Bundessozialgericht Urteil, 26. Apr. 2016 - B 2 U 14/14 R

bei uns veröffentlicht am26.04.2016

Tenor

Die Revision wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X über die Höhe des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) als Grundlage für die Berechnung der Verletztenrente des Klägers.

2

Der am 1954 geborene Kläger verunfallte am 20.9.1983 mit seinem Motorrad auf dem Weg zu seiner Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität M., wodurch er eine komplette Querschnittslähmung ab dem vierten Brustwirbelkörper erlitt. Seit dem 15.7.1981 war er dort als "wissenschaftliche Hilfskraft mit Abschluss" im Fachbereich Chemie mit 92 Stunden im Monat zu einem Jahreseinkommen von 21 126,58 DM brutto zuzüglich 1902,83 DM Weihnachtsgeld entsprechend einer halben A-13-Stelle beschäftigt. Zuvor hatte er das Studium der Chemie als Diplom-Chemiker abgeschlossen. Zum Zeitpunkt des Unfalls war er verheiratet und hatte drei Kinder. Das Arbeitsverhältnis war zunächst bis Ende 1983 befristet, wurde jedoch im Hinblick auf den Unfall bis Juli 1985 verlängert, sodass der Kläger seine Promotion am 13.2.1985 zum Abschluss bringen konnte. Der Kläger hatte ohne den Unfall den Abschluss der Promotion im Februar 1984 geplant.

3

Die Beklagte bewilligte durch Bescheid vom 23.8.1984 dem Kläger Verletztenrente ab 1.6.1984 nach einer MdE von 100 vH und legte hierbei einen JAV von 23 029,41 DM (11.6.1984 bis 30.6.1984) bzw 23 331,09 DM (ab 1.7.1984 wegen einer Rentenanpassung) zugrunde.

4

Am 8.12.2004 beantragte der Kläger die Überprüfung des JAV mit der Maßgabe, dieser sei auf der Grundlage einer vollschichtigen Berufstätigkeit als Diplom-Chemiker zu berechnen.

5

Die Beklagte lehnte die Rücknahme des Bescheids vom 23.8.1984 sowie die Neuberechnung der Verletztenrente ab (Bescheid vom 26.2.2008). Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 21.11.2008).

6

Auf die Klage vom 3.12.2008 hat das SG durch Urteil vom 6.10.2011 den Bescheid vom 26.2.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.11.2008 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, unter Zurücknahme des Bescheids vom 23.8.1984 die Verletztenrente des Klägers ab 1.1.2000 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu berechnen sowie im Übrigen die Klage abgewiesen. Der seitens der Beklagten zugrunde gelegte JAV sei unbillig iS des § 577 RVO.

7

Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG durch Urteil vom 29.4.2014 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage insgesamt abgewiesen. Es hat außerdem die Anschlussberufung des Klägers zurückgewiesen. Die Beklagte habe im Bescheid vom 23.8.1984 die Höhe der Verletztenrente des Klägers zutreffend bemessen und sei insbesondere bei Feststellung des JAV zu Recht von den Einkünften des Klägers entsprechend einer halben A-13-Stelle ausgegangen. Die nach § 44 Abs 1 SGB X maßgebliche Frage der zutreffenden JAV-Bemessung sei vom Senat nach den §§ 570 bis 578 RVO zu beurteilen. Die SGB VII-Bestimmungen für "Altfälle" seien nur bei erstmaliger JAV-Feststellung oder bei erstmaliger Neufeststellung des JAV nach § 90 SGB VII vorgesehen, nicht aber bei einer Überprüfung nach § 44 Abs 1 SGB X. Da der Kläger zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls das Examen als Diplom-Chemiker bereits abgelegt habe, habe er keinen Anspruch auf Neufeststellung des JAV nach § 573 Abs 1 RVO gehabt.

8

Entgegen der erstinstanzlichen Auffassung komme eine Korrektur des JAV über die Billigkeitsregelung des § 577 RVO nicht in Betracht. Bei der Bewertung, ob der JAV unbillig sei, stehe dem Versicherungsträger kein Beurteilungsspielraum zu. Ein Arbeitsentgelt, das einen nicht nur vorübergehend niedrigeren, dem Lebensstandard des Verletzten entsprechenden Verdienst abbilde, sei grundsätzlich nicht als erheblich unbillig angesehen worden. Die Einkommenssituation des Klägers und seiner Familie sei Mitte 1981 geprägt gewesen durch das aus der halben A-13-Stelle erzielte Einkommen als wissenschaftliche Hilfskraft.

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Mit seiner Revision gegen das am 29.7.2014 zugestellte Urteil des LSG rügt der Kläger sinngemäß eine Verletzung des § 44 SGB X sowie des § 573 Abs 1 RVO als auch des § 577 RVO. Nach dem Wortsinn diene eine Berufsausbildung der Vermittlung bzw dem Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten, die zur späteren Ausübung des Berufs benötigt werden. Für die berufliche Tätigkeit als Chemiker werde - anders als bei vielen anderen akademischen Ausbildungsgängen - der erfolgreiche Abschluss eines Promotionsverfahrens als Eingangsqualifikation verlangt. Lediglich 5 bis 7 % der Diplom-Chemiker verließen die Hochschule ohne Promotion. Das LSG selbst habe die doppelte Ungleichbehandlung für promovierte Chemiker und für andere Naturwissenschaftler genannt. Schließlich beruhe das Urteil des LSG auch auf einer Verletzung des § 577 RVO. Zu berücksichtigen sei im Rahmen des § 577 RVO, wo der Versicherte den Schwerpunkt seiner beruflichen Tätigkeit bilden werde. Als vorübergehend sei ein niedrigeres Einkommen auch dann einzustufen, wenn es über einen längeren Zeitraum als ein Jahr gezahlt werde, allerdings nach der Art der Beschäftigung und der bestehenden Befristung zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls bereits sicher feststehe, dass es zB über den Zeitraum des Ausbildungskontextes hinausgehend nicht maßgeblich sein werde. Die Dauerhaftigkeit sei nicht gegeben, weil das Beschäftigungsverhältnis mit der Hochschule lediglich befristet und definitiv eine Verlängerung nach Abschluss des Promotionsverfahrens ausgeschlossen gewesen sei. Die Vergütung des Klägers sei als Teilzeittätigkeit um 50 % unter einer qualifikationsadäquaten Vergütung zurückgeblieben.

10

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. April 2014 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 6. Oktober 2011 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 26. Februar 2008 und des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2008 die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 23. August 1984 abzuändern und dem Kläger ab dem 1. Januar 2000 Rente nach einem Jahresarbeitsverdienst entsprechend dem Gehalt eines vollschichtig tätigen promovierten Diplom-Chemikers zu gewähren.

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Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

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Sie vertritt die Auffassung, dass die Revision bereits unzulässig sei, weil der Revisionskläger die Voraussetzungen des § 44 SGB X nicht in Frage gestellt habe. Darüber hinaus liege weder eine Verletzung des § 573 RVO noch des § 577 RVO vor.

Entscheidungsgründe

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Die Revision ist zulässig. Der Revisionsbegründung lässt sich sinngemäß entnehmen, dass das Begehren des Klägers auf Überprüfung einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung in einem Zugunstenverfahren gerichtet ist und er damit zwangsläufig eine Verletzung von § 44 SGB X rügt. Auch im Übrigen genügt die Revision den Zulässigkeitsanforderungen gemäß § 164 Abs 2 Satz 3 SGG(BSG vom 19.8.2003 - B 2 U 38/02 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 1 RdNr 7; Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, § 164 RdNr 49).

14

Die Revision ist jedoch nicht begründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 26.2.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.11.2008, durch welche es die Beklagte abgelehnt hat, ihren Bescheid vom 23.8.1984 abzuändern und dem Kläger Rente ab dem 1.1.2000 nach einem JAV entsprechend dem Gehalt eines vollschichtig tätigen promovierten Diplom-Chemikers zu gewähren (vgl BSG vom 23.7.2015 - B 2 U 9/14 R - zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen, SozR 4-2700 § 82 Nr 1 RdNr 11).

15

Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage sowie Leistungsklage gemäß § 54 Abs 1 und Abs 4 SGG. Die Anfechtungsklage zielt auf die Aufhebung der Überprüfungsbescheide, die Verpflichtungsklage auf die Aufhebung des bestandskräftigen Bescheids vom 23.8.1984 sowie die Leistungsklage auf Zahlung einer höheren Rente ab (BSG vom 13.2.2014 - B 4 AS 22/13 R - BSGE 115, 126 = SozR 4-1300 § 44 Nr 28, RdNr 11; BSG vom 19.12.2013 - B 2 U 17/12 R - SozR 4-2700 § 73 Nr 1 RdNr 12; BSG vom 11.4.2013 - B 2 U 34/11 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 4 RdNr 15; Bieresborn in Roos/Wahrendorf, SGG, § 54 RdNr 232).

16

Die zulässigen Klagen sind nicht begründet. Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X, wonach ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Die Beklagte ist weder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen (§ 44 Abs 1 Satz 1 2. Alt SGB X), was seitens der Revision auch nicht geltend gemacht wird, noch hat sie bei Erlass des Bescheids vom 23.8.1984 entgegen der Auffassung des Klägers das Recht unrichtig angewandt (§ 44 Abs 1 Satz 1 1. Alt SGB X). Sie hat zutreffend die Normen der RVO zugrunde gelegt (dazu unter 1.). Das LSG hat ebenso zutreffend die Berechnung des JAV nach § 571 RVO nicht beanstandet und ist davon ausgegangen, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt des Arbeitsunfallereignisses vom 20.9.1983 nicht mehr in der Berufs- oder Schulausbildung iS von § 573 Abs 1 RVO befand(dazu unter 2.). Schließlich war die Zugrundelegung eines hälftigen Jahreseinkommens nach Bundesbesoldungsgruppe A-13 auch nicht grob unbillig iS von § 577 RVO(dazu unter 3.).

17

1. Zutreffend hat das LSG die Normen der RVO zugrunde gelegt. Nach § 212 SGB VII gelten die §§ 1 bis 211 SGB VII (nur) für Versicherungsfälle, die nach dem Inkrafttreten des SGB VII eingetreten sind, sodass für vor diesem Termin liegende Versicherungsfälle weiterhin die Vorschriften des Dritten Buches der RVO Anwendung finden. Weder erfolgte im vorliegenden Fall im Sinn der abweichenden Regelung des § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII die erstmalige Festsetzung vor Inkrafttreten des SGB VII am 1.1.1997 (Art 36 UVEG - BGBl I 1996, 1254, 1317), weil bereits der zu überprüfende Bescheid der Beklagten vom 23.8.1984 die erstmalige Festsetzung einer Verletztenrente enthielt. Noch stellt die Überprüfung im Jahr 2008 im Rahmen des § 44 SGB X eine Neufestsetzung "aufgrund des § 90 SGB VII" dar. Dementsprechend findet auf den vorliegenden Fall auch nicht § 90 Abs 2 SGB VII Anwendung. Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, begründet § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII mangels materiellrechtlicher Rückwirkung nicht eine Anwendung des § 90 SGB VII in den "Altfällen", bei denen die Sachverhalte neuer, durch die Vorschrift erst geschaffener Voraussetzungen für eine Erhöhung des JAV bereits vor dem 1.1.1997 eingetreten waren, weil dies einen Zirkelschluss bedeuten würde. Deshalb ist, wenn bei einem vor Inkrafttreten des SGB VII eingetretenen Versicherungsfall der JAV eines Versicherten nach Inkrafttreten des SGB VII nach Altersstufen neu festgesetzt wird, hierfür noch die Höchstaltersgrenze des § 573 Abs 2 RVO und nicht die des § 90 Abs 2 SGB VII maßgebend, wenn der Versicherte wie im vorliegenden Fall das 30. Lebensjahr bereits vor Inkrafttreten des SGB VII vollendet hatte (BSG vom 4.6.2002 - B 2 U 28/01 R - SozR 3-2700 § 214 Nr 2 S 7; vgl BSG vom 18.9.2012 - B 2 U 14/11 R - juris RdNr 22 und BSG vom 19.12.2013 - B 2 U 5/13 R - SozR 4-2700 § 90 Nr 3 RdNr 12; s auch BT-Drucks 13/2204 S 121).

18

2. Zutreffend hat das LSG entschieden, dass im Verwaltungsakt vom 23.8.1984 die Beklagte den JAV rechtmäßig nach § 571 RVO(dazu unter a) und ebenso rechtmäßig ohne Anwendung des § 573 Abs 1 RVO(dazu unter b) festgesetzt hat.

19

a) Nach § 571 Abs 1 Satz 1 RVO gilt der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen(§§ 14, 15 SGB IV - s dazu BSG vom 23.7.2015 - B 2 U 9/14 R - zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen, SozR 4-2700 § 82 Nr 1 RdNr 14; s bereits BSG vom 27.11.1985 - 2 RU 55/84 - SozR 2200 § 577 Nr 11 = juris RdNr 13) des Verletzten im Jahr vor dem Arbeitsunfall als JAV, welches nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) das Gehalt in Höhe einer halben A-13-Stelle von 21 126,58 DM zuzüglich 1902,83 DM war.

20

b) Zutreffend hat das LSG auch die (Neu-)Berechnung des JAV nach § 573 Abs 1 RVO abgelehnt. Nach dieser Norm wird, wenn sich der Verletzte zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in einer Schul- oder Berufsausbildung befand und es für den Berechtigten günstiger ist, der JAV für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung neu berechnet. Der Bescheid vom 23.8.1984 beruht nicht auf einer fehlerhaften Rechtsanwendung iS von § 44 SGB X, weil die Beklagte etwa einen fiktiven JAV für die Zeit nach einer zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls noch betriebenen Ausbildung hätte zugrunde legen müssen. Zwar findet nach Sinn und Zweck des § 573 Abs 1 RVO die Vorschrift auch bei erstmaliger Festsetzung nach dem Zeitpunkt des voraussichtlichen Endes der Ausbildung Anwendung(vgl den Wortlaut der mit Art 1 Nr 1 des Sechsten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9.3.1942 neu eingefügten Vorläufernorm § 565 RVO sowie BSG vom 18.9.2012 - B 2 U 11/11 R - BSGE 112, 43 = SozR 4-2700 § 90 Nr 2, RdNr 18). Jedoch befand sich der Kläger zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls am 20.9.1983 nicht (mehr) in einer Schul- oder Berufsausbildung, wie es § 573 Abs 1 RVO nach seinem Wortlaut voraussetzt. Die Ausbildung des Versicherten war zum Unfallzeitpunkt schon beendet. Er hatte nach den nicht gerügten und daher bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) bereits vor dem Versicherungsfall sein Examen als Diplom-Chemiker abgelegt. Eine Neuberechnung der Verletztenrente erfolgt nach der ständigen Rechtsprechung des Senats indes nur, wenn die Maßnahme, während der sich der Versicherungsfall ereignet hat, zu einem - wenn auch nicht zwingend ersten - beruflichen Abschluss führt (BSG vom 7.2.2006 - B 2 U 3/05 R - SozR 4-2700 § 90 Nr 1 RdNr 18; Burchardt in Becker/Krasney/Kruschinsky/Burchardt/Heinz, Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VII, § 90 RdNr 13). Sobald das angestrebte Ausbildungsziel aber erreicht ist, kommt nur eine berufliche Weiterbildung in Betracht, die der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung nicht der Berufsausbildung zugerechnet hat (s bereits BSG vom 30.11.1962 - 2 RU 193/59 - BSGE 18, 136, 140 = SozR Nr 5 zu § 565 RVO aF Aa 7; BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 - juris RdNr 16; BSG vom 5.8.1993 - 2 RU 24/92 - SozR 3-2200 § 573 Nr 2 S 5). Der Gesetzgeber hat diese Vorschrift insoweit durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) vom 30.4.1963 (BGBl I 241) trotz Kenntnis dieser Rechtsprechung nicht geändert (BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 - juris RdNr 17), ebenso wenig hat er bei der Übernahme in § 90 SGB VII durch das UVEG vom 7.8.1996 (BGBl I 1254) inhaltliche Änderungen vorgenommen.

21

Der Kläger hatte zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls am 20.9.1983 das angestrebte Ausbildungsziel des Diplom-Chemikers bereits erreicht. Ein eigenes Berufsbild des "promovierten" Diplom-Chemikers existiert demgegenüber nicht. Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung ein Weiterstudium zum Zwecke der Promotion nicht als berufliche Ausbildung, sondern als berufliche Weiterbildung angesehen (s zu einem Arzt BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 - juris RdNr 17). Der Unterschied zwischen einem promovierten und einem nicht promovierten Chemiker besteht darin, dass ersterer sich durch die Anfertigung einer Doktorarbeit erweiterte Kenntnisse auf einem Spezialgebiet der Chemie erworben, durch die Ablegung des Doktorexamens seine Befähigung zu wissenschaftlichen Arbeiten besonders unter Beweis gestellt und sich für den Wettbewerb im Wirtschafts- oder Arbeitsleben eine nach herkömmlicher Bewertung günstigere Position geschaffen hat. Diese Vorteile gegenüber dem nicht promovierten Chemiker sind jedoch nicht das Ergebnis einer "Berufsausbildung". Dass jemand aus wirtschaftlichen Gründen zur Promotion mehr oder weniger gezwungen gewesen ist, rechtfertigt unfallrechtlich keine andere Beurteilung (so bereits BSG vom 30.11.1962 - 2 RU 193/59 - BSGE 18, 136, 140 = SozR Nr 5 zu § 565 RVO aF Aa 7 = juris RdNr 20), weshalb es unerheblich ist, dass - wie der Kläger vorträgt - mittlerweile nur 5 bis 7 % der Diplom-Chemiker die Universität ohne Promotion verlassen.

22

Dass der Begriff der Berufsausbildung in § 573 Abs 1 RVO nicht über den Wortsinn hinaus auf andere Formen beruflicher Bildung ausgedehnt werden kann, folgt ua aus dem Ausnahmecharakter der gesetzlichen Regelung, den die Rechtsprechung stets betont hat(BSG vom 26.7.1963 - 2 RU 13/61 - BSGE 19, 252, 254 = SozR Nr 6 zu § 565 RVO aF Aa 9; BSG vom 23.8.1973 - 8/2 RU 151/70 - SozR Nr 7 zu § 565 RVO aF Aa 11; BSG vom 26.3.1986 - 2 RU 32/84 - HV-Info 1986, 860; BSG vom 4.12.1991 - 2 RU 69/90 - HV-Info 1992, 598). Mit der Möglichkeit, bei Eintritt des Versicherungsfalls während einer Schul- oder Berufsausbildung die Bemessungsgrundlage anzuheben, weicht das Gesetz für einen Sonderfall von dem die Unfallversicherung beherrschenden Grundsatz ab, dass die Verdienstverhältnisse vor dem Arbeitsunfall für alle Zukunft die maßgebende Grundlage der Geldleistungen bleiben und spätere Erwerbsaussichten bei der Feststellung des JAV nicht zu berücksichtigen sind (BSG vom 27.2.1970 - 2 RU 135/66 - BSGE 31, 38, 40 = SozR Nr 1 zu § 573 RVO Aa 2; BSG vom 14.11.1974 - 8 RU 10/73 - BSGE 38, 216, 218 = SozR 2200 § 573 Nr 2 S 6; BSG vom 31.10.1978 - 2 RU 87/76 - BSGE 47, 137, 140 = SozR 2200 § 573 Nr 9 S 26). Einzig Personen, die bereits während der Zeit der Ausbildung für einen späteren Beruf einen Arbeitsunfall erleiden und deshalb im Jahr vor dem Unfall regelmäßig noch kein Arbeitsentgelt, sondern allenfalls eine geringe Ausbildungsvergütung erhalten haben, sowie aufgrund des Versicherungsfalls ihre Ausbildung später beenden, sollen zur Vermeidung von Härten geschützt und so gestellt werden, als hätten sie den Unfall nach der voraussichtlichen Beendigung der Berufsausbildung erlitten ( s zum stimmigen Konzept des § 90 SGB VII BSG vom 18.9.2012 - B 2 U 11/11 R - BSGE 112, 43 = SozR 4-2700 § 90 Nr 2, RdNr 35). Eine solche genau umschriebene Ausnahmeregelung kann nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung auf andere, vermeintlich ähnlich liegende Sachverhalte erstreckt werden. Es besteht insoweit auch kein Widerspruch zu Vorschriften der Krankenversicherung und Rentenversicherung, weil der Begriff der Berufsausbildung im Sinn der gesetzlichen Unfallversicherung eigenständig ist (s bereits BSG vom 27.4.1960 - 2 RU 191/56 - BSGE 12, 109, 116; BSG vom 30.11.1962 - 2 RU 193/59 - BSGE 18, 136 = SozR Nr 5 zu § 565 RVO aF = juris RdNr 20).Schließlich bestehen zwischen Personen, die das Ausbildungsziel noch nicht erreicht haben und solchen, die sich noch in der Ausbildung befinden, Unterschiede von solcher Art und Gewicht, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen, sodass dahinstehen kann, ob es sich überhaupt um iS des Art 3 Abs 1 GG vergleichbare Personengruppen handelt (vgl zum Prüfungsmaßstab zu Art 3 Abs 1 GG BVerfG vom 28.4.1999 - 1 BvR 1926/96, 1 BvR 485/97 - BVerfGE 100, 104 = SozR 3-2600 § 307b Nr 6 S 45 f; BSG vom 18.6.2013 - B 2 U 6/12 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 22 RdNr 24).

23

3. Das LSG hat auch zutreffend erkannt, dass der Kläger keinen Anspruch auf Bewilligung einer höheren Verletztenrente aufgrund der Billigkeitsnorm des § 577 RVO hat. Die Wertung, ob der berechnete JAV "in erheblichem Maße unbillig" ist, ist als unbestimmter Rechtsbegriff durch das Gericht in vollem Umfang selbst vorzunehmen (BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 24/10 R - SozR 4-2700 § 87 Nr 2 RdNr 26; BSG vom 28.1.1993 - 2 RU 15/92 - HV-Info 1993, 972 mwN; BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 - HV-Info 1992, 428; BSG vom 29.10.1981 - 8/8a RU 68/80 - SozR 2200 § 577 Nr 9 mwN). § 577 RVO soll atypische Fallgestaltungen erfassen und - ausgerichtet ua am Lebensstandard des Versicherten - für diese zu einem billigen Ergebnis führen. Ziel der Regelung ist es, den JAV als Grundlage der Rente so zu bemessen, dass der Lebensstandard gesichert wird, den der Versicherte zeitnah vor dem Versicherungsfall erreicht und auf den er sich eingerichtet hat. Die Regelungen zur Berechnung des JAV sollen für den Regelfall eine einfache, schnell praktizierbare und nachvollziehbare Berechnung des JAV in der Verwaltungspraxis ermöglichen. Nur wenn besondere Umstände vorliegen, die sich auf den maßgeblichen Zeitraum auswirken und die eine erhebliche Unbilligkeit der Regelberechnung begründen (unterwertige Beschäftigung; Verdienstausfall innerhalb der Jahresfrist zB durch unbezahlten Urlaub; dazu BSG vom 11.2.1981 - 2 RU 65/79 - BSGE 51, 178, 182 = SozR 2200 § 571 Nr 20 S 42 f), kann zur Vermeidung von Zufallsergebnissen eine Korrektur des JAV angezeigt sein (BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 24/10 R - SozR 4-2700 § 87 Nr 2 RdNr 28).

24

Die Nachfolgeregelung des § 577 RVO - § 87 Satz 2 SGB VII - nennt, ohne abschließend zu sein(s bereits zum früheren Recht BSG vom 26.6.1958 - 2 RU 58/56 - BSGE 7, 269, 273; sowie BT-Drucks 13/2204 S 96), Kriterien für die Beurteilung der Unbilligkeit. Bei der Überprüfung des JAV sind die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls zu berücksichtigen. In Bezug auf die erreichte "Lebensstellung" ist darauf abzustellen, welche Einkünfte die Einkommenssituation des Versicherten geprägt haben (BSG vom 16.12.1970 - 2 RU 239/68 - BSGE 32, 169, 173 = SozR Nr 1 zu § 577 RVO Aa 1; BSG vom 11.2.1981 - 2 RU 65/79 - BSGE 51, 178, 182 = SozR 2200 § 571 Nr 20 S 43; BSG vom 29.10.1981 - 8/8a RU 68/80 - SozR 2200 § 577 Nr 9 S 14 mwN; BSG vom 9.12.1993 - 2 RU 48/92 - BSGE 73, 258, 260 = SozR 3-2200 § 577 Nr 1 S 3; BSG vom 3.12.2002 - B 2 U 23/02 R - SozR 3-2200 § 577 SozR 3-2200 § 577 Nr 2 = HVBG-Info 2003, 428; Schudmann in jurisPK-SGB VII, 2. Aufl 2014, § 87 RdNr 18). In zeitlicher Hinsicht ist zu prüfen, welche Einkünfte der Versicherte innerhalb der Jahresfrist vor dem Versicherungsfall erzielt hat. Seine Einnahmen aus Erwerbstätigkeit im maßgeblichen Jahreszeitraum sind mit dem Ergebnis der gesetzlichen Berechnung zu vergleichen. Durch diesen Vergleich ergibt sich, ob der nach gesetzlichen Vorgaben festgesetzte Betrag des JAV außerhalb jeder Beziehung zu den Einnahmen steht, die für den Versicherten zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls oder innerhalb der Jahresfrist vor diesem Zeitpunkt die finanzielle Lebensgrundlage gebildet haben (BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 15/02 R - SozR 4-2700 § 87 Nr 1 RdNr 17; so auch BSG vom 28.4.1977 - 2 RU 39/75 - BSGE 44, 12 = SozR 2200 § 571 Nr 10). Die Festsetzung des JAV ist danach nicht in erheblichem Maße unbillig, wenn der ermittelte JAV - wie hier ausgehend von einer halben A-13-Stelle - den Fähigkeiten, der Ausbildung, Lebensstellung und Tätigkeit der Versicherten in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat des Versicherungsfalls entspricht (BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 24/10 R - SozR 4-2700 § 87 Nr 2 RdNr 26; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 87 RdNr 6).

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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

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(1) Arbeitsentgelt sind alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus de

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(1) Die Revision ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils oder des Beschlusses über die Zulassung der Revision (§ 160a Absatz 4 Satz 1 oder § 161 Abs. 3 Satz 2) schriftlich einzulegen. Die Revision muß das an

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(1) Arbeitseinkommen ist der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbständigen Tätigkeit. Einkommen ist als Arbeitseinkommen zu werten, wenn es als solches nach dem Einkommensteuerr

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(1) Ist der Versicherungsfall vor Vollendung des 30. Lebensjahres eingetreten, wird, wenn es für die Versicherten günstiger ist, der Jahresarbeitsverdienst mit Vollendung des 30. Lebensjahres auf 100 Prozent der zu diesem Zeitpunkt maßgebenden Bezugs

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(1) Die Vorschriften des Ersten und Fünften Abschnitts des Dritten Kapitels gelten auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind; dies gilt nicht für die Vorschrift über Leistungen an Berechtigte im

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Tenor Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 14. März 2014 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Klägers sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten. Die Revision wird

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(1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2) Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(3) Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist.

(4) Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

(1) Ist der Versicherungsfall vor Vollendung des 30. Lebensjahres eingetreten, wird, wenn es für die Versicherten günstiger ist, der Jahresarbeitsverdienst mit Vollendung des 30. Lebensjahres auf 100 Prozent der zu diesem Zeitpunkt maßgebenden Bezugsgröße neu festgesetzt. Wurde die Hochschul- oder Fachhochschulreife erworben, tritt an die Stelle des Wertes 100 Prozent der Wert 120 Prozent der Bezugsgröße.

(2) Der Jahresarbeitsverdienst wird mit Vollendung der in § 85 genannten weiteren Lebensjahre entsprechend dem Prozentsatz der zu diesen Zeitpunkten maßgebenden Bezugsgröße neu festgesetzt.

(3) In den Fällen des § 82 Absatz 2 Satz 2 sind die Absätze 1 und 2 entsprechend anzuwenden.

(1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2) Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(3) Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist.

(4) Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

(1) Die Revision ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils oder des Beschlusses über die Zulassung der Revision (§ 160a Absatz 4 Satz 1 oder § 161 Abs. 3 Satz 2) schriftlich einzulegen. Die Revision muß das angefochtene Urteil angeben; eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des angefochtenen Urteils soll beigefügt werden, sofern dies nicht schon nach § 160a Abs. 1 Satz 3 geschehen ist. Satz 2 zweiter Halbsatz gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Revision ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils oder des Beschlusses über die Zulassung der Revision zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. Die Begründung muß einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben.

(1) Ist die Revision unbegründet, so weist das Bundessozialgericht die Revision zurück. Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Gesetzesverletzung, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision ebenfalls zurückzuweisen.

(2) Ist die Revision begründet, so hat das Bundessozialgericht in der Sache selbst zu entscheiden. Sofern dies untunlich ist, kann es das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurückverweisen, welches das angefochtene Urteil erlassen hat.

(3) Die Entscheidung über die Revision braucht nicht begründet zu werden, soweit das Bundessozialgericht Rügen von Verfahrensmängeln nicht für durchgreifend erachtet. Dies gilt nicht für Rügen nach § 202 in Verbindung mit § 547 der Zivilprozeßordnung und, wenn mit der Revision ausschließlich Verfahrensmängel geltend gemacht werden, für Rügen, auf denen die Zulassung der Revision beruht.

(4) Verweist das Bundessozialgericht die Sache bei der Sprungrevision nach § 161 zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück, so kann es nach seinem Ermessen auch an das Landessozialgericht zurückverweisen, das für die Berufung zuständig gewesen wäre. Für das Verfahren vor dem Landessozialgericht gelten dann die gleichen Grundsätze, wie wenn der Rechtsstreit auf eine ordnungsgemäß eingelegte Berufung beim Landessozialgericht anhängig geworden wäre.

(5) Das Gericht, an das die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, hat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. April 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung höherer Verletztenrente.

2

Der im Jahre 1960 geborene Kläger erlitt am 7.5.2005 als LKW-Kraftfahrer einen Verkehrsunfall, der zu erheblichen Verletzungen führte. Die Beklagte gewährte mit Bescheid vom 8.5.2007 dem Kläger Rente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH. Sie legte dabei einen Jahresarbeitsverdienst (JAV) in Höhe von 29 836,56 Euro zugrunde und errechnete eine Verletztenrente in Höhe von 1657,59 Euro monatlich. Aufgrund eines weiteren Arbeitsunfalls, den der Kläger bereits 1999 erlitten hatte, nahm sie eine anteilsmäßige Kürzung der Rente vor. Jenem Arbeitsunfall lag ein JAV in Höhe von 30 669,92 Euro zugrunde, sodass der Rentenhöchstbetrag von zwei Dritteln des höchsten JAV aus diesem JAV des früheren Versicherungsfalls ermittelt wurde.

3

Die Beklagte legte der Berechnung des JAV für den Arbeitsunfall vom 7.5.2005 die Lohnabrechnungen des Arbeitgebers für den Zeitraum vom 1.5.2004 bis 30.4.2005 zugrunde. Der dabei ermittelte Betrag von 29 836,56 Euro umfasste ein Bruttoentgelt von 27 579,98 Euro, Urlaubsgeld in Höhe von 430,08 Euro, steuerfreie Zuschläge für Nachtarbeit in Höhe von 1281,62 Euro und für Sonntagsarbeit in Höhe von 544,68 Euro. Der Kläger erhielt zudem in diesem Zeitraum "steuerfreie Spesen" in Höhe von insgesamt 3705,00 Euro und "pauschal versteuerte Spesen" in Höhe von 1173,50 Euro. In früheren Bescheinigungen des Arbeitgebers waren die steuerfreien Spesen dabei als "steuerfreie Auslöse" bzw als "steuerfreier Verpflegungszuschuss" bezeichnet worden. Diese beiden Positionen wurden von der Beklagten bei der Berechnung des JAV nicht berücksichtigt. Mit Widerspruchsbescheid vom 28.9.2007 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Bei Spesen oder Auslösungen handele es sich um erstattete Auslagen, die nicht zu einem Vermögensvorteil des Beschäftigten führten und daher kein Arbeitsentgelt darstellten.

4

Mit seiner Klage zum SG Landshut hat der Kläger geltend gemacht, die Spesen und Auslösungen hätten zu einem Vermögensvorteil geführt und stellten nicht lediglich erstattete Auslagen dar. Mit Gerichtsbescheid vom 30.11.2011 hat das SG die Beklagte unter Abänderung ihrer Bescheide verpflichtet, die Höhe der Verletztenrente neu festzustellen, wobei bei der Berechnung des JAV der pauschal zu versteuernde Spesenanteil in Höhe von 1173,50 Euro zu berücksichtigen sei. Der Teil der Zahlung, der der Höhe des Steuerfreibetrags entspreche, sei dagegen als pauschaler Auslagenersatz zu werten und dem JAV nicht hinzuzurechnen.

5

Hiergegen hat die Beklagte Berufung und der Kläger Anschlussberufung eingelegt.

6

Das LSG hat den Arbeitgeber des Klägers als Zeugen gehört und durch Urteil vom 29.4.2014 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Auf die Anschlussberufung des Klägers hat es den Gerichtsbescheid und die Bescheide der Beklagten abgeändert und diese verurteilt, dem Kläger Verletztenrente auch unter Berücksichtigung der steuerfreien Spesen im Rahmen des JAV zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, die angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig, soweit die Beklagte im Rahmen der JAV-Berechnung weder die pauschal versteuerten Spesen in Höhe von 1173,50 Euro noch die steuerfreien Spesen in Höhe von 3705,00 Euro berücksichtigt habe. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass es sich bei diesen Zahlungen um Zuwendungen des Arbeitgebers für die berufliche Tätigkeit des Klägers handele, die als Arbeitsentgelt im Rahmen der JAV-Berechnung zu berücksichtigen seien. Inwieweit die Entgeltbestandteile nach § 17 SGB IV iVm § 2 Abs 1 Nr 2 ArEV oder nach § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV beitragsrechtlich zu berücksichtigen seien, könne dahinstehen. Die steuerrechtlichen Vermutungen dieser Normen seien für die Berechnung des JAV nicht maßgebend. Werde durch den Arbeitnehmer und den Arbeitgeber nachgewiesen, dass kein tatsächlicher Mehraufwand vorliege, so sei auch bei steuerfreien Spesen insoweit von einem anrechenbaren Arbeitsentgelt auszugehen. Grundsätzlich sei die Höhe des Betrags, der den tatsächlichen Mehraufwand übersteige, nach § 287 ZPO analog zu schätzen. Bei den dem Kläger gezahlten "Spesen/Auslösungen" habe es sich um Pauschalen gehandelt, die keine echten Aufwandsentschädigungen darstellten. Dies gelte sowohl für die steuerfreien als auch die pauschal versteuerten "Spesen", denn sämtliche Spesen seien unabhängig von tatsächlichen Aufwendungen gezahlt worden. Nach den übereinstimmenden und glaubhaften Angaben des Klägers und seines Arbeitgebers habe der Kläger die zusätzlich gezahlten Beträge vollumfänglich zusätzlich zu seinem Arbeitsentgelt erhalten, sodass die gezahlten Pauschalen durch mögliche Einsparungen beim Kläger zu einem Vermögensvorteil geführt hätten. "Kilometergeld", "Übernachtungskosten", "Kosten für die Benutzung von Sanitäreinrichtungen" und zusätzliche "Kosten für die Verpflegung" seien tatsächlich nicht angefallen.

7

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision. Sie rügt eine Verletzung der § 82 SGB VII, §§ 14 Abs 1, 17 Abs 1 SGB IV iVm der ArEV. § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV in der entscheidungserheblichen Fassung bestimme, dass steuerfreie Aufwandsentschädigungen nicht als Arbeitsentgelt gelten. Der Arbeitgeber lege bei der Auszahlung von Spesen deren steuerrechtliche Einordnung fest. Nach § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV sei diese steuerrechtliche Zweckbestimmung bei der sozialversicherungsrechtlichen Einordnung von Entgeltbestandteilen maßgebend. Eine von den Beteiligten nachträglich vorgenommene Zweckbestimmung könne nicht anerkannt werden. Hinsichtlich der pauschal versteuerten Spesen sei über § 17 SGB IV die zum Unfallzeitpunkt maßgebende ArEV zugrunde zu legen. Der ArEV und § 17 SGB IV sei nicht zu entnehmen, dass sie für das Leistungsrecht in der gesetzlichen Unfallversicherung keine Anwendung finden könnten.

8

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. April 2014 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 30. November 2011 zurückzuweisen, sowie den Gerichtsbescheid vom 30. November 2011 zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

9

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

10

Die Revision der Beklagten war im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Anhand der tatsächlichen Feststellungen des LSG lässt sich nicht beurteilen, ob die vom LSG jeweils als "steuerfreie Spesen" bzw "pauschal versteuerte Spesen" bzw "steuerfreie Auslöse" bzw "steuerfreie Verpflegungszuschüsse" bezeichneten Beträge bei der JAV-Berechnung zugrunde zu legen waren und damit zu einem Recht des Klägers auf höhere Verletztenrente führen. Das LSG konnte - von seiner Rechtsansicht her zutreffend - eine exakte tatsächliche und folglich auch steuerrechtliche Einordnung der dem Kläger gezahlten Einnahmen unterlassen, weil es davon ausging, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam nachweisen können, dass diese Einnahmen tatsächlich nicht zur Abdeckung eines Mehraufwands benötigt wurden. Die vom LSG hierzu eingeschlagene Vorgehensweise - Schätzung des Verbrauchs des Klägers nach § 287 ZPO - findet allerdings im Gesetz keinen Anhalt(vgl hierzu unter 2.). Mithin kam es darauf an, die dem Kläger gewährten Entgeltbestandteile tatsächlich (und dem folgend rechtlich) zu qualifizieren, was dem Senat aufgrund der fehlenden Feststellungen des LSG nicht möglich ist. Das LSG wird allerdings, wenn es diese Feststellungen nachgeholt hat, auch die unter 3. aufgezeigten rechtlichen Gesichtspunkte hinsichtlich der Ermittlung des JAV zu berücksichtigen haben (§ 170 Abs 5 SGG).

11

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist die in dem Bescheid der Beklagten vom 8.5.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.9.2007 festgestellte Höhe des Anspruchs des Klägers auf Verletztenrente unter Zugrundelegung der Höchstbetragsregelung des § 59 SGB VII. Bei der Festsetzung des JAV handelt es sich nicht um einen abtrennbaren Streitgegenstand. Vielmehr ist im Streit ein einheitlicher Anspruch (auf Rente), dessen Höhe sich durch die Faktoren MdE und JAV bestimmt. Eine Festsetzung des JAV ist mangels Außenwirkung kein Verwaltungsakt nach § 31 SGB X, sondern lediglich eine verwaltungsinterne Klärung eines Wertfaktors im Rahmen der Vorbereitung der Feststellung des Werts des Rechts auf Verletztenrente(BSG vom 18.9.2012 - B 2 U 14/11 R - juris RdNr 18, UV-Recht Aktuell 2013, 202). Ein Anspruch auf höhere Verletztenrente im Rahmen des § 59 Abs 1 SGB VII kann nur bestehen, wenn der neu festzusetzende JAV aufgrund des Unfallereignisses im Jahre 2005 höher ist als der aus einem früheren Unfall im Jahre 1999 resultierende JAV in Höhe von 30 669,92 Euro. Da dies hier aufgrund der Höhe der im Streit befindlichen Einnahmen im Jahre 2005 der Fall sein kann, war die Klage hier als Klage auf höhere Verletztenrente zulässig.

12

2. Die Frage, welche Zahlungen des Arbeitgebers in den JAV eingerechnet werden, beantwortet sich bei Anwendung des § 14 SGB IV und der ArEV (hierzu im Einzelnen noch unten) nach der steuerrechtlichen Qualifikation dieser Entgeltbestandteile aufgrund einer Betrachtungsweise ex ante, dh im Zeitpunkt ihrer Vereinbarung bzw Gewährung. Eine nachträgliche Änderung oder tatsächliche Umwidmung dieser rechtlichen Qualifizierung - etwa durch einen Nachweis des Nichtgebrauchs etc -, wie ihn das LSG hier für möglich hält, ist in den einschlägigen Rechtsvorschriften nicht vorgesehen, was aufgrund des das gesamte Sozialrecht prägenden Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes (§ 31 SGB I) zwingend geboten gewesen wäre.

13

Der Kläger hat gemäß § 56 Abs 3 iVm § 82 SGB VII(hier iVm § 59 SGB VII) einen Anspruch auf höhere Verletztenrente, wenn der Berechnungsfaktor JAV nach dem Unfallereignis aus dem Jahre 2005 mehr als der bisherige JAV in Höhe von 30 669,92 Euro aus dem Unfall im Jahre 1999 beträgt. § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII bestimmt hierzu: "Der Jahresarbeitsverdienst ist der Gesamtbetrag der Arbeitsentgelte (§ 14 des Vierten Buches) und Arbeitseinkommen (§ 15 des Vierten Buches) des Versicherten in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist". § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII enthält durch den Klammerzusatz "(§ 14 des Vierten Buches)" eine dynamische Verweisung auf die jeweils aktuell geltende Fassung des § 14 SGB IV. Abzustellen ist hier auf § 14 SGB IV in der zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles maßgebenden Fassung des Zweiten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002 (BGBl I 4627), nach dessen Absatz 1 Satz 1 Arbeitsentgelt alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus der Beschäftigung sind, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden oder ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV in der hier maßgebenden Fassung lautete: "Steuerfreie Aufwandsentschädigungen und die in § 3 Nr. 26 des Einkommensteuergesetzes genannten steuerfreien Einnahmen gelten nicht als Arbeitsentgelt".

14

Hieraus folgt, dass die jeweilige objektive steuerrechtliche Einordnung des konkret streitigen Entgeltbestandteils maßgebend ist. Das LSG ist in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zunächst davon ausgegangen, dass jedenfalls § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV auf den vorliegenden Sachverhalt Anwendung findet. Es hat sodann jedoch dahinstehen lassen, wie die hier in Frage stehenden Entgeltbestandteile objektiv (steuer-)rechtlich zu qualifizieren wären, weil diese mangels entstandener Aufwendungen - aufgrund des Nichtgebrauchs - Einkommen des Klägers darstellten. Zu Recht hat die Beklagte in ihrer Revision darauf hingewiesen, dass sich für eine solche "Umwidmung" der konkreten Zahlbeträge durch vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer konsentierten "Nichtgebrauch" keine Rechtsgrundlage finden lässt.

15

Soweit der Kläger auf Entscheidungen des BSG zum SGB II hinweist, in denen die jeweilige tatsächliche Zweckbestimmung von Entgelten eine Rolle spielte, verkennt er, dass nach der dort maßgeblichen Norm des § 11 Abs 3 Nr 1 Buchst a SGB II aF(idF, die die Norm durch das Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 24.3.2006 erhalten hat) nicht als Einkommen zu berücksichtigen waren "Einnahmen, soweit sie als zweckbestimmte Einnahmen einem anderen Zweck als die Leistungen nach diesem Buch dienen und die Lage des Empfängers nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären". Die dort an den Begriff der "zweckbestimmten Einnahmen" zu stellenden Anforderungen ergeben sich aus der Systematik des § 11 SGB II und dem Sinn und Zweck gerade jener Regelung im Rahmen einer steuerfinanzierten Sozialleistung. Die Außerachtlassung von Einnahmen erfolgt(e) dort unabhängig davon, ob diese steuerfrei sind, nur unter engen Voraussetzungen, die ausdrücklich durch den Zweck der weiteren Einnahmen gerechtfertigt sein müssen (vgl hierzu nur BSG vom 11.12.2012 - B 4 AS 27/12 R - SozR 4-4225 § 6 Nr 2, SozR 4-4200 § 11 Nr 58, RdNr 19 ff).

16

Die vom LSG vorgenommene eigenständige Schätzung der Einnahmen des Klägers auf der Grundlage des § 287 ZPO findet hingegen im System der Anspruchs- bzw Rechtsgrundlagen der § 82 SGB VII iVm § 14 SGB IV keine Rechtfertigung. Insofern hätte es seitens des LSG zunächst einer tatsächlichen und erst auf dieser aufbauend einer steuerrechtlichen Qualifizierung der streitigen Einnahmen bedurft, um ihre juristische Zuordnung zum Begriff des Arbeitsentgelts in § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV bzw zu den Vorschriften der maßgeblichen ArEV zu begründen(zu deren Anwendbarkeit noch unter 3.). Dem steht auch nicht entgegen, dass das Steuerrecht seinerseits die Schätzung der Höhe von Einnahmen (bzw Werbungskosten etc) zulässt, weil dort dieser Vorgang ausdrücklich von Rechts wegen zugelassen ist (vgl zu den Werbungskosten eines Fernfahrers Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht, Urteil vom 27.9.2012 - 5 K 99/12 - EFG 2013, 24; diese Unterschiede zwischen den jeweiligen Rechtsgebieten vernachlässigt Dau, jM 2015, 113).

17

3. Das LSG wird folglich zunächst festzustellen haben, wofür die von dem Arbeitgeber des Klägers in dem maßgeblichen Zeitraum bis 30.4.2005 (§ 82 Abs 1 SGB VII) geleisteten Zahlungen tatsächlich gewährt wurden. Aus den verschiedenen Stellungnahmen des Arbeitgebers im Verlaufe des Rechtsstreits könnten hier unterschiedliche Verwendungszecke bzw Zahlungsgründe abgeleitet werden von "Verpflegungszuschüssen" bis hin zu Trennungsgeld oder pauschaler Abgeltung von "doppelter Haushaltsführung" etc. Auch aus der vom LSG in dem angefochtenen Urteil (Blatt 13) vorgenommenen Aufzählung, welche Mehraufwendungen der Kläger nicht hatte, nämlich: "weder Kilometergeld, Übernachtungskosten, Kosten für die Benutzung von Sanitäreinrichtungen und zusätzliche Kosten für die Verpflegung" kann nicht eindeutig rückgeschlossen werden, wofür die hier streitigen Beträge tatsächlich positiv vom Arbeitgeber gewährt wurden. Erst wenn zu dem Zahlungsgrund der Beträge Feststellungen vorliegen, kann eine juristisch nachvollziehbare steuerrechtliche Qualifikation dieser Entgeltbestandteile erfolgen.

18

Soweit die dem Kläger gewährten "Spesen" danach als "steuerfrei" im Sinne des EStG zu qualifizieren wären, kann im Übrigen auch dahinstehen, ob § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV in der hier maßgeblichen Fassung überhaupt Anwendung findet. Diese Frage hängt zwar auch davon ab, wie die Entgeltbestandteile steuerrechtlich korrekt einzuordnen sind. Wären die von dem privaten Arbeitgeber gezahlten Pauschalen etwa unter die in § 3 Nr 16 EStG (in der 2005 geltenden Fassung) genannte Ausnahme zu subsumieren, nach der steuerfrei die Vergütungen sind, die Arbeitnehmer außerhalb des öffentlichen Dienstes von ihrem Arbeitgeber zur Erstattung von Reisekosten, Umzugskosten oder Mehraufwendungen bei doppelter Haushaltsführung erhalten, so wäre weiterhin zu entscheiden, ob solche steuerfreien Beträge überhaupt direkt unter § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV fallen können. § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV verweist wohl zunächst nur auf § 3 Nr 12 EStG, der sich wiederum ausschließlich auf Bezüge aus öffentlichen Kassen bezieht. So wird von einem Teil der Literatur vertreten, dass nur die in § 3 Nr 12 EStG genannten steuerfreien Aufwandsentschädigungen etc aus öffentlichen Kassen von § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV umfasst sind(vgl hierzu Knospe in Hauck/Noftz, SGB IV, K § 14, RdNr 50; Werner in JurisPK-SGB IV, § 14 RdNr 277; offen gelassen von BSG vom 26.1.2005 - B 12 KR 3/04 R - SozR 4-2400 § 14 Nr 7, RdNr 16). Letztlich kann diese Frage aber ggf dahinstehen, weil entsprechende steuerfreie Pauschalen jedenfalls unter § 1 der hier anwendbare ArEV(idF der Zweiten Verordnung zur Änderung der Arbeitsentgeltverordnung vom 18.2.2005 - BGBl I 322) fallen können mit der Folge, dass sie nicht Arbeitsentgelt iS des § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII wären.

19

Der Senat geht entgegen einer in der veröffentlichten Literatur zum Recht der GUV verbreiteten Meinung (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 82 SGB VII, RdNr 4.5; Keller in: Hauck/Noftz, SGB VII, K § 82 RdNr 4; Merten in: Eichenhofer/Wenner, Kommentar zum Sozialgesetzbuch VII, 1. Aufl, § 82 RdNr 11; Becker in: LPK-SGB VII, 4. Aufl, § 82 RdNr 7; Köllner in: Lauterbach-UV-SGB VII, § 82 RdNr 7, 8; RdSchr HVBG VB 49/91 vom 16.5.1991; Schudmann in JurisPK, 2. Aufl 2014, § 82, 48 ff)davon aus, dass die Verordnungsermächtigung in § 17 SGB IV den Verordnungsgeber auch dazu ermächtigt, die Entgeltbestandteile bzw Einnahmen zu regeln, die über die Ermittlung des JAV in § 82 SGB VII für das Leistungsrecht der GUV maßgebend werden. Die auch vom LSG und dieser Literatur zitierte Rechtsprechung des Senats, die einer solchen Geltung der ArEV entgegenstehen soll (BSG vom 27.11.1985 - 2 RU 23/85 - SozR 2200 § 571 Nr 24; BSG vom 24.5.1984 - 2 RU 11/83 - HV-Info 1984, Nr 13; BSG vom 24.2.1982 - 2 RU 59/81 - BSGE 53, 133 = SozR 2200 § 560 Nr 10; BSG vom 21.2.1980 - 5 RKnU 1/78 - BSGE 50, 9 = SozR 2200 § 571 Nr 16), ist ausschließlich zum Recht der RVO ergangen und betraf ausnahmslos Sachverhalte, die nach dem Rechtszustand vor Inkrafttreten der ArEV im Jahre 1977 zu beurteilen waren. § 17 Abs 1 SGB IV ermächtigt aber den Verordnungsgeber ausdrücklich auch, "zur Wahrung der Belange der Sozialversicherung" die entsprechende Verordnung zu erlassen. Die in der früheren Rechtsprechung des Senats vor Inkrafttreten der ArEV in den Vordergrund gestellten allgemeinen Strukturprinzipien der GUV treffen nach wie vor zu, können jedoch den über § 17 SGB IV normativ vermittelten Geltungsanspruch der ArEV nicht in Frage stellen. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern die zutreffende Tatsache, dass Beiträge und Leistungen in der GUV nicht im Synallagma stehen, als "Rechtsprinzip" dazu führen könnte, normativ explizierte Geltungsansprüche des Gesetz- und Verordnungsgebers auszuhebeln. Jedenfalls kann der oben genannten Rechtsprechung des BSG zum früheren Recht der RVO nicht entnommen werden, dass den vor Inkrafttreten der ArEV aufgestellten Grundsätzen Vorrang vor einschlägigem Verordnungsrecht zukommen soll. Zweifel an einer Geltung des § 17 SGB IV bzw der aufgrund dieser Ermächtigungsnorm jeweils erlassenen Verordnung(en) für die rechtliche Einordnung von bestimmten Einnahmen als Arbeitsentgelt auch für das Leistungsrecht der GUV lassen sich diesen Urteilen gerade nicht entnehmen. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang auch die Regelung des § 3 ArEV zu berücksichtigen, die als Sondervorschrift seit ihrer Einführung im Jahre 1977 gerade den Zweck hatte, die leistungsrechtliche Sonderstellung der Versicherten der GUV gerade auch innerhalb und durch die ArEV zu schützen(vgl zur Begründung der Verordnung: BR-Drucks 244/77, S 8 zu § 3, in der der Verordnungsgeber ohne jeden Zweifel davon ausgeht, dass er befugt sei, auch das Leistungsrecht der GUV zu regeln). Die Regelung des § 3 ArEV wurde vom erkennenden Senat sodann auch ausdrücklich gebilligt und gerade kompetenzrechtlich nicht beanstandet(BSG vom 24.2.1982 - 2 RU 59/81 - BSGE 53, 133 = SozR 2200 § 560 Nr 10, RdNr 18 f).

20

Deshalb ist im vorliegenden Fall über § 17 SGB IV sowohl die Norm des § 1 ArEV, nach der dort im Einzelnen qualifizierte lohnsteuerfreie Einnahmen nicht dem Arbeitsentgelt zuzurechnen sind, als auch die Norm des § 2 Abs 1 Nr 2 ArEV (idF vom 18.2.2005), der pauschal versteuerte Einnahmen betrifft, für die leistungsrechtliche Bestimmung des JAV anwendbar. Nach § 2 Abs 1 Nr 2 ArEV waren Einnahmen nach § 40 Abs 2 EStG, in dem Einnahmen aufgezählt werden, die mit einem Pauschsteuersatz von 25 vH zu versteuern waren, dem Arbeitsentgelt nicht zuzurechnen.

21

Das LSG wird auch abschließend über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden haben.

(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein.

(2) Der Kläger ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

(3) Eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts kann mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde begehren, wenn sie behauptet, daß die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite.

(4) Betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, so kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden.

(5) Mit der Klage kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 26. März 2013 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig ist die Überprüfung und Rücknahme aller Bescheide über die Gewährung, Aufhebung und Erstattung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für den Zeitraum seit Januar 2006.

2

Der 1973 geborene Kläger bezog seit Januar 2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Auf den Antrag des anwaltlich vertretenen Klägers vom 28.7.2010, sämtliche bestandskräftige Bescheide seit dem 1.1.2006 "auf ihre Rechtmäßigkeit" zu überprüfen, forderte der Beklagte ihn unter Fristsetzung bis zum 15.8.2010 auf, eine detaillierte Aufstellung der angefochtenen Bescheide vorzulegen. Eine Überprüfung des Sachverhaltes werde ansonsten nicht vorgenommen. Nachdem keine Reaktion erfolgt war, lehnte der Beklagte eine Prüfung der Bescheide ab (Bescheid vom 16.8.2010; Widerspruchsbescheid vom 11.10.2010).

3

Im sozialgerichtlichen Verfahren hat der Kläger vorgetragen, in den Bewilligungsbescheiden vom 23.11.2005, 12.6.2006, 14.12.2006, 29.5.2007, 26.11.2007, 2.6.2008 und 24.11.2008 seien die Kosten für Unterkunft und Heizung falsch ermittelt, der Beklagte habe den Abzug der Kosten für die Warmwasseraufbereitung unrichtig vorgenommen. Im August 2006 müsse eine Nachforderung aus einer Betriebskostenabrechnung in Höhe von 108,36 Euro berücksichtigt werden. Gleiches gelte für die Betriebskostenabrechnungen für das Jahr 2006 (Bescheid vom 22.6.2007) und für das Jahr 2007 (Bescheid vom 8.5.2008). Der Beklagte habe jeweils einen zu geringen Betrag berücksichtigt.

4

Das SG hat die Klage teilweise als unzulässig zurückgewiesen, im Übrigen als unbegründet abgewiesen (Urteil vom 15.3.2011). Soweit die Klagebegründung einen erneuten Überprüfungsantrag beinhalte, fehle es an einem ordnungsgemäßen Vorverfahren. Im Übrigen handele es sich bei der in § 44 SGB X vorgesehenen Korrekturmöglichkeit um eine Einzelfallprüfung. Ein "globaler" Überprüfungsantrag werde von der Norm nicht erfasst.

5

Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 26.3.2013). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf eine schranken- und voraussetzungslose Sach- und Rechtsprüfung der seit Januar 2006 erlassenen Bescheide. Aus dem Wortlaut und der Systematik ergebe sich, dass jeweils nur ein Anspruch auf Überprüfung einzelner Verwaltungsentscheidungen, nicht auf ein ggf umfangreiches Verwaltungshandeln über einen mehrjährigen Zeitraum bestehe. Für den Bereich des SGB II habe der Gesetzgeber die Bedeutung der Rechtssicherheit mit Wirkung zum 1.4.2011 weiter hervorgehoben und durch eine Ergänzung in § 40 Abs 1 S 2 SGB II die Rückwirkung auf ein Jahr begrenzt. Zudem werde das Leistungsverhältnis Bürger - Behörde im Bereich des SGB II schon materiell-rechtlich, dh aufgrund des Gegenstandes und des Normprogramms, durch Veränderungen in der Lebenswirklichkeit der Betreffenden ungleich mehr als im Sozialrecht sonst üblich geprägt. Im Interesse einer funktionsfähigen Verwaltung erfahre § 44 SGB X daher im SGB II eine Einschränkung. Unter Beachtung dieser Grundsätze folge aus dem Antrag des Klägers keine Pflicht zur Überprüfung von Bescheiden in der Sache, weil er diese bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens nicht benannt habe. Soweit er mit seiner Klagebegründung die zu überprüfenden Bescheide des Beklagten und Gründe für die aus seiner Sicht rechtswidrigen Regelungen benannt habe, sei zwar bei der Beurteilung von Bescheiden im Überprüfungsverfahren bei einer zulässigen Anfechtungs- und Verpflichtungsklage der für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebliche Zeitpunkt derjenige der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz. Hänge das Überprüfungsbegehren aber von Mitwirkungsobliegenheiten im Verwaltungsverfahren ab, seien Gerichte nicht verpflichtet, auf die Nachholung der schon bestehenden Mitwirkungsobliegenheit die nunmehr konkret benannten Bescheide erstmals zu überprüfen.

6

Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, es sei kein plausibler Grund dafür ersichtlich, warum eine Überprüfung "sämtlicher" erlassener Bescheide des Beklagten nur dann möglich sein solle, wenn der Antragsteller diese nochmals aufliste. Da der Überprüfungsantrag ausschließlich auf eine fehlerhafte Rechtsanwendung gestützt worden sei, bedürfe es keiner weiteren Darlegungen.

7

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 26. März 2013 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 15. März 2011 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 16. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 2010 zu verpflichten, die Bescheide vom 23. November 2005, 12. Juni 2006, 14. Dezember 2006, 29. Mai 2007, 22. Juni 2007, 26. November 2007, 8. Mai 2008, 2. Juni 2008 und 24. November 2008 teilweise zurückzunehmen und dem Kläger für die in den Bescheiden geregelten Bewilligungszeiträume höhere Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Er bezieht sich auf das angefochtene Urteil.

Entscheidungsgründe

10

Die Revision ist zulässig, jedoch unbegründet.

11

1. Streitgegenstand ist die Gewährung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zeitraum vom 1.1.2006 bis 30.6.2009, als dies durch die im Antrag bezeichneten Bescheide des Beklagten geschehen ist. Richtige Klageart ist hier eine kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (zuletzt BSG Urteil vom 12.12.2013 - B 4 AS 17/13 R - SozR 4-1500 § 192 Nr 2 RdNr 4; BSG Urteil vom 28.2.2013 - B 8 SO 4/12 R - RdNr 9; vgl auch Baumeister in juris-PK SGB X, § 44 RdNr 154, Stand 4/2013; Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 44 SGB X RdNr 30, Stand 09/2013 mwN; Waschull in LPK-SGB X, 3. Aufl 2011, § 44 RdNr 59; aA in einem obiter dictum: BSGE 97, 54 = SozR 4-2700 § 8 Nr 18, jeweils RdNr 9; wohl auch Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Aufl 2011, Kap IV RdNr 76). Der Kläger begehrt mit der Anfechtungsklage die Aufhebung des - die Überprüfung der zuvor benannten Bescheide ablehnenden - Verwaltungsakts vom 16.8.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.10.2010. Die Verpflichtungsklage ist auf die Erteilung eines Bescheids durch den Beklagen gerichtet, mit dem dieser die begehrte Änderung der bezeichneten Bewilligungsbescheide bewirkt. Mit der Leistungsklage beantragt er die Erbringung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im streitigen Zeitraum.

12

2. Der Beklagte hat es hier rechtlich zutreffend abgelehnt, eine inhaltliche Überprüfung der benannten Verwaltungsakte nach § 44 SGB X vorzunehmen. Es mangelt bereits an einem hinreichend objektiv konkretisierbaren Antrag im Sinne dieser Vorschrift.

13

a) Nach § 40 Abs 1 S 1 SGB II iVm § 44 Abs 1 S 1 SGB X ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Erfolgt die Überprüfung aufgrund eines Antrags des Leistungsberechtigten, löst dieser Antrag zwar grundsätzlich eine Prüfpflicht des Leistungsträgers aus. Der Antrag bestimmt jedoch zugleich auch den Umfang des Prüfauftrags der Verwaltung im Hinblick darauf, ob bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist. Aufgrund oder aus Anlass des Antrags muss sich der Verwaltung im Einzelfall objektiv erschließen, aus welchem Grund - Rechtsfehler und/oder falsche Sachverhaltsgrundlage - nach Auffassung des Leistungsberechtigten eine Überprüfung erfolgen soll. Dazu muss der Antrag konkretisierbar sein, dh entweder aus dem Antrag selbst - ggf nach Auslegung - oder aus einer Antwort des Leistungsberechtigten aufgrund konkreter Nachfrage des Sozialleistungsträgers muss der Umfang des Prüfauftrags für die Verwaltung bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens erkennbar werden. Ist dies nicht der Fall, ist der Sozialleistungsträger berechtigt, von einer inhaltlichen Prüfung dieses Antrags abzusehen. Diese Begrenzung des Prüfauftrags der Verwaltung wird durch den Wortlaut, die Gesetzesbegründung sowie den Sinn und Zweck des § 44 SGB X gestützt.

14

b) Nach dem Wortlaut von § 44 Abs 1 S 1 SGB X soll "im Einzelfall" eine Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes - sei es ein rechtswidriger belastender Verwaltungsakt, mit dem Leistungen ganz oder teilweise abgelehnt worden sind, sei es ein Rückforderungsbescheid(vgl Voelzke/Hahn, SGb 2012, 685, mwN) - erfolgen. Hieraus hat der erkennende Senat geschlossen, dass dann, wenn nicht ein einzelner oder mehrere konkrete, ihrer Zahl nach bestimmbare Verfügungssätze von Verwaltungsakten, sondern das Verwaltungshandeln - ohne jede Differenzierung - insgesamt zur Überprüfung durch die Verwaltung gestellt wird, keine Prüfung im Einzelfall begehrt wird. Trotz des Vorliegen eines "Antrags" löst ein solches Begehren bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift noch keine inhaltliche Prüfpflicht des Sozialleistungsträgers aus (BSG Beschluss vom 14.3.2012 - B 4 AS 239/11 B - juris-RdNr 6).

15

c) Eine Entbindung von der inhaltlichen Prüfung setzt allerdings voraus, dass der Sozialleistungsträger "den Einzelfall", also die konkreten Inhalte eines bestimmten Bescheides, die zur Überprüfung gestellt werden sollen, bei objektiver Betrachtung nicht ermitteln kann. Ein Prüfanliegen "im Einzelfall" ist daher zu bejahen, wenn entweder eine bestimmte Fragestellung tatsächlicher oder rechtlicher Natur oder eine konkrete Verwaltungsentscheidung benannt wird. Auch bei einem Antrag nach § 44 SGB X hat die Verwaltung den Untersuchungsgrundsatz des § 20 SGB X zu beachten. Insofern kann es - je nach den konkreten Umständen der Antragstellung - erforderlich sein, dass der Träger auf eine Konkretisierung des Überprüfungsbegehrens durch den Leistungsberechtigten iS des § 21 Abs 2 S 1 SGB X hinwirkt. In welchem Umfang der Leistungsträger seiner Amtsermittlungspflicht nachzukommen hat, beurteilt sich jedoch nach Lage des Einzelfalls. Als Kriterium für den Umfang der Amtsermittlungspflicht des SGB II-Trägers ist beispielsweise zu berücksichtigen, ob der Leistungsberechtigte (mit juristischem Sachverstand) vertreten oder unvertreten ist oder ob sich aus vorangegangenen Kontakten zwischen ihm und der Verwaltung Anhaltspunkte für das Begehren des Antragstellers ergeben. Auch kann von Bedeutung sein, in welchem Gesamtkontext ein Überprüfungsantrag gestellt wird. Wenn - jedoch wie im vorliegenden Fall - auch auf Nachfrage des SGB II-Trägers bei dem Rechtsanwalt der Antragstellerin keine Angaben gemacht werden, die eine Konkretisierung für den Einzelfall ermöglichen, sondern weiter pauschal auf die Überprüfung sämtlicher Bescheide verwiesen wird, ist der Sozialleistungsträger objektiv nicht in der Lage, seinen Prüfauftrag zu bestimmen. In diesem Sinne wird auch in dem Entwurf zur Begründung des § 42 SGB X (heute § 44 SGB X) darauf hingewiesen, Voraussetzung für die Rücknahme solle sein, dass der Behörde im Einzelfall die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes bekannt werde(BT-Drucks 8/2034, S 34). Der Sozialleistungsträger muss also zumindest in die Lage versetzt werden, bestimmen zu können, welcher Verwaltungsakt rechtswidrig sein könnte. Dies war hier bis zur Erteilung des Widerspruchsbescheides nicht der Fall.

16

d) Es genügt nicht, wenn der Leistungsberechtigte - wie hier - eine Nachbesserung des bis dahin unbestimmten und nicht objektiv konkretisierbaren Antrags erst im Klageverfahren vornimmt. Für die Beurteilung, ob die formellen Erfordernisse eines solchen Antrags vorliegen, der überhaupt erst eine Prüfpflicht des Leistungsträgers auslöst, ist auf die zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zu diesem Überprüfungsantrag vorgetragenen tatsächlichen und/oder rechtlichen Anhaltspunkte abzustellen.

17

Soweit das LSG mit Hinweis auf eine Entscheidung des 5. Senats des BSG (Urteil vom 25.1.2011 - B 5 R 47/10 R - RdNr 12) für die Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage im Überprüfungsverfahren im Ansatz davon ausgegangen ist, dass dies derjenige der letzten mündlichen Verhandlung sei, handelte es sich bei der Entscheidung des 5. Senats um eine andere Ausgangslage. In dem dortigen Verfahren war umstritten, ob konkrete "Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden" sind. Ob diese neben der Antragsstellung zu beachtende (weitere) Rücknahmevoraussetzung erfüllt ist, kann sich nach der materiellen Rechtslage richten, die im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Überprüfungsentscheidung gilt. Insofern ist neues Recht und auch erstmaliges Vorbringen der Beteiligten im Klageverfahren hierzu nach der Entscheidung des 5. Senats des BSG zu berücksichtigen, wenn das neue Recht das streitige Rechtsverhältnis nach seinem Geltungswillen "mit Rückwirkung" erfassen soll. Vorliegend fehlt es jedoch bereits an der vorrangig zu prüfenden verfahrensrechtlichen Voraussetzung für ein (Wieder)Aufleben ("Ingangbringen") der Prüfverpflichtung des Sozialleistungsträgers nach § 44 SGB X.

18

e) Ohne Bedeutung für die hier behandelte Fallgestaltung des nicht einzelfallbezogenen Antrags ist es, dass nach der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG eine Einschränkung im Verfahren nach § 44 SGB X unter Rückgriff auf § 51 Abs 1 VwVfG vorgenommen werden darf mit der Folge einer gestuften Prüfungsverpflichtung bei einem "unrichtigen Sachverhalt"(BSGE 88, 75 = SozR 3-2200 § 1265 Nr 20). Nicht einschlägig ist hier auch die Rechtsprechung des 9. Senats des BSG, der eine Prüfpflicht nur dann annehmen will, wenn Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit des der früheren Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts vorhanden sind (BSGE 63, 33 = SozR 1300 § 44 Nr 33). Wird das Verwaltungshandeln umfassend zur Überprüfung gestellt, mangelt es bereits an einem konkreten Anlass zum Eintritt in die zuvor aufgezeigten "Prüfstadien". Bereits auf der davor liegenden Stufe fehlt es an Hinweisen, wie sich der Prüfumfang bestimmen soll, wenn - wie hier - auch auf Nachfrage bei dem Leistungsberechtigten keine weiteren Angaben gemacht werden. Gleiches gilt, wenn sich die Rechtswidrigkeit aus einer unrichtigen Anwendung des Rechts ergeben soll. Nach Auffassung des 2. Senats des BSG soll zwar im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X auch ohne neues Vorbringen des Antragstellers immer eine Prüfverpflichtung bestehen, ob bei Erlass des bindend gewordenen Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt wurde(BSGE 97, 54 = SozR 4-2700 § 8 Nr 18, RdNr 12). Dies setzt jedoch voraus, dass die Verwaltung überhaupt "einzelfallbezogen" erkennen kann, welcher Bescheid zu überprüfen ist. Ansonsten kann sie bereits den Gegenstand der Prüfung nicht bestimmen und nicht dem Sinn und Zweck des § 44 SGB X entsprechend handeln.

19

f) Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten letzterer aufzulösen(BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 24, juris-RdNr 16; Merten in Hauck/Noftz, SGB X, K § 44 RdNr 2, Stand XII/12; Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2013, § 44 RdNr 2, vor 44-49, RdNr 1; Steinwedel in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 44 SGB X RdNr 2, Stand IX/2013; Waschull in LPK-SGB X, 3. Aufl 2011, vor §§ 44-51 RdNr 13; vgl auch Voelzke/Hahn, SGb 2012, 685). Eine Konfliktlösung in diesem Sinne ist der Verwaltung jedoch nur möglich, wenn ihr "der Konflikt" bekannt ist. Insoweit besteht kein Unterschied zwischen der Situation der Einleitung eines Überprüfungsverfahrens durch einen Antrag des Leistungsberechtigten oder der Verpflichtung der Verwaltung zur Überprüfung von Amts wegen (§ 44 Abs 3 S 2 und 3 SGB X). Der Maßstab zur Bestimmung des Prüfumfangs ist gleich. Im Rahmen der Überprüfung von Amts wegen ist die Verwaltung nach ständiger Rechtsprechung des BSG nicht verpflichtet, die Akten von sich aus auf Rücknahmemöglichkeiten durchzuarbeiten. Es müssen sich vielmehr konkret in der Bearbeitung eines Falles Anhaltspunkte für eine Aufhebung ergeben (vgl BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VH 1/07 R - juris-RdNr 48; BSG SozR 3-4100 § 119 Nr 23, juris-RdNr 24 f; s auch Baumeister in jurisPK-SGB X, § 44 SGB X, RdNr 133, Stand 4/2013; Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2013, § 44 RdNr 39; Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 44 SGB X, RdNr 24, Stand IX/2013). Anderenfalls würde der Verwaltung die Verpflichtung auferlegt, ihr bindend gewordenes Verwaltungshandeln "ins Blaue hinein" zu überprüfen. Auch bei einer Überprüfung auf Antrag ist die Verwaltung daher nicht gehalten, die Akten von Amts wegen durchzuarbeiten, um eine mögliche Rechtswidrigkeit aufzudecken. Sie kann sich vielmehr - in einer Situation wie der vorliegenden - unter dem Hinweis auf fehlende Anhaltspunkte für eine Rechtswidrigkeit nicht näher bezeichneter Ausgangsbescheide darauf stützen, es sei nicht erkennbar, dass das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei und die erneute inhaltliche Prüfung ablehnen. Damit wird sowohl der materiellen Gerechtigkeit als auch der Bindungswirkung Rechnung getragen, ohne die materielle Gerechtigkeit durch eine Zugunstenentscheidung für den Leistungsberechtigten im Einzelfall hinter die Bindungswirkung zurücktreten zu lassen.

20

g) Unerheblich für die Bestimmung des Umfangs der Prüfpflicht des Leistungsträgers ist hingegen, dass es sich hier um einen Antrag auf Überprüfung eines Bescheides aus dem Leistungsbereich des SGB II handelt. Die den dortigen Leistungsvoraussetzungen geschuldete Häufigkeit der Änderungen der Leistungshöhe und der damit verbundenen erneuten Bescheiderteilung bilden keinen Anlass von anderen Sozialleistungsbereichen abweichende Maßstäbe für die Voraussetzungen der Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung nach § 44 SGB X aufzustellen. § 40 Abs 1 SGB II enthält nur eine Begrenzung hinsichtlich der rückwirkenden Erbringung von SGB II-Leistungen nach § 44 Abs 4 SGB X, nicht jedoch abweichende Grundsätze für die vorangehenden Prüfungsschritte des § 44 SGB X(vgl in diesem Zusammenhang auch BSGE 106, 155 = SozR 4-4200 § 22 Nr 36).

21

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. Mai 2012 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 25 vH anstatt bisher 20 vH hat.

2

Der 1965 geborene Kläger erlitt am 8.9.1993 einen Arbeitsunfall, als ihm bei Ladearbeiten eine Kartonecke gegen das rechte Auge prallte. Dies führte zu einer starken Einschränkung der Sehschärfe auf dem betroffenen Auge, die im Juni 1996 nach den Feststellungen eines Gutachters rechts 0,063 (nach Korrektur 0,16) und links 1,0 betrug. Der Gutachter schätzte die MdE mit 20 vH ein und wies darauf hin, es könne langfristig zur Erblindung des Auges kommen. Die Beklagte bewilligte dem Kläger Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 20 vH (Bescheid vom 13.11.1996, Widerspruchsbescheid vom 20.3.1998, diese idF des vor dem SG Kassel - S 3 U 498/98 - am 9.9.1999 geschlossenen Vergleichs, nach dem sich die Beklagte verpflichtet hatte, die Rente bereits ab 1.1.1996 zu zahlen). Der Kläger bezieht wegen der Unfallfolgen eines weiteren Arbeitsunfalls vom 19.6.2005 eine weitere Rente nach einer MdE um 20 vH (Bescheid vom 27.11.2006).

3

Im Juni 2002 machte er eine Verschlechterung der Unfallfolgen geltend. Die augenärztliche Begutachtung ergab, dass das rechte Auge inzwischen funktionell einem erblindeten Auge gleichzusetzen sei, die MdE betrage 25 vH. Die Beklagte lehnte die Gewährung höherer Verletztenrente aber ab, weil eine wesentliche Änderung iS des § 73 Abs 3 SGB VII nicht vorliege. Der entsprechende Bescheid vom 12.9.2002 wurde bindend.

4

Im Dezember 2007 beantragte der Kläger, den "Anspruch auf Rente … hinsichtlich der Herabsetzung der Sehschärfe des rechten Auges … ab dem 23.8.2002 zu erhöhen". Der Sachverständige Dr. A. habe am 22.8.2002 eine MdE von 25 vH bestätigt. Die Beklagte verstand dies als Antrag auf Rücknahme des Bescheids vom 12.9.2002 und lehnte diesen ab (Bescheid vom 11.1.2008). Die Voraussetzungen für die Rücknahme des früheren Bescheids lägen nicht vor, denn der Verwaltungsakt vom 12.9.2002 sei nicht rechtswidrig gewesen. Zum Zeitpunkt seines Erlasses sei eine wesentliche Änderung in den Unfallfolgen nicht eingetreten, weil die MdE sich nicht um mehr als 5 vH erhöht habe. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 29.2.2008).

5

Auf die zum SG Kassel erhobene Klage hat dieses die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1.1.2003 Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 25 vH zu zahlen (Urteil vom 11.6.2010). Zur Begründung hat das SG ausgeführt, der zu überprüfende Bescheid der Beklagten vom 12.9.2002 sei rechtswidrig. Trotz des Wortlautes des § 73 Abs 3 SGB VII sei die Rente rückwirkend nach einer MdE um 25 vH zu zahlen. Es liege eine Gerechtigkeitslücke und eine Verletzung des Gleichheitssatzes vor, wenn der Unfallverletzte, der bei Erstfestsetzung der Verletztenrente erblindet sei, eine Rente von 25 vH bekomme, während derjenige, bei dem zunächst eine MdE um 20 vH festzusetzen war und der später erblinde, trotz identischer Unfallfolge nicht in den Genuss derselben nach einer MdE um 25 vH bemessenen Rente komme.

6

Die Beklagte hat Berufung zum Hessischen LSG eingelegt. Sie vertrat die Auffassung, § 73 Abs 3 SGB VII stehe einer Rente nach einer MdE um 25 vH entgegen. Die Gewährung einer höheren Rente komme auch nicht auf der Grundlage des § 46 SGB X in Betracht, weil sich die Vorschrift auf den Widerruf von Ermessensentscheidungen beschränke, die hier nicht vorgelegen habe. Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klagen abgewiesen (Urteil vom 8.5.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es sich der Auffassung der Beklagten angeschlossen, dass mit dem Eintritt der Erblindung keine wesentliche Änderung gegenüber der ursprünglichen Bewilligung eingetreten sei. Nach § 73 Abs 3 SGB VII sei eine Änderung der Unfallfolgen nur dann wesentlich iS des § 48 Abs 1 SGB X, wenn sie mehr als 5 vH betrage. Ausnahmen seien nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht vorgesehen. Dies verletze auch nicht den Gleichheitssatz.

7

Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Das SG habe bereits zutreffend ausgeführt, dass eine "offensichtliche" Gerechtigkeitslücke vorliege, weil vor Eintritt der Verschlimmerung eine Rente nach einer MdE von 20 vH bezogen worden und trotz einer Änderung von nur 5 vH ein erblindetes Auge mit einer MdE von 25 vH zu bewerten sei. Dass er eine Rente nach einer MdE um 25 vH nicht erhalte, verletze den allgemeinen Gleichheitssatz. Der Anspruch bestehe auch aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Der Beklagten sei ein Beratungsfehler anzulasten, weil sie ihn in dem Verwaltungsverfahren zur erstmaligen Festsetzung einer Rente nicht darauf hingewiesen habe, dass er bei Festsetzung der Rente nach einer MdE um 20 vH bei späterem Eintritt der Erblindung nicht in den Genuss einer Rente nach MdE um 25 vH kommen könne.

8

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. Mai 2012 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 11. Juni 2010 zurückzuweisen.

9

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

10

Der Gleichheitssatz gebiete eine Anpassung der Rente des Klägers nicht. Die Gruppe der von Anfang an einäugig erblindeten Unfallrentner (MdE 25 vH) sei nicht mit der Gruppe der zunächst nicht vollständig erblindeten Unfallrentner (MdE 20 vH) zu vergleichen. Vielmehr seien die Vergleichsgruppen iS des Art 3 Abs 1 GG so zu bilden, dass die Gruppe der zunächst noch nicht vollständig erblindeten Unfallrentner mit einer Rente nach einer MdE um 20 vH mit der großen Gruppe aller Unfallrentner zu vergleichen sei, deren MdE sich nachträglich um 5 vH ändere. Für diese Gruppe schließe der Rechtssatz des § 73 Abs 3 SGB VII eine Anhebung der Rente aus. Auch hätten MdE-Werte allenfalls die Qualität von Erfahrungswerten, sie stellten daher keinen Rechtssatz auf, der einen Rechtsanspruch auf Rente in bestimmter Höhe begründe. Die MdE sei zum Zeitpunkt der ersten Bewilligung einer Rente auf unbestimmte Zeit festzusetzen (§ 62 Abs 2 SGB VII)und dürfe danach nur eine Anpassung erfahren, wenn die Änderung mehr als 5 vH betrage.

Entscheidungsgründe

11

Die noch hinreichend iS des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG begründete Revision des Klägers ist auch im Übrigen zulässig, in der Sache aber nicht begründet.

12

Das LSG hat mit dem angefochtenen Urteil zu Recht die Entscheidung des SG aufgehoben und die Klagen abgewiesen. Die Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (vgl dazu BSG vom 11.4.2013 - B 2 U 34/11 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 4, Juris RdNr 15), mit der der Kläger die Beseitigung des Verwaltungsakts vom 11.1.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.2.2008, der seinen Antrag auf Rücknahme des Bescheids vom 12.9.2002 ablehnt, sowie die Verpflichtung der Beklagten zur (Teil)Aufhebung oder zum Widerruf des Verwaltungsakts vom 12.9.2002 sowie Zahlung einer Rente nach einer MdE um 25 vH begehrt, ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsakts der Beklagten vom 12.9.2002 (1.), dieser war auf seinen Antrag hin weder nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X iVm § 73 Abs 3 SGB VII aufzuheben (2.) noch nach § 46 Abs 1 SGB X zu widerrufen (3.); deshalb ist auch weiterhin eine Rente nach einer MdE um 25 vH nicht zu zahlen. Der Kläger wird dadurch nicht in seinen Grundrechten verletzt (4.). Auch liegen die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht vor (5.).

13

1. Gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

14

Die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X liegen nicht vor. Die Ablehnung der Rücknahme des Bescheids vom 12.9.2002 in dem Bescheid vom 11.1.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 29.2.2008 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, denn er hatte bei Erlass des Verwaltungsakts vom 12.9.2002 keinen Anspruch auf Aufhebung oder Widerruf des Verwaltungsakts vom 13.11.1996 und Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH.

15

2. Die Beklagte war nicht verpflichtet, auf den Antrag des Klägers den Bescheid vom 12.9.2002 zurückzunehmen. Dieser Verwaltungsakt war nicht deshalb rechtswidrig, weil er seinerseits die Aufhebung des früheren Bescheids aus dem Jahre 1996 wegen des Eintritts einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen ablehnte (§ 48 Abs 1 SGB X iVm § 73 Abs 3 SGB VII). Bei Erlass des Bescheids vom 12.9.2002 war § 73 Abs 3 SGB VII anzuwenden, weil diese Vorschrift auch für Versicherungsfälle gilt, die vor Inkrafttreten des SGB VII am 1.1.1997 eingetreten sind (§ 214 Abs 3 Satz 2 SGB VII).

16

Zwar war im August 2002 eine Änderung gegenüber den im November 1996 bestehenden tatsächlichen Verhältnissen eingetreten, weil das rechte Auge des Klägers nunmehr funktionell erblindet war. Diese tatsächliche Änderung war aber nicht rechtlich "wesentlich" iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X, denn diese Vorschrift wird durch die spezifisch unfallversicherungsrechtliche Regelung des § 73 Abs 3 SGB VII modifiziert(vgl Kranig in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand VI/2007, K § 73 RdNr 30; Meibom in jurisPK-SGB VII, § 73 RdNr 32 f). Sie bestimmt, dass bei der Feststellung der MdE eine Änderung iS des § 48 Abs 1 SGB X nur dann (rechtlich) wesentlich ist, wenn sie mehr als 5 vH beträgt.

17

Wie das LSG für den Senat bindend festgestellt hat (§ 163 SGG), war dem Kläger infolge eines Arbeitsunfalls mit Verletzungen des rechten Auges und Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,1 im Jahr 1996 eine Rente nach einer MdE um 20 vH durch Verwaltungsakt bewilligt worden. Damals wurde schon angenommen, es könne langfristig zur Erblindung des rechten Auges kommen. Bei der Untersuchung im August 2002 war die Funktion des rechten Auges so weit herabgesunken, dass der Befund einer funktionellen Erblindung gleichkam. Die MdE aufgrund einer einseitigen Erblindung wird allgemein mit einer MdE in Höhe von 25 vH eingeschätzt (vgl Schönberger/ Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, S 292; Kranig in Hauck/ Noftz, SGB VII, Stand IX/2010, K § 56 RdNr 56; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 03/2009, Anhang 12 J 004a f).

18

Die Änderung der MdE auf nunmehr 25 vH (an Stelle von 20 vH) ist aber gemäß § 73 Abs 3 SGB VII nicht rechtlich wesentlich, weil sie nicht mehr als 5 vH beträgt. Die nach ihrem Wortlaut eindeutige Regelung des § 73 Abs 3 SGB VII steht einer Teilaufhebung des maßgeblichen Rentenbescheids vom 13.11.1996 und einer Erhöhung der Verletztenrente auf eine MdE um 25 vH entgegen.

19

Dies ist anzunehmen, obwohl den Erfahrungswerten der gesetzlichen Unfallversicherung zur Feststellung und Bewertung der MdE von Unfallfolgen auch die Funktion zukommt, die Gleichmäßigkeit und Kontinuität der Entschädigungspraxis zu gewährleisten (vgl Scholz in juris-PK-SGB VII, § 56 RdNr 52). Vorliegend geht den Erfahrungswerten der Unfallmedizin aber die gesetzliche Regelung vor, dass nach § 73 Abs 3 SGB VII, § 48 Abs 1 SGB X geringfügige Änderungen in der Höhe der MdE weder zu Gunsten noch zu Lasten der Versicherten zu einer Rentenänderung führen sollen.

20

§ 73 Abs 3 SGB VII kann auch nicht im Wege der teleologischen Auslegung in seinem Anwendungsbereich eingeschränkt werden(statt vieler: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl 1991, S 391 ff; Brandenburg, Die teleologische Reduktion, 1983). Die teleologische Reduktion gehört zu den anerkannten, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Auslegungsgrundsätzen (BVerfG, Beschluss vom 15.10.2004 - 2 BvR 1316/04 - NJW 2005, 352, 353; BVerfG, Beschluss vom 7.4.1997 - 1 BvL 11/96 - NJW 1997, 2230, 2231; BVerfG, Beschluss vom 14.3.2011 - 1 BvL 13/07 - NZS 2011, 812). Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die auszulegende Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut hinsichtlich eines Teils der von ihr erfassten Fälle für unanwendbar hält, weil deren Sinn und Zweck, die Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen (BVerfG, Beschluss vom 7.4.1997 - 1 BvL 11/96 - NJW 1997, 2230, 2231; BSG vom 18.8.2011 - B 10 EG 7/10 R - BSGE 109, 42 = SozR 4-7837 § 2 Nr 10). Bei einem nach wortlautgetreuer Auslegung drohenden Grundrechtsverstoß kann eine zulässige und mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung der Norm entgegen deren Wortlaut sogar geboten sein.

21

So liegen die Verhältnisse indessen hier nicht. Wie das BVerfG immer wieder betont hat (vgl BVerfG, Beschlüsse vom 26.9.2011 - 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 = NJW 2012, 1179), ist eine verfassungsrechtlich unzulässige richterliche Rechtsfortbildung dadurch gekennzeichnet, dass sie, ausgehend von einer teleologischen Interpretation, den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder - bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke - stillschweigend gebilligt wurde (BVerfG, Beschlüsse vom 14.6.2007 - 2 BvR 1447/05, 2 BvR 136/05 - BVerfGE 118, 212, 243). Richterliche Rechtsfortbildung überschreitet die verfassungsrechtlichen Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft (BVerfG, Beschluss vom 6.7.2010 - 2 BvR 2661/06 - BVerfGE 126, 286, 306).

22

Eine teleologische Reduktion des § 73 Abs 3 SGB VII würde die soeben aufgezeigten Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschreiten. Im Wege der Auslegung darf einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden (vgl BVerfG, Beschluss vom 25.1.2011 - 1 BvR 918/10 - NJW 2011, 836).

23

Einer teleologischen Reduktion steht hier zunächst der klar erkennbare Wille des historischen Gesetzgebers des § 73 Abs 3 SGB VII entgegen, Rentenanpassungen in Höhe von bis zu 5 vH in allen Fällen auszuschließen, in denen - wie etwa hier - zunächst eine rentenberechtigende MdE von 20 vH vorliegt und später eine MdE um 25 vH eintritt. Die Regelung des § 73 Abs 3 SGB VII sollte gerade die frühere Rechtsprechung des BSG zur Frage der wesentlichen Änderung bei MdE-Erhöhungen(vgl BSG Urteile vom 2.3.1971 - 2 RU 300/68 und 2 RU 39/70 - BSGE 32, 245 = SozR Nr 11 zu § 622 RVO)übernehmen (so BT-Drucks 13/2204 S 93; vgl auch Meibom in jurisPK-SGB VII, § 73 RdNr 33 f; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VII § 73 Anm 5.1; Kranig in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand VI/2007, K § 73 RdNr 22). Der Senat führte in einem der beiden Urteile vom 2.3.1971 (2 RU 300/68), in dem - genau wie im vorliegenden Fall - die Erhöhung der MdE von 20 vH auf 25 vH bei einer nachträglich eingetretenen einäugigen Blindheit streitig war, aus:

        

"Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben zu überprüfen, ob der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Dies ist jedoch im allgemeinen zu verneinen, wenn bei unstreitigen Unfallfolgen die gutachterlichen Beurteilungen der MdE sich lediglich um 5 v. H. unterscheiden, also innerhalb einer bei derartigen Schätzungen zwangsläufig eintretenden Schwankungsbreite liegen. Nicht anders wird es häufig sein, wenn im Rechtsstreit eine weitere Gesundheitsstörung als Unfallfolge angesehen wird, diese sich aber auf die Erwerbsfähigkeit so wenig nachteilig auswirkt, daß die Gutachter unterschiedlicher Meinung sind, ob durch die gesamten Unfallfolgen die Erwerbsfähigkeit in einem Maße eingeschränkt wird, welche um 5 v. H. über dem bisherigen Ergebnis liegt (a. A. Hess. LSG, Breithaupt 1963, 780, 781). Dagegen wird Sprang und Ricke zugestimmt, daß die von der Rechtsprechung zugelassenen Ausnahmen - wenn es sich handelt um die Gewährung der Rente, die Schwerbeschädigteneigenschaft, um einen der Schwerbeschädigteneigenschaft gleichgestellten MdE-Grad - rechtssystematisch nicht zu begründen sind. Sie werden ersichtlich allein deshalb gemacht, um im Einzelfall zu einem vermeintlicher Billigkeit entsprechenden Ergebnis zu gelangen. Folgerichtig sind dann aber auch Änderungen um nur 5 v. H. für die Entziehung einer Rente von 20 v. H. der Vollrente sowie für die Herabsetzung von Rente nach einer MdE um 50 v. H. und um 30 v. H. wegen des Wegfalls der Schwerbeschädigteneigenschaft wesentlich im Sinne von § 622 Abs. 1 RVO (vgl. SozR Nr. 8 zu § 608 RVO aF; LSG Nordrhein-Westfalen, BG 1970, 279). Mangels einer rechtssystematischen Begründung für die bisher zugelassenen Ausnahmen wäre jedoch, wie der erkennende Senat in dem heute gefällten, zur Veröffentlichung bestimmten Urteil in der Sache 2 RU 39/70 näher ausgeführt hat, kein zwingender Grund gegeben, weitere Ausnahmen von dem o. a. Grundsatz zu Gunsten von Verletzten abzulehnen. Dies würde aber bedeuten, daß diese Ausnahmen sich auch zu ihren Ungunsten auswirken könnten. Schließlich würde dies aber dazu führen, daß sich der allgemeine Grundsatz nicht mehr aufrechterhalten ließe und Rentenherabsetzungen bei Änderungen um nur 5 v. H. allgemein als rechtens angesehen werden müßten. Daher erschien es dem Senat geboten, an dem auf eine jahrzehntelange allgemeine Erfahrung gestützten Grundsatz, daß Abweichungen um 5 v. H. in der Bewertung der MdE nicht statthaft sind, ausnahmslos festzuhalten und Unbilligkeiten in Einzelfällen im Hinblick darauf, daß sich dieser Grundsatz weitaus überwiegend zugunsten der Verletzten auswirkt, in Kauf zu nehmen. Diese auch den Bedürfnissen der Rechtssicherheit Rechnung tragende Auslegung verstößt nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht gegen Art. 3 GG."

24

Danach waren zwei Gründe für den erkennenden Senat dafür maßgeblich, dass eine Änderung der Verletztenrente aufgrund einer geringfügigen Änderung der Einschätzung der MdE von nicht mehr als 5 vH unterbleiben soll. An diesen Gründen hat sich bis heute nichts geändert. Erstens ist eine Änderung der Höhe der MdE nach oben und unten nicht geboten, wenn sie innerhalb der bei gutachterlichen Schätzungen zwangsläufig bestehenden Schwankungsbreite liegt. Dies trägt auch der Tatsache Rechnung, dass die Einschätzung der Erwerbsfähigkeit eines Menschen mit einem gewissen Unsicherheitsfaktor behaftet und insoweit unvermeidlich durch einen Toleranzbereich gekennzeichnet ist. Zweitens hätte die Zulassung von Ausnahmen von diesem Grundsatz zur Folge, dass nicht nur die Erhöhung einer Rente wegen einer Änderung der MdE um 5 vH, sondern bei entsprechender Änderung zu Lasten des Versicherten auch eine Absenkung der Rente stattfinden müsste. Zugleich hat der Senat - wie in dem Zitat (s.o.) deutlich zum Ausdruck kommt - sich bereits 1971 ausgiebig mit der Frage möglicher Ausnahmen befasst und war zu dem Ergebnis gekommen, dass diese rechtssystematisch nicht zu begründen sind.

25

Mithin kann § 73 Abs 3 SGB VII weder nach seinem Wortlaut noch aufgrund historischer Auslegung so verstanden werden, dass er in seinem Geltungsanspruch über das Bezweckte hinausgeht und folglich in seinem Anwendungsbereich eingeschränkt (teleologisch reduziert) werden müsste. Vielmehr entsprach es der vom Gesetzgeber übernommenen klaren Wertung der Rechtsprechung, dass im Bereich von bis zu 5 vH der Nachweis einer Verschlimmerung der Unfallfolgen mit solchen tatsächlichen Unsicherheiten behaftet sei, dass ausnahmslos kein Anspruch auf Aufhebung einer früheren Rentenbewilligung und Zahlung einer Rente nach einer um bis zu 5 vH höheren MdE erfolgen sollte.

26

3. Auch § 46 Abs 1 SGB X bietet keine Rechtsgrundlage für einen Anspruch des Klägers auf eine höhere Rente.

27

Nach § 46 Abs 1 SGB X kann die Beklagte einen rechtmäßigen, nicht begünstigenden Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen, außer wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste oder aus anderen Gründen ein Widerruf unzulässig ist. Die Vorschrift ist mit dem SGB X am 1.1.1981 in Kraft getreten und galt zum Zeitpunkt der Prüfung der Rentenerhöhung im August 2002.

28

Es kann dahingestellt bleiben, ob § 46 Abs 1 SGB X auf Fälle der vorliegenden Art überhaupt Anwendung finden kann. In der Rechtsprechung des BSG ist die Frage bisher nicht beantwortet, ob die Vorschrift des § 46 Abs 1 SGB X eingreifen kann, wenn - wie hier - eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten, diese aber nicht wesentlich iS des § 48 Abs 1 SGB X ist. Teilweise wird schon angenommen, die Regelung lasse nur den Widerruf von Ermessensentscheidungen zu (Freischmidt in Hauck/Noftz, SGB X, K § 46 RdNr 3). Eine Ermessensentscheidung, die zu widerrufen sein könnte, lag hier aber gerade nicht vor. Ob § 46 SGB X auch auf Verwaltungsakte mit Dauerwirkung Anwendung finden kann, über die ohne Ermessen zu entscheiden war und in deren tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eine Änderung eingetreten war, die aber nicht rechtlich wesentlich ist, ist ebenfalls umstritten(dazu Gmati in jurisPK-SGB X § 46 RdNr 11 mwN; für Anwendung des § 46 SGB X: Ricke in: Kasseler Kommentar § 56 SGB VII RdNr 43, Kranig in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 73 RdNr 25; Waschull in LPK-SGB X, 3. Aufl 2011, § 46 RdNr 3; Dahm in jurisPR-SozR 23/2010 Anm 3; nur ausnahmsweise anwendbar: Steinwedel in KassKomm, § 46 SGB X RdNr 3; gegen Anwendung des § 46 SGB X: Schütze in Schütze/von Wulffen, SGB X, § 46 RdNr 6).

29

Dies kann aber letztlich dahinstehen, denn jedenfalls kann der Senat den Bescheid vom 12.9.2002 schon deshalb nicht nach Maßgabe des § 46 Abs 1 SGB X überprüfen, weil die Beklagte in diesem Verwaltungsakt über einen Widerruf des maßgeblichen Bescheids vom 13.11.1996 nicht entschieden hat. Der Bescheid vom 12.9.2002 kann auch nicht dahingehend umgedeutet werden, dass er einen Widerruf des maßgebenden Bescheids abgelehnt habe, denn es handelt sich bei der Entscheidung über den Widerruf nach § 46 Abs 1 SGB X seinerseits um eine Ermessensentscheidung(vgl nur Steinwedel in KassKomm, Stand 08/2012, § 46 RdNr 4). Der Beklagten steht grundsätzlich ein Entschließungsermessen zu, ob sie von der Ermächtigung zum Widerruf des rechtmäßig erlassenen Verwaltungsakts Gebrauch macht oder nicht. Die Umdeutung des Bescheids vom 12.9.2002 in eine Entscheidung über einen Widerruf würde in die Kompetenz der Beklagten, ihr Entschließungsermessen pflichtgemäß betätigen zu können, eingreifen (zum Ausschluss der Umdeutung von gebundenen Entscheidungen in Ermessensentscheidungen vgl § 43 Abs 3 SGB X; hierzu BSG vom 20.10.2005 - B 7a AL 18/05 R - BSGE 95, 176 = SozR 4-4300 § 119 Nr 3; BSG vom 17.4.1986 - 7 RAr 101/84; vgl auch Leopold in jurisPK-SGB X § 43 RdNr 50 f; Schütze in: von Wulffen/Schütze SGB X § 43 RdNr 12).

30

Vorliegend kommt hinzu, dass mit einer Anwendung der allgemeinen verfahrensrechtlichen Regelung des § 46 Abs 1 SGB X die spezifisch unfallversicherungsrechtliche Regelung des § 73 Abs 3 SGB VII (lex specialis) wieder unterlaufen würde. Denn eine Beseitigung der früheren Bewilligung und Erhöhung der Rente nach einer Änderung der MdE von lediglich bis zu 5 vH will § 73 Abs 3 SGB VII gerade ausschließen.

31

Der Bescheid vom 12.9.2002 ist also auch nicht deshalb rechtswidrig gewesen, weil er den Widerruf des maßgeblichen Bescheids vom 13.11.1996 gemäß § 46 SGB X zu Unrecht abgelehnt hätte.

32

4. Dieses maßgeblich durch § 73 Abs 3 SGB VII beeinflusste Ergebnis verletzt den Kläger nicht in seinem Grundrecht aus Art 3 Abs 1 GG. Der Senat hat keine Zweifel, dass die fragliche Regelung eine im Lichte des Art 3 GG zulässige und sachlich gerechtfertigte Typisierung ist.

33

In Ansehung des allgemeinen Gleichheitssatzes bedürfen Differenzierungen der Rechtfertigung durch angemessene Sachgründe. Die hierbei dem Gesetzgeber gesetzten Grenzen reichen von einer Beschränkung auf das Willkürverbot bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen (vgl BVerfG, Beschluss vom 21.6.2011 - 1 BvR 2035/07 - NVwZ 2011, 1316, RdNr 64 f). So kann sich eine strengere Bindung des Gesetzgebers aus der Anknüpfung an - für den Einzelnen nicht verfügbare - Persönlichkeitsmerkmale oder aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben (vgl BVerfG, Beschluss vom 26.1.1993 - 1 BvL 38/92 - BVerfGE 88, 87, 96). Andererseits verfügt er im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit grundsätzlich über einen weiten Gestaltungsspielraum (vgl BVerfG, Beschluss vom 29.10.2002 - 1 BvL 16/95 - BVerfGE 106, 166, 175 f). Innerhalb dieses Gestaltungsspielraums kann er auch Typisierungen vornehmen, wenn die damit verbundenen Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist (BVerfG, Beschluss vom 6.7.2010 - 1 BvL 9/06 - BVerfGE 126, 233, 263 f).

34

Mit der Regelung des § 73 Abs 3 SGB VII hat sich der Gesetzgeber dafür entschieden, geringfügige Abweichungen in der Einschätzung der MdE unbeachtet zu lassen. Dabei geht die Regelung typisierend davon aus, dass die MdE regelmäßig der Beurteilung durch Sachverständige unterliegt und sich für deren Einschätzung "Erfahrungswerte" herausgebildet haben. Aufgrund des Erfahrungswissens, das der Beurteilung zu Grunde liegt, halten sich Abweichungen in der Schätzung der MdE um bis zu 5 vH typischerweise innerhalb des bestehenden gutachterlichen Beurteilungs- und letztlich auch Irrtumsspielraums. Die Regelung berücksichtigt damit, dass die so genannten Erfahrungswerte für die MdE-Schätzung keine exakten oder gar normativen Vorgaben sind. Weiter wird typisierend angenommen, dass in einem gewissen Bereich (von bis zu 5 vH) Schwankungen im Gesundheitszustand eines Betroffenen sowohl aufgrund des Heilungsverlaufs als auch aufgrund persönlicher Gegebenheiten regelmäßig auftreten können. Eine für den jeweiligen Zeitpunkt exakte Bestimmung des Vom-Hundert-Wertes der MdE ist schon deshalb nur unter Schwierigkeiten möglich. Für Änderungen in der Einschätzung der MdE, die 5 vH nicht übersteigen, schließt § 73 Abs 3 SGB VII deshalb sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten der Versicherten Änderungen in der Höhe der Rente aus. Die Regelung trägt damit auch zur Vereinfachung der Verwaltungstätigkeit und zur Verstetigung der dem Versicherten zu gewährenden Leistungen bei. Innerhalb des Anwendungsbereichs des § 73 Abs 3 SGB VII findet eine Ungleichbehandlung von Versicherten im Übrigen nicht statt.

35

Diese auf langjähriger Praxis und Rechtsprechung beruhende sachgerechte Typisierung hält sich in dem durch Art 3 Abs 1 GG vorgegebenen Rahmen. Die den Kläger aufgrund der Typisierung treffende "Belastung" ist vergleichsweise gering. Zwar führt sie in seinem Fall dazu, dass eine Erhöhung der Rente unterbleibt, obwohl die MdE ab August 2002 mit 25 vH zu bewerten gewesen wäre. Wegen der relativ kleinteiligen Bewertung der MdE von Sehminderungen, für die dem Kläger eine Rente nach einer MdE in Höhe von bereits 20 vH bewilligt ist, kann er den nach den Erfahrungswerten vorgesehenen MdE-Wert von 25 vH nicht erreichen. Dennoch belastet ihn der mit der Typisierung verbundene Nachteil nicht unverhältnismäßig. Dass die Regelung zutreffend von einer Schwankungsbreite der Schätzung ausgeht, wird zum Beispiel daran deutlich, dass das rechte Auge des Klägers nicht vollständig, sondern (nur) funktionell erblindet ist. Dadurch relativiert sich auch dessen Rüge, eine andere Einschätzung der MdE als mit 25 vH führe zu einer für den Kläger unzumutbaren Härte.

36

5. Schließlich kann der Kläger auch nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu einer Rentengewährung nach einer MdE von 25 vH gelangen.

37

Ein Herstellungsanspruch setzt voraus, dass ein Sozialleistungsträger seine gegenüber einem Berechtigten obliegende Nebenpflicht aus dem Sozialversicherungsverhältnis verletzt, dem Berechtigten ein unmittelbarer (sozialrechtlicher) Nachteil entsteht und zwischen der Pflichtverletzung und dem Nachteil ein Ursachenzusammenhang vorliegt. Der Herstellungsanspruch ist grundsätzlich auf die Vornahme der Amtshandlung gerichtet, die den möglichen und rechtlich zulässigen Zustand erreicht, der ohne die Pflichtverletzung eingetreten wäre (stRspr; BSG vom 18.12.1975 - 12 RJ 88/75 - BSGE 41, 126, 127 = SozR 7610 § 242 Nr 5 S 5, BSG vom 2.2.2006 - B 10 EG 9/05 R - BSGE 96, 44, 48 = SozR 4-1300 § 27 Nr 2 S 6 jeweils RdNr 19; BSG vom 17.2.2009 - B 2 U 34/07 R - SGb 2010, 47, 49).

38

Sinngemäß trägt der Kläger vor, die Beklagte habe ihn im Jahre 1996 auf die Möglichkeit eines Verzichts (§ 46 SGB I) hinweisen müssen, damit ihm die Möglichkeit einer späteren Rente nach einer MdE in Höhe von 25 vH erhalten geblieben wäre. Es dürfte mehr als fraglich sein, ob eine solche Beratung, wie sie der Kläger einfordert, eine auf der Hand liegende Gestaltungsmöglichkeit darstellt. Keinesfalls liegt eine Kausalität des behaupteten Beratungsverschuldens für einen sozialrechtlichen Nachteil vor. Würde man dem Kläger nachträglich die Möglichkeit einräumen, auf die seit 1.1.1996 gezahlte Verletztenrente gänzlich zu verzichten, so wäre er verpflichtet, die seit 1996 bezogene Rente in voller Höhe zurückzuzahlen. Soweit der Kläger hingegen meinen könnte, dass die Beklagte seine Rente erst nach Eintritt der funktionellen Erblindung rechts hätte festsetzen und zahlen dürfen, verkennt er, dass die Beklagte damit ihrerseits rechtswidrig hätte handeln müssen, um ihm erst von dem Zeitpunkt der vollständigen Erblindung an eine um 5 vH höhere Rente bewilligen zu können.

39

Da sich das Urteil des LSG mithin als zutreffend erweist, ist die Revision des Klägers zurückzuweisen.

40

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

(1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2) Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(3) Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist.

(4) Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

Die Vorschriften des Ersten bis Neunten Kapitels gelten für Versicherungsfälle, die nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eintreten, soweit in den folgenden Vorschriften nicht etwas anderes bestimmt ist.

(1) Die Vorschriften des Ersten und Fünften Abschnitts des Dritten Kapitels gelten auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind; dies gilt nicht für die Vorschrift über Leistungen an Berechtigte im Ausland.

(2) Die Vorschriften über den Jahresarbeitsverdienst gelten auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind, wenn der Jahresarbeitsverdienst nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erstmals oder aufgrund der §§ 90 und 91 neu festgesetzt wird. Die Vorschrift des § 93 über den Jahresarbeitsverdienst für die Versicherten der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und ihre Hinterbliebenen gilt auch für Versicherungsfälle, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingetreten sind; die Geldleistungen sind von dem auf das Inkrafttreten dieses Gesetzes folgenden 1. Juli an neu festzustellen; die generelle Bestandsschutzregelung bleibt unberührt.

(3) Die Vorschriften über Renten, Beihilfen, Abfindungen und Mehrleistungen gelten auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind, wenn diese Leistungen nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erstmals festzusetzen sind. § 73 gilt auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind.

(4) Soweit sich die Vorschriften über das Verfahren, den Datenschutz sowie die Beziehungen der Versicherungsträger zueinander und zu Dritten auf bestimmte Versicherungsfälle beziehen, gelten sie auch hinsichtlich der Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind.

(1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2) Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(3) Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist.

(4) Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

(1) Ist der Versicherungsfall vor Vollendung des 30. Lebensjahres eingetreten, wird, wenn es für die Versicherten günstiger ist, der Jahresarbeitsverdienst mit Vollendung des 30. Lebensjahres auf 100 Prozent der zu diesem Zeitpunkt maßgebenden Bezugsgröße neu festgesetzt. Wurde die Hochschul- oder Fachhochschulreife erworben, tritt an die Stelle des Wertes 100 Prozent der Wert 120 Prozent der Bezugsgröße.

(2) Der Jahresarbeitsverdienst wird mit Vollendung der in § 85 genannten weiteren Lebensjahre entsprechend dem Prozentsatz der zu diesen Zeitpunkten maßgebenden Bezugsgröße neu festgesetzt.

(3) In den Fällen des § 82 Absatz 2 Satz 2 sind die Absätze 1 und 2 entsprechend anzuwenden.

(1) Die Vorschriften des Ersten und Fünften Abschnitts des Dritten Kapitels gelten auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind; dies gilt nicht für die Vorschrift über Leistungen an Berechtigte im Ausland.

(2) Die Vorschriften über den Jahresarbeitsverdienst gelten auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind, wenn der Jahresarbeitsverdienst nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erstmals oder aufgrund der §§ 90 und 91 neu festgesetzt wird. Die Vorschrift des § 93 über den Jahresarbeitsverdienst für die Versicherten der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und ihre Hinterbliebenen gilt auch für Versicherungsfälle, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingetreten sind; die Geldleistungen sind von dem auf das Inkrafttreten dieses Gesetzes folgenden 1. Juli an neu festzustellen; die generelle Bestandsschutzregelung bleibt unberührt.

(3) Die Vorschriften über Renten, Beihilfen, Abfindungen und Mehrleistungen gelten auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind, wenn diese Leistungen nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erstmals festzusetzen sind. § 73 gilt auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind.

(4) Soweit sich die Vorschriften über das Verfahren, den Datenschutz sowie die Beziehungen der Versicherungsträger zueinander und zu Dritten auf bestimmte Versicherungsfälle beziehen, gelten sie auch hinsichtlich der Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind.

(1) Ist der Versicherungsfall vor Vollendung des 30. Lebensjahres eingetreten, wird, wenn es für die Versicherten günstiger ist, der Jahresarbeitsverdienst mit Vollendung des 30. Lebensjahres auf 100 Prozent der zu diesem Zeitpunkt maßgebenden Bezugsgröße neu festgesetzt. Wurde die Hochschul- oder Fachhochschulreife erworben, tritt an die Stelle des Wertes 100 Prozent der Wert 120 Prozent der Bezugsgröße.

(2) Der Jahresarbeitsverdienst wird mit Vollendung der in § 85 genannten weiteren Lebensjahre entsprechend dem Prozentsatz der zu diesen Zeitpunkten maßgebenden Bezugsgröße neu festgesetzt.

(3) In den Fällen des § 82 Absatz 2 Satz 2 sind die Absätze 1 und 2 entsprechend anzuwenden.

Tenor

Auf die Revisionen des Klägers und der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. Juni 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt höhere Verletztenrente ab 1.7.1991.

2

Der 1971 geborene Kläger erlitt im Jahre 1989 auf dem Weg zur Arbeit einen Unfall. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in einer Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann, die er am 1.8.1988 begonnen hatte und die am 31.7.1990 enden sollte. Der Kläger bezieht Rente aufgrund dieses Arbeitsunfalls. Sein Recht hierauf wurde ihm im Bescheid vom 5.12.1990 ab dem 1.10.1990 zuerkannt. Dessen Jahreswert wurde anfänglich mit 7798,90 DM (650 DM monatlich) festgestellt. Er ergab sich aus dem Produkt einer MdE von 50 vH und dem JAV von 23 396,69 DM.

3

Der JAV ergab sich aus dem zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls anzusetzenden Ausgangs-JAV von 22 680 DM (= 60 vH der Bezugsgröße von 37 800 DM), der zum 1.7.1990 im Rahmen der allgemeinen Rentenanpassung mit dem Anpassungsfaktor von 1,0316 vervielfältigt worden war. Dieser JAV wurde in der Folgezeit mehrfach gesetzlich angepasst.

4

Allerdings hatte sich der Abschluss der Ausbildung des Klägers aufgrund des Versicherungsfalls über den vorgesehenen 31.7.1990 hinaus verzögert. Deshalb hatte die Beklagte zuvor nach § 573 Abs 1 Satz 1 und 2 RVO auch die tariflichen und ortsüblichen Entgelte für einen Verkäufer, der am 31.7.1990 seine Berufsausbildung beendet hatte und zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt war, mit dem Ergebnis geprüft, dass diese Entgelte für den Kläger ungünstiger waren.

5

Mit Schreiben vom 9.10.2008 beantragte der Kläger eine Neuberechnung seiner "Rente rückwirkend ab 1991" unter Berücksichtigung des Tarifvertrages für den Einzelhandel, weil sie "bereits seit 1991" zu niedrig berechnet worden sei.

6

Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 17.10.2008 eine Überprüfung mit der Begründung ab, dass der JAV korrekt festgestellt worden sei. Eine erneute Überprüfung gemäß § 573 RVO(heute § 90 SGB VII) aufgrund einer neuen Ausbildung oder Umschulung sehe der Gesetzgeber nicht vor. Eine Rechtsbehelfsbelehrung war dem Schreiben nicht beigefügt. Am 24.12.2008 wandte sich der Kläger in einem weiteren Schreiben an die Beklagte und verwies auf § 214 SGB VII. Er reichte eine Bescheinigung seines (früheren) Arbeitgebers vom 4.12.2008 über die Lohnentwicklung bei Weiterbeschäftigung nach dem Ausscheiden im Jahr 1992 sowie den Tarifvertrag für den niedersächsischen Einzelhandel von 1988/1989 ein; dieser sehe eine Steigerung nach Berufsjahren vor, die für ihn ab dem 1.7.1991 greife.

7

Mit Schreiben vom 28.1.2009 erklärte die Beklagte, die erstmalige Festsetzung des JAV sei mit dem Bescheid vom 5.12.1990 erfolgt. Hierin sei bereits die Überprüfung des JAV gemäß § 573 RVO enthalten. Eine erneute JAV-Überprüfung aufgrund einer erneuten Ausbildung oder Umschulung sei weder im SGB VII noch in der RVO vorgesehen. Die Übergangsvorschrift des § 214 SGB VII sei nicht anwendbar. Das SGB VII sei am 1.1.1997 in Kraft getreten. Zu diesem Zeitpunkt sei der JAV bereits rechtswirksam festgestellt gewesen.

8

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.10.2009 wies die Beklagte einen nicht benannten Widerspruch des Klägers "gegen den Verwaltungsakt vom 17.10.2008" zurück, der sich gegen die Ablehnung der Neufestsetzung des JAV richte. Es sei 1989 bei Vollendung des 18. Lebensjahres nach § 573 Abs 2 RVO geprüft worden, ob ein höherer JAV maßgeblich geworden sei. Der einschlägige Tarifvertrag habe aber keine Erhöhung des Entgelts nach Lebensalter vorgesehen. § 90 SGB VII sei nach der Übergangsvorschrift des § 214 Abs 2 SGB VII nicht anwendbar, weil der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des SGB VII zum 1.1.1997 eingetreten und der JAV zu diesem Zeitpunkt bereits einschließlich der Überprüfung zum Ausbildungsende rechtswirksam festgestellt gewesen sei.

9

Das SG hat die Klagen, mit denen der Kläger eine Abänderung des Bescheides vom 5.12.1990 und eine Neuberechnung seiner Rente ab 1.1.1991 begehrt hatte, mit Gerichtsbescheid vom 26.5.2010 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass sich für eine Neufeststellung der Jahresarbeitsverdienste ab 1991 wegen der fiktiven Lohnerhöhungen im Rahmen einer Beschäftigung bei der seinerzeitigen Ausbildungsfirma weder in der zunächst maßgeblichen RVO noch in dem später geltenden SGB VII eine Anspruchsgrundlage finde.

10

Der Kläger hat mit seiner Berufung beantragt, den Gerichtsbescheid und den Bescheid der Beklagten vom 17.10.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.10.2009 "aufzuheben" und die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente unter Neufestsetzung des JAV nach Maßgabe des § 90 Abs 2 SGB VII seit dem 1.7.1991 zu gewähren.

11

Das LSG hat durch Urteil vom 17.6.2011 den Gerichtsbescheid des SG und den Bescheid der Beklagten vom 17.10.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.10.2009 "aufgehoben" und die Beklagte "dem Grunde nach verurteilt", dem Kläger ab 1.1.2004 Verletztenrente unter Neufestsetzung des JAV "auf der Grundlage der Regelungen der §§ 90 Abs. 2, 212, 214 Abs. 2 Satz 1 SGB VII" zu gewähren. Es hat die Berufung "im Übrigen" zurückgewiesen. Der Kläger habe einen "Anspruch auf Neufestsetzung des JAV" ab dem 1.1.1997 nach § 90 Abs 2 SGB VII sowie "auf Gewährung von Verletztenrente" ab dem 1.1.2004. Soweit sein Berufungsbegehren auf Gewährung von Leistungen bereits ab dem 1.7.1991 gerichtet sei, sei die Berufung unbegründet. Über § 214 Abs 2 SGB VII sei hier § 90 Abs 2 SGB VII anwendbar, weil der Kläger erst nach Inkrafttreten des SGB VII in den Anwendungsbereich der neuen Altershöchstgrenze von 30 Jahren gelangt sei und der Tarifvertrag für den niedersächsischen Einzelhandel von 1988/1989 auch für Zeiten ab dem 1.1.1997 Entgelterhöhungen nach Berufsjahren vorsehe. Ob dies zu einem dem Kläger günstigeren JAV führe, müsse die Beklagte nun ermitteln. Hingegen sei eine Leistungserbringung für Zeiten vor dem 1.1.2004 ausgeschlossen, weil es einen allgemeinen Rechtsgedanken gebe, der dies entsprechend § 44 Abs 4 SGB X für Zeiten vor dem vierten Jahr vor dem Jahr der Antragstellung (hier 2008) schlechthin ausschließe.

12

Hiergegen wenden sich der Kläger und die Beklagte mit ihren Revisionen.

13

Der Kläger rügt eine Verletzung der §§ 90 Abs 2, 214 Abs 2 SGB VII, 44 SGB X. Die Rechtsansicht des LSG, dass der Neufestsetzungsanspruch auf die Zeit ab dem 1.1.2004 beschränkt sei, sei unzutreffend, weil es hier nicht darum gehe, ob der Erstbescheid aus dem Jahre 1990 rechtswidrig gewesen sei. Vielmehr habe die Beklagte die erforderliche Neufestsetzung einfach unterlassen. Der Anspruch auf eine Neufestsetzung ab dem Jahre 1991 folge ohne jede Einschränkung aus § 573 Abs 2 RVO. § 44 Abs 4 SGB X komme nicht zur Anwendung. Zum 1.7.1991 wäre die Beklagte von Amts wegen verpflichtet gewesen, den JAV neu festzusetzen. Für die Zeit ab 1.1.1997 folge der Anspruch auf Neufestsetzung aus §§ 90 Abs 2, 212, 214 Abs 2 SGB VII.

14

Der Kläger beantragt,

1.    

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachen-Bremen vom 17. Juni 2011 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 26. Mai 2010 aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, unter Aufhebung der einen höheren Rentenwert ablehnenden Entscheidung im Bescheid vom 17. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Oktober 2009 die Festsetzung des Höchstwerts des Rechts auf Rente im Bescheid vom 5. Dezember 1990 aufzuheben, ab 1. Juli 1991 einen höheren Wert dieses Rechts unter Zugrundelegung der Angaben der Firma K. GmbH & Co. KG über Jahresarbeitsentgelte seit 1991, zumindest aber der Vergütungsgruppe III des Tarifvertrags für den niedersächsischen Einzelhandel festzusetzen, und ihm seitdem entsprechend höhere Rente zu zahlen,

2.    

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

15

Die Beklagte beantragt,

1.    

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. Juni 2011 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid vom 26. Mai 2010 abzuweisen,

2.    

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

16

Die Beklagte rügt eine Verletzung des § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII. Der Kläger habe 1989 einen Unfall erlitten und 1996 das 25. Lebensjahr vollendet. Nach dem Regelungskonzept der §§ 212 ff SGB VII habe vermieden werden sollen, dass solche vor Inkrafttreten des SGB VII bereits abgeschlossenen Versicherungsfälle erneut wieder aufgegriffen werden müssten. Die Ausnahmevorschrift des § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII komme nur zur Anwendung, wenn der JAV ab dem 1.1.1997 erstmals festzusetzen sei oder ausnahmsweise eine Neufestsetzung erforderlich werde. Ein solcher Ausnahmefall sei beim Kläger nicht erkennbar.

Entscheidungsgründe

17

Auf die Revisionen des Klägers und der Beklagten war das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG kann nicht beurteilt werden, ob und ab welchem Zeitpunkt dem Kläger ein Anspruch auf höhere Verletztenrente aufgrund der Feststellung eines höheren JAV zustand. Zu Recht hat das LSG allerdings rechtsgutachtlich ausgeführt, dass der am 1.1.1997 in Kraft getretene § 90 Abs 2 SGB VII(über § 214 Abs 2 SGB VII) auf den Kläger Anwendung findet (hierzu unter 2.). Ebenfalls im Grundsatz zu Recht hat das LSG ausgeführt, dass ein möglicher Zahlungsanspruch lediglich für die Zeit ab dem 1.1.2004 bestand, weil der Kläger seinen Antrag erst im Jahre 2008 gestellt hatte. Dies folgt bereits aus § 48 Abs 4 Satz 1 SGB X iVm § 44 Abs 4 SGB X (hierzu unter 3.). Letztlich konnte der Senat aber nicht entscheiden, welcher der Beteiligten im Übrigen Recht hatte, und musste den Rechtsstreit an das Tatsachengericht zur Nachholung der tatsächlichen Feststellungen zurückgeben (vgl unter 4.).

18

1. Das LSG ist schon fehlerhaft und unter Verkürzung des Klägerbegehrens, das stets letztlich auf eine höhere Verletztenrente ab dem 1.7.1991 gerichtet war, davon ausgegangen, Streitgegenstand der Klagen sei nur ein Anspruch auf Neufeststellung des JAV nach § 90 Abs 2 SGB VII. Nach Bundesrecht ist aber jedenfalls seit Inkrafttreten des SGB VII eine Feststellung sowie eine Neufeststellung eines JAV ua schon mangels unmittelbarer Rechtswirkung nach außen kein mit der Anfechtungsklage anfechtbarer oder mit der Verpflichtungsklage einklagbarer Verwaltungsakt iS des § 31 SGB X. Die (Neu-)Feststellung eines JAV ist jeweils nur die verwaltungsinterne Klärung eines Wertfaktors im Rahmen der Vorbereitung der Feststellung des Werts des Rechts auf Verletztenrente als solches oder eines anderen Rechts. Erst diese Wertfeststellung ist der Verwaltungsakt. § 90 SGB VII regelt nur bestimmte typisierte Fälle, in denen ein anderer JAV als der Ausgangs-JAV nachträglich materiell-rechtlich maßgeblich wird und, sofern kein anderer wertbildender Faktor sich gegenteilig geändert hat, zu einer iS von § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X erheblichen wesentlichen rechtlichen Veränderung des Wertes des jeweiligen Rechts führt.

19

Der Kläger hatte am 9.10.2008 von der Beklagten begehrt, die im Bescheid vom 5.12.1990 getroffene Feststellung des Höchstwerts seines ihm in demselben Bescheid zuerkannten Rechts auf Verletztenrente ab dem 1.7.1991 wegen einer Erhöhung dieses Wertes aufgrund einer materiell-rechtlichen Änderung des JAV nach § 573 Abs 2 RVO, ab 1997 nach § 90 Abs 2 SGB VII, gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 iVm § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X aufzuheben. Ferner sollte die Beklagte den neuen gesetzlichen Rentenwert feststellen und entsprechend höhere Rente zahlen. Die Beklagte hat in ihrem Schreiben vom 17.10.2008 die vom Kläger begehrte Aufhebung des am 5.12.1990 festgesetzten Höchstwerts (und damit auch die davon abhängigen weiteren Ansprüche des Klägers) jedenfalls auch mangels einer nachträglichen wesentlichen Änderung der Verhältnisse beim JAV abgelehnt, also das Nichtbestehen dieses Aufhebungsanspruchs iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X festgestellt und den diesbezüglichen Widerspruch am 27.10.2009 zurückgewiesen. Es ging also im Rechtsstreit um eine gegen diese Ablehnung einer Aufhebung bzw Änderung des ursprünglichen Verwaltungsakts vom 5.12.1990 gerichtete zulässige Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs 1 SGG. Die gemäß § 78 SGG statthafte Anfechtungsklage war zulässig mit einer Klage auf Verpflichtung der Beklagten zur Aufhebung dieser Höchstwertfestsetzung vom 5.12.1990 für Rentenbezugszeiten ab dem 1.7.1991 und ferner entsprechend § 54 Abs 4 SGG mit einer unechten Leistungsklage auf Verurteilung der Beklagten zur Zahlung höherer Verletztenrente ab dem 1.7.1991 verbunden, welche die Verpflichtungsklage auf Neufeststellung des Rentenwerts ab diesem Zeitpunkt in Gesetzeskonkurrenz konsumierte.

20

Der Urteilsausspruch des LSG genügte bereits nicht den bundesrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit eines Urteilsausspruchs. Das LSG hat tenoriert, die Beklagte werde "dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 2004 Verletztenrente unter Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes auf der Grundlage der Regelungen der §§ 90 Abs. 2, 212, 214 Abs. 2 Satz 1 SGB VII zu gewähren". Damit hat es die Beklagte lediglich zur Neubescheidung verpflichtet und sie zur Durchführung ausschließlich auf abstrakte gesetzliche Vorschriften verwiesen, ohne dass Tatsachen dazu benannt worden wären, dass und ab wann sich für den Kläger ein höherer JAV als Basis einer höheren Verletztenrente ergeben hätte.

21

2. Das LSG hat allerdings zu Recht gleichsam "rechtsgutachtlich" ausgeführt, dass auf den Fall des Klägers § 90 Abs 2 SGB VII grundsätzlich Anwendung finden kann. Insoweit scheitert die Beklagte mit dem für sie im Vordergrund ihrer Argumentation stehenden Revisionsvorbringen, dass das LSG insofern Bundesrecht verkannt hätte. Das LSG hat vielmehr im Ergebnis richtig ausgeführt, dass § 90 Abs 2 SGB VII, wie der gesamte § 90 SGB VII, nach seinem zeitlichen Anwendungsbereich seit dem 1.1.1997, dem Inkrafttreten des SGB VII, gilt.

22

Nach § 90 Abs 2 Satz 1 SGB VII wird bei Versicherten, die zur Zeit des Versicherungsfalls das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, wenn es für sie günstiger ist, der JAV jeweils nach dem Arbeitsentgelt neu festgesetzt, das zur Zeit des Versicherungsfalls für Personen mit gleichartiger Tätigkeit bei Erreichung eines bestimmten Berufsjahres oder bei Vollendung eines bestimmten Lebensjahres durch Tarifvertrag vorgesehen ist. Der im Jahre 1971 geborene Kläger hatte zur Zeit des Inkrafttretens des SGB VII am 1.1.1997 zwar das 25. Lebensjahr (§ 573 Abs 2 RVO), nicht jedoch das 30. Lebensjahr vollendet (§ 90 Abs 2 SGB VII). Zu Recht hat das LSG aus den Regelungen des Übergangsrechts gemäß §§ 212 ff SGB VII abgeleitet, dass § 90 Abs 2 SGB VII auf den Fall des Klägers Anwendung findet. Nach § 212 SGB VII gelten die Vorschriften des Ersten bis Neunten Kapitels des SGB VII für Versicherungsfälle, die nach Inkrafttreten dieses Gesetzes eintreten, soweit nicht in den nachfolgenden Vorschriften etwas anderes bestimmt ist. Eine solche abweichende Regelung enthält § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII, nach dem die Vorschriften über den JAV auch für die Versicherungsfälle gelten, die vor dem Tag des Inkrafttretens des SGB VII eingetreten sind, wenn der JAV nach dem Inkrafttreten des SGB VII erstmals oder aufgrund des § 90 SGB VII neu festgesetzt wird. Das BSG hat bereits entschieden (Urteil vom 4.6.2002 - B 2 U 28/01 R - SozR 3-2700 § 214 Nr 2), dass § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII jedenfalls nicht zu einer Anwendung des § 90 Abs 2 SGB VII in den "Altfällen" führt, bei denen die Sachverhalte neuer, durch die Vorschrift erst geschaffener Voraussetzungen für eine Erhöhung des JAV bereits vor dem 1.1.1997 eingetreten waren. Dies war in dem vom BSG seinerzeit entschiedenen Sachverhalt der Fall, denn der dortige Kläger hatte das 30. Lebensjahr bereits im Jahre 1994 vollendet gehabt. Bei einer Vollendung des 30. Lebensjahres nach Inkrafttreten des SGB VII tritt die tatsächliche Gegebenheit, an die die Norm des § 90 Abs 2 SGB VII eine Rechtsfolge knüpft, aber erst zu einem Zeitpunkt ein, zu dem das neue Recht bereits in Kraft getreten ist. Zudem spricht § 214 Abs 2 Satz 1 am Ende SGB VII ausdrücklich von einer Neufestsetzung nach § 90 SGB VII, so dass schon der Wortlaut der Vorschrift die Anwendbarkeit der Norm auf Versicherungsfälle verdeutlicht, die vor dem 1.1.1997 nach altem Recht eingetreten sind, auch wenn der JAV für ein damals entstandenes Recht auf Leistungen schon festgestellt worden war. Die Anwendung des § 90 Abs 2 SGB VII auf solche "Altfälle" setzt aber voraus, dass dessen Tatbestand in vollem Umfang erst nach dem 31.12.1996 erfüllt wurde. Daher ist ggf der Wert eines Rechts auf eine Geldleistung, der nach einem gemäß § 573 Abs 2 RVO maßgeblichen JAV festgesetzt worden war, auch bei am 1.1.1997 bereits 25-Jährigen, aufgrund eines nach neuem Recht ab dem 1.1.1997 maßgeblich gewordenen JAV erneut festzusetzen. Andernfalls wäre - und dies hat das BSG in seinem Urteil vom 4.6.2002 (aaO, RdNr 26) gemeint - § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII widersprüchlich, weil er seine Anwendbarkeit und zugleich seine Unanwendbarkeit anordnen würde. Auch die von der Beklagten angeführten verwaltungspraktischen Konsequenzen erfordern keine andere Auslegung dieser Übergangsvorschrift. Sie greifen bei Erstfeststellung nach dem 31.12.1996 ohnehin nicht. Bei der Anwendung des § 90 Abs 2 SGB VII auf Fallgestaltungen wie die Vorliegende ist nach Maßgabe des § 48 SGB X auf Antrag oder bei amtlicher Kenntnis von Umständen, die eine wesentliche Änderung des JAV als möglich erscheinen lassen, von Amts wegen ein Verwaltungsverfahren einzuleiten, ob die bisherige Festsetzung des Werts des Leistungsrechts wegen eines neu maßgeblich gewordenen JAV aufzuheben und der Wert neu festzustellen ist. Damit ist ggf lediglich der nach § 573 Abs 2 RVO maßgeblich gewesene JAV jener verunfallten Versicherten zu überprüfen, die vor Inkrafttreten des SGB VII das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, was eine überschaubare Anzahl von Fällen darstellen dürfte. Mithin war auf den im Jahre 1971 geborenen Kläger der neue § 90 Abs 2 SGB VII ab 1.1.1997 anwendbar, weil er zu diesem Zeitpunkt die neue Altersgrenze von 30 Jahren nicht erreicht hatte. Ob deshalb ein höherer JAV für den Rentenwert materiell-rechtlich maßgeblich geworden ist, hängt davon ab, ob nach dem 31.12.1996 der Tatbestand dieser Vorschrift erfüllt wurde. Dazu fehlen Tatsachenfeststellungen.

23

3. Weiterhin hat das LSG im Ergebnis richtig gesehen, dass die unechte Leistungsklage (sofern über sie in der Sache nach einem Erfolg der Anfechtungs- und der Verpflichtungsklage zu entscheiden wäre) des Klägers höchstens für Rentenbezugszeiten ab dem 1.1.2004 zu höheren Rentenzahlungen führen kann. Dies folgt aber nicht aus dem vom LSG behaupteten, rechtlich fragwürdigen richterrechtlichen "allgemeinen Rechtsgedanken des § 44 Abs 4 SGB X"(so das LSG unter Hinweis auf etwa BSG vom 9.9.1986 - 11a RA 28/85 - RdNr 13), der als bloßes Richterrecht gemäß dem Vorrang des Gesetzes aus Art 20 Abs 3 GG Regelungen nicht verdrängen kann, die der Deutsche Bundestag selbst in seinen Gesetzen ausgesprochen hat. Das Ergebnis der Rechtsbetrachtungen des LSG war aber schon deshalb richtig, weil das Gesetz selbst, begrenzt auf den Anwendungsbereich des § 48 Abs 1 SGB X, die entsprechende Geltung des § 44 Abs 4 SGB X angeordnet hat. Sollte nämlich der auf § 48 Abs 1 Satz 1 und Satz 2 Nr 1 SGB X gestützte Aufhebungsanspruch Erfolg haben und wäre ein höherer Rentenwert schon für Zeiten vor dem 1.1.2004 entstanden, so wäre die höhere Rente gemäß § 48 Abs 4 Satz 1 Regelung 2 SGB X entsprechend § 44 Abs 4 SGB X höchstens für vier Jahre vor dem Jahr der 2008 erfolgten Antragstellung zu zahlen.

24

4. Ob nach dem Bescheid vom 5.12.1990 und vor oder nach dem 1.7.1991 ein für den Rentenwert des Klägers günstigerer JAV bis Ende 1996 nach § 573 Abs 2 RVO oder seit dem 1.1.1997 nach § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII iVm § 90 Abs 2 SGB VII materiell-rechtlich maßgeblich geworden ist, kann aufgrund der Feststellungen des LSG nicht beurteilt werden. War der Verletzte - wie hier der Kläger - zur Zeit des Arbeitsunfalls noch nicht 25 Jahre alt, so wurde nach § 573 Abs 2 RVO der JAV dem Arbeitsentgelt angepasst, das zur Zeit seines Arbeitsunfalls von der Vollendung eines bestimmten Lebensalters ab, höchstens aber des 25. Lebensjahres, für Personen mit gleichartiger Tätigkeit durch Tarif festgesetzt oder sonst ortsüblich ist, wenn es für den Berechtigten günstiger ist. Der Kläger meint, dass nach § 573 Abs 2 RVO bereits ab 1.7.1991 ein höherer als der am 5.12.1990 festgestellte JAV rechtlich maßgeblich geworden sei und zu einem höheren Rentenwert geführt habe. Mithin sei bereits zu diesem Zeitpunkt (ggf) eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 Satz 1 und Satz 2 Nr 1 SGB X gegenüber dem ursprünglichen Verwaltungsakt vom 5.12.1990 eingetreten. Hierzu liegen keine Feststellungen des LSG vor.

25

Gleiches gilt für die Voraussetzungen des § 90 Abs 2 SGB VII (30-Jahres-Grenze) seit dem 1.1.1997. Dieser setzt ua voraus, dass die Festsetzung des JAV für den Versicherten zum jeweils maßgebenden Zeitpunkt "günstiger" ist. Ob dies hier der Fall ist, kann der Senat aufgrund der fehlenden tatsächlichen Feststellungen ebenfalls nicht beurteilen.

26

Hinzu kommt, dass der Kläger möglicherweise erstens einen Rechtsanspruch auf höhere Verletztenrente wegen eines zum oder nach dem 1.7.1991 gemäß § 573 Abs 2 RVO maßgeblich gewordenen JAV hatte. Zweitens könnte der Wert des Rechts auf Rente seit dem 1.1.1997 noch höher geworden sein, wenn seither die Voraussetzungen des § 90 Abs 2 SGB VII erfüllt wurden und danach ein noch günstigerer JAV maßgeblich wurde.

27

Daher ist der Tenor der Entscheidung des LSG - ungeachtet seiner Nichtvollstreckbarkeit - auch insofern unzutreffend, als es die Beklagte verurteilt hat, den JAV ab 1.1.2004 nach den §§ 90 Abs 2 iVm § 214 Abs 2 SGB VII neu festzusetzen. Wäre ein anderer JAV nach § 573 Abs 2 RVO zwischen 1991 und 1996 (Vollendung des 25. Lebensjahres) derjenige, der zu einem Anspruch des Klägers auf höchstmögliche Verletztenrente führt, so würde die vom LSG ausgesprochene abstrakte Verpflichtung der Beklagten zur Neuermittlung des JAV ausschließlich nach § 90 Abs 2 SGB VII(iVm § 214 Abs 2 SGB VII) dem materiellen Begehren des Klägers sogar widersprechen.

28

Das LSG wird auch abschließend über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Februar 2013 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) als Grundlage für die Berechnung der Verletztenrente der Klägerin.

2

Die 1974 geborene Klägerin erlitt 1996 als Studentin der Technischen Universität K. (TU K.) beim Hochschulsport einen Unfall, bei dem sie sich eine Verletzung des rechten Kniegelenks zuzog. Die Beklagte bewilligte der Klägerin aufgrund des Arbeitsunfalls nach einem Teilanerkenntnis in einem SG-Prozess eine Verletztenrente ab dem 18.4.2005 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 20 vH. Hierbei legte sie den Mindest-JAV als JAV zu Grunde (Bescheid vom 20.1.2006).

3

Kurz darauf bat die Beklagte die Klägerin zwecks Überprüfung des JAV nach Abschluss der Schul- bzw Berufsausbildung um eine chronologische Aufstellung des bisherigen schulischen und beruflichen Werdeganges und Übersendung von Kopien der Abschlusszeugnisse bzw Diplome sowie ggf auch des Arbeitsvertrages und holte sodann weitere Auskünfte über den Ablauf des Studiums beim Dekan des Fachbereichs Mathematik der TU K. und der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen beim Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland ein.

4

Mit Bescheid vom 10.2.2009 nahm die Beklagte den Bescheid vom 20.1.2006 teilweise zurück und berechnete die Rente rückwirkend ab 18.4.2005 nach einem JAV von 28 609,17 Euro neu. Nach § 90 Abs 2 SGB VII sei das Arbeitsentgelt maßgeblich, das für derartige Tätigkeiten am Beschäftigungsort gezahlt werde. Die Berechnung des JAV erfolge nach einer Eingruppierung in die Vergütungsgruppe V b B/L des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT). Die Klägerin habe ihr Studium der Mathematik erfolgreich an der Universität St. A. in E. (St. A. E.), Schottland, abgeschlossen. Aufgrund der Auskunft der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen sei dieser Studienabschluss aber inhaltlich nicht gleichwertig mit einem deutschen universitären Abschluss, weshalb eine (fiktive) Eingruppierung in den höheren Dienst (BAT II a) nicht durchgeführt werden könne. Der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 10.8.2009).

5

Die Klägerin hat Klage zum SG erhoben. Auf Befragen des SG teilte die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen mit, dass bei der bisherigen Beurteilung des Falles nicht bekannt gewesen sei, dass die Klägerin im Juli 2004 eine Promotion an der Universität St. A. E. in Schottland, einer anerkannten britischen wissenschaftlichen Hochschule, abgeschlossen habe. Mit Master-Grad und Promotion werde mindestens ein Bildungsniveau nachgewiesen wie mit einem deutschen wissenschaftlichen Hochschulabschluss. Durch Urteil vom 2.12.2010 hat das SG die Beklagte unter Abänderung ihrer Bescheide verurteilt, den JAV der Klägerin aufgrund einer Eingruppierung in den höheren Dienst neu festzusetzen.

6

Das LSG hat die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte der Klägerin höhere Verletztenrente unter Zugrundelegung eines JAV nach BAT II a zu gewähren habe (Urteil vom 4.2.2013). Zutreffend habe die Beklagte § 90 Abs 2 SGB VII als Rechtsgrundlage für die Neufeststellung des JAV herangezogen. Der Neuberechnung des JAV der Klägerin sei vorliegend das Arbeitsentgelt zu Grunde zu legen, das für Personen ihres Alters und ihrer Ausbildung durch den im maßgebenden Zeitpunkt, April 1996, geltenden BAT in Vergütungsgruppe II a vorgesehen gewesen sei. Die Eingruppierung richte sich gemäß § 22 Abs 1 S 1 BAT nach den Tätigkeitsmerkmalen der Vergütungsordnung (Anlagen 1a und 1b). Bei der Klägerin sei von einer abgeschlossenen wissenschaftlichen Hochschulausbildung auszugehen. Sie habe zunächst ein Diplom-Studium an einer deutschen technischen Hochschule mit einer Regelstudienzeit von mehr als sieben Semestern aufgenommen, dessen erfolgreicher Abschluss - unabhängig von der Anzahl der tatsächlich studierten Semester - ihr die Einstellung in den höheren Dienst bzw in Vergütungsgruppe BAT II a ermöglicht hätte. Auch wenn die Klägerin keinen Abschluss als Diplom-Mathematikerin an einer deutschen Universität erlangt habe, sei ihre Ausbildung an der TU K. vom Wintersemester 1993/1994 bis einschließlich Sommersemester 1996 sowie ihr Studium an der Universität St. A. E. in Schottland im Wintersemester 1996/1997 sowie im Sommersemester 1997, das sie mit dem Master of Science abschloss, so zu bewerten, als habe sie an einer deutschen Universität ein Diplom in Mathematik erreicht. Die Klägerin habe insgesamt acht Semester vollwertig studiert. Aufgrund ihrer Aussagen und der von ihr vorgelegten Studienbelege gehe der Senat davon aus, dass sie an der TU K. sechs Semester Mathematik studiert habe, woran sich zwei Semester Mathematik-Studium in Schottland angeschlossen hätten. Das Studium an der Universität St. A. E. habe mit dem Abschluss als Master of Science geendet. Im Rahmen dieses Masterstudiums habe die Klägerin eine Abschlussarbeit ("Dissertation") angefertigt, die separat bewertet worden sei. Ein weiteres Indiz für die Gleichwertigkeit des Masterabschlusses mit dem deutschen Diplom sei die Einschätzung der TU K., wonach die Klägerin mit dem von der Universität St. A. E. zuerkannten Master of Science zur Promotion in K. hätte zugelassen werden können. Die Klägerin sei überdies mittlerweile als Gymnasiallehrerin in den Schuldienst in Bayern eingestellt und als Studienrätin in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit übernommen worden. Die in diesem Amt gewährte Besoldungsgruppe A 13 für Beamte entspreche der Vergütungsgruppe BAT II a für Angestellte, was zusätzlich für die Richtigkeit des hier gefundenen Ergebnisses spreche.

7

Die Beklagte könne sich auch nicht darauf berufen, dass die Klägerin ihr Studium ohne eine unfallbedingte Verzögerung abgeschlossen habe und ihr daher lediglich der Mindest-JAV gemäß § 85 SGB VII zustehe, sie mithin keinen Neufestsetzungsanspruch gemäß § 90 Abs 1 SGB VII habe. Das BSG habe nur zu § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII entschieden, dass die Zuerkennung höherer Verletztenrente nicht in Betracht komme, wenn die Ausbildung planmäßig und ohne Verzögerung beendet worden sei(Hinweis auf BSG vom 18.9.2012 - B 2 U 11/11 R - BSGE 112, 43 = SozR 4-2700 § 90 Nr 2). Der Anspruch der Klägerin auf höhere Verletztenrente sei jedoch an § 90 Abs 2 SGB VII, nicht an § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII zu messen, wie dies die Beklagte in ihrem Bescheid vom 10.2.2009 auch selbst zutreffend erkannt habe. § 90 Abs 2 SGB VII baue nicht auf der Vorschrift des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII auf, so dass zunächst die Tatbestandsvoraussetzungen des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII erfüllt sein müssten, um den Anwendungsbereich des § 90 Abs 2 SGB VII zu eröffnen.

8

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision. Sie rügt eine Verletzung des § 90 Abs 2 SGB VII. Das LSG sei zunächst zu Unrecht davon ausgegangen, dass bei der Klägerin eine abgeschlossene wissenschaftliche Ausbildung vorliege, die eine Einstellung in den höheren Dienst bzw eine Eingruppierung nach BAT II a rechtfertigen könne. Die Klägerin habe an der TU K. lediglich fünf und nicht sechs Semester studiert. Das LSG gehe insbesondere in seiner Argumentation fehl, das Wintersemester 1995/96 sei kein reines Prüfungssemester gewesen, denn die Einschätzungen des LSG zu diesem Prüfungssemester seien lebensfremd und gingen an der akademischen Wirklichkeit vorbei. Tatsächlich habe die Klägerin lediglich sieben Semester absolviert. Das BSG habe am 18.9.2012 - allerdings nur zu § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII - entschieden, dass eine höhere Verletztenrente dann nicht in Betracht komme, wenn die Ausbildung planmäßig und ohne Verzögerung beendet worden sei. Dies müsse auch für § 90 Abs 2 SGB VII gelten. Andernfalls würde man unterstellen, dass § 90 Abs 1 und Abs 2 SGB VII völlig unterschiedliche Regelungsinhalte hätten.

9

Die Beklagte beantragt,

        

die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Februar 2013 und des Sozialgerichts Speyer vom 2. Dezember 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

10

Die Klägerin beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

11

Die noch hinreichend iS des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG begründete Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das LSG in dem angefochtenen Urteil vom 4.2.2013 entschieden, dass der Klägerin gemäß § 90 Abs 2 SGB VII höhere Verletztenrente unter Berechnung des JAV auf der Basis der Vergütungsgruppe BAT II a zu gewähren ist.

12

Zutreffend hat das LSG ausgeführt, dass es sich bei dem Begehren der Klägerin um eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs 4 SGG handelt, auf die hin die Bescheide vom 10.2. und 10.8.2009 zu ändern waren. Das Begehren der Klägerin war von vornherein nicht auf eine isolierte Neufestsetzung des JAV gerichtet, was - wie der Senat in einem weiteren Urteil am 18.9.2012 (B 2 U 14/11 R - Juris RdNr 18 = UV-Recht Aktuell 2013, 202) entschieden hat - unzulässig gewesen wäre, weil es sich bei dem JAV insofern lediglich um ein Berechnungselement (Wertfaktor) im Rahmen der Vorbereitung der Feststellung des Werts des Rechts auf Verletztenrente handelt. Soweit das LSG die Beklagte zur Leistung verurteilt hat, ist dem Tenor und den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils noch mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass die Verurteilung zur Neuberechnung der Verletztenrente für den Zeitraum ab dem 18.4.2005 gilt und dass die Neuberechnung auf der Basis des BAT im Jahre des Versicherungsfalls (1996) zu erfolgen hat, was beides zutreffend ist.

13

Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin ist § 90 Abs 2 SGB VII, der gemäß § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII Anwendung findet (hierzu unter 1). Die materiellen Voraussetzungen für eine Neuberechnung des JAV sind erfüllt, weil - wie das LSG zu Recht entschieden hat - die Klägerin fiktiv in die Vergütungsgruppe II a des BAT einzustufen war (hierzu unter 2). § 90 Abs 2 SGB VII stellt eine eigenständige Anspruchsgrundlage dar, die von den Voraussetzungen des § 90 Abs 1 SGB VII unabhängig ist (hierzu unter 3).

14

1. Nach § 90 Abs 2 Satz 1 SGB VII wird bei Versicherten, die zur Zeit des Versicherungsfalls das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, wenn es für sie günstiger ist, der JAV jeweils nach dem Arbeitsentgelt neu festgesetzt, das zur Zeit des Versicherungsfalls für Personen mit gleichartiger Tätigkeit bei Erreichung eines bestimmten Berufsjahres oder bei Vollendung eines bestimmten Lebensjahres durch Tarifvertrag vorgesehen ist. Zu Recht hat das LSG aus den Regelungen des Übergangsrechts der §§ 212 ff SGB VII abgeleitet, dass § 90 Abs 2 SGB VII auf den Fall der Klägerin Anwendung findet. Nach § 212 SGB VII gelten die Vorschriften des Ersten bis Neunten Kapitels des SGB VII für Versicherungsfälle, die nach Inkrafttreten dieses Gesetzes eintreten, soweit nicht in den nachfolgenden Vorschriften etwas anderes bestimmt ist. Eine solche abweichende Regelung enthält § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII, nach dem die Vorschriften über den JAV auch für die Versicherungsfälle gelten, die vor dem Tag des Inkrafttretens des SGB VII eingetreten sind, wenn der JAV nach dem Inkrafttreten des SGB VII erstmals oder aufgrund des § 90 SGB VII neu festgesetzt wird. Der Senat hat am 18.9.2012 (aaO, RdNr 22) entschieden, dass schon der Wortlaut der Vorschrift die Anwendbarkeit der Norm auf Versicherungsfälle verdeutlicht, die vor dem 1.1.1997 nach altem Recht eingetreten sind, auch wenn der JAV für ein damals entstandenes Recht auf Leistungen schon festgestellt worden war. Hier tritt die Besonderheit hinzu, dass der Versicherungsfall zwar 1996 - also noch unter Geltung der RVO - eingetreten ist, die - erste - Neufeststellung des JAV aber erst im Jahre 2006 - also unter Geltung des SGB VII - erfolgte. Insofern ist also eine Feststellung des JAV "erstmals" nach § 90 SGB VII erfolgt, weshalb bereits die erste Tatbestandsalternative der Übergangsnorm des § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII erfüllt ist.

15

2. Zu Recht hat das LSG auch entschieden, dass bei der Klägerin nach § 90 Abs 2 SGB VII der JAV auf der Basis der Vergütungsgruppe II a des BAT festzusetzen ist. Die im Jahre 1974 geborene Klägerin hatte zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls am 17.4.1996 das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet. Nach § 90 Abs 2 SGB VII ist daher darauf abzustellen, welches Arbeitsentgelt für Personen mit gleichartiger Tätigkeit bei Erreichung eines bestimmten Berufsjahres oder bei Vollendung eines bestimmten Lebensjahres durch Tarifvertrag vorgesehen ist. Das LSG hat hierbei zutreffend auf den bundesweit geltenden BAT abgestellt, wie er "zur Zeit des Versicherungsfalls", also im Jahre 1996 galt. Das LSG hat dabei § 22 Abs 1 Satz 1 BAT iVm der Allgemeinen Vergütungsordnung (Anlage 1a zum BAT) und weiterhin die Protokollnotiz Nr 1 zu der Vergütungsgruppe II a herangezogen und den Sachverhalt unter die Voraussetzungen dieser Protokollnotiz subsumiert. Die durch das LSG so vorgenommene "fiktive" Eingruppierung der Klägerin ist nicht zu beanstanden. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die Klägerin in die Vergütungsgruppe BAT II a einzuordnen war (vgl zu der sog Eingruppierungsfeststellungsklage etwa BAG vom 7.5.2008 - 4 AZR 223/07 - ZTR 2009, 25; 15.3.2006 - 4 AZR 157/05 - ZTR 2006, 590; 9.12.1998 - 10 AZR 244/98 - ZTR 1999, 464; 12.8.1998 - 10 AZR 483/97 - ZTR 1999, 80). Die entsprechende Definition in der Vergütungsordnung (Anlage 1a zum BAT) setzt dabei lediglich voraus, dass eine wissenschaftliche Hochschulausbildung abgeschlossen ist. Umfasst sind aber auch Angestellte, "die aufgrund gleichwertiger Fähigkeiten und Erfahrungen entsprechende Tätigkeiten ausüben". Insofern hat das LSG festgestellt (§ 163 SGG), dass die Klägerin nunmehr in Bayern als Gymnasiallehrerin in der Besoldungsgruppe A 13 nach dem Bundesbesoldungsgesetz tätig ist. Schon dieser Umstand alleine dürfte bereits ausreichend dafür sein, sie bei der hier erforderlichen fiktiven Prüfung der Vergütungsgruppe II a des BAT zuzuweisen.

16

Dies kann aber dahinstehen, denn nach der Protokollnotiz Nr 1 zur Vergütungsordnung hat die Klägerin auch ein wissenschaftliches Hochschulstudium iS des BAT II a abgeschlossen. Die entsprechende Protokollnotiz Nr 1 lautet: "Wissenschaftliche Hochschulen sind Universitäten, Technische Hochschulen sowie andere Hochschulen, die nach Landesrecht als wissenschaftliche Hochschulen anerkannt sind. Abgeschlossene wissenschaftliche Hochschulbildung liegt vor, wenn das Studium mit einer ersten Staatsprüfung oder mit einer Diplomprüfung beendet worden ist. Der ersten Staatsprüfung oder der Diplomprüfung steht eine Promotion oder die Akademische Abschlussprüfung (Magisterprüfung) einer Philosophischen Fakultät nur in den Fällen gleich, in denen die Ablegung einer ersten Staatsprüfung oder einer Diplomprüfung nach den einschlägigen Ausbildungsvorschriften nicht vorgesehen ist. Eine abgeschlossene wissenschaftliche Hochschulbildung setzt voraus, dass die Abschlussprüfung in einem Studiengang abgelegt wird, der seinerseits mindestens das Zeugnis der Hochschulreife (allgemeine Hochschulreife oder einschlägige fachgebundene Hochschulreife) als Zugangsvoraussetzung erfordert und für den Abschluss eine Mindeststudienzeit von mehr als sechs Semestern - ohne etwaige Praxissemester, Prüfungssemester o. Ä. - vorgeschrieben ist." Hierzu hat das LSG festgestellt, dass die Klägerin insgesamt acht Semester an wissenschaftlichen Hochschulen studiert hat und aus dieser Tatsache den rechtlichen Schluss gezogen, die Voraussetzungen einer "abgeschlossenen wissenschaftlichen Hochschulausbildung" iS der Protokollnotiz Nr 1 der allgemeinen Vergütungsordnung hätten vorgelegen. Die Anwendung dieser Norm auf den Sachverhalt stellt auch die Beklagte selbst nicht in Zweifel. Auch sie geht ersichtlich davon aus, dass die Klägerin bei Absolvierung von acht Studiensemestern eine wissenschaftliche Hochschulausbildung abgeschlossen hätte. Vielmehr trägt sie in ihrer Revisionsbegründung hierzu lediglich vor, die Klägerin habe an der TU K. nur fünf und nicht sechs Semester studiert. Das LSG habe nicht davon ausgehen dürfen, dass die Klägerin im Wintersemester 1995/96 studiert habe, weil dies ein reines Prüfungssemester gewesen sei. Die Einschätzungen des LSG zu diesem Prüfungssemester seien "lebensfremd" und gingen an der "akademischen Wirklichkeit" vorbei. Mit diesem Vorbringen macht die Beklagte aber keine Verfahrensmängel geltend, durch die die den Senat gemäß § 163 SGG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG über die Dauer des Studiums der Klägerin in Zweifel gezogen werden könnten(zu den Voraussetzungen einer Rüge des Überschreitens der Grenzen der freien Beweiswürdigung vgl BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 22/10 R - Juris und vom 31.5.2005 - B 2 U 12/04 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 2 RdNr 9). Im Übrigen stellt die Protokollnotiz Nr 1 der Allgemeinen Vergütungsordnung (Anlage 1a zum BAT) selbst ersichtlich nur darauf ab, dass für den "Abschluss eine Mindeststudienzeit von mehr als sechs Semestern vorgeschrieben ist", so dass zweifelhaft ist, ob das vom LSG zu Grunde gelegte Kriterium des achtsemestrigen Studiums, das offensichtlich aus der für die tarifliche Einstufung nicht konstitutiven Einschätzung der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen herrührt, rechtlich überhaupt aus dem BAT bzw der einschlägigen Protokollnotiz abgeleitet werden kann. Nach dem klaren Wortlaut der Protokollnotiz Nr 1 ist jedenfalls lediglich ein Studium mit einer Mindeststudienzeit von mehr als sechs Semestern vorausgesetzt. Auch dies kann aber dahinstehen, weil eine Studiendauer der Klägerin von acht Semestern ohnehin - mangels durchgreifender Verfahrensrügen - für den Senat bindend festgestellt ist. Offenbleiben kann schließlich auch, wie zusätzlich die Tatsache zu werten ist, dass die Klägerin an einer angesehenen schottischen Universität einen Doktortitel erworben hat, was ihre Eingruppierung in BAT II a zusätzlich noch rechtfertigen dürfte.

17

3. Schließlich folgt - entgegen der Rechtsansicht der Revision - auch nichts anderes aus der von ihr angeführten Entscheidung des Senats vom 18.9.2012 (B 2 U 11/11 R = BSGE 112, 43 = SozR 4-2700 § 90 Nr 2). § 90 Abs 2 SGB VII kommt auch dann zur Anwendung, wenn die Ausbildung tatsächlich rechtzeitig beendet wurde. § 90 Abs 2 SGB VII setzt allein und ausschließlich voraus, dass der Versicherte zur Zeit des Versicherungsfalls das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte (vgl nur Becker in LPK-SGB VII, 3. Aufl 2011, § 90 RdNr 12 f; Schmitt, SGB VII, 4. Aufl 2009, § 90 RdNr 11). Für die Anwendung des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII kommt es hingegen - wie der Senat am 18.9.2012 (aaO) entschieden hat - maßgebend auf den Zeitpunkt an, "in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre". Hierzu hat der Senat im Einzelnen begründet, dass aus Entstehungsgeschichte, Wortlaut und systematischer Stellung der Norm des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII folge, dass im Falle einer tatsächlich rechtzeitig beendeten Ausbildung eine Neufestsetzung nach § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII nicht in Betracht kommt(BSG vom 18.9.2012, aaO).

18

§ 90 Abs 2 SGB VII setzt hingegen schon von seinem Wortlaut her nicht voraus, dass der Versicherte zur Zeit des Versicherungsfalls sich überhaupt in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet(vgl Becker, aaO und Schmitt, aaO). Maßgeblich ist ausschließlich das Lebensalter zum Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls. Folglich stehen die Absätze 1 und 2 des § 90 SGB VII auch nicht in einem Stufenverhältnis derart, dass Abs 2 nur zur Anwendung kommen könnte, wenn die Voraussetzungen des Abs 1 vorliegen. Vielmehr ergänzen sich die Neufeststellungen nach Abs 1 und Abs 2 des § 90 SGB VII, so dass jeweils die Vorschrift anzuwenden ist, die nach Durchführung einer Vergleichsberechnung zu einem höheren JAV führt(vgl nur Rütenik in jurisPK-SGB VII, § 90 RdNr 57). Ist - wie in dem vom BSG am 18.9.2012 - B 2 U 11/11 R - entschiedenen Fall - eine Neuberechnung nach § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII nicht möglich, weil der Versicherte seine Ausbildung innerhalb der vorgeschriebenen Zeit absolviert hatte, so schließt dies eine Neuberechnung nach § 90 Abs 2 SGB VII also grundsätzlich nicht aus, zumal der Versicherte im Regelfall auch das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet haben dürfte. Eine "Sperrwirkung" für eine Neufestsetzung des JAV auch nach § 90 Abs 2 SGB VII durch eine fristgemäß abgeschlossene Ausbildung oder ein fristgemäß beendetes Studium, wie sie die Beklagte der genannten Entscheidung des BSG vom 18.9.2012 entnehmen will, ist dort nicht erwähnt und entspricht auch nicht - wie aufgezeigt - Wortlaut und System des § 90 SGB VII.

19

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

(1) Arbeitsentgelt sind alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Arbeitsentgelt sind auch Entgeltteile, die durch Entgeltumwandlung nach § 1 Absatz 2 Nummer 3 des Betriebsrentengesetzes für betriebliche Altersversorgung in den Durchführungswegen Direktzusage oder Unterstützungskasse verwendet werden, soweit sie 4 vom Hundert der jährlichen Beitragsbemessungsgrenze der allgemeinen Rentenversicherung übersteigen.

(2) Ist ein Nettoarbeitsentgelt vereinbart, gelten als Arbeitsentgelt die Einnahmen des Beschäftigten einschließlich der darauf entfallenden Steuern und der seinem gesetzlichen Anteil entsprechenden Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung. Sind bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung nicht gezahlt worden, gilt ein Nettoarbeitsentgelt als vereinbart.

(3) Wird ein Haushaltsscheck (§ 28a Absatz 7) verwendet, bleiben Zuwendungen unberücksichtigt, die nicht in Geld gewährt worden sind.

(1) Arbeitseinkommen ist der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbständigen Tätigkeit. Einkommen ist als Arbeitseinkommen zu werten, wenn es als solches nach dem Einkommensteuerrecht zu bewerten ist.

(2) Bei Landwirten, deren Gewinn aus Land- und Forstwirtschaft nach § 13a des Einkommensteuergesetzes ermittelt wird, ist als Arbeitseinkommen der sich aus § 32 Absatz 6 des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte ergebende Wert anzusetzen.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. April 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung höherer Verletztenrente.

2

Der im Jahre 1960 geborene Kläger erlitt am 7.5.2005 als LKW-Kraftfahrer einen Verkehrsunfall, der zu erheblichen Verletzungen führte. Die Beklagte gewährte mit Bescheid vom 8.5.2007 dem Kläger Rente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH. Sie legte dabei einen Jahresarbeitsverdienst (JAV) in Höhe von 29 836,56 Euro zugrunde und errechnete eine Verletztenrente in Höhe von 1657,59 Euro monatlich. Aufgrund eines weiteren Arbeitsunfalls, den der Kläger bereits 1999 erlitten hatte, nahm sie eine anteilsmäßige Kürzung der Rente vor. Jenem Arbeitsunfall lag ein JAV in Höhe von 30 669,92 Euro zugrunde, sodass der Rentenhöchstbetrag von zwei Dritteln des höchsten JAV aus diesem JAV des früheren Versicherungsfalls ermittelt wurde.

3

Die Beklagte legte der Berechnung des JAV für den Arbeitsunfall vom 7.5.2005 die Lohnabrechnungen des Arbeitgebers für den Zeitraum vom 1.5.2004 bis 30.4.2005 zugrunde. Der dabei ermittelte Betrag von 29 836,56 Euro umfasste ein Bruttoentgelt von 27 579,98 Euro, Urlaubsgeld in Höhe von 430,08 Euro, steuerfreie Zuschläge für Nachtarbeit in Höhe von 1281,62 Euro und für Sonntagsarbeit in Höhe von 544,68 Euro. Der Kläger erhielt zudem in diesem Zeitraum "steuerfreie Spesen" in Höhe von insgesamt 3705,00 Euro und "pauschal versteuerte Spesen" in Höhe von 1173,50 Euro. In früheren Bescheinigungen des Arbeitgebers waren die steuerfreien Spesen dabei als "steuerfreie Auslöse" bzw als "steuerfreier Verpflegungszuschuss" bezeichnet worden. Diese beiden Positionen wurden von der Beklagten bei der Berechnung des JAV nicht berücksichtigt. Mit Widerspruchsbescheid vom 28.9.2007 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Bei Spesen oder Auslösungen handele es sich um erstattete Auslagen, die nicht zu einem Vermögensvorteil des Beschäftigten führten und daher kein Arbeitsentgelt darstellten.

4

Mit seiner Klage zum SG Landshut hat der Kläger geltend gemacht, die Spesen und Auslösungen hätten zu einem Vermögensvorteil geführt und stellten nicht lediglich erstattete Auslagen dar. Mit Gerichtsbescheid vom 30.11.2011 hat das SG die Beklagte unter Abänderung ihrer Bescheide verpflichtet, die Höhe der Verletztenrente neu festzustellen, wobei bei der Berechnung des JAV der pauschal zu versteuernde Spesenanteil in Höhe von 1173,50 Euro zu berücksichtigen sei. Der Teil der Zahlung, der der Höhe des Steuerfreibetrags entspreche, sei dagegen als pauschaler Auslagenersatz zu werten und dem JAV nicht hinzuzurechnen.

5

Hiergegen hat die Beklagte Berufung und der Kläger Anschlussberufung eingelegt.

6

Das LSG hat den Arbeitgeber des Klägers als Zeugen gehört und durch Urteil vom 29.4.2014 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Auf die Anschlussberufung des Klägers hat es den Gerichtsbescheid und die Bescheide der Beklagten abgeändert und diese verurteilt, dem Kläger Verletztenrente auch unter Berücksichtigung der steuerfreien Spesen im Rahmen des JAV zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, die angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig, soweit die Beklagte im Rahmen der JAV-Berechnung weder die pauschal versteuerten Spesen in Höhe von 1173,50 Euro noch die steuerfreien Spesen in Höhe von 3705,00 Euro berücksichtigt habe. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass es sich bei diesen Zahlungen um Zuwendungen des Arbeitgebers für die berufliche Tätigkeit des Klägers handele, die als Arbeitsentgelt im Rahmen der JAV-Berechnung zu berücksichtigen seien. Inwieweit die Entgeltbestandteile nach § 17 SGB IV iVm § 2 Abs 1 Nr 2 ArEV oder nach § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV beitragsrechtlich zu berücksichtigen seien, könne dahinstehen. Die steuerrechtlichen Vermutungen dieser Normen seien für die Berechnung des JAV nicht maßgebend. Werde durch den Arbeitnehmer und den Arbeitgeber nachgewiesen, dass kein tatsächlicher Mehraufwand vorliege, so sei auch bei steuerfreien Spesen insoweit von einem anrechenbaren Arbeitsentgelt auszugehen. Grundsätzlich sei die Höhe des Betrags, der den tatsächlichen Mehraufwand übersteige, nach § 287 ZPO analog zu schätzen. Bei den dem Kläger gezahlten "Spesen/Auslösungen" habe es sich um Pauschalen gehandelt, die keine echten Aufwandsentschädigungen darstellten. Dies gelte sowohl für die steuerfreien als auch die pauschal versteuerten "Spesen", denn sämtliche Spesen seien unabhängig von tatsächlichen Aufwendungen gezahlt worden. Nach den übereinstimmenden und glaubhaften Angaben des Klägers und seines Arbeitgebers habe der Kläger die zusätzlich gezahlten Beträge vollumfänglich zusätzlich zu seinem Arbeitsentgelt erhalten, sodass die gezahlten Pauschalen durch mögliche Einsparungen beim Kläger zu einem Vermögensvorteil geführt hätten. "Kilometergeld", "Übernachtungskosten", "Kosten für die Benutzung von Sanitäreinrichtungen" und zusätzliche "Kosten für die Verpflegung" seien tatsächlich nicht angefallen.

7

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision. Sie rügt eine Verletzung der § 82 SGB VII, §§ 14 Abs 1, 17 Abs 1 SGB IV iVm der ArEV. § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV in der entscheidungserheblichen Fassung bestimme, dass steuerfreie Aufwandsentschädigungen nicht als Arbeitsentgelt gelten. Der Arbeitgeber lege bei der Auszahlung von Spesen deren steuerrechtliche Einordnung fest. Nach § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV sei diese steuerrechtliche Zweckbestimmung bei der sozialversicherungsrechtlichen Einordnung von Entgeltbestandteilen maßgebend. Eine von den Beteiligten nachträglich vorgenommene Zweckbestimmung könne nicht anerkannt werden. Hinsichtlich der pauschal versteuerten Spesen sei über § 17 SGB IV die zum Unfallzeitpunkt maßgebende ArEV zugrunde zu legen. Der ArEV und § 17 SGB IV sei nicht zu entnehmen, dass sie für das Leistungsrecht in der gesetzlichen Unfallversicherung keine Anwendung finden könnten.

8

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. April 2014 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 30. November 2011 zurückzuweisen, sowie den Gerichtsbescheid vom 30. November 2011 zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

9

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

10

Die Revision der Beklagten war im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Anhand der tatsächlichen Feststellungen des LSG lässt sich nicht beurteilen, ob die vom LSG jeweils als "steuerfreie Spesen" bzw "pauschal versteuerte Spesen" bzw "steuerfreie Auslöse" bzw "steuerfreie Verpflegungszuschüsse" bezeichneten Beträge bei der JAV-Berechnung zugrunde zu legen waren und damit zu einem Recht des Klägers auf höhere Verletztenrente führen. Das LSG konnte - von seiner Rechtsansicht her zutreffend - eine exakte tatsächliche und folglich auch steuerrechtliche Einordnung der dem Kläger gezahlten Einnahmen unterlassen, weil es davon ausging, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam nachweisen können, dass diese Einnahmen tatsächlich nicht zur Abdeckung eines Mehraufwands benötigt wurden. Die vom LSG hierzu eingeschlagene Vorgehensweise - Schätzung des Verbrauchs des Klägers nach § 287 ZPO - findet allerdings im Gesetz keinen Anhalt(vgl hierzu unter 2.). Mithin kam es darauf an, die dem Kläger gewährten Entgeltbestandteile tatsächlich (und dem folgend rechtlich) zu qualifizieren, was dem Senat aufgrund der fehlenden Feststellungen des LSG nicht möglich ist. Das LSG wird allerdings, wenn es diese Feststellungen nachgeholt hat, auch die unter 3. aufgezeigten rechtlichen Gesichtspunkte hinsichtlich der Ermittlung des JAV zu berücksichtigen haben (§ 170 Abs 5 SGG).

11

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist die in dem Bescheid der Beklagten vom 8.5.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.9.2007 festgestellte Höhe des Anspruchs des Klägers auf Verletztenrente unter Zugrundelegung der Höchstbetragsregelung des § 59 SGB VII. Bei der Festsetzung des JAV handelt es sich nicht um einen abtrennbaren Streitgegenstand. Vielmehr ist im Streit ein einheitlicher Anspruch (auf Rente), dessen Höhe sich durch die Faktoren MdE und JAV bestimmt. Eine Festsetzung des JAV ist mangels Außenwirkung kein Verwaltungsakt nach § 31 SGB X, sondern lediglich eine verwaltungsinterne Klärung eines Wertfaktors im Rahmen der Vorbereitung der Feststellung des Werts des Rechts auf Verletztenrente(BSG vom 18.9.2012 - B 2 U 14/11 R - juris RdNr 18, UV-Recht Aktuell 2013, 202). Ein Anspruch auf höhere Verletztenrente im Rahmen des § 59 Abs 1 SGB VII kann nur bestehen, wenn der neu festzusetzende JAV aufgrund des Unfallereignisses im Jahre 2005 höher ist als der aus einem früheren Unfall im Jahre 1999 resultierende JAV in Höhe von 30 669,92 Euro. Da dies hier aufgrund der Höhe der im Streit befindlichen Einnahmen im Jahre 2005 der Fall sein kann, war die Klage hier als Klage auf höhere Verletztenrente zulässig.

12

2. Die Frage, welche Zahlungen des Arbeitgebers in den JAV eingerechnet werden, beantwortet sich bei Anwendung des § 14 SGB IV und der ArEV (hierzu im Einzelnen noch unten) nach der steuerrechtlichen Qualifikation dieser Entgeltbestandteile aufgrund einer Betrachtungsweise ex ante, dh im Zeitpunkt ihrer Vereinbarung bzw Gewährung. Eine nachträgliche Änderung oder tatsächliche Umwidmung dieser rechtlichen Qualifizierung - etwa durch einen Nachweis des Nichtgebrauchs etc -, wie ihn das LSG hier für möglich hält, ist in den einschlägigen Rechtsvorschriften nicht vorgesehen, was aufgrund des das gesamte Sozialrecht prägenden Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes (§ 31 SGB I) zwingend geboten gewesen wäre.

13

Der Kläger hat gemäß § 56 Abs 3 iVm § 82 SGB VII(hier iVm § 59 SGB VII) einen Anspruch auf höhere Verletztenrente, wenn der Berechnungsfaktor JAV nach dem Unfallereignis aus dem Jahre 2005 mehr als der bisherige JAV in Höhe von 30 669,92 Euro aus dem Unfall im Jahre 1999 beträgt. § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII bestimmt hierzu: "Der Jahresarbeitsverdienst ist der Gesamtbetrag der Arbeitsentgelte (§ 14 des Vierten Buches) und Arbeitseinkommen (§ 15 des Vierten Buches) des Versicherten in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist". § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII enthält durch den Klammerzusatz "(§ 14 des Vierten Buches)" eine dynamische Verweisung auf die jeweils aktuell geltende Fassung des § 14 SGB IV. Abzustellen ist hier auf § 14 SGB IV in der zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles maßgebenden Fassung des Zweiten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002 (BGBl I 4627), nach dessen Absatz 1 Satz 1 Arbeitsentgelt alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus der Beschäftigung sind, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden oder ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV in der hier maßgebenden Fassung lautete: "Steuerfreie Aufwandsentschädigungen und die in § 3 Nr. 26 des Einkommensteuergesetzes genannten steuerfreien Einnahmen gelten nicht als Arbeitsentgelt".

14

Hieraus folgt, dass die jeweilige objektive steuerrechtliche Einordnung des konkret streitigen Entgeltbestandteils maßgebend ist. Das LSG ist in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zunächst davon ausgegangen, dass jedenfalls § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV auf den vorliegenden Sachverhalt Anwendung findet. Es hat sodann jedoch dahinstehen lassen, wie die hier in Frage stehenden Entgeltbestandteile objektiv (steuer-)rechtlich zu qualifizieren wären, weil diese mangels entstandener Aufwendungen - aufgrund des Nichtgebrauchs - Einkommen des Klägers darstellten. Zu Recht hat die Beklagte in ihrer Revision darauf hingewiesen, dass sich für eine solche "Umwidmung" der konkreten Zahlbeträge durch vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer konsentierten "Nichtgebrauch" keine Rechtsgrundlage finden lässt.

15

Soweit der Kläger auf Entscheidungen des BSG zum SGB II hinweist, in denen die jeweilige tatsächliche Zweckbestimmung von Entgelten eine Rolle spielte, verkennt er, dass nach der dort maßgeblichen Norm des § 11 Abs 3 Nr 1 Buchst a SGB II aF(idF, die die Norm durch das Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 24.3.2006 erhalten hat) nicht als Einkommen zu berücksichtigen waren "Einnahmen, soweit sie als zweckbestimmte Einnahmen einem anderen Zweck als die Leistungen nach diesem Buch dienen und die Lage des Empfängers nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären". Die dort an den Begriff der "zweckbestimmten Einnahmen" zu stellenden Anforderungen ergeben sich aus der Systematik des § 11 SGB II und dem Sinn und Zweck gerade jener Regelung im Rahmen einer steuerfinanzierten Sozialleistung. Die Außerachtlassung von Einnahmen erfolgt(e) dort unabhängig davon, ob diese steuerfrei sind, nur unter engen Voraussetzungen, die ausdrücklich durch den Zweck der weiteren Einnahmen gerechtfertigt sein müssen (vgl hierzu nur BSG vom 11.12.2012 - B 4 AS 27/12 R - SozR 4-4225 § 6 Nr 2, SozR 4-4200 § 11 Nr 58, RdNr 19 ff).

16

Die vom LSG vorgenommene eigenständige Schätzung der Einnahmen des Klägers auf der Grundlage des § 287 ZPO findet hingegen im System der Anspruchs- bzw Rechtsgrundlagen der § 82 SGB VII iVm § 14 SGB IV keine Rechtfertigung. Insofern hätte es seitens des LSG zunächst einer tatsächlichen und erst auf dieser aufbauend einer steuerrechtlichen Qualifizierung der streitigen Einnahmen bedurft, um ihre juristische Zuordnung zum Begriff des Arbeitsentgelts in § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV bzw zu den Vorschriften der maßgeblichen ArEV zu begründen(zu deren Anwendbarkeit noch unter 3.). Dem steht auch nicht entgegen, dass das Steuerrecht seinerseits die Schätzung der Höhe von Einnahmen (bzw Werbungskosten etc) zulässt, weil dort dieser Vorgang ausdrücklich von Rechts wegen zugelassen ist (vgl zu den Werbungskosten eines Fernfahrers Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht, Urteil vom 27.9.2012 - 5 K 99/12 - EFG 2013, 24; diese Unterschiede zwischen den jeweiligen Rechtsgebieten vernachlässigt Dau, jM 2015, 113).

17

3. Das LSG wird folglich zunächst festzustellen haben, wofür die von dem Arbeitgeber des Klägers in dem maßgeblichen Zeitraum bis 30.4.2005 (§ 82 Abs 1 SGB VII) geleisteten Zahlungen tatsächlich gewährt wurden. Aus den verschiedenen Stellungnahmen des Arbeitgebers im Verlaufe des Rechtsstreits könnten hier unterschiedliche Verwendungszecke bzw Zahlungsgründe abgeleitet werden von "Verpflegungszuschüssen" bis hin zu Trennungsgeld oder pauschaler Abgeltung von "doppelter Haushaltsführung" etc. Auch aus der vom LSG in dem angefochtenen Urteil (Blatt 13) vorgenommenen Aufzählung, welche Mehraufwendungen der Kläger nicht hatte, nämlich: "weder Kilometergeld, Übernachtungskosten, Kosten für die Benutzung von Sanitäreinrichtungen und zusätzliche Kosten für die Verpflegung" kann nicht eindeutig rückgeschlossen werden, wofür die hier streitigen Beträge tatsächlich positiv vom Arbeitgeber gewährt wurden. Erst wenn zu dem Zahlungsgrund der Beträge Feststellungen vorliegen, kann eine juristisch nachvollziehbare steuerrechtliche Qualifikation dieser Entgeltbestandteile erfolgen.

18

Soweit die dem Kläger gewährten "Spesen" danach als "steuerfrei" im Sinne des EStG zu qualifizieren wären, kann im Übrigen auch dahinstehen, ob § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV in der hier maßgeblichen Fassung überhaupt Anwendung findet. Diese Frage hängt zwar auch davon ab, wie die Entgeltbestandteile steuerrechtlich korrekt einzuordnen sind. Wären die von dem privaten Arbeitgeber gezahlten Pauschalen etwa unter die in § 3 Nr 16 EStG (in der 2005 geltenden Fassung) genannte Ausnahme zu subsumieren, nach der steuerfrei die Vergütungen sind, die Arbeitnehmer außerhalb des öffentlichen Dienstes von ihrem Arbeitgeber zur Erstattung von Reisekosten, Umzugskosten oder Mehraufwendungen bei doppelter Haushaltsführung erhalten, so wäre weiterhin zu entscheiden, ob solche steuerfreien Beträge überhaupt direkt unter § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV fallen können. § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV verweist wohl zunächst nur auf § 3 Nr 12 EStG, der sich wiederum ausschließlich auf Bezüge aus öffentlichen Kassen bezieht. So wird von einem Teil der Literatur vertreten, dass nur die in § 3 Nr 12 EStG genannten steuerfreien Aufwandsentschädigungen etc aus öffentlichen Kassen von § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV umfasst sind(vgl hierzu Knospe in Hauck/Noftz, SGB IV, K § 14, RdNr 50; Werner in JurisPK-SGB IV, § 14 RdNr 277; offen gelassen von BSG vom 26.1.2005 - B 12 KR 3/04 R - SozR 4-2400 § 14 Nr 7, RdNr 16). Letztlich kann diese Frage aber ggf dahinstehen, weil entsprechende steuerfreie Pauschalen jedenfalls unter § 1 der hier anwendbare ArEV(idF der Zweiten Verordnung zur Änderung der Arbeitsentgeltverordnung vom 18.2.2005 - BGBl I 322) fallen können mit der Folge, dass sie nicht Arbeitsentgelt iS des § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII wären.

19

Der Senat geht entgegen einer in der veröffentlichten Literatur zum Recht der GUV verbreiteten Meinung (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 82 SGB VII, RdNr 4.5; Keller in: Hauck/Noftz, SGB VII, K § 82 RdNr 4; Merten in: Eichenhofer/Wenner, Kommentar zum Sozialgesetzbuch VII, 1. Aufl, § 82 RdNr 11; Becker in: LPK-SGB VII, 4. Aufl, § 82 RdNr 7; Köllner in: Lauterbach-UV-SGB VII, § 82 RdNr 7, 8; RdSchr HVBG VB 49/91 vom 16.5.1991; Schudmann in JurisPK, 2. Aufl 2014, § 82, 48 ff)davon aus, dass die Verordnungsermächtigung in § 17 SGB IV den Verordnungsgeber auch dazu ermächtigt, die Entgeltbestandteile bzw Einnahmen zu regeln, die über die Ermittlung des JAV in § 82 SGB VII für das Leistungsrecht der GUV maßgebend werden. Die auch vom LSG und dieser Literatur zitierte Rechtsprechung des Senats, die einer solchen Geltung der ArEV entgegenstehen soll (BSG vom 27.11.1985 - 2 RU 23/85 - SozR 2200 § 571 Nr 24; BSG vom 24.5.1984 - 2 RU 11/83 - HV-Info 1984, Nr 13; BSG vom 24.2.1982 - 2 RU 59/81 - BSGE 53, 133 = SozR 2200 § 560 Nr 10; BSG vom 21.2.1980 - 5 RKnU 1/78 - BSGE 50, 9 = SozR 2200 § 571 Nr 16), ist ausschließlich zum Recht der RVO ergangen und betraf ausnahmslos Sachverhalte, die nach dem Rechtszustand vor Inkrafttreten der ArEV im Jahre 1977 zu beurteilen waren. § 17 Abs 1 SGB IV ermächtigt aber den Verordnungsgeber ausdrücklich auch, "zur Wahrung der Belange der Sozialversicherung" die entsprechende Verordnung zu erlassen. Die in der früheren Rechtsprechung des Senats vor Inkrafttreten der ArEV in den Vordergrund gestellten allgemeinen Strukturprinzipien der GUV treffen nach wie vor zu, können jedoch den über § 17 SGB IV normativ vermittelten Geltungsanspruch der ArEV nicht in Frage stellen. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern die zutreffende Tatsache, dass Beiträge und Leistungen in der GUV nicht im Synallagma stehen, als "Rechtsprinzip" dazu führen könnte, normativ explizierte Geltungsansprüche des Gesetz- und Verordnungsgebers auszuhebeln. Jedenfalls kann der oben genannten Rechtsprechung des BSG zum früheren Recht der RVO nicht entnommen werden, dass den vor Inkrafttreten der ArEV aufgestellten Grundsätzen Vorrang vor einschlägigem Verordnungsrecht zukommen soll. Zweifel an einer Geltung des § 17 SGB IV bzw der aufgrund dieser Ermächtigungsnorm jeweils erlassenen Verordnung(en) für die rechtliche Einordnung von bestimmten Einnahmen als Arbeitsentgelt auch für das Leistungsrecht der GUV lassen sich diesen Urteilen gerade nicht entnehmen. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang auch die Regelung des § 3 ArEV zu berücksichtigen, die als Sondervorschrift seit ihrer Einführung im Jahre 1977 gerade den Zweck hatte, die leistungsrechtliche Sonderstellung der Versicherten der GUV gerade auch innerhalb und durch die ArEV zu schützen(vgl zur Begründung der Verordnung: BR-Drucks 244/77, S 8 zu § 3, in der der Verordnungsgeber ohne jeden Zweifel davon ausgeht, dass er befugt sei, auch das Leistungsrecht der GUV zu regeln). Die Regelung des § 3 ArEV wurde vom erkennenden Senat sodann auch ausdrücklich gebilligt und gerade kompetenzrechtlich nicht beanstandet(BSG vom 24.2.1982 - 2 RU 59/81 - BSGE 53, 133 = SozR 2200 § 560 Nr 10, RdNr 18 f).

20

Deshalb ist im vorliegenden Fall über § 17 SGB IV sowohl die Norm des § 1 ArEV, nach der dort im Einzelnen qualifizierte lohnsteuerfreie Einnahmen nicht dem Arbeitsentgelt zuzurechnen sind, als auch die Norm des § 2 Abs 1 Nr 2 ArEV (idF vom 18.2.2005), der pauschal versteuerte Einnahmen betrifft, für die leistungsrechtliche Bestimmung des JAV anwendbar. Nach § 2 Abs 1 Nr 2 ArEV waren Einnahmen nach § 40 Abs 2 EStG, in dem Einnahmen aufgezählt werden, die mit einem Pauschsteuersatz von 25 vH zu versteuern waren, dem Arbeitsentgelt nicht zuzurechnen.

21

Das LSG wird auch abschließend über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden haben.

Das Bundessozialgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

(1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2) Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(3) Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist.

(4) Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 31. März 2011 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt höhere Verletztenrente auf Grund eines höheren zu berücksichtigenden Jahresarbeitsverdienstes (JAV).

2

Der 1978 geborene Kläger wurde im Jahre 1986 auf dem Heimweg von der Schule von einem Lkw angefahren und zog sich erhebliche Verletzungen zu. Der Rechtsvorgänger der Beklagten (der Rheinische GUV) erkannte den Unfall in einem Bescheid vom 22.7.1988 als Arbeitsunfall an und stellte in dem Bescheid vom 31.1.1994 sein Recht auf Verletztenrente nach einer MdE von 90 vH fest. Dessen Jahreswert ergab sich aus dem Produkt aus dieser MdE und dem JAV. Als JAV wurden der Rentenberechnung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Klägers 40 vH und danach 60 vH (Bescheid vom 12.7.1996) der im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls maßgebenden Bezugsgröße zu Grunde gelegt.

3

Am 1.7.1997 begann der damals 19jährige Kläger bei der J. GmbH eine Ausbildung zum Fachinformatiker - Fachrichtung Anwendungsentwicklung, die er am 15.6.2000 erfolgreich abschloss. Nach dem Ende der Ausbildung schied er aus dem Unternehmen aus und nahm ein Informatikstudium auf.

4

In dem Bescheid vom 4.6.2004 stellte der Rheinische GUV fest, dem Kläger stehe ab 1.7.2000 höhere Verletztenrente zu. Dies ergebe sich aus einem höheren JAV, der gemäß § 90 Abs 1 SGB VII ab dem 16.6.2000, dem Tag nach Beendigung seiner Ausbildung, auf 21 381,09 EUR festgesetzt werde. Zur Begründung wird ausgeführt, die Neuberechnung des JAV erfolge auf Grundlage des Verdienstes eines Datenverarbeitungskaufmanns - Fachrichtung Fachinformatiker. Mit dem Widerspruch machte der Kläger geltend, die zur Ermittlung des JAV zu Grunde gelegte Berufsbezeichnung entspreche nicht dem von ihm erreichten Abschluss als "Fachinformatiker - Anwendungsentwicklung". Mit Widerspruchsbescheid vom 13.2.2008 wies die Beklagte als Rechtsnachfolgerin des Rheinischen GUV den Widerspruch des Klägers zurück.

5

Mit der Klage zum SG hat der Kläger weiterhin vorgetragen, er habe keine Ausbildung zum Datenverarbeitungskaufmann im Einzelhandel, sondern eine Ausbildung zum Fachinformatiker mit der Fachrichtung Anwendungsentwicklung absolviert, weshalb von dem ortsüblichen Entgelt eines Fachinformatikers auf dem Gebiet der Anwendungsentwicklung auszugehen sei. Angesichts der mit der Note "gut" abgeschlossenen Ausbildung sei ein JAV von mindestens 30 000,00 EUR angemessen.

6

Mit Urteil vom 31.3.2009 hat das SG die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Berechnung der Verletztenrente des Klägers einen anderen JAV unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu Grunde zu legen und ihm hierüber einen neuen Bescheid zu erteilen. Nach § 90 Abs 1 SGB VII sei ein anderer JAV zu Grunde zu legen, weil dieser an dem Entgelt in dem durch die Ausbildung angestrebten Beruf auszurichten sei.

7

Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten am 31.3.2011 das Urteil des SG "geändert" und die Klage abgewiesen. Der JAV sei hier ab dem Tag nach dem Ende der Ausbildung des Klägers und damit ab 16.6.2000 neu festzusetzen gewesen. Es sei nach § 90 Abs 1 Satz 2 SGB VII der Tarifvertrag des Ausbildungsbetriebs zu Grunde zu legen. Habe - wie hier - ein zum Ausbildungsziel führendes Ausbildungsverhältnis nach dem Berufsbildungsgesetz zwischen dem Versicherten und einem Ausbildungsbetrieb bestanden, sei der für dieses Unternehmen seiner Art nach am Stichtag, dh dem Tag nach dem Ende der Ausbildung, geltende Tarifvertrag maßgeblich. Denn maßgebend sei nicht der berufsspezifische, sondern der branchenspezifische Tarifvertrag, der für das Unternehmen generell in Betracht komme. Hierauf sei auch dann abzustellen, wenn der Versicherte nach dem Ausbildungsende aus dem Unternehmen ausscheide, um ein Studium aufzunehmen. Dabei komme es auch nicht darauf an, ob der Versicherte im Ausbildungsunternehmen eine seiner Ausbildung entsprechende Tätigkeit hätte aufnehmen können. Für die ausnahmslose Anknüpfung an den für das Ausbildungsunternehmen seiner Art nach geltenden Tarifvertrag spreche insbesondere der Sinn und Zweck des § 90 SGB VII.

8

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner vom LSG zugelassenen Revision. Er rügt eine Verletzung des § 90 Abs 1 SGB VII. Der Gesetzeswortlaut stelle ausdrücklich darauf ab, dass der Tarifvertrag für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters zu Grunde zu legen sei. Es sei kein gesetzlicher Anhalt dafür ersichtlich, dass an die wirtschaftliche Ausrichtung des Ausbildungsbetriebs angeknüpft werden könne. Er habe stets unwidersprochen vorgetragen, dass er im technischen und gerade nicht im kaufmännischen Bereich ausgebildet worden sei.

9

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 31. März 2011 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 31. März 2009 zurückzuweisen.

10

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

11

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend das Urteil des SG aufgehoben und (sinngemäß) die gemäß § 54 Abs 4 SGG zulässige Kombination aus zulässiger Anfechtungs- und zulässiger (unechter) Leistungsklage abgewiesen. Der Kläger hat ab dem 1.7.2000 keinen Anspruch auf Feststellung eines noch höheren Werts seines Rechts auf Verletztenrente, als ihm die Beklagte in dem Bescheid vom 4.6.2004 (Widerspruchsbescheid vom 13.2.2008) nach Aufhebung des bis dahin festgestellten niedrigeren Werts insoweit unangefochten neu zuerkannt hatte. Dem Kläger stand kein Anspruch auf höhere Rente unter "Festsetzung" eines höheren JAV nach § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII zu, weil er die Ausbildung planmäßig und ohne Verzögerung beendet hatte (hierzu unter 1.). Eine analoge Anwendung des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII auf Fallgestaltungen wie die vorliegende scheidet aus, weil § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII insofern keine Lücke aufweist (vgl unter 2.).

12

Ein höherer Rentenanspruch hätte für den Kläger gemäß § 56 Abs 3 SGB VII ab dem 1.7.2000 nur bestehen können, wenn ein noch höherer JAV, der zweite Wertfaktor der Rentenhöhe neben seiner unveränderten MdE von 90 vH, rechtlich maßgeblich geworden (= "neu festzusetzen" gewesen) wäre. Obwohl der Versicherungsfall schon 1986, also vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1.1.1997, eintrat, war dies hier gemäß § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII nach § 90 Abs 1 SGB VII zu beurteilen. Danach wird, wenn der Versicherungsfall ua während der Schulausbildung, wie hier, eingetreten ist, falls dies für den Versicherten günstiger ist, der nach § 90 Abs 1 Satz 2 SGB VII aus Tarifvertrag, hilfsweise aus dem am Betriebsort geltenden Arbeitsentgelt zu ermittelnde neue JAV von dem Zeitpunkt an rechtlich maßgeblich, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre.

13

1. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII waren nicht erfüllt. Zwar hatte der Kläger seine Berufsausbildung am 1.7.1997 begonnen. Er hatte sie aber am 15.6.2000 erfolgreich und ohne Verzögerung abgeschlossen.

14

§ 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII bestimmt, dass dann, wenn der Versicherungsfall vor Beginn der Schulausbildung oder während einer Schul- oder Berufsausbildung eintritt, der JAV, wenn es für den Versicherten günstiger ist, von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt wird, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre. § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII gewährt einen neuen höheren JAV als den im Zeitpunkt des Versicherungsfalls maßgeblich gewordenen Ausgangs-JAV mithin nur, wenn die Ausbildung nicht oder verzögert abgeschlossen wurde. Es heißt in der Norm ausdrücklich nicht, dass der JAV von dem Zeitpunkt an neu festzusetzen ist, in dem die Ausbildung "beendet wurde oder" ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre. Die Vorschrift setzt damit als Zeitpunkt für die Neufestsetzung des JAV einen fiktiven Zeitpunkt fest, nämlich den, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre.

15

Der Regelung des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII liegt wegen des hypothetisch formulierten Wortlautes ("voraussichtlich beendet worden wäre") und nicht zuletzt auch auf Grund der Überschrift der Norm ("Neufestsetzung nach voraussichtlicher Schul- oder Berufsausbildung oder Altersstufen") der typisierende Gedanke zu Grunde, dass der zuvor erlittene Versicherungsfall der Grund dafür ist, dass die Ausbildung später als vorgesehen oder überhaupt nicht abgeschlossen wurde. Für eine solche Sichtweise spricht im Übrigen auch § 90 Abs 4 SGB VII, der § 90 Abs 1 SGB VII ergänzt. Danach wird für den Fall, dass sich bei Eintritt des Versicherungsfalls vor Beginn der Berufsausbildung auch unter Berücksichtigung der weiteren Schul- oder Berufsausbildung nicht feststellen lässt, welches Ausbildungsziel die Versicherten voraussichtlich erreicht hätten, ein bestimmter näher bezeichneter Wert des JAV festgelegt. Eine solche Unmöglichkeit der Feststellung ist indes aber nur für Fälle denkbar, in denen die Berufsausbildung nicht plangemäß abgeschlossen wurde, in denen also eine fiktive Betrachtungsweise erforderlich ist.

16

Für eine strikte Begrenzung der Regelung des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII auf die Fälle der verzögerten oder nicht beendeten Ausbildung spricht auch die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Norm. In der Gesetzesbegründung der Bundesregierung zum Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz ) vom 7.8.1996 (BGBl I 1254) heißt es, die Vorschrift enthalte eine Neuregelung über eine pauschalierte, an der Bezugsgröße orientierte Neufestsetzung des JAV für bestimmte Unfälle im Kindesalter. In der Verwaltungspraxis und in der Rechtsprechung hätten sich bei der Anwendung des § 573 RVO dann Feststellungsschwierigkeiten ergeben, wenn sich der Versicherungsfall im frühen Lebensalter ereignet habe und sich weder aus der Zeit vor dem Versicherungsfall noch aus dem weiteren Werdegang des Kindes nach dem Versicherungsfall ausreichende Anhaltspunkte über dashypothetische Ausbildungsziel (ohne den Unfall) herleiten ließen (BT-Drucks 13/2204, S 96).

17

Auch die Vorgängervorschriften des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII enthielten - in unterschiedlicher Ausprägung - jeweils hypothetische (typisierende) Elemente. Der Grundsatz, dass bei der Rentenberechnung von den Einkommensverhältnissen des Verletzten während des letzten Jahres vor dem Arbeitsunfall auszugehen ist, gilt seit dem Unfallversicherungsgesetz vom 6.7.1884 (RGBl S 69). Als Ergänzung war geregelt, dass zugunsten des Verletzten für das letzte Jahr vor dem Arbeitsunfall ein (fiktiver) Arbeitsverdienst anzunehmen ist, wenn der Verletzte vor dem Unfall noch kein volles Jahr in dem Betrieb beschäftigt war oder keinen Lohn oder weniger als das 300fache des ortsüblichen Tagelohns bezogen hatte (vgl etwa § 5 Abs 3 bis 5 des Unfallversicherungsgesetzes vom 6.7.1884, § 10 des Gewerbeunfallversicherungsgesetzes vom 5.7.1900 - RGBl S 573, 585 - und §§ 563 ff RVO vom 19.7.1911 - RGBl S 509). Ein hypothetisch-typisierendes Element enthielt dann die mit Art 11 des Dritten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 20.12.1928 (RGBl I 405) für Versicherte, die im Feuerwehrdienst oder in Betrieben zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen beschäftigt sind, neu eingefügte Sondervorschrift des § 569b RVO, dessen Abs 3 folgenden Wortlaut hatte: "War der Verletzte zur Zeit des Unfalls noch in seiner Berufs- oder Schulausbildung begriffen, so ist für die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes ein Erwerbseinkommen zu Grunde zu legen, wie es der Verletzte nach Vollendung seiner Ausbildung gehabt haben würde".

18

Auch in dem mit Art 1 Nr 1 des Sechsten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9.3.1942 (RGBl I 107) neu eingefügten § 565 RVO wird auf einen fiktiven Gesichtspunkt abgestellt. Dessen Abs 1 lautete wie folgt: "Befand sich der Verletzte zur Zeit des Unfalls noch in einer Berufs- oder Schulausbildung, so wird von dem Zeitpunkt ab, in welchem die begonnene Ausbildung voraussichtlich abgeschlossen worden wäre, der Jahresarbeitsverdienst nach dem Entgelt berechnet, der dann für Personen gleicher Ausbildung durch Tarif oder sonst allgemein für einzelne Berufsjahre festgesetzt ist; hierbei sind Verdiensterhöhungen, die von der Erreichung eines bestimmten Lebens- oder Berufsjahres ab allgemein festgesetzt sind, die der Verletzte aber voraussichtlich erst nach Vollendung seines dreißigsten Lebensjahres erreicht hätte, nicht zu berücksichtigen."

19

Der durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung (Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz ) vom 30.4.1963 (BGBl I 241) geschaffene § 573 RVO ist die unmittelbare Vorgängerregelung des § 90 SGB VII und war in seinem Abs 1 wie folgt formuliert: "Befand sich der Verletzte zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in einer Schul- oder Berufsausbildung, so wird, wenn es für den Versicherten günstiger ist, der Jahresarbeitsverdienst für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung neu berechnet". Wenngleich das hypothetische Element in dieser Vorschrift mit dem Wort "voraussichtlich" nicht mehr so deutlich in Erscheinung tritt wie in § 565 RVO, waren inhaltliche Änderungen nicht beabsichtigt. Denn in der Begründung zum Entwurf des UVNG heißt es zur Regelung des § 573 RVO(§ 574 RVO in der Entwurfsfassung, BT-Drucks IV/120, S 11, 57): "Auch für Jugendliche und in der Ausbildung befindliche Verletzte sieht bereits § 565 RVO einen Ausgleich für Mindereinnahmen vor. Diese Regelung wird in § 574 beibehalten."

20

Aus diesen Vorgängervorschriften des § 90 SGB VII(vgl zur Entwicklung seit 1884 bis zur Schaffung des § 573 RVO auch: Windelen, SGb 1970, 408) und dem der heutigen Fassung des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII jeweils ähnlichen bzw sogar gleich lautenden Wortlaut, sowie aus dem Umstand, dass sich Anhaltspunkte für eine andere Sichtweise aus allen angeführten Gesetzgebungsmaterialien nicht entnehmen lassen, folgt, dass von § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII jedenfalls nicht diejenigen Fallgestaltungen erfasst werden sollen, in denen die Ausbildung infolge des Arbeitsunfalls weder abgebrochen worden ist noch sie sich verzögert hat(vgl auch BSG, Urteil vom 7.11.2000 - B 2 U 31/99 R - Juris RdNr 20, SozR 3-2700 § 90 Nr 1; Merten in: Eichenhofer/Wenner, SGB VII, 1. Aufl 2010, § 90 RdNr 27).

21

In § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII wurde mithin nur die Voraussetzung in das Gesetz aufgenommen, dass die Ausbildung sich verzögert hatte oder ggf aus sonstigen Gründen nicht beendet wurde. Denn nur in solchen Fällen wurde durch den ursprünglichen Versicherungsfall in abstrakter, typisierender Wertung, also nicht als tatbestandliche Voraussetzung im Einzelfall, ein weiterer Schaden verursacht. Nur dieser (typisierend angenommene) zusätzliche Folgeschaden des Versicherungsfalls rechtfertigt ausnahmsweise eine Ersetzung des Ausgangs-JAV durch einen neuen (günstigeren) JAV. Für diesen ist das hypothetische Arbeitsentgelt bestimmend, das in einem Tarifvertrag oder hilfsweise am Beschäftigungsort üblicherweise in dem Zeitpunkt der voraussichtlichen (aber eben nicht eingetretenen) Beendigung der Ausbildung für Personen gleicher Ausbildung und Alters vorgesehen ist (und ohne den Ausfall oder die Verzögerung des Ausbildungsabschlusses bei Beendigung der Ausbildung typischerweise voraussichtlich erzielt worden wäre). Die Verletzten, die ihre Ausbildung rechtzeitig beenden, haben typischerweise zu diesem Zeitpunkt keinen weiteren Nachteil, weil sie entsprechend höher entlohnt werden.

22

Sachgrund für diese gesetzliche, also materiell-rechtlich direkt eintretende Änderung der abstrakten Schadensbewertung des Ausgangs-JAV ist, dass es unbillig wäre, solche jungen Verletzten trotz des weiteren Folgeschadens an diesem JAV festzuhalten. Damit durchbricht diese Ausnahmeregelung, wie alle in § 90 SGB VII geregelten Ausnahmen, materiell-rechtlich den gesetzlichen Grundsatz, dass der im Zeitpunkt des Versicherungsfalls maßgebliche Ausgangs-JAV für die gesamte Zeit, für die das Recht besteht, maßgeblich bleibt. Dieser Sachgrund der Norm spricht im Übrigen dagegen, dass die Norm aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 3 Abs 1 GG) zugunsten von Verletzten mit zeitgerechtem Ausbildungsabschluss korrigiert werden müsste (vgl hierzu im Einzelnen unten 2. c).

23

2. Das Begehren des Klägers hätte daher nur Erfolg haben können, wenn § 90 Abs 1 SGB VII analog anzuwenden gewesen wäre und dies einen noch höheren neuen JAV ergeben hätte, als von der Beklagten in den angefochtenen Bescheiden vom 4.6.2004/13.2.2008 zu Grunde gelegt wurde. § 90 Abs 1 SGB VII ist aber auf Verletzte, die ihre Ausbildung zeitgerecht abgeschlossen haben, nicht entsprechend anzuwenden.

24

a) Die Voraussetzungen für eine Analogie, nach der sich die Anwendung der Vorschrift des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII auch auf die Fallgestaltungen erstrecken würde, in denen die Ausbildung plangemäß abgeschlossen worden ist, sind jedoch nicht gegeben. Diese Voraussetzungen lägen nur dann vor, wenn 1. eine (anfängliche oder nachträgliche) Gesetzeslücke besteht, 2. der nicht geregelte Tatbestand dem gesetzlich festgelegten ähnlich ist und 3. beide Tatbestände wegen ihrer Ähnlichkeit gleich zu bewerten sind (vgl BSG, Urteil vom 4.5.1999 - B 4 RA 55/98 R, SozR 3-2600 § 34 Nr 1 unter Verweis auf BSG SozR 4100 § 107 Nr 4 S 4 f; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl 1995, S 202 ff).

25

b) Es fehlt hier bereits an der ersten Voraussetzung einer zulässigen Analogie, dem Vorliegen einer Gesetzeslücke, die durch richterliche Rechtsfortbildung geschlossen werden könnte, denn die Regelung des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII enthält keine planwidrige Unvollständigkeit. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das Gesetz den Kreis derjenigen, die bei typisierender Bewertung ihrer Schutzbedürftigkeit ausnahmsweise nicht weiter der Regelberechnung des JAV unterliegen, nur unvollständig erfasst hätte (vgl zu diesem Gesichtspunkt bei der Beitragspflicht zur Arbeitslosenversicherung von beurlaubten Berufssoldaten BSG, Urteil vom 29.7.2003 - B 12 KR 15/02 R, Juris RdNr 21, SozR 4-4100 § 169 Nr 1). Vielmehr erfasst das Gesetz im Rahmen der Neufeststellungsansprüche Fallgestaltungen, für die der Gesetzgeber typisierend davon ausgeht, dass es unbillig ist, für die Gewährung der Verletztenrente das tatsächliche Arbeitseinkommen der jeweils erfassten Personenkreise bei der Ermittlung des JAV zu Grunde zu legen. Insofern liegt dem § 90 SGB VII(iVm den §§ 82 ff SGB VII) ein stimmiges Konzept zu Grunde.

26

aa) § 90 Abs 1 SGB VII entspricht - wie bereits oben zu 1. dargestellt - im Wesentlichen dem am 1.1.1997 außer Kraft getretenen § 573 Abs 1 RVO(vgl Begründung zu Art 1 § 90 des Entwurfs eines UVEG, BT-Drucks 13/2204 S 96), der seinerseits mit Wirkung vom 1.7.1963 durch Art 1 des UVNG vom 30.4.1963 (BGBl I 241) in die damals neugefasste RVO übernommen wurde und dem der in wesentlichen Teilen inhaltsgleiche § 565 RVO vorausging, der durch das Sechste Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9.3.1942 (RGBl I 107) in die RVO eingefügt worden war.

27

Nach der bereits dargestellten Zweckbestimmung des § 90 Abs 1 SGB VII sollen - ebenso wie bei den genannten Vorgängervorschriften - Personen, die schon vor oder während der Zeit der Ausbildung für einen Beruf einen Arbeitsunfall erleiden und deshalb im Jahre vor dem Unfall regelmäßig noch nicht das volle Arbeitsentgelt erzielt haben, zur Vermeidung von Härten geschützt und so gestellt werden, als hätten sie den Unfall nach der voraussichtlichen Beendigung der Berufsausbildung - bei höherem JAV - erlitten(vgl BSG, Urteil vom 7.11.2000 - B 2 U 31/99 R, Juris RdNr 17, SozR 3-2700 § 90 Nr 1 unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 4.12.1991 - 2 RU 69/90, HV-Info 1992, 598 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 90 RdNr 2, Stand: 01/2007; Merten in: Eichenhofer/Wenner, SGB VII, 1. Aufl 2010, § 90 RdNr 4). Die zum Unfall führende Tätigkeit muss bei in Ausbildung stehenden Versicherten kein Teil der Ausbildung sein. Insoweit muss also kein innerer Zusammenhang zwischen der Schul- oder Berufsausbildung und der zum Unfall führenden Verrichtung gegeben sein; vielmehr genügt der zeitliche Zusammenhang mit der Ausbildung (BSGE 38, 216, 218, 219 = SozR 2200 § 573 Nr 2; BSGE 47, 137, 140 = SozR 2200 § 573 Nr 9; BSG, Urteil vom 24.6.1981 - 2 RU 11/80 - EzS 128/79; Ricke in: Kasseler Kommentar, § 90 SGB VII RdNr 4, Stand: Dezember 2010; Keller in: Hauck/Noftz, SGB VII, K § 90 RdNr 4, Stand: März 2012).

28

Die in § 90 SGB VII normierten Neufestsetzungsansprüche regeln dabei im Einzelnen, weshalb eine notwendigerweise vorangehende Erstfeststellung der Höhe der Rente wegen eines nachträglich gemäß § 90 SGB VII erheblich gewordenen hypothetischen Umstandes, der zu einem günstigeren JAV zu einem späteren Zeitpunkt führte, nach Maßgabe des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X aufgehoben und ein höherer Rentenwert neu festgesetzt werden muss, worauf der Versicherte ggf einen Anspruch hat.

29

bb) Grundsätzlich wird durch die gesetzliche Unfallversicherung mittels der (hier umstrittenen) Verletztenrente (anteilig nach dem MdE-Grad) das durch den Versicherungsfall abstrakt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im weiteren Leben (möglicherweise) nicht mehr erzielbare Gesamteinkommen ersetzt. Deshalb wird zu dessen Schätzung im Rahmen der §§ 82 ff SGB VII grundsätzlich auf das Gesamteinkommen des letzten Kalenderjahres vor dem Versicherungsfall abgestellt, weil dies auch in der gesetzlichen Unfallversicherung zumeist eine hinreichende Beurteilungsgrundlage für das wirtschaftliche Ergebnis bildet, das der Verletzte ohne den Versicherungsfall voraussichtlich (weiterhin) erlangt hätte.

30

Dies geschieht aber schon bei der Erstfeststellung nicht schematisch, sondern mit Blick auf die Frage, ob und inwieweit die Entwicklung in diesem Jahr den wirtschaftlichen Standard wiedergibt, wie er ohne den Versicherungsfall fortbestanden hätte.

31

Im Rahmen der Regelberechnung regelt das Gesetz ab § 82 Abs 1 Satz 2 SGB VII bis § 86 sowie in § 88 SGB VII im Einzelnen Fallgruppen, in denen ua die Regelberechnung aus § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII keine gerechte oder billige Grundlage für die Schätzung des Entgangenen bildet. Soweit die Grundregelung und diese speziellen gesetzlichen Regelungen gleichwohl zu einem im Einzelfall erheblich unbilligen Ergebnis führen, sieht § 87 SGB VII subsidiär für die meisten von ihnen eine Einzelfall-Schätzung des JAV nach billigem Ermessen vor.

32

Schon bei der Erstfestsetzung der Rentenhöhe werden zur Schätzung des JAV ua nach § 82 Abs 2 Satz 2 und Satz 3 sowie § 82 Abs 4 SGB VII Hypothesen über den ohne den Versicherungsfall fortgesetzten oder erstmals eingetretenen Einkommensverlauf relevant. Schon hier hat das Gesetz die besondere Problematik der Regelberechnung für Berufsanfänger speziell aufgegriffen. Insbesondere § 82 Abs 2 Satz 3 SGB VII zeigt, dass die Erstschätzung des JAV vom Gesetz dann für möglicherweise "unangemessen" gehalten wird, wenn der Versicherungsfall binnen einen Jahres nach Abschluss der Berufsausbildung eintritt. Dann kann es unbillig sein, den Versicherten an einer ungünstigen Regelberechnung nach dem letzten Kalenderjahr vor dem Versicherungsfall festzuhalten, weil das keine angemessene Basis für die Schätzung ist, was er ohne den Versicherungsfall erlangt hätte.

33

cc) Gerade bei Kindern und Jugendlichen kann die Regelberechnung der Erstfeststellung allerdings grob unangemessen werden, wenn unberücksichtigt bleibt, dass ihr danach vermutlich fortgesetztes Gesamteinkommen (JAV der Erstfeststellung) unter Umständen nicht das wiedergibt, was sie im späteren Leben ohne den Versicherungsfall voraussichtlich als Einkommen zur Lebensführung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt abstrakt hätten erlangen können. Dann würde schon abstrakt nicht hinreichend beachtet, welche Einbußen der Versicherungsfall zur Folge hatte.

34

Der Gesetzgeber hat diese Problematik in § 90 Abs 1 bis § 90 Abs 6 SGB VII typisierend geregelt. Alle Absätze der Vorschrift regeln Ansprüche auf Neufestsetzung der Höhe von Versicherungsleistungen (also Aufhebung des Höchstwerts der bisherigen Wertfestsetzung des Rechts auf Leistung und Feststellung eines höheren Werts), die von einem zuvor bereits festgestellten, dh als maßgeblich zu Grunde gelegten JAV abhängen. Gemeinsame Voraussetzung ist, dass zeitlich danach ein Ereignis (in hypothetischer und typisierender Beurteilung wegen des Versicherungsfalls) nicht oder verspätet eingetreten ist, das ein höheres Gesamteinkommen/Arbeitsentgelt erbracht hätte als es bei der Erstfestsetzung des JAV zu Grunde gelegt worden ist.

35

Den einzelnen Absätzen des § 90 SGB VII liegt damit das folgende stimmige Konzept zu Grunde:

-       

§ 90 Abs 1 SGB VII regelt zunächst Folgendes: Tritt der Versicherungsfall vor oder während der Schul- oder Berufsausbildung ein und ist der Höchstwert des Rechts auf Leistung bereits wirksam festgestellt, ist dieser aufzuheben und ein höherer Wert neu festzustellen, falls der JAV für den Versicherten günstiger ist, der sich nach Maßgabe von § 90 Abs 1 Satz 2 SGB VII für den Tag ergibt, an dem der Versicherte seine Ausbildung voraussichtlich beendet hätte. Hat er sie an diesem Tag beendet, gibt es keinen Raum für eine hypothetische Prüfung. Auch ist ihm, der seine Ausbildung pünktlich abgeschlossen hat, in der für das Gesetz erlaubten typisierenden Betrachtung kein weiterer Nachteil aus dem Versicherungsfall entstanden, weil er typischerweise nicht durch den Versicherungsfall gehindert ist, ein dem Tarifentgelt des § 90 Abs 1 Satz 2 SGB VII entsprechendes Gesamteinkommen zu erzielen.

-       

Ist hingegen der Versicherungsfall vor der Berufsausbildung eingetreten und die Erstfeststellung des Höchstwerts der Versicherungsleistung wirksam festgestellt worden und vollendet der Versicherte das 21. Lebensjahr (oder später das 25. Lebensjahr) und lässt sich nicht feststellen, welches Ausbildungsziel der Versicherte ohne den Versicherungsfall voraussichtlich erreicht hätte, ist der JAV ab diesem Tag mit 75 vH der Bezugsgröße (später 100 vH) anzusetzen (§ 90 Abs 1 iVm § 90 Abs 4 SGB VII).

-       

§ 90 Abs 2 SGB VII erfasst dann die Fälle, in denen nach der Erstfeststellung bei unter dreißigjährigen Versicherten diese vor Vollendung des 30. Lebensjahres an tarifvertraglichen oder ortsüblichen Erhöhungen des Arbeitsentgelts nicht teilgenommen haben, die zur Zeit des Versicherungsfalls für Personen mit gleichartiger Tätigkeit für den späteren Fall vorgesehen waren, dass sie ein bestimmtes Berufsjahr erreicht oder ein bestimmtes Lebensjahr vollendet hatten. Ihnen ist in der gesetzlichen typisierenden Betrachtung regelmäßig wegen des Versicherungsfalls die Entgelterhöhung entgangen. Wenn diese einen günstigeren JAV brächte, besteht ein Neufeststellungsanspruch.

-       

Hat in den Fällen von § 90 Abs 1 oder Abs 2 SGB VII der Versicherungsfall eine Erwerbstätigkeit unmöglich gemacht, entsteht gemäß § 90 Abs 3 SGB VII, falls es günstiger ist, ein Neufeststellungsanspruch jeweils und sogar über das 30. Lebensjahr hinaus, falls zur Zeit des Versicherungsfalls tarifvertraglich oder ortsüblich spätere Entgelterhöhungen nach Lebensalter, Berufsjahren oder Ablauf von Bewährungszeiten vorgesehen sind und diese Voraussetzungen erfüllt werden.

-       

Unter Berücksichtigung des § 90 Abs 5 und des § 90 Abs 6 SGB VII sowie insbesondere auch der subsidiären Billigkeitsregelung in § 91 SGB VII mit der nochmals subsidiären Neufeststellung nach billigem Ermessen ergibt sich damit ein stimmiges Konzept, das typisierend Fallgestaltungen regelt, in denen das Gesetz typische Fälle erfasst, in denen davon ausgegangen werden kann, dass das eigentlich nach der Regelberechnung der §§ 82 ff SGB VII zu Grunde zu legende Arbeitseinkommen als unbillig erscheint. Dementsprechend ist es auch nicht gesetzesplanwidrig, dass eine Neufeststellung dann nicht beansprucht werden kann, wenn aus dem Versicherungsfall (typisch gesehen) kein durch den Versicherungsfall bedingter weiterer Einkommensnachteil eingetreten ist, der von der Regelberechnung nicht erfasst wäre.

-       

Im Übrigen wird selbst bei denjenigen, die lediglich von der Regelberechnung erfasst werden und keinen Anspruch auf Neufeststellung nach § 90 SGB VII haben, im Falle eines besonders niedrigen Erwerbseinkommens im letzten Jahr vor dem Versicherungsfall in jedem Fall entweder der Mindest-JAV des § 85 SGB VII oder - bei Kindern, die das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben - ein besonders gesetzlich festgelegter JAV zu Grunde gelegt (§ 86 SGB VII).

36

Wenn danach ein stimmiges Konzept für die Fallgestaltungen vorliegt, in denen es dem Gesetz unbillig erscheint, die jeweils erfassten Personenkreise an ihrem (zu niedrigen) JAV nach Maßgabe der Regelberechnung nach den §§ 82 ff SGB VII festzuhalten, liegt für die Fallgestaltungen, in denen die Ausbildung - wie hier - plangemäß abgeschlossen worden ist, keine ausfüll-bare Gesetzeslücke vor. Dementsprechend kann § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII auch nicht zu Gunsten des Klägers analog angewandt werden. Das BSG ist nicht dazu befugt, eine - wie oben ausgeführt - rechtlich vollständige, sozial- oder rechtspolitisch jedoch von einzelnen Personen oder Gruppen als defizitär empfundene Regelung fortbildend zu ergänzen und sich damit unter Verkennung seiner eigenen Bindung an Gesetz und Recht (Art 20 Abs 3 GG) in die Rolle einer normsetzenden Instanz zu begeben (so auch BSG, Urteil vom 29.7.2003 - B 12 KR 15/02 R, Juris RdNr 22, SozR 4-4100 § 169 Nr 1 unter Hinweis auf BVerfGE 34, 269, 290; 65, 182, 194; 82, 6, 11 ff; 87, 273, 280; ferner BVerfGE 96, 375, 394 f; 113, 88, 103).

37

c) Die entgegenstehenden, damals nicht tragenden und nicht näher begründeten Ausführungen in der zu § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII ergangenen Entscheidung des Senats vom 7.11.2000 - B 2 U 31/99 R - (SozR 3-2700 § 90 Nr 1; vgl zuvor zu § 573 RVO: BSG, Urteil vom 15.6.1983 - 9b/8 RU 58/81 - SozR 2200 § 573 Nr 11) können demgemäß nicht aufrechterhalten bleiben, zumal die Voraussetzungen der Analogie dort nicht geprüft worden sind. Gleiches gilt für die eine solche Analogie befürwortenden Stimmen in der Literatur, die sich - soweit ersichtlich - nicht mit den rechtssystematischen Voraussetzungen der Analogiefähigkeit des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII auseinandersetzen und lediglich die Entscheidung des BSG vom 7.11.2000 (aaO) zustimmend zitieren (vgl etwa Ricke in Kasseler Kommentar, § 90 SGB VII, RdNr 5, Stand: Dezember 2010; Keller in: Hauck/Noftz, SGB VII, K § 90 RdNr 9a, Stand: März 2012; Burchardt in: Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky, SGB VII, § 90 RdNr 18a, Stand: März 2007; Rütenik in: juris-PK SGB VII, 1. Aufl 2009, § 90 RdNr 42; Dahm in: Lauterbach, UV , § 90 RdNr 18, Stand: Oktober 2006; Becker in: Lehr- und Praxiskommentar, SGB VII, 3. Aufl 2011, § 90 RdNr 5; Merten in: Eichenhofer/Wenner, SGB VII, § 90 RdNr 27; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 90 SGB VII, RdNr 8.5, Stand 01/2007; Schmitt, SGB VII, 4. Aufl 2009, § 90 RdNr 7; Kater in: Kater/Leube, SGB VII, 1997, § 90 RdNr 27).

38

Die Methode der Analogie ist eine verfassungsrechtlich anerkannte Form der richterlichen Rechtsfortbildung (vgl zB BVerfGE 82, 6, 11 ff mwN). Sie ist allerdings von der dem Gesetzgeber vorbehaltenen Gesetzeskorrektur abzugrenzen. Die vom Verfassungsrecht gezogene Grenze verläuft im allgemeinen dort, wo die Gerichte ohne das Vorhandensein einer sich aus Systematik und Sinn des Gesetzes ergebenden Lücke allein unter Berufung auf allgemeine Rechtsprinzipien, die eine konkrete rechtliche Ableitung nicht zulassen, oder aus rechtspolitischen Erwägungen Neuregelungen oder Rechtsinstitute schaffen (BVerfGE 34, 269, 290; 65, 182, 194). Dem Gericht ist es grundsätzlich verwehrt, sich unter Verkennung seiner eigenen Bindung an Gesetz und Recht (Art 20 Abs 3 GG) aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz zu begeben (BVerfGE 82, 6, 11 ff; 87, 273, 280). Demgemäß darf richterliche Rechtsfortbildung im Wege der Analogie stets nur dann eingesetzt werden, wenn das Gericht auf Grund einer Betrachtung und Wertung des einfachen Gesetzesrechts eine Gesetzeslücke feststellt (vgl BVerfG FamRZ 1995, 1052, 1054). Eine derartige Lücke ist aber nicht bereits dann gegeben, wenn eine erwünschte Ausnahmeregelung fehlt oder eine gesetzliche Regelung aus sozial- oder rechtspolitischen Erwägungen als unbefriedigend empfunden wird (vgl BVerfG NJW 1992, 1219; BVerfGE 65, 182, 194). Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürfen die Gerichte diese - auch im Interesse der Rechtssicherheit für den einzelnen Bürger - nicht auf Grund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so ggf im Parlament gar nicht erreichbar war (vgl BVerfG FamRZ 1995, 1052, 1054; BVerfGE 82, 6, 12). So spricht die Entscheidung des BSG im zum alten Recht ergangenen Urteil vom 15.6.1983 (aaO, S 35) ohne nähere Gesetzesprüfung von einem "wenig einleuchtenden Ergebnis", das zu korrigieren sei. Eine solche Betrachtungsweise entspricht aber gerade nicht den strengen Voraussetzungen für die "Lücken"schließung durch Analogie. Eine Lücke im Gesetz liegt vielmehr nur dort vor, wo es eine Regelung weder ausdrücklich noch schlüssig getroffen hat und es deshalb nach dem Konzept des Gesetzes, dem "Gesetzesplan", unvollständig und damit ergänzungsbedürftig ist. Keine Gesetzeslücke liegt also vor, wenn die Nichtregelung einer vom Gesetz gewollten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände entspricht, seine richterliche Ergänzung also dem "Willen des Gesetzes" widerspricht. Es muss sich um eine dem Plan des Gesetzgebers widersprechende, also eine "planwidrige Unvollständigkeit" handeln (stRspr des BSG, vgl zB Urteil vom 25.2.2010 - B 10 LW 1/09 R - SozR 4-5868 § 13 Nr 5; Urteil des Senats vom 27.5.2008 - B 2 U 21/07 R, Juris RdNr 17, UV-Recht Aktuell 2008, 1162; Urteil vom 16.12.1997 - 4 RA 67/97 - SozR 3-2600 § 58 Nr 13 S 74 f; BSG SozR 4100 § 107 Nr 4 S 4; BSGE 63, 120, 131 = SozR 4100 § 138 Nr 17 S 92; BSGE 25, 150, 151; BSGE 43, 128, 129 = SozR 4100 § 100 Nr 1 S 1; vgl auch Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl 1983, S 39, 197 f), die hier - wie soeben im Einzelnen unter 2 b) dargestellt - gerade nicht vorliegt.

39

Insbesondere verstößt § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII nicht gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG. Es liegt weder eine willkürliche Regelung noch eine ungerechtfertigte Nichtbeachtung, geschweige denn eine unverhältnismäßige, von sachlichen Unterschieden zwischen beiden Personengruppen vor.

40

§ 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII soll - wie oben unter 1. ausgeführt - bei Schülern und Auszubildenden einen typisierenden zusätzlichen Folgeschaden des Versicherungsfalls ausgleichen, nämlich die Tatsache, dass eine Ausbildung nach dem Versicherungsfall lediglich mit Verzögerungen oder überhaupt nicht beendet wurde. Dieser typisierte Schadensfall liegt bei dem Kläger und der von ihm repräsentierten Fallgruppe aber gerade nicht vor, weil die Ausbildung fristgerecht beendet wurde. Solche Versicherte haben daher, in der typisierenden Betrachtung des Gesetzes, keine weiteren (hypothetischen) Nachteile wegen des Versicherungsfalls erlitten. Zwischen den beiden Gruppen - privilegierte Verletzte mit verzögertem oder ausgefallenem Ausbildungsabschluss und typisiert unterstelltem Verzögerungsschaden einerseits und nicht durch § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII privilegierte Verletzte mit fristgerechtem Ausbildungsabschluss - bestehen daher gerade sachliche Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht(vgl BVerfGE 55, 72, 88; 84, 133, 157; 84, 197, 199; 85, 238, 244; 87, 1, 36; 95, 39, 45), dass sie vielmehr eine Ungleichbehandlung beider Gruppen im Lichte des Art 3 Abs 1 GG geradezu geboten erscheinen lassen. Denn andernfalls würde bei einem erfolgreichen Ausbildungsabschluss ein (hypothetischer) "Verzögerungsschaden" ersetzt, der tatsächlich überhaupt nicht vorliegt. Dadurch käme es wohl zu einer verfassungswidrigen Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem.

41

Soweit sich der Senat in der Entscheidung vom 7.11.2000 (aaO) ergänzend auf frühere Entscheidungen des BSG zur anders formulierten Vorgängerregelung des § 573 RVO berufen hat(Urteil vom 15.6.1983 - 9b/8 RU 58/81, SozR 2200 § 573 Nr 11; sowie Urteil vom 5.8.1993 - 2 RU 24/92 - SozR 3-2200 § 573 Nr 2), kann im Übrigen dahinstehen, inwieweit § 573 RVO einer entsprechenden Analogie tatsächlich zugänglich gewesen ist. Denn erst durch das UVEG vom 7.8.1996 (BGBl I 1254) ist das soeben umrissene stimmige Konzept auch deutlich formuliert worden.

42

Da der Kläger durch die angefochtene Höchstwertfestsetzung bereits mehr erhielt, als ihm nach dem Gesetz zusteht, konnte sein Begehren auf noch höhere Rente keinen Erfolg haben.

43

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

Das Bundessozialgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

(1) Ist der Versicherungsfall vor Vollendung des 30. Lebensjahres eingetreten, wird, wenn es für die Versicherten günstiger ist, der Jahresarbeitsverdienst mit Vollendung des 30. Lebensjahres auf 100 Prozent der zu diesem Zeitpunkt maßgebenden Bezugsgröße neu festgesetzt. Wurde die Hochschul- oder Fachhochschulreife erworben, tritt an die Stelle des Wertes 100 Prozent der Wert 120 Prozent der Bezugsgröße.

(2) Der Jahresarbeitsverdienst wird mit Vollendung der in § 85 genannten weiteren Lebensjahre entsprechend dem Prozentsatz der zu diesen Zeitpunkten maßgebenden Bezugsgröße neu festgesetzt.

(3) In den Fällen des § 82 Absatz 2 Satz 2 sind die Absätze 1 und 2 entsprechend anzuwenden.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 31. März 2011 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt höhere Verletztenrente auf Grund eines höheren zu berücksichtigenden Jahresarbeitsverdienstes (JAV).

2

Der 1978 geborene Kläger wurde im Jahre 1986 auf dem Heimweg von der Schule von einem Lkw angefahren und zog sich erhebliche Verletzungen zu. Der Rechtsvorgänger der Beklagten (der Rheinische GUV) erkannte den Unfall in einem Bescheid vom 22.7.1988 als Arbeitsunfall an und stellte in dem Bescheid vom 31.1.1994 sein Recht auf Verletztenrente nach einer MdE von 90 vH fest. Dessen Jahreswert ergab sich aus dem Produkt aus dieser MdE und dem JAV. Als JAV wurden der Rentenberechnung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Klägers 40 vH und danach 60 vH (Bescheid vom 12.7.1996) der im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls maßgebenden Bezugsgröße zu Grunde gelegt.

3

Am 1.7.1997 begann der damals 19jährige Kläger bei der J. GmbH eine Ausbildung zum Fachinformatiker - Fachrichtung Anwendungsentwicklung, die er am 15.6.2000 erfolgreich abschloss. Nach dem Ende der Ausbildung schied er aus dem Unternehmen aus und nahm ein Informatikstudium auf.

4

In dem Bescheid vom 4.6.2004 stellte der Rheinische GUV fest, dem Kläger stehe ab 1.7.2000 höhere Verletztenrente zu. Dies ergebe sich aus einem höheren JAV, der gemäß § 90 Abs 1 SGB VII ab dem 16.6.2000, dem Tag nach Beendigung seiner Ausbildung, auf 21 381,09 EUR festgesetzt werde. Zur Begründung wird ausgeführt, die Neuberechnung des JAV erfolge auf Grundlage des Verdienstes eines Datenverarbeitungskaufmanns - Fachrichtung Fachinformatiker. Mit dem Widerspruch machte der Kläger geltend, die zur Ermittlung des JAV zu Grunde gelegte Berufsbezeichnung entspreche nicht dem von ihm erreichten Abschluss als "Fachinformatiker - Anwendungsentwicklung". Mit Widerspruchsbescheid vom 13.2.2008 wies die Beklagte als Rechtsnachfolgerin des Rheinischen GUV den Widerspruch des Klägers zurück.

5

Mit der Klage zum SG hat der Kläger weiterhin vorgetragen, er habe keine Ausbildung zum Datenverarbeitungskaufmann im Einzelhandel, sondern eine Ausbildung zum Fachinformatiker mit der Fachrichtung Anwendungsentwicklung absolviert, weshalb von dem ortsüblichen Entgelt eines Fachinformatikers auf dem Gebiet der Anwendungsentwicklung auszugehen sei. Angesichts der mit der Note "gut" abgeschlossenen Ausbildung sei ein JAV von mindestens 30 000,00 EUR angemessen.

6

Mit Urteil vom 31.3.2009 hat das SG die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Berechnung der Verletztenrente des Klägers einen anderen JAV unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu Grunde zu legen und ihm hierüber einen neuen Bescheid zu erteilen. Nach § 90 Abs 1 SGB VII sei ein anderer JAV zu Grunde zu legen, weil dieser an dem Entgelt in dem durch die Ausbildung angestrebten Beruf auszurichten sei.

7

Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten am 31.3.2011 das Urteil des SG "geändert" und die Klage abgewiesen. Der JAV sei hier ab dem Tag nach dem Ende der Ausbildung des Klägers und damit ab 16.6.2000 neu festzusetzen gewesen. Es sei nach § 90 Abs 1 Satz 2 SGB VII der Tarifvertrag des Ausbildungsbetriebs zu Grunde zu legen. Habe - wie hier - ein zum Ausbildungsziel führendes Ausbildungsverhältnis nach dem Berufsbildungsgesetz zwischen dem Versicherten und einem Ausbildungsbetrieb bestanden, sei der für dieses Unternehmen seiner Art nach am Stichtag, dh dem Tag nach dem Ende der Ausbildung, geltende Tarifvertrag maßgeblich. Denn maßgebend sei nicht der berufsspezifische, sondern der branchenspezifische Tarifvertrag, der für das Unternehmen generell in Betracht komme. Hierauf sei auch dann abzustellen, wenn der Versicherte nach dem Ausbildungsende aus dem Unternehmen ausscheide, um ein Studium aufzunehmen. Dabei komme es auch nicht darauf an, ob der Versicherte im Ausbildungsunternehmen eine seiner Ausbildung entsprechende Tätigkeit hätte aufnehmen können. Für die ausnahmslose Anknüpfung an den für das Ausbildungsunternehmen seiner Art nach geltenden Tarifvertrag spreche insbesondere der Sinn und Zweck des § 90 SGB VII.

8

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner vom LSG zugelassenen Revision. Er rügt eine Verletzung des § 90 Abs 1 SGB VII. Der Gesetzeswortlaut stelle ausdrücklich darauf ab, dass der Tarifvertrag für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters zu Grunde zu legen sei. Es sei kein gesetzlicher Anhalt dafür ersichtlich, dass an die wirtschaftliche Ausrichtung des Ausbildungsbetriebs angeknüpft werden könne. Er habe stets unwidersprochen vorgetragen, dass er im technischen und gerade nicht im kaufmännischen Bereich ausgebildet worden sei.

9

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 31. März 2011 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 31. März 2009 zurückzuweisen.

10

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

11

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend das Urteil des SG aufgehoben und (sinngemäß) die gemäß § 54 Abs 4 SGG zulässige Kombination aus zulässiger Anfechtungs- und zulässiger (unechter) Leistungsklage abgewiesen. Der Kläger hat ab dem 1.7.2000 keinen Anspruch auf Feststellung eines noch höheren Werts seines Rechts auf Verletztenrente, als ihm die Beklagte in dem Bescheid vom 4.6.2004 (Widerspruchsbescheid vom 13.2.2008) nach Aufhebung des bis dahin festgestellten niedrigeren Werts insoweit unangefochten neu zuerkannt hatte. Dem Kläger stand kein Anspruch auf höhere Rente unter "Festsetzung" eines höheren JAV nach § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII zu, weil er die Ausbildung planmäßig und ohne Verzögerung beendet hatte (hierzu unter 1.). Eine analoge Anwendung des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII auf Fallgestaltungen wie die vorliegende scheidet aus, weil § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII insofern keine Lücke aufweist (vgl unter 2.).

12

Ein höherer Rentenanspruch hätte für den Kläger gemäß § 56 Abs 3 SGB VII ab dem 1.7.2000 nur bestehen können, wenn ein noch höherer JAV, der zweite Wertfaktor der Rentenhöhe neben seiner unveränderten MdE von 90 vH, rechtlich maßgeblich geworden (= "neu festzusetzen" gewesen) wäre. Obwohl der Versicherungsfall schon 1986, also vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1.1.1997, eintrat, war dies hier gemäß § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII nach § 90 Abs 1 SGB VII zu beurteilen. Danach wird, wenn der Versicherungsfall ua während der Schulausbildung, wie hier, eingetreten ist, falls dies für den Versicherten günstiger ist, der nach § 90 Abs 1 Satz 2 SGB VII aus Tarifvertrag, hilfsweise aus dem am Betriebsort geltenden Arbeitsentgelt zu ermittelnde neue JAV von dem Zeitpunkt an rechtlich maßgeblich, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre.

13

1. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII waren nicht erfüllt. Zwar hatte der Kläger seine Berufsausbildung am 1.7.1997 begonnen. Er hatte sie aber am 15.6.2000 erfolgreich und ohne Verzögerung abgeschlossen.

14

§ 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII bestimmt, dass dann, wenn der Versicherungsfall vor Beginn der Schulausbildung oder während einer Schul- oder Berufsausbildung eintritt, der JAV, wenn es für den Versicherten günstiger ist, von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt wird, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre. § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII gewährt einen neuen höheren JAV als den im Zeitpunkt des Versicherungsfalls maßgeblich gewordenen Ausgangs-JAV mithin nur, wenn die Ausbildung nicht oder verzögert abgeschlossen wurde. Es heißt in der Norm ausdrücklich nicht, dass der JAV von dem Zeitpunkt an neu festzusetzen ist, in dem die Ausbildung "beendet wurde oder" ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre. Die Vorschrift setzt damit als Zeitpunkt für die Neufestsetzung des JAV einen fiktiven Zeitpunkt fest, nämlich den, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre.

15

Der Regelung des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII liegt wegen des hypothetisch formulierten Wortlautes ("voraussichtlich beendet worden wäre") und nicht zuletzt auch auf Grund der Überschrift der Norm ("Neufestsetzung nach voraussichtlicher Schul- oder Berufsausbildung oder Altersstufen") der typisierende Gedanke zu Grunde, dass der zuvor erlittene Versicherungsfall der Grund dafür ist, dass die Ausbildung später als vorgesehen oder überhaupt nicht abgeschlossen wurde. Für eine solche Sichtweise spricht im Übrigen auch § 90 Abs 4 SGB VII, der § 90 Abs 1 SGB VII ergänzt. Danach wird für den Fall, dass sich bei Eintritt des Versicherungsfalls vor Beginn der Berufsausbildung auch unter Berücksichtigung der weiteren Schul- oder Berufsausbildung nicht feststellen lässt, welches Ausbildungsziel die Versicherten voraussichtlich erreicht hätten, ein bestimmter näher bezeichneter Wert des JAV festgelegt. Eine solche Unmöglichkeit der Feststellung ist indes aber nur für Fälle denkbar, in denen die Berufsausbildung nicht plangemäß abgeschlossen wurde, in denen also eine fiktive Betrachtungsweise erforderlich ist.

16

Für eine strikte Begrenzung der Regelung des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII auf die Fälle der verzögerten oder nicht beendeten Ausbildung spricht auch die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Norm. In der Gesetzesbegründung der Bundesregierung zum Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz ) vom 7.8.1996 (BGBl I 1254) heißt es, die Vorschrift enthalte eine Neuregelung über eine pauschalierte, an der Bezugsgröße orientierte Neufestsetzung des JAV für bestimmte Unfälle im Kindesalter. In der Verwaltungspraxis und in der Rechtsprechung hätten sich bei der Anwendung des § 573 RVO dann Feststellungsschwierigkeiten ergeben, wenn sich der Versicherungsfall im frühen Lebensalter ereignet habe und sich weder aus der Zeit vor dem Versicherungsfall noch aus dem weiteren Werdegang des Kindes nach dem Versicherungsfall ausreichende Anhaltspunkte über dashypothetische Ausbildungsziel (ohne den Unfall) herleiten ließen (BT-Drucks 13/2204, S 96).

17

Auch die Vorgängervorschriften des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII enthielten - in unterschiedlicher Ausprägung - jeweils hypothetische (typisierende) Elemente. Der Grundsatz, dass bei der Rentenberechnung von den Einkommensverhältnissen des Verletzten während des letzten Jahres vor dem Arbeitsunfall auszugehen ist, gilt seit dem Unfallversicherungsgesetz vom 6.7.1884 (RGBl S 69). Als Ergänzung war geregelt, dass zugunsten des Verletzten für das letzte Jahr vor dem Arbeitsunfall ein (fiktiver) Arbeitsverdienst anzunehmen ist, wenn der Verletzte vor dem Unfall noch kein volles Jahr in dem Betrieb beschäftigt war oder keinen Lohn oder weniger als das 300fache des ortsüblichen Tagelohns bezogen hatte (vgl etwa § 5 Abs 3 bis 5 des Unfallversicherungsgesetzes vom 6.7.1884, § 10 des Gewerbeunfallversicherungsgesetzes vom 5.7.1900 - RGBl S 573, 585 - und §§ 563 ff RVO vom 19.7.1911 - RGBl S 509). Ein hypothetisch-typisierendes Element enthielt dann die mit Art 11 des Dritten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 20.12.1928 (RGBl I 405) für Versicherte, die im Feuerwehrdienst oder in Betrieben zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen beschäftigt sind, neu eingefügte Sondervorschrift des § 569b RVO, dessen Abs 3 folgenden Wortlaut hatte: "War der Verletzte zur Zeit des Unfalls noch in seiner Berufs- oder Schulausbildung begriffen, so ist für die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes ein Erwerbseinkommen zu Grunde zu legen, wie es der Verletzte nach Vollendung seiner Ausbildung gehabt haben würde".

18

Auch in dem mit Art 1 Nr 1 des Sechsten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9.3.1942 (RGBl I 107) neu eingefügten § 565 RVO wird auf einen fiktiven Gesichtspunkt abgestellt. Dessen Abs 1 lautete wie folgt: "Befand sich der Verletzte zur Zeit des Unfalls noch in einer Berufs- oder Schulausbildung, so wird von dem Zeitpunkt ab, in welchem die begonnene Ausbildung voraussichtlich abgeschlossen worden wäre, der Jahresarbeitsverdienst nach dem Entgelt berechnet, der dann für Personen gleicher Ausbildung durch Tarif oder sonst allgemein für einzelne Berufsjahre festgesetzt ist; hierbei sind Verdiensterhöhungen, die von der Erreichung eines bestimmten Lebens- oder Berufsjahres ab allgemein festgesetzt sind, die der Verletzte aber voraussichtlich erst nach Vollendung seines dreißigsten Lebensjahres erreicht hätte, nicht zu berücksichtigen."

19

Der durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung (Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz ) vom 30.4.1963 (BGBl I 241) geschaffene § 573 RVO ist die unmittelbare Vorgängerregelung des § 90 SGB VII und war in seinem Abs 1 wie folgt formuliert: "Befand sich der Verletzte zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in einer Schul- oder Berufsausbildung, so wird, wenn es für den Versicherten günstiger ist, der Jahresarbeitsverdienst für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung neu berechnet". Wenngleich das hypothetische Element in dieser Vorschrift mit dem Wort "voraussichtlich" nicht mehr so deutlich in Erscheinung tritt wie in § 565 RVO, waren inhaltliche Änderungen nicht beabsichtigt. Denn in der Begründung zum Entwurf des UVNG heißt es zur Regelung des § 573 RVO(§ 574 RVO in der Entwurfsfassung, BT-Drucks IV/120, S 11, 57): "Auch für Jugendliche und in der Ausbildung befindliche Verletzte sieht bereits § 565 RVO einen Ausgleich für Mindereinnahmen vor. Diese Regelung wird in § 574 beibehalten."

20

Aus diesen Vorgängervorschriften des § 90 SGB VII(vgl zur Entwicklung seit 1884 bis zur Schaffung des § 573 RVO auch: Windelen, SGb 1970, 408) und dem der heutigen Fassung des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII jeweils ähnlichen bzw sogar gleich lautenden Wortlaut, sowie aus dem Umstand, dass sich Anhaltspunkte für eine andere Sichtweise aus allen angeführten Gesetzgebungsmaterialien nicht entnehmen lassen, folgt, dass von § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII jedenfalls nicht diejenigen Fallgestaltungen erfasst werden sollen, in denen die Ausbildung infolge des Arbeitsunfalls weder abgebrochen worden ist noch sie sich verzögert hat(vgl auch BSG, Urteil vom 7.11.2000 - B 2 U 31/99 R - Juris RdNr 20, SozR 3-2700 § 90 Nr 1; Merten in: Eichenhofer/Wenner, SGB VII, 1. Aufl 2010, § 90 RdNr 27).

21

In § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII wurde mithin nur die Voraussetzung in das Gesetz aufgenommen, dass die Ausbildung sich verzögert hatte oder ggf aus sonstigen Gründen nicht beendet wurde. Denn nur in solchen Fällen wurde durch den ursprünglichen Versicherungsfall in abstrakter, typisierender Wertung, also nicht als tatbestandliche Voraussetzung im Einzelfall, ein weiterer Schaden verursacht. Nur dieser (typisierend angenommene) zusätzliche Folgeschaden des Versicherungsfalls rechtfertigt ausnahmsweise eine Ersetzung des Ausgangs-JAV durch einen neuen (günstigeren) JAV. Für diesen ist das hypothetische Arbeitsentgelt bestimmend, das in einem Tarifvertrag oder hilfsweise am Beschäftigungsort üblicherweise in dem Zeitpunkt der voraussichtlichen (aber eben nicht eingetretenen) Beendigung der Ausbildung für Personen gleicher Ausbildung und Alters vorgesehen ist (und ohne den Ausfall oder die Verzögerung des Ausbildungsabschlusses bei Beendigung der Ausbildung typischerweise voraussichtlich erzielt worden wäre). Die Verletzten, die ihre Ausbildung rechtzeitig beenden, haben typischerweise zu diesem Zeitpunkt keinen weiteren Nachteil, weil sie entsprechend höher entlohnt werden.

22

Sachgrund für diese gesetzliche, also materiell-rechtlich direkt eintretende Änderung der abstrakten Schadensbewertung des Ausgangs-JAV ist, dass es unbillig wäre, solche jungen Verletzten trotz des weiteren Folgeschadens an diesem JAV festzuhalten. Damit durchbricht diese Ausnahmeregelung, wie alle in § 90 SGB VII geregelten Ausnahmen, materiell-rechtlich den gesetzlichen Grundsatz, dass der im Zeitpunkt des Versicherungsfalls maßgebliche Ausgangs-JAV für die gesamte Zeit, für die das Recht besteht, maßgeblich bleibt. Dieser Sachgrund der Norm spricht im Übrigen dagegen, dass die Norm aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 3 Abs 1 GG) zugunsten von Verletzten mit zeitgerechtem Ausbildungsabschluss korrigiert werden müsste (vgl hierzu im Einzelnen unten 2. c).

23

2. Das Begehren des Klägers hätte daher nur Erfolg haben können, wenn § 90 Abs 1 SGB VII analog anzuwenden gewesen wäre und dies einen noch höheren neuen JAV ergeben hätte, als von der Beklagten in den angefochtenen Bescheiden vom 4.6.2004/13.2.2008 zu Grunde gelegt wurde. § 90 Abs 1 SGB VII ist aber auf Verletzte, die ihre Ausbildung zeitgerecht abgeschlossen haben, nicht entsprechend anzuwenden.

24

a) Die Voraussetzungen für eine Analogie, nach der sich die Anwendung der Vorschrift des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII auch auf die Fallgestaltungen erstrecken würde, in denen die Ausbildung plangemäß abgeschlossen worden ist, sind jedoch nicht gegeben. Diese Voraussetzungen lägen nur dann vor, wenn 1. eine (anfängliche oder nachträgliche) Gesetzeslücke besteht, 2. der nicht geregelte Tatbestand dem gesetzlich festgelegten ähnlich ist und 3. beide Tatbestände wegen ihrer Ähnlichkeit gleich zu bewerten sind (vgl BSG, Urteil vom 4.5.1999 - B 4 RA 55/98 R, SozR 3-2600 § 34 Nr 1 unter Verweis auf BSG SozR 4100 § 107 Nr 4 S 4 f; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl 1995, S 202 ff).

25

b) Es fehlt hier bereits an der ersten Voraussetzung einer zulässigen Analogie, dem Vorliegen einer Gesetzeslücke, die durch richterliche Rechtsfortbildung geschlossen werden könnte, denn die Regelung des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII enthält keine planwidrige Unvollständigkeit. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das Gesetz den Kreis derjenigen, die bei typisierender Bewertung ihrer Schutzbedürftigkeit ausnahmsweise nicht weiter der Regelberechnung des JAV unterliegen, nur unvollständig erfasst hätte (vgl zu diesem Gesichtspunkt bei der Beitragspflicht zur Arbeitslosenversicherung von beurlaubten Berufssoldaten BSG, Urteil vom 29.7.2003 - B 12 KR 15/02 R, Juris RdNr 21, SozR 4-4100 § 169 Nr 1). Vielmehr erfasst das Gesetz im Rahmen der Neufeststellungsansprüche Fallgestaltungen, für die der Gesetzgeber typisierend davon ausgeht, dass es unbillig ist, für die Gewährung der Verletztenrente das tatsächliche Arbeitseinkommen der jeweils erfassten Personenkreise bei der Ermittlung des JAV zu Grunde zu legen. Insofern liegt dem § 90 SGB VII(iVm den §§ 82 ff SGB VII) ein stimmiges Konzept zu Grunde.

26

aa) § 90 Abs 1 SGB VII entspricht - wie bereits oben zu 1. dargestellt - im Wesentlichen dem am 1.1.1997 außer Kraft getretenen § 573 Abs 1 RVO(vgl Begründung zu Art 1 § 90 des Entwurfs eines UVEG, BT-Drucks 13/2204 S 96), der seinerseits mit Wirkung vom 1.7.1963 durch Art 1 des UVNG vom 30.4.1963 (BGBl I 241) in die damals neugefasste RVO übernommen wurde und dem der in wesentlichen Teilen inhaltsgleiche § 565 RVO vorausging, der durch das Sechste Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9.3.1942 (RGBl I 107) in die RVO eingefügt worden war.

27

Nach der bereits dargestellten Zweckbestimmung des § 90 Abs 1 SGB VII sollen - ebenso wie bei den genannten Vorgängervorschriften - Personen, die schon vor oder während der Zeit der Ausbildung für einen Beruf einen Arbeitsunfall erleiden und deshalb im Jahre vor dem Unfall regelmäßig noch nicht das volle Arbeitsentgelt erzielt haben, zur Vermeidung von Härten geschützt und so gestellt werden, als hätten sie den Unfall nach der voraussichtlichen Beendigung der Berufsausbildung - bei höherem JAV - erlitten(vgl BSG, Urteil vom 7.11.2000 - B 2 U 31/99 R, Juris RdNr 17, SozR 3-2700 § 90 Nr 1 unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 4.12.1991 - 2 RU 69/90, HV-Info 1992, 598 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 90 RdNr 2, Stand: 01/2007; Merten in: Eichenhofer/Wenner, SGB VII, 1. Aufl 2010, § 90 RdNr 4). Die zum Unfall führende Tätigkeit muss bei in Ausbildung stehenden Versicherten kein Teil der Ausbildung sein. Insoweit muss also kein innerer Zusammenhang zwischen der Schul- oder Berufsausbildung und der zum Unfall führenden Verrichtung gegeben sein; vielmehr genügt der zeitliche Zusammenhang mit der Ausbildung (BSGE 38, 216, 218, 219 = SozR 2200 § 573 Nr 2; BSGE 47, 137, 140 = SozR 2200 § 573 Nr 9; BSG, Urteil vom 24.6.1981 - 2 RU 11/80 - EzS 128/79; Ricke in: Kasseler Kommentar, § 90 SGB VII RdNr 4, Stand: Dezember 2010; Keller in: Hauck/Noftz, SGB VII, K § 90 RdNr 4, Stand: März 2012).

28

Die in § 90 SGB VII normierten Neufestsetzungsansprüche regeln dabei im Einzelnen, weshalb eine notwendigerweise vorangehende Erstfeststellung der Höhe der Rente wegen eines nachträglich gemäß § 90 SGB VII erheblich gewordenen hypothetischen Umstandes, der zu einem günstigeren JAV zu einem späteren Zeitpunkt führte, nach Maßgabe des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X aufgehoben und ein höherer Rentenwert neu festgesetzt werden muss, worauf der Versicherte ggf einen Anspruch hat.

29

bb) Grundsätzlich wird durch die gesetzliche Unfallversicherung mittels der (hier umstrittenen) Verletztenrente (anteilig nach dem MdE-Grad) das durch den Versicherungsfall abstrakt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im weiteren Leben (möglicherweise) nicht mehr erzielbare Gesamteinkommen ersetzt. Deshalb wird zu dessen Schätzung im Rahmen der §§ 82 ff SGB VII grundsätzlich auf das Gesamteinkommen des letzten Kalenderjahres vor dem Versicherungsfall abgestellt, weil dies auch in der gesetzlichen Unfallversicherung zumeist eine hinreichende Beurteilungsgrundlage für das wirtschaftliche Ergebnis bildet, das der Verletzte ohne den Versicherungsfall voraussichtlich (weiterhin) erlangt hätte.

30

Dies geschieht aber schon bei der Erstfeststellung nicht schematisch, sondern mit Blick auf die Frage, ob und inwieweit die Entwicklung in diesem Jahr den wirtschaftlichen Standard wiedergibt, wie er ohne den Versicherungsfall fortbestanden hätte.

31

Im Rahmen der Regelberechnung regelt das Gesetz ab § 82 Abs 1 Satz 2 SGB VII bis § 86 sowie in § 88 SGB VII im Einzelnen Fallgruppen, in denen ua die Regelberechnung aus § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII keine gerechte oder billige Grundlage für die Schätzung des Entgangenen bildet. Soweit die Grundregelung und diese speziellen gesetzlichen Regelungen gleichwohl zu einem im Einzelfall erheblich unbilligen Ergebnis führen, sieht § 87 SGB VII subsidiär für die meisten von ihnen eine Einzelfall-Schätzung des JAV nach billigem Ermessen vor.

32

Schon bei der Erstfestsetzung der Rentenhöhe werden zur Schätzung des JAV ua nach § 82 Abs 2 Satz 2 und Satz 3 sowie § 82 Abs 4 SGB VII Hypothesen über den ohne den Versicherungsfall fortgesetzten oder erstmals eingetretenen Einkommensverlauf relevant. Schon hier hat das Gesetz die besondere Problematik der Regelberechnung für Berufsanfänger speziell aufgegriffen. Insbesondere § 82 Abs 2 Satz 3 SGB VII zeigt, dass die Erstschätzung des JAV vom Gesetz dann für möglicherweise "unangemessen" gehalten wird, wenn der Versicherungsfall binnen einen Jahres nach Abschluss der Berufsausbildung eintritt. Dann kann es unbillig sein, den Versicherten an einer ungünstigen Regelberechnung nach dem letzten Kalenderjahr vor dem Versicherungsfall festzuhalten, weil das keine angemessene Basis für die Schätzung ist, was er ohne den Versicherungsfall erlangt hätte.

33

cc) Gerade bei Kindern und Jugendlichen kann die Regelberechnung der Erstfeststellung allerdings grob unangemessen werden, wenn unberücksichtigt bleibt, dass ihr danach vermutlich fortgesetztes Gesamteinkommen (JAV der Erstfeststellung) unter Umständen nicht das wiedergibt, was sie im späteren Leben ohne den Versicherungsfall voraussichtlich als Einkommen zur Lebensführung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt abstrakt hätten erlangen können. Dann würde schon abstrakt nicht hinreichend beachtet, welche Einbußen der Versicherungsfall zur Folge hatte.

34

Der Gesetzgeber hat diese Problematik in § 90 Abs 1 bis § 90 Abs 6 SGB VII typisierend geregelt. Alle Absätze der Vorschrift regeln Ansprüche auf Neufestsetzung der Höhe von Versicherungsleistungen (also Aufhebung des Höchstwerts der bisherigen Wertfestsetzung des Rechts auf Leistung und Feststellung eines höheren Werts), die von einem zuvor bereits festgestellten, dh als maßgeblich zu Grunde gelegten JAV abhängen. Gemeinsame Voraussetzung ist, dass zeitlich danach ein Ereignis (in hypothetischer und typisierender Beurteilung wegen des Versicherungsfalls) nicht oder verspätet eingetreten ist, das ein höheres Gesamteinkommen/Arbeitsentgelt erbracht hätte als es bei der Erstfestsetzung des JAV zu Grunde gelegt worden ist.

35

Den einzelnen Absätzen des § 90 SGB VII liegt damit das folgende stimmige Konzept zu Grunde:

-       

§ 90 Abs 1 SGB VII regelt zunächst Folgendes: Tritt der Versicherungsfall vor oder während der Schul- oder Berufsausbildung ein und ist der Höchstwert des Rechts auf Leistung bereits wirksam festgestellt, ist dieser aufzuheben und ein höherer Wert neu festzustellen, falls der JAV für den Versicherten günstiger ist, der sich nach Maßgabe von § 90 Abs 1 Satz 2 SGB VII für den Tag ergibt, an dem der Versicherte seine Ausbildung voraussichtlich beendet hätte. Hat er sie an diesem Tag beendet, gibt es keinen Raum für eine hypothetische Prüfung. Auch ist ihm, der seine Ausbildung pünktlich abgeschlossen hat, in der für das Gesetz erlaubten typisierenden Betrachtung kein weiterer Nachteil aus dem Versicherungsfall entstanden, weil er typischerweise nicht durch den Versicherungsfall gehindert ist, ein dem Tarifentgelt des § 90 Abs 1 Satz 2 SGB VII entsprechendes Gesamteinkommen zu erzielen.

-       

Ist hingegen der Versicherungsfall vor der Berufsausbildung eingetreten und die Erstfeststellung des Höchstwerts der Versicherungsleistung wirksam festgestellt worden und vollendet der Versicherte das 21. Lebensjahr (oder später das 25. Lebensjahr) und lässt sich nicht feststellen, welches Ausbildungsziel der Versicherte ohne den Versicherungsfall voraussichtlich erreicht hätte, ist der JAV ab diesem Tag mit 75 vH der Bezugsgröße (später 100 vH) anzusetzen (§ 90 Abs 1 iVm § 90 Abs 4 SGB VII).

-       

§ 90 Abs 2 SGB VII erfasst dann die Fälle, in denen nach der Erstfeststellung bei unter dreißigjährigen Versicherten diese vor Vollendung des 30. Lebensjahres an tarifvertraglichen oder ortsüblichen Erhöhungen des Arbeitsentgelts nicht teilgenommen haben, die zur Zeit des Versicherungsfalls für Personen mit gleichartiger Tätigkeit für den späteren Fall vorgesehen waren, dass sie ein bestimmtes Berufsjahr erreicht oder ein bestimmtes Lebensjahr vollendet hatten. Ihnen ist in der gesetzlichen typisierenden Betrachtung regelmäßig wegen des Versicherungsfalls die Entgelterhöhung entgangen. Wenn diese einen günstigeren JAV brächte, besteht ein Neufeststellungsanspruch.

-       

Hat in den Fällen von § 90 Abs 1 oder Abs 2 SGB VII der Versicherungsfall eine Erwerbstätigkeit unmöglich gemacht, entsteht gemäß § 90 Abs 3 SGB VII, falls es günstiger ist, ein Neufeststellungsanspruch jeweils und sogar über das 30. Lebensjahr hinaus, falls zur Zeit des Versicherungsfalls tarifvertraglich oder ortsüblich spätere Entgelterhöhungen nach Lebensalter, Berufsjahren oder Ablauf von Bewährungszeiten vorgesehen sind und diese Voraussetzungen erfüllt werden.

-       

Unter Berücksichtigung des § 90 Abs 5 und des § 90 Abs 6 SGB VII sowie insbesondere auch der subsidiären Billigkeitsregelung in § 91 SGB VII mit der nochmals subsidiären Neufeststellung nach billigem Ermessen ergibt sich damit ein stimmiges Konzept, das typisierend Fallgestaltungen regelt, in denen das Gesetz typische Fälle erfasst, in denen davon ausgegangen werden kann, dass das eigentlich nach der Regelberechnung der §§ 82 ff SGB VII zu Grunde zu legende Arbeitseinkommen als unbillig erscheint. Dementsprechend ist es auch nicht gesetzesplanwidrig, dass eine Neufeststellung dann nicht beansprucht werden kann, wenn aus dem Versicherungsfall (typisch gesehen) kein durch den Versicherungsfall bedingter weiterer Einkommensnachteil eingetreten ist, der von der Regelberechnung nicht erfasst wäre.

-       

Im Übrigen wird selbst bei denjenigen, die lediglich von der Regelberechnung erfasst werden und keinen Anspruch auf Neufeststellung nach § 90 SGB VII haben, im Falle eines besonders niedrigen Erwerbseinkommens im letzten Jahr vor dem Versicherungsfall in jedem Fall entweder der Mindest-JAV des § 85 SGB VII oder - bei Kindern, die das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben - ein besonders gesetzlich festgelegter JAV zu Grunde gelegt (§ 86 SGB VII).

36

Wenn danach ein stimmiges Konzept für die Fallgestaltungen vorliegt, in denen es dem Gesetz unbillig erscheint, die jeweils erfassten Personenkreise an ihrem (zu niedrigen) JAV nach Maßgabe der Regelberechnung nach den §§ 82 ff SGB VII festzuhalten, liegt für die Fallgestaltungen, in denen die Ausbildung - wie hier - plangemäß abgeschlossen worden ist, keine ausfüll-bare Gesetzeslücke vor. Dementsprechend kann § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII auch nicht zu Gunsten des Klägers analog angewandt werden. Das BSG ist nicht dazu befugt, eine - wie oben ausgeführt - rechtlich vollständige, sozial- oder rechtspolitisch jedoch von einzelnen Personen oder Gruppen als defizitär empfundene Regelung fortbildend zu ergänzen und sich damit unter Verkennung seiner eigenen Bindung an Gesetz und Recht (Art 20 Abs 3 GG) in die Rolle einer normsetzenden Instanz zu begeben (so auch BSG, Urteil vom 29.7.2003 - B 12 KR 15/02 R, Juris RdNr 22, SozR 4-4100 § 169 Nr 1 unter Hinweis auf BVerfGE 34, 269, 290; 65, 182, 194; 82, 6, 11 ff; 87, 273, 280; ferner BVerfGE 96, 375, 394 f; 113, 88, 103).

37

c) Die entgegenstehenden, damals nicht tragenden und nicht näher begründeten Ausführungen in der zu § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII ergangenen Entscheidung des Senats vom 7.11.2000 - B 2 U 31/99 R - (SozR 3-2700 § 90 Nr 1; vgl zuvor zu § 573 RVO: BSG, Urteil vom 15.6.1983 - 9b/8 RU 58/81 - SozR 2200 § 573 Nr 11) können demgemäß nicht aufrechterhalten bleiben, zumal die Voraussetzungen der Analogie dort nicht geprüft worden sind. Gleiches gilt für die eine solche Analogie befürwortenden Stimmen in der Literatur, die sich - soweit ersichtlich - nicht mit den rechtssystematischen Voraussetzungen der Analogiefähigkeit des § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII auseinandersetzen und lediglich die Entscheidung des BSG vom 7.11.2000 (aaO) zustimmend zitieren (vgl etwa Ricke in Kasseler Kommentar, § 90 SGB VII, RdNr 5, Stand: Dezember 2010; Keller in: Hauck/Noftz, SGB VII, K § 90 RdNr 9a, Stand: März 2012; Burchardt in: Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky, SGB VII, § 90 RdNr 18a, Stand: März 2007; Rütenik in: juris-PK SGB VII, 1. Aufl 2009, § 90 RdNr 42; Dahm in: Lauterbach, UV , § 90 RdNr 18, Stand: Oktober 2006; Becker in: Lehr- und Praxiskommentar, SGB VII, 3. Aufl 2011, § 90 RdNr 5; Merten in: Eichenhofer/Wenner, SGB VII, § 90 RdNr 27; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 90 SGB VII, RdNr 8.5, Stand 01/2007; Schmitt, SGB VII, 4. Aufl 2009, § 90 RdNr 7; Kater in: Kater/Leube, SGB VII, 1997, § 90 RdNr 27).

38

Die Methode der Analogie ist eine verfassungsrechtlich anerkannte Form der richterlichen Rechtsfortbildung (vgl zB BVerfGE 82, 6, 11 ff mwN). Sie ist allerdings von der dem Gesetzgeber vorbehaltenen Gesetzeskorrektur abzugrenzen. Die vom Verfassungsrecht gezogene Grenze verläuft im allgemeinen dort, wo die Gerichte ohne das Vorhandensein einer sich aus Systematik und Sinn des Gesetzes ergebenden Lücke allein unter Berufung auf allgemeine Rechtsprinzipien, die eine konkrete rechtliche Ableitung nicht zulassen, oder aus rechtspolitischen Erwägungen Neuregelungen oder Rechtsinstitute schaffen (BVerfGE 34, 269, 290; 65, 182, 194). Dem Gericht ist es grundsätzlich verwehrt, sich unter Verkennung seiner eigenen Bindung an Gesetz und Recht (Art 20 Abs 3 GG) aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz zu begeben (BVerfGE 82, 6, 11 ff; 87, 273, 280). Demgemäß darf richterliche Rechtsfortbildung im Wege der Analogie stets nur dann eingesetzt werden, wenn das Gericht auf Grund einer Betrachtung und Wertung des einfachen Gesetzesrechts eine Gesetzeslücke feststellt (vgl BVerfG FamRZ 1995, 1052, 1054). Eine derartige Lücke ist aber nicht bereits dann gegeben, wenn eine erwünschte Ausnahmeregelung fehlt oder eine gesetzliche Regelung aus sozial- oder rechtspolitischen Erwägungen als unbefriedigend empfunden wird (vgl BVerfG NJW 1992, 1219; BVerfGE 65, 182, 194). Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürfen die Gerichte diese - auch im Interesse der Rechtssicherheit für den einzelnen Bürger - nicht auf Grund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so ggf im Parlament gar nicht erreichbar war (vgl BVerfG FamRZ 1995, 1052, 1054; BVerfGE 82, 6, 12). So spricht die Entscheidung des BSG im zum alten Recht ergangenen Urteil vom 15.6.1983 (aaO, S 35) ohne nähere Gesetzesprüfung von einem "wenig einleuchtenden Ergebnis", das zu korrigieren sei. Eine solche Betrachtungsweise entspricht aber gerade nicht den strengen Voraussetzungen für die "Lücken"schließung durch Analogie. Eine Lücke im Gesetz liegt vielmehr nur dort vor, wo es eine Regelung weder ausdrücklich noch schlüssig getroffen hat und es deshalb nach dem Konzept des Gesetzes, dem "Gesetzesplan", unvollständig und damit ergänzungsbedürftig ist. Keine Gesetzeslücke liegt also vor, wenn die Nichtregelung einer vom Gesetz gewollten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände entspricht, seine richterliche Ergänzung also dem "Willen des Gesetzes" widerspricht. Es muss sich um eine dem Plan des Gesetzgebers widersprechende, also eine "planwidrige Unvollständigkeit" handeln (stRspr des BSG, vgl zB Urteil vom 25.2.2010 - B 10 LW 1/09 R - SozR 4-5868 § 13 Nr 5; Urteil des Senats vom 27.5.2008 - B 2 U 21/07 R, Juris RdNr 17, UV-Recht Aktuell 2008, 1162; Urteil vom 16.12.1997 - 4 RA 67/97 - SozR 3-2600 § 58 Nr 13 S 74 f; BSG SozR 4100 § 107 Nr 4 S 4; BSGE 63, 120, 131 = SozR 4100 § 138 Nr 17 S 92; BSGE 25, 150, 151; BSGE 43, 128, 129 = SozR 4100 § 100 Nr 1 S 1; vgl auch Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl 1983, S 39, 197 f), die hier - wie soeben im Einzelnen unter 2 b) dargestellt - gerade nicht vorliegt.

39

Insbesondere verstößt § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII nicht gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG. Es liegt weder eine willkürliche Regelung noch eine ungerechtfertigte Nichtbeachtung, geschweige denn eine unverhältnismäßige, von sachlichen Unterschieden zwischen beiden Personengruppen vor.

40

§ 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII soll - wie oben unter 1. ausgeführt - bei Schülern und Auszubildenden einen typisierenden zusätzlichen Folgeschaden des Versicherungsfalls ausgleichen, nämlich die Tatsache, dass eine Ausbildung nach dem Versicherungsfall lediglich mit Verzögerungen oder überhaupt nicht beendet wurde. Dieser typisierte Schadensfall liegt bei dem Kläger und der von ihm repräsentierten Fallgruppe aber gerade nicht vor, weil die Ausbildung fristgerecht beendet wurde. Solche Versicherte haben daher, in der typisierenden Betrachtung des Gesetzes, keine weiteren (hypothetischen) Nachteile wegen des Versicherungsfalls erlitten. Zwischen den beiden Gruppen - privilegierte Verletzte mit verzögertem oder ausgefallenem Ausbildungsabschluss und typisiert unterstelltem Verzögerungsschaden einerseits und nicht durch § 90 Abs 1 Satz 1 SGB VII privilegierte Verletzte mit fristgerechtem Ausbildungsabschluss - bestehen daher gerade sachliche Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht(vgl BVerfGE 55, 72, 88; 84, 133, 157; 84, 197, 199; 85, 238, 244; 87, 1, 36; 95, 39, 45), dass sie vielmehr eine Ungleichbehandlung beider Gruppen im Lichte des Art 3 Abs 1 GG geradezu geboten erscheinen lassen. Denn andernfalls würde bei einem erfolgreichen Ausbildungsabschluss ein (hypothetischer) "Verzögerungsschaden" ersetzt, der tatsächlich überhaupt nicht vorliegt. Dadurch käme es wohl zu einer verfassungswidrigen Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem.

41

Soweit sich der Senat in der Entscheidung vom 7.11.2000 (aaO) ergänzend auf frühere Entscheidungen des BSG zur anders formulierten Vorgängerregelung des § 573 RVO berufen hat(Urteil vom 15.6.1983 - 9b/8 RU 58/81, SozR 2200 § 573 Nr 11; sowie Urteil vom 5.8.1993 - 2 RU 24/92 - SozR 3-2200 § 573 Nr 2), kann im Übrigen dahinstehen, inwieweit § 573 RVO einer entsprechenden Analogie tatsächlich zugänglich gewesen ist. Denn erst durch das UVEG vom 7.8.1996 (BGBl I 1254) ist das soeben umrissene stimmige Konzept auch deutlich formuliert worden.

42

Da der Kläger durch die angefochtene Höchstwertfestsetzung bereits mehr erhielt, als ihm nach dem Gesetz zusteht, konnte sein Begehren auf noch höhere Rente keinen Erfolg haben.

43

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 23. Februar 2012 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung einer Halswirbelsäulenerkrankung als Wie-Berufskrankheit (BK) streitig.

2

Die 1947 geborene Klägerin leidet an Bandscheibenvorfällen im Bereich der Halswirbelsäule. Sie war im Anschluss an ihr abgeschlossenes Musikstudium von August 1970 bis Juli 1972 als Geigenlehrerin sowie von August 1972 bis Juli 1992, von September 1992 bis Dezember 1993 und von Mai 1994 bis Mai 1998 im Beitrittsgebiet als Geigerin in verschiedenen Orchestern tätig.

3

Auf ärztliche Anzeige vom 23.3.2001 wegen des Verdachts einer BK holte die Beklagte ärztliche Gutachten ein. Dr. L., Leiter des Europäischen Instituts für Bewegungsphysiologie, M. , führte in seinem Gutachten vom 28.9.2002 aus, die Halswirbelsäulenerkrankung sei mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch das jahrelange Instrumentalspiel entstanden oder wesentlich mitverursacht worden. Prof. Dr. D., Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Johannes Gutenberg-Universität M., gelangte in seinem Gutachten vom 8.1.2003 zu dem Ergebnis, das Geigenspiel gehe zwar mit einer außergewöhnlichen Zwangshaltung in Form einer "Schulter-Kopf-Zwinge" einher. Allerdings könne die sog "Gruppentypik" anhand neuer statistisch gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht festgestellt werden.

4

Die Beklagte lehnte es ab, eine Wie-BK festzustellen (Bescheid vom 25.3.2003; Widerspruchsbescheid vom 30.11.2005). Hiergegen hat die Klägerin Klage zum SG Neuruppin erhoben, das weitere Begutachtungen veranlasst hat. Dr. B., Institut für sozialmedizinische Begutachtung GbR im Krankenhaus W., hat in seinem Gutachten vom 6.6.2007 dargelegt, die Wirbelsäulenbeschwerden seien nicht auf die berufliche Tätigkeit als Orchestermusikerin zurückzuführen. Prof. Dr. A., Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin, H., hat in seinem Gutachten vom 3.5.2010 darauf hingewiesen, für eine berufsbedingte Wirbelsäulenerkrankung spreche die kumulative Lebensarbeitszeit an der Geige in Zwangshaltung aufgrund der "Schulter-Kinn-Zange" und die mit dem Schrifttum übereinstimmende Häufigkeit der Beschwerden bei Geigern. Dabei handele es sich um Plausibilitätsargumente, da bislang keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse existierten.

5

Das SG Neuruppin hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 23.9.2010). Das LSG Berlin-Brandenburg hat die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung seines Urteils vom 23.2.2012 hat es ausgeführt, auf das Recht der ehemaligen DDR komme es nicht an, weil die Erkrankung der Klägerin erst nach dem 31.12.1993 der Beklagten bekannt geworden sei. Die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO und des § 9 Abs 2 SGB VII für die Feststellung einer Wie-BK seien nicht erfüllt. Zwar seien Streicher wegen der nur in dieser Berufsgruppe auftretenden "Schulter-Kinn-Zange" besonderen Einwirkungen in höherem Maße als die übrige Bevölkerung ausgesetzt. Es fehle aber an der generellen Geeignetheit dieser Einwirkung für die Verursachung von Halswirbelsäulenbeschwerden. Die erforderliche sog "Gruppentypik" setze in der Regel anhand statistisch relevanter Zahlen den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine lange zeitliche Überwachung der Krankheitsbilder voraus, um mit Sicherheit eine andere Krankheitsursache ausschließen zu können. Entsprechende epidemiologische Erkenntnisse seien aufgrund der geringen Zahl der in der Bundesrepublik Deutschland tätigen Streicher aber nicht vorhanden. Auch sonstige, die generelle Geeignetheit belegende Erkenntnisse seien nicht ersichtlich. Die von Prof. Dr. A. hervorgehobene Plausibilität genüge ebenso wenig wie der von mit Musikererkrankungen vertrauten Ärzten publizierte Ursachenzusammenhang. Gerade vor dem Hintergrund, dass in der Bundesrepublik Deutschland nur etwa 4100 Streicher betroffen seien und es sich bei der Halswirbelsäulenerkrankung um eine sog Volkskrankheit handele, könne der Nachweis des gruppenspezifischen Risikos nicht schon mit der Einschätzung einzelner mit Musikererkrankungen befasster Fachärzte geführt werden. Die besonderen Beweisprobleme im Falle kleinerer Berufsgruppen seien der Entscheidung des Gesetzgebers für das verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Listensystem geschuldet. Dieser sei dem im Zusammenhang mit dem Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz (UVEG) unterbreiteten Vorschlag, die Feststellung einer Wie-BK unter erleichterten Voraussetzungen zu ermöglichen, gerade nicht gefolgt.

6

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 9 Abs 2 SGB VII sowie die Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht. Das Fehlen neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse stehe der Anerkennung der Wie-BK nicht entgegen, weil sich der Verordnungsgeber mit den besonderen Einwirkungen von hohen Streichern noch gar nicht befasst habe und eine Auseinandersetzung damit auch nicht geplant sei. Abgesehen davon könne nach der Rechtsprechung des BSG zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse ausnahmsweise bei fehlender epidemiologischer Evidenz einerseits und gegebener biologischer Evidenz andererseits auf eine statistisch nachgewiesene Gruppentypik verzichtet werden. Das LSG habe zu hohe Anforderungen an die Beweisführung gestellt und zahlreiche, das Begehren stützende Umstände nicht berücksichtigt. Sowohl Prof. Dr. A. als auch Dr. L. gingen von einer berufsbedingten Erkrankung aus. Ein medizinischer Erfahrungssatz, dass eine durch das Violinspiel hervorgerufene Halswirbelsäulenerkrankung im Falle weiterer Verschleißerscheinungen der gesamten Wirbelsäule ausscheide, existiere nicht. Selbst der Bundesverband der Unfallkassen gehe bei Streichern in seiner Broschüre "Musikermedizin, Musikerarbeitsplätze" von berufsrelevanten Erkrankungen der Hals- und Brustwirbelsäule aus. Dass sich gleichwohl der Ärztliche Sachverständigenbeirat beim BMAS mit der streitgegenständlichen Thematik weder bislang beschäftigt habe noch in Zukunft auseinandersetzen werde, dürfe nicht zu Lasten der Streicher gehen. Ansonsten wäre ein bestimmter Berufsstand trotz besonderer Einwirkungen von der Anerkennung einer BK auf Dauer ausgeschlossen. Schließlich sei bei hohen Streichern in der ehemaligen DDR, in Frankreich und in Tschechien eine BK anerkannt worden.

7

Die Klägerin beantragt,

        

die Urteile des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 23. Februar 2012 und des Sozialgerichts Neuruppin vom 23. September 2010 sowie die Ablehnung einer Wie-Berufskrankheit im Bescheid der Beklagten vom 25. März 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Erkrankung der Halswirbelsäule als Wie-Berufskrankheit anzuerkennen.

8

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

9

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend. Die Revision sei bereits unzulässig, da die Revisionsbegründung nicht den Anforderungen des § 164 Abs 2 SGG genüge. Inwieweit das LSG die Vorschrift des § 9 Abs 2 SGB VII fehlerhaft ausgelegt habe, sei nicht schlüssig dargetan. Soweit die Klägerin die Beweiswürdigung des LSG beanstande, sei eine Verfahrensrüge nicht erhoben worden. Die Revision sei aber auch unbegründet. Es fehle an epidemiologischen Erkenntnissen, dass die "Schulter-Kinn-Zange" generell geeignet wäre, eine Halswirbelsäulenerkrankung hervorzurufen. Die von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Unterlagen spiegelten nicht den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand, sondern nur Einzelmeinungen wider.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

11

Die Klägerin hat in zulässiger Weise Revision eingelegt. Bei ihrem Prozessbevollmächtigten handelt es sich um eine selbständige Vereinigung von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung für ihre Mitglieder, die nach § 73 Abs 4 Satz 2 iVm Abs 2 Satz 2 Nr 5 SGG zur Vertretung vor dem BSG zugelassen ist.

12

Die Revision genügt entgegen der Ansicht der Beklagten den Begründungsanforderungen des § 164 Abs 2 Satz 1 und 3 SGG. Danach muss die Begründung einen bestimmten Antrag enthalten und die verletzte Rechtsnorm bezeichnen. Insoweit ist mit rechtlichen Erwägungen aufzuzeigen, dass und weshalb die Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht geteilt wird. Es bedarf einer Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils und der Darlegung, inwieweit die als verletzt gerügte Vorschrift des materiellen Bundesrechts nicht oder nicht richtig angewandt worden ist (zuletzt BSG vom 11.4.2013 - B 2 U 21/11 R - NZS 2013, 639 sowie BSG vom 2.12.2008 - B 2 U 26/06 R - BSGE 102, 111 = SozR 4-2700 § 8 Nr 29, RdNr 10 mwN). Dem trägt die Revisionsbegründung Rechnung. Aus ihr geht hervor, weshalb die Klägerin die angefochtene Entscheidung für unzutreffend hält. Sie hat eine Verletzung des § 9 Abs 2 SGB VII gerügt und ua ausgeführt, das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, die Feststellung einer Wie-BK scheitere am Fehlen epidemiologischer Studien.

13

Die Revision der Klägerin ist allerdings unbegründet. Das LSG hat ihre Berufung gegen das die zulässig kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG; zur Klageart vgl BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4 BKV, RdNr 11 mwN; BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 = SozR 4-2700 § 11 Nr 1, RdNr 12 mwN) abweisende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Die Ablehnung der Anerkennung einer Wie-BK im Bescheid der Beklagten vom 25.3.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2005 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

14

Es kann offenbleiben, seit wann die Halswirbelsäulenerkrankung der Klägerin besteht und ob sich der geltend gemachte Anspruch noch nach den Vorschriften der RVO oder den am 1.1.1997 in Kraft getretenen Bestimmungen des SGB VII richtet (Art 36 UVEG, § 212 SGB VII). Denn die Regelungen über die Anerkennung einer Wie-BK sind im SGB VII gegenüber der RVO im Wesentlichen inhaltlich unverändert geblieben.

15

Nach § 9 Abs 2 SGB VII(§ 551 Abs 2 RVO) haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der BKV bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII(§ 551 Abs 1 Satz 2 RVO) erfüllt sind (sog Öffnungsklausel für Wie-BKen). Die Feststellung einer Wie-BK nach dieser Vorschrift ist ua vom Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen für die Bezeichnung der geltend gemachten Krankheit als BK nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen abhängig (zuletzt BSG vom 13.2.2013 - B 2 U 33/11 R - mwN, auch zu den weiteren Voraussetzungen einer Wie-BK - SozR 4-2700 § 9 Nr 21 RdNr 17). Diese allgemeinen Voraussetzungen sind erfüllt, wenn bestimmte Personengruppen infolge einer versicherten Tätigkeit nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII(§§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO) in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sind, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft eine Krankheit hervorrufen. Die insoweit in früheren Entscheidungen des Senats verwendeten Begriffe der Gruppentypik, generellen Geeignetheit und gruppentypischen oder -spezifischen Risikoerhöhung dienten allein der Erläuterung oder Umschreibung der aufgezeigten Voraussetzungen, ohne dass damit andere Anforderungen an die Anerkennung einer Wie-BK gestellt werden sollten (BSG vom 27.4.2010 - B 2 U 13/09 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 18 RdNr 15 mwN).

16

Die Klägerin war aufgrund ihrer versicherten Tätigkeit als Beschäftigte nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII(§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) und ihrer Zugehörigkeit zur Berufsgruppe der Streicher besonderen Einwirkungen durch die "Schulter-Kinn-Zange" in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt. Als Einwirkung kommt jedes auf den Menschen einwirkende Geschehen in Betracht (BSG aaO RdNr 19). Die Klägerin leidet auch an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Halswirbelsäule, die als BK iS des § 9 Abs 1 SGB VII(§ 551 Abs 1 RVO) zugrunde gelegt werden könnte. Allerdings fehlt es am generellen Ursachenzusammenhang zwischen dieser Erkrankung und der besonderen Einwirkung.

17

Ob eine Krankheit innerhalb einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordert in der Regel den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung der Krankheitsbilder. Mit wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen muss zu begründen sein, dass bestimmte Einwirkungen die generelle Eignung besitzen, eine bestimmte Krankheit zu verursachen. Erst dann lässt sich anhand von gesicherten "Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft" iS des § 9 Abs 2 SGB VII(§ 551 Abs 2 iVm § 551 Abs 1 Satz 2 RVO) nachvollziehen, dass die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt. Solche Erkenntnisse setzen regelmäßig voraus, dass die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf dem jeweils in Betracht kommenden Fachgebiet über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu derselben wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt ist. Es ist nicht erforderlich, dass diese Erkenntnisse die einhellige Meinung aller Mediziner widerspiegeln. Andererseits reichen vereinzelte Meinungen einiger Sachverständiger grundsätzlich nicht aus (BSG vom 4.6.2002 - B 2 U 20/01 R - Juris RdNr 22; bereits BSG vom 23.3.1999 - B 2 U 12/98 R - BSGE 84, 30, 35 mwN = SozR 3-2200 § 551 Nr 12).

18

Nach § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII(§ 551 Abs 1 Satz 2 RVO) sind BKen grundsätzlich nur solche Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII(§§ 539, 540, 543 bis 545 RVO)begründenden Tätigkeit erleiden. Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber das "Listensystem" als Grundprinzip des Berufskrankheitenrechts der gesetzlichen Unfallversicherung festgelegt. Mit der Einführung der Wie-BK in § 551 Abs 2 RVO durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30.4.1963 (BGBl I 241) wurde eine Ausnahme vom Listenprinzip nur für den Fall zugelassen, dass der Verordnungsgeber wegen der regelmäßig notwendigen mehrjährigen Intervalle zwischen den Anpassungen der BKV an die neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht rechtzeitig tätig wird (BSG vom 25.8.1994 - 2 RU 42/93 - BSGE 75, 51, 54 = SozR 3-2200 § 551 Nr 6 S 14). Sinn des § 9 Abs 2 SGB VII(§ 551 Abs 2 RVO) ist es, ausnahmsweise vom Listensystem abweichen zu können, um solche durch die Arbeit verursachten Krankheiten wie eine BK zu entschädigen, die nur deshalb nicht in die Liste der BKen aufgenommen worden sind, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter Personengruppen in ihrer Arbeit bei der letzten Fassung der Liste noch nicht vorhanden waren oder vom Verordnungsgeber nicht hinreichend berücksichtigt wurden (vgl BSG vom 4.8.1981 - 5a/5 RKnU 1/80 - SozR 2200 § 551 Nr 18 S 27). Die Anerkennung einer Wie-BK knüpft damit an dieselben materiellen Voraussetzungen an, die der Verordnungsgeber auch nach § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII(§ 551 Abs 1 Satz 3 RVO) für die Aufnahme einer Erkrankung in die Liste zu beachten hat.

19

Die damit zur Anerkennung einer Wie-BK notwendigen gesicherten Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft liegen nach den dem Senat vorliegenden Unterlagen, die er zur Klärung der generellen Tatsache (vgl hierzu BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14, RdNr 15)des Zusammenhangs zwischen "Schulter-Kinn-Zange" und bandscheibenbedingter Halswirbelsäulenerkrankung heranziehen und auswerten durfte, nicht vor. Hinsichtlich eines solchen Zusammenhangs fehlt es an epidemiologischen Studien und statistisch relevanten Zahlen, die wegen der geringen Anzahl von Berufsgeigern auch nicht zu erwarten sind. Auch wenn eine besondere Gefährdung der Streicher durch die mit der "Schulter-Kinn-Zange" einhergehende Fehlhaltung zu beobachten ist, lässt sich ein Zusammenhang zwischen beruflicher Belastung und morphologischer Veränderung der Wirbelsäule mangels statistisch gesicherter Erkenntnisse nicht herstellen. Zwar führt Dr. L. in seinem Gutachten vom 28.9.2002 die Halswirbelsäulenerkrankung der Klägerin mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das jahrelange Instrumentalspiel zurück. Zudem bestätigt Prof. Dr. D. in seinem Gutachten vom 8.1.2003 eine durch das Geigenspiel bedingte außergewöhnliche Zwangshaltung. Er führt aber ferner aus, dass die sog Gruppentypik anhand neuer gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht festgestellt werden könne. Auch Prof. Dr. A. hält in seinem Gutachten vom 3.5.2010 zwar eine berufsbedingte Wirbelsäulenerkrankung für gegeben, weist aber ebenfalls darauf hin, dass die hierfür sprechende Lebensarbeitszeit an der Geige einerseits sowie die Häufigkeit des Auftretens der Wirbelsäulenbeschwerden bei Geigern andererseits den generellen Ursachenzusammenhang lediglich plausibel erscheinen ließen und es an die Kausalität belegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen fehle. Schließlich ist das im Jahr 2001 durchgeführte 3. Symposium der Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin zu dem Ergebnis gelangt, dass die publizierten Daten zur Epidemiologie funktioneller und struktureller Erkrankungen der Wirbelsäule bei Musikern in sowohl quantitativer als auch qualitativer Hinsicht sehr dürftig seien (Seidel/Lange, Institut für Musikpädagogik und Musiktheorie, Die Wirbelsäule des Musikers, 2001). Eine Vielzahl fachkundiger Mediziner, die eine Verursachung von bandscheibenbedingten Erkrankungen der Halswirbelsäulen durch die "Schulter-Kinn-Zange" für hinreichend wahrscheinlich halten, existiert damit nicht. Für die Annahme gesicherter Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft iS des § 9 Abs 2 SGB VII(§ 551 Abs 2 iVm § 551 Abs 1 Satz 2 RVO) genügt es nicht, dass einzelne Mediziner die Verursachung von Halswirbelsäulenbeschwerden durch eine Fehlbelastung infolge der "Schulter-Kinn-Zange" für plausibel oder wahrscheinlich halten. Es reicht nicht aus, dass überhaupt medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse zu dem jeweils relevanten Problemfeld existieren, vielmehr muss sich eine sog herrschende Meinung im einschlägigen medizinischen Fachgebiet gebildet haben (BSG vom 4.6.2002 - B 2 U 16/01 R - Juris RdNr 19).

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Allerdings hat der Senat zu sog Seltenheitsfällen entschieden, dass die den generellen Ursachenzusammenhang zwischen besonderer Einwirkung und Erkrankung belegenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht ausschließlich anhand von Methoden der Epidemiologie und statistischer Belege nachgewiesen werden müssen. Fehlt es an einer im Allgemeinen notwendigen langfristigen zeitlichen Überwachung von Krankheitsbildern, da aufgrund der Seltenheit einer Erkrankung medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse durch statistisch abgesicherte Zahlen nicht erbracht werden können, kommt nach dieser Rechtsprechung ausnahmsweise auch ein Rückgriff auf Einzelfallstudien, auf Erkenntnisse aus anderen Staaten und auf frühere Anerkennungen entsprechender Erkrankungen, auch in der ehemaligen DDR, in Betracht (BSG vom 4.6.2002 - B 2 U 20/01 R - Juris RdNr 22 mwN; BSG vom 14.11.1996 - 2 RU 9/96 - BSGE 79, 250, 252 = SozR 3-2200 § 551 Nr 9 S 21). Es kann offenbleiben, ob eine solche Vorgehensweise unter Zugrundelegung eines geringeren wissenschaftlichen Standards überhaupt mit den gesetzlichen Voraussetzungen des § 9 Abs 2 SGB VII(iVm § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII) für die Anerkennung einer Wie-BK vereinbar ist. Ihre Zulässigkeit unterstellt, kann ferner dahingestellt bleiben, ob sie auch dann in Betracht kommt, wenn - wie hier - gar kein Seltenheitsfall gegeben, sondern stattdessen eine Berufsgruppe betroffen ist, bei der wegen ihrer geringen Größe epidemiologische Studien nicht zu erwarten bzw unmöglich sind. Denn selbst bei Zugrundlegung eines geringeren wissenschaftlichen Standards reichen die über die bereits beschriebenen Unterlagen hinausgehenden aktenkundigen Erkenntnisse nicht aus, einen Zusammenhang zwischen der "Schulter-Kinn-Zange" von Berufsgeigern und bandscheibenbedingten Halswirbelsäulenerkrankungen als hinreichend wissenschaftlich belegt zu betrachten.

21

Dr. D. nimmt in seinem Aufsatz "Abnutzungsschäden durch Geigen- und Bratschenspiel" (Das Orchester 6/96, 13) auf eine eigene Studie über 17 professionelle Streicher Bezug und weist darauf hin, dass zur Klärung der Frage der Anerkennung von Wirbelsäulenschäden als BK noch weitere wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt werden sollten. Die sog Weimarer Studie zu klinisch relevanten Belastungsfaktoren und Belastungskomplexen bei Musikstudenten und Berufsmusikern (Seidel/Höpfner/Lange, Musikphysiologie und Musikermedizin 1999, 6. Jg, Nr 4, 115) beruht lediglich auf der Auswertung eines von 100 Musikstudenten und 88 Orchestermusikern jeweils ausgefüllten standardisierten und validierten Fragebogens. Im Forschungsantrag "CMD/CCD bei Streichern" der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Musikermedizin des Klinikums der Friedrich-Schiller-Universität Jena, des Klinikums Weimar und der Hochschule für Musik Weimar vom 20.5.2001 wird ausgeführt, dass es an Datenmaterial zur Bewertung funktioneller Störungen des Bewegungssystems bei Streichern als BK fehle. Aus diesen Publikationen lässt sich folglich auch ein ggf geringeren Anforderungen an wissenschaftliche Erkenntnisse genügender genereller Zusammenhang zwischen der "Schulter-Kinn-Zange" und einer bandscheibenbedingten Halswirbelsäulenerkrankung nicht ableiten. Soweit die Revision zudem auf Anerkennungen einer BK in Frankreich, Tschechien und der ehemaligen DDR hinweist, ist nicht ersichtlich, dass diese auf hinreichenden medizinischen Erkenntnissen beruhten und nicht nur das Ergebnis von Einzelfallprüfungen sind, ohne wissenschaftlich fundierte Aussagen über die generelle Geeignetheit der hier zu beurteilenden Einwirkung zu berücksichtigen. Zudem existiert in Frankreich entgegen der Revision keine spezifisch auf Musiker, sondern eine generell auf Zwangshaltungen bezogene BK. Ob weiterhin auch die jeweilige Ausgestaltung des Berufskrankheitenrechts in Frankreich, Tschechien und der ehemaligen DDR einer Berücksichtigung der behaupteten Anerkennungen entgegensteht, kann daher offenbleiben (vgl zur Ausgestaltung des BK-Rechts in anderen Ländern Kranig, DGUV-Forum 2012, 30; ders, Berufskrankheiten im internationalen Vergleich, 2002, 337).

22

Auch Billigkeitserwägungen führen zu keinem anderen Ergebnis. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats enthält § 9 Abs 2 SGB VII(§ 551 Abs 2 RVO) keine allgemeine "Härteklausel", nach der jede durch eine versicherte Tätigkeit verursachte Krankheit als Wie-BK anzuerkennen wäre (vgl zuletzt BSG vom 13.2.2013 - B 2 U 33/11 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 21 RdNr 17).

23

Dass die Anerkennung einer Wie-BK an das Vorliegen wissenschaftlich gesicherter Kausalbeziehungen anknüpft, ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

24

Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG liegt nicht vor. Danach sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Dieses Grundrecht ist verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen (stRspr; vgl BVerfG vom 28.4.1999 - 1 BvR 1926/96, 1 BvR 485/97 - BVerfGE 100, 104 = SozR 3-2600 § 307b Nr 6). § 9 Abs 2 SGB VII(§ 551 Abs 2 RVO) ist zwar dann mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht mehr vereinbar, wenn einer Personengruppe der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung allein deshalb versagt wird, weil der Verordnungsgeber vorliegende wissenschaftliche Erkenntnisse noch nicht geprüft und gewürdigt hat (BVerfG vom 22.10.1981 - 1 BvR 1369/79 - BVerfGE 58, 369, 375 f = SozR 2200 § 551 Nr 19 S 32 f). Denn die Vorschrift schließt solche Lücken, die sich daraus ergeben, dass neue Erkenntnisse über den Zusammenhang von beruflicher Exposition und Erkrankung vorliegen, bevor die BKV eine entsprechende Anpassung erfährt (BVerfG vom 9.10.2000 - 1 BvR 791/95 - SozR 3-2200 § 551 Nr 15 S 76). An medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen zu evtl gesundheitsschädigenden Folgen einer "Schulter-Kinn-Zange" fehlt es vorliegend aber gerade. Dass sich der Verordnungsgeber mit den besonderen Einwirkungen von hohen Streichern noch gar nicht befasst hat und eine Auseinandersetzung damit ggf auch nicht geplant ist, befreit daher aus Gründen der Gleichbehandlung nicht vom Erfordernis der die generelle Geeignetheit einer besonderen Einwirkung für die Verursachung einer bestimmten Erkrankung belegenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse.

25

Eine verfassungswidrige Benachteiligung ergibt sich auch nicht daraus, dass die Berufsgruppe der Streicher sehr klein ist und sich möglicherweise eine wissenschaftlich gesicherte Kausalbeziehung zwischen beruflicher Einwirkung und Erkrankung anhand epidemiologischer Studien schon rein tatsächlich nicht feststellen lässt, weil die für epidemiologische Studien erforderlichen Fallzahlen nicht erreicht werden können. § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII(§ 551 Abs 1 Satz 2 RVO) beschränkt BKen begrifflich auf Krankheiten, die in der Berufskrankheitenliste als Anlage zur BKV aufgeführt sind. Die Ermächtigung der Bundesregierung zur Aufnahme von BKen in diese Anlage macht § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII(§ 551 Abs 1 Satz 3 RVO) davon abhängig, dass die Krankheiten nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit ausgesetzt sind. In diesen Regelungen kommt das die gesetzliche Unfallversicherung prägende Listenprinzip zum Ausdruck, das nach § 9 Abs 2 SGB VII nur unter der Voraussetzung durchbrochen wird, dass neue Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vorliegen. Diese vom Gesetzgeber gewollte Systementscheidung begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (BVerfG vom 8.6.2012 - 1 BvR 2853/10 - NZS 2012, 901; BVerfG vom 14.7.1993 - 1 BvR 1127/90 - SozR 3-2200 § 551 Nr 5 S 10). Mit ihr im Einzelfall verbundene Härten sind hinzunehmen. Sie halten sich im Rahmen einer zulässigen Typisierung, weil nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betroffen ist und dadurch bedingte Ungerechtigkeiten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären (vgl BVerfG vom 28.4.1999 - 1 BvL 22/95, 1 BvL 34/95 - BVerfGE 100, 59, 90 = SozR 3-8570 § 6 Nr 3 S 28 mwN).

26

In seiner Stellungnahme zum Entwurf des UVEG hat der Bundesrat 1995 zwar vorgeschlagen, eine neue Regelung in § 9 Abs 2a SGB VII einzufügen, die die Anerkennung einer Wie-BK zur Vermeidung von Härtefällen auch für den Fall vorsah, dass 1. vergleichbare Arbeitsplätze mit entsprechenden Arbeitsbedingungen nicht oder nur in einer geringen Zahl vorhanden sind und deshalb Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft darüber nicht vorliegen können, dass bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sind und 2. nach medizinischen Erkenntnissen mit hinreichender Sicherheit feststeht, dass die Krankheit durch die besonderen Bedingungen des Arbeitsplatzes verursacht ist (BT-Drucks 13/2333 S 5 zu Nr 9). Dem ist der Gesetzgeber des UVEG aber mit der Begründung nicht gefolgt, bei einer solchen Regelung bestehe ua die Gefahr, dass die vorgeschlagene Bestimmung, bei der epidemiologische Erkenntnisse wegen der Singularität der Arbeitsbedingungen nicht gewonnen werden könnten, eine Antragsflut auslöse, die von den Unfallversicherungsträgern nicht bewältigt werden könnte (BT-Drucks 13/2333 S 19 zu Nr 9). Diese Erwägungen des Gesetzgebers sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, weil sie sich im Rahmen seines legislatorischen Gestaltungsspielraums bewegen. Der Gesetzgeber darf sich bei der Einführung typisierender Regelungen an den ansonsten mit Einzelfallregelungen verbundenen Erfordernissen der Verwaltung orientieren. Die Entlastung der Unfallversicherungsträger und folglich auch der Sozialgerichtsbarkeit von umfangreichen und zeitaufwendigen Einzelfallprüfungen ist ein sachlicher, zur Typisierung berechtigender Grund (vgl BVerfG vom 8.2.1983 - 1 BvL 28/79 - BVerfGE 63, 119, 128 = SozR 2200 § 1255 Nr 17 S 37 und vom 16.12.1958 - 1 BvL 3/57, 1 BvL 4/57 und 1 BvL 8/58 - BVerfGE 9, 20, 31 ff = SozR Nr 42 zu Art 3 GG). Damit sind zugleich einer richterlichen Rechtsfortbildung verfassungsrechtliche Grenzen aufgezeigt, weil diese bewusste Entscheidung des Gesetzgebers nicht durch richterliche Wertungen ersetzt werden darf.

27

Die das hier gefundene Ergebnis tragenden und den Senat bindenden Tatsachenfeststellungen (§ 163 SGG) sind nicht mit zulässig erhobenen Verfahrensrügen angegriffen worden.

28

Eine ordnungsgemäße Verfahrensrüge setzt die Bezeichnung der Tatsachen voraus, die den behaupteten Mangel ergeben (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) und aus denen die Möglichkeit folgt, dass das Gericht ohne die geltend gemachte Verfahrensverletzung anders entschieden hätte. Das Revisionsgericht muss in die Lage versetzt werden, sich allein anhand der Revisionsbegründung ein Urteil darüber zu bilden, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann (BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 10/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 42 RdNr 19 mwN). Daran fehlt es hier.

29

Die Rüge der Klägerin, die Entscheidung des LSG beruhe auf einer fehlerhaften Beweiswürdigung, ist nicht ordnungsgemäß erhoben. Sie hätte darlegen müssen, dass das Berufungsgericht die Grenzen seiner ihm durch § 128 Abs 1 Satz 1 SGG eingeräumten Befugnis verletzt hat, nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Es hätte insoweit aufgezeigt werden müssen, dass es gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstoßen oder das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend berücksichtigt hat (BSG vom 31.5.2005 - B 2 U 12/04 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 2 RdNr 9). Diesen Anforderungen wird die Revisionsbegründung nicht gerecht.

30

Mit dem Vorbringen, ein medizinischer Erfahrungssatz, dass die durch ein Violinspiel hervorgerufene Halswirbelsäulenerkrankung im Falle weiterer Verschleißerscheinungen der gesamten Wirbelsäule ausscheide, existiere nicht, ist nicht deutlich geworden, dass das LSG einen Erfahrungssatz fehlerhaft angewandt hat (vgl hierzu BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 24/00 R - SozR 3-2200 § 581 Nr 8 S 37 mwN). Die Revision zeigt nicht auf, an welcher Stelle seines Urteils sich das LSG tragend auf einen solchen Erfahrungssatz gestützt hätte. Auf Seite 13 der angegriffenen Entscheidung wird vielmehr lediglich ausgeführt, dass es sich bei dem Halswirbelsäulenleiden um eine "Volkskrankheit" handele, die eine Beweiserleichterung bei der Feststellung der generellen Geeignetheit verbiete.

31

Auch ein sog Denkgesetz, gegen das das LSG verstoßen haben könnte, hat die Klägerin nicht dargetan. Dass es zu einer bestimmten, aus seiner Sicht erheblichen Frage aus den gesamten rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten nur eine Folgerung hätte ziehen können, jede andere nicht folgerichtig "denkbar" ist und das Gericht die allein in Betracht kommende nicht gesehen hat (vgl BSG vom 11.6.2003 - B 5 RJ 52/02 R - Juris RdNr 13 mwN), legt die Revision nicht dar.

32

Aus dem Vortrag der Klägerin geht auch nicht hervor, dass das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht hinreichend berücksichtigt worden wäre. Soweit sie geltend macht, in der ehemaligen DDR, in Frankreich sowie in Tschechien ausgesprochene Anerkennungen von BKen seien bei der Beweiswürdigung nicht berücksichtigt worden, wird übersehen, dass sich das LSG auf Seite 15 seiner Entscheidung damit auseinandergesetzt hat, dass die Problematik der Geiger in der ehemaligen DDR "einer anderen Lösung zugeführt worden sei". Im Übrigen hat die Revision nicht aufgezeigt, ob und wenn ja inwieweit den behaupteten Anerkennungen generelle medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse zugrunde liegen. Die Klägerin setzt im Kern nur ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des LSG. Allein damit ist aber eine Verletzung der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung nicht formgerecht gerügt (BSG vom 23.8.2007 - B 4 RS 3/06 R - SozR 4-8570 § 1 Nr 16 RdNr 31).

33

Schließlich scheidet ein Anspruch auf Anerkennung der geltend gemachten Wie-BK nach übergangsrechtlichen Regelungen aus. Für die Übernahme einer vor dem 1.1.1992 im Beitrittsgebiet eingetretenen Erkrankung als BK nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ist nach §§ 212 und 215 Abs 1 Satz 1 SGB VII die Vorschrift des § 1150 Abs 2 RVO in der am 31.12.1996 geltenden Fassung des Renten-Überleitungsgesetzes vom 25.7.1991 (BGBl I 1606, 1688) weiter anzuwenden. Gemäß § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO gelten solche Krankheiten, die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht BKen der Sozialversicherung waren, als BKen iS des Dritten Buches der RVO. Das gilt nach § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1 RVO allerdings nicht für Krankheiten, die einem ab 1.1.1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung - wie hier - erst nach dem 31.12.1993 bekannt werden und die nach dem Dritten Buch der RVO nicht zu entschädigen wären. Dies bedeutet, dass Krankheiten, von denen ein ab 1.1.1991 für das Beitrittsgebiet zuständiger Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31.12.1993 Kenntnis erlangt, nur dann BKen darstellen, wenn die Voraussetzungen nach den §§ 548 ff RVO erfüllt sind(BSG vom 2.12.2008 - B 2 U 26/06 R - BSGE 102, 111 = SozR 4-2700 § 8 Nr 29, RdNr 16). Das ist aus den dargelegten Gründen nicht der Fall.

34

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. September 2010 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf höhere Verletztenrente hat. Die Klägerin hält es für unbillig, dass der Jahresarbeitsverdienst (JAV) nach ihrer zuletzt ausgeübten Teilzeitbeschäftigung berechnet worden ist.

2

Die 1965 geborene Klägerin arbeitete nach abgeschlossener Berufsausbildung als Krankenschwester. Der Umfang ihrer Arbeitszeit wechselte mehrfach zwischen Vollzeit- und Teilzeittätigkeiten. Im Einzelnen war sie wie folgt beschäftigt:

3
        

01.07.1984 - 30.09.1986

Praktikantin in der Krankenpflege, Vollzeit

01.10.1986 - 30.09.1989

Ausbildung zur Krankenpflegerin, Vollzeit

01.10.1989 - 30.04.1990

Krankenschwester, Vollzeit

01.05.1990 - 31.05.1990

unbelegt

01.06.1990 - 30.06.1991

Krankenschwester, Teilzeit

01.07.1991 - 31.01.1992

Krankenschwester, Vollzeit

01.02.1992 - 31.03.1995

Krankenschwester, Teilzeit

01.04.1995 - 21.07.1999

Krankenschwester, Vollzeit

22.07.1999 - 27.10.1999

Mutterschutz

28.10.1999 - 06.12.1999

Jahresurlaub gemäß einer Vollzeitstelle

07.12.1999 - 31.01.2000

Bezug von Erziehungsgeld

01.02.2000 - 31.08.2002

befristete Teilzeittätigkeit (19,00 Std.) im Rahmen des Erziehungsurlaubs

07.04.2001 - 02.07.2001

Eintritt des Versicherungsfalls, danach Entgeltfortzahlung aus Teilzeitbeschäftigung

03.07.2001 - 03.02.2002

Bezug von Verletztengeld

4

Mit Verwaltungsakt vom 25.5.2005 erkannte die Beklagte ua eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit (BK) nach Nr 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung an. Sie stellte fest, dass der Versicherungsfall am 7.4.2001 eingetreten war. Ab 4.2.2002 bewilligte sie der Klägerin Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH und legte der Berechnung der Rente einen JAV von 18.076,74 EUR zugrunde, der dem aus der Teilzeitbeschäftigung vom 1.4.2000 bis 31.3.2001 erzielten Arbeitsentgelt entsprach.

5

Gegen diesen Verwaltungsakt im Bescheid vom 25.5.2005 erhob die Klägerin Widerspruch. Sie machte geltend, die Berechnung des JAV nach dem Entgelt, das sie aus der während des Erziehungsurlaubs ausgeübten Teilzeitbeschäftigung erzielt habe, sei rechtswidrig. Hierin liege eine Benachteiligung ihrer Familie. Wegen fehlender Betreuungsmöglichkeiten für Kinder unter drei Jahren habe sie keine Alternative zum Erziehungsurlaub gehabt. Es sei für sie nicht nachvollziehbar, dass der Anspruch nunmehr nach der bei Eintritt des Versicherungsfalls ausgeübten Teilzeittätigkeit berechnet werde, da vor allem ihre Vollzeitbeschäftigung den Eintritt der BK begünstigt habe und eine erneute Vollzeitbeschäftigung geplant gewesen sei. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 25.8.2005).

6

Die Klägerin hat beim SG Dortmund Klage erhoben und geltend gemacht, ihre Lebensstellung sei durch die Einkünfte aus der früheren Vollzeittätigkeit geprägt gewesen. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19.12.2008).

7

Hiergegen hat die Klägerin Berufung zum LSG Nordrhein-Westfalen eingelegt. Sie hat dort vorgetragen, die Festsetzung des JAV durch die Beklagte sei unbillig, da der zugrunde gelegte JAV nicht der Einkommenssituation entspreche, die sie in ihrem Erwerbsleben erreicht habe. Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass sie während ihrer Berufstätigkeit überwiegend eine Vollzeitstelle innegehabt und sich ihr Lebensstandard hieran orientiert habe. Eine Regelung zur Bemessung des JAV, die starr auf den Zeitraum des Jahres vor Eintritt des Versicherungsfalls abstelle, verletze ihre Grundrechte aus Art 6 und Art 3 GG.

8

Das LSG hat die Berufung mit Urteil vom 15.9.2010 zurückgewiesen. Die Berechnung des JAV entspreche den gesetzlichen Vorgaben, insbesondere des § 82 Abs 1 SGB VII. Eine Korrektur des Ergebnisses nach § 87 SGB VII sei nicht geboten, weil ein Fall unbilliger Härte nicht vorliege. Vielmehr sei das Unfallversicherungsrecht von dem Grundsatz geprägt, dass für die Berechnung der Leistung die Verhältnisse im Jahr vor dem Versicherungsfall maßgebend seien. Früher erzielte Entgelte seien grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Der nach Maßgabe des § 82 Abs 1 SGB VII festgesetzte JAV sei nicht unbillig, er könne deshalb nicht anders festgesetzt werden. Wäre ein Fall der Unbilligkeit gegeben, müsste das Entgelt nicht nach dem Verdienst einer Vollzeitbeschäftigung, sondern nach billigem Ermessen der Beklagten nach einem Wert zwischen dem Mindest- und Höchstjahresarbeitsverdienst festgesetzt werden. Die maßgebenden Regelungen des SGB VII seien von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Insbesondere entspreche es den gesetzlichen Regelungen in anderen Bereichen, dass für Zeiten des Erziehungsurlaubs bzw der Elternzeit geringere Leistungen erworben würden als ohne die Zurücklegung dieser Zeiten. Entsprechende gesetzliche Regelungen zur Berechnung von Sozialleistungen seien vom BVerfG gebilligt worden. Eine Verletzung des Art 3 Abs 1 GG (Gleichheitssatz), des Art 6 Abs 1 GG (Schutz von Ehe und Familie) oder des Art 6 Abs 4 GG (staatliche Schutzpflicht für Mütter) liege nicht vor.

9

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 87 SGB VII. Sie macht einen Anspruch auf höhere Rente geltend, der nach einem gemäß § 87 SGB VII höher festzusetzenden JAV zu berechnen sei. Die Festsetzung des JAV sei in erheblichem Maße unbillig. Sie habe unmittelbar vor dem Beginn der Mutterschutzfrist, nämlich in der Zeit vom 1.4.1995 bis 21.7.1999 in Vollzeit als Krankenschwester gearbeitet. Im Anschluss an die Mutterschutzzeit habe sie Erziehungsurlaub genommen. Dass sie vorübergehend eine geringer bezahlte Teilzeittätigkeit übernommen habe, führe zu einem deutlich geringeren Arbeitsentgelt. In der Rechtsprechung sei anerkannt, dass ein Abweichen des JAV gegenüber den tatsächlichen Gegebenheiten um ca 40 vH eine erhebliche Unbilligkeit begründe. Diese Voraussetzungen seien erfüllt. Auch habe sie den Umfang ihrer Beschäftigung wegen Kinderbetreuung nur vorübergehend reduziert. Dieser Umstand begründe ebenfalls die Unbilligkeit des JAV, sodass der festgesetzte JAV so zu korrigieren sei, dass der der Rente zugrunde gelegte JAV dem Entgelt aus einer Vollzeitbeschäftigung entspreche. Bei der Auslegung der Vorschrift sei der Schutzauftrag des Art 6 Abs 4 GG zu beachten, der gewährleiste, dass ihr durch die Mutterschaft keine Nachteile entstehen dürften. Schließlich enthalte § 87 SGB VII keinen Hinweis darauf, dass die Vorschrift Mütter im Erziehungsurlaub ausschließe.

10

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. September 2010 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 19. Dezember 2008 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. August 2005 zu ändern und die Beklagte zu verpflichten, ihr höhere Rente unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bewilligen.

11

Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

12

Sie hält die angefochtenen gerichtlichen Entscheidungen sowie ihre Bescheide für rechtmäßig.

Entscheidungsgründe

13

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet.

14

Das LSG hat die Berufung der Klägerin gegen das die Klage abweisende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Der angefochtene Verwaltungsakt im Bescheid der Beklagten vom 25.5.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.8.2005 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beklagte ist daher nicht zu verpflichten, der Klägerin höhere Verletztenrente nach einem höheren, von der Beklagten festzusetzenden JAV zu bewilligen.

15

Die Klägerin macht einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Bewilligung eines höheren Rechts auf Rente gemäß § 56 Abs 1 Satz 1, Abs 3, § 82 Abs 1 Satz 1, § 87 SGB VII geltend. Um dieses Rechtsschutzziel zu erreichen, ist die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage die richtige Klageart (§ 54 Abs 1, Abs 2 Satz 1 und 2 SGG; zur Klageart auch: LSG Berlin vom 9.8.2004 - L 16 U 79/03; zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung einer solchen Klage: BSG vom 25.3.2003 - B 1 KR 33/01 R - SozR 4-1500 § 54 Nr 1). Wäre - wie die Klägerin geltend macht - ein nach der Regelberechnung festgesetzter JAV in erheblichem Maße unbillig, wären die angefochtenen Verwaltungsakte aufzuheben und der beklagte Unfallversicherungsträger zu verpflichten, die Klägerin aufgrund erforderlicher Neufestsetzung des JAV nach pflichtgemäßem Ermessen hinsichtlich der Höhe der Rente neu zu bescheiden (vgl auch BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 - Juris RdNr 19 = HV-Info 1992, 428).

16

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf höhere Rente nach § 56 SGB VII. Vielmehr hat die Beklagte die Rente der Klägerin zu Recht nach einem JAV von 18.076,74 Euro berechnet und bewilligt. Insbesondere ist der der Berechnung der Rente zugrunde gelegte JAV nicht gemäß § 87 Satz 1 SGB VII in erheblichem Maße unbillig und deshalb neu festzusetzen.

17

Der JAV ist zunächst nach der Regelberechnung des § 82 Abs 1 SGB VII (1.) und - falls dies günstiger ist - nach § 84 Satz 1 SGB VII (2.) festzusetzen. Erst nach dieser Festsetzung ist in einem weiteren Schritt zu prüfen (BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 15/02 R - SozR 4-2700 § 87 Nr 1 RdNr 11), ob der im Einzelfall berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist (3.). Die maßgeblichen Bestimmungen zur Berechnung des JAV verletzen nicht die Grundrechte der Klägerin (4.).

18

1. Gemäß § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII ist der JAV der Gesamtbetrag der Arbeitsentgelte(§ 14 SGB IV) und Arbeitseinkommen (§ 15 SGB IV) des Versicherten in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist. Unter Arbeitsentgelt sind nach der Legaldefinition des § 14 Abs 1 Satz 1 SGB IV alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung zu verstehen, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf diese besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Arbeitsentgelt sind mithin solche Einnahmen, die einem Versicherten in ursächlichem Zusammenhang mit einer Beschäftigung zufließen (vgl BSGE 60, 39, 40 = SozR 2200 § 571 Nr 25 S 58; BSG SozR 2100 § 14 Nr 19).

19

Da der Versicherungsfall der BK 2108 bei der Klägerin am 7.4.2001, also im Kalendermonat April 2001 eingetreten ist, sind für die Festsetzung des JAV nach § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII die zwölf Kalendermonate vor diesem Monat, also die Zeit vom 1.4.2000 bis 31.3.2001 maßgebend. In diesem Zeitraum hat die Klägerin (allein) Arbeitsentgelt in Höhe von 18.076,74 Euro brutto erzielt. Diesem Betrag entspricht der nach § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII festzusetzende JAV.

20

2. Nach § 84 Satz 1 SGB VII gilt bei Berufskrankheiten für die Berechnung des JAV als Zeitpunkt des Versicherungsfalls der letzte Tag, an dem die Versicherten versicherte Tätigkeiten verrichtet haben, die ihrer Art nach geeignet waren, die Berufskrankheit zu verursachen, wenn diese Berechnung für die Versicherten günstiger ist als eine Berechnung auf der Grundlage des in § 9 Abs 5 SGB VII genannten Zeitpunktes. Dies gilt nach § 84 Satz 2 SGB VII ohne Rücksicht darauf, aus welchen Gründen die schädigende versicherte Tätigkeit aufgegeben worden ist.

21

Wie zwischen den Beteiligten unstreitig feststeht, ist die Klägerin tatsächlich bis zum 7.4.2001, dem Tag des Eintritts des Versicherungsfalls, als Krankenschwester tätig gewesen. Aufgrund dieses Umstands gilt (auch) für die Berechnung des JAV nach § 84 Satz 1 SGB VII der 7.4.2001 als Zeitpunkt des Versicherungsfalls. Nach § 84 Satz 1 SGB VII ergibt sich für die Berechnung des JAV also derselbe Zeitraum wie nach § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII, nämlich die Zeit vom 1.4.2000 bis 31.3.2001. Der JAV beträgt 18.076,74 Euro.

22

3. Der JAV ist im Fall der Klägerin nicht gemäß § 87 Satz 1 SGB VII nach billigem Ermessen der Beklagten im Rahmen von Mindest- und Höchstjahresarbeitsverdienst neu festzusetzen, denn die Voraussetzungen des Tatbestands der Vorschrift sind nicht erfüllt. Die Festsetzung des JAV nach der Regelberechnung (§ 82 SGB VII) oder nach der Vorschrift bei Berufskrankheiten (§ 84 SGB VII) ist nicht "in erheblichem Maße unbillig".

23

§ 87 Satz 1 SGB VII bestimmt, dass der JAV, wenn er nach der Regelberechnung, nach den Vorschriften bei Berufskrankheiten, den Vorschriften für Kinder oder nach der Regelung über den Mindestjahresarbeitsverdienst festgesetzt ist und in erheblichem Maße unbillig ist, nach billigem Ermessen im Rahmen von Mindest- und Höchstjahresarbeitsverdienst festgesetzt wird. Hierbei werden nach § 87 Satz 2 SGB VII insbesondere die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls berücksichtigt. Voraussetzung für die Anwendung des § 87 SGB VII ist, dass in einem ersten Schritt eine Festsetzung des JAV nach § 82 SGB VII (Regelberechnung), nach § 84 SGB VII (JAV bei Berufskrankheiten), nach § 85 SGB VII (Mindest-JAV) oder nach § 86 SGB VII (JAV für Kinder) erfolgt ist. Bei dieser Festsetzung des JAV muss es sich um die erstmalige handeln (BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 15/02 R - SozR 4-2700 § 87 Nr 1 RdNr 9).

24

Ob der berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist, kann das Gericht in vollem Umfang selbst überprüfen, denn es handelt sich um die Auslegung und Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Der Unfallversicherungsträger ist insoweit nicht befugt, nach seinem Ermessen zu entscheiden, da die erhebliche Unbilligkeit Tatbestandsmerkmal ist. Ihm steht in dieser Frage auch kein Beurteilungsspielraum zu (jew noch zur Vorgängerregelung § 577 RVO: BSG vom 3.12.2002 - B 2 U 23/02 R - SozR 3-2200 § 577 Nr 2; BSG vom 28.1.1993 - 2 RU 15/92 - HV-Info 1993, 972; BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 - HV-Info 1992, 428; BSGE 73, 258, 260 = SozR 3-2200 § 577 Nr 1 S 3; BSG vom 24.4.1975 - 8 RU 36/74; BSGE 32, 169, 173 = SozR Nr 1 zu § 577 RVO; BSG SozR 2200 § 577 Nr 9). Die Vorschrift soll atypische Fallgestaltungen erfassen und - ausgerichtet ua am Lebensstandard des Versicherten - für diesen zu einem billigen Ergebnis führen. Ziel der Regelung ist es, den JAV als Grundlage der Rente so zu bemessen, dass der Lebensstandard gesichert wird, den der Versicherte zeitnah vor dem Versicherungsfall erreicht und auf den er sich eingerichtet hat. Die Anwendung des § 87 SGB VII kann deshalb im Einzelfall sowohl eine Erhöhung als auch eine Reduzierung des nach §§ 82 bis 86 SGB VII berechneten JAV bewirken( Schudmann in jurisPK-SGB VII, § 87 SGB VII RdNr 6).

25

§ 87 Satz 2 SGB VII nennt, ohne abschließend zu sein(s bereits zum früheren Recht BSG vom 26.6.1958 - BSGE 7, 269, 273; BT-Drucks 13/2204 S 96), Kriterien für die Beurteilung der Unbilligkeit. Bei der Überprüfung des JAV sind die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls zu berücksichtigen. In Bezug auf die erreichte "Lebensstellung" ist darauf abzustellen, welche Einkünfte die Einkommenssituation des Versicherten geprägt haben (Schudmann in jurisPK-SGB VII § 87 RdNr 18). In zeitlicher Hinsicht ist zu prüfen, welche Einkünfte der Versicherte innerhalb der Jahresfrist vor dem Versicherungsfall erzielt hat. Seine Einnahmen aus Erwerbstätigkeit im maßgeblichen Jahreszeitraum sind mit dem Ergebnis der gesetzlichen Berechnung zu vergleichen. Durch diesen Vergleich ergibt sich, ob der nach gesetzlichen Vorgaben festgesetzte Betrag des JAV außerhalb jeder Beziehung zu den Einnahmen steht, die für den Versicherten zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls oder innerhalb der Jahresfrist vor diesem Zeitpunkt die finanzielle Lebensgrundlage gebildet haben (BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 15/02 R - SozR 4-2700 § 87 Nr 1 RdNr 17; so auch BSG vom 28.4.1977 - 2 RU 39/75 - BSGE 44, 12 = SozR 2200 § 571 Nr 10). Die Festsetzung des JAV ist danach nicht in erheblichem Maße unbillig, wenn der nach den §§ 82 bis 86 SGB VII ermittelte JAV den Fähigkeiten, der Ausbildung, Lebensstellung und Tätigkeit der Versicherten in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat des Versicherungsfalls entspricht(so das LSG im angefochtenen Urteil; ebenso LSG Berlin vom 9.8.2004 - L 16 U 79/03; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 87 RdNr 6).

26

Bei der Klägerin ist im maßgeblichen Jahreszeitraum eine solche Änderung in der Beschäftigung, der ausgeübten Tätigkeit, dem Stand ihrer Aus- und Weiterbildung sowie dem die Lebensstellung prägenden Arbeitsentgelt nicht eingetreten. Daher ist der gesetzliche JAV nach dem erzielten Entgelt nicht unbillig.

27

Ungleichheiten zwischen tatsächlichem Einkommen und gesetzlich berechnetem JAV, wie sie sich auch aus Änderungen der Arbeitszeit und des -entgelts ergeben können, begründen eine Unbilligkeit des JAV in erheblichem Maße nur, wenn sie innerhalb der auch nach § 87 SGB VII maßgebenden Jahresfrist eingetreten sind. Ist es dagegen so, dass - wie hier - der Umfang der Tätigkeit und das Arbeitsentgelt innerhalb des Zeitraums, nach dem sich der JAV errechnet, unverändert geblieben sind, fehlt es an einer Unbilligkeit der Festsetzung des JAV.

28

Dies folgt aus Sinn und Zweck der §§ 82 f SGB VII. Die Regelungen zur Berechnung des JAV sollen eine einfache, schnell praktizierbare und nachvollziehbare Berechnung des JAV in der Verwaltungspraxis ermöglichen. Um dies zu erreichen, soll die Aufarbeitung einer langfristigen Erwerbsbiografie mit ggf schwierig zu ermittelnden Änderungen von Entgelt und/oder Einkommen gerade vermieden werden. Dieses Regelungskonzept kommt oftmals gerade den Versicherten zu Gute, insbesondere wenn sie zuletzt in ihrem Erwerbsleben eine vergleichsweise gute berufliche Position, einen hohen Ausbildungsstand und damit eine entsprechende Lebensstellung erreicht haben. Andererseits sieht das SGB VII aber gerade keine Verlängerung des maßgeblichen Jahreszeitraums vor, wenn die Arbeitszeit und das Arbeitsentgelt außerhalb der Jahresfrist reduziert wurden.

29

Der Gesetzgeber hat den Jahreszeitraum als Grundlage der Berechnung des JAV vielmehr bewusst gewählt, um eine zeitnahe Berechnungsgrundlage zu haben (BT-Drucks 13/2204, S 95; dazu auch Köllner in Lauterbach, Unfallversicherung SGB VII, Stand September 2007, § 82 RdNr 21; Schmitt, Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII, 4. Aufl § 82 RdNr 4). Nur wenn besondere Umstände vorliegen, die sich auf den maßgeblichen Zeitraum auswirken und die eine erhebliche Unbilligkeit der Regelberechnung begründen (unterwertige Beschäftigung; Verdienstausfall innerhalb der Jahresfrist zB durch unbezahlten Urlaub; dazu BSG 11.2.1981 - 2 RU 65/79 - BSGE 51, 178, 182), kann eine Korrektur des JAV über § 87 SGB VII angezeigt sein.

30

Welche Schwierigkeiten sich aus einer längere Zeiträume betrachtenden Prüfung ergeben würden, zeigt beispielhaft der vorliegende Fall. So soll nach Auffassung der Klägerin die Zeit der letzten Vollzeittätigkeit (1.4.1995 bis 21.7.1999) maßgeblich sein. Stattdessen hat das LSG auf das gesamte Erwerbsleben der Klägerin abgestellt, und gemeint, insoweit würde eine Vollzeitbeschäftigung der Klägerin nicht überwiegen (vgl auch BSG vom 29.10.1981 - 8/8a RU 68/80 - SozR 2200 § 577 Nr 9 S 12, 13). Beide Zeiträume sind aber als Vergleichsmaßstab ungeeignet, denn zu ermitteln ist der Jahres-Arbeitsverdienst.

31

Der Anwendung des Jahresprinzips für die Festsetzung des JAV ist auch die Rechtsprechung ganz überwiegend gefolgt. So hat es das LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 1.4.2003 - L 3 U 334/02) als rechtmäßig angesehen, den JAV im Rahmen des § 82 Abs 1 SGB VII nach dem Entgelt festzusetzen, das der Kläger aus einer Beschäftigung in (Alters-)Teilzeit erzielt hat. Für die Berechnung des JAV sei das tatsächlich erzielte Entgelt maßgebend und nicht das Entgelt, das er ohne eine Alters-Teilzeit-Vereinbarung erzielt hätte. Eine Entgeltlücke, die nach § 82 Abs 2 Satz 1 oder § 87 SGB VII aufzufüllen wäre, liege nicht vor. Allerdings sei eine Aufstockungsleistung des Arbeitgebers zu berücksichtigen, wenn sie innerhalb des Jahreszeitraums gezahlt worden sei.

32

Die Klägerin kann sich auch nicht auf die Entscheidung des BSG vom 29.10.1981 (8/8a RU 68/80 - SozR 2200 § 577 Nr 9) berufen. Das BSG hat in jenem Fall zwar einen unbilligen JAV angenommen. Ein LKW-Fahrer hatte dort seine frühere Erwerbstätigkeit nach einer Unterbrechung gerade innerhalb des Jahreszeitraums wieder aufgenommen und anschließend einen Versicherungsfall erlitten. Der JAV, der sich aus dem geringeren Einkommen errechnete, war nach billigem Ermessen neu festzusetzen.

33

Besondere, die Unbilligkeit begründende Umstände liegen im Fall der Klägerin nicht darin, dass sie ab 7.12.1999 in Erziehungsurlaub war und daneben eine Teilzeitbeschäftigung ausgeübt hat. Weder §§ 82 f SGB VII noch das BErzGG in der Fassung des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes vom 24.3.1997 (BGBl I 594), das zum 1.1.1998 in Kraft getreten ist, enthalten eine Regelung, nach der Sozialleistungen für Personen im arbeitsrechtlichen Erziehungsurlaub abweichend von den allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen zu berechnen wären.

34

Der Senat muss aus Anlass des vorliegenden Falls schließlich nicht entscheiden, ob eine Sozialleistung wie das Erziehungsgeld, das den Lebensstandard der Klägerin im Bezugszeitraum prägen kann, als Einkommen zugrunde zu legen ist, denn die Klägerin hat in dem hier maßgeblichen Jahreszeitraum kein Erziehungsgeld bezogen.

35

Der der Rentenberechnung zugrunde gelegte JAV ist mithin nicht in erheblichem Maße unbillig gemäß § 87 SGB VII.

36

4. Die für die Berechnung des JAV maßgeblichen Bestimmungen des SGB VII verletzen die Klägerin auch nicht in ihren Grundrechten.

37

a) Die Ausgestaltung der Regelungen über den Wert des Rechts auf Verletztenrente ohne besondere Berücksichtigung der Erziehung und Betreuung von Kindern verletzt nicht das Grundrecht aus Art 6 Abs 1 GG (vgl BVerfGE 87, 1 <35 ff>; 103, 242 <258 ff>; 109, 96 <125 f>). Zwar unterstellt Art 6 Abs 1 GG Ehe und Familie dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, verpflichtet den Staat jedoch nicht, jegliche die Familie treffende Belastung auszugleichen oder die Familie ohne Rücksicht auf sonstige öffentliche Belange zu fördern.

38

Das Grundrecht garantiert in seiner hier nicht betroffenen abwehrrechtlichen Funktion die Freiheit, über die Art und Weise der Gestaltung des ehelichen und familiären Zusammenlebens selbst zu entscheiden. Deshalb hat der Staat die Familiengemeinschaft sowohl im immateriell-persönlichen als auch im materiell-wirtschaftlichen Bereich in ihrer jeweiligen eigenständigen und selbstverantwortlichen Ausgestaltung zu respektieren (vgl BVerfGE 99, 216, 231). Darüber hinausgehend lassen sich aus der Wertentscheidung des Art 6 Abs 1 GG ggf in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip keine konkreten Folgerungen dafür ableiten, wie in den einzelnen Rechtsgebieten und Teilsystemen ein Familienlastenausgleich zu verwirklichen ist. Insoweit steht dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu (vgl BVerfGE 87, 1, 36 mwN), ohne dass aus dem Förderungsgebot des Art 6 Abs 1 GG konkrete Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen hergeleitet werden könnten (BVerfGE 107, 205, 213 mwN).

39

Mit der Gewährung von Erziehungsgeld und -urlaub sowie von Elterngeld und -zeit wird die Möglichkeit der Eigenbetreuung von Kindern bereits in beachtlichem Umfang gefördert. Zu einer weitergehenden Förderung der Kindesbetreuung innerhalb der Familie war der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht verpflichtet (zur Berücksichtigung von Erziehungsurlaub bei der Berechnung eines späteren Elterngelds BVerfG vom 6.6.2011 - 1 BvR 2712/09 - Juris RdNr 9; vgl auch BSG vom 17.2.2011 - B 10 EG 21/09 R; BVerfG 25.11.2004 - 1 BvR 2303/03 - BVerfGK 4, 215; BSG SozR 4-4300 § 124 Nr 1; BSG SozR 4-4300 § 147 Nr 3). Insbesondere ist zweifelhaft, ob das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV), dessen Versicherungsschutz ausschließlich aus Beiträgen der Arbeitgeber finanziert wird und das die zivilrechtliche Haftung des Arbeitgebers ersetzen soll, der geeignete Ort ist, die Schutzpflicht des Staates für die Familie einzufordern bzw zu verwirklichen. Die hier maßgeblichen Vorschriften über die Berechnung der Verletztenrente in der GUV, die einen besonderen Ausgleich für Zeiten des Erziehungsurlaubs nicht vorsehen, verletzen daher nicht das Grundrecht der Klägerin aus Art 6 Abs 1 GG.

40

b) Auch aus der Schutzpflicht des Staates für Mütter (Art 6 Abs 4 GG) können für Sachverhalte, die nicht allein Mütter betreffen, keine besonderen Rechte hergeleitet werden (vgl BVerfG 10.3.2010 - 1 BvL 11/07; BVerfG vom 12.3.1996 - 1 BvR 609/90 - BVerfGE 94, 241, 259 = SozR 3-2200 § 1255a Nr 5 S 13). Im vorliegenden Fall liegt kein Lebenssachverhalt vor, der hinsichtlich der Rechtsfolgen allein die Klägerin als Mutter betreffen kann. Vielmehr wäre ein Anspruch des Vaters des Kindes auf Verletztenrente nach denselben Grundsätzen zu beurteilen.

41

Aus Art 6 Abs 4 GG folgt - außer für die hier nicht fragliche Berücksichtigung von Mutterschutzzeiten - kein Schutzgebot, Personen, die Erziehungsurlaub genommen haben, hinsichtlich ihrer sozialrechtlichen Positionen so zu behandeln, wie ihre soziale Lebens- und Einkommenssituation vor der Geburt eines Kindes gewesen ist (vgl dazu BVerfG vom 28.3.2006 - 1 BvL 10/01 - BVerfGE 115, 259 = SozR 4-4300 § 123 Nr 3; BVerfG vom 11.3.2010 - 1 BvR 2909/08 - NZS 2010, 626) oder wie diese ohne den Erziehungsurlaub gewesen wäre. Erst recht ist der vollständige Ausgleich einer mit der Mutterschaft im weiteren Sinne zusammenhängenden, aber vor allem auf der Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub beruhenden wirtschaftlichen Belastung durch Art 6 Abs 4 GG verfassungsrechtlich nicht geboten (vgl auch BVerfG vom 14.3.2011 - 1 BvL 13/07 - Juris RdNr 64).

42

c) Art 3 Abs 2 GG als spezieller Gleichheitssatz ist nicht berührt.

43

Zwar mögen mehr Frauen als Männer von dem nachteiligen Effekt der Berücksichtigung des Erziehungsurlaubs bei Bestimmung des nach §§ 82 Abs 1, 87 Satz 1 SGB VII zugrunde zulegenden Jahreszeitraums betroffen sein. Dies ist jedoch auf die verbreitete familiäre Rollenverteilung zurückzuführen, der das BErzGG und das BEEG gerade entgegenwirken wollen (vgl zum Elterngeld BT-Drucks 16/1889, S 15 f, 18, 23). Aufgrund der angegriffenen Regelung kann es für Eltern, die in den ersten Lebensjahren eine Betreuung ihrer Kinder innerhalb der Familie wünschen, attraktiv sein, dass auch der Vater mit der Wahrnehmung von Erziehungszeit die Kinderbetreuung zeitweilig übernimmt, damit die Mutter in den Beruf zurückkehren und Einkommen erwirtschaften kann, das dann bei der Berechnung einer Verletztenrente oder anderer Entgeltersatzleistungen herangezogen wird. Eine Regelung, die die Zeiten der Erziehung von Kindern ausblendet, könnte dagegen einen durch Art 3 Abs 2 GG gerade nicht gebotenen Anreiz für das längerfristige Ausscheiden eines Elternteils aus dem Berufsleben schaffen. Dass der Gesetzgeber, der gleichwohl auch längerfristige familienbedingte Auszeiten durch die Elternzeit ermöglicht, diese nicht auch finanziell über die Berechnung von Sozialleistungen fördert, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (zur Berücksichtigung von Erziehungsurlaub bei der Berechnung eines späteren Elterngelds: BVerfG vom 6.6.2011 - 1 BvR 2712/09 - Juris RdNr 5).

44

d) Eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art 3 Abs 1 GG) liegt, wie das LSG bereits zutreffend aufgezeigt hat, ebenfalls nicht vor.

45

aa) Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Dem Gesetzgeber ist damit nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt das Grundrecht vielmehr nur, wenn er eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten abweichend behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen können (stRspr; vgl nur BVerfGE 117, 272, 300 f).

46

Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich zwar umso engere Grenzen, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (BVerfGE 106, 166, 176; BVerfGE 111, 176, 184). Die Berücksichtigung von Erziehungszeiten bei sozialen Leistungen mag Einfluss darauf haben, wie Eltern ihre grundrechtlich verankerte Erziehungsverantwortung wahrnehmen und das Leben in der Familie gestalten. Die Grenzen des allgemeinen Gleichheitssatzes sind mit der in § 82 Abs 1 bzw in § 87 Satz 1 SGB VII gewählten Regelung jedoch nicht überschritten. Der dem Gesetzgeber im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit für die Abgrenzung der begünstigten Personengruppen grundsätzlich zukommende Gestaltungsspielraum (vgl BVerfGE 99, 165, 178; BVerfGE 106, 166, 175 f) besteht auch hinsichtlich der Ausgestaltung der Familienförderung (vgl BVerfGE 87, 1, 35 f; BVerfGE 103, 242, 260).

47

Die Grenzen dieses Gestaltungsspielraums hat der Gesetzgeber gewahrt. Die Regelungen über den der Berechnung der Verletztenrente zugrunde liegenden Bemessungszeitraum sind - auch im Hinblick auf die mit der Verletztenrente verfolgten Zwecke - sachgerecht. Die Verletztenrente hat Einkommensersatzfunktion. Sie soll das Arbeitsentgelt oder -einkommen ersetzen, das ein erwerbsgeminderter Versicherter wegen des Versicherungsfalls nicht mehr erzielen kann (auch Entgeltausfallprinzip, vgl BVerfG vom 15.2.1993 - 1 BvR 1754/92 - Juris RdNr 7). Dies wird durch die §§ 82 f SGB VII erreicht. Zwar erwirtschaftet der betreuende Elternteil während des Erziehungsurlaubs, wenn er erwerbstätig ist, ein ersatzfähiges Einkommen. Dieses ist zwar nicht so hoch wie das durch eine Vollzeiterwerbstätigkeit erzielte Einkommen, das Entgelt aus einer Vollzeitbeschäftigung hat die Erwerbssituation der Familie aber in diesem zeitnah zum Versicherungsfall liegenden Zeitraum auch nicht geprägt. Mit Eintritt des Versicherungsfalls hat sich das Familieneinkommen deshalb nicht in dem Maße verschlechtert, in dem es sich verschlechtert hätte, wenn Entgelt aus einer Vollzeittätigkeit entfallen wäre (BVerfG vom 6.6.2011 - 1 BvR 2712/09 - Juris RdNr 8).

48

Art 3 Abs 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber auch nicht, die in der Gewährung von Erziehungsurlaub liegende familienpolitische Förderung auch in anderen Regelungszusammenhängen - hier bei der Gewährung sozialer Leistungen - uneingeschränkt zur Geltung zu bringen (vgl zur Berücksichtigung des Erziehungsurlaubs bei der Berechnung von Arbeitslosengeld: BVerfG vom 11.3.2010 - 1 BvR 2909/08 - NZS 2010, 626; BVerfG vom 25.11.2004 - 1 BvR 2303/03 - BVerfGK 4, 215, 218 f). Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, Zeiten, in denen der Bezieher von Verletztenrente aufgrund der Betreuung eines Kindes lediglich ein Entgelt aus Teilzeittätigkeit erwirtschaftet, bei der Berechnung von Verletztenrente über § 82 Abs 1 SGB VII oder § 87 Satz 1 SGB VII unberücksichtigt zu lassen oder gar von dem Entgelt einer Vollzeitbeschäftigung auszugehen.

49

bb) Schließlich liegt eine Ungleichbehandlung der Bezieher von Verletztenrente gegenüber den Beziehern anderer Sozialleistungen nicht vor. Der Gesetzgeber stellt vielmehr auch bei der Bemessung anderer Sozialleistungen auf vergleichsweise kurze Referenzzeiträume ab. Dies hat zur Folge, dass auch bei anderen Sozialleistungen mit Entgeltersatzfunktion Zeiten verminderten Einkommens in der Phase der Kindererziehung nicht ausgeglichen werden.

50

Bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes (Alg) sieht § 130 Abs 3 Nr 1 SGB III eine Erweiterung des Bemessungsrahmens auf zwei Jahre ausnahmsweise dann vor, wenn der im Regelbemessungsrahmen gemäß § 130 Abs 1 Satz 2 SGB III liegende Bemessungszeitraum weniger als 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt enthält(zu den Motiven: BT-Drucks 15/1515 S 85 ). Daraus folgt in Verbindung mit dem in § 130 Abs 1 Satz 1 SGB III geregelten Grundsatz, wonach der Bemessungszeitraum nur von Entgeltabrechnungszeiträumen "im Bemessungsrahmen" (nach Satz 2 aaO das Jahr bis zum letzten Tag des Versicherungspflichtverhältnisses vor der Entstehung des Anspruchs auf Alg gebildet werden kann, dass der Bemessung keine Zeiten mit Anspruch auf Arbeitsentgelt zugrunde gelegt werden können, die nicht wenigstens in einer Frist von zwei Jahren vor dem Versicherungsfall liegen(vgl zu der Berechnung nach Erziehungszeiten: BSG vom 29.5.2008 - B 11a/7a AL 64/06 R - Juris RdNr 25 f; zur Vereinbarung mit dem GG: BVerfG vom 25.11.2004 - 1 BvR 2303/03).

51

Das Krankengeld (Krg) wird nach dem Regelentgelt bemessen. Das ist das Entgelt, das während des letzten, mindestens vier Wochen umfassenden, vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit liegenden Entgeltabrechnungszeitraums erzielt worden ist (§ 47 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 1 SGB V). Der Anspruch auf Krg ruht allerdings, solange Versicherte Elternzeit nach dem BEEG in Anspruch nehmen (§ 49 Abs 1 Nr 2 SGB V), es sei denn, das Krg ist aus einem Entgelt zu berechnen, das aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung während der Elternzeit erzielt worden ist. Auch hier ist also nur das Entgelt zu ersetzen, das während der Elternzeit tatsächlich erzielt worden ist.

52

Für die Berechnung des Elterngeldes regelt § 2 BEEG, dass dieses in Höhe von 67 vH des in den zwölf Kalendermonaten vor der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Einkommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1800 € monatlich für zwölf, beziehungsweise vierzehn Monate gezahlt wird, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt. Gemäß § 2 Abs 7 Satz 5 und 6 BEEG bleiben bei der Bestimmung der zwölf für die Einkommensermittlung vor der Geburt des Kindes zugrunde zu legenden Monate jene Kalendermonate unberücksichtigt, während denen Elterngeld für ein älteres Kind oder Mutterschaftsgeld nach der RVO oder dem Gesetz über die Krankenversicherung für Landwirte bezogen wurde. Unberücksichtigt bleiben auch Monate, in denen wegen einer maßgeblich auf die Schwangerschaft zurückzuführenden Krankheit Einkommen aus Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise weggefallen ist. Einbezogen werden dagegen Monate, in denen der berechtigte Elternteil Elternzeit ohne den Bezug von Elterngeld wahrgenommen hat.

53

Gegenüber den hier dargestellten Entgeltersatzleistungen hat die Verletztenrente zwar eher den Charakter einer auf Dauer angelegten Leistung. Sie wird gezahlt, wenn und solange die Erwerbsfähigkeit über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus gemindert ist (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Bis zu drei Jahre lang kann die Rente als vorläufige Entschädigung festgesetzt werden (§ 62 Abs 1 Satz 1, Abs 2 SGB VII). Nach dieser Zeit sind Änderungen nur nach Maßgabe der §§ 73 SGB VII, 48 SGB X möglich. Ist eine MdE auf Dauer eingetreten, die eine Besserung nicht erwarten lässt, ist die Verletztenrente auf Dauer zu leisten. Die Rente unterscheidet sich insofern vom Alg, dessen Anspruchsdauer auf sechs bis höchstens 24 Monate begrenzt ist (§ 127 SGB III), und vom Krg, das für dieselbe Erkrankung auf 78 Wochen in drei Jahren begrenzt ist (§ 48 Abs 1 Satz 1 SGB V). Der Charakter der Verletztenrente als einer eher auf Dauer angelegten Leistung vermag den Gesetzgeber aber nicht zu verpflichten, für die Bemessung einer solchen Leistung zwingend einen längeren Bemessungszeitraum als ein Jahr zugrunde zu legen. Vielmehr ist der Gesetzgeber nur gehalten, ein sachgerechtes Konzept für die Bemessung der Leistung zu wählen und von diesem dann nicht aus sachlich nicht zu rechtfertigenden Gründen abzuweichen. Das ist hier nicht geschehen.

54

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Ist ein nach der Regelberechnung, nach den Vorschriften bei Berufskrankheiten oder nach der Regelung über den Mindestjahresarbeitsverdienst festgesetzter Jahresarbeitsverdienst in erheblichem Maße unbillig, wird er nach billigem Ermessen im Rahmen von Mindest- und Höchstjahresarbeitsverdienst festgesetzt. Hierbei werden insbesondere die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls berücksichtigt.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. September 2010 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf höhere Verletztenrente hat. Die Klägerin hält es für unbillig, dass der Jahresarbeitsverdienst (JAV) nach ihrer zuletzt ausgeübten Teilzeitbeschäftigung berechnet worden ist.

2

Die 1965 geborene Klägerin arbeitete nach abgeschlossener Berufsausbildung als Krankenschwester. Der Umfang ihrer Arbeitszeit wechselte mehrfach zwischen Vollzeit- und Teilzeittätigkeiten. Im Einzelnen war sie wie folgt beschäftigt:

3
        

01.07.1984 - 30.09.1986

Praktikantin in der Krankenpflege, Vollzeit

01.10.1986 - 30.09.1989

Ausbildung zur Krankenpflegerin, Vollzeit

01.10.1989 - 30.04.1990

Krankenschwester, Vollzeit

01.05.1990 - 31.05.1990

unbelegt

01.06.1990 - 30.06.1991

Krankenschwester, Teilzeit

01.07.1991 - 31.01.1992

Krankenschwester, Vollzeit

01.02.1992 - 31.03.1995

Krankenschwester, Teilzeit

01.04.1995 - 21.07.1999

Krankenschwester, Vollzeit

22.07.1999 - 27.10.1999

Mutterschutz

28.10.1999 - 06.12.1999

Jahresurlaub gemäß einer Vollzeitstelle

07.12.1999 - 31.01.2000

Bezug von Erziehungsgeld

01.02.2000 - 31.08.2002

befristete Teilzeittätigkeit (19,00 Std.) im Rahmen des Erziehungsurlaubs

07.04.2001 - 02.07.2001

Eintritt des Versicherungsfalls, danach Entgeltfortzahlung aus Teilzeitbeschäftigung

03.07.2001 - 03.02.2002

Bezug von Verletztengeld

4

Mit Verwaltungsakt vom 25.5.2005 erkannte die Beklagte ua eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit (BK) nach Nr 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung an. Sie stellte fest, dass der Versicherungsfall am 7.4.2001 eingetreten war. Ab 4.2.2002 bewilligte sie der Klägerin Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH und legte der Berechnung der Rente einen JAV von 18.076,74 EUR zugrunde, der dem aus der Teilzeitbeschäftigung vom 1.4.2000 bis 31.3.2001 erzielten Arbeitsentgelt entsprach.

5

Gegen diesen Verwaltungsakt im Bescheid vom 25.5.2005 erhob die Klägerin Widerspruch. Sie machte geltend, die Berechnung des JAV nach dem Entgelt, das sie aus der während des Erziehungsurlaubs ausgeübten Teilzeitbeschäftigung erzielt habe, sei rechtswidrig. Hierin liege eine Benachteiligung ihrer Familie. Wegen fehlender Betreuungsmöglichkeiten für Kinder unter drei Jahren habe sie keine Alternative zum Erziehungsurlaub gehabt. Es sei für sie nicht nachvollziehbar, dass der Anspruch nunmehr nach der bei Eintritt des Versicherungsfalls ausgeübten Teilzeittätigkeit berechnet werde, da vor allem ihre Vollzeitbeschäftigung den Eintritt der BK begünstigt habe und eine erneute Vollzeitbeschäftigung geplant gewesen sei. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 25.8.2005).

6

Die Klägerin hat beim SG Dortmund Klage erhoben und geltend gemacht, ihre Lebensstellung sei durch die Einkünfte aus der früheren Vollzeittätigkeit geprägt gewesen. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19.12.2008).

7

Hiergegen hat die Klägerin Berufung zum LSG Nordrhein-Westfalen eingelegt. Sie hat dort vorgetragen, die Festsetzung des JAV durch die Beklagte sei unbillig, da der zugrunde gelegte JAV nicht der Einkommenssituation entspreche, die sie in ihrem Erwerbsleben erreicht habe. Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass sie während ihrer Berufstätigkeit überwiegend eine Vollzeitstelle innegehabt und sich ihr Lebensstandard hieran orientiert habe. Eine Regelung zur Bemessung des JAV, die starr auf den Zeitraum des Jahres vor Eintritt des Versicherungsfalls abstelle, verletze ihre Grundrechte aus Art 6 und Art 3 GG.

8

Das LSG hat die Berufung mit Urteil vom 15.9.2010 zurückgewiesen. Die Berechnung des JAV entspreche den gesetzlichen Vorgaben, insbesondere des § 82 Abs 1 SGB VII. Eine Korrektur des Ergebnisses nach § 87 SGB VII sei nicht geboten, weil ein Fall unbilliger Härte nicht vorliege. Vielmehr sei das Unfallversicherungsrecht von dem Grundsatz geprägt, dass für die Berechnung der Leistung die Verhältnisse im Jahr vor dem Versicherungsfall maßgebend seien. Früher erzielte Entgelte seien grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Der nach Maßgabe des § 82 Abs 1 SGB VII festgesetzte JAV sei nicht unbillig, er könne deshalb nicht anders festgesetzt werden. Wäre ein Fall der Unbilligkeit gegeben, müsste das Entgelt nicht nach dem Verdienst einer Vollzeitbeschäftigung, sondern nach billigem Ermessen der Beklagten nach einem Wert zwischen dem Mindest- und Höchstjahresarbeitsverdienst festgesetzt werden. Die maßgebenden Regelungen des SGB VII seien von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Insbesondere entspreche es den gesetzlichen Regelungen in anderen Bereichen, dass für Zeiten des Erziehungsurlaubs bzw der Elternzeit geringere Leistungen erworben würden als ohne die Zurücklegung dieser Zeiten. Entsprechende gesetzliche Regelungen zur Berechnung von Sozialleistungen seien vom BVerfG gebilligt worden. Eine Verletzung des Art 3 Abs 1 GG (Gleichheitssatz), des Art 6 Abs 1 GG (Schutz von Ehe und Familie) oder des Art 6 Abs 4 GG (staatliche Schutzpflicht für Mütter) liege nicht vor.

9

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 87 SGB VII. Sie macht einen Anspruch auf höhere Rente geltend, der nach einem gemäß § 87 SGB VII höher festzusetzenden JAV zu berechnen sei. Die Festsetzung des JAV sei in erheblichem Maße unbillig. Sie habe unmittelbar vor dem Beginn der Mutterschutzfrist, nämlich in der Zeit vom 1.4.1995 bis 21.7.1999 in Vollzeit als Krankenschwester gearbeitet. Im Anschluss an die Mutterschutzzeit habe sie Erziehungsurlaub genommen. Dass sie vorübergehend eine geringer bezahlte Teilzeittätigkeit übernommen habe, führe zu einem deutlich geringeren Arbeitsentgelt. In der Rechtsprechung sei anerkannt, dass ein Abweichen des JAV gegenüber den tatsächlichen Gegebenheiten um ca 40 vH eine erhebliche Unbilligkeit begründe. Diese Voraussetzungen seien erfüllt. Auch habe sie den Umfang ihrer Beschäftigung wegen Kinderbetreuung nur vorübergehend reduziert. Dieser Umstand begründe ebenfalls die Unbilligkeit des JAV, sodass der festgesetzte JAV so zu korrigieren sei, dass der der Rente zugrunde gelegte JAV dem Entgelt aus einer Vollzeitbeschäftigung entspreche. Bei der Auslegung der Vorschrift sei der Schutzauftrag des Art 6 Abs 4 GG zu beachten, der gewährleiste, dass ihr durch die Mutterschaft keine Nachteile entstehen dürften. Schließlich enthalte § 87 SGB VII keinen Hinweis darauf, dass die Vorschrift Mütter im Erziehungsurlaub ausschließe.

10

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. September 2010 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 19. Dezember 2008 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. August 2005 zu ändern und die Beklagte zu verpflichten, ihr höhere Rente unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bewilligen.

11

Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

12

Sie hält die angefochtenen gerichtlichen Entscheidungen sowie ihre Bescheide für rechtmäßig.

Entscheidungsgründe

13

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet.

14

Das LSG hat die Berufung der Klägerin gegen das die Klage abweisende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Der angefochtene Verwaltungsakt im Bescheid der Beklagten vom 25.5.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.8.2005 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beklagte ist daher nicht zu verpflichten, der Klägerin höhere Verletztenrente nach einem höheren, von der Beklagten festzusetzenden JAV zu bewilligen.

15

Die Klägerin macht einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Bewilligung eines höheren Rechts auf Rente gemäß § 56 Abs 1 Satz 1, Abs 3, § 82 Abs 1 Satz 1, § 87 SGB VII geltend. Um dieses Rechtsschutzziel zu erreichen, ist die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage die richtige Klageart (§ 54 Abs 1, Abs 2 Satz 1 und 2 SGG; zur Klageart auch: LSG Berlin vom 9.8.2004 - L 16 U 79/03; zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung einer solchen Klage: BSG vom 25.3.2003 - B 1 KR 33/01 R - SozR 4-1500 § 54 Nr 1). Wäre - wie die Klägerin geltend macht - ein nach der Regelberechnung festgesetzter JAV in erheblichem Maße unbillig, wären die angefochtenen Verwaltungsakte aufzuheben und der beklagte Unfallversicherungsträger zu verpflichten, die Klägerin aufgrund erforderlicher Neufestsetzung des JAV nach pflichtgemäßem Ermessen hinsichtlich der Höhe der Rente neu zu bescheiden (vgl auch BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 - Juris RdNr 19 = HV-Info 1992, 428).

16

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf höhere Rente nach § 56 SGB VII. Vielmehr hat die Beklagte die Rente der Klägerin zu Recht nach einem JAV von 18.076,74 Euro berechnet und bewilligt. Insbesondere ist der der Berechnung der Rente zugrunde gelegte JAV nicht gemäß § 87 Satz 1 SGB VII in erheblichem Maße unbillig und deshalb neu festzusetzen.

17

Der JAV ist zunächst nach der Regelberechnung des § 82 Abs 1 SGB VII (1.) und - falls dies günstiger ist - nach § 84 Satz 1 SGB VII (2.) festzusetzen. Erst nach dieser Festsetzung ist in einem weiteren Schritt zu prüfen (BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 15/02 R - SozR 4-2700 § 87 Nr 1 RdNr 11), ob der im Einzelfall berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist (3.). Die maßgeblichen Bestimmungen zur Berechnung des JAV verletzen nicht die Grundrechte der Klägerin (4.).

18

1. Gemäß § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII ist der JAV der Gesamtbetrag der Arbeitsentgelte(§ 14 SGB IV) und Arbeitseinkommen (§ 15 SGB IV) des Versicherten in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist. Unter Arbeitsentgelt sind nach der Legaldefinition des § 14 Abs 1 Satz 1 SGB IV alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung zu verstehen, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf diese besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Arbeitsentgelt sind mithin solche Einnahmen, die einem Versicherten in ursächlichem Zusammenhang mit einer Beschäftigung zufließen (vgl BSGE 60, 39, 40 = SozR 2200 § 571 Nr 25 S 58; BSG SozR 2100 § 14 Nr 19).

19

Da der Versicherungsfall der BK 2108 bei der Klägerin am 7.4.2001, also im Kalendermonat April 2001 eingetreten ist, sind für die Festsetzung des JAV nach § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII die zwölf Kalendermonate vor diesem Monat, also die Zeit vom 1.4.2000 bis 31.3.2001 maßgebend. In diesem Zeitraum hat die Klägerin (allein) Arbeitsentgelt in Höhe von 18.076,74 Euro brutto erzielt. Diesem Betrag entspricht der nach § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII festzusetzende JAV.

20

2. Nach § 84 Satz 1 SGB VII gilt bei Berufskrankheiten für die Berechnung des JAV als Zeitpunkt des Versicherungsfalls der letzte Tag, an dem die Versicherten versicherte Tätigkeiten verrichtet haben, die ihrer Art nach geeignet waren, die Berufskrankheit zu verursachen, wenn diese Berechnung für die Versicherten günstiger ist als eine Berechnung auf der Grundlage des in § 9 Abs 5 SGB VII genannten Zeitpunktes. Dies gilt nach § 84 Satz 2 SGB VII ohne Rücksicht darauf, aus welchen Gründen die schädigende versicherte Tätigkeit aufgegeben worden ist.

21

Wie zwischen den Beteiligten unstreitig feststeht, ist die Klägerin tatsächlich bis zum 7.4.2001, dem Tag des Eintritts des Versicherungsfalls, als Krankenschwester tätig gewesen. Aufgrund dieses Umstands gilt (auch) für die Berechnung des JAV nach § 84 Satz 1 SGB VII der 7.4.2001 als Zeitpunkt des Versicherungsfalls. Nach § 84 Satz 1 SGB VII ergibt sich für die Berechnung des JAV also derselbe Zeitraum wie nach § 82 Abs 1 Satz 1 SGB VII, nämlich die Zeit vom 1.4.2000 bis 31.3.2001. Der JAV beträgt 18.076,74 Euro.

22

3. Der JAV ist im Fall der Klägerin nicht gemäß § 87 Satz 1 SGB VII nach billigem Ermessen der Beklagten im Rahmen von Mindest- und Höchstjahresarbeitsverdienst neu festzusetzen, denn die Voraussetzungen des Tatbestands der Vorschrift sind nicht erfüllt. Die Festsetzung des JAV nach der Regelberechnung (§ 82 SGB VII) oder nach der Vorschrift bei Berufskrankheiten (§ 84 SGB VII) ist nicht "in erheblichem Maße unbillig".

23

§ 87 Satz 1 SGB VII bestimmt, dass der JAV, wenn er nach der Regelberechnung, nach den Vorschriften bei Berufskrankheiten, den Vorschriften für Kinder oder nach der Regelung über den Mindestjahresarbeitsverdienst festgesetzt ist und in erheblichem Maße unbillig ist, nach billigem Ermessen im Rahmen von Mindest- und Höchstjahresarbeitsverdienst festgesetzt wird. Hierbei werden nach § 87 Satz 2 SGB VII insbesondere die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls berücksichtigt. Voraussetzung für die Anwendung des § 87 SGB VII ist, dass in einem ersten Schritt eine Festsetzung des JAV nach § 82 SGB VII (Regelberechnung), nach § 84 SGB VII (JAV bei Berufskrankheiten), nach § 85 SGB VII (Mindest-JAV) oder nach § 86 SGB VII (JAV für Kinder) erfolgt ist. Bei dieser Festsetzung des JAV muss es sich um die erstmalige handeln (BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 15/02 R - SozR 4-2700 § 87 Nr 1 RdNr 9).

24

Ob der berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist, kann das Gericht in vollem Umfang selbst überprüfen, denn es handelt sich um die Auslegung und Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Der Unfallversicherungsträger ist insoweit nicht befugt, nach seinem Ermessen zu entscheiden, da die erhebliche Unbilligkeit Tatbestandsmerkmal ist. Ihm steht in dieser Frage auch kein Beurteilungsspielraum zu (jew noch zur Vorgängerregelung § 577 RVO: BSG vom 3.12.2002 - B 2 U 23/02 R - SozR 3-2200 § 577 Nr 2; BSG vom 28.1.1993 - 2 RU 15/92 - HV-Info 1993, 972; BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 - HV-Info 1992, 428; BSGE 73, 258, 260 = SozR 3-2200 § 577 Nr 1 S 3; BSG vom 24.4.1975 - 8 RU 36/74; BSGE 32, 169, 173 = SozR Nr 1 zu § 577 RVO; BSG SozR 2200 § 577 Nr 9). Die Vorschrift soll atypische Fallgestaltungen erfassen und - ausgerichtet ua am Lebensstandard des Versicherten - für diesen zu einem billigen Ergebnis führen. Ziel der Regelung ist es, den JAV als Grundlage der Rente so zu bemessen, dass der Lebensstandard gesichert wird, den der Versicherte zeitnah vor dem Versicherungsfall erreicht und auf den er sich eingerichtet hat. Die Anwendung des § 87 SGB VII kann deshalb im Einzelfall sowohl eine Erhöhung als auch eine Reduzierung des nach §§ 82 bis 86 SGB VII berechneten JAV bewirken( Schudmann in jurisPK-SGB VII, § 87 SGB VII RdNr 6).

25

§ 87 Satz 2 SGB VII nennt, ohne abschließend zu sein(s bereits zum früheren Recht BSG vom 26.6.1958 - BSGE 7, 269, 273; BT-Drucks 13/2204 S 96), Kriterien für die Beurteilung der Unbilligkeit. Bei der Überprüfung des JAV sind die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls zu berücksichtigen. In Bezug auf die erreichte "Lebensstellung" ist darauf abzustellen, welche Einkünfte die Einkommenssituation des Versicherten geprägt haben (Schudmann in jurisPK-SGB VII § 87 RdNr 18). In zeitlicher Hinsicht ist zu prüfen, welche Einkünfte der Versicherte innerhalb der Jahresfrist vor dem Versicherungsfall erzielt hat. Seine Einnahmen aus Erwerbstätigkeit im maßgeblichen Jahreszeitraum sind mit dem Ergebnis der gesetzlichen Berechnung zu vergleichen. Durch diesen Vergleich ergibt sich, ob der nach gesetzlichen Vorgaben festgesetzte Betrag des JAV außerhalb jeder Beziehung zu den Einnahmen steht, die für den Versicherten zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls oder innerhalb der Jahresfrist vor diesem Zeitpunkt die finanzielle Lebensgrundlage gebildet haben (BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 15/02 R - SozR 4-2700 § 87 Nr 1 RdNr 17; so auch BSG vom 28.4.1977 - 2 RU 39/75 - BSGE 44, 12 = SozR 2200 § 571 Nr 10). Die Festsetzung des JAV ist danach nicht in erheblichem Maße unbillig, wenn der nach den §§ 82 bis 86 SGB VII ermittelte JAV den Fähigkeiten, der Ausbildung, Lebensstellung und Tätigkeit der Versicherten in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat des Versicherungsfalls entspricht(so das LSG im angefochtenen Urteil; ebenso LSG Berlin vom 9.8.2004 - L 16 U 79/03; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 87 RdNr 6).

26

Bei der Klägerin ist im maßgeblichen Jahreszeitraum eine solche Änderung in der Beschäftigung, der ausgeübten Tätigkeit, dem Stand ihrer Aus- und Weiterbildung sowie dem die Lebensstellung prägenden Arbeitsentgelt nicht eingetreten. Daher ist der gesetzliche JAV nach dem erzielten Entgelt nicht unbillig.

27

Ungleichheiten zwischen tatsächlichem Einkommen und gesetzlich berechnetem JAV, wie sie sich auch aus Änderungen der Arbeitszeit und des -entgelts ergeben können, begründen eine Unbilligkeit des JAV in erheblichem Maße nur, wenn sie innerhalb der auch nach § 87 SGB VII maßgebenden Jahresfrist eingetreten sind. Ist es dagegen so, dass - wie hier - der Umfang der Tätigkeit und das Arbeitsentgelt innerhalb des Zeitraums, nach dem sich der JAV errechnet, unverändert geblieben sind, fehlt es an einer Unbilligkeit der Festsetzung des JAV.

28

Dies folgt aus Sinn und Zweck der §§ 82 f SGB VII. Die Regelungen zur Berechnung des JAV sollen eine einfache, schnell praktizierbare und nachvollziehbare Berechnung des JAV in der Verwaltungspraxis ermöglichen. Um dies zu erreichen, soll die Aufarbeitung einer langfristigen Erwerbsbiografie mit ggf schwierig zu ermittelnden Änderungen von Entgelt und/oder Einkommen gerade vermieden werden. Dieses Regelungskonzept kommt oftmals gerade den Versicherten zu Gute, insbesondere wenn sie zuletzt in ihrem Erwerbsleben eine vergleichsweise gute berufliche Position, einen hohen Ausbildungsstand und damit eine entsprechende Lebensstellung erreicht haben. Andererseits sieht das SGB VII aber gerade keine Verlängerung des maßgeblichen Jahreszeitraums vor, wenn die Arbeitszeit und das Arbeitsentgelt außerhalb der Jahresfrist reduziert wurden.

29

Der Gesetzgeber hat den Jahreszeitraum als Grundlage der Berechnung des JAV vielmehr bewusst gewählt, um eine zeitnahe Berechnungsgrundlage zu haben (BT-Drucks 13/2204, S 95; dazu auch Köllner in Lauterbach, Unfallversicherung SGB VII, Stand September 2007, § 82 RdNr 21; Schmitt, Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII, 4. Aufl § 82 RdNr 4). Nur wenn besondere Umstände vorliegen, die sich auf den maßgeblichen Zeitraum auswirken und die eine erhebliche Unbilligkeit der Regelberechnung begründen (unterwertige Beschäftigung; Verdienstausfall innerhalb der Jahresfrist zB durch unbezahlten Urlaub; dazu BSG 11.2.1981 - 2 RU 65/79 - BSGE 51, 178, 182), kann eine Korrektur des JAV über § 87 SGB VII angezeigt sein.

30

Welche Schwierigkeiten sich aus einer längere Zeiträume betrachtenden Prüfung ergeben würden, zeigt beispielhaft der vorliegende Fall. So soll nach Auffassung der Klägerin die Zeit der letzten Vollzeittätigkeit (1.4.1995 bis 21.7.1999) maßgeblich sein. Stattdessen hat das LSG auf das gesamte Erwerbsleben der Klägerin abgestellt, und gemeint, insoweit würde eine Vollzeitbeschäftigung der Klägerin nicht überwiegen (vgl auch BSG vom 29.10.1981 - 8/8a RU 68/80 - SozR 2200 § 577 Nr 9 S 12, 13). Beide Zeiträume sind aber als Vergleichsmaßstab ungeeignet, denn zu ermitteln ist der Jahres-Arbeitsverdienst.

31

Der Anwendung des Jahresprinzips für die Festsetzung des JAV ist auch die Rechtsprechung ganz überwiegend gefolgt. So hat es das LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 1.4.2003 - L 3 U 334/02) als rechtmäßig angesehen, den JAV im Rahmen des § 82 Abs 1 SGB VII nach dem Entgelt festzusetzen, das der Kläger aus einer Beschäftigung in (Alters-)Teilzeit erzielt hat. Für die Berechnung des JAV sei das tatsächlich erzielte Entgelt maßgebend und nicht das Entgelt, das er ohne eine Alters-Teilzeit-Vereinbarung erzielt hätte. Eine Entgeltlücke, die nach § 82 Abs 2 Satz 1 oder § 87 SGB VII aufzufüllen wäre, liege nicht vor. Allerdings sei eine Aufstockungsleistung des Arbeitgebers zu berücksichtigen, wenn sie innerhalb des Jahreszeitraums gezahlt worden sei.

32

Die Klägerin kann sich auch nicht auf die Entscheidung des BSG vom 29.10.1981 (8/8a RU 68/80 - SozR 2200 § 577 Nr 9) berufen. Das BSG hat in jenem Fall zwar einen unbilligen JAV angenommen. Ein LKW-Fahrer hatte dort seine frühere Erwerbstätigkeit nach einer Unterbrechung gerade innerhalb des Jahreszeitraums wieder aufgenommen und anschließend einen Versicherungsfall erlitten. Der JAV, der sich aus dem geringeren Einkommen errechnete, war nach billigem Ermessen neu festzusetzen.

33

Besondere, die Unbilligkeit begründende Umstände liegen im Fall der Klägerin nicht darin, dass sie ab 7.12.1999 in Erziehungsurlaub war und daneben eine Teilzeitbeschäftigung ausgeübt hat. Weder §§ 82 f SGB VII noch das BErzGG in der Fassung des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes vom 24.3.1997 (BGBl I 594), das zum 1.1.1998 in Kraft getreten ist, enthalten eine Regelung, nach der Sozialleistungen für Personen im arbeitsrechtlichen Erziehungsurlaub abweichend von den allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen zu berechnen wären.

34

Der Senat muss aus Anlass des vorliegenden Falls schließlich nicht entscheiden, ob eine Sozialleistung wie das Erziehungsgeld, das den Lebensstandard der Klägerin im Bezugszeitraum prägen kann, als Einkommen zugrunde zu legen ist, denn die Klägerin hat in dem hier maßgeblichen Jahreszeitraum kein Erziehungsgeld bezogen.

35

Der der Rentenberechnung zugrunde gelegte JAV ist mithin nicht in erheblichem Maße unbillig gemäß § 87 SGB VII.

36

4. Die für die Berechnung des JAV maßgeblichen Bestimmungen des SGB VII verletzen die Klägerin auch nicht in ihren Grundrechten.

37

a) Die Ausgestaltung der Regelungen über den Wert des Rechts auf Verletztenrente ohne besondere Berücksichtigung der Erziehung und Betreuung von Kindern verletzt nicht das Grundrecht aus Art 6 Abs 1 GG (vgl BVerfGE 87, 1 <35 ff>; 103, 242 <258 ff>; 109, 96 <125 f>). Zwar unterstellt Art 6 Abs 1 GG Ehe und Familie dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, verpflichtet den Staat jedoch nicht, jegliche die Familie treffende Belastung auszugleichen oder die Familie ohne Rücksicht auf sonstige öffentliche Belange zu fördern.

38

Das Grundrecht garantiert in seiner hier nicht betroffenen abwehrrechtlichen Funktion die Freiheit, über die Art und Weise der Gestaltung des ehelichen und familiären Zusammenlebens selbst zu entscheiden. Deshalb hat der Staat die Familiengemeinschaft sowohl im immateriell-persönlichen als auch im materiell-wirtschaftlichen Bereich in ihrer jeweiligen eigenständigen und selbstverantwortlichen Ausgestaltung zu respektieren (vgl BVerfGE 99, 216, 231). Darüber hinausgehend lassen sich aus der Wertentscheidung des Art 6 Abs 1 GG ggf in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip keine konkreten Folgerungen dafür ableiten, wie in den einzelnen Rechtsgebieten und Teilsystemen ein Familienlastenausgleich zu verwirklichen ist. Insoweit steht dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu (vgl BVerfGE 87, 1, 36 mwN), ohne dass aus dem Förderungsgebot des Art 6 Abs 1 GG konkrete Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen hergeleitet werden könnten (BVerfGE 107, 205, 213 mwN).

39

Mit der Gewährung von Erziehungsgeld und -urlaub sowie von Elterngeld und -zeit wird die Möglichkeit der Eigenbetreuung von Kindern bereits in beachtlichem Umfang gefördert. Zu einer weitergehenden Förderung der Kindesbetreuung innerhalb der Familie war der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht verpflichtet (zur Berücksichtigung von Erziehungsurlaub bei der Berechnung eines späteren Elterngelds BVerfG vom 6.6.2011 - 1 BvR 2712/09 - Juris RdNr 9; vgl auch BSG vom 17.2.2011 - B 10 EG 21/09 R; BVerfG 25.11.2004 - 1 BvR 2303/03 - BVerfGK 4, 215; BSG SozR 4-4300 § 124 Nr 1; BSG SozR 4-4300 § 147 Nr 3). Insbesondere ist zweifelhaft, ob das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV), dessen Versicherungsschutz ausschließlich aus Beiträgen der Arbeitgeber finanziert wird und das die zivilrechtliche Haftung des Arbeitgebers ersetzen soll, der geeignete Ort ist, die Schutzpflicht des Staates für die Familie einzufordern bzw zu verwirklichen. Die hier maßgeblichen Vorschriften über die Berechnung der Verletztenrente in der GUV, die einen besonderen Ausgleich für Zeiten des Erziehungsurlaubs nicht vorsehen, verletzen daher nicht das Grundrecht der Klägerin aus Art 6 Abs 1 GG.

40

b) Auch aus der Schutzpflicht des Staates für Mütter (Art 6 Abs 4 GG) können für Sachverhalte, die nicht allein Mütter betreffen, keine besonderen Rechte hergeleitet werden (vgl BVerfG 10.3.2010 - 1 BvL 11/07; BVerfG vom 12.3.1996 - 1 BvR 609/90 - BVerfGE 94, 241, 259 = SozR 3-2200 § 1255a Nr 5 S 13). Im vorliegenden Fall liegt kein Lebenssachverhalt vor, der hinsichtlich der Rechtsfolgen allein die Klägerin als Mutter betreffen kann. Vielmehr wäre ein Anspruch des Vaters des Kindes auf Verletztenrente nach denselben Grundsätzen zu beurteilen.

41

Aus Art 6 Abs 4 GG folgt - außer für die hier nicht fragliche Berücksichtigung von Mutterschutzzeiten - kein Schutzgebot, Personen, die Erziehungsurlaub genommen haben, hinsichtlich ihrer sozialrechtlichen Positionen so zu behandeln, wie ihre soziale Lebens- und Einkommenssituation vor der Geburt eines Kindes gewesen ist (vgl dazu BVerfG vom 28.3.2006 - 1 BvL 10/01 - BVerfGE 115, 259 = SozR 4-4300 § 123 Nr 3; BVerfG vom 11.3.2010 - 1 BvR 2909/08 - NZS 2010, 626) oder wie diese ohne den Erziehungsurlaub gewesen wäre. Erst recht ist der vollständige Ausgleich einer mit der Mutterschaft im weiteren Sinne zusammenhängenden, aber vor allem auf der Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub beruhenden wirtschaftlichen Belastung durch Art 6 Abs 4 GG verfassungsrechtlich nicht geboten (vgl auch BVerfG vom 14.3.2011 - 1 BvL 13/07 - Juris RdNr 64).

42

c) Art 3 Abs 2 GG als spezieller Gleichheitssatz ist nicht berührt.

43

Zwar mögen mehr Frauen als Männer von dem nachteiligen Effekt der Berücksichtigung des Erziehungsurlaubs bei Bestimmung des nach §§ 82 Abs 1, 87 Satz 1 SGB VII zugrunde zulegenden Jahreszeitraums betroffen sein. Dies ist jedoch auf die verbreitete familiäre Rollenverteilung zurückzuführen, der das BErzGG und das BEEG gerade entgegenwirken wollen (vgl zum Elterngeld BT-Drucks 16/1889, S 15 f, 18, 23). Aufgrund der angegriffenen Regelung kann es für Eltern, die in den ersten Lebensjahren eine Betreuung ihrer Kinder innerhalb der Familie wünschen, attraktiv sein, dass auch der Vater mit der Wahrnehmung von Erziehungszeit die Kinderbetreuung zeitweilig übernimmt, damit die Mutter in den Beruf zurückkehren und Einkommen erwirtschaften kann, das dann bei der Berechnung einer Verletztenrente oder anderer Entgeltersatzleistungen herangezogen wird. Eine Regelung, die die Zeiten der Erziehung von Kindern ausblendet, könnte dagegen einen durch Art 3 Abs 2 GG gerade nicht gebotenen Anreiz für das längerfristige Ausscheiden eines Elternteils aus dem Berufsleben schaffen. Dass der Gesetzgeber, der gleichwohl auch längerfristige familienbedingte Auszeiten durch die Elternzeit ermöglicht, diese nicht auch finanziell über die Berechnung von Sozialleistungen fördert, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (zur Berücksichtigung von Erziehungsurlaub bei der Berechnung eines späteren Elterngelds: BVerfG vom 6.6.2011 - 1 BvR 2712/09 - Juris RdNr 5).

44

d) Eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art 3 Abs 1 GG) liegt, wie das LSG bereits zutreffend aufgezeigt hat, ebenfalls nicht vor.

45

aa) Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Dem Gesetzgeber ist damit nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt das Grundrecht vielmehr nur, wenn er eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten abweichend behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen können (stRspr; vgl nur BVerfGE 117, 272, 300 f).

46

Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich zwar umso engere Grenzen, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (BVerfGE 106, 166, 176; BVerfGE 111, 176, 184). Die Berücksichtigung von Erziehungszeiten bei sozialen Leistungen mag Einfluss darauf haben, wie Eltern ihre grundrechtlich verankerte Erziehungsverantwortung wahrnehmen und das Leben in der Familie gestalten. Die Grenzen des allgemeinen Gleichheitssatzes sind mit der in § 82 Abs 1 bzw in § 87 Satz 1 SGB VII gewählten Regelung jedoch nicht überschritten. Der dem Gesetzgeber im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit für die Abgrenzung der begünstigten Personengruppen grundsätzlich zukommende Gestaltungsspielraum (vgl BVerfGE 99, 165, 178; BVerfGE 106, 166, 175 f) besteht auch hinsichtlich der Ausgestaltung der Familienförderung (vgl BVerfGE 87, 1, 35 f; BVerfGE 103, 242, 260).

47

Die Grenzen dieses Gestaltungsspielraums hat der Gesetzgeber gewahrt. Die Regelungen über den der Berechnung der Verletztenrente zugrunde liegenden Bemessungszeitraum sind - auch im Hinblick auf die mit der Verletztenrente verfolgten Zwecke - sachgerecht. Die Verletztenrente hat Einkommensersatzfunktion. Sie soll das Arbeitsentgelt oder -einkommen ersetzen, das ein erwerbsgeminderter Versicherter wegen des Versicherungsfalls nicht mehr erzielen kann (auch Entgeltausfallprinzip, vgl BVerfG vom 15.2.1993 - 1 BvR 1754/92 - Juris RdNr 7). Dies wird durch die §§ 82 f SGB VII erreicht. Zwar erwirtschaftet der betreuende Elternteil während des Erziehungsurlaubs, wenn er erwerbstätig ist, ein ersatzfähiges Einkommen. Dieses ist zwar nicht so hoch wie das durch eine Vollzeiterwerbstätigkeit erzielte Einkommen, das Entgelt aus einer Vollzeitbeschäftigung hat die Erwerbssituation der Familie aber in diesem zeitnah zum Versicherungsfall liegenden Zeitraum auch nicht geprägt. Mit Eintritt des Versicherungsfalls hat sich das Familieneinkommen deshalb nicht in dem Maße verschlechtert, in dem es sich verschlechtert hätte, wenn Entgelt aus einer Vollzeittätigkeit entfallen wäre (BVerfG vom 6.6.2011 - 1 BvR 2712/09 - Juris RdNr 8).

48

Art 3 Abs 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber auch nicht, die in der Gewährung von Erziehungsurlaub liegende familienpolitische Förderung auch in anderen Regelungszusammenhängen - hier bei der Gewährung sozialer Leistungen - uneingeschränkt zur Geltung zu bringen (vgl zur Berücksichtigung des Erziehungsurlaubs bei der Berechnung von Arbeitslosengeld: BVerfG vom 11.3.2010 - 1 BvR 2909/08 - NZS 2010, 626; BVerfG vom 25.11.2004 - 1 BvR 2303/03 - BVerfGK 4, 215, 218 f). Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, Zeiten, in denen der Bezieher von Verletztenrente aufgrund der Betreuung eines Kindes lediglich ein Entgelt aus Teilzeittätigkeit erwirtschaftet, bei der Berechnung von Verletztenrente über § 82 Abs 1 SGB VII oder § 87 Satz 1 SGB VII unberücksichtigt zu lassen oder gar von dem Entgelt einer Vollzeitbeschäftigung auszugehen.

49

bb) Schließlich liegt eine Ungleichbehandlung der Bezieher von Verletztenrente gegenüber den Beziehern anderer Sozialleistungen nicht vor. Der Gesetzgeber stellt vielmehr auch bei der Bemessung anderer Sozialleistungen auf vergleichsweise kurze Referenzzeiträume ab. Dies hat zur Folge, dass auch bei anderen Sozialleistungen mit Entgeltersatzfunktion Zeiten verminderten Einkommens in der Phase der Kindererziehung nicht ausgeglichen werden.

50

Bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes (Alg) sieht § 130 Abs 3 Nr 1 SGB III eine Erweiterung des Bemessungsrahmens auf zwei Jahre ausnahmsweise dann vor, wenn der im Regelbemessungsrahmen gemäß § 130 Abs 1 Satz 2 SGB III liegende Bemessungszeitraum weniger als 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt enthält(zu den Motiven: BT-Drucks 15/1515 S 85 ). Daraus folgt in Verbindung mit dem in § 130 Abs 1 Satz 1 SGB III geregelten Grundsatz, wonach der Bemessungszeitraum nur von Entgeltabrechnungszeiträumen "im Bemessungsrahmen" (nach Satz 2 aaO das Jahr bis zum letzten Tag des Versicherungspflichtverhältnisses vor der Entstehung des Anspruchs auf Alg gebildet werden kann, dass der Bemessung keine Zeiten mit Anspruch auf Arbeitsentgelt zugrunde gelegt werden können, die nicht wenigstens in einer Frist von zwei Jahren vor dem Versicherungsfall liegen(vgl zu der Berechnung nach Erziehungszeiten: BSG vom 29.5.2008 - B 11a/7a AL 64/06 R - Juris RdNr 25 f; zur Vereinbarung mit dem GG: BVerfG vom 25.11.2004 - 1 BvR 2303/03).

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Das Krankengeld (Krg) wird nach dem Regelentgelt bemessen. Das ist das Entgelt, das während des letzten, mindestens vier Wochen umfassenden, vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit liegenden Entgeltabrechnungszeitraums erzielt worden ist (§ 47 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 1 SGB V). Der Anspruch auf Krg ruht allerdings, solange Versicherte Elternzeit nach dem BEEG in Anspruch nehmen (§ 49 Abs 1 Nr 2 SGB V), es sei denn, das Krg ist aus einem Entgelt zu berechnen, das aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung während der Elternzeit erzielt worden ist. Auch hier ist also nur das Entgelt zu ersetzen, das während der Elternzeit tatsächlich erzielt worden ist.

52

Für die Berechnung des Elterngeldes regelt § 2 BEEG, dass dieses in Höhe von 67 vH des in den zwölf Kalendermonaten vor der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Einkommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1800 € monatlich für zwölf, beziehungsweise vierzehn Monate gezahlt wird, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt. Gemäß § 2 Abs 7 Satz 5 und 6 BEEG bleiben bei der Bestimmung der zwölf für die Einkommensermittlung vor der Geburt des Kindes zugrunde zu legenden Monate jene Kalendermonate unberücksichtigt, während denen Elterngeld für ein älteres Kind oder Mutterschaftsgeld nach der RVO oder dem Gesetz über die Krankenversicherung für Landwirte bezogen wurde. Unberücksichtigt bleiben auch Monate, in denen wegen einer maßgeblich auf die Schwangerschaft zurückzuführenden Krankheit Einkommen aus Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise weggefallen ist. Einbezogen werden dagegen Monate, in denen der berechtigte Elternteil Elternzeit ohne den Bezug von Elterngeld wahrgenommen hat.

53

Gegenüber den hier dargestellten Entgeltersatzleistungen hat die Verletztenrente zwar eher den Charakter einer auf Dauer angelegten Leistung. Sie wird gezahlt, wenn und solange die Erwerbsfähigkeit über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus gemindert ist (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Bis zu drei Jahre lang kann die Rente als vorläufige Entschädigung festgesetzt werden (§ 62 Abs 1 Satz 1, Abs 2 SGB VII). Nach dieser Zeit sind Änderungen nur nach Maßgabe der §§ 73 SGB VII, 48 SGB X möglich. Ist eine MdE auf Dauer eingetreten, die eine Besserung nicht erwarten lässt, ist die Verletztenrente auf Dauer zu leisten. Die Rente unterscheidet sich insofern vom Alg, dessen Anspruchsdauer auf sechs bis höchstens 24 Monate begrenzt ist (§ 127 SGB III), und vom Krg, das für dieselbe Erkrankung auf 78 Wochen in drei Jahren begrenzt ist (§ 48 Abs 1 Satz 1 SGB V). Der Charakter der Verletztenrente als einer eher auf Dauer angelegten Leistung vermag den Gesetzgeber aber nicht zu verpflichten, für die Bemessung einer solchen Leistung zwingend einen längeren Bemessungszeitraum als ein Jahr zugrunde zu legen. Vielmehr ist der Gesetzgeber nur gehalten, ein sachgerechtes Konzept für die Bemessung der Leistung zu wählen und von diesem dann nicht aus sachlich nicht zu rechtfertigenden Gründen abzuweichen. Das ist hier nicht geschehen.

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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist für Versicherte, Leistungsempfänger einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger, behinderte Menschen oder deren Sonderrechtsnachfolger nach § 56 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch kostenfrei, soweit sie in dieser jeweiligen Eigenschaft als Kläger oder Beklagte beteiligt sind. Nimmt ein sonstiger Rechtsnachfolger das Verfahren auf, bleibt das Verfahren in dem Rechtszug kostenfrei. Den in Satz 1 und 2 genannten Personen steht gleich, wer im Falle des Obsiegens zu diesen Personen gehören würde. Leistungsempfängern nach Satz 1 stehen Antragsteller nach § 55a Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative gleich. § 93 Satz 3, § 109 Abs. 1 Satz 2, § 120 Absatz 1 Satz 2 und § 192 bleiben unberührt. Die Kostenfreiheit nach dieser Vorschrift gilt nicht in einem Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2).

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.