Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Juli 2011 - 1 StR 274/11

published on 12.07.2011 00:00
Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Juli 2011 - 1 StR 274/11
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Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 274/11
vom
12. Juli 2011
in der Strafsache
gegen
wegen Steuerhinterziehung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. Juli 2011 beschlossen:
Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 15. Februar 2011 wird als unbegründet verworfen. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat keinen die Angeklagte beschwerenden Rechtsfehler ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Die Schriftsätze der Revision vom 5. und vom 8. Juli 2011 lagen vor. Ergänzend zu den Ausführungen des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat : 1. Die Urteilsfeststellungen und der Schuldspruch werden von der auf dem Geständnis der Angeklagten beruhenden Beweiswürdigung des Landgerichts getragen. Zwar hat das Landgericht nicht die Feststellung getroffen, dass es sich bei den dem Betriebsausgabenabzug und der Geltendmachung von Vorsteuer zugrunde gelegten Aufträgen um Scheingeschäfte i.S.d. § 41 Abs. 2 AO gehandelt hat. Solches lag freilich nach den im Urteil mitgeteilten Umständen nahe; auch ist das Tatgericht nicht gehalten, Behauptungen eines Angeklagten (etwa im Rahmen eines auf der Grundlage einer Verständigung abgegebenen Geständnisses) als unwiderlegbar hinzunehmen, wenn hinreichende Anhaltspunkte für die Richtigkeit dieser Angaben fehlen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. November 2010 - 1 StR 502/10 Rn. 12). Der Senat kann hier jedoch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe entnehmen, dass im Jahr 2002 - wie die Angeklagte wusste - aus Gutachtenaufträgen weder eine Leistung bezogen wurde, noch eine Zahlung hierfür erfolgte, was die Geltendmachung der Betriebsausgaben oder der Vorsteuer hätte rechtfertigen können. Die Angeklagte hat ausdrücklich eingeräumt, dass ihr im Jahr 2002 „keines der Gutachten“ übergeben worden sei. 2. Der Strafausspruch hat ebenfalls Bestand. Entgegen der Auffassung der Revision enthalten die Urteilsgründe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagte lediglich eine „Steuerverkürzung auf Zeit“ beabsichtigt haben könnte. Dies hat die Angeklagte als ausgebildete Steuerfachgehilfin und damit in steuerlichen Angelegenheiten hinreichend sachkundige Angeklagte (UA S. 9) auch nicht behauptet, obwohl sie die gewinnmindernde Berücksichtigung der Gutachtenkosten eingeräumt hat (UA S. 8) und zum Zeitpunkt der Einreichung der unrichtigen Körperschaftsteuerund Gewerbesteuererklärungen im Jahr 2006 die steuerlichen Verhältnisse der von ihr geleiteten Firmen seit dem Jahr 2002 gekannt hatte. Bereits die Annah- me des Landgerichts, „faktisch“ habe eine „Steuerverkürzung auf Zeit“ vorgele- gen, wird von den Feststellungen nicht getragen. Denn aus den Urteilsgründen ergibt sich nicht, dass in den Folgejahren überhaupt Gewinne erzielt worden sind, die durch einen dann möglichen Betriebsausgabenabzug hätten vermindert werden können. Solches liegt, worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hingewiesen hat, angesichts der festgestellten persönlichen Verhältnisse der Angeklagten (UA S. 2 ff.) auch fern. Eine Aufklärungsrüge hat die Revision nicht erhoben.
3. Die Feststellung in den Urteilsgründen, das Urteil beruhe „auf einer in einer Vorbesprechung nach § 202a StPO informell getroffenen, verfahrensverkürzenden Verständigung“ (UA S. 9), gibt dem Senat Anlass zu folgendem Hinweis: „Informelle Verständigungen“ widersprechen der Strafprozessordnung. Zwar ist es zulässig, auch schon vor Eröffnung des Hauptverfahrens Erörterungen zur Vorbereitung einer Verständigung zu führen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. § 202a Rn. 2). Solche Gespräche können - bei gründlicher Vorbereitung auf der Basis der Anklageschrift und des gesamten Akteninhalts - im Einzelfall sinnvoll sein. Sie lösen aber weder eine Bindung des Gerichts an dabei in Aussicht gestellte Strafober- oder -untergrenzen aus, noch kann durch sie ein durch den fair-trial-Grundsatz geschützter Vertrauenstatbestand entstehen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2011 - 1 StR 458/10; BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2010 - 2 StR 354/10; BGH, Beschluss vom 4. August 2010 - 2 StR 205/10). Die Annahme einer solchen Bindung ist rechtfehlerhaft und könnte u.U. sogar den Bestand eines Urteils gefährden. Die Staatsanwaltschaft, der neben dem Gericht die Wahrung eines rechtsstaatlichen Verfahrens obliegt, hat hier indes kein Rechtsmittel eingelegt; eine von der Strafkammer angenommene Bindung an den Inhalt geführter Vorgespräche könnte hier dieAngeklagte, die dies auch nicht mit einer Verfahrensrüge (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Januar 2010 - 3 StR 528/09) geltend macht, nicht beschweren.

Nack Wahl Hebenstreit Graf Jäger
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published on 14.04.2011 00:00

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published on 09.09.2021 17:29

Die Verständigung ist der sog. „Deal“ im Strafprozess. Schon umstritten ist, wie sie strafrechtsdogmatisch überhaupt einzuordnen ist. Die Verständigung ist eine Verfahrensweise, bei der sich das Gericht mit den Verfahrensbe
Author’s summary

Die Verständigung ist der sog. „Deal“ im Strafprozess. Schon umstritten ist, wie sie strafrechtsdogmatisch überhaupt einzuordnen ist. Die Verständigung ist eine Verfahrensweise, bei der sich das Gericht mit den Verfahrensbeteiligten über das Ergebnis des Verfahrens verständigt, § 257 c StPO. Häufigster Anwendungsfall dabei ist die Einigung über das zu erwartende Strafmaß, d. h. die Rechtsfolge, im Falle dass der Angeklagte geständig ist.
 
Primär dient dieses Institut natürlich dazu, Ressourcen zu schonen und damit Verfahren zu kürzen. Da die Ermittlung der „materiellen Wahrheit“, also der Sachverhalt, so wie er sich wirklich abgespielt hat, Ziel eines jeden Strafverfahrens ist, darf die Verständigung die Sachverhaltsaufklärung der Ermittlungsbehörden nicht verkürzen. Hier entsteht ein Dilemna zwischen der praktischen Notwendigkeit eines solchen Instituts und den extremen Bedenken, die gegen ein solches Institut sprechen; die Verfahrensgrundsätze werden durch einen solchen Deal nämlich nicht hinreichend bedacht. Das Verfahren wird hierdurch erheblich verkürzt und Grundsätze wie beispielsweise der Öffentlichkeitsgrundsatz können nicht derartig eingehalten werden, wie unsere Verfassung das von uns eigentlich verlangt. 

Zum Zwecke der Transparenz wurden entsprechende Protokollierungspflichten in unserer Strafprozessordnung normiert, um die Absprache mit den Verfahrensgrundsätzen in Einklang zu bringen. Die Einführung der Norm des § 257 c StPO am 4. 08 2009 stellte damit eigentlich einen Fortschritt dar – vorher entsprach es der Regel, dass Gerichte eine sog. informelle Absprache durchführten, d. h. illegale Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung ohne jegliche Dokumentation. Problem hierbei ist, dass sich die Praxis seit Einführung des § 257 c StPO nicht an die ihr auferlegten Dokumentationspflichten hielt – das nennt das Bundesverfassungsgericht Vollzugsdefizit. Dies könnte dazu führen, dass die Norm in ihrer Gesamtheit früher oder später nicht mehr verfassungsgemäß ist:
 
Im Frühjahr 2013 entschied das Bundesverfassungsgericht nämlich, dass die Regelung zur Verständigung im Strafprozess – trotz eines erheblichen Vollzugsdefizits – derzeit „noch nicht“ verfassungswidrig seien. Was das genau bedeuten soll, ist unklar. In diesem Aufsatz möchte ich mich mit diesem Urteil auseinandersetzen. Es gilt als eines der wichtigsten Urteile des 21. Jahrhunderts zum Thema Strafprozessrecht.

2 BvR 2628/10 – Ein Überblick
Wie schon soeben erwähnt, setzte sich das Bundesverfassungsgericht im vorliegenden Verfahren damit auseinander, ob das Verständigungsgesetz in seiner Fassung mit der deutschen Verfassung in Einklang steht. Dies bejahte das höchstrichterliche Gericht, verwies aber auf den Vollzugsdefizit und legte demnach dem Gesetzgeber die Pflicht auf, die Schutzmechanismen (damit ist die Transparenz richterlichen Handelns und die Protokollierungspflichten im Rahmen einer Verständigung gemeint) immer wieder auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen sowie bei Gelegenheit nachzubessern.

Wie steht es mit den Verfahrensgrundsätzen?
Das Bundesverfassungsgericht geht in seinem Urteil der Reihe nach auf die wichtigen Verfahrensprinzipien ein, die im Rahmen einer Verständigung unbedingt Beachtung finden müssen:
Es beginnt mit dem Schuldgrundsatz, der sich aus der Menschenwürde (Art. 1 GG und Art. 2 I GG) und aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) ableitet. Trotz einer Einigung über das Strafmaß im Rahmen einer Verständigung bleibt es immer noch Ziel des Strafverfahrens den wahren Sachverhalt zu ermitteln. Ohne einen solchen lässt sich das materielle Schuldprinzip gar nicht realisieren – Die Strafe die der Verurteilte erhält ist nämlich die Antwort auf seine persönliche Schuld! Auch das Institut der Verständigung kann einen solch wichtigen Verfahrensgrundsatz nicht lahmlegen.
Eine Verständigung kann damit niemals alleinige Urteilsgrundlage bilden, sondern das Gericht – muss wie sonst auch immer – hiervon überzeugt sein, § 261 StPO. Vielmehr müssen verständigungsbasierte Geständnisse auf ihre Richtigkeit überprüft werden (Verlinkung!).
 
Das Gericht weist auch darauf hin, dass der Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren durch die Verständigung nach § 257 c StPO nicht verletzt wird. Ein solcher gewährleistet das Recht eines jeden Beschuldigten, prozessuale Rechte wahrzunehmen sowie Übergriffe des Staates in einer angemessenen Art und Weise abwehren zu können. Wie dieses Verfahrensrecht ausgestaltet wird, liegt grundsätzlich in der Kompetenz des Gesetzgebers.
Darüber schreibt das Gericht in seinem Urteil über die Relevanz des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit und der Unschuldsvermutung, die im Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 III GGverankert sind. Der Beschuldigte muss stets frei von jeglichem Zwang und eigenverantwortlich entscheiden können, ob und wie er im Strafprozess gegen sich selbst mitwirken möchte. Er muss also nicht an seiner eigenen Überführung mitwirken.
 
Die genannten Verfahrensgrundsätze lassen natürlich Zweifel aufkommen, inwieweit das Institut der Verständigung denn überhaupt mit diesen Verfahrensgrundsätzen in Einklang zu bringen ist. Außer Acht gelassen darf hierbei aber nicht, dass das Verständigungsgesetz vielmehr ein Versuch war, ein solches Institut mit der Verfassung in Einklang zu bringen, gerade weil es vorher der Praxis entsprach, eine solche ohne jegliche gesetzlich normierten Transparenzpflichten durchzuführen. Es entsprach also der Praxis einen solchen „Deal“ abzuschließen – und dies ohne Rücksicht darauf, dass ein solches Handeln unsere Verfassung und vielmehr die prozessualen Rechte eines jeden Beschuldigten mit Füßen trat.

Das Gericht schreibt in seinem Urteil, dass das Verständigungsgesetz das Risiko aufweisen würde, dass die Vorgaben, die uns die Verfassung an ein solches Institut vorschreibt, nur geringfügige Beachtung findet. Dies habe aber nicht zur Folge, dass es dem Gesetzgeber deshalb schlechthin verwehrt sei, eine solche Verfahrensvereinfachung dennoch grundsätzlich für zulässig zu erklären. Indem der Gesetzgeber an das Institut der Verständigung gewisse gesetzliche Vorgaben schuf, hat er damit kein „konsensuales Verfahrensmodell“ zwischen Beschuldigtem und Gericht geschaffen, sondern vielmehr die Verständigung als eine Art „Fremdkörper“ in unsere geltende Strafprozessordnung integriert.

Wieso sind Transparenz und Dokumentation von solchen Verständigungen so wichtig? 
Solche Pflichten, die der Gesetzgeber der Praxis mit seinem § 257 c StPO aufgebürdet hat sind deshalb bedeutsam, da sie eine effektive Kontrolle durch Öffentlichkeit, Staatsanwaltschaft und durch das Rechtsmittelgericht gewährt. Dadurch, dass die mit einer Verständigung verbundenen Handlungen umfassend in die öffentliche Hauptverhandlung einbezogen werden müssen, wird betont, dass sich auch bei dem Institut der Verständigung die richterliche Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung ergeben muss. Der Staatsanwaltschaft wird hier eine herausragende Rolle zugeschrieben, denn ihr kommt eine Kontrollfunktion zu. Sie ist dazu verpflichtet, ihre Zustimmung zu einer gesetzeswidrigen Verständigung zu verweigern und muss vielmehr Rechtsmittel gegen Urteil einlegen, die auf einer solchen Verständigung beruhen.

Bundesverfassungsgericht versetzt sich in die Lage des BGH und nennt Revisionsgründe
Interessant ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht darlegt, dass ein Verstoß gegen die Transparenz-und Dokumentationspflichten die Rechtswidrigkeit der Verständigung zur Folge hat. Behält das Gericht die Verständigung dennoch bei, so stelle dies ein Revisionsgrund dar – ein Beruhen ließe sich also regelmäßig nicht ausschließen.
 
Dasselbe gelte dann, wenn der Angeklagte nicht über die Voraussetzungen und mit welchen Folgen das Gericht von dem in Aussicht gestellten Ergebnis abweichen kann belehrt wird. Eine solche Belehrung soll nämlich den Angeklagten in seiner Entscheidungsfreiheit hinsichtlich über seine Mitwirkung an der Verständigung schützen.
 
Diese Passagen des Urteils lassen seine Leser freilich etwas grübeln – denn solche Vorgaben, die das höchstrichterliche Gericht hier tätigt, sind eigentlich solche, die allein der Bundesgerichtshof als Revisionsinstanz der Justiz auferlegen sollte; nicht hingegen das Bundesverfassungsgericht. Es überschritt hier mithin seine Kompetenzen.

Über den Vollzugsdefizit
Nun zum Knackpunkt der Entscheidung:
Das Verständigungsgesetz sichere die verfassungsrechtlichen Vorgaben in hinreichender Weise; der in erheblichen Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes führe derzeit noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung.
 
Was das Bundesverfassungsgericht kritisiert ist gar nicht das Gesetz in seiner jetzigen Fassung vom 4.08.2009 selbst; es ist vielmehr die Praxis, die sich nicht an die ihr auferlegten Transparenz und Protokollierungspflichten hält. Verfassungswidrig wäre der Gesetzestext allein dann, wenn die Schutzmechanismen in einer Art und Weise lückenhaft wären und damit (selbst gegen die Verfassung verstoßende) informelle Absprachen fördern würden – die Norm soll solche illegalen Absprachen aber gerade verhindern indem sie strenge Anforderungen an ein solches Institut aufstellt.  Problem ist hier also vielmehr die Praxis, die das Gesetz nicht oder nicht richtig anwendet.
Als Hauptgrund für den defizitären Vollzug wird in der im Gutachten genannten empirischen Studie nicht der strukturelle Mängel des gesetzlichen Regelungskonzeptes, sondern vielmehr eine „fehlende Praxisuntauglichkeit“ genannt.

Was folgt?
Was schlussfolgert das Bundesverfassungsgericht aus seinen Erwägungen? Was soll das überhaupt bedeuten, das Gesetz ist „noch“ verfassungskonform, „Schuld“ sei vielmehr die Praxis? Das höchstrichterliche Gericht meint in seinen Ausführungen, der Gesetzgeber müsse die weitere Entwicklung sorgfältig im Auge behalten. Sollte sich die gerichtliche Praxis weiterhin in derartiger Weise über die normierten Regelungen hinwegsetzen, so sei es als Aufgabe des Gesetzgebers anzusehen, diese Fehlentwicklung durch Maßnahmen entgegenzutreten. Wenn dies unterbleibt, so träte „ein verfassungswidriger Zustand“ ein.
 
Diese Begründung durch das Bundesverfassungsgericht wurde zu Recht in vielfacher Weise von der Literatur angegriffen. Und das aus vielerlei Gründen. Wieso? Der Senat legt dem Gesetzgeber die Pflicht auf, die Entwicklung sorgfältig zu beobachten. Zwingend ist diese „Verschiebung“ aber nicht. Vielmehr hätte sich der Senat einer endgültigen Entscheidung nicht entziehen dürfen – je nachdem wie er den defizitären Vollzug des Verständigungsgesetzes einschätzt (unabhängig davon, dass ein solcher nicht aus einer Schutzlücke des Gesetzes entspringt) hätte er sich somit für eine Verfassungsmäßigkeit oder eben Verfassungswidrigkeit entscheiden können. Die Frage, wieso der Senat warten möchte, und vielmehr eine „vorübergehende Lösung“ der „Noch-Verfassungsmäßigkeit“ einer endgültigen Entscheidung vorzieht, erschließt sich mir nicht.
 
Eine Frage habe ich mir außerdem noch gestellt: Was genau muss der Gesetzgeber jetzt tun? Schließlich ist es und bleibt es die Aufgabe des Gesetzgebers, Gesetze zu erlassen. Wenn das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber allerdings vorgibt, dass das Verständigungsgesetz den verfassungsmäßigen Anforderungen entspricht, so bleibt für den Gesetzgeber unklar, wann und wie er zu handeln hat, wenn das Vollzugsdefizit in der Praxis keine Besserung erfährt.

Dieses Urteil ist v. a. für die Gerichte relevant. Es bringt zum Ausdruck, dass sie sich an die Formvorschriften der Strafprozessordnung halten müssen. Tun sie dies nicht, so trete ein rechtswidriger Zustand ein, der zeitgleich einen Revisionsgrund ablichtet. Ein solches hat natürlich auch eine erhebliche Relevanz für den Beschuldigten - er ist als Subjekt des Strafprozesses besonders schützenswert. Die Verfahrensgrundsätze unserer Strafprozessordnung müssen zu seinem Schutze Anwendung finden. 

published on 09.11.2011 00:00

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 1 StR 302/11 vom 9. November 2011 in der Strafsache gegen 1. 2. 3. wegen zu 1.: Bestechlichkeit u.a. zu 2. und 3.: Bestechung Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vo
published on 22.05.2012 00:00

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 1 StR 103/12 vom 22. Mai 2012 BGHSt: nein BGHR: ja Nachschlagewerk: ja Veröffentlichung: ja ___________________________ AO § 370 Abs. 1 und 3, § 373 Abs. 1; StGB § 46 1. Auch bei einer gewerbsmä
published on 09.01.2014 00:00

Tatbestand 1. Die Staatsanwaltschaft Traunstein legte dem Angeklagten und einem Mittäter mit Anklageschrift vom 28. August 2012 u. a. Betrug (im besonders schweren Fall) zur Last und erhob die öffentliche Klage zum Landgericht Traunst
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Annotations

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Ist ein Rechtsgeschäft unwirksam oder wird es unwirksam, so ist dies für die Besteuerung unerheblich, soweit und solange die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis dieses Rechtsgeschäfts gleichwohl eintreten und bestehen lassen. Dies gilt nicht, soweit sich aus den Steuergesetzen etwas anderes ergibt.

(2) Scheingeschäfte und Scheinhandlungen sind für die Besteuerung unerheblich. Wird durch ein Scheingeschäft ein anderes Rechtsgeschäft verdeckt, so ist das verdeckte Rechtsgeschäft für die Besteuerung maßgebend.

Erwägt das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens, kann es den Stand des Verfahrens mit den Verfahrensbeteiligten erörtern, soweit dies geeignet erscheint, das Verfahren zu fördern. Der wesentliche Inhalt dieser Erörterung ist aktenkundig zu machen.