Weihrauch-Trockenextrakt in wissenschaftlichen Studien behandelt. In diesem hoch dosierten Bereich ist auch der positive Bescheid der Europäischen Kommission vom 21.10.2002 zur Ausweisung als Forschungsarzneimittel ergangen. Die Grenze guter Verträglichkeit von Weihrauchextrakt liegt in der Regel bei 1200 mg pro Tag, während hohe Dosen von 3600 mg pro Tag zu Nebenwirkungen führen können.

Safayhi/Ammon, S. 7, zu relativ seltenen Nebenwirkungen Bertsche/Schulz, S. 2.

Für die im vorliegenden Rechtsstreit erhebliche Hauptwirkung von Weihrauch, die antientzündliche Wirkung, wird nach den im Wesentlichen übereinstimmenden Veröffentlichungen und Gutachten eine Tagesdosis von ungefähr 800 bis 1600 mg verabreicht.

So Gutachten Reuss vom 10.1.2001, S. 2, mit Blick auf die publizierten Studien; ähnlich Safayhi/Ammon mit der Tagesdosis von 800 bis 2000 mg in einer Pilotstudie (S. 5) und der Verabreichung von 1050 mg bei Colitis ulcerosa (S. 7); das Gutachten Bertram kommt allerdings unter Einschluss der sehr hohen Dosierungen bei Tumorpatienten (S. 3) zu einer höheren pharmakologischen Dosis zwischen insgesamt 900 und 3600 mg am Tag (S. 4); Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 29.9.2005: ab 900 mg; Bertsche/Schulz, S. 1 und 2: 900 mg bei Asthma, mindestens 3600 mg bei Ödemen.

Eine positive Wirkung auf Entzündungen ist nach dem Forschungsstand, wie er dem Senat aus den vorliegenden Unterlagen ersichtlich ist, mithin ungefähr bei einer Tagesdosis von 800 bis 1600 mg gegeben.

Von der regelmäßigen pharmakologischen Tagesdosis von 800 bis 1600 mg ist der tiefer liegende untere Dosisbereich bei Weihrauch zu unterscheiden. Den unteren Dosisbereich siedelt das Gutachten Bertram bei einer Tagesdosis unter 500 mg an, wie sie hier vorliegt.

Gutachten Bertram vom 22.2.2001, S. 1 (unterer Dosisbereich) im Zusammenhang mit S. 4 (Tagesdosis unter 500 mg).

Da die Untergrenze des positiven therapeutischen Einsatzes von Weihrauchextrakt nach den vorliegenden Veröffentlichungen und Gutachten wie dargelegt bei 800 bis 900 mg Tagesdosis liegt, ist die Hälfte der Untergrenze (ca. 450 mg) sicherlich als niedrige Dosierung anzusehen.

Gerade bei einer niedrigen Dosierung von Weihrauchextrakt kommen nach den dargelegten Forschungsergebnissen aber die antagonistischen Wirkungen des Stoffgemischs aus Boswelliasäuren und Tirucallsäuren zur Geltung. Das Forschungsergebnis der Stimulierung der Leukotriensynthese und damit der Verstärkung von Entzündungsprozessen betrifft den Fall der niedrigen Dosierung des Weihrauchextraktes.

Übereinstimmend Schlusswort Ammon, S. A-2482, Gutachten Bertram, S. 3, und Bertsche/Schulz, S. 1 und 2.

Die dem Gericht vorliegenden Forschungsunterlagen und Gutachten enthalten keine Gegenfeststellung, die dieser antagonistischen Wirkung konkret widerspricht. Konsequenterweise kommen Bertsche/Schulz (S. 1) zu dem Ergebnis, dass die im Weihrauchextrakt enthaltenen Tirucallsäuren als Verursacher des Umkehreffekts in niedriger Konzentration des Weihrauchextrakts pharmakologisch wirksame Substanzen sind.

Diese Konsequenz ziehen die von der Klägerin selbst vorgelegten Gutachten zwar nicht. Die von der Klägerin vorgelegten Gutachten Bertram und Reuss kommen nur deshalb zum Ausschluss einer pharmakologischen Wirkung in niedriger Dosis, weil sie die maßgebende pharmakologische Wirkung auf die therapeutische Wirkung einengen.

Das Gutachten Reuss (S. 2) nimmt von vornherein nur den therapeutisch beanspruchten Anwendungsbereich in den Blick und schließt die therapeutisch verstandene pharmakologische Wirkung bei einer niedrigen Dosis von 30 % beziehungsweise 50 % der üblichen Dosis aus. Nichts anderes gilt für das Gutachten Bertram (S. 4). Die Bewertung der Dosisbereiche wird mit Blick auf den ausdrücklich angeführten therapeutischen Erfolg vorgenommen, und insoweit einer Tagesdosis unter 500 mg keine pharmakologische Wirkung mehr beigemessen. Nur bei dieser aus dem Gutachtentext ersichtlichen Auslegung bleibt das Gutachten widerspruchsfrei, denn der Gutachter Bertram hat bei der Betrachtung des Wirkmechanismus durchaus gesehen (S. 3), dass bei niedrigerer Dosierung die Bildung von Entzündungsverstärkern erhöht sein kann.

Nach allem ist ersichtlich, dass beide von der Klägerin vorgelegten Gutachten Bertram und Reuss nur den therapeutisch beanspruchten Anwendungsbereich bei niedriger Dosierung ausschließen. Eine positive Wirkung fehlt nach den Gutachten in diesem Bereich und eine negative Wirkung wird ausgeblendet.

Entscheidend sind aber die Forschungsergebnisse über einen Umkehreffekt bei niedriger Dosis. Die Hauptwirkung auf Entzündungsprozesse kehrt sich um. Diese Forschungsergebnisse werden in den vorliegenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Gutachten an keiner Stelle konkret angegriffen. Die Forschungsergebnisse sind auch mit Blick auf den dargelegten antagonistischen Effekt des Stoffgemischs für das Gericht einleuchtend nachvollziehbar und überzeugend. Die Tirucallsäuren wirken bereits bei niedriger Dosierung des Stoffgemischs, die Boswelliasäuren erst bei höherer Dosierung. Mithin besteht zwischen den Gutachten und den wissenschaftlichen Veröffentlichungen insgesamt kein konkreter fachlicher Widerspruch, der die Einholung eines Obergutachtens durch den Senat bei der von Amts wegen durchgeführten Prüfung aufdrängen würde.

Nach der dargelegten Würdigung hat das Wirkstoffgemisch Weihrauch bei einer Gesamtbetrachtung der positiven und negativen pharmakologischen Wirkungen ein weites Spektrum der pharmakologisch wirksamen Tagesdosis.

Eine hohe Tagesdosis von etwa 3600 mg entspricht der Ödembehandlung von Tumorpatienten und ist Gegenstand einer europäischen Ausweisung als Forschungsarzneimittel.

Die positive pharmakologische Wirkung im Sinne einer Therapie von Entzündungen besteht in einem Dosisbereich etwa zwischen 800 und 1600 mg Tagesdosis.

Bei einer niedrigen Tagesdosis von 400 bis 500 mg gibt es unwidersprochene Forschungsergebnisse im Sinne einer Verstärkung von Entzündungen insbesondere durch Tirucallsäuren und damit einer negativen pharmakologischen Wirkung. Eine Gesundheitsgefahr ist hier dem Grunde nach zu bejahen. Mit Blick auch auf die antagonistischen Wirkungen kommt auch die wissenschaftliche Veröffentlichung Safayhi/Ammon (S. 8) zu dem Ergebnis, von einer freizügigen Abgabe von Weihrauch sei abzuraten. Bertsche/Schulz warnen mit Blick auf den Umkehreffekt vor nicht ausreichend hoher Dosierung und befürworten sogar die Hochdosierung von 3600 mg.

Bertsche/Schulz, S. 2.

Daran gemessen fällt die tägliche Einnahme von 400 mg Weihrauchextrakt erkennbar in den zu vermeidenden niedrigen Dosisbereich.

Nach allem ist eine Beeinflussung von Körperfunktionen mit pharmakologischer Wirkung und damit positiven oder negativen Auswirkungen auf die Gesundheit für Weihrauchextrakt nicht nur in hohen, sondern auch in niedrigen Tagesdosen wie hier von 400 mg aufgrund der Forschungsergebnisse zu bejahen.

Gesundheitsgefahren sind bei einem Funktionsarzneimittel in jedem Fall zu berücksichtigen.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 - C-211/03 -, Rz. 53, dort als eigenständiger Faktor hervorgehoben.

Die bereits dargelegte gemeinschaftsrechtliche Definition des Funktionsarzneimittels in der Arzneimittelrichtlinie ist erfüllt, da eine Beeinflussung physiologischer Funktionen durch pharmakologische Wirkungen nach dem Forschungsstand zu bejahen ist. Weihrauch hat die pharmakologische Wirkung, dass er die Körperfunktionen bei Entzündungsprozessen mit Auswirkungen auf die Gesundheit beeinflusst.

Mit der Betrachtung der pharmakologischen Eigenschaften des Wirkstoffs in dem streitigen Produkt der Klägerin ist die Subsumtion erst im Schwerpunkt abgeschlossen.

Wie dargelegt bedarf es nach der Rechtsprechung des EuGH für die Einstufung eines Produkts der Berücksichtigung aller seiner Merkmale. Dazu gehören über die geprüfte Zusammensetzung, die pharmakologischen Eigenschaften und die Risiken hinaus noch die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung und die Bekanntheit bei den Verbrauchern.

EuGH im Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 51.

Mithin sind noch diese Hilfsmerkmale nachfolgend zu berücksichtigen.

Zu beginnen ist mit den Modalitäten des Gebrauchs. Nach der Anweisung auf der Faltschachtel ist täglich eine Tablette nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit zu verzehren. Darin liegt einerseits die für Arzneimittel übliche Einnahme, andererseits werden nach Artikel 2 Buchstabe a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG Nahrungsergänzungsmittel ebenfalls in dosierter Form unter anderem in Tablettenform eingenommen. Das Merkmal ist also nicht trennscharf. Auch der EuGH hat dem Umstand, dass ein streitiges Erzeugnis nach der Gebrauchsanweisung in Wasser oder Joghurt verrührt werden sollte, keine an sich ausschlaggebende Bedeutung beigemessen.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 31.

Als nächster Gesichtspunkt ist die Verbreitung des weihrauchhaltigen Produkts der Klägerin in den Blick zu nehmen. Die Klägerin importiert ihr Produkt aus Österreich und bringt es als Nahrungsergänzungsmittel auf den deutschen Markt. Werbung für ihr Produkt wie für ein Arzneimittel betreibt sie nach der insoweit unwidersprochenen Klagebegründung (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 15) nicht. Das namensgleiche Produkt wird in Österreich selbst ebenfalls als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebracht, indessen nicht von der Klägerin, sondern von der Firma G. Die Firma G hat das namensgleiche Produkt in Österreich als Verzehrprodukt angemeldet (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 27) und betreibt in Österreich nach dem belegten Vortrag des Beklagten Werbung für die entzündungshemmende Wirkung der namensgleichen Weihrauchtabletten ebenfalls mit dem Inhalt von 400 mg Weihrauch.

Vortrag des Beklagten im Schriftsatz vom 17.10.2002, S. 2 (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 111) und Auszug aus der Homepage der österreichischen Firma (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 113).

Weiterhin ist das namensgleiche Produkt nach dem belegten Vortrag der Klägerin in Großbritannien als Nahrungsmittel im freien Verkehr.

Bescheinigung des britischen Agrarministers vom 9.8.2001, Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 28.

Ergänzend ist noch die Verbreitung von nicht namensgleichen Konkurrenzprodukten mit dem identischen Inhaltsstoff Weihrauch in den Blick zu nehmen. Insoweit hat die Klägerin nachgewiesen, dass auf dem deutschen Apothekenmarkt ausweislich des zentralen Bestellsystems der Lauer-Taxe insgesamt 11 nicht namensgleiche Weihrauchprodukte als Nahrungsergänzungsmittel bestellt werden können.

Schriftsatz vom 11.8.2005, S. 3/4, OVG Akte 3 R 7/05 Bl. 20/21 mit Anlage K 22, OVG Akte Bl. 23 ff..

Bei einer Würdigung der Verbreitung des namensgleichen Produkts der Klägerin muss gesehen werden, dass das Produkt in drei Staaten der EU – Österreich, Deutschland und Großbritannien - als Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt ist. In Österreich wird es – allerdings nicht von der Klägerin – von der vertreibenden Firma als entzündungshemmend und damit wie ein Arzneimittel beworben.

Zur rechtlichen Qualifizierung vgl. das Urteil des EuGH Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 – Rz. 27, wonach eine Veröffentlichung des Herstellers oder Verkäufers mit der Bezeichnung therapeutischer Wirkungen als entscheidendes Indiz für die Absicht des Herstellers oder Verkäufers anzusehen ist, das Erzeugnis als Präsentationsarzneimittel in den Verkehr zu bringen.

Eine Verkehrsgenehmigung auf EU-Ebene hat hoch dosierter Weihrauchextrakt als Mittel gegen Gehirnödeme noch nicht, wohl aber den Status eines Forschungsarzneimittels.

Den vom Beklagten vorgetragenen Import von Weihrauchextrakt als Fertigarzneimittel aus der Schweiz und aus Indien hält die Klägerin für unzulässig, da es im Fall der Schweiz an einer landesweiten Arzneimittelzulassung und im Fall Indiens an einer mit deutschem Recht vergleichbaren Zulassung fehle, vielmehr Weihrauchextrakt in Indien ein Lebensmittel sei und der Lebensmittelüberwachung unterliege. Dieser Vortrag kann zugunsten der Klägerin als richtig unterstellt werden.

In diesem Fall spricht der Gesichtspunkt der Verbreitung eher für die Einordnung als Lebensmittel. Er hat aber verglichen mit den festgestellten pharmakologischen Wirkungen des Produkts keine für sich entscheidende Bedeutung.

Sodann ist als weiteres Merkmal noch wie dargelegt die Bekanntheit des Produkts bei den Verbrauchern zu würdigen.

Die Klägerin nimmt an, ihr Weihrauchprodukt sei insbesondere mit Blick auf das deutsche Apothekensortiment mit zahlreichen weiteren Weihrauchprodukten als Nahrungsergänzungsmittel dem informierten deutschen Verbraucher als Lebensmittel bekannt. Demgegenüber nimmt der Beklagte an, dem informierten deutschen Verbraucher sei abgesehen von der speziellen Arzneimittelwerbung im Internet für das namensgleiche Produkt in Österreich auch ansonsten durch das Internet die Arzneimitteleigenschaft bekannt, was die Klägerin mit rechtlichen Gesichtspunkten zur Unmaßgeblichkeit von Medienwerbung bekämpft.

Bei der Würdigung der konkreten Verbraucherkenntnisse schließt sich der Senat weder dem Standpunkt der Klägerin noch dem des Beklagten an. Überzeugender erscheint vielmehr das von der Klägerin vorgelegte Gutachten Reuss vom 10.1.2001 (S. 2), wonach die Verkehrsauffassung als mögliches Kriterium für die Abgrenzung zwischen Lebensmitteln und Arzneimitteln im Fall Weihrauch ohne wesentliche Bedeutung ist. Der Gutachter begründet dies damit, dass eine arzneiliche Wirkung beim durchschnittlich informierten deutschen Verbraucher kaum bekannt ist. Eine Bekanntheit von Weihrauch als Nahrungsmittel nimmt der Gutachter aber ersichtlich ebenfalls nicht an, weil anderenfalls die Verkehrsauffassung entgegen seiner Fachmeinung zu einem eindeutigen Ergebnis führte. Die richtige Einordnung von Weihrauch, der eher als Kultmittel bekannt ist, wird einen durchschnittlich informierten Verbraucher kaum berühren. Konkrete Verbraucherkenntnisse über die Lebensmittel- oder Arzneimitteleigenschaft können also nicht erwartet werden.

Der Gesichtspunkt der Verbraucherkenntnisse ist jedenfalls gegenüber den festgestellten pharmakologischen Eigenschaften nicht ausschlaggebend.

Zu den beiden zuletzt genannten Gesichtspunkten der Verbreitung und der Verbraucherkenntnisse führt der Senat noch eine Hilfserwägung durch. Im günstigsten Fall könnte die gerichtliche Würdigung dieser Gesichtspunkte zu dem Ergebnis führen, dass ein Weihrauchprodukt im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird. Selbst diese allgemeine Ansicht würde es aber nicht hindern, dass ein solches Produkt dennoch nach dem europäischen Arzneimittelbegriff als Arzneimittel einzuordnen ist.

So das Urteil des EuGH Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 21, für aus Südamerika eingeführte Kräutertees.

Damit kann der Prüfungsabschnitt über die Einstufung des Produkts der Klägerin als Arzneimittel abgeschlossen werden.

Nach der Überzeugung des Senats ist das weihrauchhaltige Produkt der Klägerin unter Berücksichtigung aller seiner Merkmale, insbesondere seiner Zusammensetzung, seiner pharmakologischen Eigenschaften – wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen – der Modalitäten seines Gebrauchs, des Umfangs seiner Verbreitung, seiner Bekanntheit bei den Verbrauchern und der Risiken nach dem maßgebenden Gemeinschaftsrecht als Funktionsarzneimittel im Sinne sowohl der ursprünglichen Arzneimittelrichtlinie 2001/83/EG als auch der dargelegten Änderungsfassung durch die Arzneimittelrichtlinie 2004/27/EG anzusehen.

Damit führen die bisherigen Prüfungsschritte des Urteils zu dem Doppelergebnis, dass das Produkt der Klägerin mit 400 mg Weihrauchextrakt Tagesdosis nach den europäischen Definitionen sowohl ein Aromastoff und damit ein Lebensmittel ist als auch ein Funktionsarzneimittel mit Blick auf seine antagonistische Wirkung auf Entzündungsprozesse. Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts unterliegt das Produkt mithin nach vollständiger Subsumtion einerseits der Lebensmittelverordnung 178/2002 und zusätzlich der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG, andererseits auch der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG in der ursprünglichen Form und gleichermaßen in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG.

Dieses Doppelergebnis auf der europäischen Rechtsebene bedarf aber einer juristischen Auflösung wegen seiner widersprüchlichen Konsequenzen.

Ein Lebensmittel fällt unstreitig grundsätzlich unter den freien Handelsverkehr der Mitgliedstaaten (vgl. zum Grundsatz Artikel 28 EGV). Anderes gilt für Arzneimittel. Ausnahmen vom Grundsatz der Handelsfreiheit bestehen nach Artikel 30 EGV insbesondere zum Gesundheitsschutz, worunter das Arzneimittelrecht fällt.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 30 Rdnr. 8.

Nach Artikel 6 I der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG bedarf ein Arzneimittel grundsätzlich abgesehen von dem nicht einschlägigen Fall einer unmittelbaren europäischen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung Nr. 2309/93 in jedem Mitgliedstaat einzeln einer Zulassung. Umgesetzt ist diese Regelung im deutschen Recht in § 21 AMG. Unstreitig hat das Produkt der Klägerin weder in der EG noch in einem EG-Staat eine Zulassung als Arzneimittel. Deshalb bedarf das festgestellte Doppelergebnis einer Auflösung.

Nach dem dargelegten Zwischenergebnis bedarf es auf Gemeinschaftsebene einer Entscheidungsregel, ob beim Zusammentreffen beider Definitionen das Arzneimittelrecht oder das Lebensmittelrecht Vorrang hat.

Zusammengefasst kommt der Senat zu der Entscheidung, dass nach dem aktuellen Recht bei der Produktbehandlung das Arzneimittelrecht vor dem Lebensmittelrecht Vorrang aufgrund ausdrücklicher normativer Regelung hat. Für die vorausgehenden Zeitabschnitte ergibt sich dasselbe Ergebnis aus der Beachtung der Rechtsprechung des EuGH, der in ständiger Rechtsprechung bereits seit 1992 eine Art „Strenge-Regel“ aufgestellt hat, wonach das strengere Arzneimittelrecht in der Anwendung Vorrang vor weniger strengen Regelungen anderer Rechtsgebiete hat. Dies ist nunmehr im Einzelnen auszuführen.

Beginnend mit dem neuesten Zeitabschnitt ab 30.10.2005 ist der Anwendungsvorrang des Arzneimittelrechts bereits nach deutschem Recht normativ eindeutig bestimmt. Das deutsche Recht verweist in § 2 III Nr. 1 des ArzneimittelgesetzesAMG – in der Fassung des Gesetzes vom 13.12.2001 (BGBl. I S. 3586) sowie in der jetzigen Fassung vom 12.12.2005 (BGBl. I S. 3394) zur Abgrenzung auf den Lebensmittelbegriff nach dem deutschen Lebensmittelgesetz. § 2 II LFGB in der Fassung vom 1.9.2005 (BGBl. I S. 2618), gültig ab 7.9.2005, verweist für die Lebensmitteldefinition seinerseits unmittelbar auf Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Die europäische Lebensmittelverordnung 178/2002 verweist in ihrer Negativabgrenzung in Art. 2 Abs. 3 d wiederum auf die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG. Die Humanarzneimittelrichtlinie enthält in der Fassung der Änderungsrichtlinie vom 31.3.2004 mit einer Umsetzungsfrist bis 30.10.2005 in Art. 2 Abs. 2 ausdrücklich eine Vorrangregel des Arzneimittelrechts mit folgendem Inhalt:

In Zweifelsfällen, in denen ein Erzeugnis unter Berücksichtigung aller seiner Eigenschaften sowohl unter die Definition von „Arzneimittel“ als auch unter die Definition eines Erzeugnisses fallen kann, das durch andere gemeinschaftliche Rechtsvorschriften geregelt ist, gilt diese Richtlinie.

Mit dieser Richtlinie ist die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG gemeint, was mithin zum Vorrang des Arzneimittelrechts führt. Der EuGH hat die klar formulierte Vorrangregel auch in diesem Sinn verstanden.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 44.

Nach dem aktuell geltenden Gemeinschaftsrecht ist auf das Produkt der Klägerin mithin nur das Arzneimittelrecht anzuwenden. Das aktuelle deutsche Recht verweist darauf.

Für das vorausgehende Recht innerhalb der zeitlichen Reichweite des Dauerverwaltungsaktes vom 23.1.2002 geht der Senat aus Gründen der Übersichtlichkeit auf die Zeitabschnitte zunächst nach dem wie dargelegt maßgeblichen Gemeinschaftsrecht und erst dann nach dem deutschen Recht ein.

Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts war im vorausgehenden Zeitabschnitt vom 31.3.2004 bis zum 29.10.2005 die Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31.3.2004 mit der normativen Vorrangregel des Arzneimittelrechts zwar bereits erlassen, indessen war die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen. Richtlinien setzen zwar ein zweistufiges Rechtsetzungsverfahren mit Erlass auf Gemeinschaftsebene und Umsetzung in nationales Recht voraus.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 249 EGV Rdnr. 8.

Richtlinien sind aber auch als Auslegungsmaßstab heranzuziehen.

Geiger, EUV/EGV, Artikel 249 EGV Rdnr. 12.

Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung, und zwar gerade für die Vorrangregel in der hier vorliegenden Änderungsrichtlinie 2004/27/EG, entschieden, dass eine Richtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist als Auslegungsmaßstab heranzuziehen ist.

Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 44.

Auch für diesen Zeitraum galt als Auslegungsergebnis der Rechtsprechung des EuGH ein normativer Vorrang des Arzneimittelrechts.

Auf Gemeinschaftsebene galt in dem davor liegenden Zeitraum vom 6.11.2001 (mithin vor Erlass des Dauerverwaltungsakts vom 23.1.2002) bis zum 30.3.2004 die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG noch ohne eine normative Vorrangregelung. Die Abgrenzung des gemeinschaftsrechtlichen Arzneimittelbegriffs gegenüber den Konkurrenzbegriffen bedurfte mithin richterlicher Auslegung. Eine solche ständige Rechtsprechung des EuGH liegt vor, die von den Jahren 1991 bis 2005 reicht und damit den Entscheidungszeitraum (Januar 2002 bis Februar 2006) erfasst. Dies ist jetzt darzulegen.

Der Grundgedanke dieser Rechtsprechung ist einfach. Er besteht darin, dass das strengere Arzneimittelrecht wegen der besonderen Gefahren Anwendungsvorrang vor weniger strengem Recht anderer Gebiete besitzt. Erstmals hat der EuGH diesen Gedanken im Urteil Delattre vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 21, zur Abgrenzung von Arzneimitteln gegenüber seinerzeit Kosmetika (Schlankheitsmitteln) geäußert. Zur Begründung hat er (Rz. 21) ausgeführt:

Diese Schlussfolgerung ist im Übrigen die Einzige, die dem mit beiden Richtlinien verfolgten Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit entspricht, da die rechtliche Regelung für Arzneispezialitäten in Anbetracht der besonderen Gefahren, die diese Erzeugnisse für die öffentliche Gesundheit mit sich bringen können und die im Allgemeinen von kosmetischen Mitteln nicht ausgehen, strenger ist als die für kosmetische Mittel.

Im nachfolgenden Jahr 1992 hat der EuGH in seinem Urteil Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 19, diese „Strenge-Regel“ auf die hier einschlägige Abgrenzung von Arzneimittelrecht gegenüber Lebensmittelrecht übertragen. Zur Begründung hat er ausgeführt (Rz. 19), ein Produkt sei selbst dann als Arzneimittel anzusehen und der entsprechenden Regelung zu unterwerfen, wenn es in den Anwendungsbereich einer anderen weniger strengen Gemeinschaftsregelung falle.

Sodann hat der EuGH aktuell in seinem Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 43, nochmals seine Rechtsprechung bestätigt, dass die für Arzneimittel geltenden Bestimmungen auf ein Erzeugnis anzuwenden sind, das sowohl die Voraussetzungen eines Lebensmittels als auch eines Arzneimittels erfülle. Zur Begründung hat er sich (Rz. 43) ausdrücklich auf sein Ter Voort-Urteil C – 219/91 – berufen, dort insbesondere auf die Rz. 19 verwiesen und damit wie dargelegt den Grundsatz, dass ein Produkt auch dann als Arzneimittel anzusehen ist, wenn es dem Anwendungsbereich einer weniger strengen Regelung unterfällt. Zwischen 1991 und jetzt hat der EuGH mithin in ständiger Rechtsprechung die „Strenge-Regel“ seiner Abgrenzung zwischen Arzneimittelrecht und weniger strengem Recht zugrunde gelegt.

Die dargelegte normative Vorrangregel der Richtlinie 2004/27/EG entspricht mithin inhaltlich der ständigen Rechtsprechung des EuGH. Dementsprechend hat sich der EuGH in seinem Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 - sowohl vergangenheitsbezogen auf seine ständige bisherige Rechtsprechung (Rz. 43) als auch zukunftsbezogen auf die neue Richtlinie 2004/27/EG (Rz. 44) berufen. Das Ergebnis der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist mithin der Vorrang des Arzneimittelrechts bei der Abgrenzung gegenüber dem Lebensmittelrecht. Dies steht für den Zeitraum von 1992 bis jetzt fest. Bezogen auf den hier entscheidungserheblichen Zeitraum vom 25.1.2002 (Bekanntgabe des Dauerverwaltungsakts vom 23.1.2002) bis jetzt (Februar 2006) ist die Abgrenzungsfrage auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts mithin immer gleich zu beantworten. Maßgebend für die rechtliche Behandlung ist das strengere Arzneimittelrecht gegenüber dem weniger strengen Lebensmittelrecht.

Für die vorsorglich vorzunehmende Abgrenzungsprüfung nach dem deutschen Recht sind andere Zeitabschnitte zu bilden. Unproblematisch ist der bereits behandelte aktuelle Zeitabschnitt ab dem 7.9.2005. Ab diesem Zeitpunkt verweist wie dargelegt § 2 II LFGB in der Fassung vom 1.9.2005 (BGBl. I S. 2618) für die Lebensmitteldefinition ausdrücklich auf Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002, und damit auch auf die in Artikel 2 Abs. 3 der gemeinschaftsrechtlichen Verordnung vorgenommene Abgrenzung zu Lebensmitteln, für die die EuGH-Rechtsprechung maßgebend ist. Die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts für die Abgrenzung ist vom deutschen Gesetzgeber sichergestellt, da auch § 2 III Nr. 1 AMG für die Abgrenzung auf die Lebensmitteldefinition verweist mit der Konsequenz, dass nach der ausdrücklichen Anordnung des deutschen Gesetzgebers für die Abgrenzung der beiden Rechtsgebiete einheitlich das Gemeinschaftsrecht gilt.

Für den vorausgehenden Zeitabschnitt vom 21.2.2002 bis zum 6.9.2005 hat der deutsche Gesetzgeber zwar nicht ausdrücklich für Rechtsklarheit gesorgt. Die Rechtsklarheit ergibt sich aber aus dem gemeinschaftlichen Verordnungsrecht. Die gemeinschaftsrechtliche Abgrenzung von Lebensmitteln und Arzneimitteln in Artikel 2 der Lebensmittelverordnung galt bereits in diesem Zeitabschnitt. Die Lebensmittelverordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28.1.2002 trat nach Artikel 65 am 21.2.2002 in Kraft. Sie ist nach Artikel 65 in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Anders als bei Richtlinien bedarf es keines zweistufigen Rechtsetzungsverfahrens, vielmehr gilt die Verordnung unmittelbar in jedem Mitgliedstaat ohne Transformation.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 249 EGV, Rdnrn. 6 und 8.

Der deutsche Gesetzgeber hatte aber in diesem Zeitraum der verbindlichen Regelung noch nicht formell Rechnung getragen. Vielmehr war in § 1 LMBG in der Fassung vom 9.9.1997 (BGBl. I S. 2296), gültig vom 1.8.1997 bis 6.9.2005, eine formell abweichende Regelung bestimmt. Produkte waren nach § 1 I LMBG nur dann keine Lebensmitteln, wenn sie überwiegend zu anderen Zwecken als dem der Ernährung oder des Genusses bestimmt waren. Das ältere deutsche Recht legte die Auslegung nahe, dass ein Lebensmittel auch dann vorlag, wenn sich kein überwiegender Verwendungszweck feststellen ließ.

So noch die Kommentierung von Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Stand März 2005, § 1 LMBG Rdnr. 35 und die ältere BGH-Rechtsprechung: BGH, Urteil vom 6.2.1976 – I ZR 125/74 -.

Die deutsche Regelung ließ sich mithin in nahe liegender Auslegung als Vorrang des weniger strengen Lebensmittelrechts vor dem strengeren Arzneimittelrecht verstehen.

Bei diesem Ergebnis kann es aber nicht verbleiben. Das Gemeinschaftsrecht hat grundsätzlich Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 10 EGV Rdnr. 31.

Gerichte und Behörden haben den Vorrang des Gemeinschaftsrechts ohne weiteres zu beachten, und innerstaatliche Vorlageverfahren etwa an ein Verfassungsgericht müssen außer Betracht bleiben.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 10 EGV Rdnr. 31.

Mithin musste die inhaltlich anders gefasste Abgrenzung des deutschen Rechts zwischen Arzneimitteln und Lebensmitteln gegenüber der bindenden europäischen Verordnung außer Betracht bleiben. Vielmehr galt nach der bereits dargelegten Rechtsprechung des EuGH die „Strenge-Regel“, wonach für die Produktbehandlung das strengere Arzneimittelrecht vor weniger strengem Recht in der Anwendung Vorrang hat. Auch für diesen Zeitabschnitt verbleibt es mithin bei dem gefundenen Ergebnis.

In einem vorausgehenden kurzen Zeitabschnitt des Dauerverwaltungsakts knapp einen Monat zwischen seiner Bekanntgabe am 25.1.2002 bis zum 20.2.2002 galt auf der Gemeinschaftsrechtsebene allerdings noch nicht die Lebensmittelverordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28.1.2002, in Kraft ab 21.2.2002. Der Anwendungsvorrang der gemeinschaftsrechtlichen Lebensmittelverordnung muss mithin für diesen kurzen Zeitabschnitt außer Betracht bleiben.

Auch für diese Zeit blieb der Vorrang des Arzneimittelrechts unverändert. Maßgebend ist hier nicht der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts, sondern der Grundsatz der europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts.

Im Zeitraum Januar/Februar 2002 stellte sich die Vorrangfrage vom Arzneimittelrecht her, das im Gegensatz zum seinerzeitigen Lebensmittelrecht schon gemeinschaftsrechtlich normiert war. Wie bereits dargelegt war das gemeinschaftliche Arzneimittelrecht bereits seit 1965 fortlaufend durch Richtlinien kodifiziert, die in nationales Recht umzusetzen waren.

Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG vom 26.1.1965, sodann als Nachfolgerichtlinie die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG sowie deren Änderungsrichtlinie 2004/27/EG.

Das deutsche Arzneimittelgesetz war also bereits in der in diesem Zeitabschnitt (Januar/Februar 2002) maßgebenden Fassung des Änderungsgesetzes vom 13.12.2001 (BGBl. I S. 3586) Umsetzung des europäischen Richtlinienrechts. Zur Abgrenzung von Arzneimitteln und Lebensmitteln verwies § 2 III Nr. 1 AMG 2001 auf § 1 LMBG und damit die bereits dargelegte Regelung, wonach nur eine überwiegende Bestimmung zu anderen Zwecken als dem der Ernährung oder des Genusses maßgebend ist. Auch unabhängig von der Direktwirkung von Richtlinien zu Gunsten Einzelner, vgl. EuGH, Urteil vom 26.9.2000 – C- 443/98 -, Rz. 50; Urteil vom 4.12.1997 – C – 97/96 -, NJW 1998, 129, ist umgesetztes nationales Recht nach der EuGH-Rechtsprechung so auszulegen, dass das mit der Richtlinie verfolgte Ziel erreicht werden kann. EuGH, Urteil vom 11.7.2002 – C – 62/00 -, Rz. 41.

Eine solche europarechtskonforme Auslegung des § 1 LMBG 1997 ist aber möglich und deshalb auch geboten. Zwar ist die Auslegung nahe liegend, dass die überwiegende Zweckbestimmung rein faktisch im Sinne der allgemeinen Verkehrsauffassung zu verstehen ist.

So Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Stand März 2005, § 1 LMBG Rdnr. 34.

Zwingend ist diese Auslegung aber nicht. Die überwiegende Zweckbestimmung kann statt faktisch auch normativ verstanden werden. Die überwiegende Zweckbestimmung ergibt sich dann normativ nach dem strengeren Recht; das strengere Recht prägt die Zweckbestimmung. Das Ziel der einschlägigen Arzneimittelrichtlinie ist nach der Rechtsprechung des EuGH gerade der Schutz vor den besonderen Gefahren, die Arzneimittel mit sich bringen.

EuGH, Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 21, und Ter Voort-Urteil vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 19.

Das umgesetzte deutsche Arzneimittelrecht ist mithin europarechtskonform so auszulegen, dass das dargelegte Ziel der Arzneimittelrichtlinie mit Blick auf den Vorrang des strengeren Rechts erreicht wird. Mithin ist die deutsche Abgrenzungsregelung in den §§ 2 AMG 2001 und 1 LMBG 1997 europarechtskonform auch in dem hier interessierenden Zeitabschnitt vom 25.1.2002 bis zum 20.2.2002 im Sinne einer normativen überwiegenden Zweckbestimmung durch das strengere Arzneimittelrecht auszulegen. Dieser Gesichtspunkt gilt im Übrigen auch für die nachfolgende Zeit, für die aber der Anwendungsvorrang der gemeinschaftsrechtlichen Lebensmittelverordnung hinzukommt.

Mithin ist die Geltung der europäischen Arzneimittelabgrenzung für den gesamten in Anspruch genommenen Zeitraum des angegriffenen Dauerverwaltungsakts seit 25.1.2002 bis jetzt zu beachten.

Für den Zeitraum des Dauerverwaltungsakts ist nach dem Ergebnis der Prüfung des europäischen und des deutschen Rechts einheitlich von dem Vorrang des Arzneimittelrechts gegenüber dem Lebensmittelrecht bei der Produktbehandlung auszugehen.

Die von der Klägerin gegen den Vorrang vorgebrachten Gründe überzeugen nicht.

Soweit die Klägerin eine vollständige Subsumierung als Voraussetzung der Vorrangregelung ansieht, hat der Senat sie vorgenommen.

Soweit die Klägerin meint, für Nahrungsergänzungsmittel gelte eine günstigere Behandlung, trifft dies nicht zu. Sie hat zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass nach der neuen Rechtsprechung des EuGH auf dem Gebiet der Nahrungsergänzungsmittel die Richtlinie 2002/46 eine gewisse Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften vorgenommen hat.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 70.

Nahrungsergänzungsmittel, die den Vorschriften dieser Richtlinie entsprechen, dürfen in der Gemeinschaft grundsätzlich frei in den Verkehr gebracht werden.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C- 211/03 -, Rz. 71.

Die der Klägerin günstige Folge tritt aber nur ein, wenn die Voraussetzungen der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie überhaupt erfüllt sind. Dies ist aber nicht der Fall, weil die Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG ausdrücklich nicht für Arzneimittel gilt (Artikel 1 Abs. 2 der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie) und darüber hinaus Nahrungsergänzungsmittel nach Artikel 2 der Richtlinie 2002/46/EG bereits Lebensmittel sein müssen, mithin auch für Nahrungsergänzungsmittel die allgemeine Abgrenzungsvorschrift von Artikel 2 der Lebensmittelverordnung (EG) Nr. 178/2002 gilt. Dementsprechend führt der EuGH wie dargelegt in seinem Lactobact-Urteil (Rz. 41 und 42) eine synchrone Abgrenzung zwischen Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln einerseits und Arzneimitteln andererseits durch. Für eine anderweitige Abgrenzung mit einer günstigeren Behandlung von Nahrungsergänzungsmitteln ist mithin aus Gründen des Gemeinschaftsrechts kein Raum.

Weiterhin beruft sich die Klägerin zu ihren Gunsten auf eine spezielle deutsche Liberalisierungsvorschrift für die Einfuhr von Lebensmitteln aus EU-Staaten im deutschen Lebensmittelrecht. Ausgehend zunächst von dem neuesten Rechtsstand der Einfuhrliberalisierung begünstigt § 54 LFGB mit Geltung ab dem 7.9.2005 Lebensmittelimporte aus anderen EU-Staaten. Danach dürfen Lebensmittel, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände, die entweder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union hergestellt oder rechtmäßig in den Verkehr gebracht werden oder aus einem Drittstaat stammen und sich in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union rechtmäßig im Verkehr befinden, auch dann in das Inland verbracht und in Verkehr gebracht werden, wenn sie den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Vorschriften für Lebensmittel, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände nicht entsprechen. Eine Ausnahme von der Liberalisierung besteht insbesondere dann, wenn gemäß § 54 I LFGB in Verbindung mit § 54 II zwingende Gründe des Gesundheitsschutzes entgegenstehen, über die durch Allgemeinverfügungen entschieden wird. Die verbleibenden Unterschiede des nationalen Lebensmittelrechts der Mitgliedstaaten stehen mithin dem Import eines Lebensmittels grundsätzlich nicht entgegen.

Diese Liberalisierungsregelung trifft aber nach dem geltenden Recht ausdrücklich nur für Lebensmittel, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände zu, von vorneherein nicht für Arzneimittel. Das ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut des § 54 LFGB und aus dem systematischen Zusammenhang innerhalb der Gesamtregelung des Lebensmittelrechts, nicht des Arzneimittelrechts.

Nichts anderes gilt innerhalb der Zeitdauer des Dauerverwaltungsakts für die im Wesentlichen inhaltsgleiche Vorgängerreglung des § 47 a LMBG in den insoweit übereinstimmenden vorausgehenden Fassungen vom 29.10.2001 (BGBl. I S. 2785) sowie vom 6.8.2002 (BGBl. I S. 3082). Die Liberalisierung von Importen aus anderen Mitgliedstaaten bezieht sich nach dem übereinstimmenden Wortlaut auf „Erzeugnisse im Sinne dieses Gesetzes“. Maßgebend ist also die deutsche Einordnung des Produkts. Durch eine Klammerdefinition ist in § 35 LMBG klargestellt, dass Erzeugnisse im Sinne dieses Gesetzes Lebensmittel, Zusatzstoffe, mit Lebensmittel verwechselbare Erzeugnisse, Tabakerzeugnisse, kosmetische Mittel und Bedarfsgegenstände sind. Arzneimittel gehören nicht dazu. Die Klägerin kommt nur insofern zu einem anderen Ergebnis, als sie behauptet, ihr Nahrungsergänzungsmittel könne mit einem Arzneimittel verwechselt werden. Insoweit stellt aber § 8 LMBG klar, dass die Ausdehnung des Lebensmittelrechts auf verwechselbare Erzeugnisse gerade nicht für zulassungspflichtige Arzneimittel gilt.

Zur generellen einschlägigen Zulassungspflicht von Fertigarzneimitteln § 21 AMG mit hier nicht gegebenen Ausnahmen insbesondere einer gemeinschaftsrechtlichen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 und einer Anwendung zur klinischen Prüfung.

Die Vorschrift zielt erkennbar darauf ab, dass die Zulassungspflicht von Arzneimitteln als Marktschranke nicht etwa in dem ungünstigen Fall, dass importierte Arzneimittel verwechslungsfähig aufgemacht sind, entfällt. Dies wäre auch offensichtlich gefahrenbezogen sachwidrig. Nach den dargelegten Vorschriften gilt die Liberalisierung nach Wortlaut und Sinn nicht für Arzneimittel, und zwar insbesondere auch nicht für mit Lebensmitteln verwechslungsfähig aufgemachte Arzneimittel.

Das Gemeinschaftsrecht bietet sowohl nach den in Betracht kommenden Normen als auch nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH keinen Anlass zu einer weiter gehenden Auslegung dieser lebensmittelrechtlichen Liberalisierungsregelung.

Wie dargelegt fällt ein Lebensmittel zwar grundsätzlich unter den freien Handelsverkehr der Mitgliedstaaten (Artikel 28 EGV). Anderes gilt für Arzneimittel, denn Ausnahmen vom Grundsatz der Handelsfreiheit bestehen nach Artikel 30 EGV insbesondere zum Gesundheitsschutz, worunter das Arzneimittelrecht fällt.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 30 Rdnr. 8.

Nach Artikel 6 I der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG bedarf ein Arzneimittel grundsätzlich abgesehen von dem hier nicht einschlägigen Fall einer unmittelbaren europäischen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 vom 22.7.1993 in jedem Mitgliedstaat einzeln einer Zulassung. Diese Rechtslage nach dem Gemeinschaftsrecht führt allerdings dazu, dass ein Produkt im Exportstaat (hier Österreich) als Lebensmittel und im Importstaat (hier Deutschland) als Arzneimittel eingeordnet werden kann. Gerade diese Divergenz ist nach der ständigen bis heute geltenden Rechtsprechung des EuGH mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar.

EuGH, Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 27; EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 – Rz. 52 und 53, betreffend Vitaminpräparate; EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 56.

In seinem Lactobact-Urteil (Rz. 56) hat der EuGH seine ständige Rechtsprechung wie folgt zusammengefasst:

Dass ein Erzeugnis in einem anderen Mitgliedstaat als Lebensmittel eingestuft ist, hindert somit nicht daran, ihm im Einfuhrmitgliedstaat die Eigenschaft eines Arzneimittels zuzuerkennen, wenn es die entsprechenden Merkmale aufweist.

Die Tatsache, dass das Produkt der Klägerin in Österreich rechtmäßig als Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel im Verkehr ist, führt mithin nicht zu einer Bindung des Einfuhrstaates an österreichisches Recht. Dem nach dem Gemeinschaftsrecht bestehenden Vorrang des strengeren Arzneimittelrechts vor dem weniger strengen Lebensmittelrecht muss in Deutschland selbstständig, ohne Bindung an die Rechtsauffassung in Österreich, Geltung verschafft werden.

Nach allem führt die deutsche Liberalisierungsregelung nicht zur Anerkennung der österreichischen Produkteinordnung und ist deshalb nicht entscheidungserheblich.

Im Folgenden hat der Senat noch die beiden von den Beteiligten vorgelegten europäischen Verwaltungsakte zu würdigen, die eine Einstufung von Weihrauchextrakt in demselben Jahr – 2002 – als Arzneimittel beziehungsweise als Lebensmittel betreffen.

Zusammengefasst sind beide Verwaltungsakte nicht unmittelbar einschlägig für den vorliegenden Verwaltungsrechtsstreit über ein Marktverbot und geben keinen Anlass, von der vom EuGH aufgestellten „Strenge-Regel“ abzuweichen.

Der Beklagte hat einen Bescheid der Europäischen Kommission vom 21.10.2002 vorgelegt, den die EMEA, die Europäische Agentur für Arzneimittel, am 11.12.2002 veröffentlicht hat (Berufungsakte 3 R 7/05, Blatt 69 R). Der Beklagte hat dazu vorgetragen, der Weihrauchextrakt aus Boswellia serrata habe damit den Orphan-drug-Status erhalten (Berufungsakte Blatt 66). Mit dieser Bezeichnung hat es Folgendes auf sich. Die in dem Bescheid der EG-Kommission auch genannte Rechtsgrundlage ist die Verordnung (EG) Nr. 141/2000 vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden. Sinn und Regelungszusammenhang der Verordnung sind in dem Erwägungsgrund 1 zusammengefasst. Danach treten bestimmte Leiden EU-weit so selten auf, dass die Entwicklungskosten von Arzneimitteln durch den zu erwartenden Umsatz nicht mehr gedeckt werden. Die pharmazeutische Industrie wäre in diesen Fällen nicht bereit, das Arzneimittel unter normalen Marktbedingungen zu entwickeln. Diese Arzneimittel werden im englischen Sprachraum als „Orphan medicinal products“, das heißt als Waisenkinder unter den Arzneimitteln bezeichnet. Vor diesem Hintergrund bezweckt die Verordnung nach dem Erwägungsgrund 4, durch die Einführung eines Gemeinschaftsverfahrens potenzielle Arzneimittel als Arzneimittel für seltene Leiden auszuweisen. Die Förderung erfolgt durch Forschungshilfe bei der Entwicklung (Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung) und durch ein späteres Marktexklusivitätsrecht (Artikel 8 der Verordnung). Der Antrag auf Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden kann grundsätzlich in jedem Entwicklungsstadium des Arzneimittels gestellt werden, indessen nur vor dem Antrag auf Verkehrsgenehmigung (Artikel 5 Absatz 1 der Verordnung). Zusammengefasst bedeutet der Bescheid mithin eine Ausweisung von Weihrauchextrakt als Forschungsarzneimittel für die Behandlung der seltenen Krankheit der Gehirnödeme bei Gehirntumor; eine Verkehrsgenehmigung als Arzneimittel bedeutet der Bescheid nicht, wie im letzten Absatz ausdrücklich hervorgehoben ist. Der Bescheid betrifft also keine Marktzulassung.

Der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden liegt nach Artikel 2 a der Humanarzneimittelbegriff nach der Richtlinie 65/65/EWG zugrunde, wobei diese Bezugnahme nunmehr durch eine Bezugnahme auf die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG ersetzt ist (Artikel 128 der Humanarzneimittelrichtlinie). Da die Ödembehandlung bei Tumoren nach den dem Senat vorliegenden wissenschaftlichen Unterlagen ausschließlich den hoch dosierten Bereich von Weihrauchextrakt betrifft,

Safayhi-Ammon, Seite 7; Gutachten Bertram, Seite 3; Bertsche/Schulz, Seite 2

steht damit in diesem Bereich gemeinschaftsrechtlich die Einordnung als Arzneimittel fest.

Zwingend ist dies für die hier maßgebende niedrige Dosis von Weihrauch nicht. Einen Doppelcharakter nach der Dosis hat der EuGH bei Vitaminen anerkannt, die in ganz geringer Menge für die tägliche Ernährung unbedingt erforderlich sind, in starken Dosen aber zu therapeutischen Zwecken bei bestimmten Krankheiten verwendet werden.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, Rz. 56.

Deshalb bedeutet die im Jahr 2002 erfolgte Ausweisung von indischem Weihrauchextrakt als Forschungsarzneimittel für seltene Krankheiten ein - nicht zwingendes - Indiz für die gemeinschaftsrechtliche Einstufung von Weihrauchextrakt insgesamt als Arzneimittel. Der Gegenschluss der Klägerin, die angestrebte Marktzulassung sei bereits gescheitert, überzeugt nicht, da die Zulassungsreife einschließlich Standardisierung eines Stoffgemischs schwer erreichbar und langwierig sein kann.

Ebenso wie der Beklagte hat die Klägerin im Rechtsstreit einen Verwaltungsakt der Europäischen Gemeinschaft vorgelegt, den sie zu ihren Gunsten verwerten will (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 75). Dabei handelt es sich um die verbindliche Zolltarifauskunft vom 16.9.2002. Der Bescheid ist im Namen der Europäischen Gemeinschaft erlassen, die erteilende Zollbehörde ist das Bundesministerium für Finanzen in Wien. Als Berechtigter ist angegeben die österreichische Firma G.. Gegenstand des Bescheides ist das namensidentische Produkt der Klägerin. Inhaltlich betrifft der Bescheid die Einreihung in die Zollnomenklatur als Lebensmittel und zur Begründung ist angegeben, aufgrund des Fehlens einer Ankündigung zur Verwendung bei spezifischen Krankheiten, Leiden oder deren Symptome, sowie der exakten Dosierungsvorschrift, liege keine näher gekennzeichnete Arzneiware vor.

Die Klägerin hat aus dieser verbindlichen Zolltarifauskunft von Anfang an den Schluss gezogen,

Schriftsatz vom 7.10.2002, VG-Akte Bl. 78

das streitige Produkt dürfe in der gesamten Europäischen Union aufgrund der verbindlichen Zolltarifauskunft als Lebensmittel in den Verkehr gebracht werden. Die Verkehrsfähigkeit des von ihr vertriebenen Produktes in Deutschland ergebe sich damit schon aus der amtlichen Bestätigung der Europäischen Union. Zur Bekräftigung ihres Vortrags hat sie erstinstanzlich zwei verschiedene Vorlageanträge an den EuGH angeregt (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 91 und Bl. 133), die jeweils die Auswirkungen der verbindlichen Zolltarifauskunft auf die Zulässigkeit der Vermarktung betreffen. Zweitinstanzlich hat sie ausweislich des Protokolls eine entsprechende Vorlage an den EuGH hilfsweise angeregt.

Das Begehren der Klägerin entspricht offenkundig nicht dem Gemeinschaftsrecht, das eine Auslegung im Sinne der Klägerin nicht zulässt. Es entspricht auch nicht der dargelegten Rechtsprechung des EuGH zur selbstständigen Sachverhaltsbeurteilung der nationalen Behörden und Gerichte im Vermarktungsstreit.

Dafür ist zunächst auf die Rechtsgrundlage der verbindlichen Zolltarifauskunft einzugehen. Wie im Bescheid auch ausdrücklich angegeben, beruht die Zolltarifauskunft auf Art. 12 der – insoweit nicht geänderten - Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 vom 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften – Zollkodexverordnung -. Nach dem Erwägungsgrund 1 geht es bei der Verordnung um die Kodifizierung der bisherigen Zollvorschriften der Gemeinschaft als Zollunion. Betroffen von dem Zollrecht ist nach Art. 1 der Verordnung der Warenverkehr zwischen der Gemeinschaft und Drittländern. Nach Art. 2 gilt das gemeinschaftliche Zollrecht einheitlich im gesamten Zollgebiet der Gemeinschaft. Richtig ist damit der Standpunkt der Klägerin, dass die Zollverwaltungsakte die gesamte Gemeinschaft betreffen. Sodann werden nach Art. 12 Abs. 1 der Zollkodexverordnung auf schriftlichen Antrag von den Zollbehörden verbindliche Zolltarifauskünfte erteilt. Verbindliche Zolltarifauskünfte sind nach der Definitionsvorschrift des Art. 4 Nr. 5 der Zollkodexverordnung hoheitliche Maßnahmen auf dem Gebiet des Zollrechts.

Die Klägerin begehrt eine Vorlage des Sachverhalts zur Entscheidung an den EuGH. Sie hält es nach ihrem Rechtsstandpunkt für eine klärungsbedürftige Auslegungsfrage, wie weit die Verbindlichkeit der Zolltarifauskunft reicht. Sie meint, die Verbindlichkeit betreffe nicht nur den Zolltarif, sondern auch die anschließende Vermarktung. In Wirklichkeit ist aber die Verbindlichkeitsfrage in Art. 12 Abs. 2 der Zollkodexverordnung ohne Auslegungsspielraum wie folgt geregelt:

Die verbindliche Zolltarifauskunft bindet die Zollbehörden gegenüber dem Berechtigten nur hinsichtlich der zolltariflichen Einreihung der Waren.

Das Wort „nur“ lässt keinen Auslegungsspielraum dahingehend zu, die Bindungswirkung erstrecke sich über die zolltarifliche Einreihung der Waren hinaus auch auf die anschließende Vermarktung und die Anwendung des Gesundheitsrechts. Ist mithin die Einschränkung der Verbindlichkeit auf das Zollrecht derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, scheidet eine Vorlagepflicht an den EuGH nach Art. 234 EGV selbst nach den Maßstäben für ein letztinstanzliches Gericht – die hier nicht erfüllt sind – aus.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Art. 234 EGV Rdnr. 16.

Im Übrigen hat das nationale Gericht über die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlagefrage selbst zu befinden.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Art. 234 EGV Rdnr. 12.

Darüber hinaus hat das nationale Gericht über die Vorlage von Amts wegen, unabhängig von der Auffassung der Beteiligten zu entscheiden.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Art. 234 Rdnr. 11.

Entsprechende Anträge der Beteiligten bedeuten prozessual mithin nur die Anregung zu einer Vorlageentscheidung.

Von Amts wegen scheidet eine Vorlage schon deshalb aus, weil Art. 12 Abs. 2 der Zollkodexverordnung auch unabhängig von dem streitigen objektiven Anwendungsbereich auch nach den subjektiven Merkmalen nicht entscheidungserheblich ist.

Vorliegend sind die subjektiven Voraussetzungen der Verbindlichkeitsbestimmung des Art. 12 Abs. 2 der Zollkodexverordnung nicht gegeben. Die verbindliche Zolltarifauskunft bindet nach der Verordnung nur die Zollbehörden gegenüber dem Berechtigten. Zollbehörde ist nach Art. 4 Nr. 3 der Zollkodexverordnung eine für die Anwendung des Zollrechts zuständige Behörde. Der Beklagte als oberste Gesundheitsbehörde ist ebenso wenig eine Zollbehörde im Sinne der Gemeinschaftsvorschrift wie die Klägerin Berechtigte des Bescheides ist, da in dem Bescheid als Berechtigte ausdrücklich die österreichische Firma G. genannt ist. Mithin verbleibt es dabei, dass die Vorschrift des Art. 12 II der Zollkodexverordnung auf den vorliegenden Fall zweifelsfrei subjektiv nicht anwendbar ist.

Unabhängig von der normativen Rechtslage entspricht es auch nicht der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH zu gesundheitsbezogenen Marktverboten gegenüber importierten Produkten, dass das Gesundheitsrecht bindend an das Zollrecht gekoppelt wird. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH haben die nationalen Behörden und zu deren Kontrolle die nationalen Gerichte bei der Frage der rechtlichen Zulässigkeit der Vermarktung in ihrem Staat auch bei importierten Erzeugnissen selbst die Qualifizierungszuständigkeit für den Einzelfall, ob ein Erzeugnis als Arzneimittel oder als Lebensmittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts einzustufen ist.

EuGH Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 30 für die Zuständigkeit der nationalen Behörden und Rz. 97 für die Zuständigkeit des nationalen Gerichts; ebenso schon EuGH, Ter-Voort-Urteil vom 28.10.1992 – C – 219/91 – betreffend die Zulässigkeit der Vermarktung von Kräutertee aus Südamerika, dort zur fallbezogenen Einstufungszuständigkeit der nationalen Gerichte Rz. 32; EuGH Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, dort Rz. 35 zur Einstufungszuständigkeit der nationalen Behörden unter Kontrolle der nationalen Gerichte.

In einem entschiedenen Fall – dem Ter-Voort-Urteil des EuGH von 1992 – betraf die Einstufung die Vermarktung von aus Südamerika eingeführten Produkten. Nach der seinerzeit schon bestehenden Zollunion unterlagen diese Produkte einer Außenzollerhebung und damit einer Zolltarifeinordnung. Die seinerzeitige Vorlagefrage (Rz. 13), ob ein Erzeugnis, das im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird, als Arzneimittel eingestuft werden kann, hätte vom Rechtsstandpunkt der Klägerin damit beantwortet werden müssen, dass die Antwort aus dem Zollrecht folge. Stattdessen lautet die Antwort des EuGH (Rz. 21), dass ein Arzneimittel selbst dann vorliegen kann, wenn es im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird, und (Rz. 32) es Sache der nationalen Gerichte ist, unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Falles die Einordnung vorzunehmen. Auch der Grundgedanke in dem Ter-Voort-Urteil des EuGH, dass (Rz. 19) im Gesundheitsrecht die strengere Gemeinschaftsregelung anzuwenden ist, verträgt sich nicht damit, dass die der Einnahmeerzielung dienende Zolltarifregelung stattdessen einschlägig sein soll. Damit könnten die Gesundheitsgefahren nicht hinlänglich berücksichtigt werden. Mithin scheidet eine Vorlage an den EuGH auch deshalb aus, weil die Rechtsansicht der Klägerin zur Bindung der Vermarktung an das Zollrecht der vorliegenden Rechtsprechung des EuGH widerspricht.

Der Bescheid ist für den vorliegenden Vermarktungsprozess offensichtlich rechtsunerheblich.

Unabhängig von der fehlenden Bindungswirkung kann auch die Begründung der Zolltarifauskunft für den vorliegenden Fall nicht fruchtbar gemacht werden. Begründet ist die Ablehnung einer Arzneiware mit dem Gesichtspunkt des Fehlens einer Ankündigung zur Verwendung bei spezifischen Krankheiten und einer entsprechenden exakten krankheitsbezogenen Dosierungsvorschrift. Mit dieser Überlegung lässt sich aber allein ein Präsentationsarzneimittel ausschließen, was ohnedies unstreitig ist. Dagegen enthält die Begründung keinerlei Gesichtspunkte zu einem Funktionsarzneimittel, da die pharmakologische Wirkung von vornherein nicht behandelt wird. Für den Hauptstreit der Beteiligten über das Vorliegen eines Funktionsarzneimittels lässt sich aus der Begründung des Bescheides nichts gewinnen.

Nach dem Prüfungsergebnis des Senats haben die von den Beteiligten vorgelegten Bescheide nach dem Gemeinschaftsrecht für den vorliegenden Fall keine Bindungswirkung und führen zu keinem anderen Ergebnis.

Mithin hat es bei einer selbstständigen sachverhaltsbezogenen Einstufung des Produkts der Klägerin für die Vermarktung durch die nationalen Behörden und die nationalen Gerichte ohne Vorlagepflicht an den EuGH zu verbleiben.

Nach allem ist der Senat davon überzeugt, dass das Produkt der Klägerin ein Funktionsarzneimittel ist und damit dem strengen Zulassungsrecht für Fertigarzneimittel unterliegt. Der Klägerin ist zwar Recht zu geben, dass in dieser Rechtsanwendung ein Hemmnis für den freien Warenverkehr liegt. Das Produkt muss also nach der plastischen Formulierung der Klägerin durch das „Nadelöhr“ des Arzneimittelrechts. Der Grund dafür liegt aber letztlich in der eindeutigen Weichenstellung des EuGH zu Gunsten des strengeren Gesundheitsrechts. Der EuGH hat dem nunmehr im Gemeinschaftsrecht kodifizierten Gedanken Bedeutung beigemessen, dass die besonderen Gesundheitsgefahren gerade von Arzneimitteln im Zweifel die Anwendung des strengeren Gesundheitsrechts gegenüber dem weniger strengen Lebensmittelrecht erfordern. Diese Gefahrabwägung führt letztlich zu dem Ergebnis, dass hier wegen der festgestellten – negativen - pharmakologischen Wirkung des Produkts in der empfohlenen niedrigen Dosis ein Funktionsarzneimittel vorliegt.

Die Prüfung des Senats führt mithin zu dem Gesamtergebnis, dass gemeinschaftsrechtlich und nach deutschem Recht für die gesamte Geltungszeit des Dauerverwaltungsakts vom 23.1.2002 rechtlich maßgebend ein Funktionsarzneimittel vorliegt, das als Fertigarzneimittel für den Verbraucher gemäß § 21 AMG einer Zulassung bedarf, die aber unstreitig weder nach Gemeinschaftsrecht noch nach deutschem Recht vorhanden ist.

Damit liegt aber zur Überzeugung des Senats der Untersagungstatbestand des § 69 I Nr. 1 AMG in den insoweit übereinstimmenden Fassungen vom 11.12.1998 (BGBl. I Bl. 3586), vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 2031), vom 29.8.2005 (BGBl. I S. 2555) sowie der Bekanntmachung vom 12.12.2005 (BGBl. I S. 3394) vor. Die im Gesetz eingeräumte Ermessensausübung ist von der Klägerin nicht problematisiert worden. Ein Ermessensfehler wäre allenfalls dann in Betracht zu ziehen, wenn die für das Arzneimittel erforderliche Zulassung ausschließlich aus formellen Gründen fehlte, materiell aber die therapeutische Wirksamkeit mit vertretbaren Nebenwirkungen bereits feststünde. Schon die nicht geklärte therapeutische Wirksamkeit würde die Ermessensausübung im Sinne einer Untersagung rechtfertigen. Erst recht gilt das hier, da nach den vorliegenden Forschungsergebnissen für niedrig dosierten Weihrauchextrakt zwar keine positiven pharmakologischen Wirkungen, wohl aber negative pharmakologische Wirkungen in Form der Förderung von Entzündungsprozessen wissenschaftlich festgestellt sind. Bei dieser Sachlage ist allein die Untersagung ermessensgerecht.

Nach allem ist der angefochtene Dauerverwaltungsakt vom 23.1.2002 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Mithin ist ihre Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10 ZPO und die Nichtzulassung der Revision auf § 132 II VwGO.

Sonstige Literatur

Rechtsmittelbelehrung

Die Nichtzulassung der Revision kann durch Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht angefochten werden.

Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils bei dem Oberverwaltungsgericht des Saarlandes (Hausadresse: Kaiser-Wilhelm-Straße 15, 66740 Saarlouis/Postanschrift: 66724 Saarlouis) einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründung ist ebenfalls bei dem Oberverwaltungsgericht des Saarlandes (Hausadresse: Kaiser-Wilhelm-Straße 15, 66740 Saarlouis/Postanschrift: 66724 Saarlouis) einzureichen. In der Begründung muss die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts, von der das Urteil abweicht, oder ein Verfahrensmangel, auf dem das Urteil beruhen kann, bezeichnet werden.

Die Einlegung und die Begründung der Beschwerde müssen durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Prozessbevollmächtigten erfolgen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst, Gebietskörperschaften auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt der zuständigen Aufsichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen Spitzenverbandes des Landes, dem sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 40.000,-- Euro festgesetzt.

Gründe

Die streitige Vermarktung des Produkts der Klägerin auf dem deutschen Markt ist bedeutungsangemessen jahresbezogen gemäß den §§ 52 I, 63 II GKG unter Mitberücksichtigung der Nummern 4, 25.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 7./8.7.2004 mit 40.000,-- Euro zu bewerten (vgl. auch die Streitwertfestsetzung im Urteil des OVG Münster vom 10.11.2005 – 13 A 463/03 – ebenfalls auf 40.000,-- Euro für ein vergleichbares Produkt).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Die Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt kann für jeweils längstens drei Jahre erteilt und verlängert werden, in den Fällen des § 25 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5 jedoch für längstens sechs Monate, solange sich der Ausländer noch nicht mindestens 18 Monate rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Asylberechtigten und Ausländern, denen die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes zuerkannt worden ist, wird die Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre erteilt. Subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes wird die Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr erteilt, bei Verlängerung für zwei weitere Jahre. Ausländern, die die Voraussetzungen des § 25 Absatz 3 erfüllen, wird die Aufenthaltserlaubnis für mindestens ein Jahr erteilt. Die Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Absatz 4a Satz 1 und Absatz 4b werden jeweils für ein Jahr, Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Absatz 4a Satz 3 jeweils für zwei Jahre erteilt und verlängert; in begründeten Einzelfällen ist eine längere Geltungsdauer zulässig.

(2) Die Aufenthaltserlaubnis darf nicht verlängert werden, wenn das Ausreisehindernis oder die sonstigen einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gründe entfallen sind.

(3) Einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, ist eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn

1.
er die Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren besitzt, wobei die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens abweichend von § 55 Absatz 3 des Asylgesetzes auf die für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet wird,
2.
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht nach § 73b Absatz 3 des Asylgesetzes mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme vorliegen,
3.
sein Lebensunterhalt überwiegend gesichert ist,
4.
er über hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und
5.
die Voraussetzungen des § 9 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 bis 6, 8 und 9 vorliegen.
§ 9 Absatz 2 Satz 2 bis 6, § 9 Absatz 3 Satz 1 und § 9 Absatz 4 finden entsprechend Anwendung; von der Voraussetzung in Satz 1 Nummer 3 wird auch abgesehen, wenn der Ausländer die Regelaltersgrenze nach § 35 Satz 2 oder § 235 Absatz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch erreicht hat. Abweichend von Satz 1 und 2 ist einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn
1.
er die Aufenthaltserlaubnis seit drei Jahren besitzt, wobei die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens abweichend von § 55 Absatz 3 des Asylgesetzes auf die für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet wird,
2.
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht nach § 73b Absatz 3 des Asylgesetzes mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme vorliegen,
3.
er die deutsche Sprache beherrscht,
4.
sein Lebensunterhalt weit überwiegend gesichert ist und
5.
die Voraussetzungen des § 9 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 bis 6, 8 und 9 vorliegen.
In den Fällen des Satzes 3 finden § 9 Absatz 3 Satz 1 und § 9 Absatz 4 entsprechend Anwendung. Für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, kann § 35 entsprechend angewandt werden. Die Sätze 1 bis 5 gelten auch für einen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4 besitzt, es sei denn, es liegen die Voraussetzungen für eine Rücknahme vor.

(4) Im Übrigen kann einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 6 gilt entsprechend. Die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens wird abweichend von § 55 Abs. 3 des Asylgesetzes auf die Frist angerechnet. Für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, kann § 35 entsprechend angewandt werden.

(1) In Klageverfahren nach dem Asylgesetz beträgt der Gegenstandswert 5 000 Euro, in den Fällen des § 77 Absatz 4 Satz 1 des Asylgesetzes 10 000 Euro, in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes 2 500 Euro. Sind mehrere natürliche Personen an demselben Verfahren beteiligt, erhöht sich der Wert für jede weitere Person in Klageverfahren um 1 000 Euro und in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes um 500 Euro.

(2) Ist der nach Absatz 1 bestimmte Wert nach den besonderen Umständen des Einzelfalls unbillig, kann das Gericht einen höheren oder einen niedrigeren Wert festsetzen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin bringt ihr Produkt „W.“ - im Folgenden nur als Produkt bezeichnet - als Nahrungsergänzungsmittel und damit als Lebensmittel in Deutschland mit entsprechender Packungskennzeichnung in den Verkehr. Es handelt sich dabei um indischen Weihrauchextrakt. Die Klägerin bezieht ihr Produkt nach eigenen Angaben aus Österreich, wo es als Lebensmittel im Verkehr ist, und der österreichische Lieferant bezieht es aus Indien.

Mit dem streitigen Untersagungsbescheid vom 23.1.2002 erließ der Beklagte nach Anhörung der Klägerin ein Verkehrsverbot für ihr Produkt auf der Grundlage des § 69 I AMG. Zur Begründung berief sich der Beklagte darauf, Fertigpräparate aus Weihrauchextrakt seien in Indien als Arzneimittel zugelassen und die Verkehrsauffassung sei durch das Fertigarzneimittel aus Indien geprägt mit der Konsequenz, dass ein zulassungspflichtiges Arzneimittel ohne Zulassung vorliege.

Gegen den am 25.1.2002 bekannt gegebenen Untersagungsbescheid hat die Klägerin am 29.1.2002 Klage erhoben.

Die Klägerin hat den Rechtsstandpunkt vertreten, ihr Produkt sei sowohl nach der Einordnung gemäß dem materiell geltenden Lebensmittelrecht ein Lebensmittel als auch auf Grund des freien europäischen Marktes als Importprodukt verkehrsfähig, das sowohl der Importerleichterung des § 47 a LMBG als importiertes Lebensmittel unterliege als auch der verbindlichen Zolltarifauskunft der EG vom 16.9.2002 mit der Einstufung ebenfalls als Lebensmittel.

Bei materieller Betrachtung liege ein Ernährungszweck im Sinne eines Nahrungsergänzungsmittels vor. Nach der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG sei für Nahrungsergänzungsmittel eine breite Palette von Nährstoffen und anderen Zutaten einschließlich Ballaststoffen, Pflanzen und Kräuterextrakten - und damit auch aus der Weihrauchpflanze - zugelassen und die dosierte Form beispielsweise in Tabletten normativ vorgesehen. Dagegen liege ein Arzneimittel im Sinne des europäischen Arzneimittelbegriffs nicht vor. Insbesondere fehle es für ein Funktionsarzneimittel an der pharmakologischen Wirkung in der vorgeschriebenen Dosierung von 400 mg täglich. Der Beklagte habe eine pharmakologische Wirkung nicht erwiesen, sie, die Klägerin, habe dagegen mit den Gutachten Bertram und Reuss den Gegenbeweis geführt, dass eine pharmakologische Wirkung auszuschließen sei. Zumindest fehle es an einem überwiegenden arzneilichen Zweck.

Unabhängig von der materiellen Zusammensetzung sei der Weihrauchextrakt als Lebensmittelimport aus dem EU-Land Österreich gemäß § 47 a LMBG ein verkehrsfähiges Erzeugnis. Aufgrund der verbindlichen Zolltarifauskunft der Gemeinschaft vom 16.9.2002 mit der Einstufung als Lebensmittelzubereitung stehe weiter fest, dass ihr Produkt überall in der EU als Lebensmittel in den Verkehr gebracht werden könne, was auch in Österreich und England der Fall sei. Die Frage der Verkehrsfähigkeit aufgrund der verbindlichen Zolltarifauskunft sei erforderlichenfalls dem EuGH vorzulegen.

Die Klägerin hat beantragt (VG-Akte Bl. 167),

den Untersagungsbescheid des Beklagten vom 23.1.2002 aufzuheben,

hilfsweise,

dem Europäischen Gerichtshof dieses Verfahren mit der folgenden Frage vorzulegen: „Wenn ein Produkt nach einer verbindlichen Zolltarifauskunft für die Europäische Gemeinschaft als Lebensmittel eingestuft worden ist und darüber hinaus in den EU-Mitgliedstaaten Großbritannien und Österreich rechtmäßig im Verkehr ist, darf dann ein Vertriebsverbot von der zuständigen Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgesprochen werden, wenn diese nicht nachweist, dass das Produkt konkret gegen Vorschriften des Gesundheitsschutzes verstößt, sondern die Behörde das Vertriebsverbot mit der Ansicht begründet, dass der Inhalt grundsätzlich als Arzneimittel anzusehen ist, obwohl eine pharmakologische Wirkung erst bei einer Dosierung nachgewiesen werden konnte, die die empfohlene Tagesverzehrmenge des beanstandeten Produktes um das 3-fache übersteigt. Unstreitig wird das Produkt nach der Packungskennzeichnung als „Nahrungsergänzungsmittel“ in der Bundesrepublik Deutschland in den Verkehr gebracht,

hilfsweise,

die Akte mit der folgenden Frage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen: „Kann eine Landesbehörde in der Bundesrepublik Deutschland ein Produkt, das in den EU-Mitgliedstaaten Österreich und England als verkehrsfähiges Lebensmittel im Verkehr ist, eine verbindliche Zolltarifauskunft der Europäischen Gemeinschaft die Lebensmittel-Eigenschaft bestätigt hat, mit dem Hinweis, dass dort keine arzneilichen Angaben auf der Packung enthalten sind, noch als Arzneimittel einstufen, auch wenn die Behörde eine pharmakologische Wirkung in der angegebenen Tagesdosierung nicht nachweisen kann.“

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte ist dem Vorbringen der Klägerin entgegengetreten. Das Produkt stamme aus der traditionellen indischen Ayurveda-Medizin. Ein Ernährungszweck sei nicht nachzuweisen. Stattdessen sei ein Arzneimittelzweck gegeben. Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Unterlagen liege ein Funktionsarzneimittel mit Auswirkungen auf Entzündungsprozesse auch in niedriger Dosis vor. Als Arzneimittel sei Weihrauchextrakt den Verbrauchern insbesondere aus dem Internet bekannt. Die Importerleichterung nach § 47 a LMBG sei hier nicht einschlägig. Auch die Zolltarifauskunft beschränke sich ausschließlich auf den Zolltarif, um den es hier nicht gehe.

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 20.5.2003 - 3 K 47/02 - die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es sich den Rechtsstandpunkt des Beklagten unter Bezugnahme zu Eigen gemacht. Maßgebend sei die überwiegende Zweckbestimmung nach der Verkehrsauffassung. Das Produkt sei nach Aufmachung, Verpackung und Vertrieb wie ein Arzneimittel aufgemacht und werde auch in der Apotheke vertrieben. Die Klägerin mache für ihr Produkt zwar selbst keine Werbung, indessen werde von anderer Seite für ein Konkurrenzprodukt im Internet Werbung als Arzneimittel betrieben. Nach den Verbrauchererwartungen werde das Produkt also als Arzneimittel gekauft. Die Importerleichterung des § 47 a LMBG sei auf Arzneimittel nicht anwendbar und die Zolltarifauskunft binde nicht die Gesundheitsbehörden der deutschen Bundesländer. Angesichts dieser klaren Rechtslage bedürfe es keiner Vorlage an den EuGH, zu der das Verwaltungsgericht ohnedies nicht verpflichtet sei. Nach allem sei die Klage abzuweisen.

Gegen das am 10.6.2003 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 4.7.2003 Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, dem der Senat durch Zulassungsbeschluss vom 16.1.2004 (Berufungsakte Bl. 108) mit Blick auf schwierige Fragen des Gemeinschaftsrechts unter der seinerzeitigen Geschäftsnummer 3 R 1/04 stattgegeben hat. Mit Blick auf eine bevorstehende EuGH-Entscheidung zur Abgrenzung von Arzneimitteln und Lebensmitteln hat der Senat das Verfahren vorübergehend durch Beschluss vom 16.4.2004 ausgesetzt (Berufungsakte Bl. 164). Nach dem Ergehen der EuGH-Entscheidung vom 9.6.2005 - C-211/03 - (Lactobact-Urteil) haben beide Beteiligten das Urteil für ihren Rechtsstandpunkt in Anspruch genommen und halten im fortgesetzten Rechtsstreit 3 R 7/05 an ihrer Rechtsauffassung fest.

Die Klägerin trägt vor: Das Lactobact-Urteil des EuGH stütze ihre Rechtsansicht. Im Bereich der allgemeinen Lebensmittel und der Arzneimittel sei nach dem EuGH-Urteil eine Harmonisierung des Gemeinschaftsrechts noch nicht vorgenommen worden (Rz. 56). Dagegen sei es zu einer europaweiten Harmonisierung bei der hier einschlägigen Untergruppe der Lebensmittel, der Nahrungsergänzungsmittel, gekommen (Rz. 70 ff.). Nachdem der EuGH (Rz. 44) dargelegt habe, dass in Zweifelsfällen bei vollständigen Feststellungen die Arzneimittelrichtlinie gelte, habe er sodann (Rz. 70 ff.) darauf hingewiesen, dass im Bereich der Nahrungsergänzungsmittel eine weitgehende Harmonisierung eingetreten sei; bei den Nahrungsergänzungsmitteln blieben den Mitgliedstaaten nur begrenzte Möglichkeiten, das Inverkehrbringen solcher Nahrungsergänzungsmittel zu beschränken, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat wie hier in Österreich und in Großbritannien rechtmäßig im Verkehr seien. Solche Verkehrsbeschränkungen setzten voraus, dass der Beklagte konkrete Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung nachweise, was nicht geschehen sei.

Ihr Produkt sei bei materieller Betrachtung nach dem fortgeschrittenen Gemeinschaftsrecht als Lebensmittel und als Nahrungsergänzungsmittel einzustufen. Art. 2 der gemeinschaftsrechtlichen Lebensmittelverordnung 178/2002 sei weiter gefasst und stelle nicht mehr auf den Ernährungs- oder Genusszweck des Produkts ab. Ein Nahrungsergänzungsmittel im Sinne des weitgehend harmonisierten Gemeinschaftsrechts liege hier vor. Nach dem Erwägungsgrund 3 gehe es um die Erhaltung einer guten Gesundheit und nach dem Erwägungsgrund 6 handele es sich um eine breite Palette von Stoffen einschließlich Kräuterextrakten. Art. 2 a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie erfordere nicht notwendig Nährstoffe, sondern lasse sonstige Stoffe mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung genügen. Dies sei hier zu bejahen. Aus dem vorgelegten Zusatzgutachten Reuss ergebe sich, dass Weihrauch ein gesundes, natürliches Gewürz darstelle mit der ernährungsspezifischen Wirkung, die Lebensmittel bekömmlicher zu machen. Weihrauchextrakt wirke sich auch positiv auf den Lipoprotein-Haushalt und den Cholesterin-Haushalt aus. Er sei nicht nur in Österreich und Großbritannien, sondern auch in Deutschland abgesehen von dem Produkt der Klägerin als Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt. Nach dem zentralen Bestellsystem der deutschen Apotheken, der Lauer-Taxe, seien 11 verschiedene Weihrauchprodukte anderer Firmen als Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt. Insofern sei Weihrauch bei dem Verbraucher als Nahrungsergänzungsmittel bekannt. Demgegenüber müsse die Internetwerbung für die Arzneiwirkung anderer Weihrauchprodukte nach der vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigen BGH-Rechtsprechung außer Betracht bleiben (BGH, Urteil vom 11.7.2002 - I ZR 273/99 -). Darüber hinaus sei die Einfuhr von Weihrauchprodukten als Arzneimitteln aus der Schweiz oder Indien unzulässig, da es dort an einer staatlichen, mit der deutschen Arzneimittelzulassung vergleichbaren Zulassung fehle. In Indien sei Weihrauchextrakt ein Lebensmittel und unterliege der Lebensmittelüberwachung. Nach allem sei ihr Produkt ein Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel, das nicht durch das Nadelöhr der Arzneimittelüberwachung müsse.

Entgegen der Annahme des Beklagten sei das Vorliegen eines Arzneimittels auszuschließen. Sowohl der EuGH als auch der BGH unterschieden beim europäischen Arzneimittelbegriff zwischen einem Präsentationsarzneimittel und einem Funktionsarzneimittel. Ein Präsentationsarzneimittel liege nach der Rechtsprechung des BGH nur dann vor, wenn es so auf den Verkaufspackungen, nicht lediglich in Werbeangaben in Medien, präsentiert werde. Dies sei eindeutig nicht der Fall. Die Verpackung enthalte eine deutliche Präsentation als Nahrungsergänzungsmittel, eine Verzehrempfehlung und neuerdings den Hinweis, die täglich empfohlene Verzehrempfehlung nicht zu überschreiten.

Ebenso wenig sei ihr Produkt ein Funktionsarzneimittel. Stoffe könnten wie das Vitamin C je nach Dosis eine Doppelfunktion als Lebensmittel und Arzneimittel haben. Dann komme es allein auf die Dosis an. Maßgebend für die Beurteilung sei die Empfehlung, nur ein Mal täglich eine Tablette einzunehmen. Eine Mehrfacheinnahme - wie vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte angenommen - nur zur Begründung pharmakologischer Eigenschaften sei eine nicht wissenschaftliche Unterstellung. Ausgehend von der maßgebenden Dosis habe der Beklagte mit allen vorgelegten Unterlagen den Beweis einer pharmakologischen Wirkung nicht erbracht, dagegen habe sie den Gegenbeweis durch die Gutachten Bertram und Reuss geführt. Soweit der Beklagte sich mit seinen Unterlagen auf die Ayurvedische Medizin aus Indien berufe, liege darin nach neuerer Erkenntnis eher eine Empfehlung für eine gesunde Lebensweise im Sinne einer Nahrungsergänzung als die Behandlung von Krankheiten. Auch die vom Beklagten vorgetragene Bemühung der deutschen Firma P. um eine europäische Zulassung als Arzneimittel sei bisher wegen fehlender Nachweise gescheitert. Eine pharmakologische Wirkung in der vorgeschriebenen Dosis lasse sich nach allem nicht begründen. Der Beklagte habe den Beweis dafür nicht erbracht. Deshalb führten die stofflichen Eigenschaften ihres Produkts dazu, dass allein ein Nahrungsergänzungsmittel vorliege und mangels konkreter Gesundheitsgefahren keine Verbotsgrundlage bestehe.

Wesentlich sei weiter, dass ein EG-Lebensmittelimport vorliege. Der freie Handelsverkehr innerhalb der Gemeinschaft sei nach dem EG-Vertrag geschützt und die Auffassung des Beklagten führe zu unzulässigen Handelshindernissen bei dem Import von Lebensmitteln. Das Produkt werde unmittelbar aus Österreich eingeführt und sei dort rechtmäßig als Lebensmittel im Verkehr. Auf der Grundlage des § 47 a LMBG sei das Produkt aus der Sicht von Österreich einzuordnen und sei damit ein verkehrsfähiges Lebensmittel und kein Arzneimittel. Bezogen auf die Gemeinschaft insgesamt bedeute darüber hinaus die vorgelegte Zolltarifauskunft vom 16.9.2002 mit der Einordnung als Lebensmittelzubereitung den Verkehrsfähigkeitsnachweis für die gesamte Gemeinschaft.

Nach allem sei das Vertriebsverbot aufzuheben; hilfsweise komme eine Vorlage der Sache an den EuGH in Betracht.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 20.5.2003 - 3 K 47/02 - den Untersagungsbescheid des Beklagten vom 23.1.2002 aufzuheben.

Die Klägerin regt hilfsweise an,

dem Europäischen Gerichtshof folgende Frage vorzulegen:

„Kann eine Landesbehörde in der Bundesrepublik Deutschland ein Produkt, das in den EU-Mitgliedstaaten Österreich und England als verkehrsfähiges Lebensmittel im Verkehr ist, dem eine verbindliche Zolltarifauskunft der Europäischen Gemeinschaft die Lebensmittel-Eigenschaft bestätigt hat, mit dem Hinweis, dass dort keine arzneilichen Angaben auf der Packung enthalten sind, noch als Arzneimittel einstufen, auch wenn die Behörde eine pharmakologische Wirkung in der angegebenen Tagesdosierung nicht nachweisen kann.“

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte ist der Auffassung, das Lactobact-Urteil des EuGH vom 9.6.2005 stütze seinen Standpunkt. Aus dem Tenor des EuGH-Urteils ergebe sich, dass die Einstufung als Arzneimittel oder als Nahrungsmittel unabhängig von der Einstufung in anderen EU-Mitgliedstaaten erfolge und in Zweifelsfällen die Arzneimittelrichtlinie einschlägig sei.

Der Beklagte ist der Auffassung, es liege kein Lebensmittel und kein Nahrungsergänzungsmittel vor. Die Nahrungseigenschaft sei nicht nachvollziehbar begründet. Allenfalls liege ein Zweifelsfall vor, der damit als Arzneimittel zu behandeln sei.

Der Arzneimittelbegriff werde durch das Produkt der Klägerin erfüllt. Zwar präsentiere die Klägerin ihr Produkt nicht als Arzneimittel, so dass ein Präsentationsarzneimittel ausscheide. Dagegen liege wegen der pharmakologischen Wirkung ein Funktionsarzneimittel vor. Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Unterlagen nehme indischer Weihrauchextrakt Einfluss auf Entzündungsprozesse im Körper. Bei der Einstufung als Arzneimittel sei nach Auffassung des Bundesinstituts die Möglichkeit einer Mehrfacheinnahme der Tagesdosis zu berücksichtigen. Therapeutische Wirkungen seien bereits in einer Tagesdosis von 900 mg möglich und könnten durch Mehrfacheinnahme erreicht werden. Darüber hinaus ergebe sich aus den Forschungsergebnissen von Prof. Dr. Ammon, dass bei niedriger Dosierung eine Stimulierung der Leukotriensynthese eintreten könne.

Die Einstufung als Arzneimittel ergebe sich auch daraus, dass die europäische Behörde EMEA am 21.10.2002 für die Behandlung von Ödemen bei Gehirntumoren indischem Weihrauchextrakt zugunsten der deutschen Firma P. den Orphan-Drug-Status zuerkannt habe. Nur bei einer Einstufung als Arzneimittel und nicht als Lebensmittel könne ein Präparat einen solchen Status erhalten. Dagegen sei die von der Klägerin vorgelegte Zolltarifauskunft vom 16.9.2002 nicht entscheidungserheblich, da sie sich nach Sinn und Zweck auf die Zollkalkulation beschränke.

Nach allem sei das Weihrauchpräparat der Klägerin ein Funktionsarzneimittel, das zulassungsbedürftig sei, aber keine Zulassung als Arzneimittel habe. Mithin sei der Untersagungsbescheid rechtmäßig.

Zur Ergänzung des Sachverhalts insbesondere mit Blick auf die vorgelegten Unterlagen wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten (2 Hefter) Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung bleibt erfolglos.

Der Streit der Beteiligten betrifft die richtige rechtliche Einordnung des Produkts der Klägerin, der W., das sie von Österreich nach Deutschland einführt. Handelt es sich inhaltlich um ein Lebensmittel in Form eines Nahrungsergänzungsmittels oder um einen rechtlich maßgebenden Lebensmittelimport, wie die Klägerin annimmt, unterliegt es unstreitig grundsätzlich dem freien Warenverkehr und mithin nicht dem vom Beklagten ausgesprochenen Verkehrsverbot nach § 69 AMG. Handelt es sich dagegen rechtlich um ein Fertigarzneimittel, fehlt ihm die erforderliche Zulassung, da es unstreitig weder in Deutschland noch sonst im Bereich der Europäischen Union eine Verkehrsgenehmigung als Arzneimittel hat.

Angesichts der fortgeschrittenen EG-Harmonisierung des Arzneimittelrechts und des Lebensmittelrechts ist zunächst klarzustellen, wer die Qualifizierungszuständigkeit bei der grenzüberschreitenden Verbringung eines Produkts innerhalb der EG hat. Abgesehen von der hier nicht gegebenen Ausnahme einer gemeinschaftsrechtlichen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 vom 22.7.1993 für das Produkt verbleibt die Qualifizierung den nationalen Behörden und Gerichten. Auf eine Vorlage des OVG Münster hin mit dem Ziel einer EG-weiten Qualifizierung eines Produkts durch den EuGH hat der EuGH nach seinem Rechtsverständnis das Europarecht auszulegen, ist aber nicht befugt, über den Sachverhalt zu entscheiden und die Einstufung von Produkten als Arzneimittel oder Lebensmittel gemeinschaftsweit selbst vorzunehmen.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 – u.a. C – 211/03 -, betreffend die Einfuhr streitiger Nahrungsergänzungsmittel von den Niederlanden nach Deutschland auf eine Vorlage des OVG Münster, im Folgenden als Lactobact-Urteil bezeichnet.

Zuständig für die Entscheidung, ob ein Erzeugnis als Arzneimittel oder als Lebensmittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts einzustufen ist, sind nach der Rechtsprechung des EuGH die nationalen Behörden.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 30; ebenso schon EuGH, Urteil vom 16.4.1991 – Upjohn – Rz 35.

Die Einfuhr eines Produkts berührt zwar sowohl den Ausfuhrmitgliedstaat als auch den Einfuhrmitgliedstaat. Bei streitiger Zulässigkeit der Marktverwertung nach Einfuhr entscheidet indessen der jeweilige Einfuhrmitgliedstaat über die Einstufung als Arzneimittel oder Lebensmittel ohne Bindung an die Auffassung des Ausfuhrmitgliedstaats.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 56; ebenso EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, betreffend Vitaminpräparate, Rz 53.

Die nationalen Behörden des Einfuhrmitgliedstaates, hier der Beklagte, haben mithin die Einstufung des streitigen Produkts mit Wirkung nur für ihren Staat vorzunehmen. Die Kontrolle der richtigen Einstufung ist sodann Sache der nationalen Gerichte.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 96 und 97; ebenso EuGH, Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Delattre-Urteil, Rz 35.

Mithin hat der Senat in dem vorliegenden Berufungsverfahren über die Einstufung des streitigen Produkts in Deutschland ohne Vorlage an den EuGH selbst zu entscheiden.

Die Anfechtungsklage hat Erfolg, wenn noch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsakts besteht.

Bader u.a., VwGO, 3. Auflage 2005, § 113 Rdnr. 34.

Der hier streitige Untersagungsbescheid vom 23.1.2002 auf der Grundlage von § 69 I Nr. 1 AMG verbietet das Inverkehrbringen des streitigen Produkts ab Bekanntgabe (25.1.2002) auf Dauer. Dauerverwaltungsakte sind häufig – so auch hier – als sich ständig aktualisierende Verwaltungsakte anzusehen, für die sodann verändertes neues Recht ebenfalls zu beachten ist.

Kopp/Schenke, VwGO, 14. Auflage 2005, § 113 Rdnr. 43; Bader u.a., VwGO, 3. Auflage 2005, § 113 Rdnr. 34.

Der Senat legt seiner Entscheidung das im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltende neue Recht zugrunde und geht auf älteres Recht seit 25.1.2002 (Bescheidbekanntgabe) zusätzlich ein.

Die Klägerin begehrt die Einstufung ihres Produkts als Lebensmittel.

Nach dem ab 7.9.2005 geltenden deutschen Recht werden Lebensmittel in § 2 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuches – LFGB – vom 1.9.2005 (BGBl. I S. 2618) wie folgt definiert:

Lebensmittel sind Lebensmittel im Sinne des Artikels 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002.

Mit Blick auf älteres Recht galt zwar bis zum 6.9.2005 formell noch die Lebensmitteldefinition des § 1 I LMBG in der Fassung vom 9.9.1997 (BGBl. I S. 2296) mit folgendem Wortlaut:

Lebensmittel im Sinne dieses Gesetzes sind Stoffe, die dazu bestimmt sind, in unverändertem, zubereitetem oder verarbeitetem Zustand von Menschen verzehrt zu werden; ausgenommen sind Stoffe, die überwiegend dazu bestimmt sind, zu anderen Zwecken als zur Ernährung oder zum Genuss verzehrt zu werden.

Diese Definitionsvorschrift musste aber bereits seit 21.2.2002 wegen des Anwendungsvorrangs des europäischen Rechts unangewendet bleiben. Die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28.1.2002, in Kraft getreten nach Artikel 65 am 21.2.2002, ist nach Artikel 65 der Verordnung in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Einer Umsetzung bedurfte es mithin nicht. Das Gemeinschaftsrecht hat gegenüber dem nationalen Recht einen Anwendungsvorrang.

Vgl. mit näherer Begründung sowohl aus dem Gemeinschaftsrecht als auch aus dem deutschen Recht mit Blick auf Artikel 23 GG Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 10 EGV Rdnrn. 27 bis 29.

Für die Lebensmitteldefinition ist mithin auszugehen von der Gesamtdefinition (positive und negative Abgrenzung) nach Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 – im Folgenden Lebensmittelverordnung -, die insoweit nicht abgeändert worden ist durch die Änderungsverordnung (EG) Nr. 1642/2003 vom 22.7.2003. Die europäische Lebensmitteldefinition enthält in Artikel 2 I eine Positivdefinition und in Artikel 2 III eine Negativdefinition, auf die nacheinander einzugehen ist. Die Positivdefinition in Artikel 2 I Lebensmittelverordnung lautet:

Im Sinne dieser Verordnung sind „Lebensmittel“ alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden.

Wie die Klägerin zu Recht hervorhebt, stellt die europäische Definition nicht mehr wie die deutsche Definition ausdrücklich auf den Ernährungs- oder Genusszweck ab. Sie ist von dem europäischen Verordnungsgeber bewusst weit gefasst. Dies ergibt sich ausdrücklich aus dem Erwägungsgrund 11 der Lebensmittelverordnung, wonach die Definition für ein hinreichend umfassendes einheitliches Konzept der Lebensmittelsicherheit weit gefasst werden müsse.

Das Produkt der Klägerin fällt nach der Auffassung des Senats bei der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung unter die weite europäische Positivdefinition eines Lebensmittels. Normativ vorausgesetzt sind zunächst einmal „Stoffe“. Das Produkt der Klägerin enthält ausweislich der in Fotokopie vorgelegten Faltschachtel sowohl nach dem jetzigen Stand von 2005 als auch dem von 2002 als einzigen Inhaltsstoff 400 mg indischen Weihrauchtrockenextrakt pro Tablette. Weiterhin ist der Stoff dazu bestimmt, in verarbeitetem Zustand – als Trockenextrakt und mit den Bindemitteln einer Tablette – von Menschen aufgenommen zu werden. Dies ist der Fall, denn nach der Verzehrempfehlung soll täglich eine Tablette nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit verzehrt werden. Zugunsten der Klägerin ist damit die weite europäische Positivdefinition der Lebensmittel erfüllt.

Weiter geht der Senat noch mit Blick auf den Zeitabschnitt Januar/Februar 2002 auf den Streit der Beteiligten um die engere deutsche Positivdefinition ein, die nach § 1 I des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes – LMBG – vom 9.9.1997 (BGBl. I S. 2296) noch zusätzlich einen Ernährungs- oder Genusszweck verlangt. Die Klägerin hat den Genusszweck einleuchtend mit drei Gutachten begründet, wonach Weihrauch seit Jahrtausenden verwendet wird, einen bitterlichen, eigenartigen Geschmack hat, sich für Gewürzzwecke eignet und ein gesundes, natürliches Gewürz darstellt.

Gutachten von Prof. Dr. Bertram vom 22.2.2001, Behördenakte Bl. 50, im Folgenden zitiert als Gutachten Bertram, dort S. 1 und S. 4; ebenso das Erstgutachten des Dipl.-Chemikers Reuss vom 10.1.2001, Behördenakte Blatt 3, im Folgenden zitiert als Gutachten Reuss, dort S. 1 zu Aromaeffekten und S. 3 zur Gewürzfunktion, sowie eingehender zu Genusszweck und ernährungsspezifischer Wirkung das weitere Gutachten des Dipl.-Chemikers Reuss vom 15.6.2003, in der Berufungsakte 3 R 7/05, im Folgenden zitiert als Zusatzgutachten Reuss.

Der Beklagte hat dem in einer relativ engen Betrachtungsweise entgegengehalten, der Weihrauch werde nach der Anwendungsvorschrift nicht als Gewürz gestreut und erfülle insofern nicht den Lebensmittelbegriff. Das überzeugt nicht, denn die deutsche Lebensmitteldefinition stellt in § 1 I LMBG auf den Verzehr selbst und nicht auf besondere Formen des Verzehrs wie etwa die Anwendung von Gewürzen nur als Streumittel ab. In der Kommentierung zur deutschen Lebensmitteldefinition ist anerkannt, dass Stoffe, die einen spezifischen Geruchs- oder Geschmackswert aufweisen wie Gewürze oder Aromastoffe, jedenfalls dem Lebensmittelbegriff unterliegen.

Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Band II, Stand März 2005, § 1 LMBG Rdnr. 42, zum bisherigen deutschen Recht.

Mithin liegt nachweislich ein Aromastoff vor, der auch nach der engeren deutschen Positivdefinition als Lebensmittel anzusehen ist. Für die weitere europäische Positivdefinition genügt wie bereits dargelegt bereits die Bestimmung zur Aufnahme durch Menschen. Genussmittel und Aromastoffe sind von der europäischen Definition ohne Weiteres umfasst, was sich zusätzlich noch durch die besondere Bestimmung des Artikel 2 II Lebensmittelverordnung ergibt, wonach Kaugummi – und damit ein Genussmittel - ausdrücklich zu den Lebensmitteln gerechnet wird.

Vgl. zur deutschen Lebensmitteldefinition Zipfel/Rathke § 1 LMBG Rdnr. 31, wonach Kaugummi wegen des Genusszwecks ein Lebensmittel darstellt.

Nach allem erfüllt das Produkt der Klägerin nach der Auffassung des Senats die europäische Positivdefinition eines Lebensmittels, die bereits seit 21.2.2002 gilt, und zuvor (25.1.-20.2.2002) die deutsche Positivdefinition.

Rein vorsorglich geht der Senat noch auf den Streit der Beteiligten um die derzeitige europäische Zusatzeinstufung als Nahrungsergänzungsmittel ein. Bereits die dosierte Abgabe des Produkts in Tablettenform spricht dafür, dass zusätzlich zu der allgemeinen Lebensmitteldefinition derzeit auch die Positivdefinition eines Nahrungsergänzungsmittels erfüllt ist. Nach Artikel 2 Buchstabe a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG vom 10.6.2002 lautet die europäische Positivdefinition wie folgt:

Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „Nahrungsergänzungsmittel“ Lebensmittel, die dazu bestimmt sind, die normale Ernährung zu ergänzen und die aus Einfach- oder Mehrfachkonzentraten von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung bestehen und in dosierter Form in den Verkehr gebracht werden, d.h. in Form von z.B. Kapseln, Pastillen, Tabletten, Pillen und anderen ähnlichen Darreichungsformen (es folgen weitere Darreichungsformen).

Damit ist im Jahr 2002 erstmals eine gemeinschaftsrechtliche Regelung der Nahrungsergänzungsmittel erfolgt. Die deutsche Umsetzung ist durch die Nahrungsergänzungsmittelverordnung vom 24.5.2004 mit Wirkung vom 28.5.2004 erfolgt, die in § 1 eine inhaltsgleiche Definition enthält. Der EuGH hat die Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie nach dem zutreffenden Hinweis der Klägerin dahingehend gewürdigt, dass sie eine gewisse Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften für die dort definierten Nahrungsergänzungsmittel vornimmt.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 70.

Nahrungsergänzungsmittel müssen sowohl nach der europäischen Definition als nach der umgesetzten inhaltsgleichen deutschen Definition zunächst einmal Lebensmittel sein. Insofern ist nach den bisherigen Darlegungen des Senats – allein – die positive Lebensmitteldefinition erfüllt. Weiter kommt es auf den Nahrungsergänzungszweck an. Darauf weist die Faltschachtel des Produkts der Klägerin ausdrücklich hin; insofern bestehen keine Bedenken. Die Frage, ob Weihrauch ein Nährstoff oder ein sonstiger Stoff ist, ist zwischen den Beteiligten streitig. Ein Nährstoff liegt zwar nicht vor, da das Produkt keine der nach Artikel 4 I in Verbindung mit Anhang I der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie aufgeführten Vitamine und Mineralstoffe enthält und dies in gleicher Weise für das umgesetzte Recht nach § 3 I und Anlage 1 der deutschen Nahrungsmittelergänzungsverordnung gilt. Mit sonstigen Stoffen ist nach dem Erwägungsgrund 6 der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie eine breite Palette von Stoffen gemeint, die auch Kräuterextrakte einschließt und damit erkennbar auch Aromastoffe. Ein Aromastoff liegt wie dargelegt vor.

Weiterhin müssen nach der Definition die sonstigen Stoffe eine ernährungsspezifische oder physiologische Wirkung haben. Mit dem Ausdruck physiologisch sind sprachlich die Lebensvorgänge im Organismus gemeint.

Duden, Das Fremdwörterbuch, 7. Auflage 2001, Stichwort Physiologie; ebenso im Sinne der Wissenschaft von den normalen Lebensvorgängen Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Physiologie.

Demgegenüber bezieht sich die ernährungsspezifische Wirkung speziell auf die Lebensvorgänge bei der Ernährung. Dazu mag die von der Klägerin aufgestellte Behauptung der Auswirkungen etwa auf den Cholesterin-Haushalt gehören. Entscheidungserheblich ist das nicht. Ernährungsspezifische Bedeutung kann bereits ein Stoff mit bitterem Geschmack – wie hier - haben.

Vgl. Zipfel/Rathke, § 1 LMBG Rdnr. 37, dort im Zusammenhang mit der Verwendung von bitterem Chinin aus ernährungsphysiologischen Gründen.

Die Klägerin hat nunmehr mit der Vorlage des Zusatzgutachtens Reuss einleuchtend nachgewiesen, dass Weihrauchextrakt aus ernährungsspezifischer Sicht die Lebensmittel bekömmlicher macht und die Freisetzung von Verdauungssekreten vorbereitet.

Zusatzgutachten Reuss vom 15.6.2003, in der Berufungsakte 3 R 7/05, Bl. 97.

Mindestens liegt aber als physiologische Wirkung die Geschmackswirkung eines Aromastoffs vor. Das genügt der Richtlinie.

Weiter muss nach Artikel 2 Buchstabe a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie und § 1 I Nr. 3 der deutschen Nahrungsergänzungsmittelverordnung ein Produkt in dosierter Form, insbesondere in Form von Tabletten vorliegen. Dies trifft auf das Produkt der Klägerin zu.

Nach dem vom Senat gefundenen Zwischenergebnis erfüllt das streitige Produkt der Klägerin entgegen der Meinung des Beklagten von Anfang an und auch jetzt die europäische und deutsche Positivdefinition eines Lebensmittels und die europäische Positivdefinition eines Nahrungsergänzungsmittels seit Erlass der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie.

Nach der Positivdefinition ist die Negativdefinition zu beachten.

Die als Verordnung unmittelbar verbindliche europäische Lebensmittelverordnung enthält neben der positiven Definition der Lebensmittel in Artikel 2 Abs. 3 auch eine Negativdefinition. Artikel 2 Abs. 3 lit. d lautete:

Nicht zu „Lebensmitteln“ gehören: Arzneimittel im Sinne der Richtlinien 65/65/EWG (21) und 92/73/EWG (22) des Rates.

Durch Artikel 128 der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83 EG vom 6.11.2001 sind alle Bezugnahmen auf die bereits aufgehobenen älteren Arzneimittelrichtlinien durch die Bezugnahme auf die Humanarzneimittelrichtlinie ersetzt. Nicht zu den Lebensmitteln gehören mithin nach der Norm seit 2001 Arzneimittel im Sinne der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83 EG.

Wesentlich ist für die weitere Subsumtion, dass die Negativdefinition allein auf Gemeinschaftsrecht verweist, die Umsetzung des Arzneimittelbegriffs aus den Richtlinien in nationales Recht mithin nach der Verordnung für die Negativabgrenzung außer Betracht bleiben muss.

Die dargelegte europäische Negativabgrenzung zu einem Arzneimittel ist systemgleich für Lebensmittel im Allgemeinen und für die Untergruppe der Nahrungsergänzungsmittel. Die Klägerin meint zwar (Schriftsatz vom 6.10.2005), die Untergruppe der Nahrungsergänzungsmittel sei wegen der besonderen Harmonisierung anders zu beurteilen als die übrigen Lebensmittel und bezieht dies möglicherweise auch auf die Abgrenzung zu Arzneimitteln. Die Abgrenzung ist aber für Lebensmittel im Allgemeinen und Nahrungsergänzungsmittel systemgleich. Dies ergibt sich sowohl aus dem Normvergleich als auch der Rechtsprechung des EuGH. Die Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG führt die Negativabgrenzung in Artikel 1 II wie folgt durch:

Diese Richtlinie gilt nicht für Arzneimittel, die in der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel definiert sind.

Eine „synchrone“ Abgrenzung von Nahrungsergänzungsmitteln und allgemeinen Lebensmitteln einerseits gegenüber Arzneimitteln andererseits wird vom Richtliniengeber zusätzlich dadurch erreicht, dass er in Artikel 2 Buchstabe a der Richtlinie Nahrungsergänzungsmittel ausdrücklich als Lebensmittel mit näher gekennzeichneten Eigenschaften definiert, mithin bereits die Lebensmitteldefinition in Artikel 2 der europäischen Lebensmittelverordnung erfüllt sein muss.

Die normativ angelegte synchrone Abgrenzung wird auch deutlich in dem Lactobact-Urteil des EuGH vom 9.6.2005. In dem Vorabentscheidungsverfahren ging es in dem Ausgangsverfahren des OVG Münster um Produkte, die von den Niederlanden nach Deutschland eingeführt und dort als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebracht werden sollten (Lactobact-Urteil Rz. 20). Der EuGH hat in diesem Urteil (Rz. 41 und 42) die beiden Abgrenzungsregelungen in Artikel 2 Abs. 3 Buchstabe d der Lebensmittelverordnung und Artikel 1 Abs. 2 der Nahrungsergänzungsrichtlinie synchron behandelt und als inhaltsgleich angesehen. Für die weitere gemeinschaftsrechtliche Prüfung kommt es ohne Differenzierung zwischen Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln mithin nur darauf an, ob das Produkt der Klägerin gleichzeitig ein Arzneimittel nach dem europäischen Arzneimittelbegriff ist.

Der Senat prüft nunmehr das Vorliegen eines Arzneimittels. Maßgebend ist dafür das Gemeinschaftsrecht.

Normativ war der europäische Arzneimittelbegriff von vornherein (seit 1965) doppelt angelegt und ist es auch jetzt. Arzneimittel sind sowohl Präsentationsarzneimittel als auch Funktionsarzneimittel.

Vgl. für die ursprüngliche Rechtslage Artikel 1 Nr. 2 Abs. 1 und 2 der Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG vom 26.1.1965; sodann Artikel 1 Nr. 2 Abs. 1 und 2 der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG vom 6.11.2001; nunmehr in der geänderten Fassung von Artikel 1 der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31.3.2004 nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 30.10.2005.

Die beiden Arzneimitteldefinitionen sollen sich nach der Rechtsprechung des EuGH ergänzen.

Urteil des EuGH Upjohn vom 16.4.1991 – C 112/89 -, Rz. 15 bis 18.

Mit der Definition des Präsentationsarzneimittels, das lediglich als Arzneimittel bezeichnet ist, sollen nicht nur Arzneimittel erfasst werden, die tatsächlich therapeutische oder medizinische Wirkung haben, sondern auch die Erzeugnisse, die nicht ausreichend wirksam sind. Die zweite Definition der Funktionsarzneimittel betrifft Erzeugnisse, die zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der Körperfunktionen bestimmt sind und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben können. Durch die zweite Definition sollen auch Stoffe erfasst werden, die Heilungswirkung haben, aber nicht als Arzneimittel bezeichnet werden. Auf die formelle Zulassung kommt es nach beiden Definitionen nicht an.

Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass das Produkt der Klägerin kein Präsentationsarzneimittel ist. Bereits auf der im Jahr 2002 verwendeten Faltschachtel (Fotokopie VG-Akte Bl. 93) wird das Mittel als Nahrungsergänzung bezeichnet mit einer Verzehrempfehlung. Auf der neuen 2005 verwendeten Faltschachtel (Fotokopie Berufungsakte 3 R 7/05, Bl. 51) wird das Produkt als Nahrungsergänzungsmittel bezeichnet und sie enthält den Hinweis, es sei kein vollständiges Lebensmittel und daher nicht als einzige Nahrungsquelle geeignet. Wesentlich für die Subsumtion ist noch, dass die Faltschachtel keinerlei Hinweis auf pharmazeutische Forschung enthält oder auf von Ärzten entwickelte Methoden oder Zeugnisse bestimmter Ärzte zugunsten der Eigenschaften des Produkts.

Zu diesen Kriterien eines Präsentationsarzneimittels vgl. das Delattre-Urteil des EuGH vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 41.

Auch der Beklagte meint, die Klägerin habe eine Präsentation als Arzneimittel vermieden. Mithin ist der Ausschluss eines Präsentationsarzneimittels übereinstimmend mit der Meinung der Beteiligten unproblematisch.

Schwieriger ist die Streitfrage zwischen den Beteiligten zu entscheiden, ob inhaltlich ein Funktionsarzneimittel vorliegt. Die Klägerin verneint dies für die maßgebende Tagesdosis von 400 mg Weihrauch, der Beklagte bejaht die Eigenschaft als Funktionsarzneimittel. Beide haben dafür wissenschaftliche Unterlagen und Gutachten vorgelegt.

Vorweg ist klarzustellen, dass der Inhaltsstoff Weihrauch unstreitig weder in der EG noch in einem Staat der EG über eine Marktgenehmigung als Arzneimittel verfügt und damit auch nicht im Ausfuhrland Österreich (vgl. insbesondere Schriftsatz der Klägerin vom 6.10.2005, S. 4/5, Gerichtsakte 3 R 7/05, Bl. 49/50). Die fehlende Zulassung steht aber der Einstufung als Funktionsarzneimittel von vornherein nicht entgegen, denn nach der Rechtsprechung des EuGH müssen Funktionsarzneimittel nicht als Arzneimittel bezeichnet sein.

EuGH im Upjohn-Urteil vom 16.4.1991, Rz. 18.

Da sie in einer solchen Aufmachung nicht zugelassen werden könnten, ist die Zulassung schon deshalb kein Definitionselement des Funktionsarzneimittels.

Zum begrifflichen Verständnis des europäischen Funktionsarzneimittels geht der Senat auf die Normentwicklung ein.

Die ursprüngliche Definition in Artikel 1 Nr. 2 Abs. 2 der Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG vom 26.1.1965 lautete:

Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden.

Innerhalb des zeitlichen Geltungsbereichs des streitigen Untersagungsbescheides vom 23.1.2002 galt zunächst die Arzneimitteldefinition nach Artikel 1 Nr. 2 Abs. 2 der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG vom 6.11.2001 in der ursprünglichen Fassung mit folgendem Wortlaut:

Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden, gelten ebenfalls als Arzneimittel.

Dem entspricht im Übrigen die ab 2002 geltende Umsetzung in § 2 I Nr. 5 AMG in der Fassung vom 20.6.2002 (BGBl. I. S. 2076) mit folgendem Wortlaut:

Arzneimittel sind Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die dazu bestimmt sind, durch Anwendung am oder im menschlichen oder tierischen Körper die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder seelische Zustände zu beeinflussen.

Nunmehr wird das europäische Funktionsarzneimittel nach Artikel 1 Nr. 2 Buchstabe b der Humanarzneimittelrichtlinie in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31.3.2004 wie folgt definiert:

Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen.

Die letztgenannte aktuelle Definition des Funktionsarzneimittels erschließt sich wegen der zahlreichen medizinischen Fachausdrücke auch bei Hinzuziehung von Fachlexika nicht ohne weiteres, wird aber durch die dargelegte Normgeschichte und die insbesondere noch darzulegende Rechtsprechung des EuGH insgesamt verständlicher. Die Definition soll zunächst wissenschaftsbezogen und alsdann an Hand der Rechtsprechung des EuGH verständlich gemacht werden.

Nach der aktuellen Definition muss ein Funktionsarzneimittel physiologische Funktionen wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen. Das Wort Physiologie bezeichnet die Wissenschaft von den normalen Lebensvorgängen.

Roche Lexikon Medizin, 5. Auflage 2003, Stichwort Physiologie; Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Physiologie.

Bei der Physiologie geht es wissenschaftsbezogen insbesondere um die physikalischen Funktionen des Organismus.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, Stichwort Physiologie.

Die bereits zitierte ursprüngliche Definition in der Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG hatte dafür den allgemein verständlichen Ausdruck Körperfunktionen verwendet, der die Bedeutung auch in der aktuellen Fassung zutreffend wiedergibt. Auch der EuGH verwendet in einem neueren Urteil von 2004 noch den Ausdruck Körperfunktionen mit Blick auf Funktionsarzneimittel.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, betreffend Vitaminpräparate, Rz. 58.

Nach der neuesten Definitionsfassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG wird die Art der Beeinflussung noch präzisiert. Es muss sich um eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung handeln. Bei der Immunologie geht es um die Erkennungs- und Abwehrmechanismen des Organismus gegenüber körperfremden Substanzen und metabolisch bedeutet den Stoffwechsel betreffend.

Beide Definitionen aus Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwörter Immunologie und metabolisch.

Fallbezogen von Bedeutung ist nur die pharmakologische Wirkung eines Stoffes. Aus wissenschaftlicher Sicht ist unter Pharmakologie die Lehre von den Wechselwirkungen zwischen Arzneistoffen und Organismus zu verstehen einschließlich dem Untergebiet Toxikologie.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Pharmakologie.

Die Pharmakologie betrifft ambivalent sowohl die Heilwirkung als auch die Giftwirkung eines Stoffes. Auch die Klägerin bezieht in ihrem Schriftsatz vom 6.12.2005 die toxische Dosierung in die pharmakologische Wirkung ein. Aus wissenschaftlicher Sicht bedeutet ein Pharmakon einen körperfremden oder körpereigenen Stoff, der nach Aufnahme im Körper oder an dessen Oberfläche erwünschte oder schädliche Wirkungen hervorruft.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Pharmakon.

Aus der Sicht der Pharmakologie wirken viele Pharmaka dosisabhängig entweder als Arzneimittel oder als Gift.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Pharmakon.

Quantitativ wird das in der Dosis-Wirkungs-Kurve erfasst.

Hunnius, Stichwort Dosis-Wirkungs-Kurve.

Bei diesem wissenschaftlichen Verständnis umfasst das Funktionsarzneimittel mit seiner pharmakologischen Wirkung nicht nur den Bereich einer positiven, therapeutischen Beeinflussung der Körperfunktionen, sondern auch den Bereich einer negativen, schädlichen Beeinflussung der Körperfunktionen. Kurz gesagt umfasst ein Funktionsarzneimittel positive und negative Auswirkungen auf die Gesundheit.

Das dargelegte wissenschaftsbezogene Verständnis der Definition entspricht auch dem praktischen Verständnis der europäischen Definition nach der Rechtsprechung des EuGH.

Der EuGH hat in einer neueren Entscheidung vom 29.4.2004 – C – 387/99 – betreffend Vitaminpräparate, Rz. 58, eine allgemein verständliche Definition des europäischen Funktionsarzneimittels gegeben:

Für die Einstufung eines Erzeugnisses als Arzneimittel nach der Funktion müssen sich die Behörden daher vergewissern, dass es zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der Körperfunktionen bestimmt ist und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben kann.

Aus demselben Urteil des EuGH vom 29.4.2004 ergibt sich auch, dass er die Auswirkungen auf die Gesundheit ambivalent, als sowohl positiv als auch negativ versteht, da er im Rz. 56 die positive Wirkung der Vitamine zu therapeutischen Zwecken und in Rz. 60 die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Gesundheit einschließlich etwaiger Schädlichkeitsgrade anspricht.

Die ambivalenten heilenden oder schädigenden Gesundheitswirkungen machen wie dargelegt die Besonderheit eines Pharmakons aus. Auf der Normebene hat erst die Änderungsrichtlinie 2004/27/EG die pharmakologische Wirkung ausdrücklich in die Definition des Funktionsarzneimittels aufgenommen. Damit hat der Richtliniengeber aber kein Neuland betreten, sondern die bisherige Rechtsprechung des EuGH übernommen, der in ständiger Rechtsprechung auf die pharmakologischen Eigenschaften des abzugrenzenden Produkts abstellt.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 – betreffend Vitaminpräparate Rz. 62; Upjohn Urteil vom 16.4.1991 – C – 112/89 -, Rz. 23, 24; Delattre-Urteile vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 26.

Die pharmakologischen Eigenschaften des Produkts werden damit als wesentlicher Gesichtspunkt für die Abgrenzung betrachtet. In der Rechtsprechung des EuGH drücken die pharmakologischen Eigenschaften zusammenfassend das aus, was mit der Beeinflussung der Körperfunktionen und somit Auswirkungen auf die Gesundheit konkreter umrissen ist. Deutlich wird der Zusammenhang insbesondere in dem Urteil Upjohn vom 16.4.1991 – C – 112/89 -, Rz. 17-24, in dem zunächst die Beeinflussung der Körperfunktionen mit Auswirkungen auf die Gesundheit dargelegt wird (Rz. 17), im Folgenden die Beeinflussung der Körperfunktionen näher erläutert wird (Rz. 19-22) und im unmittelbaren Anschluss daran (Rz. 23 und 24) zusammenfassend entschieden wird, dass das nationale Gericht auf die pharmakologischen Eigenschaften des betreffenden Erzeugnisses abstellen muss.

Übereinstimmend mit der bisherigen Rechtsprechung definiert der EuGH in seinem Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 52, den Rechtsprechungsbegriff der pharmakologischen Eigenschaften wirkungsbezogen wie folgt:

Die pharmakologischen Eigenschaften eines Erzeugnisses sind der Faktor, auf dessen Grundlage die mitgliedstaatlichen Behörden ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten dieses Erzeugnisses zu beurteilen haben, ob es im Sinne des Artikels 1 Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 dazu bestimmt ist, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden.

Die dargelegte Definition der pharmakologischen Eigenschaften klingt etwas kompliziert, fasst aber nur die bisherige Rechtsprechung zusammen, wonach der Begriff der pharmakologischen Eigenschaften konkret die Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen (Körperfunktionen) bedeutet. Die pharmakologischen Eigenschaften entsprechen also den pharmakologischen Wirkungen im Sinne des neuen Rechts.

Nach dem dargelegten Gesamtzusammenhang ist der bisherige Rechtsprechungsbegriff der pharmakologischen Eigenschaften von dem Richtliniengeber in der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG in Form einer pharmakologischen Wirkung in den Normtext aufgenommen worden. Die im Jahr 2004 geänderte Definition des Funktionsarzneimittels führt mithin nicht zu einer substanziellen Rechtsänderung.

In der Substanz der europäischen Arzneimitteldefinition geht es nach wie vor darum, ob ein Produkt zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der Körperfunktionen bestimmt ist und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben kann.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, betreffend Vitaminpräparate, Rz. 58.

Klar zu unterscheiden von der Auslegung der europäischen Normen, die der EuGH vorgenommen hat, ist die Rechtsanwendung. Im Lactobactfall des EuGH zielte die Vorlagefrage 1 a des OVG Münster, vgl. in der Wiedergabe des EuGH Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 25, unmittelbar auf die Feststellung, ob das Produkt Lactobact Lebensmittel oder Arzneimittel ist mit gegebenenfalls Verbindlichkeit für alle Mitgliedstaaten. Der EuGH hat in dem Lactobact-Urteil (Rz. 96) mit Blick auf die klare Aufgabentrennung zwischen nationalen Gerichten und Gerichtshof klargestellt, dass er im Vorlageverfahren nicht befugt ist über den Sachverhalt zu entscheiden und dass es vielmehr Sache des vorlegenden Gerichts ist, die Einstufung selbst vorzunehmen (Rz. 97). Ungeachtet dessen hat der EuGH in dem Lactobact-Urteil sowie schon zuvor Rechtsanwendungshinweise gegeben, die sich im Sinne einer Vollständigkeitsanforderung zusammenfassen lassen. Bei der Beurteilung eines Erzeugnisses müssen die Behörden (Lactobact-Urteil Rz. 51), alle seine Merkmale, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen Eigenschaften – wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen -, die Modalitäten seines Gebrauchs, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann, berücksichtigen.

Zur Klarstellung weist der Senat aber darauf hin, dass die Berücksichtigung sämtlicher Merkmale nicht deren Gleichrangigkeit bedeutet. Während die Wirkungen des Produkts auf die Körperfunktionen und damit die Gesundheitsauswirkungen als pharmakologische Eigenschaften schon definitionsgemäß wesentliche Bedeutung haben, hat der EuGH im Lauf seiner Rechtsprechung die Bedeutung der anderen Merkmale zu Hilfsmerkmalen herabgestuft. So hat er entschieden, dass etwa die äußere Form des Produkts kein allein ausschlaggebendes Indiz ist und die Modalitäten des Gebrauchs ein nicht an sich ausschlaggebender Umstand sind.

Vgl. zum Ersteren Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 38 und zum Letzteren Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 31.

Weiterhin hat eine unterschiedliche Verbreitung und Verbraucherbekanntheit des Produkts als Arzneimittel oder Lebensmittel in verschiedenen Mitgliedstaaten keine unmittelbar ausschlaggebende Wirkung, da der EuGH die unterschiedliche Einstufung von Erzeugnissen als Arzneimittel oder Lebensmittel in verschiedenen Mitgliedstaaten als rechtlich zulässig betrachtet.

EuGH im Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 56.

Nach der BGH-Rechtsprechung haben für die Produkteinstufung nach dem gemeinschaftsrechtlichen Arzneimittelbegriff Werbeangaben in Zeitschriften verglichen mit den pharmakologischen Wirkungen keine ausschlaggebende Bedeutung.

BGH, Urteil vom 11.7.2002 – I ZR 273/99 -, Juris-Ausdruck Rz. 23.

Der BGH gewichtet die pharmakologische Wirkung der Präparate deutlich stärker als die Verbraucherkenntnisse aus den Medien, was auch dem Sinn der EuGH-Rechtsprechung entspricht. Der EuGH schließt nicht aus, dass ein Produkt im Verkehr im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird, aber dennoch ein Arzneimittel im Sinne des europäischen Rechts ist.

EuGH, Urteil Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 21.

Die allgemeine Verkehrsauffassung ist also nicht ausschlaggebend.

Damit sind die Grundlagen der Einstufung eines Produkts als europäisches Funktionsarzneimittel geklärt.

Auf der dargelegten Grundlage bedarf es einer konkreten Prüfung, ob das Produkt der Klägerin ein Funktionsarzneimittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts ist.

Der Senat nimmt diese Prüfung von Amts wegen vor, worauf die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung hingewiesen worden sind. Dabei sind die von den Beteiligten vorgelegten wissenschaftlichen Unterlagen und Gutachten gleichrangig heranzuziehen.

Nach der vom EuGH geforderten Berücksichtigung aller Merkmale des Produkts ist zunächst die Zusammensetzung zu betrachten. Ausweislich der fotokopierten Faltschachteln von 2002 und 2005 (VG-Akte Bl. 93/94 und OVG-Akte 3 R 7/05 Bl. 51) besteht das Mittel abgesehen von hier nicht interessierenden Tablettenhilfsstoffen nur aus einem Inhaltsstoff, nämlich indischem Weihrauchtrockenextrakt von 400 mg pro Tablette; die Verzehrempfehlung lautet:

Täglich 1 Tablette nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit verzehren.

Die neue Faltschachtel von 2005 enthält zusätzlich den Hinweis, dass die täglich empfohlene Verzehrempfehlung nicht überschritten werden soll. Aus der Verzehrempfehlung ergibt sich zugleich, dass der Inhaltsstoff im menschlichen Körper verwendet werden soll.

Sodann sind im Sinne des EuGH Prüfungsschwerpunkt die pharmakologischen Eigenschaften des Inhaltsstoffs Weihrauch. Es kommt darauf an, ob Weihrauchextrakt physiologische Funktionen beeinflusst, und zwar durch eine pharmakologische Wirkung. Wie bereits dargelegt bedeutet die Prüfung einfacher ausgedrückt, ob Weihrauchextrakt Körperfunktionen beeinflusst mit positiven oder negativen Auswirkungen auf die Gesundheit.

Nach den dem Senat vorliegenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Gutachten zum Wirkstoff Weihrauch handelte es sich ursprünglich um ein traditionelles Mittel in Indien.

Vgl. umfassend die auf Anregung der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) durchgeführte Veröffentlichung von Privatdozent Safayhi und Prof. Dr. Ammon, Pharmakologische Aspekte von Weihrauch und Boswelliasäuren, im Folgenden zitiert als Safayhi/Ammon, in: Sonderdruck der Pharmazeutischen Zeitung Nr. 39, 142. Jahrgang 1997, S. 1 ff., dort S. 1 und S. 2; weiter Ammon Kurzbericht, Salai-Guggal – (Indischer Weihrauch), Gummiharz aus Boswellia serrata, in: Deutsches Ärzteblatt 95, Januar 1998, S. A-30 ff, im folgenden zitiert als Kurzbericht Ammon, dort S. A-30; zur traditionellen therapeutischen Verwendung in Asien und zur Herstellung des Therapeutikums in Indien; vgl. das von der Klägerin vorgelegte Gutachten von Prof. Dr. Bertram vom 22.2.2001 zur pharmakologischen Wirkung von Weihrauch, im Folgenden zitiert als Gutachten Bertram, dort S. 1 und S. 2.

Der Klägerin ist zuzustimmen, dass die Zuordnung eines Produkts zur traditionellen Ayurveda-Medizin ganzheitlich auch im Sinne einer gesunden Lebensweise mit geeigneten Lebensmitteln zu verstehen sein kann und für sich genommen nicht eine pharmakologische Wirkung nach modernen Wissenschaftsmaßstäben indiziert, vgl. zum ganzheitlichen Konzept der Ayurveda (Wissen vom Leben) Roche Lexikon Medizin, 5. Auflage 2003, Stichwort Ayurveda.

Die pharmakologischen Wirkungen der Hauptinhaltsstoffe von Weihrauch wurden indes in jüngster Zeit wissenschaftlich erforscht, und zwar in Untersuchungen ab 1986.

Gutachten Bertram, S. 1, und Jahreszahl bei Safayhi/Ammon, S. 2.

Das Hauptergebnis der bisherigen Forschung liegt nach der Angabe von Fachlexika sowie nach den von beiden Beteiligten vorgelegten wissenschaftlichen Unterlagen und Gutachten darin, dass Weihrauchextrakt mit seinem Gehalt an Boswelliasäuren Entzündungsprozesse beeinflusst.

Safayhi/Ammon, mit ausführlicher Darlegung der Entzündungsmodelle, S. 2 – S. 5; Kurzbericht Ammon, S. A-30; Gutachten Bertram, S. 2, wobei die Bezeichnung antiphlogistische Wirkungen entzündungshemmende Wirkungen bedeutet; Roche Lexikon Medizin, 5. Aufl. 2003, Stichwort Boswellia serrata, mit Hinweis auf die nachgewiesene Wirkung bei den Entzündungskrankheiten Colitis ulcerosa und Enteritis regionalis (Crohn-Krankheit) sowie unterstützend bei Polyarthritis; zurückhaltender im Sinne zugeschriebener Wirkungen bei Entzündungskrankheiten Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Aufl. 2004, Stichwort Boswellia serata unter Weiterverweisung auf das Stichwort Boswellia bhaw-dajiana; zurückhaltend ebenfalls das von der Klägerin vorgelegte Gutachten Reuss, S. 1, wonach Weihrauch nach vorliegenden wissenschaftlichen Publikationen eine arzneiliche Wirkung haben soll und es (S. 2) für entzündliche Erkrankungen einen therapeutisch beanspruchten Anwendungsbereich gibt, positiv Bertsche/Schulz, Kurzbewertung, 2002, Berufungsakte 3 R 7/05 Bl. 71 R.; ebenso Gupta u.a., 2001, Zusammenfassung einer Forschungsarbeit zur Colitis, Berufungsakte 3 R 7/05, Bl. 75.

Die bei chronischen Entzündungen ablaufenden soweit hier einschlägigen Körperprozesse sind bei Safayhi/Ammon S. 2 und 3, als Kausalketten im Sinne eines Entzündungsmodells zusammengefasst. Danach ist die 5 – Lipoxygenase das Schlüsselenzym der Leukotrienbiosynthese. Die Produkte der 5 – Lipoxygenase, die Leukotriene, sind hochwirksame Mediatoren (Förderer) chronischer Entzündungen. Pharmazeutisch gesucht zur Entzündungsbekämpfung werden mithin Inhibitoren (Hemmstoffe), die bereits das Schlüsselenzym, die 5 – Lipoxygenase, hemmen. Solche Hemmstoffe sind zwar in der Forschung bekannt, haben aber regelmäßig reduzierende oder oxidierende Eigenschaften und wirken sich deshalb toxisch aus. Pharmazeutisch gesucht werden deshalb Inhibitoren der chronischen Entzündungen mit besserer Verträglichkeit. Die Boswelliasäuren – chemisch Triterpene - als Inhaltsstoffe des Weihrauchs erweisen sich nach den Forschungsergebnissen als nicht reduzierende oder oxidierende und insofern einmalige Hemmstoffe der Leukotriensynthese und damit chronischer Entzündungen (Safayhi/Ammon S. 4 mit einem Diagramm). Der bei Safayhi/Ammon eingehend dargelegte Wirkungsmechanismus der Leukotrienhemmung wird in anderen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und im Gutachten Bertram der Klägerin kurz dargestellt oder erwähnt.

Kurzbericht Ammon, a.a.O., S. A-31; Kurzbewertung Bertsche/Schulz, S. 1; das von der Klägerin vorgelegte Gutachten Bertram, S. 2/3; zurückhaltend Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, Stichwort Boswellia serrata unter Weiterverweisung auf Boswellya bhaw-dajiana, positiv Bertsche/Schulz, S. 1; Gupta u.a., Zusammenfassung S. 1.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Boswelliasäuren, allerdings in wesentlich höheren Konzentrationen, auch zur Behandlung von Hirnödemen bei Tumoren eingesetzt werden.

Safayhi/Ammon, S. 7, dort zu einer täglichen Dosis von 3600 mg, Bertsche/Schulz, S. 2: mindestens 3600 mg.

Begrenzt auf die Behandlung von Ödemen bei Gehirntumoren und damit auf diesen hoch dosierten Anwendungsbereich ist der vorgelegte Bescheid der Europäischen Kommission vom 21.10.2002 (Berufungsakte Bl. 69 R) ergangen, der Weihrauchextrakt als potenzielles Arzneimittel für diese seltene Krankheit ausweist; auf die Rechtswirkung dieses Bescheides ist noch einzugehen.

Vorliegend ist wesentlich, dass Weihrauchextrakt abgesehen von diesem seltenen Anwendungsbereich ganz allgemein Entzündungen beeinflusst.

Der dargelegte Wirkungsmechanismus bei Entzündungen bedeutet im Sinne der Definition des EuGH, dass die Körperfunktionen beeinflusst werden, und zwar mit Auswirkungen auf die Gesundheit. Chronische Entzündungen werden mit positiver Gesundheitswirkung gehemmt. Bei dem Eingriff in die bei Entzündungen ablaufenden Körperprozesse handelt es sich um eine pharmakologische Wirkung hier im Sinne einer positiven therapeutischen Einwirkung. Eine pharmakologische Wirkung von Weihrauch wird in der Veröffentlichung von Safayhi/Ammon (S. 8) ausdrücklich bejaht. Auch das von der Klägerin selbst vorgelegte Gutachten Bertram gibt an, dass die pharmakologischen Wirkungen der Hauptinhaltsstoffe von Weihrauch erst in jüngster Zeit systematisch beforscht wurden (S. 1), weist auf antientzündliche Wirkungen hin und gibt dazu den wahrscheinlichen Wirkmechanismus an (S. 2).

Damit ist aber nach den vorliegenden Forschungsergebnissen die Wirkung von Weihrauchextrakt auf Entzündungsprozesse noch nicht erschöpft. Weihrauchextrakt kann auch den umgekehrten Effekt haben, dass er – nunmehr in niedriger Konzentration – Entzündungsprozesse fördert. Die pharmakologische Wirkung soll vom Sinn her - dem Gesundheitsschutz des Verbrauchers - die ambivalenten Gesundheitswirkungen insgesamt erfassen. Insofern greift die Argumentation der Klägerin zu kurz, die negative Gesundheitsauswirkungen nur bei Überdosierung, nicht bei Unterdosierung in den Blick nimmt. Ergeben wie hier beim Weihrauchextrakt Forschungsergebnisse eine negative Gesundheitsauswirkung ausnahmsweise bei Unterdosierung, muss sie zum Gesundheitsschutz auch rechtlich als pharmakologische Wirkung beachtet werden.

Das „Umkippen“ der Wirkung erklärt sich aus der chemischen Vielfalt von Weihrauchextrakt. Es gibt keinen einheitlichen Wirkstoff Boswelliasäure, sondern unterschiedliche Boswelliasäuren mit unterschiedlichen pharmazeutischen Wirkungen.

Bertsche/Schulz, S. 1; konkreter zu den unterschiedlichen Boswelliasäuren und ihren Wirkungen vgl. bei Safayhi/Ammon, S. 4, die Tabelle 1; zum Gehalt von indischem Weihrauch an pentazyklischen (fünfringigen) Triterpensäuren und tetrazyklischen (vierringigen) Triterpensäuren Gutachten Bertram, S. 2.

Wesentlich ist das Zusammenwirken der Inhaltsstoffe, die auch antagonistisch (im Sinne der Gegenwirkung) wirken können.

Safayhi/Ammon S. 5 und S. 8, Bertsche/Schulz, S. 1.

Eine hinreichend starke Gegenwirkung bedeutet konkret, dass Weihrauchextrakt dann die Leukotriensynthese und damit den chronischen Entzündungsprozess verstärkt. Gerade für einen solchen Umkehreffekt liegen Forschungsergebnisse vor.

Schlusswort Ammon als Ergänzung des Kurzberichts in: Deutsches Ärzteblatt 95, Oktober 1998, S. A-2482, im Folgenden zitiert als Schlusswort Ammon; ebenso als Forschungsergebnis berücksichtigt in dem von der Klägerin selbst vorgelegten Gutachten Bertram vom 22.2.2001, S. 3; Bertsche/Schulz, S. 1.

Verantwortlich gemacht für den Umkehreffekt werden die Tirucallsäuren.

So als positive Feststellung Bertsche/Schulz, S. 1; als Möglichkeit Gutachten Bertram, S. 3.

Konsequenterweise sehen Bertsche/Schulz die im Weihrauchextrakt enthaltenen Tirucallsäuren als pharmakologisch wirksame Substanzen an.

Bertsche/Schulz, S. 1.

Die Tirucallsäuren wirken bereits bei niedriger Dosierung des Stoffgemischs, die Boswelliasäuren erst bei höherer Dosierung.

In dem zitierten Schlusswort von Ammon (S. A-2482) wird nochmals hervorgehoben, dass Weihrauchextrakte nicht eine einzelne Wirksubstanz enthalten, sondern ein Gemisch von Wirksubstanzen mit nicht einheitlichem Wirkungsmechanismus. Sodann ist ausgeführt, dass die richtige Dosierung eine wesentliche Rolle spielt. Das räumt auch die Klägerin ein. Danach heißt es wörtlich:

Bei niedriger Dosierung eines Extraktes kann es sogar zu einer Stimulierung der Leukotriensynthese kommen.

Wie bereits dargelegt bedeutet die Stimulierung der Leukotriensynthese auch eine Verstärkung der chronischen Entzündungsprozesse und damit eine pharmakologisch negative Wirkung. Das von der Klägerin selbst vorgelegte Gutachten Bertram, S. 3, bestätigt dieses Forschungsergebnis, dass in niedriger Dosierung die Bildung von 5 – Lipoxygenaseprodukten erhöht sein kann und fügt hinzu, diesem Befund müsse weiter nachgegangen werden. Die im Gutachten Bertram genannten 5 – Lipoxygenaseprodukte sind gerade die Leukotriene und fördern als Mediatoren chronische Entzündungen.

Ausführlich zu der gesamten Kausalkette Safayhi/Ammon, S. 3, und kurz zusammengefasst Gutachten Bertram, S. 2.

Das einleuchtend mit der antagonistischen Wirkung und damit mit der Wirkung einzelner Wirkstoffe des Stoffgemischs Weihrauch – Tirucallsäuren - erklärte Forschungsergebnis muss bei den pharmakologischen Wirkungen von Weihrauch beachtet werden.

Die vom Senat aus Verständnisgründen zunächst nur qualitativ dargelegte pharmakologische Wirkung bedarf mit Blick darauf, dass das Produkt der Klägerin eine Tagesdosis von 400 mg Weihrauch in Form einer Tablette empfiehlt, nun auch einer quantitativen Darlegung. Von dieser empfohlenen Menge – die nach der neuen Packungsangabe auch nicht überschritten werden soll – ist vernünftigerweise auszugehen. Die von dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in seiner Stellungnahme vom 29.9.2005 erwähnte Möglichkeit einer Mehrfacheinnahme würde im Grunde jede Dosierungsvorschrift bei anerkannten Arzneimitteln entwerten und überzeugt schon deshalb nicht. Die Kritik der Klägerin an dieser Stellungnahme trifft zu.

Nach den vorliegenden Forschungsergebnissen ist das quantitative Spektrum pharmakologischer Wirkungen (positiv und negativ) des Weihrauchs relativ weit. Nach übereinstimmenden Feststellungen von Safayhi/Ammon, S. 7, und dem Bertramgutachten, S. 3, werden insbesondere Tumorpatienten mit der hohen Tagesdosis von 3600 mg Weihrauch-Trockenextrakt in wissenschaftlichen Studien behandelt. In diesem hoch dosierten Bereich ist auch der positive Bescheid der Europäischen Kommission vom 21.10.2002 zur Ausweisung als Forschungsarzneimittel ergangen. Die Grenze guter Verträglichkeit von Weihrauchextrakt liegt in der Regel bei 1200 mg pro Tag, während hohe Dosen von 3600 mg pro Tag zu Nebenwirkungen führen können.

Safayhi/Ammon, S. 7, zu relativ seltenen Nebenwirkungen Bertsche/Schulz, S. 2.

Für die im vorliegenden Rechtsstreit erhebliche Hauptwirkung von Weihrauch, die antientzündliche Wirkung, wird nach den im Wesentlichen übereinstimmenden Veröffentlichungen und Gutachten eine Tagesdosis von ungefähr 800 bis 1600 mg verabreicht.

So Gutachten Reuss vom 10.1.2001, S. 2, mit Blick auf die publizierten Studien; ähnlich Safayhi/Ammon mit der Tagesdosis von 800 bis 2000 mg in einer Pilotstudie (S. 5) und der Verabreichung von 1050 mg bei Colitis ulcerosa (S. 7); das Gutachten Bertram kommt allerdings unter Einschluss der sehr hohen Dosierungen bei Tumorpatienten (S. 3) zu einer höheren pharmakologischen Dosis zwischen insgesamt 900 und 3600 mg am Tag (S. 4); Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 29.9.2005: ab 900 mg; Bertsche/Schulz, S. 1 und 2: 900 mg bei Asthma, mindestens 3600 mg bei Ödemen.

Eine positive Wirkung auf Entzündungen ist nach dem Forschungsstand, wie er dem Senat aus den vorliegenden Unterlagen ersichtlich ist, mithin ungefähr bei einer Tagesdosis von 800 bis 1600 mg gegeben.

Von der regelmäßigen pharmakologischen Tagesdosis von 800 bis 1600 mg ist der tiefer liegende untere Dosisbereich bei Weihrauch zu unterscheiden. Den unteren Dosisbereich siedelt das Gutachten Bertram bei einer Tagesdosis unter 500 mg an, wie sie hier vorliegt.

Gutachten Bertram vom 22.2.2001, S. 1 (unterer Dosisbereich) im Zusammenhang mit S. 4 (Tagesdosis unter 500 mg).

Da die Untergrenze des positiven therapeutischen Einsatzes von Weihrauchextrakt nach den vorliegenden Veröffentlichungen und Gutachten wie dargelegt bei 800 bis 900 mg Tagesdosis liegt, ist die Hälfte der Untergrenze (ca. 450 mg) sicherlich als niedrige Dosierung anzusehen.

Gerade bei einer niedrigen Dosierung von Weihrauchextrakt kommen nach den dargelegten Forschungsergebnissen aber die antagonistischen Wirkungen des Stoffgemischs aus Boswelliasäuren und Tirucallsäuren zur Geltung. Das Forschungsergebnis der Stimulierung der Leukotriensynthese und damit der Verstärkung von Entzündungsprozessen betrifft den Fall der niedrigen Dosierung des Weihrauchextraktes.

Übereinstimmend Schlusswort Ammon, S. A-2482, Gutachten Bertram, S. 3, und Bertsche/Schulz, S. 1 und 2.

Die dem Gericht vorliegenden Forschungsunterlagen und Gutachten enthalten keine Gegenfeststellung, die dieser antagonistischen Wirkung konkret widerspricht. Konsequenterweise kommen Bertsche/Schulz (S. 1) zu dem Ergebnis, dass die im Weihrauchextrakt enthaltenen Tirucallsäuren als Verursacher des Umkehreffekts in niedriger Konzentration des Weihrauchextrakts pharmakologisch wirksame Substanzen sind.

Diese Konsequenz ziehen die von der Klägerin selbst vorgelegten Gutachten zwar nicht. Die von der Klägerin vorgelegten Gutachten Bertram und Reuss kommen nur deshalb zum Ausschluss einer pharmakologischen Wirkung in niedriger Dosis, weil sie die maßgebende pharmakologische Wirkung auf die therapeutische Wirkung einengen.

Das Gutachten Reuss (S. 2) nimmt von vornherein nur den therapeutisch beanspruchten Anwendungsbereich in den Blick und schließt die therapeutisch verstandene pharmakologische Wirkung bei einer niedrigen Dosis von 30 % beziehungsweise 50 % der üblichen Dosis aus. Nichts anderes gilt für das Gutachten Bertram (S. 4). Die Bewertung der Dosisbereiche wird mit Blick auf den ausdrücklich angeführten therapeutischen Erfolg vorgenommen, und insoweit einer Tagesdosis unter 500 mg keine pharmakologische Wirkung mehr beigemessen. Nur bei dieser aus dem Gutachtentext ersichtlichen Auslegung bleibt das Gutachten widerspruchsfrei, denn der Gutachter Bertram hat bei der Betrachtung des Wirkmechanismus durchaus gesehen (S. 3), dass bei niedrigerer Dosierung die Bildung von Entzündungsverstärkern erhöht sein kann.

Nach allem ist ersichtlich, dass beide von der Klägerin vorgelegten Gutachten Bertram und Reuss nur den therapeutisch beanspruchten Anwendungsbereich bei niedriger Dosierung ausschließen. Eine positive Wirkung fehlt nach den Gutachten in diesem Bereich und eine negative Wirkung wird ausgeblendet.

Entscheidend sind aber die Forschungsergebnisse über einen Umkehreffekt bei niedriger Dosis. Die Hauptwirkung auf Entzündungsprozesse kehrt sich um. Diese Forschungsergebnisse werden in den vorliegenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Gutachten an keiner Stelle konkret angegriffen. Die Forschungsergebnisse sind auch mit Blick auf den dargelegten antagonistischen Effekt des Stoffgemischs für das Gericht einleuchtend nachvollziehbar und überzeugend. Die Tirucallsäuren wirken bereits bei niedriger Dosierung des Stoffgemischs, die Boswelliasäuren erst bei höherer Dosierung. Mithin besteht zwischen den Gutachten und den wissenschaftlichen Veröffentlichungen insgesamt kein konkreter fachlicher Widerspruch, der die Einholung eines Obergutachtens durch den Senat bei der von Amts wegen durchgeführten Prüfung aufdrängen würde.

Nach der dargelegten Würdigung hat das Wirkstoffgemisch Weihrauch bei einer Gesamtbetrachtung der positiven und negativen pharmakologischen Wirkungen ein weites Spektrum der pharmakologisch wirksamen Tagesdosis.

Eine hohe Tagesdosis von etwa 3600 mg entspricht der Ödembehandlung von Tumorpatienten und ist Gegenstand einer europäischen Ausweisung als Forschungsarzneimittel.

Die positive pharmakologische Wirkung im Sinne einer Therapie von Entzündungen besteht in einem Dosisbereich etwa zwischen 800 und 1600 mg Tagesdosis.

Bei einer niedrigen Tagesdosis von 400 bis 500 mg gibt es unwidersprochene Forschungsergebnisse im Sinne einer Verstärkung von Entzündungen insbesondere durch Tirucallsäuren und damit einer negativen pharmakologischen Wirkung. Eine Gesundheitsgefahr ist hier dem Grunde nach zu bejahen. Mit Blick auch auf die antagonistischen Wirkungen kommt auch die wissenschaftliche Veröffentlichung Safayhi/Ammon (S. 8) zu dem Ergebnis, von einer freizügigen Abgabe von Weihrauch sei abzuraten. Bertsche/Schulz warnen mit Blick auf den Umkehreffekt vor nicht ausreichend hoher Dosierung und befürworten sogar die Hochdosierung von 3600 mg.

Bertsche/Schulz, S. 2.

Daran gemessen fällt die tägliche Einnahme von 400 mg Weihrauchextrakt erkennbar in den zu vermeidenden niedrigen Dosisbereich.

Nach allem ist eine Beeinflussung von Körperfunktionen mit pharmakologischer Wirkung und damit positiven oder negativen Auswirkungen auf die Gesundheit für Weihrauchextrakt nicht nur in hohen, sondern auch in niedrigen Tagesdosen wie hier von 400 mg aufgrund der Forschungsergebnisse zu bejahen.

Gesundheitsgefahren sind bei einem Funktionsarzneimittel in jedem Fall zu berücksichtigen.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 - C-211/03 -, Rz. 53, dort als eigenständiger Faktor hervorgehoben.

Die bereits dargelegte gemeinschaftsrechtliche Definition des Funktionsarzneimittels in der Arzneimittelrichtlinie ist erfüllt, da eine Beeinflussung physiologischer Funktionen durch pharmakologische Wirkungen nach dem Forschungsstand zu bejahen ist. Weihrauch hat die pharmakologische Wirkung, dass er die Körperfunktionen bei Entzündungsprozessen mit Auswirkungen auf die Gesundheit beeinflusst.

Mit der Betrachtung der pharmakologischen Eigenschaften des Wirkstoffs in dem streitigen Produkt der Klägerin ist die Subsumtion erst im Schwerpunkt abgeschlossen.

Wie dargelegt bedarf es nach der Rechtsprechung des EuGH für die Einstufung eines Produkts der Berücksichtigung aller seiner Merkmale. Dazu gehören über die geprüfte Zusammensetzung, die pharmakologischen Eigenschaften und die Risiken hinaus noch die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung und die Bekanntheit bei den Verbrauchern.

EuGH im Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 51.

Mithin sind noch diese Hilfsmerkmale nachfolgend zu berücksichtigen.

Zu beginnen ist mit den Modalitäten des Gebrauchs. Nach der Anweisung auf der Faltschachtel ist täglich eine Tablette nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit zu verzehren. Darin liegt einerseits die für Arzneimittel übliche Einnahme, andererseits werden nach Artikel 2 Buchstabe a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG Nahrungsergänzungsmittel ebenfalls in dosierter Form unter anderem in Tablettenform eingenommen. Das Merkmal ist also nicht trennscharf. Auch der EuGH hat dem Umstand, dass ein streitiges Erzeugnis nach der Gebrauchsanweisung in Wasser oder Joghurt verrührt werden sollte, keine an sich ausschlaggebende Bedeutung beigemessen.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 31.

Als nächster Gesichtspunkt ist die Verbreitung des weihrauchhaltigen Produkts der Klägerin in den Blick zu nehmen. Die Klägerin importiert ihr Produkt aus Österreich und bringt es als Nahrungsergänzungsmittel auf den deutschen Markt. Werbung für ihr Produkt wie für ein Arzneimittel betreibt sie nach der insoweit unwidersprochenen Klagebegründung (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 15) nicht. Das namensgleiche Produkt wird in Österreich selbst ebenfalls als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebracht, indessen nicht von der Klägerin, sondern von der Firma G. Die Firma G hat das namensgleiche Produkt in Österreich als Verzehrprodukt angemeldet (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 27) und betreibt in Österreich nach dem belegten Vortrag des Beklagten Werbung für die entzündungshemmende Wirkung der namensgleichen Weihrauchtabletten ebenfalls mit dem Inhalt von 400 mg Weihrauch.

Vortrag des Beklagten im Schriftsatz vom 17.10.2002, S. 2 (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 111) und Auszug aus der Homepage der österreichischen Firma (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 113).

Weiterhin ist das namensgleiche Produkt nach dem belegten Vortrag der Klägerin in Großbritannien als Nahrungsmittel im freien Verkehr.

Bescheinigung des britischen Agrarministers vom 9.8.2001, Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 28.

Ergänzend ist noch die Verbreitung von nicht namensgleichen Konkurrenzprodukten mit dem identischen Inhaltsstoff Weihrauch in den Blick zu nehmen. Insoweit hat die Klägerin nachgewiesen, dass auf dem deutschen Apothekenmarkt ausweislich des zentralen Bestellsystems der Lauer-Taxe insgesamt 11 nicht namensgleiche Weihrauchprodukte als Nahrungsergänzungsmittel bestellt werden können.

Schriftsatz vom 11.8.2005, S. 3/4, OVG Akte 3 R 7/05 Bl. 20/21 mit Anlage K 22, OVG Akte Bl. 23 ff..

Bei einer Würdigung der Verbreitung des namensgleichen Produkts der Klägerin muss gesehen werden, dass das Produkt in drei Staaten der EU – Österreich, Deutschland und Großbritannien - als Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt ist. In Österreich wird es – allerdings nicht von der Klägerin – von der vertreibenden Firma als entzündungshemmend und damit wie ein Arzneimittel beworben.

Zur rechtlichen Qualifizierung vgl. das Urteil des EuGH Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 – Rz. 27, wonach eine Veröffentlichung des Herstellers oder Verkäufers mit der Bezeichnung therapeutischer Wirkungen als entscheidendes Indiz für die Absicht des Herstellers oder Verkäufers anzusehen ist, das Erzeugnis als Präsentationsarzneimittel in den Verkehr zu bringen.

Eine Verkehrsgenehmigung auf EU-Ebene hat hoch dosierter Weihrauchextrakt als Mittel gegen Gehirnödeme noch nicht, wohl aber den Status eines Forschungsarzneimittels.

Den vom Beklagten vorgetragenen Import von Weihrauchextrakt als Fertigarzneimittel aus der Schweiz und aus Indien hält die Klägerin für unzulässig, da es im Fall der Schweiz an einer landesweiten Arzneimittelzulassung und im Fall Indiens an einer mit deutschem Recht vergleichbaren Zulassung fehle, vielmehr Weihrauchextrakt in Indien ein Lebensmittel sei und der Lebensmittelüberwachung unterliege. Dieser Vortrag kann zugunsten der Klägerin als richtig unterstellt werden.

In diesem Fall spricht der Gesichtspunkt der Verbreitung eher für die Einordnung als Lebensmittel. Er hat aber verglichen mit den festgestellten pharmakologischen Wirkungen des Produkts keine für sich entscheidende Bedeutung.

Sodann ist als weiteres Merkmal noch wie dargelegt die Bekanntheit des Produkts bei den Verbrauchern zu würdigen.

Die Klägerin nimmt an, ihr Weihrauchprodukt sei insbesondere mit Blick auf das deutsche Apothekensortiment mit zahlreichen weiteren Weihrauchprodukten als Nahrungsergänzungsmittel dem informierten deutschen Verbraucher als Lebensmittel bekannt. Demgegenüber nimmt der Beklagte an, dem informierten deutschen Verbraucher sei abgesehen von der speziellen Arzneimittelwerbung im Internet für das namensgleiche Produkt in Österreich auch ansonsten durch das Internet die Arzneimitteleigenschaft bekannt, was die Klägerin mit rechtlichen Gesichtspunkten zur Unmaßgeblichkeit von Medienwerbung bekämpft.

Bei der Würdigung der konkreten Verbraucherkenntnisse schließt sich der Senat weder dem Standpunkt der Klägerin noch dem des Beklagten an. Überzeugender erscheint vielmehr das von der Klägerin vorgelegte Gutachten Reuss vom 10.1.2001 (S. 2), wonach die Verkehrsauffassung als mögliches Kriterium für die Abgrenzung zwischen Lebensmitteln und Arzneimitteln im Fall Weihrauch ohne wesentliche Bedeutung ist. Der Gutachter begründet dies damit, dass eine arzneiliche Wirkung beim durchschnittlich informierten deutschen Verbraucher kaum bekannt ist. Eine Bekanntheit von Weihrauch als Nahrungsmittel nimmt der Gutachter aber ersichtlich ebenfalls nicht an, weil anderenfalls die Verkehrsauffassung entgegen seiner Fachmeinung zu einem eindeutigen Ergebnis führte. Die richtige Einordnung von Weihrauch, der eher als Kultmittel bekannt ist, wird einen durchschnittlich informierten Verbraucher kaum berühren. Konkrete Verbraucherkenntnisse über die Lebensmittel- oder Arzneimitteleigenschaft können also nicht erwartet werden.

Der Gesichtspunkt der Verbraucherkenntnisse ist jedenfalls gegenüber den festgestellten pharmakologischen Eigenschaften nicht ausschlaggebend.

Zu den beiden zuletzt genannten Gesichtspunkten der Verbreitung und der Verbraucherkenntnisse führt der Senat noch eine Hilfserwägung durch. Im günstigsten Fall könnte die gerichtliche Würdigung dieser Gesichtspunkte zu dem Ergebnis führen, dass ein Weihrauchprodukt im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird. Selbst diese allgemeine Ansicht würde es aber nicht hindern, dass ein solches Produkt dennoch nach dem europäischen Arzneimittelbegriff als Arzneimittel einzuordnen ist.

So das Urteil des EuGH Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 21, für aus Südamerika eingeführte Kräutertees.

Damit kann der Prüfungsabschnitt über die Einstufung des Produkts der Klägerin als Arzneimittel abgeschlossen werden.

Nach der Überzeugung des Senats ist das weihrauchhaltige Produkt der Klägerin unter Berücksichtigung aller seiner Merkmale, insbesondere seiner Zusammensetzung, seiner pharmakologischen Eigenschaften – wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen – der Modalitäten seines Gebrauchs, des Umfangs seiner Verbreitung, seiner Bekanntheit bei den Verbrauchern und der Risiken nach dem maßgebenden Gemeinschaftsrecht als Funktionsarzneimittel im Sinne sowohl der ursprünglichen Arzneimittelrichtlinie 2001/83/EG als auch der dargelegten Änderungsfassung durch die Arzneimittelrichtlinie 2004/27/EG anzusehen.

Damit führen die bisherigen Prüfungsschritte des Urteils zu dem Doppelergebnis, dass das Produkt der Klägerin mit 400 mg Weihrauchextrakt Tagesdosis nach den europäischen Definitionen sowohl ein Aromastoff und damit ein Lebensmittel ist als auch ein Funktionsarzneimittel mit Blick auf seine antagonistische Wirkung auf Entzündungsprozesse. Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts unterliegt das Produkt mithin nach vollständiger Subsumtion einerseits der Lebensmittelverordnung 178/2002 und zusätzlich der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG, andererseits auch der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG in der ursprünglichen Form und gleichermaßen in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG.

Dieses Doppelergebnis auf der europäischen Rechtsebene bedarf aber einer juristischen Auflösung wegen seiner widersprüchlichen Konsequenzen.

Ein Lebensmittel fällt unstreitig grundsätzlich unter den freien Handelsverkehr der Mitgliedstaaten (vgl. zum Grundsatz Artikel 28 EGV). Anderes gilt für Arzneimittel. Ausnahmen vom Grundsatz der Handelsfreiheit bestehen nach Artikel 30 EGV insbesondere zum Gesundheitsschutz, worunter das Arzneimittelrecht fällt.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 30 Rdnr. 8.

Nach Artikel 6 I der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG bedarf ein Arzneimittel grundsätzlich abgesehen von dem nicht einschlägigen Fall einer unmittelbaren europäischen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung Nr. 2309/93 in jedem Mitgliedstaat einzeln einer Zulassung. Umgesetzt ist diese Regelung im deutschen Recht in § 21 AMG. Unstreitig hat das Produkt der Klägerin weder in der EG noch in einem EG-Staat eine Zulassung als Arzneimittel. Deshalb bedarf das festgestellte Doppelergebnis einer Auflösung.

Nach dem dargelegten Zwischenergebnis bedarf es auf Gemeinschaftsebene einer Entscheidungsregel, ob beim Zusammentreffen beider Definitionen das Arzneimittelrecht oder das Lebensmittelrecht Vorrang hat.

Zusammengefasst kommt der Senat zu der Entscheidung, dass nach dem aktuellen Recht bei der Produktbehandlung das Arzneimittelrecht vor dem Lebensmittelrecht Vorrang aufgrund ausdrücklicher normativer Regelung hat. Für die vorausgehenden Zeitabschnitte ergibt sich dasselbe Ergebnis aus der Beachtung der Rechtsprechung des EuGH, der in ständiger Rechtsprechung bereits seit 1992 eine Art „Strenge-Regel“ aufgestellt hat, wonach das strengere Arzneimittelrecht in der Anwendung Vorrang vor weniger strengen Regelungen anderer Rechtsgebiete hat. Dies ist nunmehr im Einzelnen auszuführen.

Beginnend mit dem neuesten Zeitabschnitt ab 30.10.2005 ist der Anwendungsvorrang des Arzneimittelrechts bereits nach deutschem Recht normativ eindeutig bestimmt. Das deutsche Recht verweist in § 2 III Nr. 1 des ArzneimittelgesetzesAMG – in der Fassung des Gesetzes vom 13.12.2001 (BGBl. I S. 3586) sowie in der jetzigen Fassung vom 12.12.2005 (BGBl. I S. 3394) zur Abgrenzung auf den Lebensmittelbegriff nach dem deutschen Lebensmittelgesetz. § 2 II LFGB in der Fassung vom 1.9.2005 (BGBl. I S. 2618), gültig ab 7.9.2005, verweist für die Lebensmitteldefinition seinerseits unmittelbar auf Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Die europäische Lebensmittelverordnung 178/2002 verweist in ihrer Negativabgrenzung in Art. 2 Abs. 3 d wiederum auf die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG. Die Humanarzneimittelrichtlinie enthält in der Fassung der Änderungsrichtlinie vom 31.3.2004 mit einer Umsetzungsfrist bis 30.10.2005 in Art. 2 Abs. 2 ausdrücklich eine Vorrangregel des Arzneimittelrechts mit folgendem Inhalt:

In Zweifelsfällen, in denen ein Erzeugnis unter Berücksichtigung aller seiner Eigenschaften sowohl unter die Definition von „Arzneimittel“ als auch unter die Definition eines Erzeugnisses fallen kann, das durch andere gemeinschaftliche Rechtsvorschriften geregelt ist, gilt diese Richtlinie.

Mit dieser Richtlinie ist die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG gemeint, was mithin zum Vorrang des Arzneimittelrechts führt. Der EuGH hat die klar formulierte Vorrangregel auch in diesem Sinn verstanden.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 44.

Nach dem aktuell geltenden Gemeinschaftsrecht ist auf das Produkt der Klägerin mithin nur das Arzneimittelrecht anzuwenden. Das aktuelle deutsche Recht verweist darauf.

Für das vorausgehende Recht innerhalb der zeitlichen Reichweite des Dauerverwaltungsaktes vom 23.1.2002 geht der Senat aus Gründen der Übersichtlichkeit auf die Zeitabschnitte zunächst nach dem wie dargelegt maßgeblichen Gemeinschaftsrecht und erst dann nach dem deutschen Recht ein.

Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts war im vorausgehenden Zeitabschnitt vom 31.3.2004 bis zum 29.10.2005 die Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31.3.2004 mit der normativen Vorrangregel des Arzneimittelrechts zwar bereits erlassen, indessen war die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen. Richtlinien setzen zwar ein zweistufiges Rechtsetzungsverfahren mit Erlass auf Gemeinschaftsebene und Umsetzung in nationales Recht voraus.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 249 EGV Rdnr. 8.

Richtlinien sind aber auch als Auslegungsmaßstab heranzuziehen.

Geiger, EUV/EGV, Artikel 249 EGV Rdnr. 12.

Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung, und zwar gerade für die Vorrangregel in der hier vorliegenden Änderungsrichtlinie 2004/27/EG, entschieden, dass eine Richtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist als Auslegungsmaßstab heranzuziehen ist.

Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 44.

Auch für diesen Zeitraum galt als Auslegungsergebnis der Rechtsprechung des EuGH ein normativer Vorrang des Arzneimittelrechts.

Auf Gemeinschaftsebene galt in dem davor liegenden Zeitraum vom 6.11.2001 (mithin vor Erlass des Dauerverwaltungsakts vom 23.1.2002) bis zum 30.3.2004 die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG noch ohne eine normative Vorrangregelung. Die Abgrenzung des gemeinschaftsrechtlichen Arzneimittelbegriffs gegenüber den Konkurrenzbegriffen bedurfte mithin richterlicher Auslegung. Eine solche ständige Rechtsprechung des EuGH liegt vor, die von den Jahren 1991 bis 2005 reicht und damit den Entscheidungszeitraum (Januar 2002 bis Februar 2006) erfasst. Dies ist jetzt darzulegen.

Der Grundgedanke dieser Rechtsprechung ist einfach. Er besteht darin, dass das strengere Arzneimittelrecht wegen der besonderen Gefahren Anwendungsvorrang vor weniger strengem Recht anderer Gebiete besitzt. Erstmals hat der EuGH diesen Gedanken im Urteil Delattre vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 21, zur Abgrenzung von Arzneimitteln gegenüber seinerzeit Kosmetika (Schlankheitsmitteln) geäußert. Zur Begründung hat er (Rz. 21) ausgeführt:

Diese Schlussfolgerung ist im Übrigen die Einzige, die dem mit beiden Richtlinien verfolgten Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit entspricht, da die rechtliche Regelung für Arzneispezialitäten in Anbetracht der besonderen Gefahren, die diese Erzeugnisse für die öffentliche Gesundheit mit sich bringen können und die im Allgemeinen von kosmetischen Mitteln nicht ausgehen, strenger ist als die für kosmetische Mittel.

Im nachfolgenden Jahr 1992 hat der EuGH in seinem Urteil Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 19, diese „Strenge-Regel“ auf die hier einschlägige Abgrenzung von Arzneimittelrecht gegenüber Lebensmittelrecht übertragen. Zur Begründung hat er ausgeführt (Rz. 19), ein Produkt sei selbst dann als Arzneimittel anzusehen und der entsprechenden Regelung zu unterwerfen, wenn es in den Anwendungsbereich einer anderen weniger strengen Gemeinschaftsregelung falle.

Sodann hat der EuGH aktuell in seinem Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 43, nochmals seine Rechtsprechung bestätigt, dass die für Arzneimittel geltenden Bestimmungen auf ein Erzeugnis anzuwenden sind, das sowohl die Voraussetzungen eines Lebensmittels als auch eines Arzneimittels erfülle. Zur Begründung hat er sich (Rz. 43) ausdrücklich auf sein Ter Voort-Urteil C – 219/91 – berufen, dort insbesondere auf die Rz. 19 verwiesen und damit wie dargelegt den Grundsatz, dass ein Produkt auch dann als Arzneimittel anzusehen ist, wenn es dem Anwendungsbereich einer weniger strengen Regelung unterfällt. Zwischen 1991 und jetzt hat der EuGH mithin in ständiger Rechtsprechung die „Strenge-Regel“ seiner Abgrenzung zwischen Arzneimittelrecht und weniger strengem Recht zugrunde gelegt.

Die dargelegte normative Vorrangregel der Richtlinie 2004/27/EG entspricht mithin inhaltlich der ständigen Rechtsprechung des EuGH. Dementsprechend hat sich der EuGH in seinem Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 - sowohl vergangenheitsbezogen auf seine ständige bisherige Rechtsprechung (Rz. 43) als auch zukunftsbezogen auf die neue Richtlinie 2004/27/EG (Rz. 44) berufen. Das Ergebnis der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist mithin der Vorrang des Arzneimittelrechts bei der Abgrenzung gegenüber dem Lebensmittelrecht. Dies steht für den Zeitraum von 1992 bis jetzt fest. Bezogen auf den hier entscheidungserheblichen Zeitraum vom 25.1.2002 (Bekanntgabe des Dauerverwaltungsakts vom 23.1.2002) bis jetzt (Februar 2006) ist die Abgrenzungsfrage auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts mithin immer gleich zu beantworten. Maßgebend für die rechtliche Behandlung ist das strengere Arzneimittelrecht gegenüber dem weniger strengen Lebensmittelrecht.

Für die vorsorglich vorzunehmende Abgrenzungsprüfung nach dem deutschen Recht sind andere Zeitabschnitte zu bilden. Unproblematisch ist der bereits behandelte aktuelle Zeitabschnitt ab dem 7.9.2005. Ab diesem Zeitpunkt verweist wie dargelegt § 2 II LFGB in der Fassung vom 1.9.2005 (BGBl. I S. 2618) für die Lebensmitteldefinition ausdrücklich auf Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002, und damit auch auf die in Artikel 2 Abs. 3 der gemeinschaftsrechtlichen Verordnung vorgenommene Abgrenzung zu Lebensmitteln, für die die EuGH-Rechtsprechung maßgebend ist. Die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts für die Abgrenzung ist vom deutschen Gesetzgeber sichergestellt, da auch § 2 III Nr. 1 AMG für die Abgrenzung auf die Lebensmitteldefinition verweist mit der Konsequenz, dass nach der ausdrücklichen Anordnung des deutschen Gesetzgebers für die Abgrenzung der beiden Rechtsgebiete einheitlich das Gemeinschaftsrecht gilt.

Für den vorausgehenden Zeitabschnitt vom 21.2.2002 bis zum 6.9.2005 hat der deutsche Gesetzgeber zwar nicht ausdrücklich für Rechtsklarheit gesorgt. Die Rechtsklarheit ergibt sich aber aus dem gemeinschaftlichen Verordnungsrecht. Die gemeinschaftsrechtliche Abgrenzung von Lebensmitteln und Arzneimitteln in Artikel 2 der Lebensmittelverordnung galt bereits in diesem Zeitabschnitt. Die Lebensmittelverordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28.1.2002 trat nach Artikel 65 am 21.2.2002 in Kraft. Sie ist nach Artikel 65 in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Anders als bei Richtlinien bedarf es keines zweistufigen Rechtsetzungsverfahrens, vielmehr gilt die Verordnung unmittelbar in jedem Mitgliedstaat ohne Transformation.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 249 EGV, Rdnrn. 6 und 8.

Der deutsche Gesetzgeber hatte aber in diesem Zeitraum der verbindlichen Regelung noch nicht formell Rechnung getragen. Vielmehr war in § 1 LMBG in der Fassung vom 9.9.1997 (BGBl. I S. 2296), gültig vom 1.8.1997 bis 6.9.2005, eine formell abweichende Regelung bestimmt. Produkte waren nach § 1 I LMBG nur dann keine Lebensmitteln, wenn sie überwiegend zu anderen Zwecken als dem der Ernährung oder des Genusses bestimmt waren. Das ältere deutsche Recht legte die Auslegung nahe, dass ein Lebensmittel auch dann vorlag, wenn sich kein überwiegender Verwendungszweck feststellen ließ.

So noch die Kommentierung von Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Stand März 2005, § 1 LMBG Rdnr. 35 und die ältere BGH-Rechtsprechung: BGH, Urteil vom 6.2.1976 – I ZR 125/74 -.

Die deutsche Regelung ließ sich mithin in nahe liegender Auslegung als Vorrang des weniger strengen Lebensmittelrechts vor dem strengeren Arzneimittelrecht verstehen.

Bei diesem Ergebnis kann es aber nicht verbleiben. Das Gemeinschaftsrecht hat grundsätzlich Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 10 EGV Rdnr. 31.

Gerichte und Behörden haben den Vorrang des Gemeinschaftsrechts ohne weiteres zu beachten, und innerstaatliche Vorlageverfahren etwa an ein Verfassungsgericht müssen außer Betracht bleiben.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 10 EGV Rdnr. 31.

Mithin musste die inhaltlich anders gefasste Abgrenzung des deutschen Rechts zwischen Arzneimitteln und Lebensmitteln gegenüber der bindenden europäischen Verordnung außer Betracht bleiben. Vielmehr galt nach der bereits dargelegten Rechtsprechung des EuGH die „Strenge-Regel“, wonach für die Produktbehandlung das strengere Arzneimittelrecht vor weniger strengem Recht in der Anwendung Vorrang hat. Auch für diesen Zeitabschnitt verbleibt es mithin bei dem gefundenen Ergebnis.

In einem vorausgehenden kurzen Zeitabschnitt des Dauerverwaltungsakts knapp einen Monat zwischen seiner Bekanntgabe am 25.1.2002 bis zum 20.2.2002 galt auf der Gemeinschaftsrechtsebene allerdings noch nicht die Lebensmittelverordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28.1.2002, in Kraft ab 21.2.2002. Der Anwendungsvorrang der gemeinschaftsrechtlichen Lebensmittelverordnung muss mithin für diesen kurzen Zeitabschnitt außer Betracht bleiben.

Auch für diese Zeit blieb der Vorrang des Arzneimittelrechts unverändert. Maßgebend ist hier nicht der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts, sondern der Grundsatz der europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts.

Im Zeitraum Januar/Februar 2002 stellte sich die Vorrangfrage vom Arzneimittelrecht her, das im Gegensatz zum seinerzeitigen Lebensmittelrecht schon gemeinschaftsrechtlich normiert war. Wie bereits dargelegt war das gemeinschaftliche Arzneimittelrecht bereits seit 1965 fortlaufend durch Richtlinien kodifiziert, die in nationales Recht umzusetzen waren.

Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG vom 26.1.1965, sodann als Nachfolgerichtlinie die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG sowie deren Änderungsrichtlinie 2004/27/EG.

Das deutsche Arzneimittelgesetz war also bereits in der in diesem Zeitabschnitt (Januar/Februar 2002) maßgebenden Fassung des Änderungsgesetzes vom 13.12.2001 (BGBl. I S. 3586) Umsetzung des europäischen Richtlinienrechts. Zur Abgrenzung von Arzneimitteln und Lebensmitteln verwies § 2 III Nr. 1 AMG 2001 auf § 1 LMBG und damit die bereits dargelegte Regelung, wonach nur eine überwiegende Bestimmung zu anderen Zwecken als dem der Ernährung oder des Genusses maßgebend ist. Auch unabhängig von der Direktwirkung von Richtlinien zu Gunsten Einzelner, vgl. EuGH, Urteil vom 26.9.2000 – C- 443/98 -, Rz. 50; Urteil vom 4.12.1997 – C – 97/96 -, NJW 1998, 129, ist umgesetztes nationales Recht nach der EuGH-Rechtsprechung so auszulegen, dass das mit der Richtlinie verfolgte Ziel erreicht werden kann. EuGH, Urteil vom 11.7.2002 – C – 62/00 -, Rz. 41.

Eine solche europarechtskonforme Auslegung des § 1 LMBG 1997 ist aber möglich und deshalb auch geboten. Zwar ist die Auslegung nahe liegend, dass die überwiegende Zweckbestimmung rein faktisch im Sinne der allgemeinen Verkehrsauffassung zu verstehen ist.

So Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Stand März 2005, § 1 LMBG Rdnr. 34.

Zwingend ist diese Auslegung aber nicht. Die überwiegende Zweckbestimmung kann statt faktisch auch normativ verstanden werden. Die überwiegende Zweckbestimmung ergibt sich dann normativ nach dem strengeren Recht; das strengere Recht prägt die Zweckbestimmung. Das Ziel der einschlägigen Arzneimittelrichtlinie ist nach der Rechtsprechung des EuGH gerade der Schutz vor den besonderen Gefahren, die Arzneimittel mit sich bringen.

EuGH, Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 21, und Ter Voort-Urteil vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 19.

Das umgesetzte deutsche Arzneimittelrecht ist mithin europarechtskonform so auszulegen, dass das dargelegte Ziel der Arzneimittelrichtlinie mit Blick auf den Vorrang des strengeren Rechts erreicht wird. Mithin ist die deutsche Abgrenzungsregelung in den §§ 2 AMG 2001 und 1 LMBG 1997 europarechtskonform auch in dem hier interessierenden Zeitabschnitt vom 25.1.2002 bis zum 20.2.2002 im Sinne einer normativen überwiegenden Zweckbestimmung durch das strengere Arzneimittelrecht auszulegen. Dieser Gesichtspunkt gilt im Übrigen auch für die nachfolgende Zeit, für die aber der Anwendungsvorrang der gemeinschaftsrechtlichen Lebensmittelverordnung hinzukommt.

Mithin ist die Geltung der europäischen Arzneimittelabgrenzung für den gesamten in Anspruch genommenen Zeitraum des angegriffenen Dauerverwaltungsakts seit 25.1.2002 bis jetzt zu beachten.

Für den Zeitraum des Dauerverwaltungsakts ist nach dem Ergebnis der Prüfung des europäischen und des deutschen Rechts einheitlich von dem Vorrang des Arzneimittelrechts gegenüber dem Lebensmittelrecht bei der Produktbehandlung auszugehen.

Die von der Klägerin gegen den Vorrang vorgebrachten Gründe überzeugen nicht.

Soweit die Klägerin eine vollständige Subsumierung als Voraussetzung der Vorrangregelung ansieht, hat der Senat sie vorgenommen.

Soweit die Klägerin meint, für Nahrungsergänzungsmittel gelte eine günstigere Behandlung, trifft dies nicht zu. Sie hat zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass nach der neuen Rechtsprechung des EuGH auf dem Gebiet der Nahrungsergänzungsmittel die Richtlinie 2002/46 eine gewisse Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften vorgenommen hat.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 70.

Nahrungsergänzungsmittel, die den Vorschriften dieser Richtlinie entsprechen, dürfen in der Gemeinschaft grundsätzlich frei in den Verkehr gebracht werden.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C- 211/03 -, Rz. 71.

Die der Klägerin günstige Folge tritt aber nur ein, wenn die Voraussetzungen der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie überhaupt erfüllt sind. Dies ist aber nicht der Fall, weil die Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG ausdrücklich nicht für Arzneimittel gilt (Artikel 1 Abs. 2 der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie) und darüber hinaus Nahrungsergänzungsmittel nach Artikel 2 der Richtlinie 2002/46/EG bereits Lebensmittel sein müssen, mithin auch für Nahrungsergänzungsmittel die allgemeine Abgrenzungsvorschrift von Artikel 2 der Lebensmittelverordnung (EG) Nr. 178/2002 gilt. Dementsprechend führt der EuGH wie dargelegt in seinem Lactobact-Urteil (Rz. 41 und 42) eine synchrone Abgrenzung zwischen Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln einerseits und Arzneimitteln andererseits durch. Für eine anderweitige Abgrenzung mit einer günstigeren Behandlung von Nahrungsergänzungsmitteln ist mithin aus Gründen des Gemeinschaftsrechts kein Raum.

Weiterhin beruft sich die Klägerin zu ihren Gunsten auf eine spezielle deutsche Liberalisierungsvorschrift für die Einfuhr von Lebensmitteln aus EU-Staaten im deutschen Lebensmittelrecht. Ausgehend zunächst von dem neuesten Rechtsstand der Einfuhrliberalisierung begünstigt § 54 LFGB mit Geltung ab dem 7.9.2005 Lebensmittelimporte aus anderen EU-Staaten. Danach dürfen Lebensmittel, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände, die entweder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union hergestellt oder rechtmäßig in den Verkehr gebracht werden oder aus einem Drittstaat stammen und sich in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union rechtmäßig im Verkehr befinden, auch dann in das Inland verbracht und in Verkehr gebracht werden, wenn sie den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Vorschriften für Lebensmittel, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände nicht entsprechen. Eine Ausnahme von der Liberalisierung besteht insbesondere dann, wenn gemäß § 54 I LFGB in Verbindung mit § 54 II zwingende Gründe des Gesundheitsschutzes entgegenstehen, über die durch Allgemeinverfügungen entschieden wird. Die verbleibenden Unterschiede des nationalen Lebensmittelrechts der Mitgliedstaaten stehen mithin dem Import eines Lebensmittels grundsätzlich nicht entgegen.

Diese Liberalisierungsregelung trifft aber nach dem geltenden Recht ausdrücklich nur für Lebensmittel, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände zu, von vorneherein nicht für Arzneimittel. Das ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut des § 54 LFGB und aus dem systematischen Zusammenhang innerhalb der Gesamtregelung des Lebensmittelrechts, nicht des Arzneimittelrechts.

Nichts anderes gilt innerhalb der Zeitdauer des Dauerverwaltungsakts für die im Wesentlichen inhaltsgleiche Vorgängerreglung des § 47 a LMBG in den insoweit übereinstimmenden vorausgehenden Fassungen vom 29.10.2001 (BGBl. I S. 2785) sowie vom 6.8.2002 (BGBl. I S. 3082). Die Liberalisierung von Importen aus anderen Mitgliedstaaten bezieht sich nach dem übereinstimmenden Wortlaut auf „Erzeugnisse im Sinne dieses Gesetzes“. Maßgebend ist also die deutsche Einordnung des Produkts. Durch eine Klammerdefinition ist in § 35 LMBG klargestellt, dass Erzeugnisse im Sinne dieses Gesetzes Lebensmittel, Zusatzstoffe, mit Lebensmittel verwechselbare Erzeugnisse, Tabakerzeugnisse, kosmetische Mittel und Bedarfsgegenstände sind. Arzneimittel gehören nicht dazu. Die Klägerin kommt nur insofern zu einem anderen Ergebnis, als sie behauptet, ihr Nahrungsergänzungsmittel könne mit einem Arzneimittel verwechselt werden. Insoweit stellt aber § 8 LMBG klar, dass die Ausdehnung des Lebensmittelrechts auf verwechselbare Erzeugnisse gerade nicht für zulassungspflichtige Arzneimittel gilt.

Zur generellen einschlägigen Zulassungspflicht von Fertigarzneimitteln § 21 AMG mit hier nicht gegebenen Ausnahmen insbesondere einer gemeinschaftsrechtlichen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 und einer Anwendung zur klinischen Prüfung.

Die Vorschrift zielt erkennbar darauf ab, dass die Zulassungspflicht von Arzneimitteln als Marktschranke nicht etwa in dem ungünstigen Fall, dass importierte Arzneimittel verwechslungsfähig aufgemacht sind, entfällt. Dies wäre auch offensichtlich gefahrenbezogen sachwidrig. Nach den dargelegten Vorschriften gilt die Liberalisierung nach Wortlaut und Sinn nicht für Arzneimittel, und zwar insbesondere auch nicht für mit Lebensmitteln verwechslungsfähig aufgemachte Arzneimittel.

Das Gemeinschaftsrecht bietet sowohl nach den in Betracht kommenden Normen als auch nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH keinen Anlass zu einer weiter gehenden Auslegung dieser lebensmittelrechtlichen Liberalisierungsregelung.

Wie dargelegt fällt ein Lebensmittel zwar grundsätzlich unter den freien Handelsverkehr der Mitgliedstaaten (Artikel 28 EGV). Anderes gilt für Arzneimittel, denn Ausnahmen vom Grundsatz der Handelsfreiheit bestehen nach Artikel 30 EGV insbesondere zum Gesundheitsschutz, worunter das Arzneimittelrecht fällt.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 30 Rdnr. 8.

Nach Artikel 6 I der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG bedarf ein Arzneimittel grundsätzlich abgesehen von dem hier nicht einschlägigen Fall einer unmittelbaren europäischen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 vom 22.7.1993 in jedem Mitgliedstaat einzeln einer Zulassung. Diese Rechtslage nach dem Gemeinschaftsrecht führt allerdings dazu, dass ein Produkt im Exportstaat (hier Österreich) als Lebensmittel und im Importstaat (hier Deutschland) als Arzneimittel eingeordnet werden kann. Gerade diese Divergenz ist nach der ständigen bis heute geltenden Rechtsprechung des EuGH mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar.

EuGH, Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 27; EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 – Rz. 52 und 53, betreffend Vitaminpräparate; EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 56.

In seinem Lactobact-Urteil (Rz. 56) hat der EuGH seine ständige Rechtsprechung wie folgt zusammengefasst:

Dass ein Erzeugnis in einem anderen Mitgliedstaat als Lebensmittel eingestuft ist, hindert somit nicht daran, ihm im Einfuhrmitgliedstaat die Eigenschaft eines Arzneimittels zuzuerkennen, wenn es die entsprechenden Merkmale aufweist.

Die Tatsache, dass das Produkt der Klägerin in Österreich rechtmäßig als Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel im Verkehr ist, führt mithin nicht zu einer Bindung des Einfuhrstaates an österreichisches Recht. Dem nach dem Gemeinschaftsrecht bestehenden Vorrang des strengeren Arzneimittelrechts vor dem weniger strengen Lebensmittelrecht muss in Deutschland selbstständig, ohne Bindung an die Rechtsauffassung in Österreich, Geltung verschafft werden.

Nach allem führt die deutsche Liberalisierungsregelung nicht zur Anerkennung der österreichischen Produkteinordnung und ist deshalb nicht entscheidungserheblich.

Im Folgenden hat der Senat noch die beiden von den Beteiligten vorgelegten europäischen Verwaltungsakte zu würdigen, die eine Einstufung von Weihrauchextrakt in demselben Jahr – 2002 – als Arzneimittel beziehungsweise als Lebensmittel betreffen.

Zusammengefasst sind beide Verwaltungsakte nicht unmittelbar einschlägig für den vorliegenden Verwaltungsrechtsstreit über ein Marktverbot und geben keinen Anlass, von der vom EuGH aufgestellten „Strenge-Regel“ abzuweichen.

Der Beklagte hat einen Bescheid der Europäischen Kommission vom 21.10.2002 vorgelegt, den die EMEA, die Europäische Agentur für Arzneimittel, am 11.12.2002 veröffentlicht hat (Berufungsakte 3 R 7/05, Blatt 69 R). Der Beklagte hat dazu vorgetragen, der Weihrauchextrakt aus Boswellia serrata habe damit den Orphan-drug-Status erhalten (Berufungsakte Blatt 66). Mit dieser Bezeichnung hat es Folgendes auf sich. Die in dem Bescheid der EG-Kommission auch genannte Rechtsgrundlage ist die Verordnung (EG) Nr. 141/2000 vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden. Sinn und Regelungszusammenhang der Verordnung sind in dem Erwägungsgrund 1 zusammengefasst. Danach treten bestimmte Leiden EU-weit so selten auf, dass die Entwicklungskosten von Arzneimitteln durch den zu erwartenden Umsatz nicht mehr gedeckt werden. Die pharmazeutische Industrie wäre in diesen Fällen nicht bereit, das Arzneimittel unter normalen Marktbedingungen zu entwickeln. Diese Arzneimittel werden im englischen Sprachraum als „Orphan medicinal products“, das heißt als Waisenkinder unter den Arzneimitteln bezeichnet. Vor diesem Hintergrund bezweckt die Verordnung nach dem Erwägungsgrund 4, durch die Einführung eines Gemeinschaftsverfahrens potenzielle Arzneimittel als Arzneimittel für seltene Leiden auszuweisen. Die Förderung erfolgt durch Forschungshilfe bei der Entwicklung (Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung) und durch ein späteres Marktexklusivitätsrecht (Artikel 8 der Verordnung). Der Antrag auf Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden kann grundsätzlich in jedem Entwicklungsstadium des Arzneimittels gestellt werden, indessen nur vor dem Antrag auf Verkehrsgenehmigung (Artikel 5 Absatz 1 der Verordnung). Zusammengefasst bedeutet der Bescheid mithin eine Ausweisung von Weihrauchextrakt als Forschungsarzneimittel für die Behandlung der seltenen Krankheit der Gehirnödeme bei Gehirntumor; eine Verkehrsgenehmigung als Arzneimittel bedeutet der Bescheid nicht, wie im letzten Absatz ausdrücklich hervorgehoben ist. Der Bescheid betrifft also keine Marktzulassung.

Der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden liegt nach Artikel 2 a der Humanarzneimittelbegriff nach der Richtlinie 65/65/EWG zugrunde, wobei diese Bezugnahme nunmehr durch eine Bezugnahme auf die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG ersetzt ist (Artikel 128 der Humanarzneimittelrichtlinie). Da die Ödembehandlung bei Tumoren nach den dem Senat vorliegenden wissenschaftlichen Unterlagen ausschließlich den hoch dosierten Bereich von Weihrauchextrakt betrifft,

Safayhi-Ammon, Seite 7; Gutachten Bertram, Seite 3; Bertsche/Schulz, Seite 2

steht damit in diesem Bereich gemeinschaftsrechtlich die Einordnung als Arzneimittel fest.

Zwingend ist dies für die hier maßgebende niedrige Dosis von Weihrauch nicht. Einen Doppelcharakter nach der Dosis hat der EuGH bei Vitaminen anerkannt, die in ganz geringer Menge für die tägliche Ernährung unbedingt erforderlich sind, in starken Dosen aber zu therapeutischen Zwecken bei bestimmten Krankheiten verwendet werden.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, Rz. 56.

Deshalb bedeutet die im Jahr 2002 erfolgte Ausweisung von indischem Weihrauchextrakt als Forschungsarzneimittel für seltene Krankheiten ein - nicht zwingendes - Indiz für die gemeinschaftsrechtliche Einstufung von Weihrauchextrakt insgesamt als Arzneimittel. Der Gegenschluss der Klägerin, die angestrebte Marktzulassung sei bereits gescheitert, überzeugt nicht, da die Zulassungsreife einschließlich Standardisierung eines Stoffgemischs schwer erreichbar und langwierig sein kann.

Ebenso wie der Beklagte hat die Klägerin im Rechtsstreit einen Verwaltungsakt der Europäischen Gemeinschaft vorgelegt, den sie zu ihren Gunsten verwerten will (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 75). Dabei handelt es sich um die verbindliche Zolltarifauskunft vom 16.9.2002. Der Bescheid ist im Namen der Europäischen Gemeinschaft erlassen, die erteilende Zollbehörde ist das Bundesministerium für Finanzen in Wien. Als Berechtigter ist angegeben die österreichische Firma G.. Gegenstand des Bescheides ist das namensidentische Produkt der Klägerin. Inhaltlich betrifft der Bescheid die Einreihung in die Zollnomenklatur als Lebensmittel und zur Begründung ist angegeben, aufgrund des Fehlens einer Ankündigung zur Verwendung bei spezifischen Krankheiten, Leiden oder deren Symptome, sowie der exakten Dosierungsvorschrift, liege keine näher gekennzeichnete Arzneiware vor.

Die Klägerin hat aus dieser verbindlichen Zolltarifauskunft von Anfang an den Schluss gezogen,

Schriftsatz vom 7.10.2002, VG-Akte Bl. 78

das streitige Produkt dürfe in der gesamten Europäischen Union aufgrund der verbindlichen Zolltarifauskunft als Lebensmittel in den Verkehr gebracht werden. Die Verkehrsfähigkeit des von ihr vertriebenen Produktes in Deutschland ergebe sich damit schon aus der amtlichen Bestätigung der Europäischen Union. Zur Bekräftigung ihres Vortrags hat sie erstinstanzlich zwei verschiedene Vorlageanträge an den EuGH angeregt (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 91 und Bl. 133), die jeweils die Auswirkungen der verbindlichen Zolltarifauskunft auf die Zulässigkeit der Vermarktung betreffen. Zweitinstanzlich hat sie ausweislich des Protokolls eine entsprechende Vorlage an den EuGH hilfsweise angeregt.

Das Begehren der Klägerin entspricht offenkundig nicht dem Gemeinschaftsrecht, das eine Auslegung im Sinne der Klägerin nicht zulässt. Es entspricht auch nicht der dargelegten Rechtsprechung des EuGH zur selbstständigen Sachverhaltsbeurteilung der nationalen Behörden und Gerichte im Vermarktungsstreit.

Dafür ist zunächst auf die Rechtsgrundlage der verbindlichen Zolltarifauskunft einzugehen. Wie im Bescheid auch ausdrücklich angegeben, beruht die Zolltarifauskunft auf Art. 12 der – insoweit nicht geänderten - Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 vom 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften – Zollkodexverordnung -. Nach dem Erwägungsgrund 1 geht es bei der Verordnung um die Kodifizierung der bisherigen Zollvorschriften der Gemeinschaft als Zollunion. Betroffen von dem Zollrecht ist nach Art. 1 der Verordnung der Warenverkehr zwischen der Gemeinschaft und Drittländern. Nach Art. 2 gilt das gemeinschaftliche Zollrecht einheitlich im gesamten Zollgebiet der Gemeinschaft. Richtig ist damit der Standpunkt der Klägerin, dass die Zollverwaltungsakte die gesamte Gemeinschaft betreffen. Sodann werden nach Art. 12 Abs. 1 der Zollkodexverordnung auf schriftlichen Antrag von den Zollbehörden verbindliche Zolltarifauskünfte erteilt. Verbindliche Zolltarifauskünfte sind nach der Definitionsvorschrift des Art. 4 Nr. 5 der Zollkodexverordnung hoheitliche Maßnahmen auf dem Gebiet des Zollrechts.

Die Klägerin begehrt eine Vorlage des Sachverhalts zur Entscheidung an den EuGH. Sie hält es nach ihrem Rechtsstandpunkt für eine klärungsbedürftige Auslegungsfrage, wie weit die Verbindlichkeit der Zolltarifauskunft reicht. Sie meint, die Verbindlichkeit betreffe nicht nur den Zolltarif, sondern auch die anschließende Vermarktung. In Wirklichkeit ist aber die Verbindlichkeitsfrage in Art. 12 Abs. 2 der Zollkodexverordnung ohne Auslegungsspielraum wie folgt geregelt:

Die verbindliche Zolltarifauskunft bindet die Zollbehörden gegenüber dem Berechtigten nur hinsichtlich der zolltariflichen Einreihung der Waren.

Das Wort „nur“ lässt keinen Auslegungsspielraum dahingehend zu, die Bindungswirkung erstrecke sich über die zolltarifliche Einreihung der Waren hinaus auch auf die anschließende Vermarktung und die Anwendung des Gesundheitsrechts. Ist mithin die Einschränkung der Verbindlichkeit auf das Zollrecht derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, scheidet eine Vorlagepflicht an den EuGH nach Art. 234 EGV selbst nach den Maßstäben für ein letztinstanzliches Gericht – die hier nicht erfüllt sind – aus.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Art. 234 EGV Rdnr. 16.

Im Übrigen hat das nationale Gericht über die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlagefrage selbst zu befinden.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Art. 234 EGV Rdnr. 12.

Darüber hinaus hat das nationale Gericht über die Vorlage von Amts wegen, unabhängig von der Auffassung der Beteiligten zu entscheiden.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Art. 234 Rdnr. 11.

Entsprechende Anträge der Beteiligten bedeuten prozessual mithin nur die Anregung zu einer Vorlageentscheidung.

Von Amts wegen scheidet eine Vorlage schon deshalb aus, weil Art. 12 Abs. 2 der Zollkodexverordnung auch unabhängig von dem streitigen objektiven Anwendungsbereich auch nach den subjektiven Merkmalen nicht entscheidungserheblich ist.

Vorliegend sind die subjektiven Voraussetzungen der Verbindlichkeitsbestimmung des Art. 12 Abs. 2 der Zollkodexverordnung nicht gegeben. Die verbindliche Zolltarifauskunft bindet nach der Verordnung nur die Zollbehörden gegenüber dem Berechtigten. Zollbehörde ist nach Art. 4 Nr. 3 der Zollkodexverordnung eine für die Anwendung des Zollrechts zuständige Behörde. Der Beklagte als oberste Gesundheitsbehörde ist ebenso wenig eine Zollbehörde im Sinne der Gemeinschaftsvorschrift wie die Klägerin Berechtigte des Bescheides ist, da in dem Bescheid als Berechtigte ausdrücklich die österreichische Firma G. genannt ist. Mithin verbleibt es dabei, dass die Vorschrift des Art. 12 II der Zollkodexverordnung auf den vorliegenden Fall zweifelsfrei subjektiv nicht anwendbar ist.

Unabhängig von der normativen Rechtslage entspricht es auch nicht der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH zu gesundheitsbezogenen Marktverboten gegenüber importierten Produkten, dass das Gesundheitsrecht bindend an das Zollrecht gekoppelt wird. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH haben die nationalen Behörden und zu deren Kontrolle die nationalen Gerichte bei der Frage der rechtlichen Zulässigkeit der Vermarktung in ihrem Staat auch bei importierten Erzeugnissen selbst die Qualifizierungszuständigkeit für den Einzelfall, ob ein Erzeugnis als Arzneimittel oder als Lebensmittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts einzustufen ist.

EuGH Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 30 für die Zuständigkeit der nationalen Behörden und Rz. 97 für die Zuständigkeit des nationalen Gerichts; ebenso schon EuGH, Ter-Voort-Urteil vom 28.10.1992 – C – 219/91 – betreffend die Zulässigkeit der Vermarktung von Kräutertee aus Südamerika, dort zur fallbezogenen Einstufungszuständigkeit der nationalen Gerichte Rz. 32; EuGH Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, dort Rz. 35 zur Einstufungszuständigkeit der nationalen Behörden unter Kontrolle der nationalen Gerichte.

In einem entschiedenen Fall – dem Ter-Voort-Urteil des EuGH von 1992 – betraf die Einstufung die Vermarktung von aus Südamerika eingeführten Produkten. Nach der seinerzeit schon bestehenden Zollunion unterlagen diese Produkte einer Außenzollerhebung und damit einer Zolltarifeinordnung. Die seinerzeitige Vorlagefrage (Rz. 13), ob ein Erzeugnis, das im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird, als Arzneimittel eingestuft werden kann, hätte vom Rechtsstandpunkt der Klägerin damit beantwortet werden müssen, dass die Antwort aus dem Zollrecht folge. Stattdessen lautet die Antwort des EuGH (Rz. 21), dass ein Arzneimittel selbst dann vorliegen kann, wenn es im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird, und (Rz. 32) es Sache der nationalen Gerichte ist, unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Falles die Einordnung vorzunehmen. Auch der Grundgedanke in dem Ter-Voort-Urteil des EuGH, dass (Rz. 19) im Gesundheitsrecht die strengere Gemeinschaftsregelung anzuwenden ist, verträgt sich nicht damit, dass die der Einnahmeerzielung dienende Zolltarifregelung stattdessen einschlägig sein soll. Damit könnten die Gesundheitsgefahren nicht hinlänglich berücksichtigt werden. Mithin scheidet eine Vorlage an den EuGH auch deshalb aus, weil die Rechtsansicht der Klägerin zur Bindung der Vermarktung an das Zollrecht der vorliegenden Rechtsprechung des EuGH widerspricht.

Der Bescheid ist für den vorliegenden Vermarktungsprozess offensichtlich rechtsunerheblich.

Unabhängig von der fehlenden Bindungswirkung kann auch die Begründung der Zolltarifauskunft für den vorliegenden Fall nicht fruchtbar gemacht werden. Begründet ist die Ablehnung einer Arzneiware mit dem Gesichtspunkt des Fehlens einer Ankündigung zur Verwendung bei spezifischen Krankheiten und einer entsprechenden exakten krankheitsbezogenen Dosierungsvorschrift. Mit dieser Überlegung lässt sich aber allein ein Präsentationsarzneimittel ausschließen, was ohnedies unstreitig ist. Dagegen enthält die Begründung keinerlei Gesichtspunkte zu einem Funktionsarzneimittel, da die pharmakologische Wirkung von vornherein nicht behandelt wird. Für den Hauptstreit der Beteiligten über das Vorliegen eines Funktionsarzneimittels lässt sich aus der Begründung des Bescheides nichts gewinnen.

Nach dem Prüfungsergebnis des Senats haben die von den Beteiligten vorgelegten Bescheide nach dem Gemeinschaftsrecht für den vorliegenden Fall keine Bindungswirkung und führen zu keinem anderen Ergebnis.

Mithin hat es bei einer selbstständigen sachverhaltsbezogenen Einstufung des Produkts der Klägerin für die Vermarktung durch die nationalen Behörden und die nationalen Gerichte ohne Vorlagepflicht an den EuGH zu verbleiben.

Nach allem ist der Senat davon überzeugt, dass das Produkt der Klägerin ein Funktionsarzneimittel ist und damit dem strengen Zulassungsrecht für Fertigarzneimittel unterliegt. Der Klägerin ist zwar Recht zu geben, dass in dieser Rechtsanwendung ein Hemmnis für den freien Warenverkehr liegt. Das Produkt muss also nach der plastischen Formulierung der Klägerin durch das „Nadelöhr“ des Arzneimittelrechts. Der Grund dafür liegt aber letztlich in der eindeutigen Weichenstellung des EuGH zu Gunsten des strengeren Gesundheitsrechts. Der EuGH hat dem nunmehr im Gemeinschaftsrecht kodifizierten Gedanken Bedeutung beigemessen, dass die besonderen Gesundheitsgefahren gerade von Arzneimitteln im Zweifel die Anwendung des strengeren Gesundheitsrechts gegenüber dem weniger strengen Lebensmittelrecht erfordern. Diese Gefahrabwägung führt letztlich zu dem Ergebnis, dass hier wegen der festgestellten – negativen - pharmakologischen Wirkung des Produkts in der empfohlenen niedrigen Dosis ein Funktionsarzneimittel vorliegt.

Die Prüfung des Senats führt mithin zu dem Gesamtergebnis, dass gemeinschaftsrechtlich und nach deutschem Recht für die gesamte Geltungszeit des Dauerverwaltungsakts vom 23.1.2002 rechtlich maßgebend ein Funktionsarzneimittel vorliegt, das als Fertigarzneimittel für den Verbraucher gemäß § 21 AMG einer Zulassung bedarf, die aber unstreitig weder nach Gemeinschaftsrecht noch nach deutschem Recht vorhanden ist.

Damit liegt aber zur Überzeugung des Senats der Untersagungstatbestand des § 69 I Nr. 1 AMG in den insoweit übereinstimmenden Fassungen vom 11.12.1998 (BGBl. I Bl. 3586), vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 2031), vom 29.8.2005 (BGBl. I S. 2555) sowie der Bekanntmachung vom 12.12.2005 (BGBl. I S. 3394) vor. Die im Gesetz eingeräumte Ermessensausübung ist von der Klägerin nicht problematisiert worden. Ein Ermessensfehler wäre allenfalls dann in Betracht zu ziehen, wenn die für das Arzneimittel erforderliche Zulassung ausschließlich aus formellen Gründen fehlte, materiell aber die therapeutische Wirksamkeit mit vertretbaren Nebenwirkungen bereits feststünde. Schon die nicht geklärte therapeutische Wirksamkeit würde die Ermessensausübung im Sinne einer Untersagung rechtfertigen. Erst recht gilt das hier, da nach den vorliegenden Forschungsergebnissen für niedrig dosierten Weihrauchextrakt zwar keine positiven pharmakologischen Wirkungen, wohl aber negative pharmakologische Wirkungen in Form der Förderung von Entzündungsprozessen wissenschaftlich festgestellt sind. Bei dieser Sachlage ist allein die Untersagung ermessensgerecht.

Nach allem ist der angefochtene Dauerverwaltungsakt vom 23.1.2002 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Mithin ist ihre Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10 ZPO und die Nichtzulassung der Revision auf § 132 II VwGO.

Gründe

Die zulässige Berufung bleibt erfolglos.

Der Streit der Beteiligten betrifft die richtige rechtliche Einordnung des Produkts der Klägerin, der W., das sie von Österreich nach Deutschland einführt. Handelt es sich inhaltlich um ein Lebensmittel in Form eines Nahrungsergänzungsmittels oder um einen rechtlich maßgebenden Lebensmittelimport, wie die Klägerin annimmt, unterliegt es unstreitig grundsätzlich dem freien Warenverkehr und mithin nicht dem vom Beklagten ausgesprochenen Verkehrsverbot nach § 69 AMG. Handelt es sich dagegen rechtlich um ein Fertigarzneimittel, fehlt ihm die erforderliche Zulassung, da es unstreitig weder in Deutschland noch sonst im Bereich der Europäischen Union eine Verkehrsgenehmigung als Arzneimittel hat.

Angesichts der fortgeschrittenen EG-Harmonisierung des Arzneimittelrechts und des Lebensmittelrechts ist zunächst klarzustellen, wer die Qualifizierungszuständigkeit bei der grenzüberschreitenden Verbringung eines Produkts innerhalb der EG hat. Abgesehen von der hier nicht gegebenen Ausnahme einer gemeinschaftsrechtlichen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 vom 22.7.1993 für das Produkt verbleibt die Qualifizierung den nationalen Behörden und Gerichten. Auf eine Vorlage des OVG Münster hin mit dem Ziel einer EG-weiten Qualifizierung eines Produkts durch den EuGH hat der EuGH nach seinem Rechtsverständnis das Europarecht auszulegen, ist aber nicht befugt, über den Sachverhalt zu entscheiden und die Einstufung von Produkten als Arzneimittel oder Lebensmittel gemeinschaftsweit selbst vorzunehmen.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 – u.a. C – 211/03 -, betreffend die Einfuhr streitiger Nahrungsergänzungsmittel von den Niederlanden nach Deutschland auf eine Vorlage des OVG Münster, im Folgenden als Lactobact-Urteil bezeichnet.

Zuständig für die Entscheidung, ob ein Erzeugnis als Arzneimittel oder als Lebensmittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts einzustufen ist, sind nach der Rechtsprechung des EuGH die nationalen Behörden.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 30; ebenso schon EuGH, Urteil vom 16.4.1991 – Upjohn – Rz 35.

Die Einfuhr eines Produkts berührt zwar sowohl den Ausfuhrmitgliedstaat als auch den Einfuhrmitgliedstaat. Bei streitiger Zulässigkeit der Marktverwertung nach Einfuhr entscheidet indessen der jeweilige Einfuhrmitgliedstaat über die Einstufung als Arzneimittel oder Lebensmittel ohne Bindung an die Auffassung des Ausfuhrmitgliedstaats.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 56; ebenso EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, betreffend Vitaminpräparate, Rz 53.

Die nationalen Behörden des Einfuhrmitgliedstaates, hier der Beklagte, haben mithin die Einstufung des streitigen Produkts mit Wirkung nur für ihren Staat vorzunehmen. Die Kontrolle der richtigen Einstufung ist sodann Sache der nationalen Gerichte.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 96 und 97; ebenso EuGH, Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Delattre-Urteil, Rz 35.

Mithin hat der Senat in dem vorliegenden Berufungsverfahren über die Einstufung des streitigen Produkts in Deutschland ohne Vorlage an den EuGH selbst zu entscheiden.

Die Anfechtungsklage hat Erfolg, wenn noch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsakts besteht.

Bader u.a., VwGO, 3. Auflage 2005, § 113 Rdnr. 34.

Der hier streitige Untersagungsbescheid vom 23.1.2002 auf der Grundlage von § 69 I Nr. 1 AMG verbietet das Inverkehrbringen des streitigen Produkts ab Bekanntgabe (25.1.2002) auf Dauer. Dauerverwaltungsakte sind häufig – so auch hier – als sich ständig aktualisierende Verwaltungsakte anzusehen, für die sodann verändertes neues Recht ebenfalls zu beachten ist.

Kopp/Schenke, VwGO, 14. Auflage 2005, § 113 Rdnr. 43; Bader u.a., VwGO, 3. Auflage 2005, § 113 Rdnr. 34.

Der Senat legt seiner Entscheidung das im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltende neue Recht zugrunde und geht auf älteres Recht seit 25.1.2002 (Bescheidbekanntgabe) zusätzlich ein.

Die Klägerin begehrt die Einstufung ihres Produkts als Lebensmittel.

Nach dem ab 7.9.2005 geltenden deutschen Recht werden Lebensmittel in § 2 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuches – LFGB – vom 1.9.2005 (BGBl. I S. 2618) wie folgt definiert:

Lebensmittel sind Lebensmittel im Sinne des Artikels 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002.

Mit Blick auf älteres Recht galt zwar bis zum 6.9.2005 formell noch die Lebensmitteldefinition des § 1 I LMBG in der Fassung vom 9.9.1997 (BGBl. I S. 2296) mit folgendem Wortlaut:

Lebensmittel im Sinne dieses Gesetzes sind Stoffe, die dazu bestimmt sind, in unverändertem, zubereitetem oder verarbeitetem Zustand von Menschen verzehrt zu werden; ausgenommen sind Stoffe, die überwiegend dazu bestimmt sind, zu anderen Zwecken als zur Ernährung oder zum Genuss verzehrt zu werden.

Diese Definitionsvorschrift musste aber bereits seit 21.2.2002 wegen des Anwendungsvorrangs des europäischen Rechts unangewendet bleiben. Die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28.1.2002, in Kraft getreten nach Artikel 65 am 21.2.2002, ist nach Artikel 65 der Verordnung in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Einer Umsetzung bedurfte es mithin nicht. Das Gemeinschaftsrecht hat gegenüber dem nationalen Recht einen Anwendungsvorrang.

Vgl. mit näherer Begründung sowohl aus dem Gemeinschaftsrecht als auch aus dem deutschen Recht mit Blick auf Artikel 23 GG Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 10 EGV Rdnrn. 27 bis 29.

Für die Lebensmitteldefinition ist mithin auszugehen von der Gesamtdefinition (positive und negative Abgrenzung) nach Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 – im Folgenden Lebensmittelverordnung -, die insoweit nicht abgeändert worden ist durch die Änderungsverordnung (EG) Nr. 1642/2003 vom 22.7.2003. Die europäische Lebensmitteldefinition enthält in Artikel 2 I eine Positivdefinition und in Artikel 2 III eine Negativdefinition, auf die nacheinander einzugehen ist. Die Positivdefinition in Artikel 2 I Lebensmittelverordnung lautet:

Im Sinne dieser Verordnung sind „Lebensmittel“ alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden.

Wie die Klägerin zu Recht hervorhebt, stellt die europäische Definition nicht mehr wie die deutsche Definition ausdrücklich auf den Ernährungs- oder Genusszweck ab. Sie ist von dem europäischen Verordnungsgeber bewusst weit gefasst. Dies ergibt sich ausdrücklich aus dem Erwägungsgrund 11 der Lebensmittelverordnung, wonach die Definition für ein hinreichend umfassendes einheitliches Konzept der Lebensmittelsicherheit weit gefasst werden müsse.

Das Produkt der Klägerin fällt nach der Auffassung des Senats bei der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung unter die weite europäische Positivdefinition eines Lebensmittels. Normativ vorausgesetzt sind zunächst einmal „Stoffe“. Das Produkt der Klägerin enthält ausweislich der in Fotokopie vorgelegten Faltschachtel sowohl nach dem jetzigen Stand von 2005 als auch dem von 2002 als einzigen Inhaltsstoff 400 mg indischen Weihrauchtrockenextrakt pro Tablette. Weiterhin ist der Stoff dazu bestimmt, in verarbeitetem Zustand – als Trockenextrakt und mit den Bindemitteln einer Tablette – von Menschen aufgenommen zu werden. Dies ist der Fall, denn nach der Verzehrempfehlung soll täglich eine Tablette nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit verzehrt werden. Zugunsten der Klägerin ist damit die weite europäische Positivdefinition der Lebensmittel erfüllt.

Weiter geht der Senat noch mit Blick auf den Zeitabschnitt Januar/Februar 2002 auf den Streit der Beteiligten um die engere deutsche Positivdefinition ein, die nach § 1 I des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes – LMBG – vom 9.9.1997 (BGBl. I S. 2296) noch zusätzlich einen Ernährungs- oder Genusszweck verlangt. Die Klägerin hat den Genusszweck einleuchtend mit drei Gutachten begründet, wonach Weihrauch seit Jahrtausenden verwendet wird, einen bitterlichen, eigenartigen Geschmack hat, sich für Gewürzzwecke eignet und ein gesundes, natürliches Gewürz darstellt.

Gutachten von Prof. Dr. Bertram vom 22.2.2001, Behördenakte Bl. 50, im Folgenden zitiert als Gutachten Bertram, dort S. 1 und S. 4; ebenso das Erstgutachten des Dipl.-Chemikers Reuss vom 10.1.2001, Behördenakte Blatt 3, im Folgenden zitiert als Gutachten Reuss, dort S. 1 zu Aromaeffekten und S. 3 zur Gewürzfunktion, sowie eingehender zu Genusszweck und ernährungsspezifischer Wirkung das weitere Gutachten des Dipl.-Chemikers Reuss vom 15.6.2003, in der Berufungsakte 3 R 7/05, im Folgenden zitiert als Zusatzgutachten Reuss.

Der Beklagte hat dem in einer relativ engen Betrachtungsweise entgegengehalten, der Weihrauch werde nach der Anwendungsvorschrift nicht als Gewürz gestreut und erfülle insofern nicht den Lebensmittelbegriff. Das überzeugt nicht, denn die deutsche Lebensmitteldefinition stellt in § 1 I LMBG auf den Verzehr selbst und nicht auf besondere Formen des Verzehrs wie etwa die Anwendung von Gewürzen nur als Streumittel ab. In der Kommentierung zur deutschen Lebensmitteldefinition ist anerkannt, dass Stoffe, die einen spezifischen Geruchs- oder Geschmackswert aufweisen wie Gewürze oder Aromastoffe, jedenfalls dem Lebensmittelbegriff unterliegen.

Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Band II, Stand März 2005, § 1 LMBG Rdnr. 42, zum bisherigen deutschen Recht.

Mithin liegt nachweislich ein Aromastoff vor, der auch nach der engeren deutschen Positivdefinition als Lebensmittel anzusehen ist. Für die weitere europäische Positivdefinition genügt wie bereits dargelegt bereits die Bestimmung zur Aufnahme durch Menschen. Genussmittel und Aromastoffe sind von der europäischen Definition ohne Weiteres umfasst, was sich zusätzlich noch durch die besondere Bestimmung des Artikel 2 II Lebensmittelverordnung ergibt, wonach Kaugummi – und damit ein Genussmittel - ausdrücklich zu den Lebensmitteln gerechnet wird.

Vgl. zur deutschen Lebensmitteldefinition Zipfel/Rathke § 1 LMBG Rdnr. 31, wonach Kaugummi wegen des Genusszwecks ein Lebensmittel darstellt.

Nach allem erfüllt das Produkt der Klägerin nach der Auffassung des Senats die europäische Positivdefinition eines Lebensmittels, die bereits seit 21.2.2002 gilt, und zuvor (25.1.-20.2.2002) die deutsche Positivdefinition.

Rein vorsorglich geht der Senat noch auf den Streit der Beteiligten um die derzeitige europäische Zusatzeinstufung als Nahrungsergänzungsmittel ein. Bereits die dosierte Abgabe des Produkts in Tablettenform spricht dafür, dass zusätzlich zu der allgemeinen Lebensmitteldefinition derzeit auch die Positivdefinition eines Nahrungsergänzungsmittels erfüllt ist. Nach Artikel 2 Buchstabe a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG vom 10.6.2002 lautet die europäische Positivdefinition wie folgt:

Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „Nahrungsergänzungsmittel“ Lebensmittel, die dazu bestimmt sind, die normale Ernährung zu ergänzen und die aus Einfach- oder Mehrfachkonzentraten von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung bestehen und in dosierter Form in den Verkehr gebracht werden, d.h. in Form von z.B. Kapseln, Pastillen, Tabletten, Pillen und anderen ähnlichen Darreichungsformen (es folgen weitere Darreichungsformen).

Damit ist im Jahr 2002 erstmals eine gemeinschaftsrechtliche Regelung der Nahrungsergänzungsmittel erfolgt. Die deutsche Umsetzung ist durch die Nahrungsergänzungsmittelverordnung vom 24.5.2004 mit Wirkung vom 28.5.2004 erfolgt, die in § 1 eine inhaltsgleiche Definition enthält. Der EuGH hat die Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie nach dem zutreffenden Hinweis der Klägerin dahingehend gewürdigt, dass sie eine gewisse Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften für die dort definierten Nahrungsergänzungsmittel vornimmt.

EuGH, Lactobact-Urteil Rz 70.

Nahrungsergänzungsmittel müssen sowohl nach der europäischen Definition als nach der umgesetzten inhaltsgleichen deutschen Definition zunächst einmal Lebensmittel sein. Insofern ist nach den bisherigen Darlegungen des Senats – allein – die positive Lebensmitteldefinition erfüllt. Weiter kommt es auf den Nahrungsergänzungszweck an. Darauf weist die Faltschachtel des Produkts der Klägerin ausdrücklich hin; insofern bestehen keine Bedenken. Die Frage, ob Weihrauch ein Nährstoff oder ein sonstiger Stoff ist, ist zwischen den Beteiligten streitig. Ein Nährstoff liegt zwar nicht vor, da das Produkt keine der nach Artikel 4 I in Verbindung mit Anhang I der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie aufgeführten Vitamine und Mineralstoffe enthält und dies in gleicher Weise für das umgesetzte Recht nach § 3 I und Anlage 1 der deutschen Nahrungsmittelergänzungsverordnung gilt. Mit sonstigen Stoffen ist nach dem Erwägungsgrund 6 der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie eine breite Palette von Stoffen gemeint, die auch Kräuterextrakte einschließt und damit erkennbar auch Aromastoffe. Ein Aromastoff liegt wie dargelegt vor.

Weiterhin müssen nach der Definition die sonstigen Stoffe eine ernährungsspezifische oder physiologische Wirkung haben. Mit dem Ausdruck physiologisch sind sprachlich die Lebensvorgänge im Organismus gemeint.

Duden, Das Fremdwörterbuch, 7. Auflage 2001, Stichwort Physiologie; ebenso im Sinne der Wissenschaft von den normalen Lebensvorgängen Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Physiologie.

Demgegenüber bezieht sich die ernährungsspezifische Wirkung speziell auf die Lebensvorgänge bei der Ernährung. Dazu mag die von der Klägerin aufgestellte Behauptung der Auswirkungen etwa auf den Cholesterin-Haushalt gehören. Entscheidungserheblich ist das nicht. Ernährungsspezifische Bedeutung kann bereits ein Stoff mit bitterem Geschmack – wie hier - haben.

Vgl. Zipfel/Rathke, § 1 LMBG Rdnr. 37, dort im Zusammenhang mit der Verwendung von bitterem Chinin aus ernährungsphysiologischen Gründen.

Die Klägerin hat nunmehr mit der Vorlage des Zusatzgutachtens Reuss einleuchtend nachgewiesen, dass Weihrauchextrakt aus ernährungsspezifischer Sicht die Lebensmittel bekömmlicher macht und die Freisetzung von Verdauungssekreten vorbereitet.

Zusatzgutachten Reuss vom 15.6.2003, in der Berufungsakte 3 R 7/05, Bl. 97.

Mindestens liegt aber als physiologische Wirkung die Geschmackswirkung eines Aromastoffs vor. Das genügt der Richtlinie.

Weiter muss nach Artikel 2 Buchstabe a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie und § 1 I Nr. 3 der deutschen Nahrungsergänzungsmittelverordnung ein Produkt in dosierter Form, insbesondere in Form von Tabletten vorliegen. Dies trifft auf das Produkt der Klägerin zu.

Nach dem vom Senat gefundenen Zwischenergebnis erfüllt das streitige Produkt der Klägerin entgegen der Meinung des Beklagten von Anfang an und auch jetzt die europäische und deutsche Positivdefinition eines Lebensmittels und die europäische Positivdefinition eines Nahrungsergänzungsmittels seit Erlass der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie.

Nach der Positivdefinition ist die Negativdefinition zu beachten.

Die als Verordnung unmittelbar verbindliche europäische Lebensmittelverordnung enthält neben der positiven Definition der Lebensmittel in Artikel 2 Abs. 3 auch eine Negativdefinition. Artikel 2 Abs. 3 lit. d lautete:

Nicht zu „Lebensmitteln“ gehören: Arzneimittel im Sinne der Richtlinien 65/65/EWG (21) und 92/73/EWG (22) des Rates.

Durch Artikel 128 der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83 EG vom 6.11.2001 sind alle Bezugnahmen auf die bereits aufgehobenen älteren Arzneimittelrichtlinien durch die Bezugnahme auf die Humanarzneimittelrichtlinie ersetzt. Nicht zu den Lebensmitteln gehören mithin nach der Norm seit 2001 Arzneimittel im Sinne der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83 EG.

Wesentlich ist für die weitere Subsumtion, dass die Negativdefinition allein auf Gemeinschaftsrecht verweist, die Umsetzung des Arzneimittelbegriffs aus den Richtlinien in nationales Recht mithin nach der Verordnung für die Negativabgrenzung außer Betracht bleiben muss.

Die dargelegte europäische Negativabgrenzung zu einem Arzneimittel ist systemgleich für Lebensmittel im Allgemeinen und für die Untergruppe der Nahrungsergänzungsmittel. Die Klägerin meint zwar (Schriftsatz vom 6.10.2005), die Untergruppe der Nahrungsergänzungsmittel sei wegen der besonderen Harmonisierung anders zu beurteilen als die übrigen Lebensmittel und bezieht dies möglicherweise auch auf die Abgrenzung zu Arzneimitteln. Die Abgrenzung ist aber für Lebensmittel im Allgemeinen und Nahrungsergänzungsmittel systemgleich. Dies ergibt sich sowohl aus dem Normvergleich als auch der Rechtsprechung des EuGH. Die Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG führt die Negativabgrenzung in Artikel 1 II wie folgt durch:

Diese Richtlinie gilt nicht für Arzneimittel, die in der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel definiert sind.

Eine „synchrone“ Abgrenzung von Nahrungsergänzungsmitteln und allgemeinen Lebensmitteln einerseits gegenüber Arzneimitteln andererseits wird vom Richtliniengeber zusätzlich dadurch erreicht, dass er in Artikel 2 Buchstabe a der Richtlinie Nahrungsergänzungsmittel ausdrücklich als Lebensmittel mit näher gekennzeichneten Eigenschaften definiert, mithin bereits die Lebensmitteldefinition in Artikel 2 der europäischen Lebensmittelverordnung erfüllt sein muss.

Die normativ angelegte synchrone Abgrenzung wird auch deutlich in dem Lactobact-Urteil des EuGH vom 9.6.2005. In dem Vorabentscheidungsverfahren ging es in dem Ausgangsverfahren des OVG Münster um Produkte, die von den Niederlanden nach Deutschland eingeführt und dort als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebracht werden sollten (Lactobact-Urteil Rz. 20). Der EuGH hat in diesem Urteil (Rz. 41 und 42) die beiden Abgrenzungsregelungen in Artikel 2 Abs. 3 Buchstabe d der Lebensmittelverordnung und Artikel 1 Abs. 2 der Nahrungsergänzungsrichtlinie synchron behandelt und als inhaltsgleich angesehen. Für die weitere gemeinschaftsrechtliche Prüfung kommt es ohne Differenzierung zwischen Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln mithin nur darauf an, ob das Produkt der Klägerin gleichzeitig ein Arzneimittel nach dem europäischen Arzneimittelbegriff ist.

Der Senat prüft nunmehr das Vorliegen eines Arzneimittels. Maßgebend ist dafür das Gemeinschaftsrecht.

Normativ war der europäische Arzneimittelbegriff von vornherein (seit 1965) doppelt angelegt und ist es auch jetzt. Arzneimittel sind sowohl Präsentationsarzneimittel als auch Funktionsarzneimittel.

Vgl. für die ursprüngliche Rechtslage Artikel 1 Nr. 2 Abs. 1 und 2 der Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG vom 26.1.1965; sodann Artikel 1 Nr. 2 Abs. 1 und 2 der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG vom 6.11.2001; nunmehr in der geänderten Fassung von Artikel 1 der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31.3.2004 nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 30.10.2005.

Die beiden Arzneimitteldefinitionen sollen sich nach der Rechtsprechung des EuGH ergänzen.

Urteil des EuGH Upjohn vom 16.4.1991 – C 112/89 -, Rz. 15 bis 18.

Mit der Definition des Präsentationsarzneimittels, das lediglich als Arzneimittel bezeichnet ist, sollen nicht nur Arzneimittel erfasst werden, die tatsächlich therapeutische oder medizinische Wirkung haben, sondern auch die Erzeugnisse, die nicht ausreichend wirksam sind. Die zweite Definition der Funktionsarzneimittel betrifft Erzeugnisse, die zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der Körperfunktionen bestimmt sind und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben können. Durch die zweite Definition sollen auch Stoffe erfasst werden, die Heilungswirkung haben, aber nicht als Arzneimittel bezeichnet werden. Auf die formelle Zulassung kommt es nach beiden Definitionen nicht an.

Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass das Produkt der Klägerin kein Präsentationsarzneimittel ist. Bereits auf der im Jahr 2002 verwendeten Faltschachtel (Fotokopie VG-Akte Bl. 93) wird das Mittel als Nahrungsergänzung bezeichnet mit einer Verzehrempfehlung. Auf der neuen 2005 verwendeten Faltschachtel (Fotokopie Berufungsakte 3 R 7/05, Bl. 51) wird das Produkt als Nahrungsergänzungsmittel bezeichnet und sie enthält den Hinweis, es sei kein vollständiges Lebensmittel und daher nicht als einzige Nahrungsquelle geeignet. Wesentlich für die Subsumtion ist noch, dass die Faltschachtel keinerlei Hinweis auf pharmazeutische Forschung enthält oder auf von Ärzten entwickelte Methoden oder Zeugnisse bestimmter Ärzte zugunsten der Eigenschaften des Produkts.

Zu diesen Kriterien eines Präsentationsarzneimittels vgl. das Delattre-Urteil des EuGH vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 41.

Auch der Beklagte meint, die Klägerin habe eine Präsentation als Arzneimittel vermieden. Mithin ist der Ausschluss eines Präsentationsarzneimittels übereinstimmend mit der Meinung der Beteiligten unproblematisch.

Schwieriger ist die Streitfrage zwischen den Beteiligten zu entscheiden, ob inhaltlich ein Funktionsarzneimittel vorliegt. Die Klägerin verneint dies für die maßgebende Tagesdosis von 400 mg Weihrauch, der Beklagte bejaht die Eigenschaft als Funktionsarzneimittel. Beide haben dafür wissenschaftliche Unterlagen und Gutachten vorgelegt.

Vorweg ist klarzustellen, dass der Inhaltsstoff Weihrauch unstreitig weder in der EG noch in einem Staat der EG über eine Marktgenehmigung als Arzneimittel verfügt und damit auch nicht im Ausfuhrland Österreich (vgl. insbesondere Schriftsatz der Klägerin vom 6.10.2005, S. 4/5, Gerichtsakte 3 R 7/05, Bl. 49/50). Die fehlende Zulassung steht aber der Einstufung als Funktionsarzneimittel von vornherein nicht entgegen, denn nach der Rechtsprechung des EuGH müssen Funktionsarzneimittel nicht als Arzneimittel bezeichnet sein.

EuGH im Upjohn-Urteil vom 16.4.1991, Rz. 18.

Da sie in einer solchen Aufmachung nicht zugelassen werden könnten, ist die Zulassung schon deshalb kein Definitionselement des Funktionsarzneimittels.

Zum begrifflichen Verständnis des europäischen Funktionsarzneimittels geht der Senat auf die Normentwicklung ein.

Die ursprüngliche Definition in Artikel 1 Nr. 2 Abs. 2 der Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG vom 26.1.1965 lautete:

Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden.

Innerhalb des zeitlichen Geltungsbereichs des streitigen Untersagungsbescheides vom 23.1.2002 galt zunächst die Arzneimitteldefinition nach Artikel 1 Nr. 2 Abs. 2 der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG vom 6.11.2001 in der ursprünglichen Fassung mit folgendem Wortlaut:

Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden, gelten ebenfalls als Arzneimittel.

Dem entspricht im Übrigen die ab 2002 geltende Umsetzung in § 2 I Nr. 5 AMG in der Fassung vom 20.6.2002 (BGBl. I. S. 2076) mit folgendem Wortlaut:

Arzneimittel sind Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die dazu bestimmt sind, durch Anwendung am oder im menschlichen oder tierischen Körper die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder seelische Zustände zu beeinflussen.

Nunmehr wird das europäische Funktionsarzneimittel nach Artikel 1 Nr. 2 Buchstabe b der Humanarzneimittelrichtlinie in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31.3.2004 wie folgt definiert:

Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen.

Die letztgenannte aktuelle Definition des Funktionsarzneimittels erschließt sich wegen der zahlreichen medizinischen Fachausdrücke auch bei Hinzuziehung von Fachlexika nicht ohne weiteres, wird aber durch die dargelegte Normgeschichte und die insbesondere noch darzulegende Rechtsprechung des EuGH insgesamt verständlicher. Die Definition soll zunächst wissenschaftsbezogen und alsdann an Hand der Rechtsprechung des EuGH verständlich gemacht werden.

Nach der aktuellen Definition muss ein Funktionsarzneimittel physiologische Funktionen wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen. Das Wort Physiologie bezeichnet die Wissenschaft von den normalen Lebensvorgängen.

Roche Lexikon Medizin, 5. Auflage 2003, Stichwort Physiologie; Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Physiologie.

Bei der Physiologie geht es wissenschaftsbezogen insbesondere um die physikalischen Funktionen des Organismus.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, Stichwort Physiologie.

Die bereits zitierte ursprüngliche Definition in der Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG hatte dafür den allgemein verständlichen Ausdruck Körperfunktionen verwendet, der die Bedeutung auch in der aktuellen Fassung zutreffend wiedergibt. Auch der EuGH verwendet in einem neueren Urteil von 2004 noch den Ausdruck Körperfunktionen mit Blick auf Funktionsarzneimittel.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, betreffend Vitaminpräparate, Rz. 58.

Nach der neuesten Definitionsfassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG wird die Art der Beeinflussung noch präzisiert. Es muss sich um eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung handeln. Bei der Immunologie geht es um die Erkennungs- und Abwehrmechanismen des Organismus gegenüber körperfremden Substanzen und metabolisch bedeutet den Stoffwechsel betreffend.

Beide Definitionen aus Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwörter Immunologie und metabolisch.

Fallbezogen von Bedeutung ist nur die pharmakologische Wirkung eines Stoffes. Aus wissenschaftlicher Sicht ist unter Pharmakologie die Lehre von den Wechselwirkungen zwischen Arzneistoffen und Organismus zu verstehen einschließlich dem Untergebiet Toxikologie.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Pharmakologie.

Die Pharmakologie betrifft ambivalent sowohl die Heilwirkung als auch die Giftwirkung eines Stoffes. Auch die Klägerin bezieht in ihrem Schriftsatz vom 6.12.2005 die toxische Dosierung in die pharmakologische Wirkung ein. Aus wissenschaftlicher Sicht bedeutet ein Pharmakon einen körperfremden oder körpereigenen Stoff, der nach Aufnahme im Körper oder an dessen Oberfläche erwünschte oder schädliche Wirkungen hervorruft.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Pharmakon.

Aus der Sicht der Pharmakologie wirken viele Pharmaka dosisabhängig entweder als Arzneimittel oder als Gift.

Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, Stichwort Pharmakon.

Quantitativ wird das in der Dosis-Wirkungs-Kurve erfasst.

Hunnius, Stichwort Dosis-Wirkungs-Kurve.

Bei diesem wissenschaftlichen Verständnis umfasst das Funktionsarzneimittel mit seiner pharmakologischen Wirkung nicht nur den Bereich einer positiven, therapeutischen Beeinflussung der Körperfunktionen, sondern auch den Bereich einer negativen, schädlichen Beeinflussung der Körperfunktionen. Kurz gesagt umfasst ein Funktionsarzneimittel positive und negative Auswirkungen auf die Gesundheit.

Das dargelegte wissenschaftsbezogene Verständnis der Definition entspricht auch dem praktischen Verständnis der europäischen Definition nach der Rechtsprechung des EuGH.

Der EuGH hat in einer neueren Entscheidung vom 29.4.2004 – C – 387/99 – betreffend Vitaminpräparate, Rz. 58, eine allgemein verständliche Definition des europäischen Funktionsarzneimittels gegeben:

Für die Einstufung eines Erzeugnisses als Arzneimittel nach der Funktion müssen sich die Behörden daher vergewissern, dass es zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der Körperfunktionen bestimmt ist und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben kann.

Aus demselben Urteil des EuGH vom 29.4.2004 ergibt sich auch, dass er die Auswirkungen auf die Gesundheit ambivalent, als sowohl positiv als auch negativ versteht, da er im Rz. 56 die positive Wirkung der Vitamine zu therapeutischen Zwecken und in Rz. 60 die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Gesundheit einschließlich etwaiger Schädlichkeitsgrade anspricht.

Die ambivalenten heilenden oder schädigenden Gesundheitswirkungen machen wie dargelegt die Besonderheit eines Pharmakons aus. Auf der Normebene hat erst die Änderungsrichtlinie 2004/27/EG die pharmakologische Wirkung ausdrücklich in die Definition des Funktionsarzneimittels aufgenommen. Damit hat der Richtliniengeber aber kein Neuland betreten, sondern die bisherige Rechtsprechung des EuGH übernommen, der in ständiger Rechtsprechung auf die pharmakologischen Eigenschaften des abzugrenzenden Produkts abstellt.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 – betreffend Vitaminpräparate Rz. 62; Upjohn Urteil vom 16.4.1991 – C – 112/89 -, Rz. 23, 24; Delattre-Urteile vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 26.

Die pharmakologischen Eigenschaften des Produkts werden damit als wesentlicher Gesichtspunkt für die Abgrenzung betrachtet. In der Rechtsprechung des EuGH drücken die pharmakologischen Eigenschaften zusammenfassend das aus, was mit der Beeinflussung der Körperfunktionen und somit Auswirkungen auf die Gesundheit konkreter umrissen ist. Deutlich wird der Zusammenhang insbesondere in dem Urteil Upjohn vom 16.4.1991 – C – 112/89 -, Rz. 17-24, in dem zunächst die Beeinflussung der Körperfunktionen mit Auswirkungen auf die Gesundheit dargelegt wird (Rz. 17), im Folgenden die Beeinflussung der Körperfunktionen näher erläutert wird (Rz. 19-22) und im unmittelbaren Anschluss daran (Rz. 23 und 24) zusammenfassend entschieden wird, dass das nationale Gericht auf die pharmakologischen Eigenschaften des betreffenden Erzeugnisses abstellen muss.

Übereinstimmend mit der bisherigen Rechtsprechung definiert der EuGH in seinem Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 52, den Rechtsprechungsbegriff der pharmakologischen Eigenschaften wirkungsbezogen wie folgt:

Die pharmakologischen Eigenschaften eines Erzeugnisses sind der Faktor, auf dessen Grundlage die mitgliedstaatlichen Behörden ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten dieses Erzeugnisses zu beurteilen haben, ob es im Sinne des Artikels 1 Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 dazu bestimmt ist, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden.

Die dargelegte Definition der pharmakologischen Eigenschaften klingt etwas kompliziert, fasst aber nur die bisherige Rechtsprechung zusammen, wonach der Begriff der pharmakologischen Eigenschaften konkret die Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen (Körperfunktionen) bedeutet. Die pharmakologischen Eigenschaften entsprechen also den pharmakologischen Wirkungen im Sinne des neuen Rechts.

Nach dem dargelegten Gesamtzusammenhang ist der bisherige Rechtsprechungsbegriff der pharmakologischen Eigenschaften von dem Richtliniengeber in der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG in Form einer pharmakologischen Wirkung in den Normtext aufgenommen worden. Die im Jahr 2004 geänderte Definition des Funktionsarzneimittels führt mithin nicht zu einer substanziellen Rechtsänderung.

In der Substanz der europäischen Arzneimitteldefinition geht es nach wie vor darum, ob ein Produkt zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der Körperfunktionen bestimmt ist und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben kann.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, betreffend Vitaminpräparate, Rz. 58.

Klar zu unterscheiden von der Auslegung der europäischen Normen, die der EuGH vorgenommen hat, ist die Rechtsanwendung. Im Lactobactfall des EuGH zielte die Vorlagefrage 1 a des OVG Münster, vgl. in der Wiedergabe des EuGH Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 25, unmittelbar auf die Feststellung, ob das Produkt Lactobact Lebensmittel oder Arzneimittel ist mit gegebenenfalls Verbindlichkeit für alle Mitgliedstaaten. Der EuGH hat in dem Lactobact-Urteil (Rz. 96) mit Blick auf die klare Aufgabentrennung zwischen nationalen Gerichten und Gerichtshof klargestellt, dass er im Vorlageverfahren nicht befugt ist über den Sachverhalt zu entscheiden und dass es vielmehr Sache des vorlegenden Gerichts ist, die Einstufung selbst vorzunehmen (Rz. 97). Ungeachtet dessen hat der EuGH in dem Lactobact-Urteil sowie schon zuvor Rechtsanwendungshinweise gegeben, die sich im Sinne einer Vollständigkeitsanforderung zusammenfassen lassen. Bei der Beurteilung eines Erzeugnisses müssen die Behörden (Lactobact-Urteil Rz. 51), alle seine Merkmale, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen Eigenschaften – wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen -, die Modalitäten seines Gebrauchs, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann, berücksichtigen.

Zur Klarstellung weist der Senat aber darauf hin, dass die Berücksichtigung sämtlicher Merkmale nicht deren Gleichrangigkeit bedeutet. Während die Wirkungen des Produkts auf die Körperfunktionen und damit die Gesundheitsauswirkungen als pharmakologische Eigenschaften schon definitionsgemäß wesentliche Bedeutung haben, hat der EuGH im Lauf seiner Rechtsprechung die Bedeutung der anderen Merkmale zu Hilfsmerkmalen herabgestuft. So hat er entschieden, dass etwa die äußere Form des Produkts kein allein ausschlaggebendes Indiz ist und die Modalitäten des Gebrauchs ein nicht an sich ausschlaggebender Umstand sind.

Vgl. zum Ersteren Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 38 und zum Letzteren Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 31.

Weiterhin hat eine unterschiedliche Verbreitung und Verbraucherbekanntheit des Produkts als Arzneimittel oder Lebensmittel in verschiedenen Mitgliedstaaten keine unmittelbar ausschlaggebende Wirkung, da der EuGH die unterschiedliche Einstufung von Erzeugnissen als Arzneimittel oder Lebensmittel in verschiedenen Mitgliedstaaten als rechtlich zulässig betrachtet.

EuGH im Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 56.

Nach der BGH-Rechtsprechung haben für die Produkteinstufung nach dem gemeinschaftsrechtlichen Arzneimittelbegriff Werbeangaben in Zeitschriften verglichen mit den pharmakologischen Wirkungen keine ausschlaggebende Bedeutung.

BGH, Urteil vom 11.7.2002 – I ZR 273/99 -, Juris-Ausdruck Rz. 23.

Der BGH gewichtet die pharmakologische Wirkung der Präparate deutlich stärker als die Verbraucherkenntnisse aus den Medien, was auch dem Sinn der EuGH-Rechtsprechung entspricht. Der EuGH schließt nicht aus, dass ein Produkt im Verkehr im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird, aber dennoch ein Arzneimittel im Sinne des europäischen Rechts ist.

EuGH, Urteil Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 21.

Die allgemeine Verkehrsauffassung ist also nicht ausschlaggebend.

Damit sind die Grundlagen der Einstufung eines Produkts als europäisches Funktionsarzneimittel geklärt.

Auf der dargelegten Grundlage bedarf es einer konkreten Prüfung, ob das Produkt der Klägerin ein Funktionsarzneimittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts ist.

Der Senat nimmt diese Prüfung von Amts wegen vor, worauf die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung hingewiesen worden sind. Dabei sind die von den Beteiligten vorgelegten wissenschaftlichen Unterlagen und Gutachten gleichrangig heranzuziehen.

Nach der vom EuGH geforderten Berücksichtigung aller Merkmale des Produkts ist zunächst die Zusammensetzung zu betrachten. Ausweislich der fotokopierten Faltschachteln von 2002 und 2005 (VG-Akte Bl. 93/94 und OVG-Akte 3 R 7/05 Bl. 51) besteht das Mittel abgesehen von hier nicht interessierenden Tablettenhilfsstoffen nur aus einem Inhaltsstoff, nämlich indischem Weihrauchtrockenextrakt von 400 mg pro Tablette; die Verzehrempfehlung lautet:

Täglich 1 Tablette nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit verzehren.

Die neue Faltschachtel von 2005 enthält zusätzlich den Hinweis, dass die täglich empfohlene Verzehrempfehlung nicht überschritten werden soll. Aus der Verzehrempfehlung ergibt sich zugleich, dass der Inhaltsstoff im menschlichen Körper verwendet werden soll.

Sodann sind im Sinne des EuGH Prüfungsschwerpunkt die pharmakologischen Eigenschaften des Inhaltsstoffs Weihrauch. Es kommt darauf an, ob Weihrauchextrakt physiologische Funktionen beeinflusst, und zwar durch eine pharmakologische Wirkung. Wie bereits dargelegt bedeutet die Prüfung einfacher ausgedrückt, ob Weihrauchextrakt Körperfunktionen beeinflusst mit positiven oder negativen Auswirkungen auf die Gesundheit.

Nach den dem Senat vorliegenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Gutachten zum Wirkstoff Weihrauch handelte es sich ursprünglich um ein traditionelles Mittel in Indien.

Vgl. umfassend die auf Anregung der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) durchgeführte Veröffentlichung von Privatdozent Safayhi und Prof. Dr. Ammon, Pharmakologische Aspekte von Weihrauch und Boswelliasäuren, im Folgenden zitiert als Safayhi/Ammon, in: Sonderdruck der Pharmazeutischen Zeitung Nr. 39, 142. Jahrgang 1997, S. 1 ff., dort S. 1 und S. 2; weiter Ammon Kurzbericht, Salai-Guggal – (Indischer Weihrauch), Gummiharz aus Boswellia serrata, in: Deutsches Ärzteblatt 95, Januar 1998, S. A-30 ff, im folgenden zitiert als Kurzbericht Ammon, dort S. A-30; zur traditionellen therapeutischen Verwendung in Asien und zur Herstellung des Therapeutikums in Indien; vgl. das von der Klägerin vorgelegte Gutachten von Prof. Dr. Bertram vom 22.2.2001 zur pharmakologischen Wirkung von Weihrauch, im Folgenden zitiert als Gutachten Bertram, dort S. 1 und S. 2.

Der Klägerin ist zuzustimmen, dass die Zuordnung eines Produkts zur traditionellen Ayurveda-Medizin ganzheitlich auch im Sinne einer gesunden Lebensweise mit geeigneten Lebensmitteln zu verstehen sein kann und für sich genommen nicht eine pharmakologische Wirkung nach modernen Wissenschaftsmaßstäben indiziert, vgl. zum ganzheitlichen Konzept der Ayurveda (Wissen vom Leben) Roche Lexikon Medizin, 5. Auflage 2003, Stichwort Ayurveda.

Die pharmakologischen Wirkungen der Hauptinhaltsstoffe von Weihrauch wurden indes in jüngster Zeit wissenschaftlich erforscht, und zwar in Untersuchungen ab 1986.

Gutachten Bertram, S. 1, und Jahreszahl bei Safayhi/Ammon, S. 2.

Das Hauptergebnis der bisherigen Forschung liegt nach der Angabe von Fachlexika sowie nach den von beiden Beteiligten vorgelegten wissenschaftlichen Unterlagen und Gutachten darin, dass Weihrauchextrakt mit seinem Gehalt an Boswelliasäuren Entzündungsprozesse beeinflusst.

Safayhi/Ammon, mit ausführlicher Darlegung der Entzündungsmodelle, S. 2 – S. 5; Kurzbericht Ammon, S. A-30; Gutachten Bertram, S. 2, wobei die Bezeichnung antiphlogistische Wirkungen entzündungshemmende Wirkungen bedeutet; Roche Lexikon Medizin, 5. Aufl. 2003, Stichwort Boswellia serrata, mit Hinweis auf die nachgewiesene Wirkung bei den Entzündungskrankheiten Colitis ulcerosa und Enteritis regionalis (Crohn-Krankheit) sowie unterstützend bei Polyarthritis; zurückhaltender im Sinne zugeschriebener Wirkungen bei Entzündungskrankheiten Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Aufl. 2004, Stichwort Boswellia serata unter Weiterverweisung auf das Stichwort Boswellia bhaw-dajiana; zurückhaltend ebenfalls das von der Klägerin vorgelegte Gutachten Reuss, S. 1, wonach Weihrauch nach vorliegenden wissenschaftlichen Publikationen eine arzneiliche Wirkung haben soll und es (S. 2) für entzündliche Erkrankungen einen therapeutisch beanspruchten Anwendungsbereich gibt, positiv Bertsche/Schulz, Kurzbewertung, 2002, Berufungsakte 3 R 7/05 Bl. 71 R.; ebenso Gupta u.a., 2001, Zusammenfassung einer Forschungsarbeit zur Colitis, Berufungsakte 3 R 7/05, Bl. 75.

Die bei chronischen Entzündungen ablaufenden soweit hier einschlägigen Körperprozesse sind bei Safayhi/Ammon S. 2 und 3, als Kausalketten im Sinne eines Entzündungsmodells zusammengefasst. Danach ist die 5 – Lipoxygenase das Schlüsselenzym der Leukotrienbiosynthese. Die Produkte der 5 – Lipoxygenase, die Leukotriene, sind hochwirksame Mediatoren (Förderer) chronischer Entzündungen. Pharmazeutisch gesucht zur Entzündungsbekämpfung werden mithin Inhibitoren (Hemmstoffe), die bereits das Schlüsselenzym, die 5 – Lipoxygenase, hemmen. Solche Hemmstoffe sind zwar in der Forschung bekannt, haben aber regelmäßig reduzierende oder oxidierende Eigenschaften und wirken sich deshalb toxisch aus. Pharmazeutisch gesucht werden deshalb Inhibitoren der chronischen Entzündungen mit besserer Verträglichkeit. Die Boswelliasäuren – chemisch Triterpene - als Inhaltsstoffe des Weihrauchs erweisen sich nach den Forschungsergebnissen als nicht reduzierende oder oxidierende und insofern einmalige Hemmstoffe der Leukotriensynthese und damit chronischer Entzündungen (Safayhi/Ammon S. 4 mit einem Diagramm). Der bei Safayhi/Ammon eingehend dargelegte Wirkungsmechanismus der Leukotrienhemmung wird in anderen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und im Gutachten Bertram der Klägerin kurz dargestellt oder erwähnt.

Kurzbericht Ammon, a.a.O., S. A-31; Kurzbewertung Bertsche/Schulz, S. 1; das von der Klägerin vorgelegte Gutachten Bertram, S. 2/3; zurückhaltend Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, Stichwort Boswellia serrata unter Weiterverweisung auf Boswellya bhaw-dajiana, positiv Bertsche/Schulz, S. 1; Gupta u.a., Zusammenfassung S. 1.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Boswelliasäuren, allerdings in wesentlich höheren Konzentrationen, auch zur Behandlung von Hirnödemen bei Tumoren eingesetzt werden.

Safayhi/Ammon, S. 7, dort zu einer täglichen Dosis von 3600 mg, Bertsche/Schulz, S. 2: mindestens 3600 mg.

Begrenzt auf die Behandlung von Ödemen bei Gehirntumoren und damit auf diesen hoch dosierten Anwendungsbereich ist der vorgelegte Bescheid der Europäischen Kommission vom 21.10.2002 (Berufungsakte Bl. 69 R) ergangen, der Weihrauchextrakt als potenzielles Arzneimittel für diese seltene Krankheit ausweist; auf die Rechtswirkung dieses Bescheides ist noch einzugehen.

Vorliegend ist wesentlich, dass Weihrauchextrakt abgesehen von diesem seltenen Anwendungsbereich ganz allgemein Entzündungen beeinflusst.

Der dargelegte Wirkungsmechanismus bei Entzündungen bedeutet im Sinne der Definition des EuGH, dass die Körperfunktionen beeinflusst werden, und zwar mit Auswirkungen auf die Gesundheit. Chronische Entzündungen werden mit positiver Gesundheitswirkung gehemmt. Bei dem Eingriff in die bei Entzündungen ablaufenden Körperprozesse handelt es sich um eine pharmakologische Wirkung hier im Sinne einer positiven therapeutischen Einwirkung. Eine pharmakologische Wirkung von Weihrauch wird in der Veröffentlichung von Safayhi/Ammon (S. 8) ausdrücklich bejaht. Auch das von der Klägerin selbst vorgelegte Gutachten Bertram gibt an, dass die pharmakologischen Wirkungen der Hauptinhaltsstoffe von Weihrauch erst in jüngster Zeit systematisch beforscht wurden (S. 1), weist auf antientzündliche Wirkungen hin und gibt dazu den wahrscheinlichen Wirkmechanismus an (S. 2).

Damit ist aber nach den vorliegenden Forschungsergebnissen die Wirkung von Weihrauchextrakt auf Entzündungsprozesse noch nicht erschöpft. Weihrauchextrakt kann auch den umgekehrten Effekt haben, dass er – nunmehr in niedriger Konzentration – Entzündungsprozesse fördert. Die pharmakologische Wirkung soll vom Sinn her - dem Gesundheitsschutz des Verbrauchers - die ambivalenten Gesundheitswirkungen insgesamt erfassen. Insofern greift die Argumentation der Klägerin zu kurz, die negative Gesundheitsauswirkungen nur bei Überdosierung, nicht bei Unterdosierung in den Blick nimmt. Ergeben wie hier beim Weihrauchextrakt Forschungsergebnisse eine negative Gesundheitsauswirkung ausnahmsweise bei Unterdosierung, muss sie zum Gesundheitsschutz auch rechtlich als pharmakologische Wirkung beachtet werden.

Das „Umkippen“ der Wirkung erklärt sich aus der chemischen Vielfalt von Weihrauchextrakt. Es gibt keinen einheitlichen Wirkstoff Boswelliasäure, sondern unterschiedliche Boswelliasäuren mit unterschiedlichen pharmazeutischen Wirkungen.

Bertsche/Schulz, S. 1; konkreter zu den unterschiedlichen Boswelliasäuren und ihren Wirkungen vgl. bei Safayhi/Ammon, S. 4, die Tabelle 1; zum Gehalt von indischem Weihrauch an pentazyklischen (fünfringigen) Triterpensäuren und tetrazyklischen (vierringigen) Triterpensäuren Gutachten Bertram, S. 2.

Wesentlich ist das Zusammenwirken der Inhaltsstoffe, die auch antagonistisch (im Sinne der Gegenwirkung) wirken können.

Safayhi/Ammon S. 5 und S. 8, Bertsche/Schulz, S. 1.

Eine hinreichend starke Gegenwirkung bedeutet konkret, dass Weihrauchextrakt dann die Leukotriensynthese und damit den chronischen Entzündungsprozess verstärkt. Gerade für einen solchen Umkehreffekt liegen Forschungsergebnisse vor.

Schlusswort Ammon als Ergänzung des Kurzberichts in: Deutsches Ärzteblatt 95, Oktober 1998, S. A-2482, im Folgenden zitiert als Schlusswort Ammon; ebenso als Forschungsergebnis berücksichtigt in dem von der Klägerin selbst vorgelegten Gutachten Bertram vom 22.2.2001, S. 3; Bertsche/Schulz, S. 1.

Verantwortlich gemacht für den Umkehreffekt werden die Tirucallsäuren.

So als positive Feststellung Bertsche/Schulz, S. 1; als Möglichkeit Gutachten Bertram, S. 3.

Konsequenterweise sehen Bertsche/Schulz die im Weihrauchextrakt enthaltenen Tirucallsäuren als pharmakologisch wirksame Substanzen an.

Bertsche/Schulz, S. 1.

Die Tirucallsäuren wirken bereits bei niedriger Dosierung des Stoffgemischs, die Boswelliasäuren erst bei höherer Dosierung.

In dem zitierten Schlusswort von Ammon (S. A-2482) wird nochmals hervorgehoben, dass Weihrauchextrakte nicht eine einzelne Wirksubstanz enthalten, sondern ein Gemisch von Wirksubstanzen mit nicht einheitlichem Wirkungsmechanismus. Sodann ist ausgeführt, dass die richtige Dosierung eine wesentliche Rolle spielt. Das räumt auch die Klägerin ein. Danach heißt es wörtlich:

Bei niedriger Dosierung eines Extraktes kann es sogar zu einer Stimulierung der Leukotriensynthese kommen.

Wie bereits dargelegt bedeutet die Stimulierung der Leukotriensynthese auch eine Verstärkung der chronischen Entzündungsprozesse und damit eine pharmakologisch negative Wirkung. Das von der Klägerin selbst vorgelegte Gutachten Bertram, S. 3, bestätigt dieses Forschungsergebnis, dass in niedriger Dosierung die Bildung von 5 – Lipoxygenaseprodukten erhöht sein kann und fügt hinzu, diesem Befund müsse weiter nachgegangen werden. Die im Gutachten Bertram genannten 5 – Lipoxygenaseprodukte sind gerade die Leukotriene und fördern als Mediatoren chronische Entzündungen.

Ausführlich zu der gesamten Kausalkette Safayhi/Ammon, S. 3, und kurz zusammengefasst Gutachten Bertram, S. 2.

Das einleuchtend mit der antagonistischen Wirkung und damit mit der Wirkung einzelner Wirkstoffe des Stoffgemischs Weihrauch – Tirucallsäuren - erklärte Forschungsergebnis muss bei den pharmakologischen Wirkungen von Weihrauch beachtet werden.

Die vom Senat aus Verständnisgründen zunächst nur qualitativ dargelegte pharmakologische Wirkung bedarf mit Blick darauf, dass das Produkt der Klägerin eine Tagesdosis von 400 mg Weihrauch in Form einer Tablette empfiehlt, nun auch einer quantitativen Darlegung. Von dieser empfohlenen Menge – die nach der neuen Packungsangabe auch nicht überschritten werden soll – ist vernünftigerweise auszugehen. Die von dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in seiner Stellungnahme vom 29.9.2005 erwähnte Möglichkeit einer Mehrfacheinnahme würde im Grunde jede Dosierungsvorschrift bei anerkannten Arzneimitteln entwerten und überzeugt schon deshalb nicht. Die Kritik der Klägerin an dieser Stellungnahme trifft zu.

Nach den vorliegenden Forschungsergebnissen ist das quantitative Spektrum pharmakologischer Wirkungen (positiv und negativ) des Weihrauchs relativ weit. Nach übereinstimmenden Feststellungen von Safayhi/Ammon, S. 7, und dem Bertramgutachten, S. 3, werden insbesondere Tumorpatienten mit der hohen Tagesdosis von 3600 mg Weihrauch-Trockenextrakt in wissenschaftlichen Studien behandelt. In diesem hoch dosierten Bereich ist auch der positive Bescheid der Europäischen Kommission vom 21.10.2002 zur Ausweisung als Forschungsarzneimittel ergangen. Die Grenze guter Verträglichkeit von Weihrauchextrakt liegt in der Regel bei 1200 mg pro Tag, während hohe Dosen von 3600 mg pro Tag zu Nebenwirkungen führen können.

Safayhi/Ammon, S. 7, zu relativ seltenen Nebenwirkungen Bertsche/Schulz, S. 2.

Für die im vorliegenden Rechtsstreit erhebliche Hauptwirkung von Weihrauch, die antientzündliche Wirkung, wird nach den im Wesentlichen übereinstimmenden Veröffentlichungen und Gutachten eine Tagesdosis von ungefähr 800 bis 1600 mg verabreicht.

So Gutachten Reuss vom 10.1.2001, S. 2, mit Blick auf die publizierten Studien; ähnlich Safayhi/Ammon mit der Tagesdosis von 800 bis 2000 mg in einer Pilotstudie (S. 5) und der Verabreichung von 1050 mg bei Colitis ulcerosa (S. 7); das Gutachten Bertram kommt allerdings unter Einschluss der sehr hohen Dosierungen bei Tumorpatienten (S. 3) zu einer höheren pharmakologischen Dosis zwischen insgesamt 900 und 3600 mg am Tag (S. 4); Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 29.9.2005: ab 900 mg; Bertsche/Schulz, S. 1 und 2: 900 mg bei Asthma, mindestens 3600 mg bei Ödemen.

Eine positive Wirkung auf Entzündungen ist nach dem Forschungsstand, wie er dem Senat aus den vorliegenden Unterlagen ersichtlich ist, mithin ungefähr bei einer Tagesdosis von 800 bis 1600 mg gegeben.

Von der regelmäßigen pharmakologischen Tagesdosis von 800 bis 1600 mg ist der tiefer liegende untere Dosisbereich bei Weihrauch zu unterscheiden. Den unteren Dosisbereich siedelt das Gutachten Bertram bei einer Tagesdosis unter 500 mg an, wie sie hier vorliegt.

Gutachten Bertram vom 22.2.2001, S. 1 (unterer Dosisbereich) im Zusammenhang mit S. 4 (Tagesdosis unter 500 mg).

Da die Untergrenze des positiven therapeutischen Einsatzes von Weihrauchextrakt nach den vorliegenden Veröffentlichungen und Gutachten wie dargelegt bei 800 bis 900 mg Tagesdosis liegt, ist die Hälfte der Untergrenze (ca. 450 mg) sicherlich als niedrige Dosierung anzusehen.

Gerade bei einer niedrigen Dosierung von Weihrauchextrakt kommen nach den dargelegten Forschungsergebnissen aber die antagonistischen Wirkungen des Stoffgemischs aus Boswelliasäuren und Tirucallsäuren zur Geltung. Das Forschungsergebnis der Stimulierung der Leukotriensynthese und damit der Verstärkung von Entzündungsprozessen betrifft den Fall der niedrigen Dosierung des Weihrauchextraktes.

Übereinstimmend Schlusswort Ammon, S. A-2482, Gutachten Bertram, S. 3, und Bertsche/Schulz, S. 1 und 2.

Die dem Gericht vorliegenden Forschungsunterlagen und Gutachten enthalten keine Gegenfeststellung, die dieser antagonistischen Wirkung konkret widerspricht. Konsequenterweise kommen Bertsche/Schulz (S. 1) zu dem Ergebnis, dass die im Weihrauchextrakt enthaltenen Tirucallsäuren als Verursacher des Umkehreffekts in niedriger Konzentration des Weihrauchextrakts pharmakologisch wirksame Substanzen sind.

Diese Konsequenz ziehen die von der Klägerin selbst vorgelegten Gutachten zwar nicht. Die von der Klägerin vorgelegten Gutachten Bertram und Reuss kommen nur deshalb zum Ausschluss einer pharmakologischen Wirkung in niedriger Dosis, weil sie die maßgebende pharmakologische Wirkung auf die therapeutische Wirkung einengen.

Das Gutachten Reuss (S. 2) nimmt von vornherein nur den therapeutisch beanspruchten Anwendungsbereich in den Blick und schließt die therapeutisch verstandene pharmakologische Wirkung bei einer niedrigen Dosis von 30 % beziehungsweise 50 % der üblichen Dosis aus. Nichts anderes gilt für das Gutachten Bertram (S. 4). Die Bewertung der Dosisbereiche wird mit Blick auf den ausdrücklich angeführten therapeutischen Erfolg vorgenommen, und insoweit einer Tagesdosis unter 500 mg keine pharmakologische Wirkung mehr beigemessen. Nur bei dieser aus dem Gutachtentext ersichtlichen Auslegung bleibt das Gutachten widerspruchsfrei, denn der Gutachter Bertram hat bei der Betrachtung des Wirkmechanismus durchaus gesehen (S. 3), dass bei niedrigerer Dosierung die Bildung von Entzündungsverstärkern erhöht sein kann.

Nach allem ist ersichtlich, dass beide von der Klägerin vorgelegten Gutachten Bertram und Reuss nur den therapeutisch beanspruchten Anwendungsbereich bei niedriger Dosierung ausschließen. Eine positive Wirkung fehlt nach den Gutachten in diesem Bereich und eine negative Wirkung wird ausgeblendet.

Entscheidend sind aber die Forschungsergebnisse über einen Umkehreffekt bei niedriger Dosis. Die Hauptwirkung auf Entzündungsprozesse kehrt sich um. Diese Forschungsergebnisse werden in den vorliegenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Gutachten an keiner Stelle konkret angegriffen. Die Forschungsergebnisse sind auch mit Blick auf den dargelegten antagonistischen Effekt des Stoffgemischs für das Gericht einleuchtend nachvollziehbar und überzeugend. Die Tirucallsäuren wirken bereits bei niedriger Dosierung des Stoffgemischs, die Boswelliasäuren erst bei höherer Dosierung. Mithin besteht zwischen den Gutachten und den wissenschaftlichen Veröffentlichungen insgesamt kein konkreter fachlicher Widerspruch, der die Einholung eines Obergutachtens durch den Senat bei der von Amts wegen durchgeführten Prüfung aufdrängen würde.

Nach der dargelegten Würdigung hat das Wirkstoffgemisch Weihrauch bei einer Gesamtbetrachtung der positiven und negativen pharmakologischen Wirkungen ein weites Spektrum der pharmakologisch wirksamen Tagesdosis.

Eine hohe Tagesdosis von etwa 3600 mg entspricht der Ödembehandlung von Tumorpatienten und ist Gegenstand einer europäischen Ausweisung als Forschungsarzneimittel.

Die positive pharmakologische Wirkung im Sinne einer Therapie von Entzündungen besteht in einem Dosisbereich etwa zwischen 800 und 1600 mg Tagesdosis.

Bei einer niedrigen Tagesdosis von 400 bis 500 mg gibt es unwidersprochene Forschungsergebnisse im Sinne einer Verstärkung von Entzündungen insbesondere durch Tirucallsäuren und damit einer negativen pharmakologischen Wirkung. Eine Gesundheitsgefahr ist hier dem Grunde nach zu bejahen. Mit Blick auch auf die antagonistischen Wirkungen kommt auch die wissenschaftliche Veröffentlichung Safayhi/Ammon (S. 8) zu dem Ergebnis, von einer freizügigen Abgabe von Weihrauch sei abzuraten. Bertsche/Schulz warnen mit Blick auf den Umkehreffekt vor nicht ausreichend hoher Dosierung und befürworten sogar die Hochdosierung von 3600 mg.

Bertsche/Schulz, S. 2.

Daran gemessen fällt die tägliche Einnahme von 400 mg Weihrauchextrakt erkennbar in den zu vermeidenden niedrigen Dosisbereich.

Nach allem ist eine Beeinflussung von Körperfunktionen mit pharmakologischer Wirkung und damit positiven oder negativen Auswirkungen auf die Gesundheit für Weihrauchextrakt nicht nur in hohen, sondern auch in niedrigen Tagesdosen wie hier von 400 mg aufgrund der Forschungsergebnisse zu bejahen.

Gesundheitsgefahren sind bei einem Funktionsarzneimittel in jedem Fall zu berücksichtigen.

EuGH, Urteil vom 9.6.2005 - C-211/03 -, Rz. 53, dort als eigenständiger Faktor hervorgehoben.

Die bereits dargelegte gemeinschaftsrechtliche Definition des Funktionsarzneimittels in der Arzneimittelrichtlinie ist erfüllt, da eine Beeinflussung physiologischer Funktionen durch pharmakologische Wirkungen nach dem Forschungsstand zu bejahen ist. Weihrauch hat die pharmakologische Wirkung, dass er die Körperfunktionen bei Entzündungsprozessen mit Auswirkungen auf die Gesundheit beeinflusst.

Mit der Betrachtung der pharmakologischen Eigenschaften des Wirkstoffs in dem streitigen Produkt der Klägerin ist die Subsumtion erst im Schwerpunkt abgeschlossen.

Wie dargelegt bedarf es nach der Rechtsprechung des EuGH für die Einstufung eines Produkts der Berücksichtigung aller seiner Merkmale. Dazu gehören über die geprüfte Zusammensetzung, die pharmakologischen Eigenschaften und die Risiken hinaus noch die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung und die Bekanntheit bei den Verbrauchern.

EuGH im Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 51.

Mithin sind noch diese Hilfsmerkmale nachfolgend zu berücksichtigen.

Zu beginnen ist mit den Modalitäten des Gebrauchs. Nach der Anweisung auf der Faltschachtel ist täglich eine Tablette nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit zu verzehren. Darin liegt einerseits die für Arzneimittel übliche Einnahme, andererseits werden nach Artikel 2 Buchstabe a der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG Nahrungsergänzungsmittel ebenfalls in dosierter Form unter anderem in Tablettenform eingenommen. Das Merkmal ist also nicht trennscharf. Auch der EuGH hat dem Umstand, dass ein streitiges Erzeugnis nach der Gebrauchsanweisung in Wasser oder Joghurt verrührt werden sollte, keine an sich ausschlaggebende Bedeutung beigemessen.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 31.

Als nächster Gesichtspunkt ist die Verbreitung des weihrauchhaltigen Produkts der Klägerin in den Blick zu nehmen. Die Klägerin importiert ihr Produkt aus Österreich und bringt es als Nahrungsergänzungsmittel auf den deutschen Markt. Werbung für ihr Produkt wie für ein Arzneimittel betreibt sie nach der insoweit unwidersprochenen Klagebegründung (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 15) nicht. Das namensgleiche Produkt wird in Österreich selbst ebenfalls als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebracht, indessen nicht von der Klägerin, sondern von der Firma G. Die Firma G hat das namensgleiche Produkt in Österreich als Verzehrprodukt angemeldet (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 27) und betreibt in Österreich nach dem belegten Vortrag des Beklagten Werbung für die entzündungshemmende Wirkung der namensgleichen Weihrauchtabletten ebenfalls mit dem Inhalt von 400 mg Weihrauch.

Vortrag des Beklagten im Schriftsatz vom 17.10.2002, S. 2 (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 111) und Auszug aus der Homepage der österreichischen Firma (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 113).

Weiterhin ist das namensgleiche Produkt nach dem belegten Vortrag der Klägerin in Großbritannien als Nahrungsmittel im freien Verkehr.

Bescheinigung des britischen Agrarministers vom 9.8.2001, Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 28.

Ergänzend ist noch die Verbreitung von nicht namensgleichen Konkurrenzprodukten mit dem identischen Inhaltsstoff Weihrauch in den Blick zu nehmen. Insoweit hat die Klägerin nachgewiesen, dass auf dem deutschen Apothekenmarkt ausweislich des zentralen Bestellsystems der Lauer-Taxe insgesamt 11 nicht namensgleiche Weihrauchprodukte als Nahrungsergänzungsmittel bestellt werden können.

Schriftsatz vom 11.8.2005, S. 3/4, OVG Akte 3 R 7/05 Bl. 20/21 mit Anlage K 22, OVG Akte Bl. 23 ff..

Bei einer Würdigung der Verbreitung des namensgleichen Produkts der Klägerin muss gesehen werden, dass das Produkt in drei Staaten der EU – Österreich, Deutschland und Großbritannien - als Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt ist. In Österreich wird es – allerdings nicht von der Klägerin – von der vertreibenden Firma als entzündungshemmend und damit wie ein Arzneimittel beworben.

Zur rechtlichen Qualifizierung vgl. das Urteil des EuGH Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 – Rz. 27, wonach eine Veröffentlichung des Herstellers oder Verkäufers mit der Bezeichnung therapeutischer Wirkungen als entscheidendes Indiz für die Absicht des Herstellers oder Verkäufers anzusehen ist, das Erzeugnis als Präsentationsarzneimittel in den Verkehr zu bringen.

Eine Verkehrsgenehmigung auf EU-Ebene hat hoch dosierter Weihrauchextrakt als Mittel gegen Gehirnödeme noch nicht, wohl aber den Status eines Forschungsarzneimittels.

Den vom Beklagten vorgetragenen Import von Weihrauchextrakt als Fertigarzneimittel aus der Schweiz und aus Indien hält die Klägerin für unzulässig, da es im Fall der Schweiz an einer landesweiten Arzneimittelzulassung und im Fall Indiens an einer mit deutschem Recht vergleichbaren Zulassung fehle, vielmehr Weihrauchextrakt in Indien ein Lebensmittel sei und der Lebensmittelüberwachung unterliege. Dieser Vortrag kann zugunsten der Klägerin als richtig unterstellt werden.

In diesem Fall spricht der Gesichtspunkt der Verbreitung eher für die Einordnung als Lebensmittel. Er hat aber verglichen mit den festgestellten pharmakologischen Wirkungen des Produkts keine für sich entscheidende Bedeutung.

Sodann ist als weiteres Merkmal noch wie dargelegt die Bekanntheit des Produkts bei den Verbrauchern zu würdigen.

Die Klägerin nimmt an, ihr Weihrauchprodukt sei insbesondere mit Blick auf das deutsche Apothekensortiment mit zahlreichen weiteren Weihrauchprodukten als Nahrungsergänzungsmittel dem informierten deutschen Verbraucher als Lebensmittel bekannt. Demgegenüber nimmt der Beklagte an, dem informierten deutschen Verbraucher sei abgesehen von der speziellen Arzneimittelwerbung im Internet für das namensgleiche Produkt in Österreich auch ansonsten durch das Internet die Arzneimitteleigenschaft bekannt, was die Klägerin mit rechtlichen Gesichtspunkten zur Unmaßgeblichkeit von Medienwerbung bekämpft.

Bei der Würdigung der konkreten Verbraucherkenntnisse schließt sich der Senat weder dem Standpunkt der Klägerin noch dem des Beklagten an. Überzeugender erscheint vielmehr das von der Klägerin vorgelegte Gutachten Reuss vom 10.1.2001 (S. 2), wonach die Verkehrsauffassung als mögliches Kriterium für die Abgrenzung zwischen Lebensmitteln und Arzneimitteln im Fall Weihrauch ohne wesentliche Bedeutung ist. Der Gutachter begründet dies damit, dass eine arzneiliche Wirkung beim durchschnittlich informierten deutschen Verbraucher kaum bekannt ist. Eine Bekanntheit von Weihrauch als Nahrungsmittel nimmt der Gutachter aber ersichtlich ebenfalls nicht an, weil anderenfalls die Verkehrsauffassung entgegen seiner Fachmeinung zu einem eindeutigen Ergebnis führte. Die richtige Einordnung von Weihrauch, der eher als Kultmittel bekannt ist, wird einen durchschnittlich informierten Verbraucher kaum berühren. Konkrete Verbraucherkenntnisse über die Lebensmittel- oder Arzneimitteleigenschaft können also nicht erwartet werden.

Der Gesichtspunkt der Verbraucherkenntnisse ist jedenfalls gegenüber den festgestellten pharmakologischen Eigenschaften nicht ausschlaggebend.

Zu den beiden zuletzt genannten Gesichtspunkten der Verbreitung und der Verbraucherkenntnisse führt der Senat noch eine Hilfserwägung durch. Im günstigsten Fall könnte die gerichtliche Würdigung dieser Gesichtspunkte zu dem Ergebnis führen, dass ein Weihrauchprodukt im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird. Selbst diese allgemeine Ansicht würde es aber nicht hindern, dass ein solches Produkt dennoch nach dem europäischen Arzneimittelbegriff als Arzneimittel einzuordnen ist.

So das Urteil des EuGH Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 21, für aus Südamerika eingeführte Kräutertees.

Damit kann der Prüfungsabschnitt über die Einstufung des Produkts der Klägerin als Arzneimittel abgeschlossen werden.

Nach der Überzeugung des Senats ist das weihrauchhaltige Produkt der Klägerin unter Berücksichtigung aller seiner Merkmale, insbesondere seiner Zusammensetzung, seiner pharmakologischen Eigenschaften – wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen – der Modalitäten seines Gebrauchs, des Umfangs seiner Verbreitung, seiner Bekanntheit bei den Verbrauchern und der Risiken nach dem maßgebenden Gemeinschaftsrecht als Funktionsarzneimittel im Sinne sowohl der ursprünglichen Arzneimittelrichtlinie 2001/83/EG als auch der dargelegten Änderungsfassung durch die Arzneimittelrichtlinie 2004/27/EG anzusehen.

Damit führen die bisherigen Prüfungsschritte des Urteils zu dem Doppelergebnis, dass das Produkt der Klägerin mit 400 mg Weihrauchextrakt Tagesdosis nach den europäischen Definitionen sowohl ein Aromastoff und damit ein Lebensmittel ist als auch ein Funktionsarzneimittel mit Blick auf seine antagonistische Wirkung auf Entzündungsprozesse. Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts unterliegt das Produkt mithin nach vollständiger Subsumtion einerseits der Lebensmittelverordnung 178/2002 und zusätzlich der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG, andererseits auch der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG in der ursprünglichen Form und gleichermaßen in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG.

Dieses Doppelergebnis auf der europäischen Rechtsebene bedarf aber einer juristischen Auflösung wegen seiner widersprüchlichen Konsequenzen.

Ein Lebensmittel fällt unstreitig grundsätzlich unter den freien Handelsverkehr der Mitgliedstaaten (vgl. zum Grundsatz Artikel 28 EGV). Anderes gilt für Arzneimittel. Ausnahmen vom Grundsatz der Handelsfreiheit bestehen nach Artikel 30 EGV insbesondere zum Gesundheitsschutz, worunter das Arzneimittelrecht fällt.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 30 Rdnr. 8.

Nach Artikel 6 I der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG bedarf ein Arzneimittel grundsätzlich abgesehen von dem nicht einschlägigen Fall einer unmittelbaren europäischen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung Nr. 2309/93 in jedem Mitgliedstaat einzeln einer Zulassung. Umgesetzt ist diese Regelung im deutschen Recht in § 21 AMG. Unstreitig hat das Produkt der Klägerin weder in der EG noch in einem EG-Staat eine Zulassung als Arzneimittel. Deshalb bedarf das festgestellte Doppelergebnis einer Auflösung.

Nach dem dargelegten Zwischenergebnis bedarf es auf Gemeinschaftsebene einer Entscheidungsregel, ob beim Zusammentreffen beider Definitionen das Arzneimittelrecht oder das Lebensmittelrecht Vorrang hat.

Zusammengefasst kommt der Senat zu der Entscheidung, dass nach dem aktuellen Recht bei der Produktbehandlung das Arzneimittelrecht vor dem Lebensmittelrecht Vorrang aufgrund ausdrücklicher normativer Regelung hat. Für die vorausgehenden Zeitabschnitte ergibt sich dasselbe Ergebnis aus der Beachtung der Rechtsprechung des EuGH, der in ständiger Rechtsprechung bereits seit 1992 eine Art „Strenge-Regel“ aufgestellt hat, wonach das strengere Arzneimittelrecht in der Anwendung Vorrang vor weniger strengen Regelungen anderer Rechtsgebiete hat. Dies ist nunmehr im Einzelnen auszuführen.

Beginnend mit dem neuesten Zeitabschnitt ab 30.10.2005 ist der Anwendungsvorrang des Arzneimittelrechts bereits nach deutschem Recht normativ eindeutig bestimmt. Das deutsche Recht verweist in § 2 III Nr. 1 des ArzneimittelgesetzesAMG – in der Fassung des Gesetzes vom 13.12.2001 (BGBl. I S. 3586) sowie in der jetzigen Fassung vom 12.12.2005 (BGBl. I S. 3394) zur Abgrenzung auf den Lebensmittelbegriff nach dem deutschen Lebensmittelgesetz. § 2 II LFGB in der Fassung vom 1.9.2005 (BGBl. I S. 2618), gültig ab 7.9.2005, verweist für die Lebensmitteldefinition seinerseits unmittelbar auf Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Die europäische Lebensmittelverordnung 178/2002 verweist in ihrer Negativabgrenzung in Art. 2 Abs. 3 d wiederum auf die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG. Die Humanarzneimittelrichtlinie enthält in der Fassung der Änderungsrichtlinie vom 31.3.2004 mit einer Umsetzungsfrist bis 30.10.2005 in Art. 2 Abs. 2 ausdrücklich eine Vorrangregel des Arzneimittelrechts mit folgendem Inhalt:

In Zweifelsfällen, in denen ein Erzeugnis unter Berücksichtigung aller seiner Eigenschaften sowohl unter die Definition von „Arzneimittel“ als auch unter die Definition eines Erzeugnisses fallen kann, das durch andere gemeinschaftliche Rechtsvorschriften geregelt ist, gilt diese Richtlinie.

Mit dieser Richtlinie ist die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG gemeint, was mithin zum Vorrang des Arzneimittelrechts führt. Der EuGH hat die klar formulierte Vorrangregel auch in diesem Sinn verstanden.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 44.

Nach dem aktuell geltenden Gemeinschaftsrecht ist auf das Produkt der Klägerin mithin nur das Arzneimittelrecht anzuwenden. Das aktuelle deutsche Recht verweist darauf.

Für das vorausgehende Recht innerhalb der zeitlichen Reichweite des Dauerverwaltungsaktes vom 23.1.2002 geht der Senat aus Gründen der Übersichtlichkeit auf die Zeitabschnitte zunächst nach dem wie dargelegt maßgeblichen Gemeinschaftsrecht und erst dann nach dem deutschen Recht ein.

Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts war im vorausgehenden Zeitabschnitt vom 31.3.2004 bis zum 29.10.2005 die Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31.3.2004 mit der normativen Vorrangregel des Arzneimittelrechts zwar bereits erlassen, indessen war die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen. Richtlinien setzen zwar ein zweistufiges Rechtsetzungsverfahren mit Erlass auf Gemeinschaftsebene und Umsetzung in nationales Recht voraus.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 249 EGV Rdnr. 8.

Richtlinien sind aber auch als Auslegungsmaßstab heranzuziehen.

Geiger, EUV/EGV, Artikel 249 EGV Rdnr. 12.

Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung, und zwar gerade für die Vorrangregel in der hier vorliegenden Änderungsrichtlinie 2004/27/EG, entschieden, dass eine Richtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist als Auslegungsmaßstab heranzuziehen ist.

Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 44.

Auch für diesen Zeitraum galt als Auslegungsergebnis der Rechtsprechung des EuGH ein normativer Vorrang des Arzneimittelrechts.

Auf Gemeinschaftsebene galt in dem davor liegenden Zeitraum vom 6.11.2001 (mithin vor Erlass des Dauerverwaltungsakts vom 23.1.2002) bis zum 30.3.2004 die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG noch ohne eine normative Vorrangregelung. Die Abgrenzung des gemeinschaftsrechtlichen Arzneimittelbegriffs gegenüber den Konkurrenzbegriffen bedurfte mithin richterlicher Auslegung. Eine solche ständige Rechtsprechung des EuGH liegt vor, die von den Jahren 1991 bis 2005 reicht und damit den Entscheidungszeitraum (Januar 2002 bis Februar 2006) erfasst. Dies ist jetzt darzulegen.

Der Grundgedanke dieser Rechtsprechung ist einfach. Er besteht darin, dass das strengere Arzneimittelrecht wegen der besonderen Gefahren Anwendungsvorrang vor weniger strengem Recht anderer Gebiete besitzt. Erstmals hat der EuGH diesen Gedanken im Urteil Delattre vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 21, zur Abgrenzung von Arzneimitteln gegenüber seinerzeit Kosmetika (Schlankheitsmitteln) geäußert. Zur Begründung hat er (Rz. 21) ausgeführt:

Diese Schlussfolgerung ist im Übrigen die Einzige, die dem mit beiden Richtlinien verfolgten Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit entspricht, da die rechtliche Regelung für Arzneispezialitäten in Anbetracht der besonderen Gefahren, die diese Erzeugnisse für die öffentliche Gesundheit mit sich bringen können und die im Allgemeinen von kosmetischen Mitteln nicht ausgehen, strenger ist als die für kosmetische Mittel.

Im nachfolgenden Jahr 1992 hat der EuGH in seinem Urteil Ter Voort vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 19, diese „Strenge-Regel“ auf die hier einschlägige Abgrenzung von Arzneimittelrecht gegenüber Lebensmittelrecht übertragen. Zur Begründung hat er ausgeführt (Rz. 19), ein Produkt sei selbst dann als Arzneimittel anzusehen und der entsprechenden Regelung zu unterwerfen, wenn es in den Anwendungsbereich einer anderen weniger strengen Gemeinschaftsregelung falle.

Sodann hat der EuGH aktuell in seinem Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 43, nochmals seine Rechtsprechung bestätigt, dass die für Arzneimittel geltenden Bestimmungen auf ein Erzeugnis anzuwenden sind, das sowohl die Voraussetzungen eines Lebensmittels als auch eines Arzneimittels erfülle. Zur Begründung hat er sich (Rz. 43) ausdrücklich auf sein Ter Voort-Urteil C – 219/91 – berufen, dort insbesondere auf die Rz. 19 verwiesen und damit wie dargelegt den Grundsatz, dass ein Produkt auch dann als Arzneimittel anzusehen ist, wenn es dem Anwendungsbereich einer weniger strengen Regelung unterfällt. Zwischen 1991 und jetzt hat der EuGH mithin in ständiger Rechtsprechung die „Strenge-Regel“ seiner Abgrenzung zwischen Arzneimittelrecht und weniger strengem Recht zugrunde gelegt.

Die dargelegte normative Vorrangregel der Richtlinie 2004/27/EG entspricht mithin inhaltlich der ständigen Rechtsprechung des EuGH. Dementsprechend hat sich der EuGH in seinem Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 - sowohl vergangenheitsbezogen auf seine ständige bisherige Rechtsprechung (Rz. 43) als auch zukunftsbezogen auf die neue Richtlinie 2004/27/EG (Rz. 44) berufen. Das Ergebnis der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist mithin der Vorrang des Arzneimittelrechts bei der Abgrenzung gegenüber dem Lebensmittelrecht. Dies steht für den Zeitraum von 1992 bis jetzt fest. Bezogen auf den hier entscheidungserheblichen Zeitraum vom 25.1.2002 (Bekanntgabe des Dauerverwaltungsakts vom 23.1.2002) bis jetzt (Februar 2006) ist die Abgrenzungsfrage auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts mithin immer gleich zu beantworten. Maßgebend für die rechtliche Behandlung ist das strengere Arzneimittelrecht gegenüber dem weniger strengen Lebensmittelrecht.

Für die vorsorglich vorzunehmende Abgrenzungsprüfung nach dem deutschen Recht sind andere Zeitabschnitte zu bilden. Unproblematisch ist der bereits behandelte aktuelle Zeitabschnitt ab dem 7.9.2005. Ab diesem Zeitpunkt verweist wie dargelegt § 2 II LFGB in der Fassung vom 1.9.2005 (BGBl. I S. 2618) für die Lebensmitteldefinition ausdrücklich auf Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002, und damit auch auf die in Artikel 2 Abs. 3 der gemeinschaftsrechtlichen Verordnung vorgenommene Abgrenzung zu Lebensmitteln, für die die EuGH-Rechtsprechung maßgebend ist. Die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts für die Abgrenzung ist vom deutschen Gesetzgeber sichergestellt, da auch § 2 III Nr. 1 AMG für die Abgrenzung auf die Lebensmitteldefinition verweist mit der Konsequenz, dass nach der ausdrücklichen Anordnung des deutschen Gesetzgebers für die Abgrenzung der beiden Rechtsgebiete einheitlich das Gemeinschaftsrecht gilt.

Für den vorausgehenden Zeitabschnitt vom 21.2.2002 bis zum 6.9.2005 hat der deutsche Gesetzgeber zwar nicht ausdrücklich für Rechtsklarheit gesorgt. Die Rechtsklarheit ergibt sich aber aus dem gemeinschaftlichen Verordnungsrecht. Die gemeinschaftsrechtliche Abgrenzung von Lebensmitteln und Arzneimitteln in Artikel 2 der Lebensmittelverordnung galt bereits in diesem Zeitabschnitt. Die Lebensmittelverordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28.1.2002 trat nach Artikel 65 am 21.2.2002 in Kraft. Sie ist nach Artikel 65 in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Anders als bei Richtlinien bedarf es keines zweistufigen Rechtsetzungsverfahrens, vielmehr gilt die Verordnung unmittelbar in jedem Mitgliedstaat ohne Transformation.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 249 EGV, Rdnrn. 6 und 8.

Der deutsche Gesetzgeber hatte aber in diesem Zeitraum der verbindlichen Regelung noch nicht formell Rechnung getragen. Vielmehr war in § 1 LMBG in der Fassung vom 9.9.1997 (BGBl. I S. 2296), gültig vom 1.8.1997 bis 6.9.2005, eine formell abweichende Regelung bestimmt. Produkte waren nach § 1 I LMBG nur dann keine Lebensmitteln, wenn sie überwiegend zu anderen Zwecken als dem der Ernährung oder des Genusses bestimmt waren. Das ältere deutsche Recht legte die Auslegung nahe, dass ein Lebensmittel auch dann vorlag, wenn sich kein überwiegender Verwendungszweck feststellen ließ.

So noch die Kommentierung von Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Stand März 2005, § 1 LMBG Rdnr. 35 und die ältere BGH-Rechtsprechung: BGH, Urteil vom 6.2.1976 – I ZR 125/74 -.

Die deutsche Regelung ließ sich mithin in nahe liegender Auslegung als Vorrang des weniger strengen Lebensmittelrechts vor dem strengeren Arzneimittelrecht verstehen.

Bei diesem Ergebnis kann es aber nicht verbleiben. Das Gemeinschaftsrecht hat grundsätzlich Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 10 EGV Rdnr. 31.

Gerichte und Behörden haben den Vorrang des Gemeinschaftsrechts ohne weiteres zu beachten, und innerstaatliche Vorlageverfahren etwa an ein Verfassungsgericht müssen außer Betracht bleiben.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 10 EGV Rdnr. 31.

Mithin musste die inhaltlich anders gefasste Abgrenzung des deutschen Rechts zwischen Arzneimitteln und Lebensmitteln gegenüber der bindenden europäischen Verordnung außer Betracht bleiben. Vielmehr galt nach der bereits dargelegten Rechtsprechung des EuGH die „Strenge-Regel“, wonach für die Produktbehandlung das strengere Arzneimittelrecht vor weniger strengem Recht in der Anwendung Vorrang hat. Auch für diesen Zeitabschnitt verbleibt es mithin bei dem gefundenen Ergebnis.

In einem vorausgehenden kurzen Zeitabschnitt des Dauerverwaltungsakts knapp einen Monat zwischen seiner Bekanntgabe am 25.1.2002 bis zum 20.2.2002 galt auf der Gemeinschaftsrechtsebene allerdings noch nicht die Lebensmittelverordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28.1.2002, in Kraft ab 21.2.2002. Der Anwendungsvorrang der gemeinschaftsrechtlichen Lebensmittelverordnung muss mithin für diesen kurzen Zeitabschnitt außer Betracht bleiben.

Auch für diese Zeit blieb der Vorrang des Arzneimittelrechts unverändert. Maßgebend ist hier nicht der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts, sondern der Grundsatz der europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts.

Im Zeitraum Januar/Februar 2002 stellte sich die Vorrangfrage vom Arzneimittelrecht her, das im Gegensatz zum seinerzeitigen Lebensmittelrecht schon gemeinschaftsrechtlich normiert war. Wie bereits dargelegt war das gemeinschaftliche Arzneimittelrecht bereits seit 1965 fortlaufend durch Richtlinien kodifiziert, die in nationales Recht umzusetzen waren.

Arzneispezialitätenrichtlinie 65/65/EWG vom 26.1.1965, sodann als Nachfolgerichtlinie die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG sowie deren Änderungsrichtlinie 2004/27/EG.

Das deutsche Arzneimittelgesetz war also bereits in der in diesem Zeitabschnitt (Januar/Februar 2002) maßgebenden Fassung des Änderungsgesetzes vom 13.12.2001 (BGBl. I S. 3586) Umsetzung des europäischen Richtlinienrechts. Zur Abgrenzung von Arzneimitteln und Lebensmitteln verwies § 2 III Nr. 1 AMG 2001 auf § 1 LMBG und damit die bereits dargelegte Regelung, wonach nur eine überwiegende Bestimmung zu anderen Zwecken als dem der Ernährung oder des Genusses maßgebend ist. Auch unabhängig von der Direktwirkung von Richtlinien zu Gunsten Einzelner, vgl. EuGH, Urteil vom 26.9.2000 – C- 443/98 -, Rz. 50; Urteil vom 4.12.1997 – C – 97/96 -, NJW 1998, 129, ist umgesetztes nationales Recht nach der EuGH-Rechtsprechung so auszulegen, dass das mit der Richtlinie verfolgte Ziel erreicht werden kann. EuGH, Urteil vom 11.7.2002 – C – 62/00 -, Rz. 41.

Eine solche europarechtskonforme Auslegung des § 1 LMBG 1997 ist aber möglich und deshalb auch geboten. Zwar ist die Auslegung nahe liegend, dass die überwiegende Zweckbestimmung rein faktisch im Sinne der allgemeinen Verkehrsauffassung zu verstehen ist.

So Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Stand März 2005, § 1 LMBG Rdnr. 34.

Zwingend ist diese Auslegung aber nicht. Die überwiegende Zweckbestimmung kann statt faktisch auch normativ verstanden werden. Die überwiegende Zweckbestimmung ergibt sich dann normativ nach dem strengeren Recht; das strengere Recht prägt die Zweckbestimmung. Das Ziel der einschlägigen Arzneimittelrichtlinie ist nach der Rechtsprechung des EuGH gerade der Schutz vor den besonderen Gefahren, die Arzneimittel mit sich bringen.

EuGH, Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 21, und Ter Voort-Urteil vom 28.10.1992 – C – 219/91 -, Rz. 19.

Das umgesetzte deutsche Arzneimittelrecht ist mithin europarechtskonform so auszulegen, dass das dargelegte Ziel der Arzneimittelrichtlinie mit Blick auf den Vorrang des strengeren Rechts erreicht wird. Mithin ist die deutsche Abgrenzungsregelung in den §§ 2 AMG 2001 und 1 LMBG 1997 europarechtskonform auch in dem hier interessierenden Zeitabschnitt vom 25.1.2002 bis zum 20.2.2002 im Sinne einer normativen überwiegenden Zweckbestimmung durch das strengere Arzneimittelrecht auszulegen. Dieser Gesichtspunkt gilt im Übrigen auch für die nachfolgende Zeit, für die aber der Anwendungsvorrang der gemeinschaftsrechtlichen Lebensmittelverordnung hinzukommt.

Mithin ist die Geltung der europäischen Arzneimittelabgrenzung für den gesamten in Anspruch genommenen Zeitraum des angegriffenen Dauerverwaltungsakts seit 25.1.2002 bis jetzt zu beachten.

Für den Zeitraum des Dauerverwaltungsakts ist nach dem Ergebnis der Prüfung des europäischen und des deutschen Rechts einheitlich von dem Vorrang des Arzneimittelrechts gegenüber dem Lebensmittelrecht bei der Produktbehandlung auszugehen.

Die von der Klägerin gegen den Vorrang vorgebrachten Gründe überzeugen nicht.

Soweit die Klägerin eine vollständige Subsumierung als Voraussetzung der Vorrangregelung ansieht, hat der Senat sie vorgenommen.

Soweit die Klägerin meint, für Nahrungsergänzungsmittel gelte eine günstigere Behandlung, trifft dies nicht zu. Sie hat zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass nach der neuen Rechtsprechung des EuGH auf dem Gebiet der Nahrungsergänzungsmittel die Richtlinie 2002/46 eine gewisse Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften vorgenommen hat.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 70.

Nahrungsergänzungsmittel, die den Vorschriften dieser Richtlinie entsprechen, dürfen in der Gemeinschaft grundsätzlich frei in den Verkehr gebracht werden.

EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C- 211/03 -, Rz. 71.

Die der Klägerin günstige Folge tritt aber nur ein, wenn die Voraussetzungen der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie überhaupt erfüllt sind. Dies ist aber nicht der Fall, weil die Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG ausdrücklich nicht für Arzneimittel gilt (Artikel 1 Abs. 2 der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie) und darüber hinaus Nahrungsergänzungsmittel nach Artikel 2 der Richtlinie 2002/46/EG bereits Lebensmittel sein müssen, mithin auch für Nahrungsergänzungsmittel die allgemeine Abgrenzungsvorschrift von Artikel 2 der Lebensmittelverordnung (EG) Nr. 178/2002 gilt. Dementsprechend führt der EuGH wie dargelegt in seinem Lactobact-Urteil (Rz. 41 und 42) eine synchrone Abgrenzung zwischen Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln einerseits und Arzneimitteln andererseits durch. Für eine anderweitige Abgrenzung mit einer günstigeren Behandlung von Nahrungsergänzungsmitteln ist mithin aus Gründen des Gemeinschaftsrechts kein Raum.

Weiterhin beruft sich die Klägerin zu ihren Gunsten auf eine spezielle deutsche Liberalisierungsvorschrift für die Einfuhr von Lebensmitteln aus EU-Staaten im deutschen Lebensmittelrecht. Ausgehend zunächst von dem neuesten Rechtsstand der Einfuhrliberalisierung begünstigt § 54 LFGB mit Geltung ab dem 7.9.2005 Lebensmittelimporte aus anderen EU-Staaten. Danach dürfen Lebensmittel, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände, die entweder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union hergestellt oder rechtmäßig in den Verkehr gebracht werden oder aus einem Drittstaat stammen und sich in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union rechtmäßig im Verkehr befinden, auch dann in das Inland verbracht und in Verkehr gebracht werden, wenn sie den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Vorschriften für Lebensmittel, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände nicht entsprechen. Eine Ausnahme von der Liberalisierung besteht insbesondere dann, wenn gemäß § 54 I LFGB in Verbindung mit § 54 II zwingende Gründe des Gesundheitsschutzes entgegenstehen, über die durch Allgemeinverfügungen entschieden wird. Die verbleibenden Unterschiede des nationalen Lebensmittelrechts der Mitgliedstaaten stehen mithin dem Import eines Lebensmittels grundsätzlich nicht entgegen.

Diese Liberalisierungsregelung trifft aber nach dem geltenden Recht ausdrücklich nur für Lebensmittel, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände zu, von vorneherein nicht für Arzneimittel. Das ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut des § 54 LFGB und aus dem systematischen Zusammenhang innerhalb der Gesamtregelung des Lebensmittelrechts, nicht des Arzneimittelrechts.

Nichts anderes gilt innerhalb der Zeitdauer des Dauerverwaltungsakts für die im Wesentlichen inhaltsgleiche Vorgängerreglung des § 47 a LMBG in den insoweit übereinstimmenden vorausgehenden Fassungen vom 29.10.2001 (BGBl. I S. 2785) sowie vom 6.8.2002 (BGBl. I S. 3082). Die Liberalisierung von Importen aus anderen Mitgliedstaaten bezieht sich nach dem übereinstimmenden Wortlaut auf „Erzeugnisse im Sinne dieses Gesetzes“. Maßgebend ist also die deutsche Einordnung des Produkts. Durch eine Klammerdefinition ist in § 35 LMBG klargestellt, dass Erzeugnisse im Sinne dieses Gesetzes Lebensmittel, Zusatzstoffe, mit Lebensmittel verwechselbare Erzeugnisse, Tabakerzeugnisse, kosmetische Mittel und Bedarfsgegenstände sind. Arzneimittel gehören nicht dazu. Die Klägerin kommt nur insofern zu einem anderen Ergebnis, als sie behauptet, ihr Nahrungsergänzungsmittel könne mit einem Arzneimittel verwechselt werden. Insoweit stellt aber § 8 LMBG klar, dass die Ausdehnung des Lebensmittelrechts auf verwechselbare Erzeugnisse gerade nicht für zulassungspflichtige Arzneimittel gilt.

Zur generellen einschlägigen Zulassungspflicht von Fertigarzneimitteln § 21 AMG mit hier nicht gegebenen Ausnahmen insbesondere einer gemeinschaftsrechtlichen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 und einer Anwendung zur klinischen Prüfung.

Die Vorschrift zielt erkennbar darauf ab, dass die Zulassungspflicht von Arzneimitteln als Marktschranke nicht etwa in dem ungünstigen Fall, dass importierte Arzneimittel verwechslungsfähig aufgemacht sind, entfällt. Dies wäre auch offensichtlich gefahrenbezogen sachwidrig. Nach den dargelegten Vorschriften gilt die Liberalisierung nach Wortlaut und Sinn nicht für Arzneimittel, und zwar insbesondere auch nicht für mit Lebensmitteln verwechslungsfähig aufgemachte Arzneimittel.

Das Gemeinschaftsrecht bietet sowohl nach den in Betracht kommenden Normen als auch nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH keinen Anlass zu einer weiter gehenden Auslegung dieser lebensmittelrechtlichen Liberalisierungsregelung.

Wie dargelegt fällt ein Lebensmittel zwar grundsätzlich unter den freien Handelsverkehr der Mitgliedstaaten (Artikel 28 EGV). Anderes gilt für Arzneimittel, denn Ausnahmen vom Grundsatz der Handelsfreiheit bestehen nach Artikel 30 EGV insbesondere zum Gesundheitsschutz, worunter das Arzneimittelrecht fällt.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Artikel 30 Rdnr. 8.

Nach Artikel 6 I der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG bedarf ein Arzneimittel grundsätzlich abgesehen von dem hier nicht einschlägigen Fall einer unmittelbaren europäischen Verkehrsgenehmigung nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 vom 22.7.1993 in jedem Mitgliedstaat einzeln einer Zulassung. Diese Rechtslage nach dem Gemeinschaftsrecht führt allerdings dazu, dass ein Produkt im Exportstaat (hier Österreich) als Lebensmittel und im Importstaat (hier Deutschland) als Arzneimittel eingeordnet werden kann. Gerade diese Divergenz ist nach der ständigen bis heute geltenden Rechtsprechung des EuGH mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar.

EuGH, Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, Rz. 27; EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 – Rz. 52 und 53, betreffend Vitaminpräparate; EuGH, Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 56.

In seinem Lactobact-Urteil (Rz. 56) hat der EuGH seine ständige Rechtsprechung wie folgt zusammengefasst:

Dass ein Erzeugnis in einem anderen Mitgliedstaat als Lebensmittel eingestuft ist, hindert somit nicht daran, ihm im Einfuhrmitgliedstaat die Eigenschaft eines Arzneimittels zuzuerkennen, wenn es die entsprechenden Merkmale aufweist.

Die Tatsache, dass das Produkt der Klägerin in Österreich rechtmäßig als Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel im Verkehr ist, führt mithin nicht zu einer Bindung des Einfuhrstaates an österreichisches Recht. Dem nach dem Gemeinschaftsrecht bestehenden Vorrang des strengeren Arzneimittelrechts vor dem weniger strengen Lebensmittelrecht muss in Deutschland selbstständig, ohne Bindung an die Rechtsauffassung in Österreich, Geltung verschafft werden.

Nach allem führt die deutsche Liberalisierungsregelung nicht zur Anerkennung der österreichischen Produkteinordnung und ist deshalb nicht entscheidungserheblich.

Im Folgenden hat der Senat noch die beiden von den Beteiligten vorgelegten europäischen Verwaltungsakte zu würdigen, die eine Einstufung von Weihrauchextrakt in demselben Jahr – 2002 – als Arzneimittel beziehungsweise als Lebensmittel betreffen.

Zusammengefasst sind beide Verwaltungsakte nicht unmittelbar einschlägig für den vorliegenden Verwaltungsrechtsstreit über ein Marktverbot und geben keinen Anlass, von der vom EuGH aufgestellten „Strenge-Regel“ abzuweichen.

Der Beklagte hat einen Bescheid der Europäischen Kommission vom 21.10.2002 vorgelegt, den die EMEA, die Europäische Agentur für Arzneimittel, am 11.12.2002 veröffentlicht hat (Berufungsakte 3 R 7/05, Blatt 69 R). Der Beklagte hat dazu vorgetragen, der Weihrauchextrakt aus Boswellia serrata habe damit den Orphan-drug-Status erhalten (Berufungsakte Blatt 66). Mit dieser Bezeichnung hat es Folgendes auf sich. Die in dem Bescheid der EG-Kommission auch genannte Rechtsgrundlage ist die Verordnung (EG) Nr. 141/2000 vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden. Sinn und Regelungszusammenhang der Verordnung sind in dem Erwägungsgrund 1 zusammengefasst. Danach treten bestimmte Leiden EU-weit so selten auf, dass die Entwicklungskosten von Arzneimitteln durch den zu erwartenden Umsatz nicht mehr gedeckt werden. Die pharmazeutische Industrie wäre in diesen Fällen nicht bereit, das Arzneimittel unter normalen Marktbedingungen zu entwickeln. Diese Arzneimittel werden im englischen Sprachraum als „Orphan medicinal products“, das heißt als Waisenkinder unter den Arzneimitteln bezeichnet. Vor diesem Hintergrund bezweckt die Verordnung nach dem Erwägungsgrund 4, durch die Einführung eines Gemeinschaftsverfahrens potenzielle Arzneimittel als Arzneimittel für seltene Leiden auszuweisen. Die Förderung erfolgt durch Forschungshilfe bei der Entwicklung (Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung) und durch ein späteres Marktexklusivitätsrecht (Artikel 8 der Verordnung). Der Antrag auf Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden kann grundsätzlich in jedem Entwicklungsstadium des Arzneimittels gestellt werden, indessen nur vor dem Antrag auf Verkehrsgenehmigung (Artikel 5 Absatz 1 der Verordnung). Zusammengefasst bedeutet der Bescheid mithin eine Ausweisung von Weihrauchextrakt als Forschungsarzneimittel für die Behandlung der seltenen Krankheit der Gehirnödeme bei Gehirntumor; eine Verkehrsgenehmigung als Arzneimittel bedeutet der Bescheid nicht, wie im letzten Absatz ausdrücklich hervorgehoben ist. Der Bescheid betrifft also keine Marktzulassung.

Der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden liegt nach Artikel 2 a der Humanarzneimittelbegriff nach der Richtlinie 65/65/EWG zugrunde, wobei diese Bezugnahme nunmehr durch eine Bezugnahme auf die Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG ersetzt ist (Artikel 128 der Humanarzneimittelrichtlinie). Da die Ödembehandlung bei Tumoren nach den dem Senat vorliegenden wissenschaftlichen Unterlagen ausschließlich den hoch dosierten Bereich von Weihrauchextrakt betrifft,

Safayhi-Ammon, Seite 7; Gutachten Bertram, Seite 3; Bertsche/Schulz, Seite 2

steht damit in diesem Bereich gemeinschaftsrechtlich die Einordnung als Arzneimittel fest.

Zwingend ist dies für die hier maßgebende niedrige Dosis von Weihrauch nicht. Einen Doppelcharakter nach der Dosis hat der EuGH bei Vitaminen anerkannt, die in ganz geringer Menge für die tägliche Ernährung unbedingt erforderlich sind, in starken Dosen aber zu therapeutischen Zwecken bei bestimmten Krankheiten verwendet werden.

EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – C – 387/99 -, Rz. 56.

Deshalb bedeutet die im Jahr 2002 erfolgte Ausweisung von indischem Weihrauchextrakt als Forschungsarzneimittel für seltene Krankheiten ein - nicht zwingendes - Indiz für die gemeinschaftsrechtliche Einstufung von Weihrauchextrakt insgesamt als Arzneimittel. Der Gegenschluss der Klägerin, die angestrebte Marktzulassung sei bereits gescheitert, überzeugt nicht, da die Zulassungsreife einschließlich Standardisierung eines Stoffgemischs schwer erreichbar und langwierig sein kann.

Ebenso wie der Beklagte hat die Klägerin im Rechtsstreit einen Verwaltungsakt der Europäischen Gemeinschaft vorgelegt, den sie zu ihren Gunsten verwerten will (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 75). Dabei handelt es sich um die verbindliche Zolltarifauskunft vom 16.9.2002. Der Bescheid ist im Namen der Europäischen Gemeinschaft erlassen, die erteilende Zollbehörde ist das Bundesministerium für Finanzen in Wien. Als Berechtigter ist angegeben die österreichische Firma G.. Gegenstand des Bescheides ist das namensidentische Produkt der Klägerin. Inhaltlich betrifft der Bescheid die Einreihung in die Zollnomenklatur als Lebensmittel und zur Begründung ist angegeben, aufgrund des Fehlens einer Ankündigung zur Verwendung bei spezifischen Krankheiten, Leiden oder deren Symptome, sowie der exakten Dosierungsvorschrift, liege keine näher gekennzeichnete Arzneiware vor.

Die Klägerin hat aus dieser verbindlichen Zolltarifauskunft von Anfang an den Schluss gezogen,

Schriftsatz vom 7.10.2002, VG-Akte Bl. 78

das streitige Produkt dürfe in der gesamten Europäischen Union aufgrund der verbindlichen Zolltarifauskunft als Lebensmittel in den Verkehr gebracht werden. Die Verkehrsfähigkeit des von ihr vertriebenen Produktes in Deutschland ergebe sich damit schon aus der amtlichen Bestätigung der Europäischen Union. Zur Bekräftigung ihres Vortrags hat sie erstinstanzlich zwei verschiedene Vorlageanträge an den EuGH angeregt (Akte des Verwaltungsgerichts Bl. 91 und Bl. 133), die jeweils die Auswirkungen der verbindlichen Zolltarifauskunft auf die Zulässigkeit der Vermarktung betreffen. Zweitinstanzlich hat sie ausweislich des Protokolls eine entsprechende Vorlage an den EuGH hilfsweise angeregt.

Das Begehren der Klägerin entspricht offenkundig nicht dem Gemeinschaftsrecht, das eine Auslegung im Sinne der Klägerin nicht zulässt. Es entspricht auch nicht der dargelegten Rechtsprechung des EuGH zur selbstständigen Sachverhaltsbeurteilung der nationalen Behörden und Gerichte im Vermarktungsstreit.

Dafür ist zunächst auf die Rechtsgrundlage der verbindlichen Zolltarifauskunft einzugehen. Wie im Bescheid auch ausdrücklich angegeben, beruht die Zolltarifauskunft auf Art. 12 der – insoweit nicht geänderten - Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 vom 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften – Zollkodexverordnung -. Nach dem Erwägungsgrund 1 geht es bei der Verordnung um die Kodifizierung der bisherigen Zollvorschriften der Gemeinschaft als Zollunion. Betroffen von dem Zollrecht ist nach Art. 1 der Verordnung der Warenverkehr zwischen der Gemeinschaft und Drittländern. Nach Art. 2 gilt das gemeinschaftliche Zollrecht einheitlich im gesamten Zollgebiet der Gemeinschaft. Richtig ist damit der Standpunkt der Klägerin, dass die Zollverwaltungsakte die gesamte Gemeinschaft betreffen. Sodann werden nach Art. 12 Abs. 1 der Zollkodexverordnung auf schriftlichen Antrag von den Zollbehörden verbindliche Zolltarifauskünfte erteilt. Verbindliche Zolltarifauskünfte sind nach der Definitionsvorschrift des Art. 4 Nr. 5 der Zollkodexverordnung hoheitliche Maßnahmen auf dem Gebiet des Zollrechts.

Die Klägerin begehrt eine Vorlage des Sachverhalts zur Entscheidung an den EuGH. Sie hält es nach ihrem Rechtsstandpunkt für eine klärungsbedürftige Auslegungsfrage, wie weit die Verbindlichkeit der Zolltarifauskunft reicht. Sie meint, die Verbindlichkeit betreffe nicht nur den Zolltarif, sondern auch die anschließende Vermarktung. In Wirklichkeit ist aber die Verbindlichkeitsfrage in Art. 12 Abs. 2 der Zollkodexverordnung ohne Auslegungsspielraum wie folgt geregelt:

Die verbindliche Zolltarifauskunft bindet die Zollbehörden gegenüber dem Berechtigten nur hinsichtlich der zolltariflichen Einreihung der Waren.

Das Wort „nur“ lässt keinen Auslegungsspielraum dahingehend zu, die Bindungswirkung erstrecke sich über die zolltarifliche Einreihung der Waren hinaus auch auf die anschließende Vermarktung und die Anwendung des Gesundheitsrechts. Ist mithin die Einschränkung der Verbindlichkeit auf das Zollrecht derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, scheidet eine Vorlagepflicht an den EuGH nach Art. 234 EGV selbst nach den Maßstäben für ein letztinstanzliches Gericht – die hier nicht erfüllt sind – aus.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Art. 234 EGV Rdnr. 16.

Im Übrigen hat das nationale Gericht über die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlagefrage selbst zu befinden.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Art. 234 EGV Rdnr. 12.

Darüber hinaus hat das nationale Gericht über die Vorlage von Amts wegen, unabhängig von der Auffassung der Beteiligten zu entscheiden.

Geiger, EUV/EGV, 4. Auflage 2004, Art. 234 Rdnr. 11.

Entsprechende Anträge der Beteiligten bedeuten prozessual mithin nur die Anregung zu einer Vorlageentscheidung.

Von Amts wegen scheidet eine Vorlage schon deshalb aus, weil Art. 12 Abs. 2 der Zollkodexverordnung auch unabhängig von dem streitigen objektiven Anwendungsbereich auch nach den subjektiven Merkmalen nicht entscheidungserheblich ist.

Vorliegend sind die subjektiven Voraussetzungen der Verbindlichkeitsbestimmung des Art. 12 Abs. 2 der Zollkodexverordnung nicht gegeben. Die verbindliche Zolltarifauskunft bindet nach der Verordnung nur die Zollbehörden gegenüber dem Berechtigten. Zollbehörde ist nach Art. 4 Nr. 3 der Zollkodexverordnung eine für die Anwendung des Zollrechts zuständige Behörde. Der Beklagte als oberste Gesundheitsbehörde ist ebenso wenig eine Zollbehörde im Sinne der Gemeinschaftsvorschrift wie die Klägerin Berechtigte des Bescheides ist, da in dem Bescheid als Berechtigte ausdrücklich die österreichische Firma G. genannt ist. Mithin verbleibt es dabei, dass die Vorschrift des Art. 12 II der Zollkodexverordnung auf den vorliegenden Fall zweifelsfrei subjektiv nicht anwendbar ist.

Unabhängig von der normativen Rechtslage entspricht es auch nicht der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH zu gesundheitsbezogenen Marktverboten gegenüber importierten Produkten, dass das Gesundheitsrecht bindend an das Zollrecht gekoppelt wird. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH haben die nationalen Behörden und zu deren Kontrolle die nationalen Gerichte bei der Frage der rechtlichen Zulässigkeit der Vermarktung in ihrem Staat auch bei importierten Erzeugnissen selbst die Qualifizierungszuständigkeit für den Einzelfall, ob ein Erzeugnis als Arzneimittel oder als Lebensmittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts einzustufen ist.

EuGH Lactobact-Urteil vom 9.6.2005 – C – 211/03 -, Rz. 30 für die Zuständigkeit der nationalen Behörden und Rz. 97 für die Zuständigkeit des nationalen Gerichts; ebenso schon EuGH, Ter-Voort-Urteil vom 28.10.1992 – C – 219/91 – betreffend die Zulässigkeit der Vermarktung von Kräutertee aus Südamerika, dort zur fallbezogenen Einstufungszuständigkeit der nationalen Gerichte Rz. 32; EuGH Delattre-Urteil vom 21.3.1991 – C – 369/88 -, dort Rz. 35 zur Einstufungszuständigkeit der nationalen Behörden unter Kontrolle der nationalen Gerichte.

In einem entschiedenen Fall – dem Ter-Voort-Urteil des EuGH von 1992 – betraf die Einstufung die Vermarktung von aus Südamerika eingeführten Produkten. Nach der seinerzeit schon bestehenden Zollunion unterlagen diese Produkte einer Außenzollerhebung und damit einer Zolltarifeinordnung. Die seinerzeitige Vorlagefrage (Rz. 13), ob ein Erzeugnis, das im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird, als Arzneimittel eingestuft werden kann, hätte vom Rechtsstandpunkt der Klägerin damit beantwortet werden müssen, dass die Antwort aus dem Zollrecht folge. Stattdessen lautet die Antwort des EuGH (Rz. 21), dass ein Arzneimittel selbst dann vorliegen kann, wenn es im Allgemeinen als Lebensmittel angesehen wird, und (Rz. 32) es Sache der nationalen Gerichte ist, unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Falles die Einordnung vorzunehmen. Auch der Grundgedanke in dem Ter-Voort-Urteil des EuGH, dass (Rz. 19) im Gesundheitsrecht die strengere Gemeinschaftsregelung anzuwenden ist, verträgt sich nicht damit, dass die der Einnahmeerzielung dienende Zolltarifregelung stattdessen einschlägig sein soll. Damit könnten die Gesundheitsgefahren nicht hinlänglich berücksichtigt werden. Mithin scheidet eine Vorlage an den EuGH auch deshalb aus, weil die Rechtsansicht der Klägerin zur Bindung der Vermarktung an das Zollrecht der vorliegenden Rechtsprechung des EuGH widerspricht.

Der Bescheid ist für den vorliegenden Vermarktungsprozess offensichtlich rechtsunerheblich.

Unabhängig von der fehlenden Bindungswirkung kann auch die Begründung der Zolltarifauskunft für den vorliegenden Fall nicht fruchtbar gemacht werden. Begründet ist die Ablehnung einer Arzneiware mit dem Gesichtspunkt des Fehlens einer Ankündigung zur Verwendung bei spezifischen Krankheiten und einer entsprechenden exakten krankheitsbezogenen Dosierungsvorschrift. Mit dieser Überlegung lässt sich aber allein ein Präsentationsarzneimittel ausschließen, was ohnedies unstreitig ist. Dagegen enthält die Begründung keinerlei Gesichtspunkte zu einem Funktionsarzneimittel, da die pharmakologische Wirkung von vornherein nicht behandelt wird. Für den Hauptstreit der Beteiligten über das Vorliegen eines Funktionsarzneimittels lässt sich aus der Begründung des Bescheides nichts gewinnen.

Nach dem Prüfungsergebnis des Senats haben die von den Beteiligten vorgelegten Bescheide nach dem Gemeinschaftsrecht für den vorliegenden Fall keine Bindungswirkung und führen zu keinem anderen Ergebnis.

Mithin hat es bei einer selbstständigen sachverhaltsbezogenen Einstufung des Produkts der Klägerin für die Vermarktung durch die nationalen Behörden und die nationalen Gerichte ohne Vorlagepflicht an den EuGH zu verbleiben.

Nach allem ist der Senat davon überzeugt, dass das Produkt der Klägerin ein Funktionsarzneimittel ist und damit dem strengen Zulassungsrecht für Fertigarzneimittel unterliegt. Der Klägerin ist zwar Recht zu geben, dass in dieser Rechtsanwendung ein Hemmnis für den freien Warenverkehr liegt. Das Produkt muss also nach der plastischen Formulierung der Klägerin durch das „Nadelöhr“ des Arzneimittelrechts. Der Grund dafür liegt aber letztlich in der eindeutigen Weichenstellung des EuGH zu Gunsten des strengeren Gesundheitsrechts. Der EuGH hat dem nunmehr im Gemeinschaftsrecht kodifizierten Gedanken Bedeutung beigemessen, dass die besonderen Gesundheitsgefahren gerade von Arzneimitteln im Zweifel die Anwendung des strengeren Gesundheitsrechts gegenüber dem weniger strengen Lebensmittelrecht erfordern. Diese Gefahrabwägung führt letztlich zu dem Ergebnis, dass hier wegen der festgestellten – negativen - pharmakologischen Wirkung des Produkts in der empfohlenen niedrigen Dosis ein Funktionsarzneimittel vorliegt.

Die Prüfung des Senats führt mithin zu dem Gesamtergebnis, dass gemeinschaftsrechtlich und nach deutschem Recht für die gesamte Geltungszeit des Dauerverwaltungsakts vom 23.1.2002 rechtlich maßgebend ein Funktionsarzneimittel vorliegt, das als Fertigarzneimittel für den Verbraucher gemäß § 21 AMG einer Zulassung bedarf, die aber unstreitig weder nach Gemeinschaftsrecht noch nach deutschem Recht vorhanden ist.

Damit liegt aber zur Überzeugung des Senats der Untersagungstatbestand des § 69 I Nr. 1 AMG in den insoweit übereinstimmenden Fassungen vom 11.12.1998 (BGBl. I Bl. 3586), vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 2031), vom 29.8.2005 (BGBl. I S. 2555) sowie der Bekanntmachung vom 12.12.2005 (BGBl. I S. 3394) vor. Die im Gesetz eingeräumte Ermessensausübung ist von der Klägerin nicht problematisiert worden. Ein Ermessensfehler wäre allenfalls dann in Betracht zu ziehen, wenn die für das Arzneimittel erforderliche Zulassung ausschließlich aus formellen Gründen fehlte, materiell aber die therapeutische Wirksamkeit mit vertretbaren Nebenwirkungen bereits feststünde. Schon die nicht geklärte therapeutische Wirksamkeit würde die Ermessensausübung im Sinne einer Untersagung rechtfertigen. Erst recht gilt das hier, da nach den vorliegenden Forschungsergebnissen für niedrig dosierten Weihrauchextrakt zwar keine positiven pharmakologischen Wirkungen, wohl aber negative pharmakologische Wirkungen in Form der Förderung von Entzündungsprozessen wissenschaftlich festgestellt sind. Bei dieser Sachlage ist allein die Untersagung ermessensgerecht.

Nach allem ist der angefochtene Dauerverwaltungsakt vom 23.1.2002 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Mithin ist ihre Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10 ZPO und die Nichtzulassung der Revision auf § 132 II VwGO.

Sonstige Literatur

Rechtsmittelbelehrung

Die Nichtzulassung der Revision kann durch Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht angefochten werden.

Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils bei dem Oberverwaltungsgericht des Saarlandes (Hausadresse: Kaiser-Wilhelm-Straße 15, 66740 Saarlouis/Postanschrift: 66724 Saarlouis) einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründung ist ebenfalls bei dem Oberverwaltungsgericht des Saarlandes (Hausadresse: Kaiser-Wilhelm-Straße 15, 66740 Saarlouis/Postanschrift: 66724 Saarlouis) einzureichen. In der Begründung muss die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts, von der das Urteil abweicht, oder ein Verfahrensmangel, auf dem das Urteil beruhen kann, bezeichnet werden.

Die Einlegung und die Begründung der Beschwerde müssen durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Prozessbevollmächtigten erfolgen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst, Gebietskörperschaften auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt der zuständigen Aufsichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen Spitzenverbandes des Landes, dem sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 40.000,-- Euro festgesetzt.

Gründe

Die streitige Vermarktung des Produkts der Klägerin auf dem deutschen Markt ist bedeutungsangemessen jahresbezogen gemäß den §§ 52 I, 63 II GKG unter Mitberücksichtigung der Nummern 4, 25.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 7./8.7.2004 mit 40.000,-- Euro zu bewerten (vgl. auch die Streitwertfestsetzung im Urteil des OVG Münster vom 10.11.2005 – 13 A 463/03 – ebenfalls auf 40.000,-- Euro für ein vergleichbares Produkt).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Die Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt kann für jeweils längstens drei Jahre erteilt und verlängert werden, in den Fällen des § 25 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5 jedoch für längstens sechs Monate, solange sich der Ausländer noch nicht mindestens 18 Monate rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Asylberechtigten und Ausländern, denen die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes zuerkannt worden ist, wird die Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre erteilt. Subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes wird die Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr erteilt, bei Verlängerung für zwei weitere Jahre. Ausländern, die die Voraussetzungen des § 25 Absatz 3 erfüllen, wird die Aufenthaltserlaubnis für mindestens ein Jahr erteilt. Die Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Absatz 4a Satz 1 und Absatz 4b werden jeweils für ein Jahr, Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Absatz 4a Satz 3 jeweils für zwei Jahre erteilt und verlängert; in begründeten Einzelfällen ist eine längere Geltungsdauer zulässig.

(2) Die Aufenthaltserlaubnis darf nicht verlängert werden, wenn das Ausreisehindernis oder die sonstigen einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gründe entfallen sind.

(3) Einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, ist eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn

1.
er die Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren besitzt, wobei die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens abweichend von § 55 Absatz 3 des Asylgesetzes auf die für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet wird,
2.
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht nach § 73b Absatz 3 des Asylgesetzes mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme vorliegen,
3.
sein Lebensunterhalt überwiegend gesichert ist,
4.
er über hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und
5.
die Voraussetzungen des § 9 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 bis 6, 8 und 9 vorliegen.
§ 9 Absatz 2 Satz 2 bis 6, § 9 Absatz 3 Satz 1 und § 9 Absatz 4 finden entsprechend Anwendung; von der Voraussetzung in Satz 1 Nummer 3 wird auch abgesehen, wenn der Ausländer die Regelaltersgrenze nach § 35 Satz 2 oder § 235 Absatz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch erreicht hat. Abweichend von Satz 1 und 2 ist einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn
1.
er die Aufenthaltserlaubnis seit drei Jahren besitzt, wobei die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens abweichend von § 55 Absatz 3 des Asylgesetzes auf die für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet wird,
2.
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht nach § 73b Absatz 3 des Asylgesetzes mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme vorliegen,
3.
er die deutsche Sprache beherrscht,
4.
sein Lebensunterhalt weit überwiegend gesichert ist und
5.
die Voraussetzungen des § 9 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 bis 6, 8 und 9 vorliegen.
In den Fällen des Satzes 3 finden § 9 Absatz 3 Satz 1 und § 9 Absatz 4 entsprechend Anwendung. Für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, kann § 35 entsprechend angewandt werden. Die Sätze 1 bis 5 gelten auch für einen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4 besitzt, es sei denn, es liegen die Voraussetzungen für eine Rücknahme vor.

(4) Im Übrigen kann einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 6 gilt entsprechend. Die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens wird abweichend von § 55 Abs. 3 des Asylgesetzes auf die Frist angerechnet. Für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, kann § 35 entsprechend angewandt werden.

(1) In Klageverfahren nach dem Asylgesetz beträgt der Gegenstandswert 5 000 Euro, in den Fällen des § 77 Absatz 4 Satz 1 des Asylgesetzes 10 000 Euro, in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes 2 500 Euro. Sind mehrere natürliche Personen an demselben Verfahren beteiligt, erhöht sich der Wert für jede weitere Person in Klageverfahren um 1 000 Euro und in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes um 500 Euro.

(2) Ist der nach Absatz 1 bestimmte Wert nach den besonderen Umständen des Einzelfalls unbillig, kann das Gericht einen höheren oder einen niedrigeren Wert festsetzen.