Bundesverfassungsgericht Stattgebender Kammerbeschluss, 06. Mai 2015 - 1 BvR 2724/14
Gericht
Tenor
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1. Das Urteil des Amtsgerichts Peine vom 26. Juni 2014 - 5 C 132/14 - und der Beschluss des Amtsgerichts Peine vom 8. September 2014 - 5 C 132/14 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 103 Abs. 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Peine zurückverwiesen.
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2. Das Land Niedersachsen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG in einem amtsgerichtlichen Verfahren über einen zahnärztlichen Honoraranspruch in Höhe von 241,09 €.
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1. Nach Klageerhebung der Beschwerdeführerin bestimmte das Amtsgericht frühen ersten Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 19. Juni 2014, 8.40 Uhr, und beschloss zugleich, dass bis zur Entscheidung des Rechtsstreits nach § 495a ZPO verfahren werden solle. Am Morgen des Termins der mündlichen Verhandlung meldete sich um 7.45 Uhr der Unterbevollmächtigte der Beschwerdeführerin telefonisch auf der Geschäftsstelle des Amtsgerichts und teilte mit, dass sein Vater in der Nacht in eine Klinik eingeliefert worden und mit seinem Tod zu rechnen sei, er könne den Termin daher nicht wahrnehmen. Eine Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung erfolgte nicht, vielmehr bestimmte das Amtsgericht nach Beantragung der Klageabweisung durch den Beklagtenvertreter Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 26. Juni 2014.
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Mit streitigem Urteil wies das Amtsgericht im Verkündungstermin die Klage ab. Die Beschwerdeführerin habe mangels Anwesenheit eines Vertreters in der mündlichen Verhandlung nicht verhandelt. Der klägerische Vortrag zur Anspruchsbegründung könne deshalb nur als nicht gehalten beurteilt werden. Die telefonische Verhinderungsmitteilung hielt das Amtsgericht für unerheblich. Mangels vorheriger schriftsätzlicher Legitimation als Unterbevollmächtigter habe es nicht überprüfen können, ob es sich bei dem Anrufer Herrn I. um Rechtsanwalt I. aus H. gehandelt habe. Die Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin blieb ohne Erfolg.
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2. Die Beschwerdeführerin rügt mit ihrer gegen das amtsgerichtliche Urteil und den nachfolgenden Beschluss über die Anhörungsrüge gerichteten Verfassungsbeschwerde eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 103 Abs. 1 GG, weil das Amtsgericht trotz der Verhinderung des Unterbevollmächtigten entschieden und ihr schriftsätzliches Vorbringen unberücksichtigt gelassen habe.
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3. Zu der Verfassungsbeschwerde hatten das Niedersächsische Justizministerium und der Beklagte des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Äußerung. Die Akte des Ausgangsverfahrens lag der Kammer vor.
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II.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des grundrechtsgleichen Rechts der Beschwerdeführerin aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzung des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.
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1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Ungeachtet dessen, ob das Amtsgericht angesichts des Rechts der Beschwerdeführerin auf Äußerung in der mündlichen Verhandlung (vgl. BVerfGE 42, 364 <370>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. April 2012 - 2 BvR 2126/11 -, NJW 2012, S. 2262) und der kurzfristigen Verhinderung ihres Unterbevollmächtigten von Verfassungs wegen zu einer Vertagung nach § 337 ZPO verpflichtet gewesen wäre, hätte das Amtsgericht jedenfalls den Vortrag der Beschwerdeführerin nicht unberücksichtigt lassen dürfen, nachdem es gerade kein Versäumnisurteil mit der Möglichkeit eines Einspruchs der Beschwerdeführerin erlassen hat. Das Verfahren nach billigem Ermessen gemäß § 495a ZPO bietet ebenfalls keine Grundlage, rechtliches Gehör zu verweigern.
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a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör bedeutet, dass das entscheidende Gericht durch die mit dem Verfahren befassten Richter die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen muss. Hingegen gewährt Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen (vgl. BVerfGE 96, 205 <216>; stRspr). Die Nichtberücksichtigung erheblichen Vortrags verstößt aber dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (vgl. BVerfGE 69, 141 <143 f.> m.w.N.). Dies ist vorliegend gegeben.
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b) Das Amtsgericht hat das Vorbringen der Beschwerdeführerin in der Klageschrift und der Replik ausweislich der Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils als nicht gehalten beurteilt und damit schlicht unberücksichtigt gelassen. Dies wäre nur dann mit Art. 103 Abs. 1 GG vereinbar, wenn sich für das Vorgehen des Amtsgerichts eine Stütze im Prozessrecht fände. Das ist aber - selbst bei Unterstellung einer verschuldeten Säumnis - nicht der Fall.
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Das Amtsgericht hat der Form nach ein kontradiktorisches Endurteil gefällt, welches es ausschließlich mit der Säumnis der Beschwerdeführerin begründet hat. Allein der Umstand der Säumnis rechtfertigt nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung aber lediglich ein - mit dem Einspruch angreifbares - Versäumnisurteil nach § 330 ZPO. Zwar kann bei Säumnis des Klägers auch ein kontradiktorisches Endurteil ergehen, nämlich als Entscheidung nach Aktenlage (§ 331a ZPO). § 331a ZPO ermöglicht grundsätzlich jede inhaltliche Entscheidung, die durch die Aktenlage gerechtfertigt ist - sofern ein entsprechender Antrag des Prozessgegners vorliegt und der Sachverhalt für eine derartige Entscheidung hinreichend geklärt ist. Die Entscheidung nach Aktenlage erfordert aber die Berücksichtigung und inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Vortrag beider Parteien, die das Amtsgericht unter Hinweis auf die Säumnis der Beschwerdeführerin gerade nicht geleistet hat. Es fehlt daher für das Übergehen des Vortrags der Beschwerdeführerin in der angegriffenen Entscheidung des Amtsgerichts an einer prozessualen Rechtfertigung.
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c) Das amtsgerichtliche Urteil beruht auf dem Gehörsverstoß. Gleiches gilt für den Beschluss über die Anhörungsrüge, der den Gehörsverstoß perpetuiert hat. Hätte das Amtsgericht seine Entscheidung nicht schlicht auf eine Säumnis der Beschwerdeführerin gestützt, sondern sich mit ihrem Vortrag auseinandergesetzt, ist nicht auszuschließen, dass es - gegebenenfalls nach Beweisaufnahme über die Frage der Durchführung der Zahnreinigung - zu einem anderen, der Beschwerdeführerin günstigeren Ergebnis gelangt wäre.
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2. Die Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG hat besonderes Gewicht. Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung, die auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet oder wegen ihrer Wirkung geeignet ist, den Betroffenen von der Ausübung von Grundrechten abzuhalten, wenn sie auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährleisteten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht oder wenn sie rechtsstaatliche Grundsätze krass verletzt (vgl. BVerfGE 90, 22 <25>). Im vorliegenden Fall ist von einer krassen Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör auszugehen, weil das Amtsgericht, nachdem es in bedenklicher Art und Weise an dem Termin zur mündlichen Verhandlung festgehalten hat, ein Urteil gefällt hat, für das jede prozessuale Grundlage fehlt. Zudem war das Amtsgericht auch nicht bereit, sein Vorgehen auf die Anhörungsrüge hin zu korrigieren, obwohl es aufgrund deren Begründung davon ausgehen musste, dass tatsächlich eine kurzfristige Verhinderung des Unterbevollmächtigten vorgelegen hatte.
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III.
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Das Urteil des Amtsgerichts und der die Gehörsrüge zurückweisende Beschluss des Amtsgerichts sind hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben; die Sache ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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Das Gericht kann sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen, wenn der Streitwert 600 Euro nicht übersteigt. Auf Antrag muss mündlich verhandelt werden.
(1) Liegen die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 Buchstabe b vor und ist die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, kann die Kammer der Verfassungsbeschwerde stattgeben, wenn sie offensichtlich begründet ist. Der Beschluß steht einer Entscheidung des Senats gleich. Eine Entscheidung, die mit der Wirkung des § 31 Abs. 2 ausspricht, daß ein Gesetz mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht unvereinbar oder nichtig ist, bleibt dem Senat vorbehalten.
(2) Auf das Verfahren finden § 94 Abs. 2 und 3 und § 95 Abs. 1 und 2 Anwendung.
Das Gericht vertagt die Verhandlung über den Antrag auf Erlass des Versäumnisurteils oder einer Entscheidung nach Lage der Akten, wenn es dafür hält, dass die von dem Vorsitzenden bestimmte Einlassungs- oder Ladungsfrist zu kurz bemessen oder dass die Partei ohne ihr Verschulden am Erscheinen verhindert ist. Die nicht erschienene Partei ist zu dem neuen Termin zu laden.
Das Gericht kann sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen, wenn der Streitwert 600 Euro nicht übersteigt. Auf Antrag muss mündlich verhandelt werden.
Erscheint der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht, so ist auf Antrag das Versäumnisurteil dahin zu erlassen, dass der Kläger mit der Klage abzuweisen sei.
Beim Ausbleiben einer Partei im Termin zur mündlichen Verhandlung kann der Gegner statt eines Versäumnisurteils eine Entscheidung nach Lage der Akten beantragen; dem Antrag ist zu entsprechen, wenn der Sachverhalt für eine derartige Entscheidung hinreichend geklärt erscheint. § 251a Abs. 2 gilt entsprechend.
(1) Wird der Verfassungsbeschwerde stattgegeben, so ist in der Entscheidung festzustellen, welche Vorschrift des Grundgesetzes und durch welche Handlung oder Unterlassung sie verletzt wurde. Das Bundesverfassungsgericht kann zugleich aussprechen, daß auch jede Wiederholung der beanstandeten Maßnahme das Grundgesetz verletzt.
(2) Wird der Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung stattgegeben, so hebt das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung auf, in den Fällen des § 90 Abs. 2 Satz 1 verweist es die Sache an ein zuständiges Gericht zurück.
(3) Wird der Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz stattgegeben, so ist das Gesetz für nichtig zu erklären. Das gleiche gilt, wenn der Verfassungsbeschwerde gemäß Absatz 2 stattgegeben wird, weil die aufgehobene Entscheidung auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruht. Die Vorschrift des § 79 gilt entsprechend.
(1) Erweist sich der Antrag auf Verwirkung der Grundrechte (§ 13 Nr. 1), die Anklage gegen den Bundespräsidenten (§ 13 Nr. 4) oder einen Richter (§ 13 Nr. 9) als unbegründet, so sind dem Antragsgegner oder dem Angeklagten die notwendigen Auslagen einschließlich der Kosten der Verteidigung zu ersetzen.
(2) Erweist sich eine Verfassungsbeschwerde als begründet, so sind dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen ganz oder teilweise zu erstatten.
(3) In den übrigen Fällen kann das Bundesverfassungsgericht volle oder teilweise Erstattung der Auslagen anordnen.