Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Mai 2015 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Klägerin verfolgt als Hinterbliebene die Ansprüche ihres tödlich verunglückten Ehemanns gegen den beklagten Unfallversicherungsträger.

2

Die Klägerin zeigte bei der Beklagten den Tod ihres am 18.4.2012 bei einem Unfall auf einer Baustelle verunglückten Ehemanns an. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 28.11.2012 die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen ab, weil der Ehemann zum Unfallzeitpunkt selbstständiger Unternehmer gewesen sei und keine freiwillige Unternehmerversicherung abgeschlossen habe. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 7.2.2013).

3

Die Klägerin hat durch ihre Prozessbevollmächtigte, eine Rechtsanwältin, vor dem SG Klage erhoben und schriftsätzlich den Antrag angekündigt, die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide zu verurteilen, der Klägerin Hinterbliebenenleistungen in gesetzlicher Höhe zu erbringen. In der mündlichen Verhandlung hat sie dann abweichend hiervon beantragt, die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide zu verurteilen, den Unfall vom 18.4.2012 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Das SG hat die Klage als unbegründet abgewiesen (Urteil vom 22.7.2014). Gegen dieses Urteil hat die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, Berufung eingelegt und beantragt, das Urteil des SG aufzuheben. Weiterhin hat sie den erstinstanzlich in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag wiederholt. Das LSG hat mit Beschluss vom 23.3.2015 den Antrag auf Prozesskostenhilfe (PKH) abgelehnt, weil eine Klage einer Hinterbliebenen mit dem Ziel der Verurteilung der Beklagten zur Feststellung eines Arbeitsunfalls unzulässig sei. Die Klägerin hat darauf hingewiesen, dass im erstinstanzlichen Verfahren der ursprünglich angekündigte Klageantrag auf Verurteilung zur Gewährung von Hinterbliebenenleistungen gerichtet gewesen sei. Allein aufgrund des Hinweises der Vorsitzenden Richterin auf die Unzulässigkeit dieses Antrags sei der Antrag von ihr in der mündlichen Verhandlung geändert worden. Das LSG hat die Berufung ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen (Urteil vom 21.5.2015). Zur Begründung hat es ua ausgeführt, die auf Verurteilung der Beklagten zur Feststellung eines Arbeitsunfalls gerichtete Klage sei unzulässig, weil Hinterbliebene - anders als Versicherte - keinen Anspruch auf eine isolierte Vorabentscheidung über das Vorliegen eines Versicherungsfalls durch den Unfallversicherungsträger hätten.

4

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin das Vorliegen von Verfahrensmängeln iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend. Sie rügt zum einen die Verletzung des § 153 Abs 3 SGG, weil das schriftlich abgefasste, mit Gründen versehene Urteil des LSG von der Vorsitzenden nicht mit deren Namen, sondern nur mit einem Namenskürzel unterzeichnet worden sei. Zum anderen rügt sie Verstöße gegen §§ 123, 106 Abs 1 iVm § 153 Abs 1 SGG und gegen den aus Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3, Art 19 Abs 4 GG und Art 6 Abs 2 EMRK folgenden Grundsatz des fairen Verfahrens. Das LSG hätte keine Verfahrensnachteile aus der Änderung des Klageantrags herleiten dürfen, weil diese allein auf einen richterlichen Hinweis erfolgt und das Ziel der Klägerin nach wie vor die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen gewesen sei.

5

Die Klägerin beantragt,

        

die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21.5.2015 zuzulassen,

        

hilfsweise,

        

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21.5.2015 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückverwiesen,

        

weiter hilfsweise,

        

festzustellen, dass es sich bei dem Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21.5.2015 nicht um ein Urteil im Sinne der §§ 153 Abs 1, 125, 124 Abs 2, 133 SGG handelt und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückverwiesen.

6

Das LSG hat in einer Stellungnahme vom 2.9.2015 gegenüber dem BSG erklärt, dass es sich bei der Unterschrift der Vorsitzenden, die handbehindert sei, nicht um ein Namenskürzel, sondern um die Unterschrift handele, die "mal gut und mal weniger gut" gelinge. Auf Nachfrage des Senats hinsichtlich der Umstände der Antragstellung vor dem SG hat die Vorsitzende Richterin des SG mit Schreiben vom 5.10.2015 mitgeteilt, sich an den genauen Ablauf der mündlichen Verhandlung nicht mehr erinnern zu können.

7

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Rechtssache ist gemäß § 160a Abs 5 SGG an das LSG zurückzuverweisen, weil die schriftliche Ausfertigung des Urteils entgegen § 153 Abs 3 SGG nicht von der Vorsitzenden unterschrieben ist.

8

Die Begründung der fristgerecht eingelegten Beschwerde genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich ein möglicher Verstoß gegen § 153 Abs 3 Satz 1 SGG ergibt. Selbst wenn mangels vollständiger Unterschriften das ohne mündliche Verhandlung ergangene, nicht verkündete Urteil gänzlich unwirksam sein sollte und deshalb ein unwirksames Nicht- bzw Scheinurteil vorläge, wäre als Rechtsmittel zur Beseitigung des Rechtscheins die Beschwerde statthaft (vgl hierzu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 125 RdNr 4b, 5a, b, c). Auch ein möglicher Verstoß gegen den aus Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3, Art 19 Abs 4 GG und Art 6 Abs 2 EMRK folgenden Grundsatz des fairen Verfahrens wird in der Beschwerdebegründung hinreichend dargelegt.

9

1. Die Beschwerde ist auch begründet, denn das angefochtene Urteil des LSG verstößt gegen § 153 Abs 3 Satz 1 SGG. Nach dieser Vorschrift ist das Urteil von den Mitgliedern des Senats am LSG zu unterschreiben. Für eine Unterschrift in diesem Sinne ist erforderlich, aber auch genügend, dass ein die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnender Schriftzug vorliegt, der individuelle und charakteristische Merkmale aufweist, die die Nachahmung erschweren, sich als Wiedergabe eines Namens darstellt und die Absicht einer vollen Unterschriftsleistung erkennen lässt. Dieses Erfordernis ist auch erfüllt, wenn der Schriftzug nur flüchtig niedergelegt und von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichnet ist. Auch ein vereinfachter und nicht lesbarer Namenszug kann als Unterschrift anzuerkennen sein. Dabei ist von Bedeutung, ob der Unterzeichner auch sonst in gleicher oder ähnlicher Weise unterschreibt. Hingegen genügt ein Schriftzug, der nach seinem äußeren Erscheinungsbild eine bewusste und gewollte Namensabkürzung (Handzeichen, Paraphe) darstellt, nicht (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 153 RdNr 9, § 134 RdNr 2a, 2b, vgl auch BSG vom 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R - BSGE 106, 254 = SozR 4-1500 § 102 Nr 1, RdNr 49; BGH vom 31.7.2013 - VIII ZB 18/13, VIII ZB 19/13 - NJW 2013, 3451; BFH vom 26.6.2014 - X B 215/13 - BFH/NV 2014, 1568).

10

Die sich auf der mit Gründen versehenen Urteilsfassung befindenden Schriftzeichen der Vorsitzenden sind keine Unterschrift, sondern ein Handzeichen, das keine Unterschrift iS von § 153 Abs 3 Satz 1 SGG darstellt. Auch wenn berücksichtigt wird, dass die Unterschriftsleistung der Vorsitzenden durch eine Behinderung der Hand erschwert ist, ist eindeutig erkennbar, dass die schriftliche Urteilsfassung nur mit dem Namenskürzel und nicht - wie erforderlich - mit dem sonst als Unterschrift verwendeten Namenszug unterzeichnet wurde. Die Schriftzeichen auf der mit Gründen versehenen Urteilsfassung bestehen nur aus zwei bis drei Buchstaben und entsprechen exakt dem Namenskürzel, das sich ua unter der Schlussverfügung vom 27.5.2015 findet, die üblicherweise nicht mit dem vollen Namenszug, sondern nur mit einem Handzeichen des oder der Vorsitzenden versehen wird. Dass nur ein Handzeichen vorliegt, wird auch durch einen Vergleich dieser Schriftzeichen mit der unter dem Protokoll des Tenors am 21.5.2015 geleisteten Unterschrift bestätigt, die den aus sechs Buchstaben bestehenden vollen Namenszug der Vorsitzenden klar erkennen lässt. Die Unterschriftsleistung unter die schriftliche Fassung des Urteils wurde schließlich auch nicht nachgeholt, obwohl das LSG durch das Schreiben der Klägerin vom 28.8.2015 von der Rüge dieses Verfahrensfehlers Kenntnis hatte und es zu diesem Zeitpunkt ein leichtes gewesen wäre, diesen Fehler noch zu korrigieren.

11

Da nach Ablauf von fünf Monaten seit Erlass des Urteils eine Heilung durch Nachholung der Unterschrift nicht mehr möglich ist, liegt jedoch nunmehr ein absoluter Revisionsgrund gemäß § 202 SGG iVm § 547 Nr 6 ZPO vor(vgl hierzu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 153 RdNr 11, § 134 RdNr 2c; BGH vom 16.10.2006 - II ZR 101/05 - MDR 2007, 351; vgl auch BSG vom 14.9.1994 - 3/1 RK 36/93 - BSGE 75, 74 = SozR 3-2500 § 33 Nr 12 und vom 20.11.2003 - B 13 RJ 41/03 R - BSGE 91, 283 = SozR 4-1500 § 120 Nr 1, RdNr 16),sodass davon auszugehen ist, dass das Urteil auch auf dem Fehler beruht.

12

Das angefochtene Urteil war gemäß § 160a Abs 5 SGG wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Dies gilt unabhängig davon, ob das ohne mündliche Verhandlung ergangene, nicht verkündete Urteil bereits wirksam geworden war oder es sich letztlich um ein unwirksames Nicht- bzw Scheinurteil handelt, dessen Rechtschein zu beseitigen ist (vgl hierzu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 125 RdNr 4b, 5a, b, c). Einer Zurückverweisung steht auch nicht der Rechtsgedanke des § 170 Abs 1 Satz 2 SGG entgegen, der auch bei Entscheidungen über Nichtzulassungsbeschwerden Anwendung findet. Nach § 170 Abs 1 Satz 2 SGG ist eine Revision bei einer Gesetzesverletzung auch dann zurückzuweisen, wenn sich die Entscheidung aus anderen Gründen als richtig darstellt.

13

Dies gilt jedoch in der Regel nicht beim Vorliegen absoluter Revisionsgründe (vgl BSG vom 2.11.2007 - B 1 KR 72/07 B - SozR 4-1100 Art 101 Nr 3; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160a RdNr 18, 18a mwN). Zwar wird in Revisionsverfahren trotz des Vorliegens des absoluten Revisionsgrundes des § 547 Nr 6 ZPO eine Entscheidung des BSG in der Sache für zulässig erachtet, wenn die Klage unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Erfolg haben kann(vgl BSG vom 14.9.1994 - 3/1 RK 36/93 - BSGE 75, 74 = SozR 3-2500 § 33 Nr 12 und vom 20.11.2003 - B 13 RJ 41/03 R - BSGE 91, 283 = SozR 4-1500 § 120 Nr 1, RdNr 16). Auch im Beschwerdeverfahren wird bei Vorliegen eines Verfahrensfehlers eine Aufhebung des Urteils des LSG, ggf verbunden mit einer Entscheidung des BSG in der Sache, für zulässig erachtet, wenn mit der Aufhebung der Rechtsstreit abgeschlossen ist oder wenn nach Zurückverweisung nur eine einzige Entscheidung in der Sache ergehen könnte (vgl BSG vom 26.1.2005 - B 12 KR 62/04 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 6, vom 16.3.2006 - B 4 RA 24/05 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 13; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160a RdNr 19e). Eine solche Prüfung, ob nach Zurückverweisung keine andere Entscheidung in der Sache ergehen kann, ist dem Senat hier aber nicht möglich. Diese setzt in der Regel Feststellungen des LSG voraus, die gerade nicht vorliegen, weil es überhaupt keine Urteilsgründe gibt, die gemäß § 163 SGG den Senat binden könnten. Der Senat hat daher in Ausübung seines ihm gemäß § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Ermessens die Sache an das LSG zurückverwiesen.

14

2. Soweit die Klägerin allerdings als weiteren Verfahrensmangel geltend macht, sie sei erst durch die Hinweise der Vorsitzenden Richterin am SG zu der (falschen) Antragstellung veranlasst worden, so ist hierin kein Verfahrensmangel zu sehen. Der aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs 3 GG) sowie Art 6 Abs 1 Satz 1 EMRK abgeleitete Anspruch auf ein faires Verfahren ist verletzt, wenn grundlegende Rechtsschutzstandards, wie das Gebot der Waffengleichheit zwischen den Beteiligten, das Übermaßverbot (Gebot der Rücksichtnahme) und das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens oder einer Überraschungsentscheidung nicht gewahrt werden. Aus Fehlern, die den Gerichten selbst zuzurechnen sind, dürfen keine Verfahrensnachteile für den Rechtsschutzsuchenden abgeleitet werden. Grundsätzlich darf sich ein anwaltlicher Prozessbevollmächtigter aber bei einer klaren Rechtslage nicht auf eine falsche Auskunft des Gerichts verlassen, es sei denn, besondere Umständen liegen vor (vgl BVerfG vom 26.4.1988 - 1 BvR 669, 686, 687/87 - BVerfGE 78, 123, vom 4.5.2004 - 1 BvR 1892/03 - BVerfGE 110, 339 = SozR 4-1500 § 67 Nr 2, vom 21.3.2005 - 2 BvR 975/03 - BVerfGK 5, 151; BSG vom 9.10.2012 - B 5 R 196/12 B - SozR 4-1500 § 67 Nr 10 RdNr 8). Auch unter Zugrundelegung des von der Klägerin geschilderten Verfahrensgangs wird indes nicht ersichtlich, dass das LSG nach §§ 123, 106 Abs 1 iVm § 153 Abs 1 SGG gehalten gewesen sein könnte, die in der mündlichen Verhandlung vor dem SG erhobene und im Berufungsverfahren aufrechterhaltene unzulässige Klage auf Verurteilung der Beklagten zur Feststellung des Ereignisses vom 18.4.2012 als Arbeitsunfall (vgl hierzu BSG vom 4.12.2014 - B 2 U 18/13 R - SozR 4-2700 § 101 Nr 2 RdNr 15 - auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen; vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 412, und vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 17 RdNr 26)als zulässig zu behandeln. Selbst wenn die zunächst zutreffend und zulässigerweise erhobene Klage auf Gewährung von Hinterbliebenenleistungen einzig aufgrund eines (insofern falschen) richterlichen Hinweises im erstinstanzlichen Verfahren zurückgenommen und danach eine für Hinterbliebene unzulässige Klage auf Feststellung eines Arbeitsunfalls erhoben worden sein sollte, so kann eine Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens aufgrund dieses fehlerhaften Verhaltens des Gerichts nicht dazu führen, dass entgegen den Formvorschriften des Prozessrechts geringere prozessuale Anforderungen an die Durchsetzung von Rechten gestellt werden können. Oder anders gewendet: Aus dem Fehler des Gerichts kann kein Anspruch auf weitergehende prozessuale Rechte folgen als sie das Gesetz vorsieht. Denn das LSG konnte ohne Verstoß gegen § 123 SGG davon ausgehen, dass die auf die Gewährung von Leistungen an Hinterbliebene gerichtete Klage in der mündlichen Verhandlung vor dem SG nach § 102 SGG (konkludent) zurückgenommen worden ist und damit im Berufungsverfahren eine solche Klage nicht mehr anhängig war, nachdem die anwaltlich vertretene Klägerin ihren entsprechenden Antrag nicht mehr aufrechterhielt und nunmehr die Verurteilung der Beklagten zur Feststellung eines Arbeitsunfalls beantragte. Als Prozesshandlung ist die Klagerücknahme grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar (vgl hierzu BSG vom 20.12.1995 - 6 RKa 18/95 - USK 95155 und vom 14.6.1978 - 9/10 RV 31/77 - SozR 1500 § 102 Nr 2; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 102 RdNr 7c mwN), selbst wenn sie auf einem durch das Gericht erregten Irrtum beruht. Die unwiderruflich verfahrensbeendende Wirkung der Rücknahme einer Klage dient der Rechtssicherheit, weil andernfalls ein die Beendigung des Verfahrens betreffender Schwebezustand bestände (vgl BGH vom 26.9.2007 - XII ZB 80/07 - FamRZ 2008, 43; anders für das finanzgerichtliche Verfahren BFH vom 6.7.2005 - XI R 15/04 - BFHE 210, 4).

15

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

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(1) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlich

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(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

Das Gericht entscheidet über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.

(1) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

(2) Der Vorsitzende hat bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen.

(3) Zu diesem Zweck kann er insbesondere

1.
um Mitteilung von Urkunden sowie um Übermittlung elektronischer Dokumente ersuchen,
2.
Krankenpapiere, Aufzeichnungen, Krankengeschichten, Sektions- und Untersuchungsbefunde sowie Röntgenbilder beiziehen,
3.
Auskünfte jeder Art einholen,
4.
Zeugen und Sachverständige in geeigneten Fällen vernehmen oder, auch eidlich, durch den ersuchten Richter vernehmen lassen,
5.
die Einnahme des Augenscheins sowie die Begutachtung durch Sachverständige anordnen und ausführen,
6.
andere beiladen,
7.
einen Termin anberaumen, das persönliche Erscheinen der Beteiligten hierzu anordnen und den Sachverhalt mit diesen erörtern.

(4) Für die Beweisaufnahme gelten die §§ 116, 118 und 119 entsprechend.

(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landes-sozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Vormerkung rentenrechtlicher Zeiten. Mit der Revision wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Berufungsrücknahme.

2

Mit Bescheid vom 4.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs 5 SGB VI die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen Daten für den Zeitraum bis zum 31.12.1996 verbindlich fest.

3

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.6.2007 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger weder seinen Widerspruch noch die Klage begründet habe. Mangels Begründung sei nicht ersichtlich, inwieweit die Feststellung der Daten im Versicherungskonto rechtswidrig sein solle.

4

Im Berufungsverfahren hat das LSG den Kläger mehrmals vergeblich an die Vorlage der Berufungsbegründung erinnert. Die Geschäftsstelle des LSG-Senats hat mit Schreiben vom 19.8.2008, das auf einer durch den Berichterstatter unterschriebenen Verfügung vom selben Tage beruhte und mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnet war, den Kläger aufgefordert, (unter Hinweis auf § 153 Abs 1, § 106a SGG: bis zum 19.9.2008) die Tatsachen anzugeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühle. Des Weiteren hat sie ihn darauf hingewiesen, dass die Berufung nach § 102 Abs 2 Satz 1, § 153 Abs 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn er das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate (gerechnet ab Zugang dieser Verfügung) nicht betreibe, dh die Berufung nicht begründe. Auf das ihm am 21.8.2008 zugestellte Schreiben hat sich der Kläger nicht zur Sache geäußert.

5

Am 16.12.2008 hat das LSG den Beteiligten mitgeteilt, dass die Berufung als zurückgenommen gelte. Hiergegen hat sich der Kläger mit Schriftsatz vom 21.12.2008 gewandt; er habe seine Berufung keinesfalls zurückgenommen, sondern warte auf einen Gerichtstermin. In der mündlichen Verhandlung vom 18.3.2009 hat er erklärt, der Versicherungsverlauf sei fehlerhaft, da dort (im Einzelnen bezeichnete) Zeiten der Arbeitslosigkeit und eines Rentenbezugs nicht angegeben seien.

6

Mit Urteil vom selben Tage hat das LSG festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Berufungsrücknahme erledigt sei. Die Vorschrift des § 102 Abs 2 SGG gelte gemäß § 153 Abs 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" iS von § 153 Abs 1 SGG. Nicht zu folgen sei der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme enthalte. Offenbar habe der Gesetzgeber übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung. Es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei.

7

Die Voraussetzungen für eine Fiktion der Berufungsrücknahme seien erfüllt. Der Kläger habe innerhalb der ihm gesetzten Frist keine das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Nur mit entsprechender Mitwirkung des Versicherten durch Angaben zu den streitigen Zeiten seien weitere Ermittlungen des Versicherungsträgers ohne Beschränkung auf zugängliche Daten möglich. Entsprechendes gelte für eine sinnvolle gerichtliche Überprüfung des Vormerkungsbescheids. Trotz entsprechender Aufforderung habe der Kläger innerhalb der gesetzten Frist das Verfahren nicht durch Begründung der Berufung betrieben.

8

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 156, § 153 Abs 1 und § 102 Abs 2 SGG. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG sei nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG auf das Berufungsverfahren entsprechend anwendbar. In das SGG sei keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme aufgenommen worden. Die Berufungsrücknahme sei im sozialgerichtlichem Verfahren in § 156 SGG speziell und abschließend geregelt, was die Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ausschließe. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den nach § 102 Abs 2 SGG vorausgesetzten Wegfall des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung habe das LSG nicht festgestellt.

9

           

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des LSG Hamburg vom 18.3.2009 und den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 4.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 zu verpflichten, für die Zeiten vom 12.2.1993 bis 21.6.1994 eine Anrechnungszeit wegen Rentenbezugs nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB VI vorzumerken;
hilfsweise, das Urteil des LSG vom 18.3.2009 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

10

           

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die zulässige Revision des Klägers hat iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Berufung erledigt sei. Denn dafür fehlt es im SGG an einer gesetzlichen Grundlage (1.). Auch eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG (Klagerücknahmefiktion) kommt iS einer Fiktion der Rücknahme der Berufung bei Nichtbetreiben nicht in Betracht (2.). Überdies wären die Voraussetzungen für den Eintritt einer - unterstelltermaßen entsprechend § 102 Abs 2 Satz 1 SGG möglichen - Rücknahmefiktion nicht gegeben (3.).

15

           

1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444) wurde mit Wirkung vom 1.4.2008 in Abs 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet:
"Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen."
Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG). Eine Regelung zur Fiktion der Berufungsrücknahme hat der Gesetzgeber im SGG hingegen nicht getroffen.

16

2. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG ist nicht iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden.

17

Nach § 153 Abs 1 SGG gelten für das Verfahren vor den Landessozialgerichten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 SGG entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt (= Erster Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Bestimmungen über die Berufung in den §§ 143 bis 159 SGG umfasst) nichts anderes ergibt. Bei den in Bezug genommenen "Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" handelt es sich um die im Vierten Unterabschnitt des Ersten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG aufgeführten Vorschriften der §§ 87 bis 122 SGG(BSG Urteil vom 5.7.1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2 S 2). Danach ist zwar auch § 102 SGG grundsätzlich nicht von der Anordnung der entsprechenden Geltung im Berufungsverfahren ausgenommen. Die Vorschrift über die Fiktion der Klagerücknahme in § 102 Abs 2 SGG ist jedoch nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG im LSG-Verfahren iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme entsprechend anwendbar.

18

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes (a), der Entstehungsgeschichte der Norm (b), dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO (c), einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut (d) und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion (e).

19

a) Schon der Wortlaut des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, wonach die "Klage" und nicht die "Berufung" als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, steht einer gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechenden Anwendung dieser Regelung auf die Berufung entgegen.

20

Über § 153 Abs 1 SGG kann nicht das Wort "Berufung" in § 102 Abs 2 SGG hineingelesen werden(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463). Denn auch andere Vorschriften über "das Verfahren im ersten Rechtszug", deren entsprechende Geltung § 153 Abs 1 SGG bestimmt und die Regelungen über die "Klage" enthalten, sind im Berufungsverfahren nicht derart erweiternd anzuwenden. Die entsprechende Geltung dieser Vorschriften (zB Klageänderung nach § 99 SGG oder Widerklage nach § 100 SGG) gemäß § 153 Abs 1 SGG umfasst keine Ersetzung des Begriffs "Klage" durch "Berufung". Ein Grund für eine unterschiedliche Auslegung je nachdem, welche Norm in Bezug genommen wird, ist nicht ersichtlich.

21

Überdies findet sich im Ersten Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Vorschriften für das Verfahren der Berufung umfasst, für die Berufung in § 156 SGG eine spezielle Regelung über ihre "Zurücknahme". Eine § 102 Abs 2 SGG entsprechende Bestimmung für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben enthält die Norm aber nicht. Schon von daher trifft die Ansicht des LSG nicht zu, aus den entsprechenden Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich "nichts anderes" iS des § 153 Abs 1 SGG(aA auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - Juris RdNr 32, ohne eigenständige Begründung unter Hinweis auf das hier angefochtene LSG-Urteil).

22

b) Aus den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren ergeben sich keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 102 Abs 2 SGG in entsprechender Anwendung gemäß § 153 Abs 1 SGG auf die Berufungsrücknahme ausdehnen wollte.

23

Ziel des SGGArbGGÄndG war es, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Dies sollte durch eine Vielzahl von Maßnahmen geschehen. Die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion zur Entlastung der Landessozialgerichte war aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13 f); insoweit sah dieser zur Entlastung der Sozialgerichte und Straffung des dortigen Verfahrens lediglich die Fiktion einer Klagerücknahme vor (BT-Drucks 16/7716 S 13). Eine fiktive Berufungsrücknahme wurde auch - soweit ersichtlich - im gesamten Gesetzgebungsverfahren weder im Bundesrat noch in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestags erörtert.

24

           

In der Einleitung der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG, der in seinem Satz 1 mit der späteren Gesetzesfassung übereinstimmt, wie folgt(BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>):

 "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen …"

25

           

Die Begründung schließt mit dem Hinweis (aaO, S 20):

 "… Die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme gelten auch im einstweiligen Rechtsschutz."

26

Demnach sollen zwar die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung finden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rücknahmefiktion - unabhängig davon, ob eine solche dort überhaupt praktische Relevanz haben kann (vgl hierzu Bienert, NZS 2009, 554, 559; Leopold, SGb 2009, 458, 462, ua mit dem Hinweis, dass das gerichtliche Abwarten der in § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genannten Dreimonatsfrist nicht zum Eilcharakter des Verfahrens "passt") - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG zulässig ist(bejahend Bienert, aaO; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 102 RdNr 8; verneinend Leopold, aaO). Jedenfalls findet sich kein Hinweis dafür, dass § 102 Abs 2 SGG iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar sein soll. Vielmehr wird dort nur verlautbart, dass in § 102 Abs 2 SGG die "Fiktion einer Klagerücknahme … eingeführt" wird und diese "angelehnt" ist an § 92 Abs 2 VwGO; ersichtlich sollte somit der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs 2 VwGO in das SGG "übernommen" werden. Die "Fiktion einer Berufungsrücknahme" wird nicht erwähnt; ebenso wird an keiner Stelle ein Bezug zur Regelung der Berufungsrücknahmefiktion in § 126 Abs 2 VwGO hergestellt. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen Materialien zum SGGArbGGÄndG (Stellungnahme des Bundesrats Drucks 16/7716 s 29 f>; Gegenäußerung der Bundesregierung ; zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag vom 17.1.2008, Plenarprotokoll 16/136 S 14417 - 14422 (Anlage 6); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 20.2.2008 ). Auch sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass nach dem "Willen" des Gesetzgebers eine "fiktive Berufungsrücknahme" in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ermöglicht werden sollte.

27

c) Der Vergleich mit den in der VwGO normierten Rücknahmefiktionen spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fiktion der Berufungsrücknahme im SGG ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung.

28

Die Klagerücknahmefiktion in § 92 Abs 2 VwGO wurde durch das Sechste Gesetz zur Änderung der VwGO und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) mit Wirkung vom 1.1.1997 in Anlehnung an den bereits seit 1.7.1992 geltenden § 81 AsylVfG in die VwGO eingefügt(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 12 zu Nummer 10 <§ 92 VwGO>). Nach § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren länger als zwei Monate (in Verfahren nach dem AsylVfG gemäß § 81 Satz 1 AsylVfG länger als einen Monat) nicht betreibt.

29

Gleichzeitig wurde durch das 6. VwGOÄndG für die Berufung eine "gesetzliche Rücknahmefiktion" in § 126 Abs 2 VwGO aufgenommen und die Regelung in § 92 Abs 2 VwGO insoweit "ergänzt"(Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 13 zu Nummer 17 <§ 126 VwGO>). Nach Satz 1 dieser Bestimmung gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

30

Die eigenständige gesetzliche Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme in § 126 Abs 2 VwGO macht deutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeine Verweisung in § 125 Abs 1 VwGO auf die Vorschriften des Verfahrens im ersten Rechtszug der VwGO, zu denen auch § 92 Abs 2 VwGO gehört, als nicht ausreichend angesehen hat (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 156 RdNr 16; Leopold, SGb 2009, 458, 463). Vielmehr hat er für die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion einen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungsbedarf angenommen.

31

Der Verzicht des SGGArbGGÄndG auf eine Ergänzung des § 156 SGG um eine Rücknahmefiktion für die Berufung in Kenntnis des Umstands, dass eine solche in der Parallelvorschrift der VwGO zu § 156 SGG, nämlich in § 126 VwGO, ausdrücklich geregelt worden ist, bestätigt die Annahme, dass diese "Unvollständigkeit" beabsichtigt war und der Gesetzgeber im SGG lediglich die Möglichkeit einer Fiktion der Klagerücknahme eröffnen wollte, entgegen der Ansicht des LSG also gerade keine "planwidrige Regelungslücke" vorliegt. Hätte er die Berufungsrücknahmefiktion "gewollt", wäre gerade wegen der weitgehenden Parallelität zur VwGO eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen(vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16).

32

Sollte der Gesetzgeber gleichwohl - anders als in der VwGO - eine ausdrückliche Regelung im SGG für entbehrlich gehalten haben, hätte es zumindest eines deutlichen Hinweises bedurft. Dieser fehlt jedoch. Keinesfalls kann daraus jedoch, wie das LSG offenbar meint, ein "Wille" des Gesetzgebers für eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben hergeleitet werden. Vielmehr dürfte das "Schweigen" sowohl in § 156 SGG als auch in den Materialien zum SGGArbGGÄndG schon eher als "beredtes Schweigen" zu werten sein(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463).

33

Dem Gesetzgeber war im Übrigen der Regelungszusammenhang zwischen erst- und zweitinstanzlichem Verfahren durchaus bewusst; dies belegt die mit dem SGGArbGGÄndG erfolgte Einfügung des § 157a SGG für das Berufungsverfahren gleichzeitig mit der ebenfalls durch dieses Gesetz für das erstinstanzliche Verfahren eingeführten Bestimmung des § 106a SGG zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens (vgl auch Leopold, SGb 2009, 458, 463). Ausdrücklich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 16/7716 S 22 zu Nummer 27 <§ 157a>): "Folgeänderung wegen der Einführung der Präklusionsvorschrift in § 106a im erstinstanzlichen Verfahren. Dies zieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorschrift im Rechtsmittelverfahren nach sich …".

34

d) Dass der Gesetzgeber auf die Regelung einer Fiktion der Berufungsrücknahme verzichtet hat, mag möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass nach dem SGG eine Klagerücknahme ohne Zustimmung der/des Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgen kann (so Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 16). Auf dieser Grundlage hält die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum auch eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren für zulässig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b und § 156 RdNr 1b; Roller, aaO; Eschner in Jansen, SGG, 3. Aufl 2008, § 102 RdNr 4; Hauck in Zeihe, SGG, Stand 2009, § 102 RdNr 12; Bienert, NZS 2009, 554, 558; kritisch Leopold, SGb 2009, 458, 463; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118).

35

Der Senat kann offen lassen, ob er sich dieser Rechtsansicht anschließt; denn das LSG hat nicht festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist. Er neigt jedoch dazu, ihr jedenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Denn § 102 Abs 2 Satz 1 SGG wird nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, sofern die Rücknahmefiktion in der zweiten Instanz die Klage betrifft. Der Übernahme einer § 126 Abs 2 Satz 1 VwGO entsprechenden Regelung bedurfte es insoweit nicht(Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12).

36

Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) klargestellt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. SGGÄndG, BT-Drucks 14/5943 S 26 zu Nummer 38 <§ 102>), entsprach aber auch schon der Rechtsprechung des BSG zur früheren Fassung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach der Kläger die Klage "bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung" zurücknehmen konnte(s hierzu BSG Beschluss vom 27.9.1983 - 8 BK 16/82 - SozR 1500 § 102 Nr 5 S 10). Der Kläger kann daher auch noch im Berufungsverfahren die Klage ganz oder - wenn der Streitgegenstand teilbar ist - teilweise (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 4; Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 4)zurücknehmen mit der Folge, dass die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 202 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 ZPO ganz oder - bei teilweiser Klagerücknahme - teilweise wirkungslos wird.

37

Ist aber eine Klagerücknahme nach § 102 Abs 1 Satz 1 SGG im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § 102 Abs 2 Satz 2 SGG für die Klagerücknahmefiktion, dass Abs 1 entsprechend gilt, ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb die Fiktion der Rücknahme der Klage bei ganz oder teilweisem Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht (grundsätzlich) auch im Berufungsverfahren in Betracht kommen kann. Denn auch im Rechtsmittelverfahren muss das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der von ihm in erster Instanz erhobenen Klage stets fortbestehen.

38

Allerdings dürfte nach Einlegung einer Berufung gegen ein klageabweisendes erstinstanzliches Urteil ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, also ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen sein (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b; Leopold, SGb 2009, 458, 463; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12, mit dem Hinweis, dass im Rechtsmittelverfahren "eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen" seien; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118). Dies gilt vor allem dann, wenn der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren teilweise Erfolg hatte, entzöge die Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren doch dem zusprechenden Teil des erstinstanzlichen Urteils die Rechtswirkung. Die Annahme, dass ein Kläger, der ein Berufungsverfahren trotz Aufforderung nicht betreibt, durch das Nichtbetreiben auch die für ihn positiven Folgen der erstinstanzlichen Entscheidung zum Wegfall bringen und damit so gestellt werden möchte, als ob er die Klage nie erhoben hätte, dürfte nur schwerlich zu begründen sein (vgl Schafhausen, aaO; Leopold, aaO). In Betracht käme in diesen Fällen freilich eine Fiktion der teilweisen Klagerücknahme bezogen auf den klageabweisenden Teil der SG-Entscheidung.

39

e) Schließlich berücksichtigt nur die Rechtsauffassung, dass § 102 Abs 2 SGG nicht iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar ist, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG für die Auslegung und Anwendung von gesetzlichen Regelungen über die Beendigung eines Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Vorschriften dieser Art haben nämlich strengen Ausnahmecharakter. Da sie einschneidende Rechtsfolgen für die betroffenen Beteiligten nach sich ziehen, bedürfen sie in besonderem Maße der Rechtsklarheit.

40

Das BVerfG (Kammer) hat in seinem Beschluss vom 27.10.1998 (2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167) darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art 19 Abs 4 GG jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat es festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist.

41

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 81 AsylVfG, § 92 Abs 2 VwGO, § 126 Abs 2 VwGO und in § 102 Abs 2 SGG gefunden. Denn diese Bestimmungen, die eine Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren zur Folge haben, unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.

42

Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass hiervon ausgehende Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art 19 Abs 4 GG vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl bereits BVerfG Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BVerfG Beschluss vom 15.8.1984 - 2 BvR 357/84 - DVBl 1984, 1005; BVerfG Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Auch in der Literatur besteht über den Ausnahmecharakter und ein von Verfassungs wegen gebotenes enges Verständnis gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen Einigkeit (vgl zu § 102 Abs 2 SGG: Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 17; Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16; Berchtold in Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 5 RdNr 586; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8a; Leitherer, NJW 2008, 1258, 1260; Hauck in Hennig, SGG, Stand: 2010, § 102 RdNr 29; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VII RdNr 170a; Schafhausen, ASR 2010, 112, 115; Leopold, SGb 2009, 458, 459; Bienert, NZS 2009, 554, 555; Becker, SGb 2009, 267, 269; Tabbara, NZS 2008, 8, 10; Francke, ASR 2008, 127, 128; vgl zu § 92 Abs 2 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 92 RdNr 18; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2009, § 92 RdNr 39).

43

Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG(Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>).

44

Ist dies aber der Fall, verbietet es sich, § 102 Abs 2 SGG als Sonder- und Ausnahmeregelung über seinen ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich hinaus erweiternd auszulegen und anzuwenden. Vielmehr ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geradezu geboten, wollte man auch im SGG eine Fiktion der Rücknahme der Berufung wegen Nichtbetreibens ermöglichen, hierfür - wie in der VwGO durch Einfügung des § 126 Abs 2 VwGO geschehen - eine eigenständige gesetzliche Grundlage zu schaffen.

45

3. Nach dem Vorstehenden braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob - wie vom LSG entschieden - die Voraussetzungen einer Fiktion einer Berufungsrücknahme bei unterstellter entsprechender Anwendbarkeit des § 102 SGG vorliegen. Gleichwohl weist der Senat darauf hin, dass, selbst wenn man der generellen Rechtsansicht des LSG folgen würde, die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch das LSG im Falle des Klägers zu Unrecht erfolgt wäre.

46

a) Zwar ist im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung das vom BVerfG für eine Rechtsmittelrücknahmefiktion geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt gewesen, dass nach dem prozessualen Verhalten des Klägers hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; vgl ebenso Senatsurteil vom heutigen Tage - B 13 R 74/09 R).

47

Denn bei Erlass der Betreibensaufforderung am 19.8.2008 waren die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Vormerkungsbescheids vom 4.11.2003 begehrte, mangels dessen Mitwirkung für das LSG nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher Aufforderung war nämlich die Berufung auch ein Jahr nach ihrer Einlegung nicht begründet worden, ebenso wenig wie der Widerspruch gegen den Vormerkungsbescheid vom 4.11.2003 oder die Klage. Das SGG enthält zwar für die Begründung der Klage und der Berufung, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften (§ 92 Abs 1 Satz 4, § 151 Abs 3 SGG: "sollen" bzw "soll"). Das Gericht hat die Beteiligten aber insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 Halbs 2 SGG ergibt. Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung ("ins Blaue hinein") zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 103 RdNr 16).

48

b) Allerdings setzt eine Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend aber nicht erfolgt. Denn jedenfalls vermag ein - wie hier - lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold SGb 2009, 458, 460; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, aaO, § 102 RdNr 11, mit dem Hinweis, die Betreibensaufforderung müsse "wenigstens die Form eines Richterbriefs" haben; s auch BGH Urteil vom 13.3.1980 - VII ZR 147/79 - BGHZ 76, 236, 241 - zur Frist gemäß § 273 Abs 2 Nr 1, § 275 Abs 1, § 296 ZPO).

49

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt im Übrigen Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 63 RdNr 3)diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.

50

4. Da der Senat über die vom Kläger geltend gemachten rentenrechtlichen Zeiten mangels entsprechender Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG nicht entscheiden konnte, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

Tatbestand

1

I. Die Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) werden im Streitjahr 2002 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.

2

Der Kläger war im Streitjahr an einer KG beteiligt und bezog aus dieser Beteiligung Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Auf die Mitteilung des Finanzamts X vom 18. Oktober 2010 über die für den Kläger festgestellten Anteile für 2002 (anteiliger Gewinn aus Gewerbebetrieb 943.360 €, davon Veräußerungsgewinne --einschließlich steuerfreier Veräußerungsgewinne-- 943.371 €, anteiliger Gewerbesteuermessbetrag 21.847,43 €) wurde der Einkommensteuerbescheid für 2002 mit Bescheid vom 11. Januar 2011 entsprechend geändert (Einkünfte aus Beteiligungen nunmehr insgesamt ./. 326.312 € und Einkünfte aus Veräußerungsgewinnen insgesamt 2.150.413 €). Eine Steuerermäßigung gemäß § 35 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gewährte der Beklagte und Revisionsführer (das Finanzamt --FA--) mit folgender Begründung nicht:

3

"Da die Summe der im zu versteuernden Einkommen enthaltenen gewerblichen Einkünfte nicht größer als Null ist, entfällt eine Steuerermäßigung gem. § 35 EStG."

4

Im Einspruchsverfahren machten die Kläger geltend, der vom Finanzamt X festgestellte anteilige Gewerbesteuer-Messbetrag sei im Einkommensteuerbescheid nicht steuermindernd berücksichtigt worden. Die Einkünfte aus Gewerbebetrieb seien insgesamt positiv, so dass eine Anrechnung erfolgen müsse. Das FA wies den Einspruch zurück.

5

Die Klage hatte Erfolg. Dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15. April 2010 IV R 5/08 (BFHE 229, 524, BStBl II 2010, 912) sei zweifelsfrei zu entnehmen, dass zu den Einkünften aus gewerblichen Unternehmen (§ 35 Abs. 1 Nr. 1 EStG) sowie aus Gewerbebetrieb als Mitunternehmer (§ 35 Abs. 1 Nr. 2 EStG) auch (dem Grunde nach) gewerbesteuerbelastete Veräußerungs- und Aufgabegewinne nach § 7 Satz 2 Nrn. 1 und 2 des Gewerbesteuergesetzes gehörten. Denn für die Frage, ob mit Gewerbesteuer belastete Einkünfte i.S. von § 35 EStG vorlägen, komme es nicht darauf an, wer bzw. welcher Mitunternehmer die Gewerbesteuerpflicht ausgelöst habe. Denn Steuersubjekt bzw. Steuerschuldner der Gewerbesteuer sei die Gesellschaft. Der einzelne Gesellschafter sei kein Steuersubjekt. Daher dürfe auch nicht unterschieden werden, ob die Gewerbesteuer durch den einen oder anderen Mitunternehmer ausgelöst worden sei. Dementsprechend habe jeder Mitunternehmer, für den ein anteiliger Gewerbesteuermessbetrag festgestellt bzw. festgesetzt worden sei, gewerbesteuerbelastete Einkünfte.

6

Hiergegen richtet sich die vom FA erhobene Nichtzulassungsbeschwerde. Das FA rügt, das Finanzgericht (FG) habe konkludent den Rechtssatz aufgestellt, das Wohnsitzfinanzamt sei an die Feststellungen des Betriebsstättenfinanzamts nach § 35 Abs. 3 EStG nicht gebunden. Im Urteil in BFHE 229, 524, BStBl II 2010, 912 habe der BFH hingegen den Rechtssatz aufgestellt, über die Frage, ob Teile des festgesetzten Gewerbesteuermessbetrags von der Einkommensteuerermäßigung nach § 35 Abs. 1 EStG 2001 ausgeschlossen seien, sei im Feststellungsverfahren nach § 35 Abs. 3 EStG 2001 zu entscheiden.

7

Die Kläger treten der Beschwerde entgegen und rügen, die Beschwerdebegründung wahre die Schriftform nicht. Aus dem Namenszug des Vertreters des Beklagten lasse sich kein Buchstabe erkennen. Die Unterzeichnung stelle sich damit nicht als Wiedergabe eines Namens, sondern vielmehr als bloßes Namenszeichen (Paraphe) dar. Die Beschwerdebegründung sei folglich nicht mit einem Namen versehen, aus dem auf die Identität des Verantwortlichen des Schriftsatzes zu schließen sei.

Entscheidungsgründe

8

II. 1. Die Beschwerde ist zulässig.

9

Zu Unrecht rügen die Kläger, die Schriftform der Beschwerdebegründungsschrift sei nicht gewahrt, weil sich aus dem Namenszug des Vertreters des FA kein Buchstabe erkennen lasse. Die Unterzeichnung sei keine Wiedergabe eines Namens, sondern vielmehr ein bloßes Namenszeichen (Paraphe). Aus der Beschwerdebegründung könne folglich nicht auf die Identität des Verantwortlichen des Schriftsatzes geschlossen werden.

10

Nach der Rechtsprechung des BFH ist bei bestimmenden Schriftsätzen die eigenhändige Unterschrift des Ausstellers erforderlich, um diesen unzweifelhaft identifizieren zu können. Was unter einer Unterschrift zu verstehen ist, ergibt sich aus dem Sprachgebrauch und dem Zweck der Formvorschrift.

11

Erforderlich, aber auch genügend ist danach das Vorliegen eines die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnenden Schriftzugs, der individuelle und entsprechend charakteristische Merkmale aufweist, die die Nachahmung erschweren, sich als Wiedergabe eines Namens darstellt und die Absicht einer vollen Unterschriftsleistung erkennen lässt, selbst wenn er nur flüchtig niedergelegt und von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichnet ist (Beschlüsse des Bundesgerichtshofs --BGH--  vom 9. Februar 2010 VIII ZB 71/09, nicht veröffentlicht; vom 26. Februar 1997 XII ZB 17/97, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht --FamRZ-- 1997, 737; Urteil vom 22. Oktober 1993 V ZR 112/92, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1994, 55, m.w.N.).

12

Unter diesen Voraussetzungen kann selbst ein vereinfachter und nicht lesbarer Namenszug als Unterschrift anzuerkennen sein, wobei insbesondere von Bedeutung ist, ob der Unterzeichner auch sonst in gleicher oder ähnlicher Weise unterschreibt (BGH-Beschluss in FamRZ 1997, 737). Nicht die Lesbarkeit oder die Ähnlichkeit des handschriftlichen Gebildes mit den Namensbuchstaben ist entscheidend, sondern es kommt darauf an, ob der Name vollständig, wenn auch nicht unbedingt lesbar, wiedergegeben wird (BGH-Beschluss vom 21. Februar 2008 V ZB 96/07, Grundeigentum 2008, 539). Ein Schriftzug, der nach seinem äußeren Erscheinungsbild eine bewusste und gewollte Namensabkürzung (Handzeichen, Paraphe) darstellt, genügt hingegen den an eine eigenhändige Unterschrift zu stellenden Anforderungen nicht (BGH-Beschluss vom 28. September 1998 II ZB 19/98, NJW 1999, 60).

13

Die Schriftform soll sicherstellen, dass ein Schriftsatz vom Absender stammt und es sich um keinen bloßen Entwurf handelt (Senatsbeschluss vom 29. November 1995 X B 56/95, BFHE 179, 233, BStBl II 1996, 140). Dieses Erfordernis ist im Streitfall gewährleistet. Der vom Vertreter des FA verwendete Namenszug ist äußerst individuell ausgestaltet, wenn auch einzelne Buchstaben nicht unbedingt identifizierbar sind. Um ein Handzeichen, eine Paraphe, wie im BFH-Urteil vom 2. August 2002 IV R 14/01 (BFH/NV 2002, 1604) handelt es sich eindeutig nicht. Hinzu kommt, dass auch von den Klägern an der Autorenschaft des Vertreters des FA keine Zweifel angemeldet worden sind. Schon deshalb ist eine großzügigere Betrachtungsweise geboten (BGH-Beschluss vom 27. September 2005 VIII ZB 105/04, NJW 2005, 3775). Die Urheberschaft des Vertreters des FA wird bestätigt durch die maschinenschriftliche Namenswiedergabe und durch den Umstand, dass im vorliegenden Verfahren auch die Unterschrift auf der Beschwerdeschrift dem Namenszug auf der Beschwerdebegründungsschrift ähnelt.

14

2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Insbesondere weicht das Urteil des FG nicht von der Entscheidung des BFH in BFHE 229, 524, BStBl II 2010, 912 ab.

15

a) Eine Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO setzt voraus, dass das FG bei gleichem oder vergleichbarem Sachverhalt in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage eine andere Auffassung vertritt als der Gerichtshof der Europäischen Union, der BFH, das Bundesverfassungsgericht, der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, ein anderes oberstes Bundesgericht oder ein anderes FG. Zur schlüssigen Darlegung einer Divergenzrüge nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO gehört u.a. eine hinreichend genaue Bezeichnung der vermeintlichen Divergenzentscheidung sowie die Gegenüberstellung tragender, abstrakter Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des FG einerseits und aus den behaupteten Divergenzentscheidungen andererseits, um eine Abweichung deutlich erkennbar zu machen (vgl. Senatsbeschluss vom 10. Mai 2012 X B 57/11, BFH/NV 2012, 1307, m.w.N.).

16

b) Im Streitfall hat das FA zwar die vermeintliche Divergenzentscheidung genau bezeichnet und abstrakte Rechtssätze aus dem angefochtenen FG-Urteil und der Entscheidung des BFH herausgearbeitet. Allein, die vom FA behauptete Abweichung liegt nicht vor. Zutreffend geht das FA zwar davon aus, dem BFH-Urteil in BFHE 229, 524, BStBl II 2010, 912 liege der Rechtssatz zugrunde, dass über die Frage, ob Teile des festgesetzten Gewerbesteuermessbetrags von der Einkommensteuerermäßigung nach § 35 Abs. 1 EStG 2001 ausgeschlossen sind, im Feststellungsverfahren nach § 35 Abs. 3 EStG 2001 zu entscheiden ist. Das FG hat im angefochtenen Urteil jedoch weder ausdrücklich noch konkludent den Rechtssatz aufgestellt, das Wohnsitzfinanzamt sei an die Feststellungen des Betriebsstättenfinanzamts nach § 35 Abs. 3 EStG nicht gebunden. Vielmehr ging das FG in Übereinstimmung mit der Entscheidung des BFH in BFHE 229, 524, BStBl II 2010, 912 davon aus, dass die Feststellung des Anteils des Beteiligten an dem festzusetzenden Gewerbesteuermessbetrag ein Grundlagenbescheid für die Ermittlung der Steuerermäßigung nach § 35 Abs. 1 EStG ist. Dementsprechend hat es erkannt, dass der vom Betriebsstättenfinanzamt festgestellte anteilige Gewerbesteuermessbetrag des Klägers bei der Berechnung des Steuerermäßigungsbetrags nach § 35 EStG zu berücksichtigen ist.

17

c) Eine andere Frage ist, ob das Betriebsstättenfinanzamt den auf den Kläger entfallenden anteiligen Gewerbesteuermessbetrag zutreffend berechnet hat. Zwar hegt der beschließende Senat insoweit Zweifel. Ein möglicher Fehler des Betriebsstättenfinanzamts im Feststellungsverfahren kann jedoch die Zulassung der Revision gegen das FG-Urteil im Folgeverfahren nicht rechtfertigen.

18

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

19

4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.

(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen; Buch 6 der Zivilprozessordnung ist nicht anzuwenden. Die Vorschriften des Siebzehnten Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes sind mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt. In Streitigkeiten über Entscheidungen des Bundeskartellamts, die die freiwillige Vereinigung von Krankenkassen nach § 172a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch betreffen, sind die §§ 63 bis 80 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt.

Eine Entscheidung ist stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war;
2.
wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen war, sofern nicht dieses Hindernis mittels eines Ablehnungsgesuchs ohne Erfolg geltend gemacht ist;
3.
wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war;
4.
wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat;
5.
wenn die Entscheidung auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
6.
wenn die Entscheidung entgegen den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht mit Gründen versehen ist.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
II ZR 101/05 Verkündet am:
16. Oktober 2006
Vondrasek
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Ist ein sog. Protokollurteil des Berufungsgerichts nur von dem Senatsvorsitzenden
und dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle unterschrieben und können
die fehlenden Unterschriften der beiden beisitzenden Richter (§ 315 Abs. 1
Satz 1 ZPO) wegen Ablaufs der insoweit maßgeblichen fünfmonatigen Höchstfrist
für die Rechtsmitteleinlegung (§ 548 ZPO) nicht mehr rechtswirksam nachgeholt
werden, so stellt das einen absoluten Revisionsgrund nach § 547 Nr. 6
ZPO dar (im Anschl. an BGH, Urt. v. 27. Januar 2006 - V ZR 243/04,
NJW 2006, 1881 Tz 16 f.).
BGH, Urteil vom 16. Oktober 2006 - II ZR 101/05 - OLG München
LG Augsburg
Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche
Verhandlung vom 16. Oktober 2006 durch den Vorsitzenden Richter
Prof. Dr. Goette und die Richter Dr. Kurzwelly, Kraemer, Prof. Dr. Gehrlein und
Caliebe

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 14. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München, Zivilsenate in Augsburg, vom 24. Februar 2005 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


1
Der Kläger, der mit einem Behinderungsgrad von 90 schwerbehindert ist, schloss am 22. Juli/1. August 1999 mit der m. AG & Co. KG ("m. "), vertreten durch die v. AG, einen Vertrag über seine Anstellung als Geschäftsführer mit Wirkung ab 1. April 2000. Unter Nr. 1.1. des Anstellungsvertrages (AV) wird die Position des Klägers dahingehend beschrieben, dass er "selbständig, verantwortlich und mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes die Geschäfte der m. im Rahmen der Satzung, der Geschäftsordnung und nach Maßgabe der Gesellschaf- terbeschlüsse" führt; nach Nr. 1.2. AV vertritt der Kläger "in seiner Funktion als Profit-Center-Leiter der m. AG & Co. KG" die Interessen (auch) der S. GmbH gegenüber einer anderen Gesellschaft, wobei diese Aufgabe mit der vereinbarten Vergütung bei der m. abgegolten sein soll. Nach Nr. 1.5. des Vertrages bedürfen zahlreiche unter lit. (a) bis (s) im Einzelnen näher beschriebene Tätigkeiten der Zustimmung der m. . Seit 1. März 2000 firmiert die Vertragspartnerin des Klägers nach einem Wechsel der Komplementärin unter der Bezeichnung der Beklagten als "w. GmbH & Co. KG", deren Komplementärin nunmehr die "w. Verwaltungsgesellschaft mbH" und deren Kommanditisten die W. Holding GmbH & Co. sowie die v. AG & Co. KG sind. Aufgrund Gesellschafterbeschlusses vom 1. März 2002 führte der Kläger als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH der Beklagten deren Geschäfte. Am 27. Januar 2003 sprach der Vorstand der "v. AG & Co. KG" dem Kläger gegenüber die "Abberufung als zweiter Geschäftsführer der w. " aus. Mit Schreiben vom 17. Juni 2003 kündigte die Beklagte das Anstellungsverhältnis des Klägers "aus betriebsbedingten Gründen fristgemäß mit Wirkung zum 31. Dezember 2003".
2
Mit seiner zunächst bei dem Arbeitsgericht erhobenen Klage begehrt der Kläger die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung und des Fortbestehens seines Dienstverhältnisses über den 31. Dezember 2003 hinaus, indem er sich auf das Fehlen der seiner Ansicht nach erforderlichen Zustimmung des Integrationsamtes zu der Kündigung gemäß § 85 SGB IX beruft. Das angerufene Arbeitsgericht hat den Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht München mit der Begründung verwiesen, der Kläger sei als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH der Beklagten kraft Gesetzes auch zu deren Vertretung berufen gewesen und damit nicht Arbeitnehmer im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbG.
3
Das Landgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Kläger sei aufgrund seiner organschaftlichen Vertreterstellung als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH nicht Arbeitnehmer im arbeitsrechtlichen Sinne, so dass die Kündigung nicht nach § 85 SGB IX zustimmungsbedürftig gewesen sei. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers durch ein sog. Protokollurteil zurückgewiesen, das am Schluss der Sitzung, in der die mündliche Verhandlung stattgefunden hat, verkündet wurde. Entscheidungsformel und -gründe sind in das nur von dem Vorsitzenden des Berufungszivilsenats und einer Justizangestellten unterschriebene Sitzungsprotokoll aufgenommen worden.
4
Mit der - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe:


5
Die Revision ist begründet.
6
I. Auf die Revisionsrüge des Klägers unterliegt das Urteil des Berufungsgerichts bereits deshalb der Aufhebung, weil es nicht von allen Richtern unterschrieben ist, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben.
7
1. Nach § 315 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist das Urteil von sämtlichen Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterschreiben. Das waren hier nach der Verlautbarung am Anfang des Protokolls der mündlichen Verhandlung (vgl. § 309 ZPO) drei Richter des 14. Zivilsenats des Berufungsgerichts. Das Protokoll, das auch das Urteil enthält, ist jedoch nur von dem Senatsvorsitzenden und von der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterschrieben.
8
Das reicht - wie bereits der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes durch Urteil vom 27. Januar 2006 (V ZR 243/04, NJW 2006, 1881 unter Bezugnahme auf BGHZ 158, 37, 41) zu einer identischen Verfahrensweise desselben 14. Zivilsenats des Berufungsgerichts entschieden hat - für das verfahrensrechtlich einwandfreie Zustandekommen des Urteils nicht aus.
9
Zwar ist das angefochtene Protokollurteil auch ohne Unterschrift sämtlicher an der Entscheidungsfindung mitwirkenden Richter mit seiner Verkündung existent geworden (BGHZ 137, 49, 52). Jedoch können die fehlenden Unterschriften nicht mehr rechtswirksam nachgeholt werden, weil seit der Urteilsverkündung die für die Einlegung eines Rechtsmittels längste Frist von fünf Monaten (§§ 517, 548 ZPO) verstrichen ist (BGH, NJW aaO S. 1882). Das Fehlen der Unterschriften stellt einen absoluten Revisionsgrund dar (§ 547 Nr. 6 ZPO). Damit steht nicht fest, dass die in das Protokoll über die mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht aufgenommenen Entscheidungsgründe für die getroffene Entscheidung auch wirklich maßgebend waren.
10
Aufgrund dessen fehlen die für die revisionsrechtliche Nachprüfung notwendigen Entscheidungsgründe (BGH, NJW aaO S. 1882).
11
II. Der aufgezeigte Verfahrensfehler führt - ohne dass es auf die weiteren , vom Kläger erhobenen Revisionsrügen ankäme - zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht (§§ 562 Abs. 1, 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
12
III. Für die erneute mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht weist der Senat auf Folgendes hin:
13
1. Soweit der Kläger - wie mit der Revision gerügt - in der Zurückweisung seines Vorbringens zur angeblichen weitreichenden tatsächlichen Einschränkung seiner Befugnisse als Geschäftsführer durch das Berufungsgericht (§ 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO) auch weiterhin einen Verstoß gegen sein Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs sehen wollte, weil angeblich ein entsprechender Verfahrensmangel im ersten Rechtszug (§ 531 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) vorgelegen habe, wäre dem nicht zu folgen. Denn bereits das Arbeitsgericht hat vor seiner Entscheidung über die Verweisung des Rechtsstreits an das Landgericht darauf hingewiesen, dass seiner Einschätzung nach der Kläger in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH kein Arbeitnehmer im arbeitsrechtlichen Sinne gewesen sei; das hat der Kläger zur Kenntnis genommen und mit Schriftsatz vom 20. Februar 2004 selbst darauf hingewiesen, dass er diese Einschätzung teile und daher kein Rechtsmittel gegen den Verweisungsbeschluss des Arbeitsgerichts eingelegt habe. Angesichts dessen bedurfte es vor der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht, in der die Sache eingehend erörtert worden ist, keines gerichtlichen Hinweises dahingehend, dass der Kläger die Darlegungs- und Beweislast für solche Umstände trägt, die trotz seiner Rechtsstellung als Geschäftsführer und damit Organ der Komplementär-GmbH der Beklagten ausnahmsweise seine arbeitgeberähnliche Position entfallen lassen und die Schutzvorschrift des § 85 SGB IX zu seinen Gunsten zur Anwendung kommen lassen könnten.
14
2. Eine derartige Verfahrenssituation entbindet das Berufungsgericht freilich nicht von der Verpflichtung, den unstreitigen Inhalt des Geschäftsführeranstellungsvertrages des Klägers hinsichtlich der dort beschriebenen vertraglichen Aufgaben und die Bedeutung seiner Position trotz der formalen Bezeichnung als Geschäftsführer im Hinblick auf eine etwaige konkrete Ausgestaltung des Dienstverhältnisses als arbeitnehmerähnliches Rechtsverhältnis und damit zugleich auch auf eine etwaige Anwendbarkeit der Schutzvorschrift des § 85 SGB IX über die Zustimmung des Integrationsamtes hin zu überprüfen.
15
Im Rahmen der dem Berufungsgericht obliegenden Gesamtwürdigung der Ausgestaltung des Anstellungsverhältnisses des Klägers wird in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen sein, dass der Anstellungsvertrag seinerzeit von der damaligen Komplementär-AG der beklagten Kommanditgesellschaft mit dem Kläger geschlossen worden ist und insofern die Bezeichnung als "Geschäftsführer" irreführend wäre, zumal seine funktionale Position unter Nr. 1.2. AV auch als "Profit-Center-Leiter" der KG beschrieben wurde, dem gemäß Nr. 1.3. AV noch "weitere oder andere Aufgaben im Konzern zugewiesen werden" konnten. Für die Komplementär-Gesellschaft konnte er seinerzeit jedenfalls nicht ohne weiteres "als Geschäftsführer" tätig werden, weil diese im Zeitpunkt des Vertragsschlusses eine - durch ihren Vorstand vertretene - Aktiengesellschaft war. Wie die Funktion des Klägers als Profit-Center-Leiter in Bezug auf die Abgrenzung zwischen Organstellung und arbeitnehmerähnlicher Position zu bewerten ist, wird auch unter dem Blickwinkel der weitgehenden Einschränkungen seiner Entscheidungsbefugnisse aufgrund der umfangreichen Zustimmungserfordernisse gemäß Nr. 1.5. AV lit. (a) bis (s) zu beurteilen sein. Diese Gesichtspunkte könnten selbst dann bedeutsam bleiben, wenn - wie hier - der Kläger ab dem vertraglich vorgesehenen Zeitpunkt seines Tätigkeitsbeginns am 1. April 2000 tatsächlich sogleich als Geschäftsführer der dann neu als Komplementärin an die Stelle der Aktiengesellschaft getretenen GmbH tätig geworden ist. Aus dem Vertragswortlaut ist zumindest nicht ohne weiteres erkennbar , dass bereits bei Vertragsschluss feststand, dass die Gesellschaftsverhältnisse hinsichtlich der Komplementärin der Beklagten in die Rechtsform der GmbH überführt würden.
16
Für die danach gebotene, dem Vorbringen beider Parteien gerecht werdende (Art. 103 GG) Darlegung und Begründung des Ergebnisses der Gesamtwürdigung der Ausgestaltung des Anstellungsverhältnisses des Klägers im Hinblick auf § 85 SGB IX in der neuen Entscheidung des Berufungsgerichts wird sich die Form des sog. Protokollurteils kaum eignen.
Goette Kurzwelly Kraemer
Gehrlein Caliebe
Vorinstanzen:
LG Augsburg, Entscheidung vom 22.04.2004 - 1 HKO 492/04 -
OLG München in Augsburg, Entscheidung vom 24.02.2005 - 14 U 399/04 -

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

(1) Ist die Revision unbegründet, so weist das Bundessozialgericht die Revision zurück. Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Gesetzesverletzung, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision ebenfalls zurückzuweisen.

(2) Ist die Revision begründet, so hat das Bundessozialgericht in der Sache selbst zu entscheiden. Sofern dies untunlich ist, kann es das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurückverweisen, welches das angefochtene Urteil erlassen hat.

(3) Die Entscheidung über die Revision braucht nicht begründet zu werden, soweit das Bundessozialgericht Rügen von Verfahrensmängeln nicht für durchgreifend erachtet. Dies gilt nicht für Rügen nach § 202 in Verbindung mit § 547 der Zivilprozeßordnung und, wenn mit der Revision ausschließlich Verfahrensmängel geltend gemacht werden, für Rügen, auf denen die Zulassung der Revision beruht.

(4) Verweist das Bundessozialgericht die Sache bei der Sprungrevision nach § 161 zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück, so kann es nach seinem Ermessen auch an das Landessozialgericht zurückverweisen, das für die Berufung zuständig gewesen wäre. Für das Verfahren vor dem Landessozialgericht gelten dann die gleichen Grundsätze, wie wenn der Rechtsstreit auf eine ordnungsgemäß eingelegte Berufung beim Landessozialgericht anhängig geworden wäre.

(5) Das Gericht, an das die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, hat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen.

Eine Entscheidung ist stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war;
2.
wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen war, sofern nicht dieses Hindernis mittels eines Ablehnungsgesuchs ohne Erfolg geltend gemacht ist;
3.
wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war;
4.
wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat;
5.
wenn die Entscheidung auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
6.
wenn die Entscheidung entgegen den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht mit Gründen versehen ist.

Das Bundessozialgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird der Beschluss des Landessozialgerichts Hamburg vom 12. April 2012 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten über eine höhere Regelaltersrente. Der Kläger stimmte am 10.7.2009 einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zu, nachdem ihn das SG zum Betreiben des Verfahrens aufgefordert und ihn gleichzeitig über den Eintritt der Klagerücknahmefiktion belehrt hatte, weil er es versäumt habe, ein - nicht aktenkundiges - Schreiben des Gerichts innerhalb von 13 Tagen zu beantworten. Das SG wies die Klage - ohne mündliche Verhandlung - durch Urteil vom 24.11.2011 ab und ließ es dem Kläger am 15.12.2011 durch Einlegen in dessen Wohnungsbriefkasten zustellen. Der Kläger war jedoch am 12.12.2011 urlaubsbedingt nach Südafrika gereist und kehrte erst am 25.1.2012 nach Deutschland zurück. Am 26.1.2012 legte er Berufung ein und beantragte Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist. Das LSG hat die Berufung verworfen und die Revision nicht zugelassen (Beschluss vom 12.4.2012): Die einmonatige Berufungsfrist sei versäumt; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren. Denn der Kläger habe keine besonderen Vorkehrungen dafür getroffen, dass ihn eingehende Sendungen erreichten, obwohl hierzu angesichts des laufenden Klageverfahrens besonderer Anlass bestanden habe. Auch wenn das Verfahren über längere Zeit nicht gefördert worden sei, habe er mit dessen Fortsetzung rechnen müssen. Um einen Schuldvorwurf zu vermeiden, habe der Kläger vor Reiseantritt zumindest eine Sachstandsanfrage an das SG richten oder seine bevorstehende längere Abwesenheit mitteilen müssen. Gegen die Nichtzulassung der Revision hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt und einen Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 67 Abs 1 SGG geltend gemacht.

2

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.

3

Der Kläger hat ordnungsgemäß dargetan, dass das LSG gegen § 67 Abs 1 SGG verstoßen habe und das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruhen könne 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 S 3 SGG).

4

Der gerügte Verfahrensmangel liegt auch vor. Gemäß § 67 Abs 1 SGG(iVm § 153 Abs 1 SGG) ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Der Kläger hat die gesetzliche Verfahrensfrist des § 151 Abs 1 SGG nicht eingehalten. Danach ist die Berufung bei dem LSG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Das Urteil des SG ist dem Kläger am 15.12.2011 - mit zutreffender Rechtsmittelbelehrung (§ 66 SGG) - durch Einlegen in den zu seiner Wohnung gehörenden Briefkasten (§ 63 Abs 2 S 1 iVm § 180 S 1 und 2 ZPO) im Inland wirksam zugestellt (§ 133 S 1, § 135 SGG) worden. Damit begann die einmonatige Berufungsfrist am 16.12.2011 (§ 64 Abs 1 SGG) und lief am Montag, dem 16.1.2012 ab (§ 64 Abs 2 S 1 und Abs 3 SGG). Die Berufung ist jedoch erst am 26.1.2012 und damit verspätet beim LSG eingegangen.

5

Der Kläger war aus tatsächlichen Gründen "verhindert", die Berufungsfrist einzuhalten. Denn er hielt sich während der einmonatigen Berufungsfrist (§ 151 Abs 1 SGG) urlaubsbedingt im Ausland auf und erfuhr von der Ersatzzustellung des Urteils erst nach seiner Rückkehr am 25.1.2012. Dieses Fristversäumnis des schuldfähigen (vgl § 276 Abs 1 S 2, § 827 S 1, § 104 Nr 2 BGB) Klägers erfolgte "ohne Verschulden", dh weder vorsätzlich noch fahrlässig. Es existieren keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger die Berufungsfrist vorsätzlich verpasste, weil er das Fristversäumnis zumindest billigend in Kauf nahm (bedingter Vorsatz). Fahrlässig handelt, wer diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die einem gewissenhaften Prozessführenden, der seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnimmt, nach den Gesamtumständen des konkreten Falles zuzumuten ist (BSG Beschlüsse vom 24.10.2007 - B 5a R 340/07 B - SozR 4-1500 § 67 Nr 7 RdNr 14 und vom 11.12.2008 - B 6 KA 34/08 B - Juris RdNr 7) und deshalb die Möglichkeit der Fristversäumnis entweder gar nicht voraussieht (unbewusste Fahrlässigkeit) oder nicht vermeidet (bewusste Fahrlässigkeit).

6

Welche Sorgfalt einem Bürger, der eine ständige Wohnung besitzt und diese nur vorübergehend während eines Urlaubs nicht benutzt, allgemein zuzumuten ist, hat das BVerfG - mit Bindungswirkung gemäß § 31 Abs 1 BVerfGG(BVerfG Beschlüsse vom 10.6.1975 - 2 BvR 1018/74 - BVerfGE 40, 88, 93 f und vom 8.7.1975 - 2 BvR 1099/74 - BVerfGE 40, 182, 186 f) - bereits mehrfach entschieden (BVerfG Beschlüsse vom 21.1.1969 - 2 BvR 724/67 - BVerfGE 25, 158, 166, vom 9.7.1969 - 2 BvR 753/68 - BVerfGE 26, 315, 319 und vom 16.11.1972 - 2 BvR 21/72 - BVerfGE 34, 154, 156 f). Danach braucht niemand während eines mehrwöchigen Urlaubs für diese Zeit besondere Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen. Der Staatsbürger könne damit rechnen, dass er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhalte, falls ihm während seiner Urlaubsabwesenheit etwa eine Strafverfügung oder ein Bußgeldbescheid durch Niederlegung bei der Post zugestellt werde und er aus Unkenntnis dieser Ersatzzustellung die Einspruchsfrist versäumen sollte. Andernfalls wäre sein Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG) verletzt. Diese Grundsätze hat das BSG uneingeschränkt auf das sozialgerichtliche Verfahren übertragen (BSG Urteil vom 24.8.1976 - 8 RU 130/75 - SozR 1500 § 67 Nr 6) und ergänzend festgelegt, dass sie auch gölten, wenn der Betroffene mit der Zustellung eines sozialgerichtlichen Urteils habe rechnen müssen. Zur Höchstdauer einer unschädlichen Urlaubsreise in diesem Sinne hat das BVerfG ausgeführt, die urlaubsbedingte Abwesenheit von einer sonst ständig benutzen Wohnung dürfe nur vorübergehend und relativ kurzfristig sein; "zu denken wäre an längstens etwa sechs Wochen" (BVerfG Beschluss vom 11.2.1976 - 2 BvR 849/75 - BVerfGE 41, 332, 336). Mit dem vorangestellten Adverb "längstens" (iS von "keinesfalls länger als") verdeutlicht das BVerfG einerseits, dass es eine zeitliche Obergrenze gibt, und lässt mit dem nachgestellten vagen Adverb "etwa" (iS von "ungefähr") andererseits bewusst Raum für die Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls. Damit bleibt der Grenzwert variabel und kann im Einzelfall oberhalb oder auch unterhalb von sechs Wochen anzusiedeln sein (vgl dazu auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 67 RdNr 7a). Der Sechs-Wochen-Zeitraum als Richtwert für urlaubsbedingte Fristversäumnisse lässt sich auf die (generelle) Tatsache zurückführen, dass eine deutliche Mehrheit der tarifvertraglich erfassten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer "Anspruch auf eine Urlaubsdauer von 6 Wochen oder mehr" hat und der durchschnittliche tarifvertragliche Urlaubsanspruch im früheren Bundesgebiet 31 Arbeitstage und im Beitrittsgebiet 30 Arbeitstage beträgt (Statistisches Taschenbuch 2011, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Stand: November 2011, 4.9).

7

Eine Urlaubsreise von sechs Wochen und zwei Tagen, wie sie der Kläger unternommen hat, lässt sich unter den Begriff "etwa sechs Wochen“ subsumieren. Betrachtet man zudem den Reisezeitraum vom 12.12.2011 bis 25.1.2012 konkret, so hätte ein Arbeitnehmer (mit 5-Tage-Woche) dafür 31 Urlaubstage aufwenden müssen, wobei berücksichtigt ist, dass innerhalb dieses Zeitraums ein gesetzlicher Feiertag (26.12.2011) auf einen Montag fiel. Der Südafrikaurlaub des Klägers bewegte sich mithin noch im Rahmen des durchschnittlichen tarifvertraglichen Urlaubsanspruchs. Lässt sich unter diesen Umständen die urlaubsbedingte Abwesenheit des Klägers mit guten Gründen unter den (unscharfen) Begriff "längstens etwa sechs Wochen" fassen, entfällt ein Schuldvorwurf. Ist nämlich eine bestimmte Auslegung höchstrichterlicher Rechtssätze, die sich innerhalb des möglichen Wortsinns bewegt, möglich und vertretbar, kann dem Rechtsuchenden nicht vorgeworfen werden, sich diese Interpretation zu Eigen gemacht zu haben. Denn ihm darf bei unklarer Rechtslage nicht das Subsumtionsrisiko vager Rechtsbegriffe aufgebürdet werden.

8

Der unvertretene Kläger durfte aber auch von Verfassungs wegen darauf vertrauen, dass er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhalten werde, wenn ihm während seines "etwa" sechswöchigen Urlaubs ein (belastendes) Urteil zugestellt werden und er aus Unkenntnis dieser Ersatzzustellung die Berufungsfrist versäumen sollte. Denn das SG hat das allgemeine verfassungsrechtliche Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren verletzt, das auf Art 1 Abs 1, Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG und auf Art 19 Abs 4 GG (BVerfG Beschlüsse vom 8.10.1974 - 2 BvR 747/73 - BVerfGE 38, 105, 111, vom 26.5.1981 - 2 BvR 215/81 - BVerfGE 57, 250, 275, vom 26.4.1988 - 1 BvR 669/87 ua - BVerfGE 78, 123, vom 14.10.2003 - 1 BvR 901/03 - NVwZ 2004, 334 sowie Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des 1. Senats vom 3.1.2001 - 1 BvR 2147/00 - NJW 2001, 1343 und Kammerbeschluss der 3. Kammer des 1. Senats vom 15.4.2004 - 1 BvR 622/98 - NJW 2004, 2149, 2150; Volland, MDR 2004, 377, 378) und auf Art 6 Abs 1 S 1 EMRK beruht (BSG Beschluss vom 17.12.2010 - B 2 U 278/10 B - Juris RdNr 4). Danach darf sich das Gericht nicht widersprüchlich verhalten (BVerfG Beschluss vom 14.5.1985 - 1 BvR 370/84 - BVerfGE 69, 381, 387), darf aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (BVerfG Beschlüsse vom 22.5.1979 - 1 BvR 1077/77 - BVerfGE 51, 188, 192, vom 9.2.1982 - 1 BvR 1379/80 - BVerfGE 60, 1, 6 und vom 14.4.1987 - 1 BvR 162/84 - BVerfGE 75, 183, 190) und ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfG Beschlüsse vom 8.10.1974 - 2 BvR 747/73 - BVerfGE 38, 105, 111 ff, vom 10.6.1975 - 2 BvR 1074/74 - BVerfGE 40, 95, 98 f und vom 19.10.1977 - 2 BvR 462/77 - BVerfGE 46, 202, 210). Diese Grundsätze haben SG und LSG nicht ausreichend beachtet. Das SG hatte mit seiner Anfrage vom 3.6.2009, ob der Kläger einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zustimme, bereits signalisiert, dass die Sache entscheidungsreif sei, und damit gleichzeitig die Erwartung geweckt, es werde nach Eingang der Einverständniserklärung rasch entschieden. Diese Erwartung enttäuschte das SG durch seine 28monatige Untätigkeit und verhielt sich damit widersprüchlich. Es ist jedoch mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens, dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens und dem Rücksichtnahmegebot unvereinbar, von einem Verfahrensbeteiligten zu verlangen, er müsse im Hinblick auf etwaige Handlungen des Gerichts jahrelang in einer prozessbezogenen "Hab-Acht-Stellung" verharren oder über seine jeweiligen Aufenthaltsorte informieren, obwohl das Verfahren - wie hier - verfahrensfehlerhaft zum Stillstand gekommen ist. Dies gilt ungeachtet des Umstandes, dass Sachstandsanfragen der Beklagten vom Gericht weder beantwortet noch dem Kläger zur Kenntnis zugeleitet wurden. Ebenso kann offenbleiben, ob überhaupt eine ausdrückliche und eindeutige Erklärung der Beklagten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung vorlag.

9

Soweit sich das LSG auf den Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des 1. Senats des BVerfG vom 7.8.2007 (1 BvR 685/07 - NJW 2007, 3486) und den Beschluss des BSG vom 14.11.2008 (B 12 KR 82/07 B - Juris) beruft, gilt nichts anderes. Der Kammerbeschluss des BVerfG hat - anders als die zitierten Senatsbeschlüsse des BVerfG - schon keine Bindungswirkung iS des § 31 Abs 1 BVerfGG(BVerfG Beschluss vom 7.3.1968 - 2 BvR 354/66 ua - BVerfGE 23, 191, 207; vgl auch Senatsurteil vom 14.12.2011 - B 5 R 2/10 R - Juris RdNr 44): Beiden Entscheidungen kommt zudem keine materielle Rechtskraft zu, weil sie lediglich die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde bzw Nichtzulassungsbeschwerde verneinen. Sie stellen die oben genannten höchstrichterlichen Rechtssätze aber auch inhaltlich nicht in Frage. Denn nach beiden Entscheidungen obliegt es einem Verfahrensbeteiligten lediglich dann, seinen Posteingang zu kontrollieren und für eine rechtzeitige Erledigung fristwahrender Handlungen zu sorgen, wenn er "erwarten musste", dass während seiner Abwesenheit Fristen in Lauf gesetzt oder Termine bestimmt werden. Ein künftiges Ereignis ist aber nur zu "erwarten", wenn es prognostisch zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Für eine derartige Wahrscheinlichkeitsaussage benötigt der Verfahrensbeteiligte konkrete Anhaltspunkte, wie zB einen bereits zurückliegenden Verkündungstermin (BGH Beschluss vom 24.7.2000 - II ZB 22/99 - NJW 2000, 3143), die Anhängigkeit eines Eilverfahrens (vgl Keller, aaO, § 67 RdNr 7a), das Scheitern von Vergleichsverhandlungen und der Ablauf einer zuvor gesetzten Zahlungsfrist (BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 7.8.2007 - 1 BvR 685/07 - NJW 2007, 3486) oder die Information über eine beabsichtigte baldige Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung. Als der Kläger seine Auslandsreise antrat, existierten keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Kammer bereits ein Urteil ohne mündliche Verhandlung gefällt hatte und ihm in der ersten Urlaubswoche zustellen würde, nachdem 28 Monate zuvor nichts geschehen war. Die bloße Möglichkeit oder gewisse Wahrscheinlichkeit, dass das SG während der ersten Urlaubsphase mit der Ersatzzustellung eines belastenden Urteils die einmonatige Berufungsfrist in Gang setzen würde, verdichtete sich nicht allein deshalb zu einer hohen Wahrscheinlichkeit, weil ein Gerichtsverfahren anhängig und - entgegen Art 19 Abs 4 S 1 GG, Art 6 Abs 1 EMRK - trotz Entscheidungsreife seit 28 Monaten nicht mehr gefördert worden war. Das SG hatte damit gleichermaßen die normative Erwartung des Klägers, Rechtschutz "innerhalb angemessener Frist" (Art 6 Abs 1 S 1 EMRK) zu erhalten, wie auch dessen faktische Erwartung enttäuscht, nach Erklärung seines Einverständnisses mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zeitnah eine Entscheidung zu erhalten. Die Rückkehr des SG zu einer prozessordnungsgemäßen Vorgehensweise war gänzlich ungewiss. Umgekehrt oblag es nicht dem Kläger, die überlange Verfahrensdauer, die auf staatlichem Fehlverhalten beruhte, mit besonderen Vorkehrungen für etwaige Zustellungen zu kompensieren (in diesem Sinne auch Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl 2012, § 60 RdNr 10 Fußnote 35: abgeschwächte Anforderungen, "selbst bei anhängigen Verfahren, wenn längere Zeit nichts mehr 'los' war").

10

Auf dem Verfahrensmangel kann die angefochtene Entscheidung beruhen. Hätte das LSG dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt, dann hätte es die Berufung aller Voraussicht nach für zulässig erachtet und nicht als unzulässig verworfen. Dann wäre anstelle eines Prozessurteils eine Sachentscheidung ergangen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Sachentscheidung zugunsten des Klägers ausgefallen wäre.

11

Nach § 160a Abs 5 SGG kann das erkennende Gericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

12

Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Das Gericht entscheidet über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.

(1) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

(2) Der Vorsitzende hat bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen.

(3) Zu diesem Zweck kann er insbesondere

1.
um Mitteilung von Urkunden sowie um Übermittlung elektronischer Dokumente ersuchen,
2.
Krankenpapiere, Aufzeichnungen, Krankengeschichten, Sektions- und Untersuchungsbefunde sowie Röntgenbilder beiziehen,
3.
Auskünfte jeder Art einholen,
4.
Zeugen und Sachverständige in geeigneten Fällen vernehmen oder, auch eidlich, durch den ersuchten Richter vernehmen lassen,
5.
die Einnahme des Augenscheins sowie die Begutachtung durch Sachverständige anordnen und ausführen,
6.
andere beiladen,
7.
einen Termin anberaumen, das persönliche Erscheinen der Beteiligten hierzu anordnen und den Sachverhalt mit diesen erörtern.

(4) Für die Beweisaufnahme gelten die §§ 116, 118 und 119 entsprechend.

(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 7. November 2013 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Hinterbliebenenleistungen nach dem Tod ihres Ehemanns (Versicherter).

2

Der im Jahre 1943 geborene Versicherte war als Verwaltungsangestellter und Amtsbetreuer auch für eine Vielzahl von Koma-Patienten verantwortlich. Am 7.9.2006 wurde er auf dem Weg von seiner Arbeitsstelle nach Hause von einem herannahenden Motorrad erfasst und schlug mit dem Kopf ohne Helm auf der Bordsteinkante auf. Hierbei zog er sich ua ein schweres Schädelhirntrauma zu und verlor das Bewusstsein. Als Folge des Schädelhirntraumas bestand ein apallisches Syndrom (Wachkoma); willkürliche Reaktionen waren nicht mehr möglich. Der Versicherte war vollständig auf pflegerische Hilfe angewiesen. Die Extremitäten waren tetraplegisch. Wegen einer Dysphagie war der Versicherte seither mit einem Tracheostoma versorgt und wurde künstlich über eine Magensonde ernährt. Er war stuhl- und harninkontinent. Der Versicherte wurde Ende 2006 zur zustandserhaltenden Pflege in ein Wachkomazentrum verlegt und dort stationär pflegerisch, physiotherapeutisch, ergotherapeutisch und logopädisch behandelt; am fortbestehenden Wachkoma änderte sich nichts.

3

Die Klägerin wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Bernau vom 19.3.2007 für alle Angelegenheiten des Versicherten zur Betreuerin bestellt. Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 18.3.2008 das Ereignis vom 7.9.2006 als Arbeitsunfall an. Sie gewährte dem Versicherten eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH. In der Folgezeit setzte die Beklagte die Verletztenrente wegen des Zusammentreffens mit der Heimunterbringung auf die Hälfte herab (Bescheid vom 1.12.2009 und Widerspruchsbescheid vom 23.9.2010).

4

Das Unfallkrankenhaus B stellte in einem Bericht vom 29.3.2010 ua fest, dass eine positive Veränderung des Gesundheitszustands des Versicherten nicht mehr zu erwarten sei. In der Folgezeit reifte bei der Klägerin der Entschluss, bei dem Versicherten die Versorgung über die Magensonde einzustellen. Die Klägerin und ihre erwachsenen Söhne erstellten am 9.7.2010 einen von ihnen unterschriebenen Vermerk, in dem sie festhielten, dass der Versicherte, bei dem keine Patientenverfügung in schriftlicher Form vorlag, "zu Zeiten vor seinem Unfall wiederholt und ganz klar geäußert hat, niemals nur durch lebensverlängernde Maßnahmen weiterleben zu wollen". Die Klägerin und ihre Söhne hätten deshalb am 4.7.2010 einvernehmlich entschieden "sein Leiden nach fast vier Jahren zu beenden und ihn sterben zu lassen".

5

Die Klägerin durchtrennte nach Absprache mit der Heimleitung am 12.7.2010 die der Ernährung des Versicherten dienende Magensonde. Der Versicherte verstarb am 20.7.2010 an Unterernährung, ohne nach dem Unfall das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Als Todesursache wurde Marasmus infolge Beendigung der Nahrungszufuhr festgestellt. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 26.8.2010 die von der Klägerin beantragte Hinterbliebenenrente und die Gewährung von Sterbegeld ab. Ein rechtlich wesentlicher Ursachenzusammenhang zwischen den anerkannten Unfallfolgen und dem Tod des Versicherten lasse sich nicht feststellen. Der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 23.2.2011).

6

Die Klägerin hat Klage zum SG Berlin erhoben und geltend gemacht, es sei ausgeschlossen gewesen, dass sich der Gesundheitszustand des Versicherten wieder bessern würde. Unter dem Eindruck des zur Straflosigkeit eines Behandlungsabbruchs ergangenen Urteils des BGH vom 25.6.2010 (2 StR 454/09) habe sie sich zusammen mit ihren Söhnen entschlossen, den Versicherten sterben zu lassen.

7

Die Staatsanwaltschaft Berlin hat das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen die Klägerin mangels hinreichenden Tatverdachts eines Tötungsdelikts mit Verfügung vom 26.11.2012 gemäß § 170 Abs 2 StPO eingestellt.

8

Das SG hat die Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente und Sterbegeld zu zahlen (Urteil vom 16.1.2012). Das LSG hat durch Urteil vom 7.11.2013 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe als Witwe des Versicherten einen Anspruch auf Sterbegeld gemäß § 64 Abs 1 SGB VII und auf Witwenrente aus § 65 SGB VII iVm § 63 Abs 1 SGB VII, weil der Tod des Versicherten infolge des Versicherungsfalls eingetreten sei und kein Anspruchsausschluss nach § 101 Abs 1 SGB VII vorliege. Es liege ein Arbeitsunfall gemäß § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII vor, weil der Versicherte "im Wesentlichen" wegen der Folgen des Unfalls vom 7.9.2006 verstorben sei. In dem aufgrund des Unfallereignisses eingetretenen Gesundheitserstschaden, der zunächst zu einem Wachkoma geführt habe, liege eine wesentliche Ursache für den am 20.7.2010 eingetretenen Tod des Versicherten. Der Versicherte habe so schwere Verletzungen davongetragen, dass der Todeseintritt durch die intensivmedizinische Sofortbehandlung und die unmittelbar anschließende, ununterbrochene Intensivpflege letztlich nur aufgeschoben habe werden können. Der Versicherte sei unfallbedingt nicht mehr selbständig lebensfähig gewesen, sondern todgeweiht. Nach Ablauf von fast vier Jahren sei nach Meinung der behandelnden Ärzte eine funktionelle Erholung letztlich ausgeschlossen gewesen. Dementsprechend sei der Tod schließlich allein schon nach dem Unterlassen weiterer künstlicher Ernährung eingetreten. Dieses Unterlassen könne dem Unfall das Gepräge der alles überragenden Ursache für das Versterben des Versicherten nicht nehmen; es ebene dem nach dem Unfall natürlichen Sterbeprozess letztlich nur wieder den Weg. Hiernach könne dahinstehen, ob darin, dass die Klägerin die Magensonde durchtrennt habe, eine (weitere) wesentliche Ursache zu sehen sei, denn die Durchtrennung der Magensonde ändere nichts daran, dass wesentliche Todesursache die beim Unfall zugezogenen Verletzungen gewesen seien.

9

Der Anspruch sei auch nicht nach § 101 Abs 1 SGB VII ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift haben Personen, welche den Tod von Versicherten vorsätzlich herbeigeführt haben, keinen Anspruch auf Leistungen. Die Vorschrift regele einen Sonderfall der Verwirkung, nach der ein von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten nicht durch eine Entschädigung aus der Sozialversicherung "belohnt" werden solle. Der Ausschluss setze mithin nicht nur strafrechtliche Vorwerfbarkeit voraus, sondern greife seinem Sinn und Zweck nach selbst dann nicht, wenn eine Tötung auf Verlangen iS von § 216 StGB vorliege. Strafrechtlich nicht sanktionierte Sterbehilfe für einen Schwerstverletzten durch Behandlungsabbruch mit seinem tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen, die den Tod als mittelbare Unfallfolge herbeiführe, schließe daher Ansprüche nicht aus. Bei der von der Klägerin am Versicherten vorgenommenen Sterbehilfe sei kein von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten zu erkennen, welches nach dem Sinn und Zweck des § 101 SGB VII Hinterbliebenenansprüche ausschließen könne. Es liege kein strafbewehrtes Tötungsdelikt vor. Die Staatsanwaltschaft Berlin habe das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen eines Tötungsdelikts mangels hinreichenden Tatverdachts im Hinblick auf das Urteil des BGH vom 25.6.2010 - 2 StR 454/09 - nachvollziehbar eingestellt. Hiernach sei Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung (Behandlungsabbruch) gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspreche (vgl §§ 1901a ff BGB)und dazu diene, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen. Ebenso wie die Staatsanwaltschaft Berlin habe der Senat keine durchgreifenden Zweifel daran, dass der Behandlungsabbruch dem mutmaßlichen Willen des Versicherten entsprochen habe. Nach der von der Klägerin und den gemeinsamen drei erwachsenen Söhnen unterschriebenen Erklärung habe der Versicherte keine bloß lebensverlängernden Maßnahmen über sich ergehen lassen wollen. Dass er sich zu Lebzeiten gegenüber seinen Angehörigen in diesem Sinne geäußert habe, erscheine angesichts seiner beruflichen Tätigkeit als Betreuer für Koma-Patienten ohne weiteres nachvollziehbar. Die Klägerin habe sich zu einem derart behaupteten Patientenwillen auch nicht selbst in Widerspruch gesetzt, indem sie noch kurz vor dem Tod des Versicherten der Durchführung einer Blasen- und einer Zahnoperation zugestimmt, auf der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der zwischenzeitlich nicht mehr durchlässigen Magensonde bestanden und ferner auf die weitere Durchführung von Ergotherapie und Logopädie Wert gelegt habe. Hierzu habe die Klägerin plausibel ausgeführt, dass sie, als diese Behandlungsmaßnahmen notwendig geworden seien, schnell auf den Behandlungsbedarf habe reagieren müssen und nicht unter dem Eindruck dieses Behandlungsbedarfs über eine etwaige Sterbehilfe habe entscheiden wollen. Dass der Entschluss zur Sterbehilfe letztlich erst durch das Urteil des BGH vom 25.6.2010 befördert worden sei, sei nachvollziehbar. Auch die zweite Voraussetzung einer straffreien Sterbehilfe, dass der Behandlungsabbruch dazu diente, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen, liege vor.

10

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision. Sie rügt insbesondere eine Verletzung des § 101 SGB VII. Anders als in § 101 Abs 2 SGB VII bedürfe es nach dem Wortlaut des § 101 Abs 1 SGB VII keiner Verurteilung wegen eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens. § 101 Abs 1 SGB VII setze für den Leistungsausschluss lediglich vorsätzliches Handeln voraus. Das LSG setze sich mit seiner Rechtsprechung insoweit in Widerspruch zu der Rechtsprechung des BSG zu § 105 SGB VI(Hinweis auf BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 347/10 B). Die vom LSG hinzugezogene Kommentarliteratur sei in ihrer Argumentation zirkulär, weil sie sich für ihre Rechtsansicht weitgehend auf das erstinstanzliche Urteil des SG Berlin beziehe. Es werde zudem "Aufklärungsrüge" erhoben. Das LSG hätte den "Patientenwillen" des Versicherten im Sinne der Patientenverfügung gemäß § 1901a BGB aufklären und hierzu die Klägerin und deren Söhne persönlich anhören müssen. Des Weiteren hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, zu den Voraussetzungen des § 1904 Abs 2 und Abs 4 BGB Ermittlungen durchzuführen. Es sei unklar geblieben, ob zwischen den behandelnden Ärzten und der Klägerin Einvernehmen über den Patientenwillen bestanden habe. Wenn ein Einvernehmen bestanden hätte, dann hätte es eines Durchtrennens der Magensonde durch die Klägerin persönlich überhaupt nicht bedurft. Schließlich sei auch der Tod des Versicherten nicht infolge des Arbeitsunfalls eingetreten. Soweit das LSG davon ausgehe, dass der Versicherte infolge des unfallbedingten Wachkomas todgeweiht gewesen sei, widerspreche dies der herrschenden medizinischen Lehrmeinung, weil der Wachkomapatient gerade kein sterbender und damit todgeweihter Patient sei.

11

Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 7. November 2013 und des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2012 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

12

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

13

Sie beruft sich auf die angefochtenen Entscheidungen. Ergänzend trägt sie vor, sie habe sich bei dem zuständigen Betreuungsgericht um eine Zustimmung zum Behandlungsabbruch bemüht. Dort habe man ihr mitgeteilt, einer Zustimmung des Gerichts bedürfe es nicht. Sie sei sich mit der Heimleitung und den behandelnden Ärzten einig gewesen, dass eine Unterbrechung der Magensonde dem Patientenwillen entspreche.

Entscheidungsgründe

14

Die statthafte und zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das LSG entschieden, dass der Klägerin Ansprüche auf Leistungen bei Tod gemäß § 63 Abs 1 SGB VII zustehen. Der Tod des Versicherten am 20.7.2010 ist infolge eines Arbeitsunfalls iS des § 8 Abs 1 SGB VII eingetreten(vgl unter 1.). Leistungen an die Klägerin aus diesem Versicherungsfall sind auch nicht gemäß § 101 Abs 1 SGB VII ausgeschlossen(iE unter 2.).

15

Wie der Senat bereits entschieden hat (vgl BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 412; vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 17 RdNr 26 ff), umfasst der von der Klägerin bestimmte Streitgegenstand das Begehren auf Verurteilung der Beklagten zur Zahlung einer Witwenrente und von Sterbegeld unter jedem rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkt. Diesen Anspruch hat die Beklagte mit den Ablehnungsentscheidungen in ihren Bescheiden verneint. Nach § 63 Abs 1 SGB VII ist Voraussetzung eines jeden Hinterbliebenenrechts(§§ 64 bis 71 SGB VII), dass in der Person des Versicherten ein Versicherungsfall eingetreten war und er infolgedessen verstorben ist. Die Frage, ob ein Versicherungsfall vorgelegen hat und welcher es genau war, ist kein selbstständiger Gegenstand des Verwaltungsverfahrens, über den durch Verwaltungsakt entschieden werden dürfte, sondern nur eine Tatbestandsvoraussetzung des streitgegenständlichen Anspruchs. Wird dieser Anspruch durch negativ feststellenden Verwaltungsakt verneint, ist die Äußerung des Trägers, ein Versicherungsfall habe nicht vorgelegen, nur ein unselbstständiges Begründungselement des Verwaltungsakts. Der Hinterbliebene kann sich daher darauf beschränken vorzutragen, beim Versicherten habe ein Versicherungsfall vorgelegen, der dessen Tod herbeigeführt habe. Der Träger muss dann allein darüber entscheiden, ob das vom Hinterbliebenen verfolgte Recht auf Hinterbliebenenleistungen besteht oder nicht besteht.

16

1. Der Tod des Versicherten am 20.7.2010 ist infolge eines Arbeitsunfalls gemäß § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII eingetreten. Nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind nach § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass der Verletzte durch eine Verrichtung vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb "Versicherter" ist. Die Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und dadurch einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität und haftungsbegründende Kausalität; vgl BSG vom 26.6.2014 - B 2 U 4/13 R und B 2 U 7/13 R -; vom 15.5.2012 - B 2 U 16/11 R - BSGE 111, 52 = SozR 4-2700 § 2 Nr 21, RdNr 10 mwN; vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 26 f; vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 20; vom 18.6.2013 - B 2 U 10/12 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 47 RdNr 12; vom 4.7.2013 - B 2 U 3/13 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 50 RdNr 10 und B 2 U 12/12 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 49 RdNr 14).

17

Der Tod des Versicherten ist rechtlich wesentlich aufgrund des Arbeitsunfalls/Wegeunfalls vom 7.9.2006 eingetreten. An diesem Tag wurde der Ehemann der Klägerin auf dem versicherten Weg von seiner Arbeitsstelle nach Hause (§ 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII) von einem herannahenden Motorrad erfasst (äußeres Ereignis) und schlug mit dem Kopf auf der Bordsteinkante unbehelmt auf, wodurch er sich erhebliche Verletzungen zuzog und seitdem im Koma lag.

18

Der am 20.7.2010 eingetretene Tod des Versicherten hat seine rechtlich wesentliche Ursache in dieser durch den Sturz auf die Bordsteinkante bedingten Einwirkung auf den Körper des Versicherten und den dadurch verursachten Gesundheitsschäden "infolge" der Verrichtung der versicherten Tätigkeit (Heimweg von der Arbeitsstelle).

19

Bei der objektiven Verursachung kommt es darauf an, dass die versicherte Verrichtung für das Unfallereignis und dadurch für den Gesundheitserstschaden oder hier den Tod eine (Wirk-) Ursache war (BSG vom 26.6.2014 - B 2 U 4/13 R; vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 31 ff; hierzu auch Ricke, WzS 2013, 241). (Wirk-) Ursachen sind nur solche Bedingungen, die erfahrungsgemäß die infrage stehende Wirkung ihrer Art nach notwendig oder hinreichend herbeiführen. Insoweit ist Ausgangspunkt die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie, nach der schon jeder beliebige Umstand als notwendige Bedingung eines Erfolgs gilt, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Ob die versicherte Verrichtung eine Wirkursache in diesem Sinne war, ist eine rein tatsächliche Frage. Sie muss aus der nachträglichen Sicht (ex post) nach dem jeweils neuesten anerkannten Stand des Fach- und Erfahrungswissens über Kausalbeziehungen (ggf unter Einholung von Sachverständigengutachten) beantwortet werden (grundlegend BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 55 ff; BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 31 ff). Steht die versicherte Tätigkeit als eine der (Wirk-) Ursachen fest, muss sich auf der zweiten Stufe die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller weiteren auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen als Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestands fallenden Gefahr darstellen. Bei dieser reinen Rechtsfrage nach der "Wesentlichkeit" der versicherten Verrichtung für den Erfolg der Einwirkung muss entschieden werden, ob sich durch das versicherte Handeln ein Risiko verwirklicht hat, gegen das der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand gerade Schutz gewähren soll (BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37).

20

Hier trat zu dem Unfallereignis als weitere (Wirk-) Ursache des Todes der Behandlungsabbruch durch die Durchtrennung der Magensonde hinzu, der auf dem rechtlich geschützten Willen des Versicherten beruhte, keinen lebensverlängernden Maßnahmen ausgesetzt zu sein. Die Klägerin war durch Beschluss des Amtsgerichts Bernau vom 19.3.2007 zur Betreuerin des Versicherten bestellt worden. Dementsprechend war die Klägerin gemäß § 1901a Abs 1 Satz 2 BGB als Betreuerin verpflichtet, dem Willen des Betreuten in der medizinischen Behandlungssituation Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Das LSG hat hierzu für den Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt, dass der Behandlungsabbruch bzw die Durchtrennung der Magensonde dem mutmaßlichen Willen des Versicherten entsprach. Nach § 1901a Abs 2 Satz 1 BGB hat der Betreuer den mutmaßlichen Willen des Patienten zu ermitteln, wenn - wie im vorliegenden Fall - keine Patientenverfügung vorlag. Das LSG hat seinerseits im Einzelnen Feststellungen dazu getroffen, dass und warum die Klägerin und ihre erwachsenen Söhne den mutmaßlichen Willen des Versicherten zutreffend wiedergegeben haben. Soweit die Beklagte hiergegen Verfahrensrügen erhebt, greifen diese nicht durch. Die Beklagte macht insbesondere geltend, die Klägerin und ihre Söhne hätten vom LSG als Zeugen gehört werden bzw das LSG habe sich selbst einen persönlichen Eindruck von der Klägerin verschaffen müssen. Eine ordnungsgemäße Verfahrensrüge setzt die Bezeichnung der Tatsachen voraus, die den behaupteten Mangel ergeben (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) und aus denen die Möglichkeit folgt, dass das Gericht ohne die geltend gemachte Verfahrensverletzung anders entschieden hätte. Das Revisionsgericht muss in die Lage versetzt werden, sich allein anhand der Revisionsbegründung ein Urteil darüber zu bilden, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann (BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - UV-Recht Aktuell 2012, 42, Juris RdNr 20 ff; BSG vom 23.8.2007 - B 4 RS 3/06 R - SozR 4-8570 § 1 Nr 16 RdNr 31). Diesen Anforderungen wird die Revisionsbegründung nicht gerecht. Sie hätte insoweit aufzeigen müssen, dass sich das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen. Dabei ist darzulegen, inwiefern nach den dem LSG vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen Sachverhalt aus seiner rechtlichen Sicht erkennbar offengeblieben sind und damit zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts zwingende Veranlassung bestanden hat und die so zu ermittelnden Tatsachen nach der Rechtsauffassung des LSG entscheidungserheblich sind. Außerdem ist anzugeben, wann und in welcher Form die zu ermittelnden Tatsachen in der Berufungsinstanz vorgebracht wurden (BSG vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, Juris RdNr 69 f).

21

(Wirk-) Ursachen für den Tod des Versicherten waren mithin der Unfall vom 7.9.2006 und die dabei erlittenen schwersten Verletzungen sowie das Durchtrennen der Magensonde aufgrund des rechtlich geschützten Willens des Verstorbenen, im Wachkoma keinen weiteren Behandlungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein, den die Klägerin gemäß § 1901a Abs 1 Satz 2 BGB gehalten war, umzusetzen. Die reine Rechtsfrage nach der "Wesentlichkeit" der versicherten Verrichtung für den Erfolg ist hier - wie in jedem anderen Falle - danach zu entscheiden, ob sich durch das versicherte Handeln ein Risiko verwirklicht hat, gegen das der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand gerade Schutz gewähren soll (BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 37). Der Senat geht hier davon aus, dass die rechtlich wesentliche Ursache für den Tod des Versicherten in dem Zurücklegen des nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versicherten Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit zu erblicken ist. Der dabei erlittene Unfall hat bei ihm so schwere Verletzungen ausgelöst, dass sein - vom LSG bindend festgestellter - bereits zuvor bestehender Wunsch, keinen lebensverlängernden Maßnahmen ausgesetzt zu sein, durch den Versicherungsfall maßgebend zum Tragen kam. Vom Schutzzweck der Beschäftigtenversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII (noch) mitumfasst ist ein Unfallversicherungsschutz für ein Verhalten des Versicherten, das durch Verletzungen bedingt ist, die - wie hier unproblematisch - im versicherten Schutzbereich der unfallbringenden Tätigkeit erlitten bzw zugefügt wurden. Die versicherte Tätigkeit in der gesetzlichen Unfallversicherung gemäß § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII iVm § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII umfasst nach dem im 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetz vom 29.7.2009 (BGBI I 2286) insbesondere in § 1901a BGB zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers auch die durch die Autonomie und Menschenwürde(Art 1 GG) des einzelnen Versicherten getragene Entscheidung, keine lebensverlängernden Maßnahmen erdulden zu müssen, wenn aufgrund eines Arbeitsunfalls so schwere Verletzungen vorliegen wie im vorliegenden Fall. Rechtlich wesentliche und daher vom Schutzzweck des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII noch umfasste (Wirk-) Ursache für den Tod des Versicherten waren mithin seine Verletzungen aus dem Arbeitsunfall vom 7.9.2006.

22

Dem steht die frühere Rechtsprechung des Senats, wonach die Verweigerung einer Bluttransfusion durch ein Mitglied der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas als rechtlich wesentliche Ursache den Unfallversicherungsschutz ausschließt (BSG vom 9.12.2003 - B 2 U 8/03 R - SozR 4-2200 § 589 Nr 1), nicht entgegen. Die Verweigerung der Bluttransfusion war dort gerade nicht durch den Arbeitsunfall, sondern einzig durch die individuelle Glaubensausrichtung des Verletzten bedingt. Demgegenüber realisiert sich der in der mutmaßlichen Patientenverfügung niedergelegte Wille des Versicherten hier nur und gerade deshalb, weil der Versicherte einen Arbeitsunfall (mit schweren Folgen) erlitten hat. Infolgedessen kommt es auch nicht darauf an, ob die Verletzungen aus dem Wegeunfall ohnehin tödlich verlaufen wären, was hier für das LSG offensichtlich von entscheidender Bedeutung war. Soweit das LSG die Wesentlichkeit der unfallbedingten Verletzungen für den Tod des Versicherten daraus ableiten will, dass die Behandlungsmaßnahmen den Tod lediglich aufgeschoben hätten, werden hier allerdings rechtlich problematische Erwägungen zur überholenden Kausalität angestellt. Maßgebend ist nicht, ob die Verletzungen aus dem Arbeitsunfall ohnehin tödlich verlaufen wären, sondern, dass durch einen Versicherungsfall so schwere Verletzungen eingetreten sind, dass gerade dadurch der (verfassungs-)rechtlich geschützte autonome Wunsch des Versicherten, sterben zu wollen, zum Tragen gekommen ist.

23

2. Die beantragten Hinterbliebenenleistungen der Klägerin gemäß §§ 63 ff SGB VII sind auch nicht gemäß § 101 Abs 1 SGB VII ausgeschlossen. Diese Vorschrift bestimmt: "Personen, die den Tod von Versicherten vorsätzlich herbeigeführt haben, haben keinen Anspruch auf Leistungen". Die Klägerin hat den Tod des Versicherten zwar vorsätzlich herbeigeführt (hierzu unter a). Allerdings ist die Norm des § 101 Abs 1 SGB VII einschränkend im Wege der teleologischen Reduktion dahingehend auszulegen, dass jedenfalls bei einer strafrechtlich gerechtfertigten Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch iS der neueren Rechtsprechung des BGH(Urteil vom 25.6.2010 - 2 StR 454/09 - BGHSt 55, 191 = NJW 2010, 2963) ein Leistungsausschluss nicht in Betracht kommt. Dahinstehen kann insoweit, ob § 101 Abs 1 SGB VII generell dann nicht in Betracht kommt, wenn die zum Tode führende vorsätzliche Handlung straffrei ist(hierzu unter b). Schließlich hat das LSG auch zutreffend festgestellt und subsumiert, dass die vom BGH (aaO) im Einzelnen aufgestellten Kriterien für einen straffreien Behandlungsabbruch bei der Klägerin gegeben waren (vgl unter c).

24

a) Die Klägerin hat den Tod des Versicherten vorsätzlich herbeigeführt. Ein vorsätzliches Handeln liegt vor, wenn der Handelnde den Erfolg bewusst und gewollt herbeigeführt hat (vgl Fischer, StGB, 61. Aufl 2014, § 15 RdNr 2 ff). Der Vorwurf der Rechtsordnung lautet bei vorsätzlichem Handeln: "Du hast gewusst und gewollt, was du tatest" (iE Sternberg-Lieben/Schuster in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl 2014, § 15 RdNr 8 ff). Nach dieser auch im Rahmen des § 101 Abs 1 SGB VII anwendbaren(vgl H. Becker in LPK-SGB VII, 4. Aufl 2014, § 101 RdNr 1b; Köhler in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 101 RdNr 5; XI/10) strafrechtlichen Definition hat die Klägerin vorsätzlich gehandelt. Sie hat die Magensonde bewusst und gewollt entfernt, um den Tod des Versicherten herbeizuführen.

25

b) § 101 Abs 1 SGB VII ist hingegen so auszulegen, dass er auch bei einem vorsätzlichen Herbeiführen des Todes im Falle einer gerechtfertigten Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch keine Anwendung findet. Die Leistungsausschlussnorm fordert für das Herbeiführen des Todes lediglich das vorsätzliche Handeln des Hinterbliebenen bzw der "Person", die Rechtsansprüche aus dem Tod ableiten möchte. Anders als § 101 Abs 2 SGB VII setzt § 101 Abs 1 SGB VII gerade nicht voraus, dass ein rechtskräftiges strafrechtliches Urteil hinsichtlich der Handlung vorliegt. § 101 Abs 1 SGB VII dürfte von daher einen engeren Begriff des Vorsatzes umfassen, der gerade nicht die strafrechtlichen Prüfungsschritte der Rechtswidrigkeit und Schuld umfasst. Demgegenüber wird vom LSG und einem Teil der Literatur in § 101 Abs 1 SGB VII entgegen dem Wortlaut der Norm das Erfordernis hineingelesen, dass auch die todbringende, vorsätzliche Handlung rechtswidrig und schuldhaft gewesen sein muss(vgl explizit Reyels in jurisPK-SGB VII, 2. Aufl 2014, § 101 RdNr 21 ff; Lüdtke, SGb 2013, 309). Habe der Täter nicht rechtswidrig gehandelt (zB in Notwehr), so komme nach Sinn und Zweck der Vorschrift des § 101 Abs 1 SGB VII ein Leistungsausschluss nicht in Betracht. Das Gleiche gelte bei nicht schuldhaftem Handeln (Köhler in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 101 RdNr 5; XI/10). Darüber hinaus wird vereinzelt die Position vertreten, selbst bei strafbarem Verhalten, wie einer Tötung auf Verlangen gemäß § 216 StGB, sei der Geltungsbereich des § 101 Abs 1 SGB VII einzuschränken(Reyels in jurisPK-SGB VII, 2. Aufl 2014, § 101 RdNr 25).

26

Der Senat hat Bedenken gegen eine so weitgehende Auslegung des § 101 Abs 1 SGB VII, ist doch zu unterstellen, dass der Gesetzgeber des § 101 SGB VII sich im Klaren über die strafrechtlichen Begriffe war, als er zum 1.1.1997 mit dem UVEG § 101 SGB VII in der Nachfolge des § 553 RVO schuf. Jedenfalls erhellen auch die Gesetzesmaterialien (vgl BT-Drucks 13/2204, S 99) und der dort enthaltene Hinweis auf eine Fortführung der geltenden Rechtslage zu § 553 RVO nicht, dass mit dem bloßen Verwenden des Erfordernisses des Vorsatzes zugleich ein Abweichen von der strafrechtsdogmatischen Begrifflichkeit gemeint gewesen sein könnte, nach der hier ausnahmsweise mit Vorsatz ein rechtswidriges und schuldhaftes Handeln gemeint wäre. Auch soweit in der Literatur § 101 SGB VII als Verwirkungsvorschrift bezeichnet wird(Köhler in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 101 RdNr 1; XI/10), findet sich hierfür keinerlei Beleg. Betrachtet man § 101 SGB VII hingegen als Ausfluss des allgemeinen zivilrechtlichen Grundsatzes des venire contra factum proprium, nach dem wer einen Schaden durch eigenes vorsätzliches Tun herbeigeführt hat, nicht aus diesem Schaden Ansprüche ableiten dürfe(so Merten in Eichenhofer/Wenner, SGB VII, 2010, § 101 RdNr 3), so wäre unter einem solchen versicherungsrechtlichen Blickwinkel ein Leistungsausschluss bei bloß vorsätzlichem Herbeiführen des Erfolgs durchaus zu rechtfertigen (vgl auch Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, 2004, S 48).

27

Letztlich kann dies jedoch dahinstehen, weil auch dann, wenn man das hier zweifelsohne vorliegende vorsätzliche Handeln der Klägerin ausreichen lassen würde, um den Tatbestand des § 101 Abs 1 SGB VII auszulösen, die Vorschrift einschränkend auszulegen ist. Dies gilt jedenfalls für Fälle der gerechtfertigten Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch iS der Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 25.6.2010 - 2 StR 454/09 - BGHSt 55, 191 = NJW 2010, 2963), denn für diesen Regelungsbereich ist § 101 Abs 1 SGB VII einschränkend anzuwenden. Der Senat hat zuletzt die Grenzen einer teleologischen Reduktion von sozialrechtlichen Normen aufgezeigt (vgl BSG vom 19.12.2013 - B 2 U 17/12 R - SozR 4-2700 § 73 Nr 1 RdNr 20 ff). Die teleologische Reduktion gehört zu den anerkannten, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Auslegungsgrundsätzen (BVerfG Beschluss vom 15.10.2004 - 2 BvR 1316/04 - NJW 2005, 352, 353; BVerfG Beschluss vom 7.4.1997 - 1 BvL 11/96 - NJW 1997, 2230, 2231; BVerfG Beschluss vom 14.3.2011 - 1 BvL 13/07 - NZS 2011, 812). Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die auszulegende Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut hinsichtlich eines Teils der von ihr erfassten Fälle für unanwendbar hält, weil deren Sinn und Zweck, die Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen (BVerfG Beschluss vom 7.4.1997 - 1 BvL 11/96 - NJW 1997, 2230, 2231; BSG vom 18.8.2011 - B 10 EG 7/10 R - BSGE 109, 42 = SozR 4-7837 § 2 Nr 10). Bei einem nach wortlautgetreuer Auslegung drohenden Grundrechtsverstoß kann eine zulässige und mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung der Norm entgegen deren Wortlaut sogar geboten sein.

28
        

So liegen die Verhältnisse hier. Der Senat sieht sich durch die Neuregelungen des sog Patientenverfügungsgesetzes (3. Betreuungsrechtsänderungsgesetz, aaO) , das sich auf eine breite, überparteiliche Parlamentsmehrheit stützten konnte (vgl die den Gesetzentwurf vom 6.3.2008 tragenden Abgeordneten, BT-Drucks 16/8442) und die strafgerichtliche Rechtsprechung des BGH zum Behandlungsabbruch (aaO) veranlasst, jedenfalls die vorsätzliche Herbeiführung des Todes eines Versicherten, die strafrechtlich die Kriterien einer gerechtfertigten Sterbehilfe erfüllt, aus dem Anwendungsbereich des § 101 Abs 1 SGB VII auszuschließen. Der BGH hat in seinem Urteil vom 25.6.2010 eingehend die Motive des Gesetzgebers des 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes referiert (aaO, RdNr 23 f ):

        

"a) Der Gesetzgeber hat den betreuungsrechtlichen Rahmen einer am Patientenwillen orientierten Behandlungsbegrenzung durch Gesetz vom 29. Juli 2009 - so genanntes Patientenverfügungsgesetz - (BGBl I 2286) festgelegt. Das am 1. September 2009 in Kraft getretene Gesetz hatte vor allem auch zum Ziel, Rechts- und Verhaltenssicherheit zu schaffen (vgl. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses BT-Drucks. 16/13314 S. 3 f. und 7 f.). Maßstäbe für die gesetzliche Neuordnung waren zum einen das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht der Person, welches das Recht zur Ablehnung medizinischer Behandlungen und gegebenenfalls auch lebensverlängernder Maßnahmen ohne Rücksicht auf ihre Erforderlichkeit einschließt, zum anderen der ebenfalls von der Verfassung gebotene Schutz des menschlichen Lebens, der unter anderem in den strafrechtlichen Normen der §§ 212, 216 StGB seinen Ausdruck findet.

        

In Abwägung dieser Grundsätze hat der Gesetzgeber des Dritten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes nach umfassenden Beratungen und Anhörungen unter Einbeziehung einer Vielzahl von Erkenntnissen und Meinungen unterschiedlichster Art entschieden, dass der tatsächliche oder mutmaßliche, etwa in konkreten Behandlungswünschen zum Ausdruck gekommene Wille eines aktuell einwilligungsunfähigen Patienten unabhängig von Art und Stadium seiner Erkrankung verbindlich sein und den Betreuer sowie den behandelnden Arzt binden soll (§ 1901a Abs. 3 BGB; vgl. dazu die Begründung des Gesetzentwurfs BT-Drucks. 16/8442 S. 11 f.; Diederichsen in Palandt BGB 69. Aufl. § 1901a Rn. 16 ff. u. 29). Eine betreuungsgerichtliche Genehmigungsbedürftigkeit für Entscheidungen über die Vornahme, das Unterlassen oder den Abbruch medizinischer Maßnahmen ist auf Fälle von Meinungsdivergenzen zwischen Arzt und Betreuer oder Bevollmächtigtem über den Willen des nicht selbst äußerungsfähigen Patienten oder über die medizinische Indikation von Maßnahmen beschränkt (§ 1904 Abs. 2 und 4 BGB). Die Regelungen der §§ 1901a ff. BGB enthalten zudem betreuungsrechtliche Verfahrensregeln zur Ermittlung des wirklichen oder mutmaßlichen Willens des Betreuten (vgl. dazu Diederichsen aaO Rn. 4 ff. u. 21 ff.; Diehn/Rebhan NJW 2010, 326; Höfling NJW 2009, 2849, 2850 f.)."

29

Hieraus hat der BGH die Schlussfolgerung gezogen, dass diese Änderungen auch für das Strafrecht "Wirkung" zeigen müssten (aaO, RdNr 25) und ist bei ansonsten unveränderter Rechtslage im StGB zu einer Straffreiheit des Behandlungsabbruchs unter bestimmten Voraussetzungen gelangt. Dieses Urteil ist im Schrifttum weitgehend auf Zustimmung gestoßen (vgl nur Eidam, GA 2011, 232; Gaede, NJW 2010, 2925, Hirsch, JR 2011, 37; Lipp, FamRZ 2010, 1555; Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544; Schumann, JR 2011, 142; Wolfslast/Weinrich, StV 2011, 286). Der Senat hält es daher auch mit Blick auf die dem Strafrecht immanente Legitimation staatlichen Strafens einerseits und das der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit dienende Leistungsrecht des Sozialgesetzbuchs andererseits für geboten, die vom Gesetzgeber gewollten, weitgehenden Änderungen in § 1901a BGB und die diesen gesetzgeberischen Willen im Strafrecht umsetzende Rechtsprechung des BGH auch im Sozialrecht zur Geltung zu bringen. Liegen mithin die vom BGH in seinem Urteil vom 25.6.2010 genannten Kriterien vor, so kann ein straffreier Behandlungsabbruch, der den Willen des Patienten zum Ausdruck brachte, auch im Sozialrecht nicht mehr zu leistungsrechtlich negativen Konsequenzen für Personen führen, die diesen von der Rechtsordnung gebilligten Willen des Versicherten durch ihr vorsätzliches Handeln verwirklicht haben.

30

Auch schließt der "objektive Zweck" des § 101 Abs 1 SGB VII eine solche teleologische Reduktion des Geltungsbereichs der Norm nicht aus(hierzu Lüdtke, SGb 2013, 309, 310). § 101 SGB VII entsprach - wie bereits ausgeführt - weitgehend § 553 RVO, der seinerseits durch das Unfallversicherungsneuregelungsgesetz(UVNG vom 30.4.1963, BGBl I 241) an die Stelle des zuvor geltenden § 556 RVO getreten ist, der seit Inkrafttreten der Reichversicherungsordnung 1911 weitgehend unverändert bestimmte, dass dem "Verletzten und seinen Hinterbliebenen ein Anspruch nicht zu (steht), wenn sie den Unfall vorsätzlich herbeigeführt haben". Der Norm liegt damit der vom Senat grundsätzlich für weiterhin beachtlich gehaltene objektive Zweck zugrunde, das vorsätzliche Herbeiführen des Versicherungsfalls als leistungsausschließend zu berücksichtigen. Allerdings darf sich Rechtsprechung auch nicht den sich fortentwickelnden Lebensverhältnissen verschließen. Das Gesetz ist insofern nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepasst weitergelten will, solange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist (Lüdtke, aaO unter Verweis auf BGH vom 29.1.1957 - 1 StR 333/56 - BGHSt 10, 157, 159). Das erst durch den medizinischen Fortschritt ermöglichte Überleben von schwerstverletzten Gehirngeschädigten durch die moderne Apparatemedizin mit seinen Implikationen für die Menschenwürde des behandelten Verunfallten war für den Gesetzgeber des Jahres 1911 ebenso wenig vorhersehbar wie für den Gesetzgeber des Jahres 1963 und auch partiell des Jahres 1996 (instruktiv zu den Problemen am Lebensende durch die Entwicklung der Apparatemedizin: Borasio, Über das Sterben, 2. Aufl 2012, insb S 107 ff und S 157 ff). Insofern geht der Senat - ebenso wie der BGH (aaO) - davon aus, dass dem 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetz (aaO) der objektive Wille des Gesetzgebers zu entnehmen ist, die Patientenautonomie am Lebensende mit Ausstrahlungswirkung in alle Rechtsbereiche zu schützen. Eine strikt auf diesen Geltungsbereich des gerechtfertigten Behandlungsabbruchs beschränkte Reduktion des Geltungsbereichs des § 101 SGB VII entspricht mithin dem objektiven Willen des Gesetzgebers des 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes (aaO).

31

Schließlich kann gegen dieses Ergebnis auch nicht - wie von der Beklagten - die rentenrechtliche Parallelvorschrift des § 105 SGB VI und die hierzu ergangene Rechtsprechung des BSG ins Feld geführt werden. Soweit sich die Beklagte auf den Beschluss des 13. Senats des BSG vom 17.4.2012 (B 13 R 347/10 B - SozR 4-2600 § 105 Nr 1 = SGb 2013, 307 mit Anm Lüdtke) bezieht, lag der zugrunde liegende Sachverhalt dort mehrere Jahre vor dem Inkrafttreten des 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes aus dem Jahre 2009. Im Übrigen handelte es sich bei der dort vom 13. Senat entschiedenen Beschwerde um eine strafbare Tötung auf Verlangen iS des § 216 StGB (mit Strafurteil gegen die Rentenantragstellerin), die auch nach der Rechtsauffassung des Senats zu einer Anwendung des Leistungsausschlusses des § 101 SGB VII führen würde. Auch die früher zu § 1277 RVO - der Vorgängervorschrift des § 105 SGB VI - ergangene rentenrechtliche Rechtsprechung verhält sich ausschließlich zu Fallkonstellationen, in denen ein rechtswidriges und schuldhaftes Handeln mit strafgerichtlicher Verurteilung des Hinterbliebenen vorlag(BSG vom 26.11.1981 - 5b/5 RJ 138/80 - SozR 2200 § 1277 Nr 3, vom 1.6.1982 - 1 RA 45/81 - SozR 2200 § 1277 Nr 5). Liegt hingegen eine gerechtfertigte Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch vor (sogleich noch unter c), so ist der Anwendungsbereich des § 101 Abs 1 SGB VII dahingehend einzuschränken, dass auch eine vorsätzliche Herbeiführung des Todes des Versicherten nicht zu einem Leistungsausschluss führt.

32

c) Das LSG hat auch zutreffend entschieden, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen eines straffreien Behandlungsabbruchs iS der neuen Rechtsprechung des BGH (aaO) vorlagen. Es hat insofern die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Berlin über die Einstellung des Strafverfahrens gegen die Klägerin nach § 170 Abs 2 StPO aufgrund eigener Feststellungen nochmals strafrechtlich nachvollzogen. Anders als in § 101 Abs 2 SGB VII besteht im Rahmen des § 101 Abs 1 SGB VII keine Bindungswirkung an die Entscheidungen der Strafgerichte. Das LSG hat hierbei die beiden Voraussetzungen für einen straffreien Behandlungsabbruch für den Senat gemäß § 163 SGG bindend festgestellt. Bei der Krankheit des Versicherten handelte es sich um einen ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess und der Patientenwille des Versicherten iS des § 1901a Abs 1 und Abs 2 BGB war auf einen Behandlungsabbruch im Sinne des nicht mehr Weiter-Ernährens gerichtet. Soweit die Beklagte rügt, der Sterbeprozess bei dem Versicherten sei nicht in der vom BGH geforderten Intensität festgestellt, weil der Wachkomapatient grundsätzlich kein sterbender Patient sei, so unterlässt sie es, im Einzelnen darzulegen, welcher medizinische Erfahrungssatz dieser von ihr behaupteten Aussage zugrunde liegt. Die Beklagte hat nicht konkret aufgezeigt, aufgrund welcher Erfahrungssätze das LSG davon ausgehen hätte müssen, dass aus der herrschenden medizinischen Lehrmeinung der einzig mögliche Schluss gezogen werden könne, dass der Versicherte kein sterbender Patient gewesen sei (vgl hierzu BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - Juris RdNr 25 f). Insofern ist die für den Einzelfall des verstorbenen Versicherten getroffene tatsächliche Feststellung des LSG, dass dieser "todgeweiht" gewesen ist, nicht mit hinreichenden Verfahrensrügen angegriffen.

33

Soweit die Beklagte gegen die Feststellung des Willens des Versicherten durch eine unterlassene persönliche Einvernahme der Klägerin durch das LSG Verfahrensrügen erhoben hat, greifen diese, wie bereits oben unter 1. ausgeführt, nicht durch. Allerdings weist der Senat in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auch unter Berücksichtigung neuerer Entscheidungen des BGH (insbesondere vom 17.9.2014 - XII ZB 202/13) für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens strenge Beweismaßstäbe gelten, insbesondere, wenn eine sog Patientenverfügung nicht vorliegt. Dabei mag in zukünftigen Fallkonstellationen auch eine Rolle spielen, dass mittlerweile das Erfordernis und die Möglichkeit einer Patientenverfügung in der Bevölkerung weitgehend bekannt sein dürften und das Internet zahlreiche Formulare leicht zugängig zur Verfügung hält. Da sich der hier ausschlaggebende Unfall jedoch 2006 ereignete, bleiben diese Gesichtspunkte vorliegend unberücksichtigt.

34

Soweit die Beklagte schließlich eine Zurückverweisung an das LSG anregt, um Feststellungen nachzuholen, ob eine Genehmigung des Betreuungsgerichts gemäß § 1904 BGB eingeholt wurde, so ist bereits zweifelhaft, welche rechtlichen Schlüsse aus einer solchen fehlenden Genehmigung überhaupt zu ziehen wären. Der Senat hat hier jedoch von einer weiteren Prüfung abgesehen, weil aus der Entscheidung der Berliner Staatsanwaltschaft über die Einstellung des Strafverfahrens nach § 170 Abs 2 StPO vom 26.11.2012, die vom LSG in Bezug genommen worden ist, hervorgeht, dass die Klägerin beim zuständigen Amtsgericht um eine solche Genehmigung nach § 1904 BGB nachgesucht hat, von dort aber von einem namentlich genannten Richter die Auskunft erhalten hat, einer solchen Genehmigung bedürfe es in ihrem Falle nicht.

35

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 31. August 2010 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung als Hinterbliebene ihres im Dezember 1999 an den Folgen eines Bronchialkarzinoms verstorbenen Ehemanns (des Versicherten).

2

Der im Jahre 1939 geborene Versicherte war von 1966 bis 1996 als Schlosser bei der Firma B. beschäftigt, die Schlosser- und Schmiedearbeiten für das Baunebengewerbe und kleine Stahlkonstruktionen fertigte. In etwa 30 % seiner Arbeitszeit verrichtete der Versicherte Schweißarbeiten. Bis Ende der 70er Jahre wurden meist unlegierte Baustähle überwiegend im Lichtbogenhandverfahren (LBH) mit Elektrode geschweißt, seit Anfang der 80er Jahre überwiegend im Schutzgasschweißverfahren (Metallaktivgasverfahren - MAG), wobei thoriumhaltige Schweißelektroden beim WIG (Wolfram-Inertgas-Verfahren) verwandt wurden. Ab Anfang der 80er Jahre wurde gelegentlich Edelstahl verschweißt. Dabei kamen basische Elektroden zum Einsatz. Beim Anschleifen der Elektroden fand eine Thorium-Belastung statt. In geringerem Umfang wurde öliges Material verschweißt. Der Versicherte führte auch Schweißarbeiten an verzinkten Teilen aus, wobei er Zinkrauchen ausgesetzt war. Für die Dauer von vier Wochen hatte der Versicherte Umgang mit Asbestzementplatten. Asbestkontakt bestand auch bei der Montage zugeschnittener Eternitplatten und bei einer dreimonatigen Tätigkeit im Klinikum M. Während seines gesamten Berufslebens rauchte der Versicherte zumindest 15 Zigaretten täglich. Die Gesamtnikotinbelastung belief sich von 1960 bis 1999 auf 29,25 Packungsjahre.

3

Der Versicherte verstarb am 18.12.1999 an den Folgen eines im April 1999 erstmals diagnostizierten Bronchialkarzinoms. Die Klägerin beantragte bei der Beklagten am 5.12.2000 sinngemäß die Anerkennung und Entschädigung des Bronchialkarzinoms als Berufskrankheit (BK) ihres verstorbenen Ehemanns, sowie Hinterbliebenenleistungen aus Anlass des Todes. Die Beklagte führte Ermittlungen durch, ua durch Befragung des Arbeitgebers, die Beiziehung von Krankenakten, Ermittlungen des TAD und die Einholung ärztlicher Gutachten (Prof. Dr. R.). Im Bescheid vom 20.11.2001 lehnte die Beklagte sodann die Anerkennung des metastasierenden Bronchialkarzinoms des Versicherten als BK und die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 5.6.2002). Es liege weder eine BK nach Nr 1103, noch nach 4104 oder 4109, noch eine Wie-BK gemäß § 9 Abs 2 SGB VII vor.

4

Hiergegen hat die Klägerin am 3.7.2002 Klage zum SG Marburg erhoben, das ein internistisch-pneumologisches Gutachten des Prof. G. eingeholt und die Klage durch Urteil vom 31.5.2005 abgewiesen hat. Die Klägerin hat Berufung eingelegt. Das LSG hat gemäß § 109 SGG ein Gutachten des Arbeitsmediziners und Internisten Prof. W. und ergänzende Stellungnahmen des Prof. G. und wiederum von Prof. W. eingeholt.

5

Das LSG hat sodann durch Urteil vom 31.8.2010 die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Versicherte sei 1999 an einem Bronchialkarzinom des linken Lungenunterlappens verstorben. Seiner Überzeugung nach sei der Versicherte von 1966 bis 1996 als Schlosser bei der Firma B. infolge seiner versicherten Tätigkeit der lungenschädigenden Einwirkung Chrom VI- und nickeloxidhaltiger Schweißrauche, zinkchromathaltiger Tröpfchenaerosole, von Asbestfaserstaub, ionisierenden Thorium-Verfallsprodukten sowie polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen mit der Leitsubstanz Benzo(a)pyren (BaP) ausgesetzt gewesen, so dass insoweit die Einwirkungskausalität zu bejahen sei. Ohne die Einwirkung dieser Berufsschadstoffe wäre es nicht zum Auftreten der Bronchialkrebserkrankung des Schweregrads und im Alter von 60 Jahren gekommen. Als weitere Ursache trete aus dem privaten Bereich der Nikotinkonsum des Versicherten hinzu. Alle diese Lungenschadstoffe beruflicher wie privater Herkunft stünden nach Überzeugung des Senats als naturwissenschaftliche Ursachen im Sinne der conditio sine qua non Formel fest.

6

BK Nr 4104 scheide aus, weil der Nachweis einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis von 25 Faserjahren nicht erfüllt, BK Nr 4113, weil die dort geforderte Einwirkung von mindestens 100 BaP-Jahren nicht feststellbar sei. Ein Versicherungsfall der BK Nr 4114 (Lungenkrebs durch das Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen Kohlenwasserstoffen …) liege schon deshalb nicht vor, weil nach § 6 Abs 1 BKV hiervon nur Versicherungsfälle ab 1.10.2002 erfasst würden.

7

Keine der übrigen Berufsnoxen habe nach der Theorie der wesentlichen Bedingung allein das Lungenkrebsleiden des Versicherten bewirkt, so dass für die weiteren BK-Ziffern 2402, 4109 und 1103 nicht von einer monokausalen, durch den jeweiligen Schadstoff hervorgerufenen Entstehungsursache auszugehen sei. Die Thorium-Belastung beim WIG-Schweißen habe zu keiner im Rahmen der BK-Ziffer 2402 wesentlichen, lungenschädigenden ionisierenden Strahlenbelastung geführt. Die haftungsbegründende Kausalität sei im Allgemeinen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit monokausal zu begründen, wenn Intensität und Dauer der Einwirkung des jeweiligen Listenstoffes zu einer Risikoverdoppelung geführt hätten. Die Verdoppelungsdosis liege für Lungentumore bei Erwachsenen bei 2 Millionen Mikro-Sievert. Dieser Wert werde nicht erreicht. Dasselbe gelte für die BK Nr 4109 (bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lunge durch Nickel). Der Senat gehe von 288 bzw 540 µg Nickel/m³ x Jahre aus. Damit werde der Wert von 5000 µg Nickel/m³ x Jahre (Verdoppelungsdosis) nicht erreicht. Dasselbe gelte für die Belastung des Versicherten mit Chrom und seinen Verbindungen im Rahmen der BK Nr 1103. Auch hier werde die Verdoppelungsdosis von 2000 µg/m³ x Jahre nicht erreicht.

8

Der Versicherungsfall einer BK Nr 1103 sei auch nicht im Wege einer synkanzerogenen Kombinationswirkung von zumindest fünf lungenschädlichen Berufsschadstoffen zugunsten des Versicherten festzustellen. Denn auch unter Berücksichtigung der allein quantifizierbaren Lungenschadstoffe Chrom VI, Nickel und Asbest sei eine Risikoverdoppelung bzw ein relatives Risiko (RR) von zwei entsprechend einer Verursachungswahrscheinlichkeit (VW) von 0,5 nicht zu begründen, so dass berufliche Kausalfaktoren als wesentliche (Mit-)Ursache der Bronchialkrebserkrankung des Versicherten nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwiesen seien. Grundsätzlich sei von einer synkanzerogenen Wirkung der Stoffe auszugehen, wobei die Bewertung nach der führenden Schweißrauchkomponente, der Chrom VI-Belastung erfolge. Beim Versicherten sei jedoch keine BK Nr 1103 durch Chrom VI-haltige Schweißrauchbestandteile bei synkanzerogener Mitbeteiligung der übrigen Lungenschadstoffe festzustellen. Die Gerichte müssten hier die streitigen Kausalzusammenhänge auf der Grundlage freier Beweiswürdigung mit der geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit feststellen. Auszugehen sei von der sog Wichmann'schen Formel, nach der das RR und die resultierende VW ermittelt werden könnten. Beim Zusammenwirken mehrerer Noxen errechne sich bei Erreichen eines RR von mehr als zwei eine VW von mehr als 50 % entsprechend einer Risikoverdoppelung. Die den Versicherten treffenden Schadstoffe wirkten hier auf dasselbe Organ (Lunge) im Rahmen einer linearen Dosis-Wirkungsbeziehung nach einem additiven Modell ein, so dass die für jeden Stoff ermittelten Bruchteile der Verdoppelungsdosis zu addieren seien. Die Sachverständigen kämen jedoch zu RR-Werten von unter zwei und damit von VW-Werten von unter 0,50, so dass die für eine wesentliche berufliche Mitverursachung zu fordernde Risikoverdopplung hinsichtlich der quantifizierbaren Stoffe Chrom, Nickel und Asbest deutlich verfehlt werde. Eine Anknüpfung an niedrigere Werte, wie etwa das sog Krasney'sche Drittel werde in der herrschenden Literatur und Rechtsprechung zu Recht abgelehnt.

9

Der Versicherte sei darüber hinaus nicht quantifizierbaren Noxen ausgesetzt gewesen, die es allerdings nicht erlaubten, die fehlende Lücke zur Risikoverdopplung zu schließen. Um zur Risikoverdopplung zu gelangen, hätten die nicht quantifizierbaren Belastungen beim Schweißen von Baustahl, durch Zinkchromat, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) und Thorium sowie für die Bystander-Belastung zusätzlich ein RR von 1,57 ergeben müssen, was nicht begründbar sei.

10

Beweiserleichterungen bzw eine Umkehr der Beweislast zugunsten der Klägerin kämen nicht in Betracht. Zwar seien dem Arbeitgeber schwere Versäumnisse anzulasten und die Arbeitsbedingungen nur noch schwer zu rekonstruieren. Eine Abkehr von dem in der UV generell zu fordernden Beweisgrad oder gar eine Umkehr der Beweislast lasse sich hieraus aber nicht ableiten. Dem Berufungsbegehren hätte nur dann entsprochen werden können, wenn der Senat infolge einer Beweiserleichterung die anspruchsbegründende (Mit-)Ursächlichkeit lungenbelastender Berufsschadstoffe für das Auftreten des todesursächlichen Bronchialkarzinoms als erwiesen hätte ansehen können, wovon er sich aus mehreren Gründen nicht habe überzeugen können. Zu den fünf bis sechs synkanzerogenen Lungenschadstoffen seien keine belastbaren Dosis-Wirkungs-Beziehungen veröffentlicht. Falls ein Gericht hier dennoch das Erreichen der Verdoppelungsdosis unterstellen würde, so käme dies einer Umkehr der Beweislast gleich. Aber auch diese würde nicht zum Erfolg führen, weil der private Zigarettenkonsum des Versicherten zu berücksichtigen sei. Es wäre dann immer noch die Frage zu entscheiden, welche Bedeutung der beruflichen Verdoppelung des Risikos im Verhältnis zum durch den privaten Zigarettenkonsum vielfach erhöhten Erkrankungsrisikos zukomme. Der Senat halte für die Zeit vom 21. Lebensjahr (1960) bis zum Todesjahr (1999) des Versicherten den Konsum von mindestens 15 Zigaretten täglich für erwiesen. Aufgrund dieser 29,25 Packungsjahre ergebe sich ein 11-fach erhöhtes Lungenkrebsrisiko.

11

Die Bronchialkrebserkrankung habe schließlich auch nicht als Wie-BK nach § 9 Abs 2 SGB VII anerkannt werden können.

12

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision. Sie rügt eine Verletzung des § 9 Abs 1 SGB VII. Das LSG habe bei den BKen Nr 1103, 2402 und 4109 eine monokausale Verursachung des Bronchialkarzinoms abgelehnt. Es sei jedoch in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch bei fehlender Monokausalität eine oder mehrere dieser Listen-BKen vorliegen könnte (Hinweis auf BSG vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 17), wenn der Schadstoff eine wesentliche Teilursache gewesen sei. Es stelle sich die Rechtsfrage, welche Anforderungen an die Kombinationswirkung von lungenkrebsauslösenden Noxen zu stellen seien. Es seien hier keinesfalls nur quantifizierbare Lungenschadstoffe (wie Chrom VI, Nickel und Asbest) zu berücksichtigen. Zudem könne aus § 9 Abs 1 SGB VII das vom LSG geforderte Kriterium eines Verdoppelungsrisikos nicht abgeleitet werden. Für das Erfordernis eines solchen Verdoppelungsrisikos gebe der Gesetzeswortlaut keinerlei Anhalt. Im Übrigen hätten die Gutachter auch die nicht quantifizierbaren Risiken abgeschätzt. Das LSG habe gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung verstoßen, indem es nur quantifizierbare Einwirkungen berücksichtigt habe. Es hätte zudem aufgeklärt werden müssen, ob der Synergismus auch nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen immer noch als additives Modell zu beschreiben sei. Mit Krasney sei davon auszugehen, dass eine berufliche Teilursache bei einer VW von 0,33 bestehe. Das LSG habe nicht alle zu berücksichtigenden Tatsachen für die Beweisermittlung berücksichtigt. Der vorliegende Fall werde durch eine Kumulation von Besonderheiten (Verschulden des Arbeitgebers; Versäumnisse der beklagten BG) geprägt. Es hätten hier Anknüpfungstatsachen für einen Beweisnotstand ermittelt werden müssen, was ein Vergleich zur zivilrechtlichen Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht zeige.

13

Die Klägerin beantragt,

        

die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 31.08.2010 und des Sozialgerichts Marburg vom 31.05.2005 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung der Regelungen in dem Bescheid vom 20.11.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.06.2002 zu verurteilen, der Klägerin Leistungen aus Anlass des Todes des Versicherten K. zu gewähren.

14

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

15

Sie beruft sich auf das angefochtene Urteil. Das LSG habe allerdings, nachdem es die monokausale Verursachung aller BKen abgelehnt habe, die BK Nr 1103 zusätzlich unter dem Gesichtspunkt geprüft, ob Chrom im Zusammenwirken mit anderen Schadstoffen eine wesentliche Teilursache der Lungenerkrankung des Versicherten darstellen könne. Das LSG habe dabei fälschlicherweise die sog Wichmann'sche Formel benutzt. Das Wichmann'sche Berechnungsmodell dürfe nur auf eine konkrete Stoffkombination angewandt werden, wenn sowohl für die gesundheitsschädigende kanzerogene Wirkung der einzelnen Stoffe als auch für das synergetische Zusammenwirken ausreichende und gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse vorlägen. Das BSG habe aber am 12.1.2010 (B 2 U 5/08 R - aaO) bereits klargestellt, dass es keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die synkanzerogene Wirkung von Chromat, Nickeloxid, Asbest und ionisierenden Strahlen gebe.

Entscheidungsgründe

16

Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung der Entscheidung des LSG und der Zurückverweisung an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

17

Der Senat kann aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht abschließend darüber befinden, ob bei dem Verstorbenen die BKen Nr 1103, 4109 oder 2402 der Anlage 1 zur BKV vorlagen und die Klägerin deshalb einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente hat (im Einzelnen unter 4.). Das LSG ist bei der Prüfung, ob einer der in diesen BKen genannten Arbeitsstoffe wesentliche (Teil-)Ursache der Lungenkrebserkrankung des Versicherten war, von einem Erfahrungssatz (der sog Wichmann'schen Formel) ausgegangen, der für die Frage der (teil-)wesentlichen Verursachung der Erkrankung durch eine der Noxen (isoliert) schon wissenschaftlich/ denklogisch von seinem Ansatz her nicht einschlägig ist. Das LSG hat allerdings zu Recht das Vorliegen einer BK nach Nr 4104, 4113 und 4114 der Anlage 1 zur BKV abschließend verneint (vgl unter 2.). Ebenso hat es das Vorliegen einer sog Wie-BK gemäß § 9 Abs 2 SGB VII mit zutreffenden Erwägungen verneint (hierzu unter 3.).

18

1. Wie der Senat bereits entschieden hat (vgl Urteil vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 26 ff) umfasst der von der Klägerin bestimmte Streitgegenstand das Begehren auf Verurteilung der Beklagten zur Zahlung einer Witwenrente unter jedem rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkt. Diesen Anspruch hat die Beklagte mit den Ablehnungsentscheidungen in ihren Bescheiden verneint. Nach § 63 Abs 1 SGB VII ist Voraussetzung eines jeden Hinterbliebenenrechts(§§ 64 bis 71 SGB VII), dass in der Person des Versicherten ein Versicherungsfall eingetreten war und er infolgedessen verstorben ist. Die Frage, ob ein Versicherungsfall vorgelegen hat und welcher es genau war, ist kein selbstständiger Gegenstand des Verwaltungsverfahrens, über den durch Verwaltungsakt entschieden werden dürfte, sondern nur eine Tatbestandsvoraussetzung des streitgegenständlichen Anspruchs. Wird dieser Anspruch durch negativ feststellenden Verwaltungsakt verneint, ist die Äußerung des Trägers, ein Versicherungsfall, zB eine bestimmte BK oder Wie-BK habe nicht vorgelegen, nur ein unselbstständiges Begründungselement des Verwaltungsakts. Der Hinterbliebene kann sich daher darauf beschränken vorzutragen, beim Versicherten habe irgendein Versicherungsfall (Arbeitsunfall, Listen-BK, Wie-BK) vorgelegen, der dessen Tod herbeigeführt habe. Der Träger muss dann allein darüber entscheiden, ob das vom Hinterbliebenen verfolgte Recht auf Hinterbliebenenleistungen besteht oder nicht besteht.

19

Hingegen ist er schon mangels einer gesetzlichen Ermächtigung nicht befugt, einen feststellenden Verwaltungsakt darüber zu erlassen, ob der Versicherte einen Versicherungsfall erlitten hatte. Es gibt auch keine Anspruchsgrundlage für einen Anspruch des Hinterbliebenen auf eine isolierte Vorabentscheidung des Trägers über das frühere Vorliegen eines Versicherungsfalles beim Versicherten. Hierfür besteht im Übrigen auch kein Bedürfnis, weil nach dem Tod des Versicherten der Eintritt weiterer Versicherungsfälle, deren Folgen voneinander abzugrenzen sein könnten, ausgeschlossen ist. Hier hat die Beklagte zwar mehrfach im Hinblick auf verschiedene Sachverhalte, aber jeweils einheitlich festgestellt, dass die Klägerin keinen Anspruch auf die begehrte Witwenrente habe.

20

2. Die Klägerin hat zunächst keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente wegen des Todes des Versicherten infolge des Versicherungsfalls einer BK Nr 4104, 4113 oder 4114, weil die in den Tatbeständen dieser Normen der Anlage 1 zur BKV explizit benannten Voraussetzungen der jeweiligen BK nicht vorgelegen haben. Aus § 9 Abs 1 SGB VII lassen sich für eine Listen-BK im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten: Die Verrichtung einer versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oä auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben(haftungsbegründende Kausalität; vgl zuletzt BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R und B 2 U 25/10 R; BSG vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 14; BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14).

21

Die BK Nr 4104 lautet: "Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs - in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder - in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura oder - bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren". Die BK Nr 4104 scheidet schon deswegen aus, weil bei dem Versicherten nach dem Gesamtzusammenhang der tatsächlichen Feststellungen des LSG weder das Bild einer Asbestose noch einer durch Asbeststaub verursachten Erkrankung der Pleura noch eine Einwirkung von 25 Asbestfaserjahren vorgelegen hat (vgl auch BSG vom 4.12.2001 - B 2 U 37/00 R - SozR 3-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 1).

22

Die BK Nr 4113: "Lungenkrebs durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von mindestens 100 Benzo(a)pyren-Jahren [(µg/m³) x Jahre]" scheidet ebenfalls aus, weil der in der Norm selbst genannte Einwirkungswert von 100 BaP-Jahren nicht erreicht ist.

23

Schließlich scheidet auch BK Nr 4114 "Lungenkrebs durch das Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen" schon deshalb aus, weil der Versicherungsfall nicht gemäß § 6 Abs 1 Satz 1 BKV nach dem 30.9.2002 eingetreten ist.

24

3. Der Versicherte ist am 18.12.1999 auch nicht infolge des Versicherungsfalls einer Wie-BK gemäß § 9 Abs 2 SGB VII verstorben.

25

Nach § 9 Abs 2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der BKV bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK (Wie-BK) als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII erfüllt sind. Diese "Öffnungsklausel" des § 9 Abs 2 SGB VII soll nur die Regelungslücken in der BKV schließen, die sich aus den zeitlichen Abständen zwischen den Änderungen der BKV ergeben. Die Regelung ist aber keine allgemeine Härteklausel, für deren Anwendung es genügen würde, dass im Einzelfall berufsbedingte Einwirkungen die rechtlich wesentliche Ursache einer nicht in der BK-Liste bezeichneten Krankheit sind (vgl BSG vom 30.1.1986 - 2 RU 80/84 - BSGE 59, 295 = SozR 2200 § 551 Nr 27). Vielmehr soll die Anerkennung einer Wie-BK nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen für die Aufnahme der betreffenden Einwirkungs-Krankheits-Kombination in die Liste der BKen (vgl § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII) erfüllt sind, der Verordnungsgeber aber noch nicht tätig geworden ist (vgl BT-Drucks 13/2204, 77 f).

26

Der Versicherungsfall einer Wie-BK ist eingetreten, wenn neben den Voraussetzungen der schädigenden Einwirkungen aufgrund der versicherten Tätigkeit, der Erkrankung und der haftungsbegründenden Kausalität im Einzelfall auch die Voraussetzungen für die Aufnahme der betreffenden Einwirkungs-Krankheits-Kombination in die Liste der BKen nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen erfüllt sind. Der Versicherungsfall der Wie-BK lässt sich zwar nachträglich feststellen, er ist aber objektiv zu dem Zeitpunkt eingetreten, zu dem die Voraussetzungen des § 9 Abs 2 SGB VII gegeben sind(vgl noch zu § 551 Abs 1 Satz 2 RVO: BSG vom 2.12.2008 - B 2 KN 1/08 U R - BSGE 102, 121 = SozR 4-2700 § 9 Nr 12, RdNr 23). Im vorliegenden Fall kam es also entscheidend darauf an, ob es spätestes am 18.12.1999 wissenschaftliche Erkenntnisse gab, nach denen die Erkrankung Lungenkrebs, wenn sie durch die Einwirkungen von Chrom VI- und nickeloxidhaltigen Schweißrauchen, zinkchromathaltigen Tröpfchenaerosolen, Asbest und ionisierenden Thorium-Verfallsprodukten gemeinsam verursacht worden ist, die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die BKV erfüllte. Dies hat der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 12.1.2010 (aaO, RdNr 32 mwN aus der wissenschaftlichen Literatur) für den dort maßgebenden Zeitpunkt des 8.8.2000 verneint. Zu Recht weist die Beklagte darauf hin, dass die hier angefochtene Entscheidung des LSG für den Todeszeitpunkt 18.12.1999 unter diesem Gesichtspunkt nicht zu beanstanden ist.

27

4. Ob der Tod des Versicherten infolge eines Versicherungsfalls nach § 9 Abs 1 SGB VII iVm Nr 1103, 2402 oder 4109 der Anlage 1 zur BKV eingetreten ist, kann der Senat nicht abschließend entscheiden.

28

Diesen BK-Tatbeständen ist gemeinsam, dass sie selbst keine numerische Einwirkungsgröße der jeweiligen Noxe vorsehen. Erfüllen die Einwirkungen eines bestimmten Arbeitsstoffes bereits nicht die in einem BK-Tatbestand selbst genannten Einwirkungsvoraussetzungen, wie hier bei den BKen Nr 4104 und 4113 (soeben unter 2.), so können sie zwar eine Krankheit mitverursacht haben, eine Anerkennung der jeweiligen BK scheidet aber von vornherein aus, weil schon die Mindestanforderungen des jeweiligen BK-Tatbestands nach dessen expliziter Ausformulierung nicht gegeben sind (vgl BSG vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO , RdNr 37).

29

BK Nr 1103 lautet: "Erkrankungen durch Chrom oder seine Verbindungen". BK Nr 2402: "Erkrankungen durch ionisierende Strahlungen" und BK Nr 4109: "Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Nickel". Nach den Feststellungen des LSG ist der Versicherte während seines Arbeitslebens berufsbedingt schädigenden Einwirkungen durch Chrom VI- und nickeloxidhaltige Schweißrauche sowie ionisierenden Thorium-Verfallsprodukten ausgesetzt gewesen. Allerdings hat das LSG für jeden der in den drei genannten Listen-BKen bezeichneten Arbeitsstoffe isoliert betrachtet die haftungsbegründende Kausalität verneint, weil die Einwirkungen nicht die Schwelle des sog Verdoppelungsrisikos überschritten. Hierzu hat die Revision zunächst zu Recht gerügt, dass das LSG mit dem Verdoppelungsrisiko ein nicht unmittelbar aus dem Gesetz abgeleitetes Kriterium zugrunde gelegt hat, ohne im Einzelnen die wissenschaftliche Basis dieses Kriteriums in den Prozess einzuführen (vgl hierzu auch Urteil des Senats vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - RdNr 31). Das LSG wird daher nach einer Zurückverweisung zunächst klarzustellen haben, auf welchem medizinischen Erfahrungssatz die Annahme der jeweiligen Verdoppelungsgrenzwerte für die hier betroffenen BKen beruht (kritisch zur Zugrundelegung des Verdoppelungsrisikos als notwendiges Kriterium für die Einführung einer BK, BSG vom 23.3.1999 - B 2 U 12/98 R - BSGE 84, 30, 37 = SozR 3-2200 § 551 Nr 12 S 42). Nur dann kann auch revisionsrechtlich die Aussage des LSG nachvollzogen werden, dass keiner der Stoffe allein die (ggf in der jeweiligen Listen-BK bezeichnete) Erkrankung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit verursacht habe.

30

Der Senat hat allerdings in seinem Urteil vom 12.1.2010 (B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 34) zu erkennen gegeben, dass für die BK Nr 1103 eine Einwirkung in der Größenordnung von 2000 µg/m³ x Jahre erforderlich sein könnte, die bei dem Versicherten nach den Feststellungen des LSG bei weitem nicht erreicht wurde. Bei der Einwirkung durch ionisierende Strahlen (BK Nr 2402) wird anhand der Einwirkungsdosen die VW in Prozent ermittelt, die bei dem Versicherten nach den Feststellungen des LSG bei 1 vH lag. Bei der BK Nr 4109 könnte eine berufliche Einwirkung durch Nickel von 5000 µg/m³ x Jahre erforderlich sein (vgl BSG Urteil vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 34, wo allerdings die entsprechenden Feststellungen des LSG von der Revision nicht gerügt worden waren).

31

Der Senat hat zudem mehrfach klargestellt, dass eine der Listen-BKen (Nr 1103, 2402 und 4109) nicht nur dann vorliegen kann, wenn die in ihrem Tatbestand genannten Einwirkungen durch einen bestimmten Stoff auf die Gesundheit schon bei isolierter Betrachtungsweise nur je eines Stoffes die im Einzelnen zu definierenden Voraussetzungen erfüllen (grundlegend BSG vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 35). Denn selbst wenn diese Einwirkungen bei isolierter Betrachtung - und ggf nicht zu beanstandender Zugrundelegung des sog Verdoppelungsrisikos oder eines anderen aufgrund wissenschaftlicher Erfahrungssätze begründbaren Kriteriums - die Voraussetzungen an die Einwirkungsdauer, -intensität, -häufigkeit oder -weise nicht erfüllen, können sie dennoch eine wesentliche Teilursache der als BK anerkannten Krankheit nach der Theorie der wesentlichen Bedingung sein (vgl zur Prüfung des Versicherungsfalls einer Listen-BK: BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 33/07 R - BSGE 103, 54 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 5; zur Theorie der wesentlichen Bedingung: zuletzt eingehend BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - RdNr 28 ff; BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 13 ff).

32

Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht zunächst auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie, nach der jedes Ereignis (jede Bedingung) Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Erst wenn feststeht, dass ein bestimmtes Ereignis - hier Einwirkungen durch einen Arbeitsstoff - eine naturphilosophische Teilursache der Krankheit ist, stellt sich die Frage nach einer rechtlich wesentlichen Verursachung des Erfolgs durch das Ereignis. Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist in diesem zweiten Schritt zwischen Ursachen zu unterscheiden, denen der Erfolg zugerechnet wird und die für den Erfolg rechtlich unerheblich sind. Als kausal und rechtserheblich werden nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zur konkreten Krankheitsentstehung zum Eintritt des Erfolgs wesentlich mitgewirkt haben. Bei der rein rechtlichen Zurechnungsprüfung der "Wesentlichkeit" einer Bedingung für die Entstehung (oder wesentliche Verschlimmerung) der Krankheit sind also nicht alle Bedingungen zu berücksichtigen, sondern nur jene, die nach den im jeweiligen Entscheidungszeitpunkt anerkannten wissenschaftlichen Erfahrungssätzen notwendige oder hinreichende Bedingungen für den Eintritt einer Krankheit dieser Art sind. Welche Ursache im Einzelfall rechtlich wesentlich ist und welche nicht, muss nach der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs wertend entschieden werden (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 13 f mwN; BSG vom 17.2.2009 - B 2 U 18/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 31 RdNr 12).

33

Auch für die Arbeitsstoffe der hier in Betracht kommenden BKen Nr 1103, 2402, 4109, deren Bezeichnung keine Dosis enthält, ist daher zuerst festzustellen, ob die durch die Verrichtung der versicherten Tätigkeit verursachte konkret festgestellte Einwirkung des Stoffes auf den Versicherten nach den derzeit in der Wissenschaft anerkannten Erfahrungssätzen ihrer Art nach eine notwendige (oder hinreichende) Bedingung (unter Umständen neben anderen notwendigen oder hinreichenden Bedingungen) für die Entstehung einer Krankheit der beim Versicherten festgestellten Art ist. Nur dann ist im konkreten Einzelfall die Krankheit des Versicherten tatsächlich Folge (ggf auch) der durch die versicherte Tätigkeit verursachten Einwirkung. Mithin ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob der Stoff des jeweiligen BK-Tatbestands nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass das Entstehen der Erkrankung entfiele.

34

Ist ein Listenstoff in diesem Sinne ursächlich geworden, ist weiter zu prüfen, ob er eine wesentliche (Teil-)Ursache für den Eintritt der Erkrankung gesetzt hat. Denn die Theorie der wesentlichen Bedingung verlangt bei der Prüfung, ob eine Einwirkung einen wesentlichen Kausalbeitrag gesetzt hat, nicht abstrakt eine mindestens gleichwertige Bedeutung für den Erfolg. Vielmehr lässt sie es zu, ihre "Wesentlichkeit" für die festgestellte Erkrankung auch bei einem naturphilosophisch notwendigen Zusammenwirken mehrerer in der Anlage zur BKV bezeichneter schädigender Einwirkungen zu bejahen. Dem Zusammenwirken einzelner Mitbedingungen in einer Gruppe, die als Kollektiv für einen Erfolg wesentlich ist, kann so viel Eigenbedeutung zukommen, dass auch dem einzelnen Listenstoff des Einwirkungsgemischs wesentliche Bedeutung für den Erfolg im Sinne eines BK-Tatbestands zukommt (vgl BSG vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 38, 21; Becker in MedSach 2005).

35

Falls die Krankheit des Versicherten nach wissenschaftlichen Erfahrungssätzen allein deshalb entstanden ist (Tatsachenfrage), weil mehrere in verschiedenen Tatbeständen der BKV genannte Stoffe nebeneinander als notwendige (oder hinreichende) Bedingungen infolge der Verrichtung einer versicherten Tätigkeit eingewirkt haben, kommt es für jeden einschlägigen BK-Tatbestand darauf an, ob die in ihm genannte und konkret festgestellte (Tatsachenfrage) Stoffeinwirkung im Einzelfall im oben genannten Sinn rechtlich "wesentlich" war.

36

Das LSG hat diesen Zusammenhang erkannt und unter Berufung auf das Urteil des erkennenden Senats vom 12.1.2010 (aaO) geprüft, ob bei dem Versicherten die BK Nr 1103 (Chrom) vorliegt. Im Ansatz richtig ist es davon ausgegangen, dass aufgrund des Zusammenwirkens von Stoffen keine außergesetzliche, neue Gesamt-BK gebildet werden kann. Vielmehr ist jeweils stoffbezogen zu prüfen, ob nicht die Einwirkungen nach jeder der in Betracht kommenden BKen eine rechtlich wesentliche Teilursache für die Lungenerkrankung bilden.

37

Das LSG hat auf der ersten Stufe der Kausalitätsprüfung eine naturwissenschaftlich-philosophisch vorliegende Verursachungsbeziehung (ua) zwischen dem Lungenkrebs des Versicherten und den Noxen Chrom, Nickel und Thorium bejaht, ohne geklärt zu haben, welche Stoffeinwirkungen nach den wissenschaftlich anerkannten Erfahrungssätzen notwendige oder hinreichende Bedingungen der Krankheit des Versicherten waren. Es wendet sich sodann ausschließlich der Prüfung der BK Nr 1103 zu, weil Chrom die "führende Schweißrauchkomponente" gewesen sei. Sodann wird geprüft, ob eine BK Nr 1103 bei "synkanzerogener Mitbeteiligung der übrigen Lungenschadstoffe" festzustellen sei (Urteil S 27). In der Folge wird unter Anwendung der sog Wichmann'schen Formel versucht, den relativen Beitrag der einzelnen Noxen additiv zu ermitteln, um bei Vorliegen einer VW von 0,50 (aller Noxen zusammengenommen) dann ein Vorliegen der BK Nr 1103 (Chrom) in Erwägung zu ziehen.

38

Das LSG hat dabei verkannt, dass das von ihm mehrfach zustimmend zitierte Urteil des LSG Schleswig-Holstein (13.9.2007 - L 1 U 44/03 - Breithaupt 2008, 308) Gegenstand des Revisionsverfahrens B 2 U 5/08 R (Urteil vom 12.1.2010 - aaO) gewesen und von seinem rechtlichen Ansatz her vom BSG für nicht vertretbar erachtet worden ist. Das LSG Schleswig-Holstein hatte die sog Wichmann'sche Formel dazu benutzt, eine (neue) Gesamt-BK bestehend aus den Nr 1103, 4109 und 2402 der BKV zu bilden, die es deshalb für begründbar gehalten hat, weil alle Noxen additiv zusammengenommen die VW von 50 vH überschritten hätten (LSG Schleswig-Holstein, aaO, RdNr 50 ff).

39

Das LSG übernimmt nun für den vorliegenden Fall diesen Berechnungsansatz, um eine "führende" Einzel-BK (hier Nr 1103) für den Fall bejahen zu können, dass zu diesem "führenden" Schadstoff additiv weitere Stoffe hinzukämen, mit denen die VW insgesamt (durch alle einwirkenden Stoffe in additiver Gesamtschau) überschritten werde. Mit einem solchen Vorgehen wird aber in keiner Weise plausibel (aufgrund wissenschaftlicher Erfahrungssätze), wieso zunächst gerade Chrom eine notwendige oder hier sogar hinreichende wesentliche (Teil-)Ursache für den Lungenkrebs des Versicherten gesetzt haben soll und folglich ausschließlich die BK Nr 1103 in Betracht käme. Das LSG hat - ohne nachvollziehbare Begründung - Chrom als "Leitstoff" (wieso nicht Thorium oder Nickel?) gesetzt und ist sodann davon ausgegangen, die BK Nr 1103 bejahen zu können, wenn Chrom in Kombination mit allen anderen Stoffen insgesamt nach der Wichmann'schen Formel zu einer VW von über 50 vH führt. Nach dem Inhalt dieser Formel wäre aber allenfalls belegbar, dass die Summe der in die Formel eingestellten Noxen zu einer Erkrankung geführt haben könnte. Insbesondere hat das LSG nicht mitgeteilt, welcher in der Wissenschaft anerkannte Erfahrungssatz durch die Wichmann'sche Formel ausgedrückt wird. Ohne diese Feststellung der in seiner Folgerung zugrunde gelegten generellen Tatsache kann das Revisionsgericht nicht erkennen, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff der "wesentlichen Teilverursachung" zutreffend ausgelegt hat. Die Frage, welche(r) der drei in BK Nr 1103, 2402 und 4109 genannte(n) Schadstoff(e) (teil-)wesentlich die Erkrankung verursacht haben könnte(n), lässt sich aber mit der Wichmann'schen Formel gerade nicht beantworten.

40

Falls die weiteren Ermittlungen des LSG ergeben, dass alle in Betracht kommenden Noxen naturwissenschaftlich-philosophisch kausal für die Erkrankung waren, so wird es folglich weiter zu prüfen haben, ob die Einwirkungen nach den genannten BKen Nr 1103, 2402, 4109 - jede für sich und nicht alle zusammen im Sinne der Wichmann'schen Formel als Gesamt-BK betrachtet - eine rechtlich wesentliche Teilursache für den Eintritt der Lungenerkrankung waren. Ist auch dies zu bejahen, ist entweder ein Versicherungsfall nach BK Nr 1103 oder BK Nr 2402 oder BK Nr 4109 oder aber mehrere Versicherungsfälle dieser Listen-BKen nebeneinander (nicht kumulativ) gegeben (vgl BSG vom 12.1.2010 - B 2 U 5/08 R - aaO, RdNr 39). Schließlich ist zu prüfen, ob der Tod des Versicherten infolge dieses Versicherungsfalls oder eines dieser Versicherungsfälle eingetreten ist.

41

Das LSG wird sodann bei Berücksichtigung dieser rechtlichen Maßstäbe auch den Verursachungsbeitrag des Rauchens des Versicherten zu bestimmen haben. Mit dem vom LSG bindend festgestellten Rauchen des Versicherten über einen Zeitraum von 29,25 Packungsjahren ist zunächst mehr als ein Anhaltspunkt für eine andere Verursachung für die Lungenkrebserkrankung des Versicherten gegeben (BSG vom 30.1.2007 - B 2 U 15/05 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2 RdNr 26). Allerdings ist noch zu beurteilen, ob das Rauchen des Versicherten in wertender Betrachtung die rechtlich "allein wesentliche" Ursache der Erkrankung war. Dies wird insbesondere anzunehmen sein, wenn der Verursachungsbeitrag der Einwirkung Rauchen gegenüber den Verursachungsbeiträgen der anderen Noxen deutlich überwiegt. Bergen aber nach den festzustellenden wissenschaftlichen Erkenntnissen die beruflichen Einwirkungen für sich allein ein so hohes Gefährdungspotential, dass sich darauf eine hinreichende VW stützen lässt, so kann es auf das Vorhandensein weiterer belastender Einwirkungen nicht ankommen (BSG aaO, RdNr 27).

42

Das LSG wird auch abschließend über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.

Das Gericht entscheidet über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
XII ZB 80/07
vom
26. September 2007
in der Familiensache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
ZPO §§ 621 a Abs. 1, 516, 565
Die Rücknahme eines Rechtsmittels ist bedingungsfeindlich; sie kann auch
nicht von einer innerprozessualen Bedingung abhängig gemacht werden.
Sie ist ferner grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar. Dies gilt auch
dann, wenn sie aufgrund eines für das Gericht und den Verfahrensgegner offensichtlichen
Irrtums des Rechtsmittelführers über tatsächliche oder rechtliche
Umstände erklärt wurde.
BGH, Beschluss vom 26. September 2007 - XII ZB 80/07 - OLG Frankfurt am Main
AG Darmstadt
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. September 2007 durch
die Vorsitzende Richterin Dr. Hahne und die Richter Sprick, Weber-Monecke,
Dr. Ahlt und Dose

beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 6. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 2. Mai 2007 wird auf Kosten des Antragstellers als unzulässig verworfen. Beschwerdewert: 3.000 €

Gründe:

I.

1
Gegen den ihm am 28. August 2006 zugestellten Beschluss des Familiengerichts , mit dem seinem Antrag auf Regelung des Umgangs mit seinem Kind nur eingeschränkt stattgegeben wurde, legte der Antragsteller mit Faxschreiben seiner damaligen Verfahrensbevollmächtigten vom 27. September 2006 Beschwerde ein.
2
Nach erstmaliger Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 30. November 2006 verlängerte der Vorsitzende des Berufungsgerichts die Begründungsfrist auf den weiteren, am 30. November 2006 eingegangenen Antrag der Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers im Einverständnis mit der Beteiligten zu 2 erneut bis zum 2. Januar 2007.
3
Mit am 4. Dezember 2006 bei Gericht eingegangenem Schreiben vom 2. Dezember 2006 erklärte der Antragsteller, er nehme seine Beschwerde zurück , weil seine Verfahrensbevollmächtigte versäumt habe, die Beschwerde innerhalb der gesetzlichen Frist zu begründen. Ferner teilte er mit, seiner Verfahrensbevollmächtigten deshalb das Mandat entzogen zu haben. Da er sich nunmehr nur noch selbst vertrete, sei Schriftwechsel nur noch mit ihm zu führen.
4
Mit weiterem, am 11. Dezember 2006 bei Gericht eingegangenem Schreiben vom 10. Dezember 2006 erklärte der Antragsteller, er wolle an seiner Beschwerde festhalten. Vorsorglich fechte er seine Rücknahmeerklärung an, weil er irrtümlich davon ausgegangen sei, die "am 23. Oktober 2006 ablaufende" Beschwerdebegründungsfrist sei versäumt. Von den beiden beantragten und gewährten Fristverlängerungen habe er erst jetzt erfahren. Zugleich begründete er seine Beschwerde.
5
Das Oberlandesgericht verwarf die Beschwerde als unzulässig. Die Rücknahmeerklärung des Antragstellers sei wirksam und könne weder durch Widerruf noch durch Anfechtung rückgängig gemacht werden. Soweit das Schreiben vom 10. Dezember 2006 als erneute befristete Beschwerde auszulegen sei, sei die Rechtsmittelfrist abgelaufen.
6
Gegen diesen Beschluss richtet sich die Rechtsbeschwerde des Antragstellers.

II.

7
Die nach §§ 621e Abs. 3 Satz 2, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist unzulässig, weil es - entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde - an einem Zulassungsgrund nach § 574 Abs. 2 ZPO fehlt. Ein solcher ist auch erforderlich, soweit sich die Rechtsbeschwerde gegen einen ein Rechtsmittel als unzulässig verwerfenden Beschluss richtet (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 155, 21, 22).
8
Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Denn sämtliche von der Rechtsbeschwerde aufgeworfenen Fragen sind bereits höchstrichterlich im Sinne der angefochtenen Entscheidung geklärt. Insbesondere hat das Berufungsgericht dem Antragsteller auch nicht den Zugang zur Beschwerdeinstanz aufgrund überspannter Anforderungen versagt (vgl. BGHZ 151, 221, 226 f.).
9
1. Zutreffend geht das Beschwerdegericht davon aus, dass das eine Beschwerdebegründung enthaltende Schreiben des Antragstellers vom 10. Dezember 2006 zwar als erneute Beschwerdeeinlegung angesehen werden kann, aber nicht geeignet war, die am 28. September 2006 abgelaufene Frist zur Einlegung der Beschwerde zu wahren. Zutreffend ist ferner, dass die Erklärung der Rücknahme der am 27. September 2006 eingelegten Beschwerde in der vorliegenden Familiensache der freiwilligen Gerichtsbarkeit (§ 621 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) gemäß § 78 Abs. 3 ZPO nicht dem Anwaltszwang unterlag und die Rücknahme eines Rechtsmittels grundsätzlich weder widerrufen noch angefochten werden kann (Senatsbeschluss vom 13. Dezember 2006 - XII ZB 71/04 - FamRZ 2007, 375). Insoweit erinnert auch die Rechtsbeschwerde nichts.
10
2. Ohne Erfolg macht die Rechtsbeschwerde allein geltend, ein die Zulassung der Rechtsbeschwerde rechtfertigender Rechts- und Verfahrensfehler des Beschwerdegerichts bestehe darin, dass es die Auslegungsbedürftigkeit der Rücknahmeerklärung nicht erkannt habe. Es sei für das Gericht und für die Beteiligte zu 2 offensichtlich gewesen, dass die Rücknahme nur für den - in Wirklichkeit nicht vorliegenden - Fall einer bereits eingetretenen Versäumung der Begründungsfrist habe erklärt werden sollen. Zumindest aber könne die Beteiligte zu 2 sich hier wegen des offensichtlichen Irrtums des Antragstellers nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht auf die Rücknahme der Beschwerde berufen. Die angefochtene Entscheidung verstoße daher gegen den Anspruch des Antragstellers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Artt. 2, 3 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG), demzufolge die Prüfung der materiellen Rechtslage, soweit irgend möglich, nicht beeinträchtigt werden dürfe.
11
a) Rücknahmeerklärungen unterliegen als Prozesshandlungen der uneingeschränkten Nachprüfung - auch auf ihre Auslegung hin - durch das Rechtsbeschwerdegericht (vgl. Senatsurteil vom 22. Mai 1996 - XII ZR 14/95 - FamRZ 1996, 1142). Dieses hat verfahrensrechtliche Erklärungen frei zu würdigen und dabei unter Heranziehung aller für das Beschwerdegericht erkennbaren Umstände und unter Beachtung der durch die gewählten Bezeichnungen bestehenden Auslegungsgrenzen darauf abzustellen, welcher Sinn ihnen aus objektiver Sicht beizumessen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2006 - IV ZB 38/05 - MDR 2006, 1126 m.w.N.).
12
Hier hat das Beschwerdegericht jedoch zu Recht keinen Anlass gesehen , der Rücknahmeerklärung des Antragstellers einen vom Wortlaut abweichenden Sinn beizulegen. Die Formulierung "nehme ich die durch meine Verfahrensbevollmächtigte … eingelegte Beschwerde vom 27.09.2006 gegen den Beschluss des Amtsgericht Darmstadt, Familiengericht vom 23.08.06 (52 F 2260/04 UG) hiermit zurück", wobei das Wort "zurück" durch Fettdruck in der Mitte einer neuen Zeile hervorgehoben ist, ist aus objektiver Sicht eindeutig.
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Die Erklärung der Rücknahme wird auch nicht durch die nachfolgende Begründung ("weil meine Verfahrensbevollmächtigte versäumt hat, die Beschwerde innerhalb der gesetzlichen Frist zu begründen") relativiert.
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Zwar war für das Gericht und auch für die Beteiligte zu 2 offensichtlich, dass der Antragsteller einem Irrtum unterlag, soweit er davon ausging, die Begründungsfrist sei bereits versäumt. Dies stellt jedoch lediglich einen unbeachtlichen Motivirrtum dar, nicht jedoch einen Irrtum über den Inhalt oder die Tragweite seiner Rücknahmeerklärung.
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b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde kommt auch eine Auslegung oder Umdeutung der Rücknahmeerklärung dahingehend, dass die Beschwerde nur für den Fall tatsächlich versäumter Begründungsfrist zurückgenommen werde, nicht in Betracht. Abgesehen davon, dass eine solche Auslegung bereits angesichts des Wortlauts der Erklärung ("nehme ich … zurück, weil …" und nicht etwa: "nehme ich … zurück, falls …") fern liegt, wäre dies, wie auch die Rechtsbeschwerde nicht verkennt, eine bedingte Rücknahme. Die Rücknahme eines Rechtsmittels ist aber bedingungsfeindlich; sie kann nicht einmal, was in Bezug auf andere Prozesshandlungen ausnahmsweise zulässig sein kann, von einer innerprozessualen Bedingung abhängig gemacht werden (Senatsbeschluss vom 26. Oktober 1989 - IVb ZB 135/88 - FamRZ 1990, 147, 148 f. m.N.). Andernfalls könnte der Rechtsmittelkläger beispielsweise seine Erklärung, das Rechtsmittel zurückzunehmen, in ein Hilfsverhältnis zu seinem Rechtsmittelantrag stellen und auf diese Weise eine ihm nachteilige rechtskraftfähige Entscheidung von vornherein vermeiden.
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Ist aber eine bedingte Rücknahmeerklärung unzulässig und deshalb wirkungslos , verbietet sich eine solche Auslegung, weil sie dem wirklichen Willen der Partei, das Verfahren zu beenden, zuwiderliefe. Dies gilt auch dann, wenn dieser Wille - wie hier - auf einem Motivirrtum beruhte.
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Aus den gleichen Gründen verbietet sich auch eine Umdeutung der erklärten Rücknahme in eine bedingte Rücknahme. Die Umdeutung einer Prozesshandlung in eine andere setzt nämlich stets voraus, dass sie als solche unwirksam ist (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Dezember 2006 - XII ZB 176/03 - FamRZ 2007, 375), während die Voraussetzungen der Wirksamkeit einer anderen , dem gleichen Zweck dienenden Prozesshandlung erfüllt sind (vgl. Senatsbeschluss vom 17. April 2002 - XII ZB 46/02 - FuR 2002, 432; Senatsurteil vom 6. Dezember 2000 - XII ZR 219/98 - ZIP 2001, 305, 307 m.w.N.). Hier ist das Gegenteil der Fall: Die vom Antragsteller erklärte Rücknahme ist wirksam; als bedingte Rücknahme wäre sie es nicht.
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c) Ohne Erfolg beruft sich die Rechtsbeschwerde ferner darauf, dass Verfahrensvorschriften kein Selbstzweck seien und die Klärung materieller Rechtsfragen möglichst nicht an Formalien scheitern solle. Denn die unwiderruflich verfahrensbeendende Wirkung der Rücknahme einer Klage oder eines Rechtsmittels ist kein Formalismus, sondern unerlässlich, um Rechtssicherheit zu gewährleisten. Prozesshandlungen der Parteien, die die Einleitung oder Beendigung eines Verfahrens betreffen, vertragen keinen Schwebezustand (Senatsbeschluss vom 26. Oktober 1989 - IVb ZB 135/88 - FamRZ 1990, 147, 148 f. m.N.). Die Klärung materieller Rechtsfragen muss aufgrund der Parteimaxime zurückstehen, wenn die das Verfahren betreibende Partei ihren darauf gerichteten Antrag wirksam zurückgenommen hat.
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d) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde vermag auch der Grundsatz von Treu und Glauben hier keine andere Entscheidung zu rechtfertigen.
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Lediglich für den Fall, dass eine durch einen Prozessbevollmächtigten erklärte Rücknahme zu dem wirklichen Willen des Rechtsmittelführers in Widerspruch stand und der Irrtum des Prozessbevollmächtigten, auf dem diese Erklärung beruhte, für den Rechtsmittelgegner und das Gericht offensichtlich war, hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass der Gegner sich nach Treu und Glauben nicht auf die Rücknahme berufen kann und diese als unwirksam zu behandeln ist (BGH, Beschluss vom 21. März 1977 - II ZB 5/77 - VersR 1977, 574; vgl. auch Senatsbeschluss vom 2. Dezember 1987 - IVb ZB 125/87 - FamRZ 1988, 496).
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Damit ist der vorliegende Fall indes nicht vergleichbar. Denn hier hat nicht ein Prozess- oder Verfahrensbevollmächtigter die Rücknahme entgegen dem wirklichen Willen des Rechtsmittelführers erklärt. Vielmehr hat der Antragsteller die Rücknahme selbst erklärt, und dies entsprach auch seinem wirklichen , wenn auch auf einem offensichtlichen Motivirrtum beruhenden Willen. In einem solchen Fall kann die Frage, ob das Verfahren durch die Rücknahme beendet wurde, entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht davon abhängig gemacht werden, ob dies bei vernünftiger Betrachtung aus der Sicht eines sachkundigen Dritten dem objektiven Interesse des Antragstellers entsprochen hätte. Denn andernfalls würde die Frage der Beendigung des Verfahrens letztlich von der Zulässigkeit des Rechtsmittels abhängen, die aber nur im Rahmen eines (noch) anhängigen Rechtsmittelverfahrens geprüft werden darf.
Hahne Sprick Weber-Monecke Ahlt Dose

Vorinstanzen:
AG Darmstadt, Entscheidung vom 23.08.2006 - 52 F 2260/04 -
OLG Frankfurt in Darmstadt, Entscheidung vom 02.05.2007 - 6 UF 200/06 -