Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 11. Juli 2017 - L 15 VJ 6/14

bei uns veröffentlicht am11.07.2017

Tenor

I.

Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 28. Oktober 2014 wird zurückgewiesen.

II.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Versorgung nach dem Impfschadensrecht gemäß §§ 60 ff. Infektionsschutzgesetz (IfSG).

Die Klägerin wurde am ... 2001 mit einem Gestationsalter von 30 Wochen und einem Tag (durch Kaiserschnitt) geboren. Mit Bescheid vom 24.03.2003 wurde für sie ein GdB von 100 festgesetzt unter Berücksichtigung einer Hirnschädigung mit Anfallsleiden, Tetraspastik und Blindheit. Die Klägerin befand sich ab 19.11.2001 im Klinikum A-Stadt, Kinderklinik. Im Entlassungsbericht vom 19.03.2002 wurde u.a. über ein Schädelsonogramm vom 09.01.2001 berichtet. Darin heißt es: „Beidseits im frontoparietalen paraventrikulären Marklager jetzt Nachweis mehrerer kleiner maximal 8 x 5 mm großer porenzephaler Zysten. Beide SV nicht vergrößert. Basalganglien und Balken unauffällig.“ Es folgt die Beurteilung, dass sich die Zysten bds. im Sinne einer sich organisierenden periventrikulären Leukomalazie (PVL) nachweisen hätten lassen. Am 24.01.2002 habe sich, so der Bericht, ein im Wesentlichen unveränderter Befund einer PVL in zystischer Umwandlung, vor allem periventrikulär bds. ergeben. Die äußeren Liquorräume seien geringgradig erweitert gewesen. In dem Bericht werden auch evozierte Potentiale vom 24.01.2002 beschrieben - bei den visuell evozierten Potentialen seien keine Reizantworten erhaltbar gewesen. Im Entlassungsbefund wird neben weiteren unauffälligen Befunden u.a. ausdrücklich festgestellt: „Neurologisch unauffällig“.

Die Klägerin erhielt am 27.03.2002 durch die Kinderärztin Dr. S. die streitgegenständliche Sechsfachimpfung gegen Tetanus, Diphterie, Pertussis, Hepatitis, Poliomyelitis und Haemophilus influenzae Typ b; zum Einsatz kam der Impfstoff Hexavac.

Am 25.05.2009 stellte die Klägerin über ihre Vertreter beim Beklagten Antrag auf Versorgung unter Berufung auf bestehende Epilepsie, Blindheit, massive Spastik der Arme und Beine sowie massive körperliche Beeinträchtigungen. Der Beklagte zog die zahlreichen medizinischen Befundunterlagen bei und wertete diese aus. Vom 14.04.2002 bis 03.05.2002 befand sich die Klägerin (erneut) in der Kinderklinik des Klinikums A-Stadt; im Entlassungsbericht vom 21.05.2002 wird der Bericht der Mutter der Klägerin geschildert, dass Letztere bereits während des postpartalen stationären Aufenthalts nur zögerlich an der Brust getrunken habe, weswegen kurz nach der Entlassung die Umstellung auf Muttermilchersatz erfolgt sei. Auch danach hätten sich die Ernährungsprobleme fortgesetzt. Eine Steigerung der Trinkmenge sei, so der Bericht über den Aufenthalt im April/Mai 2002, nicht möglich gewesen; des Weiteren zeige die Klägerin außerhalb der Fütterungszeiten eine vermehrte Unruhe und unstillbares Schreien. In einem weiteren Bericht des Klinikums A-Stadt vom 17.06.2002 wurde angegeben, dass bei der Klägerin objektiv bisher nie Anfälle gesehen worden seien. Im Arztbrief der F-Klinik vom 06.12.2002 wurde geschildert, dass die Klägerin im Mai 2002 wegen Nahrungsverweigerung im Zentralklinikum A-Stadt stationär vorgestellt worden sei; es seien bis dahin keine epileptischen Anfälle aufgetreten. Weiter wird u.a. ein aktuelles Anfallsgeschehen geschildert. Vom 17.06 bis 17.07.2003 wurde die Klägerin im Behandlungszentrum V. therapiert; der Bericht vom 12.08.2003 schildert die Angaben der Mutter der Klägerin, dass sich diese 14 Tage nach der Impfung erstmals für die Eltern auffällig gezeigt habe, initial habe sich lediglich eine Blickdeviation nach rechts gezeigt, schließlich mehrfach BNS-artige Anfälle. Die Anfallsanamnese werde, so der Bericht, sodann beginnend mit Juli 2002 geschildert und auf ein erstes Anfallsereignis im Juli 2002 Bezug genommen. Im Bericht des Facharztes für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Prof. Dr. Dr. V., Kinderzentrum M-Stadt, vom 31.05.2007 sprach sich dieser gegen einen Zusammenhang der Mehrfachimpfung mit der Tetraspastik und der Epilepsie aus. Prof. Dr. Dr. V. ging davon aus, dass eine Blutung doch über längere Zeit stattgefunden habe und damit intrauterin eine Hypoxie ausgelöst habe.

Nach zwei versorgungsärztlichen Stellungnahmen (25.08.2009 und 23.09.2009) lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 28.10.2009 den Antrag auf Beschädigtenversorgung ab. Weder die Tetraspastik noch die Epilepsie, so die Begründung, seien durch die Mehrfachimpfung hervorgerufen worden; mit der nötigen Wahrscheinlichkeit seien auch weder die Blindheit noch die massiven körperlichen Beeinträchtigungen auf die Impfung zurückzuführen. Es spreche alles dafür, dass die Klägerin schon vor der Geburt gefährdet gewesen sei und dass es dann perinatal erneut zu einer Schädigung gekommen sei.

Hiergegen erhob die Klägerin am 10.11.2009 Widerspruch unter Vorlage einer medizinischen Stellungnahme des Allgemeinarztes (Naturheilverfahren) Dr. R. vom 20.01.2010 samt zahlreichen Anlagen. Im Wesentlichen verwies der Arzt darin auf eine 18 Tage nach der Impfung erstmals diagnostizierte Befundveränderung bei der Klägerin im Sinne einer dramatischen Verschlechterung. Es seien von der Mutter Trinkschwierigkeiten und Schreiphasen beschrieben worden. Weiter verwies Dr. R. auf eine am 02.02.2002 unter Vollnarkose stattgehabte Operation einer Leistenhernie und eines Hämangioms. Die Impfung am 27.03.2002 sei zu kurz nach dieser Vollnarkose erfolgt, zudem sei die Klägerin als Frühgeborene zu früh geimpft worden. Vorher habe ein normaler Frühgeborenenstatus bestanden. Die vaginale Blutung der Mutter sei keine Ursache für die gesundheitlichen Störungen der Klägerin. Eine Kausalität zwischen der Uterus- und Vaginalblutung und den schlimmen gesundheitlichen Veränderungen könne nicht bewiesen werden. Weiter wurde hervorgehoben, dass die Klägerin die Impfung mit Hexavac nicht überlebt hätte, wenn sie nicht „ursprünglich so robust gewesen wäre“.

Im Widerspruchsverfahren beauftragte der Beklagte Prof. Dr. K. mit der Erstellung eines Gutachtens nach Aktenlage. In dem Gutachten vom 22.05.2010 hob dieser insbesondere hervor, dass bereits vor der streitgegenständlichen Impfung Gesundheitsstörungen bestanden hätten, und verwies dabei auf den Nachweis von Leukomalazie. Die Behinderungen der Klägerin seien ausschließlich Folge einer schweren perinatalen zerebralen Störung; für die funktionelle Blindheit könne zusätzlich eine angeborene Fehlbildung diskutiert werden. Der Manifestationszeitpunkt des Anfallsleidens bzw. seiner EEG-Merkmale sei nicht bekannt; sollte er in den Bereich zu aktzeptierender postvakzinaler Inkubationszeit nach der Hexavac-Impfung fallen, handle es sich um einen rein gelegenheitsursächlichen Zusammenhang. Es habe durchaus Impfschäden nach Hexavac gegeben. Im hier vorliegenden Fall der Klägerin sei ein solcher jedoch zuverlässig auszuschließen. Es gebe keine Veranlassung und keinen Hinweis dafür, über den vorliegenden eindeutigen kausalen Zusammenhang hinaus über eine ruhende Anlage bzw. Disposition ohne manifeste Gesundheitsstörungen zu sprechen. In seinem Gutachten setzte sich Prof. Dr. K. u.a. auch näher mit den Darlegungen des Arztes Dr. R. auseinander.

Im Einzelnen verwies der Sachverständige in seinem Gutachten u.a. auf das epidemiologische Bulletin vom 22.06.2007 (Ziff. 8) der Ständigen Impfkimmission beim Robert-Koch-Institut in Berlin (STIKO), wo für den Impfstoff Hexavac, bei dem es „zu Verwicklungen“ gekommen sei, die nach Imfpungen üblichen vorübergehenden und hinzunehmenden Lokal- und Allgemeinreaktionen, ferner im Sinne von Komplikationen einen sog. Fieberkrampfes, allergische Reaktionen und hypoton-hyporesponsive Episoden, akzeptiert worden seien. Darüber hinausgehende Komplikationen habe die STIKO „in einem auffällig wortreichen Text“ abgelehnt, dessen Endergebnis aber, so der Sachverständige, aus den Perspektiven der Logik ebenso wie neuropädiatrisch akzeptiert werden müsse. Prof. Dr. K. hat jedoch darauf hingewiesen, dass für die Anerkennung eines Impfschadens nicht die Schadensträchtigkeit des Impfstoffes genüge. So müsse vor der Impfung zumindest hinsichtlich des geltend gemachten Impfschadens ein gesundes Kind vorgelegen haben. Das sei bei der Klägerin jedoch nicht der Fall gewesen - von einem prävakzinal gesunden Kind könne keine Rede sein. Innerhalb der zu akzeptierenden postvakzinalen Inkubationszeit müsse es zu einem typischen postvakzinalen Akutschaden (Impfschaden im engeren Sinne) kommen. Im vorliegenden Fall gebe es hierzu keine entsprechende anamnestische Notiz; ein Hirnödem sei mit Blick auf die Umfangmessung sowie das vorliegende Sonogramm ausgeschlossen und bei einer Erstimpfung auch sehr unwahrscheinlich. Auch gebe es keine akut enzephalopathische Symptomatik. Andere, insbesondere übergewichtige Ursachen müssten für die Anerkennung eines Impfschadens, ausgeschlossen sein. Hier sei das Gegenteil der Fall.

Im Gefolge der Notsectio am 19.11.2001 habe ein deutlich beeinträchtigter Zustand des Kindes bestanden. Dementsprechend sei dann durch die Hypoxie und Dyszirkulation eine intraventrikuläre Blutung mit erwartbarem anschließenden Nachweis von Leukomalazie gekommen. Prof. Dr. K. hat darauf hingewiesen, dass Frühgeborene mit einer derartigen Vorgeschichte und mit derartigen bildgebend dokumentierten Hirnschäden bei der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht selten äußerlich noch keine neurologischen Auffälligkeiten zeigen würden; die hierzu nötigen Fristen und anatomischen sowie funktionalen Hirnreifungsschritte müssten erst noch absolviert werden. Gleichwohl sei es nicht korrekt, wenn der Entlassungsbericht der Kinderklinik A-Stadt „quasi blauäugig“ von Unauffälligkeit berichte. Die Hirnschädigung sei bildgebend ebenso wie die Beeinträchtigung der Hörbahn und die massive Schädigung der Sehbahn dokumentiert. Dass die Mutter das Kind für gesund gehalten habe, sei, so Prof. Dr. K., schon aus ihrer Rolle als Mutter nicht zu verwundern. Dass Dr. S. nichts bemerkt habe, zeige mangelnde neonatologische und neuropädiatrische Qualifikation.

U.a. hat der Gutachter auch hervorgehoben, dass der Wechsel der Verlaufskurve des Kopfumfangs von der 80. Perzentile bei der Geburt bis unter die dritte Perzentile zur Mikrozephalie aus neuropädiatrischer Perspektive „absolut unmöglich“ auf die Impfung vom 27.03.2002 zurückgehen könne. Völlig Gleiches gelte auch für die Differenzen der hirnsonographischen Befunde vom April gegenüber Januar 2002.

Aus einer Schädigung der zerebralen motorischen Zentren und Bahnen resultiere bekanntlich zunächst eine motorische Schlaffheit. Erst nach mindestens sechs Wochen, so Prof. Dr. K., oft aber auch erst nach Monaten, stelle sich zunehmend die dann definitive Spastik ein. Die im April 2002 festgestellte Tetraspastik könne also nicht auf ein Schadensereignis im Anschluss an die Impfung vom 27.03.2002 bezogen werden. Die Schädigung der Hörbahn und das maximale Versagen der Sehbahn seien schon im Januar 2002 (mit den evozierten Potentialen) dokumentiert worden; auch hier sei also der Bezug auf ein Schadensereignis Ende März 2002 klar zu widerlegen. Es sei nicht bekannt, wann die Hypsarrhythmie und BNS-Anfälle (mit anschließender Ausweitung auch zu anderen Anfallsbildern) begonnen hätten. Bekannt sei jedoch, dass angesichts des massiven Schadensbildes im Gefolge perinataler Hirnschädigung mit ganz erheblicher Wahrscheinlichkeit nach Ablauf der hierbei üblichen Frist von Monaten auch mit der Manifestation eines symptomatischen Anfallsleidens zu rechnen gewesen sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.08.2010 wies der Beklagte den Widerspruch unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Gutachters Prof. Dr. K. als unbegründet zurück.

Gegen den Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 16.09.2010 Klage zum Sozialgericht München (SG) erhoben. Erst am 09.12.2011 hat sie nach einer Betreibensaufforderung des SG die Klage begründet. Dabei hat sie auf die Widerspruchsbegründung und auf das „Gutachten“ von Dr. R. verwiesen.

Zur Ermittlung des medizinischen Sachverhalts hat das Gericht einen Befundbericht der Kinderärztin Dr. S. vom 17.01.2012 eingeholt. Darin ist über die Erstvorstellung am 22.01.2002 berichtet worden, wonach sich im Wesentlichen ein unauffälliger interner Untersuchungsbefund ergeben habe; auch neurologisch hätten sich keine Besonderheiten feststellen lassen. Bei der Vorsorgeuntersuchung 4 (U 4) am 27.03.2002 seien erstmalig ein deutlich erhöhter Muskeltonus aller vier Extremitäten und eine vermehrte Streckstellung der Beine aufgefallen. Wegen Verdachts auf eine beginnende zerebrale Bewegungsstörung sei Krankengymnastik verordnet worden. Da der Untersuchungsbefund sonst regelrecht gewesen sei, insbesondere auch das Gewicht und das Größenwachstum, habe die von der STIKO empfohlene Sechsfachimpfung durchgeführt werden können. Nach der Impfung seien keine Besonderheiten und kein Fieber aufgetreten. Von ihr, Dr. S., sei die Klägerin erst wieder zur U 5 am 09.07.2002 gesehen worden. Bei weiterhin gutem Gedeihen und unauffälligem internistischen Befund habe nur ein rezidivierender Schnupfen gestört; zerebrale Krampfanfälle seien von der Mutter nicht wahrgenommen worden. Die neurologische Untersuchung habe unverändert Auffälligkeiten im Sinne einer zerebralen Bewegungsstörung ergeben.

Sodann hat das SG Beweis erhoben durch ein Sachverständigengutachten von Prof. Dr. H., Arzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie für Neurologie, Schwerpunkt Neuropädiatrie, das dieser am 17.01.2014 erstellt hat. Hierfür ist ein neuroradiologisches Zusatzgutachten von Prof. Dr. E. angefertigt worden. Die Sachverständige hat am 19.12.2013 aufgrund der am 09.12.2013 erstellten MRT das Gutachten angefertigt. Sie hat festgestellt, dass bei der Klägerin das Bild einer deutlichen Schädigung der periventrikulären weißen Substanz vorliege, wie sie nur im noch unreifen Gehirn, also vor der 37. Gestationswoche auftrete. Dieses Schädigungsmuster werde auch als PVL bezeichnet. Neben den deutlichen eckkantigen Erweiterungen lägen bei der Klägerin auch deutliche subependymale Gliosezonen vor. Gliosezonen entstünden erst ab einem Gestationsalter von ca. 26 Wochen, so dass der Schädigungszeitraum, der die morphologischen Veränderungen bei der Klägerin hervorgerufen habe, zwischen der 26. und der 36. Gestationswoche liegen müsse. Dies sei sehr gut vereinbar mit der Anamnese der Klägerin als ehemaliges Frühgeborenes aus der frühen 31. Schwangerschaftswoche. Residuen von typischen mit einer Impfung assoziierten Schädigungen sehe sie, Prof. Dr. E., hingegen nicht. Das in der MRT vorliegende Schädigungsmuster könne nicht durch die beschriebene Impfung ausgelöst worden sein, da die Schädigung vom Muster her vor der 36. Gestationswoche stattgefunden haben müsse, wo hingegen die Impfung deutlich später erfolgt sei.

In seinem Gutachten hat Prof. Dr. H. zunächst die Angaben der Mutter geschildert. In den ersten Wochen nach der Geburt habe sich im Vergleich zu den beiden älteren Geschwistern eine ähnliche und unauffällige Entwicklung, insbesondere hinsichtlich des Trink- und Schlafverhaltens, ergeben. Am nächsten Tag nach der Sechsfachimpfung habe die Klägerin nach Angaben der Mutter deutliche Unruhe gezeigt, die sich im Verlauf der folgenden Woche dramatisch gesteigert habe, so dass erneut eine stationäre Aufnahme mit „Fixation“ und Sedierung im Klinikum A-Stadt erfolgt sei. Seitdem bestehe dann nach dem, was den Eltern gesagt worden sei, ein schwerer Hirnschaden; ursächlich sei die PVL, die sich nun deutlich zystisch demarkiert gehabt habe. Die Klägerin sei ein ehemaliges Frühgeborenes und leide wegen der Tatsache der Frühgeburtlichkeit an typischen und gravierenden Komplikationen. Zudem bestünden Komorbiditäten. Prof. Dr. H. hat festgestellt, dass bei der Klägerin keine Gesundheitsstörungen aufgetreten seien, die grundsätzlich hinsichtlich der Impfung am 27.03.2002 als Impfschaden in Frage kommen könnten. Grund hierfür sei, dass alle Gesundheitsstörungen der Klägerin biologisch eindeutig und in ihrem Verlauf typisch auf die Frühgeburtlichkeit und ihre Komplikationen bezogen seien, mit nachgewiesenem Schädigungsmuster und damit eindeutig belegtem Schädigungszeitpunkt. Diese Störungen könnten biologisch nur als Komplikation der Frühgeburtlichkeit (als PVL) auftreten bis etwa zum Zeitpunkt der 36. Schwangerschaftswoche. Ein solches Schädigungsmuster könne auch grundsätzlich nicht mehr später im Gehirn - auch nicht spekulativ - auftreten. Daher gebe es auch keine Gesundheitsstörungen, die bezogen auf die genannte Impfung als gesichert angenommen werden könnten. Es gebe demzufolge auch keine Wahrscheinlichkeit hinsichtlich der Verursachung der Gesundheitsstörungen durch die vorangegangene Impfung. Es gebe auch keine Wahrscheinlichkeit, nach der ein Impfschaden weitere Gesundheitsschäden (Dauerleiden) verursacht haben könnte.

Ein GdS könne also nicht angenommen werden. Da die Frage nach der Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs eindeutig und medizinisch belegbar mit nein beantwortet werde, lägen auch die Voraussetzungen für diese Gesundheitsstörungen als Impfschaden im Sinne der sog. Kannversorgung nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung, nicht vor.

Nachdem die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt hatten, hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 28.10.2014 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass aus seiner Sicht ein über die übliche Impfreaktion hinausgehender Gesundheits-(Erst-)Schaden im Gefolge der Impfung vom 27.03.2002 nicht nachgewiesen sei. Damit schieden eine Impfschadensanerkennung und auch eine Kannversorgung aus. Mit der PVL und der BNS lägen Gesundheitsstörungen ohne Impfzusammenhang vor. Auch seien keine sonstigen Gesundheitsstörungen gegeben. Anhaltspunkte für eine Impfreaktion seien nicht vorhanden, u.a. auch kein Fieberkrampf. Aus Sicht des SG komme bei sehr engem zeitlichen Zusammenhang von Impfreaktionen (wie beispielsweise auch schrillem Schreien und Ausbildung erster Anfallszeichen binnen Stunden bis wenige Tage nach der Impfung) bei fehlenden anderen differentialdiagnostischen und ätiologischen Hinweisen eine Impfschadensanerkennung in Betracht. Solche Anhaltspunkte vermöge das SG jedoch im vorliegenden Fall nicht zu erkennen; dabei hat das SG insbesondere auch auf die Ausführungen von Prof. Dr. K. hingewiesen.

Gegen den Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 28.11.2014 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) erhoben und diese mit dem Verweis auf die Widerspruchsbegründung sowie das „Gutachten“ von Dr. R. (s.o.) begründet. Zudem ist vorgetragen worden, dass die Kläger vor der Impfung gesund gewesen sei.

Mit Schriftsatz vom 17.02.2015 hat der Beklagte darauf hingewiesen, dass es sich bei den Äußerungen von Dr. R. um eine ärztliche Stellungnahme handle, die durch das klinisch-wissenschaftliche Kausalitätsgutachten von Prof. Dr. K. und durch das Gerichtsgutachten von Prof. Dr. H. eindeutig widerlegt sei.

Die Anfrage des Senats, was an dem vom SG eingeholten Gutachten aus klägerischer Sicht unzutreffend sei, und die Aufforderung, die Berufung näher zu begründen, blieben von Klägerseite unbeantwortet. Trotz Erinnerung an eine ausführlichere Berufungsbegründung etc. ist diese nicht erfolgt; die Bevollmächtigte hat am 22.04.2016 lediglich bekannt gegeben, die Berufung nicht zurückzunehmen, und hat am 31.05.2016 schließlich erklärt, mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden zu sein. Eine entsprechende Erklärung hat der Beklagte am 21.04.2016 abgegeben.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

den Gerichtsbescheid des SG München vom 28.10.2014 sowie den Bescheid des Beklagten vom 28.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.08.2010 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Gesundheitsstörungen Epilepsie, massive Spastik der Arme und Beine, Blindheit sowie massive körperliche Beeinträchtigungen als Schädigungsfolgen der am 27.03.2002 erfolgten Impfung gegen Tetanus, Diphterie, Hepatitis B, Polio, Pertussis und Haemophilus influenzae Typ b anzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die erstinstanzliche Akte des SG sowie die Impfschadensakte des Beklagten zum Verfahren beigezogen, auf deren Inhalt sowie auf den Inhalt der streitgegenständlichen Berufungsakte im Übrigen zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen wird. Sämtlicher Inhalt war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Gründe

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG. Hieran war er auch nicht im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Europäische Menschenrechtskonvention gehindert (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 153, Rdnr. 13a), weil das SG durch Gerichtsbescheid entschieden hat. Denn für die Klägerin bestand im Berufungsverfahren die Möglichkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung; sie hat hierauf jedoch verzichtet.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Bescheid vom 28.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.08.2010 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung der geltend gemachten Gesundheitsstörungen Epilepsie, massive Spastik der Arme und Beine, Blindheit sowie massive körperliche Beeinträchtigungen als Schädigungsfolgen im Sinne des IfSG.

Das Begehren der Klägerin scheitert daran, dass zwischen der angeschuldigten Impfung am 27.03.2002 und den bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen kein Kausalzusammenhang im versorgungsrechtlichen Sinn wahrscheinlich ist. Ferner liegen auch die Voraussetzungen für die sog. Kannversorgung nicht vor.

1.) Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG (in den seit dem 27.03.2002 bis zum Tag der Entscheidung des BayLSG geltenden Fassungen, weil nach dem Grundsatz des intertemporalen Rechts - vgl. dazu BSG, Urteil vom 04.09.2013 - B 10 EG 11/12 R, m.w.N., BayLSG, Urteil des erkennenden Senats vom 26.04.2012 - L 15 VS 2/06 - dass eine Rechtsänderung auch bereits begonnene, aber noch nicht vollendete Sachverhalte erfasst, soweit keine besondere Übergangsregelung vorhanden ist, der Fall zeitabschnittsbezogen anhand sämtlicher Gesetzesfassungen zu prüfen ist, die sich seit dem ersten Entstehen des Anspruchs auf Versorgung in Kraft befunden haben, so dass vorliegend sämtliche Gesetzesfassungen seit dem 27.03.2002 zu berücksichtigen sind) erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die 1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, 2. auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde, 3. gesetzlich vorgeschrieben war oder 4. auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

Nach § 61 Satz 1 IfSG genügt zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG anerkannt werden, wobei die Zustimmung allgemein erteilt werden kann (vgl. § 61 Sätze 2 und 3 IfSG).

Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung, wobei ein Impfschaden auch vorliegt, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde.

Neben einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen müssen (1. Glied), muss damit auch eine „gesundheitliche Schädigung“ (2. Glied) als Primärschädigung (d.h. Impfkomplikation) ebenso wie der „Impfschaden“ (3. Glied, d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also der Folgeschaden) im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen sein (vgl. BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R). Ob es unschädlich ist, wenn die Primärschädigung, also das 2. Glied, nicht deutlich zu Tage tritt, sondern im Verborgenen erfolgt, weil der Zusammenhang zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen „Etappe“ beurteilt werden muss, wie der erkennende 15. Senat früher bereits entscheiden hat (Urteil vom 31.07.2012 - L 15 VJ 9/09, vgl. auch Urteil vom 15.12.2015 - L 15 VJ 4/12), kann vorliegend offen bleiben (s.u.).

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen (BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R). Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen (vgl. BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R; BSG Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R). Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128 Rn. 3b, m.w.N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R). Eine Tatsache ist damit bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R; vgl. Keller, a.a.O.).

Die Beurteilung des Zusammenhangs (Kausalität) folgt, wie ansonsten im Versorgungsrecht auch, der Theorie der wesentlichen Bedingung (ständige Rspr. des BSG, vgl. z.B. Urteile vom 23.11.1977, Az.: 9 RV 12/77, vom 08.05.1981, Az.: 9 RV 24/80, vom 20.07.2005, Az.: B 9a V 1/05 R, und vom 18.05.2006, Az.: B 9a V 6/05 R). Diese beruht auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie: Danach ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Als rechtserheblich werden allerdings nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben.

Eine potentielle Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977, Az.: 10 RV 15/77). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als hinreichende Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei das Wort „hinreichend“ nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller, a.a.O., § 128, Rdnr. 3c). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße - abstrakte oder konkrete - Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteil vom 26.11.1968, Az.: 9 RV 610/66). Haben mehrere Ursachen zu einem Schaden beigetragen, ist eine vom Schutzbereich des BVG umfasste Ursache dann rechtlich wesentlich, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 6/13 R). Im Einzelnen bedarf es dazu der wertenden Abwägung der in Betracht kommenden Bedingungen. Im Einzelfall muss die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinne als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (vgl. BSG, a.a.O.).

2.) Vorliegend kann nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht die Rede davon sein, dass nach sachgerechter Abwägung aller wesentlicher Umstände der Möglichkeit, dass die streitgegenständliche Sechsfachimpfung die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen verursacht hat, gegenüber jeder anderen Möglichkeit von Schädigungsursachen ein deutliches Übergewicht zukommen würde bzw. dass der Impfung für den Eintritt der Schäden allein mindestens so viel Gewicht beizubemessen wäre wie den übrigen Umständen zusammen. Vielmehr hat keiner der vom SG und vom Beklagten beauftragten Sachverständigen die Kausalität bestätigt, sondern sogar „ohne Wenn und Aber“ abgelehnt. Der Senat macht sich diese sachverständigen Feststellungen, die auch in Übereinstimmung mit der gesamten Befundlage stehen, zu eigen.

Dabei ist er im Übrigen nicht daran gehindert, auch das vom Beklagten bei Prof. Dr. K. in Auftrag gegebene Gutachten zu verwerten. Wie der Senat bereits früher hervorgehoben hat (Beschluss vom 29.05.2015 - L 15 VG 19/15 B PKH) weist das BSG in ständiger Rechtsprechung (vgl. z.B. Beschluss vom 26.05.2000 - B 2 U 90/00 B) darauf hin, dass nicht als gerichtliche Sachverständigengutachten erstellte ärztliche Gutachten zwar grundsätzlich einen anderen Beweiswert und eine andere Beweiskraft und somit eine andere Aussagekraft besitzen als gerichtliche Gutachten. Dies stellt aber kein Hindernis dar, ein Verwaltungsgutachten im Wege des Urkundenbeweises gemäß § 118 SGG i.V.m. §§ 415 ff. ZPO zu verwerten und ihm im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung gemäß § 128 Abs. 1 SGG zu folgen. Dabei hat das BSG klargestellt, dass es sich bei einem von einem Sozialleistungsträger gemäß §§ 20, 21 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch eingeholten Gutachten nicht um ein bloßes „Privatgutachten“ handelt, sondern um ein im Rahmen der Erfüllung öffentlich-rechtlicher Aufgaben erstelltes Sachverständigengutachten, das auch die Entscheidungsgrundlage für das Gericht sein kann (vgl. BSG, Beschluss vom 12.10.1993 - 13 RJ 71/92). Dies gilt jedenfalls dann, wenn der vom Sozialleistungsträger beauftragte Sachverständige weder dem ärztlichen Dienst des Sozial-leistungsträgers angehört noch die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigt (vgl. BSG, Beschluss vom 10.08.1993 - 9/9a BV 185/92). Weitere Ermittlungen von Amts wegen können allenfalls dann angezeigt sein, wenn der andere Verfahrensbeteiligte gegen das durch den Sozialleistungsträger eingeholte Gutachten nicht unerhebliche Einwendungen vorbringt (vgl. BSG, Urteil vom 15.10.1986 - 5b RJ 80/85). Bei Berücksichtigung dieser Vorgaben steht einer Verwertung des Gutachtens von Prof. Dr. K. nichts entgegen. Prof. Dr. K. gehört nicht dem versorgungsärztlichen Dienst des Beklagten an. Vielmehr ist er oftmals auch als - beim BayLSG anerkannter - Gerichtsgutachter tätig. Auch überzeugt das Gutachten durch seine wissenschaftliche Methodik. Allgemein vermittelt es den Eindruck großer Sachkunde, Sorgfalt, Umsicht, Ergebnisoffenheit, abwägender Beurteilung und Objektivität.

Wie die Sachverständigen Prof. Dr. H. und Prof. Dr. K. detailliert und anschaulich herausgearbeitet haben, fehlt es eindeutig an der Kausalität zwischen der Impfung am 27.03.2006 mit dem Impfstoff Hexavac und den zahlreichen schweren Gesundheitsstörungen der Klägerin.

Diese leidet als ehemaliges Frühgeborenes der 30 + 1 Schwangerschaftswoche mit einem Geburtsgewicht von 1500 g entsprechend den plausiblen Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. H. im Einzelnen an aus der Tatsache der Frühgeburtlichkeit folgenden typischen und gravierenden Komplikationen: an einer bilateralen spastisch-dystonen Zerebralparese (Bewegungsstörung; Schwere der Mobilitätsstörung GMFCS Level IV; Schwere der Hand/Funktionsmotorikstörung: MACS Level IV; Schwere der Kommunikationsstörung zur Umwelt: CFCS Level V; Gelenkkontrakturen im Bereich der Hüftbeugermuskulatur, der Kniebeugermuskulatur, der Wadenmuskulatur und der Aduktorenmuskulatur mit Windschlagedeformität nach links, Hüftluxation rechts, Hüftsubluxation links, Schluckstörung/Dysphagie mit Beaufsichtigungspflicht während der Nahrungsaufnahme) sowie an Komorbiditäten (im Sinne typischer zusätzlicher anderer Störungen bzw. Störungen anderer Organsysteme, die auch auf die Frühgeburtlichkeit zu beziehen sind), nämlich an einer symptomatischen aktiven Epilepsie (typischerweise beginnend als EEG-Veränderung während der ersten Lebensmonate, dann sog. symptomatisches West-Syndrom als besonders schwere Form der Epilepsie), an einer schwersten globalen Entwicklungsstörung (aller funktionalen biologischen Systeme wie Sehen, Hören, Schlucken, Körpermotorik, Feinmotorik, Sprache, Kognition, Verstehen, Verhalten, Reagieren und Befinden) und an einer Mikrozephalie als Ausdruck der schweren gesamten Hirnentwicklungsstörung, die dann auftritt, wenn das Gehirn selbst in seiner Größe zurückbleibt und keine Wachstumsimpulse gibt.

Wie der Sachverständige Prof. Dr. H. zur Überzeugung des Senats in Übereinstimmung mit der ebenfalls in jeder Hinsicht plausiblen und anschaulichen gutachterlichen Feststellung von Prof. Dr. E. dargelegt hat, sind alle diese Schäden auf die mit der MRT bestätigten morphologischen Veränderungen zurückführen. Diese Störungen können jedoch nur - biologisch eindeutig und in ihrem Verlauf typisch als Komplikation der Frühgeburtlichkeit der Klägerin - bis etwa zum Zeitpunkt der 36. Schwangerschaftswoche aufgetreten sein; das nachgewiesene Schädigungsmuster kann sich nicht mehr später, d.h. erst zur Zeit der Impfung im Gehirn manifestiert haben.

Dieses - auch neuroradiologisch abgesicherte - Ergebnis des Sachverständigen Prof. Dr. H. wird durch die Darlegungen von Prof. Dr. K. gestützt - im Übrigen auch soweit, als der vom Beklagten beauftragte Sachverständige andere Diagnosen gestellt hat. Denn maßgeblich ist, dass auch Prof. Dr. K. eine kausale Schädigung, die erst Ende März 2002 eingetreten wäre, eindeutig ausschließt. Dabei argumentiert auch dieser Sachverständige u.a. mit morphologischen Befunden. Wie er plausibel darauf hingewiesen hat, fehlt für April 2002 sonographisch jeglicher Anhalt für eine frische, maximal erst 18 Tage alte zusätzliche Schädigung. U.a. hat Prof. Dr. K. auch nachvollziehbar hervorgehoben, dass es neuropädiatrisch völlig ausgeschlossen ist, die im April 2002 in der Kinderklinik A-Stadt feststellte Tetraspastik auf ein Schadensereignis im Anschluss an die Impfung vom 27.03.2002 zu beziehen; die Tetraspastik muss angesichts der im April 2002 bereits erheblichen Ausprägung auch schon vorher eingesetzt haben.

Eine exakte Bestimmung des Schädigungszeitpunkts ist vorliegend nicht möglich, jedoch auch nicht erforderlich. Es kann also offen bleiben, ob es sich tatsächlich in vollem Umfang um eine perinatale Schädigung handelt, oder ob (daneben auch) pränatale Anteile maßgeblich waren bzw. ob die Schäden (auch bzw. gerade) während der Notsectio entstanden sind (vgl. die Darlegungen von Prof. Dr. Dr. V., der davon gesprochen hat, „dass die Klägerin schon vor der Geburt gefährdet gewesen“ ist „und dann um die Geburt herum auch“). Denn relevant ist vorliegend einzig, dass die Schäden nicht erst im März 2002 entstanden sein können, was - wie erläutert - durch die beiden Gutachten feststeht. Zu weiteren Ermittlungen bestand daher kein Anlass. Insbesondere ist es nicht Sinn eines Gerichtsverfahrens, lediglich die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft voranzutreiben oder in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen Position zu beziehen (vgl. BSG, Urteil vom 16.09.1997 - 1 RK 28/95). Im Übrigen hat denn auch die Klägerseite keinerlei begründete Einwendungen gegen die Feststellungen im Gutachten von Prof. Dr. H. vorgebracht.

Ein anderes Ergebnis des Rechtsstreits ergäbe sich im Übrigen auch nicht, falls man von einer Manifestation des BNS-Anfallsleidens der Klägerin im zeitlichen Zusammenhang zur Hexavac-Impfung (postvakzinaler Inkubationszeit) ausgehen würde, wofür der Senat jedoch nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens, u.a. mit Blick auf die vorliegenden Befundunterlagen, ebenso wie das SG keine Veranlassung sieht. Denn, wie Prof. Dr. K. plausibel darauf hingewiesen hat, ein solcher Zusammenhang zwischen der Impfung mit der - nicht belegten - Manifestation könnte lediglich als gelegenheitsursächlich eingeordnet werden. So ist zwar ein „Fieberkrampf“ als im Gefolge der Impfung ausnahmsweise auftretender möglicher Auslöser eines prädeterminierten Anfallsleidens denkbar. Unter Heranziehung gültiger wissenschaftlicher Erkenntnisse hat Prof. Dr. K. jedoch klargestellt, das innerhalb der gesamten vier postvakzinalen Wochen die Manifestationshäufigkeit nicht von der Normalerwartung abweicht, was bedeutet, dass die vorliegende Impfung nicht fähig gewesen ist, Anfallsleiden zu verursachen. Sie könnte lediglich fähig gewesen sein, den Beginn des zur Manifestation anstehenden Anfallsleidens um wenige Tage vorzuverlegen. Eine Schädigung kann zwar unter Umständen wesentliche Bedingung für eine Gesundheitsstörung sein, auch wenn diese allein aufgrund einer Schadensdisposition mit Wahrscheinlichkeit ohnehin irgendwann aufgetreten wäre. Die Störung muss sich aber wegen der Schädigung signifikant früher gezeigt haben (vgl. z.B. Vießmann, SGb 2013, 68, 69).

Somit sieht der Senat entsprechend den anschaulichen Darlegungen von Prof. Dr. H. und von Prof. Dr. K. die grundsätzliche Möglichkeit der Verursachung von Impfschäden durch den Impfstoff Hexavac als nicht ausgeschlossen an; im vorliegenden Fall der Klägerin bestehen jedoch keine Hinweise hierauf.

Ein anderes Ergebnis folgt im Übrigen auch nicht aus den Darlegungen des Allgemeinarztes und Arztes für Naturheilverfahren Dr. R … Dies ergibt sich im Einzelnen aus den anschaulichen und in jeder Hinsicht überzeugenden Darlegungen von Prof. Dr. K … Aus Sicht des Senats sind die Ausführungen von Dr. R. fachlich nicht verwertbar, sie sind offensichtlich von Fehlannahmen bestimmt. Dies zeigt sich bereits bei dessen Definition des Impfschadens („wenn deutliche Unterschiede in medizinischen Untersuchungen und Befunden vor und nach der Impfung dokumentiert sind“), die, da offenbar schon das Kausalitätskriterium fehlt, von einem laienhaften Verständnis geprägt ist. Bei der Untersuchung von Impfschäden bedarf es, was Prof. Dr. K. zutreffend hervorgehoben hat, zahlreicher (sehr differenzierter) Merkmale und Kriterien, was aus den Darlegungen der beiden im Verfahren tätigen Sachverständigen ersichtlich wurde. Auch ist entsprechend den plausiblen Darlegungen von Prof. Dr. K. darauf hinzuweisen, dass vorliegend zwar die potentiell schädigende Impfung gesichert ist, die hierfür typische postvakzinale pathologische Komplikation aber nicht (s.o.). Selbst wenn sie belegt wäre, würde kein Zusammenhang mit dem vorhandenen Dauerleiden bestehen, das sich ohne jeden vernünftigen Zweifel und in vollem Umfang auf die o.g. Schädigung deutlich vor der Impfung zurückführen lässt (s.o.). Auch das Argument von Dr. R., die Klägerin als Frühgeborenes sei zu früh geimpft worden und deshalb sei es zu einem Impfschaden gekommen, überzeugt nicht. Denn sehr junge Neugeborene sind ebenso wie unreife Frühgeborene aufgrund einer noch unzureichenden immunologischen Leistung seltener in der Lage, auf Impfungen mit anaphylaktischer Reaktion oder immunologischer Fehlleistung zu reagieren. Für den vorliegenden Fall ist jedoch die Frage des Impftermins völlig irrelevant, da kein Impfschaden vorliegt. Der Behauptung von Dr. R., das Kind sei vor der Impfung gesund gewesen, nach der Impfung sei es zu Trinkschwierigkeiten und Schreiphasen gekommen und Letztere seien Folge eines postvakzinalen Gehirnödems und überdies sei ein pathologisches EEG gefunden worden, so dass auf die erforderliche Kausalität zu schließen sei, muss mit Prof. Dr. K. entgegengehalten werden, dass die Klägerin - wie oben ausführlich dargestellt - auf gar keinen Fall gesund gewesen ist. Dem Senat drängt sich hier wie dem genannten Sachverständigen der Eindruck auf, dass es dem für die Klägerseite Stellung nehmenden Arzt insoweit an neonatologischer und neuropädiatrischer Qualifikation fehlt. Weiter ist es reine Spekulation, aus postvakzinalem Schreien auf ein postvakzinales Hirnödem zu schließen. Dies gilt, wie Prof. Dr. K. nachvollziehbar dargestellt hat, insbesondere nach der ersten Impfung und jenseits der ersten Tage und vor allem im Falle des Fehlens eines Hirnödems, was vorliegend durch den Sonographiebefund belegt ist. Zur Behauptung von Dr. R., die kausale Verbindung zwischen mütterlicher Blutung und dem Leiden des Kindes könne nicht bewiesen werden und die Leiden seien erst nach der Impfung dokumentiert, schließt sich der Senat der Wertung des Sachverständigen an, dass der Leser „massiv fehlinformiert“ wird, da ihm Dr. R. den Zustand des Kindes nach der Geburt vorenthält.

3.) Auch auf der Basis von § 61 Satz 2 IfSG (Kannversorgung) vermag die Klägerin mit ihrem Begehren nicht durchzudringen. Eine Versorgung kann danach auch gewährt werden, wenn die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung nur deswegen scheitert, weil in der medizinischen Wissenschaft über die Leidensursache allgemein Unkenntnis herrscht. Dabei ist eine abstrakte theoretische Unsicherheit Voraussetzung, nicht eine bloße konkrete im Einzelfall (vgl. bereits das Urteil des Senats vom 31.07.2012 - L 5 VJ 9/09, m.w.N.). § 61 Satz 2 IfSG ist dahin zu interpretieren, dass mit Ausnahme des Wahrscheinlichkeitsnachweises alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sein müssen und zugleich keine Aspekte erkennbar sein dürfen, welche die Wahrscheinlichkeit der Verursachung unabhängig von der Ätiologie und der Pathogenese der betreffenden Krankheit ausschließen. Damit sind die Voraussetzungen für die Kannversorgung im Falle der Klägerin nicht erfüllt. Dies ergibt sich ebenfalls aus dem plausiblen und anschaulichen Sachverständigengutachten von Prof. Dr. H … Im vorliegenden Fall hat man es, wie überzeugend ausgeführt worden ist, gerade nicht mit einer Unsicherheit auf der abstrakten, theoretischen Ebene zu tun. Von Prof. Dr. H. und auch von dem vom Beklagten beauftragten Sachverständigen sind die Ursachen für die schweren Behinderungen der Klägerin plausibel dargestellt worden. Unklarheit in diesem Sinne besteht ferner auch nicht im Hinblick auf die Möglichkeit, dass infolge der Impfung ein Fieberkrampf als möglicher Auslöser eines prädeterminierten Anfallsleidens in der Folge der Impfung abgelaufen sein könnte, was sich ebenfalls aus den plausiblen Darlegungen von Prof. Dr. K. ergibt (vgl. bereits oben).

4.) Auch hat die Klägerseite im Übrigen keinerlei begründete Einwendungen gegen die gutachterlichen Feststellungen vorgebracht. Das Verfahren, insbesondere das Berufungsverfahren, ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass außer der pauschalen Behauptung, die Klägerin sei vor der Impfung gesund gewesen, und dem Verweis auf das in keiner Weise überzeugende „Gutachten“ des Arztes für Allgemeinmedizin und Naturheilkunde Dr. R. eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den zahlreichen Problemkreisen der medizinischen Beurteilungen so gut wie nicht stattgefunden hat und insbesondere keinerlei Einwendungen gegen die Feststellungen des Gutachtens von Prof. Dr. H. vorgetragen worden sind. Der Senat hat im Übrigen auch unter diesem Aspekt keine Veranlassung gesehen, zu einzelnen Fragen ergänzende Ermittlungen durchzuführen; Abklärungsbedarf kann der Senat denn auch nicht erkennen (s.o.).

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wurde nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

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Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 11. Juli 2017 - L 15 VJ 6/14 zitiert 16 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 128


(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. (2) Das Urteil darf nur auf Tatsache

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 124


(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. (2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. (3) Entscheidungen des Gerichts, d

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 118


(1) Soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, sind auf die Beweisaufnahme die §§ 358 bis 363, 365 bis 378, 380 bis 386, 387 Abs. 1 und 2, §§ 388 bis 390, 392 bis 406 Absatz 1 bis 4, die §§ 407 bis 444, 478 bis 484 der Zivilprozeßordnung entsprech

Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV | § 2 Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“


Die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien sind in der Anlage zu dieser Verordnung#F1_771649als deren Bestandteil festgelegt.

Infektionsschutzgesetz - IfSG | § 60 Versorgung bei Impfschaden und bei Gesundheitsschäden durch andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe


(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die1.von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,1a.gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rech

Infektionsschutzgesetz - IfSG | § 2 Begriffsbestimmungen


Im Sinne dieses Gesetzes ist1.Krankheitserregerein vermehrungsfähiges Agens (Virus, Bakterium, Pilz, Parasit) oder ein sonstiges biologisches transmissibles Agens, das bei Menschen eine Infektion oder übertragbare Krankheit verursachen kann,2.Infekti

Infektionsschutzgesetz - IfSG | § 61 Gesundheitsschadensanerkennung


Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des

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Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 11. Juli 2017 - L 15 VJ 6/14 zitiert oder wird zitiert von 10 Urteil(en).

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(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

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(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
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4.
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(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 25. April 2012 aufgehoben, soweit es die teilweise Aufhebung der Bewilligung des Elterngeldes für die Zeit vom 24. Januar 2011 bis 23. Februar 2011 betrifft.

In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Revision der Klägerin zurückgewiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Höhe des der Klägerin zustehenden Elterngeldes nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG).

2

Der beklagte Landkreis bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 6./7.12.2010 Elterngeld für den ersten bis zwölften Lebensmonat ihrer am 2010 geborenen Tochter M Wegen der Anrechnung der während des Beschäftigungsverbotes bis zum 19.11.2010 bezogenen beamtenrechtlichen Dienstbezüge betrug der Auszahlungsbetrag für den ersten Lebensmonat (24.9. bis 23.10.2010) 0,00 Euro und für den zweiten Lebensmonat (24.10. bis 23.11.2010) 169,35 Euro; für den dritten bis zwölften Lebensmonat errechnete der Beklagte einen Betrag von jeweils 1312,48 Euro. Der Bemessung legte er in dem Zeitraum September 2009 bis August 2010 durchschnittlich erzielte monatliche Nettoeinkünfte von 1958,93 Euro zugrunde. Da die Klägerin beantragt hatte, die Monatsbeträge in halben Monatsbeträgen auszuzahlen, hob der Beklagte mit Bescheid vom 8./10.12.2010 die ursprüngliche Bewilligung mit Wirkung vom 24.1.2011 auf und stellte fest, dass in dem fünften bis 20. Lebensmonat (24.1.2011 bis 23.5.2012) jeweils ein Betrag von 656,24 Euro gezahlt werde.

3

Mit Rundschreiben vom 2.12.2010 wies der Beklagte die Elterngeldberechtigten auf die zum 1.1.2011 durch das Haushaltsbegleitgesetz 2011 (HBeglG 2011) vom 9.12.2010 (BGBl I 1885)

4

eintretenden Gesetzesänderungen und deren Rechtsfolgen hin. Durch Bescheid vom 24.1.2011 hob der Beklagte die Bewilligung des Elterngeldes der Klägerin gemäß § 48 Abs 1 SGB X ab dem fünften Lebensmonat (also ab dem 24.1.2011) mit folgender Begründung teilweise auf:

5

Durch das HBeglG 2011 sei insoweit eine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen eingetreten, als § 2 Abs 2 BEEG mit Wirkung vom 1.1.2011 geändert worden sei. Nach dem neu eingefügten S 2 dieser Regelung sinke bei einem vorgeburtlichen monatlichen Durchschnittseinkommen von mehr als 1200 Euro der Bemessungssatz von 67 % auf bis zu 65 %. Auf Grund dessen stellte der Beklagte die Höhe des Elterngeldes der Klägerin für die Zeit vom 24.1.2011 bis 23.5.2012 in Höhe von monatlich 636,65 Euro fest. Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin wies er zurück (Widerspruchsbescheid vom 15.6.2011).

6

Das Sozialgericht Oldenburg (SG) hat mit Urteil vom 10.1.2012 den Bescheid vom 24.1.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.6.2011 aufgehoben. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat auf die von dem Beklagten eingelegte Berufung das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 25.4.2012). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

7

Der Beklagte habe zu Recht die Bewilligung des Elterngeldes mit Wirkung ab dem 24.1.2011 teilweise nach § 48 Abs 1 S 1 SGB X aufgehoben und die monatlichen Leistungen von 656,24 Euro auf 636,65 Euro herabgesetzt, weil in den der Elterngeldbewilligung zugrunde liegenden rechtlichen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Die Bewilligung von Elterngeld stelle einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dar, da dadurch für die Dauer des Bezugszeitraumes wiederholend Elterngeld pro Monat gewährt worden sei.

8

Die wesentliche Änderung sei durch das zum 1.1.2011 in Kraft getretene HBeglG 2011 und den damit eingefügten § 2 Abs 2 S 2 BEEG erfolgt. Da das maßgebliche Einkommen der Klägerin im Bemessungszeitraum den in § 2 Abs 2 S 2 BEEG genannten Grenzwert von 1200 Euro überschritten habe, wirke sich die vorgesehene Leistungsminderung auf ihren Anspruch aus. Diese Regelung gelte auch für laufende Leistungsfälle. Dies ergebe sich bereits aus Art 24 Abs 2 HBeglG 2011, wonach ua Art 14 dieses Gesetzes und damit auch die Neufassung des § 2 Abs 2 BEEG ohne Übergangsregelung zum 1.1.2011 in Kraft getreten sei. Damit betreffe die Neuregelung alle ab Januar 2011 zu erbringenden Elterngeldansprüche, und zwar unabhängig davon, ob die zu betreuenden Kinder vor oder erst nach der Gesetzesänderung geboren worden seien. Auch die Gesetzesmaterialien belegten ausdrücklich den Willen des Gesetzgebers, die Ansprüche solcher Eltern mit zu erfassen, deren Kinder bereits vor der Gesetzesänderung geboren seien.

9

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die gesetzliche Neuregelung seien nicht ersichtlich. Insbesondere habe diese keine Rückwirkung beinhaltet und damit auch kein schutzwürdiges Vertrauen auf Seiten der Eltern missachtet. Denn der Anspruch auf Elterngeld werde nicht bereits mit der Geburt des Kindes begründet, sondern erst dadurch, dass der das Elterngeld beantragende Elternteil im jeweiligen Bezugsmonat alle Anspruchsvoraussetzungen erfülle. Daher seien von der Gesetzesänderung nur künftige Elterngeldansprüche, dh Ansprüche auf Elterngeld für die ab dem 1.1.2011 beginnenden Bezugsmonate, betroffen gewesen.

10

Selbst wenn aber von einem Gesetz mit unechter Rückwirkung auszugehen sei, trage die Neuregelung dem Vertrauensschutz und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinreichend Rechnung. Die sich aus diesen Verfassungsprinzipien ergebenden Anforderungen seien erst überschritten, wenn die vom Gesetzgeber angeordnete unechte Rückwirkung zur Erreichung des Gesetzeszwecks nicht geeignet oder erforderlich sei oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwögen. Das HBeglG 2011 stehe im Zusammenhang mit Bemühungen der Haushaltskonsolidierung. Hierbei habe auch der Bereich der Familienleistungen nicht ausgespart bleiben können. Mit dem Ziel der langfristigen Stabilität der Staatsfinanzen habe sich der Gesetzgeber auf öffentliche Interessen von besonderer Bedeutung berufen können. Dem stehe nur eine geringe Leistungsreduzierung um ca 3 % gegenüber, so dass sich nichts dafür objektivieren lasse, dass diese die betroffenen Eltern bei Abwägung ihres Interesses mit den verfolgten Gemeinwohlbelangen unverhältnismäßig belasten könne. Der Gesetzgeber habe im Rahmen der ihm zukommenden typisierenden Betrachtung davon ausgehen dürfen, dass die mit dem HBeglG 2011 vorgesehene Kürzung (für Eltern mit einem Erwerbseinkommen vor der Geburt von mehr als 1200 Euro) um bis zu ca 3 % angesichts ihres begrenzten Ausmaßes kein ausschlaggebendes Gewicht bei der Entscheidung für oder gegen die Ausübung einer Erwerbstätigkeit während der ersten Lebensmonate des Kindes gewinnen werde. Zudem seien mögliche Kürzungen der Elterngeldansprüche bereits im Zeitpunkt der Geburt der Tochter der Klägerin Gegenstand der politischen Erörterungen gewesen.

11

Schließlich verstoße die Neufassung des § 2 Abs 2 BEEG auch nicht gegen Art 6 GG. Hinsichtlich der Ausgestaltung und Konkretisierung des Auftrages zum Schutz der Familie sei dem Gesetzgeber ein weitreichendes Ermessen zuzubilligen. Die Grenzen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, der im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit besonders weit sei, würden durch die geringfügige Modifizierung der Höhe des Elterngeldes nicht überschritten.

12

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 48 Abs 1 S 1 SGB X, der Art 14 Nr 2 Buchst b und Art 24 Abs 2 HBeglG 2011 sowie des Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG. Hierzu führt sie im Wesentlichen aus:

13

Hinsichtlich der Bewilligung von Elterngeld an sie sei keine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten. Denn die durch das HBeglG 2011 erfolgte Änderung des § 2 Abs 2 BEEG sei nur auf Elterngeldansprüche anwendbar, die nach dem 1.1.2011 entstanden seien, nicht dagegen auf laufende Leistungsfälle. In Art 24 Abs 2 HBeglG 2011 sei keine Regelung zum zeitlichen Anwendungsbereich der Gesetzesänderung enthalten, so dass ein eindeutiger Wille des Gesetzgebers im Gesetz nicht erkennbar sei. Es sei daher auf die allgemeinen Grundsätze des intertemporalen Rechts abzustellen. Danach sei dasjenige Recht maßgeblich, das zur Zeit des anspruchsbegründenden Ereignisses gegolten habe. Der Anspruch auf Elterngeld entstehe entgegen der Ansicht des LSG mit der Geburt des Kindes bzw mit der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen. Der Eintritt des jeweiligen Lebensmonats sei lediglich für die Auszahlung der Leistung maßgeblich. Daher sei für ihren Anspruch das Recht des Jahres 2010 entscheidend. Spätere Änderungen könnten diesen Anspruch nicht beeinträchtigen.

14

Im Übrigen verstoße die Entscheidung des LSG gegen das Rückwirkungsverbot, da das LSG den zu ihren Gunsten bestehenden Vertrauensschutz nicht hinreichend berücksichtigt habe. Soweit die Änderung des § 2 Abs 2 BEEG laufende Leistungsfälle erfasse, sei darin eine unechte Rückwirkung zu sehen, die unzulässig sei. Auf ihrer Seite seien die hohen laufenden Ausgaben zu berücksichtigen, die dazu führten, dass die Minderung des Elterngeldes um monatlich 39,18 Euro (richtig: 19,59 Euro) bzw insgesamt 313,44 Euro eine hohe finanzielle Belastung darstelle. Daher habe diese Leistungsminderung um ca 3 % Auswirkungen auf die Entscheidung für die Inanspruchnahme von Elternzeit und -geld. Das Gebot der Rechtssicherheit und der daraus folgende Vertrauensschutz seien höher zu bewerten als die öffentlichen Interessen an der Konsolidierung des Bundeshaushaltes. Auch dürfe nicht das Einsparpotenzial von jährlich ca 40 bis 45 Mio Euro betrachtet werden, sondern nur die Einsparungen, die durch die Änderungen im Elterngeldrecht bewirkt worden seien.

15

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 25. April 2012 aufzuheben sowie die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 10. Januar 2012 zurückzuweisen.

16

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

17

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

18

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

19

Die Revision der Klägerin ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil die teilweise Aufhebung der Bewilligung des Elterngeldes an die Klägerin für die Zeit vom 24.1.2011 bis 23.2.2011 betrifft. Im Übrigen - also hinsichtlich der teilweisen Aufhebung der Elterngeldbewilligung für die restlichen Lebensmonate - ist die Revision unbegründet.

20

Einer Sachentscheidung des erkennenden Senats stehen keine prozessualen Hindernisse entgegen. Klage und Berufung sind zulässig. Insbesondere ist die Berufung auf Grund ihrer Zulassung durch das erstinstanzliche Gericht statthaft und auch im Übrigen zulässig. Es handelt sich um eine isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 SGG). Gegenstand der Klage ist der Bescheid vom 24.1.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.6.2011. Der Bescheid vom 24.1.2011 hat die durch den Bescheid vom 8./10.12.2010 für den fünften bis 20. Lebensmonat erfolgte Neufeststellung des Elterngeldanspruchs teilweise aufgehoben und der Klägerin Elterngeld für diesen Zeitraum in geringerer Höhe zuerkannt. Das Begehren der Klägerin ist darauf gerichtet, Elterngeld in der ursprünglich gewährten Höhe zu erhalten. Dieses Ziel erreicht sie bereits mit der Aufhebung der angefochtenen Bescheide.

21

Die Revision der Klägerin hat zu einem geringen Teil Erfolg. Soweit der Beklagte die Elterngeldbewilligung für den Zeitraum vom 24.1.2011 bis 23.2.2011 teilweise aufgehoben hat, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung nicht möglich. Er kann nicht beurteilen, ob die verwaltungsverfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine insoweit erfolgte Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 48 Abs 1 S 2 SGB X vorliegen. Im Übrigen hat das LSG auf der Grundlage seiner insoweit nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit für das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG) auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG im Ergebnis zu Recht aufgehoben und die Klage abgewiesen. Insoweit war der Beklagte befugt, die Höhe des Elterngeldes durch den Bescheid vom 24.1.2011 herabzusetzen.

22

1. In formeller Hinsicht ist der angefochtene Verwaltungsakt revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. Zwar hat es der Beklagte versäumt, die Klägerin vor Erlass des Verwaltungsaktes nach § 24 Abs 1 SGB X anzuhören; dieser Verfahrensfehler ist jedoch durch die Durchführung des Widerspruchsverfahrens geheilt worden (§ 41 Abs 1 Nr 3 SGB X).

23

Vor Erlass des in die Rechte der Klägerin eingreifenden Verwaltungsaktes hätte diese nach § 24 Abs 1 SGB X angehört werden müssen. Die Ausnahme nach § 24 Abs 2 Nr 5 SGB X greift nicht ein, weil der Beklagte mit dem angefochtenen Verwaltungsakt das Elterngeld nicht geänderten Einkommensverhältnissen angepasst hat; vielmehr gründet die teilweise Aufhebung auf einer Änderung der rechtlichen Verhältnisse.

24

Das Unterlassen der vorherigen Anhörung ist allerdings nach § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X unbeachtlich, weil die Anhörung der Klägerin nachgeholt worden ist. Der Beklagte hat der Klägerin in dem angefochtenen Bescheid vom 24.1.2011 die entscheidungserheblichen Tatsachen mitgeteilt, auf die er die teilweise Aufhebung der zuvor erfolgten Neufeststellung des Elterngeldes gestützt hat. Dadurch hatte die Klägerin die Gelegenheit, sich dazu sachgerecht zu äußern (vgl hierzu Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 41 RdNr 15 mwN). Diese Möglichkeit hat die Klägerin durch Einlegung und Begründung des Widerspruches wahrgenommen. Aus dem Widerspruchsbescheid vom 15.6.2011 wird zudem deutlich, dass der Beklagte die von der Klägerin vorgebrachten Einwände gegen die teilweise Aufhebung zur Kenntnis genommen und bei seiner (ablehnenden) Entscheidung in Erwägung gezogen hat.

25

2. Der Beklagte hat die mit Bescheid vom 24.1.2011 erfolgte Neufeststellung des Elterngeldanspruchs der Klägerin zutreffend auf § 48 SGB X gestützt. Nach Abs 1 S 1 dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

26

a) Die Neuregelung der Auszahlung des Elterngeldes der Klägerin durch den Bescheid vom 8./10.12.2010 stellt einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dar (vgl ebenso Brandenburg in jurisPK-SGB X, Stand 1.12.2012, § 48 RdNr 51). Ein solcher Verwaltungsakt liegt vor, wenn eine durch Verwaltungsakt getroffene Regelung in rechtlicher Hinsicht über den Zeitpunkt seiner Bekanntgabe hinaus Wirkungen erzeugt (BSG Urteil vom 30.1.1985 - 1 RJ 2/84 - BSGE 58, 27, 28 = SozR 1300 § 44 Nr 16 S 28; Brandenburg in jurisPK-SGB X, Stand 1.12.2012, § 48 RdNr 51) dh wenn der Verwaltungsakt sich nicht nur in einem einmaligen Ge- oder Verbot oder einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern ein auf Dauer berechnetes oder in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis begründet oder inhaltlich verändert (BSG Urteil vom 28.9.1999 - B 2 U 32/98 R - BSGE 84, 281, 288 = SozR 3-2200 § 605 Nr 1 S 8 f). Die rechtliche Wirkung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung erstreckt sich daher über eine einmalige Gestaltung der Rechtslage hinaus auf eine gewisse zeitliche Dauer (BSG Urteil vom 29.6.1994 - 1 RK 45/93 - BSGE 74, 287, 289 = SozR 3-1300 § 48 Nr 33 S 67). Für die Charakterisierung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung ist es irrelevant, dass im Elterngeldrecht die Leistungen regelmäßig mit einem Bewilligungsbescheid für den gesamten Bezugszeitraum festgestellt werden. Die Bewilligung von Elterngeld beschränkt sich nicht nur auf die Gewährung und Auszahlung eines einmaligen Geldbetrages, sondern bezieht sich stets auf einen Zeitraum von mindestens zwei bis höchstens zwölf Monaten (vgl § 4 Abs 3 S 1 BEEG idF des Gesetzes vom 17.1.2009, BGBl I 61) bzw ausnahmsweise von 14 Monaten (vgl § 4 Abs 3 S 3 BEEG). So regelte der Beklagte mit Bescheid vom 8./10.12.2010 in Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 6./7.12.2010 die Auszahlung des Elterngeldes für den fünften bis 20. Lebensmonat neu.

27

b) Durch das HBeglG 2011 ist in den rechtlichen Verhältnissen, die bei der Neufeststellung des Elterngeldes nebst Auszahlungsregelung vom 8./10.12.2010 vorgelegen haben, eine Änderung eingetreten.

28

Der Anspruch der Klägerin auf Elterngeld hat sich zunächst nach dem BEEG idF vom 28.3.2009 (BGBl I 634) gerichtet. Für die hier allein streitige Höhe des Elterngeldanspruchs der Klägerin ist § 2 BEEG maßgebend. Nach dessen Abs 1 S 1 wird Elterngeld in Höhe von 67 % des in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Einkommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1800 Euro monatlich für volle Monate gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt. Hinsichtlich des maßgeblichen Bemessungssatzes stellt § 2 Abs 2 BEEG idF vom 28.3.2009 fest, dass sich dieser in den Fällen, in denen das durchschnittlich erzielte monatliche Einkommen aus Erwerbstätigkeit vor der Geburt geringer als 1000 Euro war, von 67 % um 0,1 Prozentpunkte für je 2 Euro, um die das maßgebliche Einkommen den Betrag von 1000 Euro unterschreitet, auf bis zu 100 % erhöht.

29

Dieser Bestimmung ist durch Art 14 Nr 2 Buchst b HBeglG 2011 folgender Satz angefügt worden:

        

In den Fällen, in denen das durchschnittlich erzielte monatliche Einkommen aus Erwerbstätigkeit vor der Geburt höher als 1200 Euro war, sinkt der Prozentsatz von 67 % um 0,1 Prozentpunkte für je 2 Euro, um die das maßgebliche Einkommen den Betrag von 1200 Euro überschreitet, auf bis zu 65 %.

30

Nach Art 24 Abs 2 HBeglG 2011 ist diese Änderung am 1.1.2011 in Kraft getreten, also nach dem Erlass des Bescheides über die Neufeststellung des Elterngeldes vom 8./10.12.2010. Dieser ist nämlich am 16.12.2010 abgesandt und damit am 19.12.2010 wirksam geworden (vgl § 37 Abs 2 S 1, § 39 Abs 1 S 1 SGB X).

31

c) Diese Rechtsänderung ist für den Elterngeldanspruch der Klägerin wesentlich gewesen.

32

aa) Zunächst wird der Anspruch der Klägerin vom Inhalt der neuen Regelung erfasst, weil ihr durchschnittliches monatliches Erwerbseinkommen vor der Geburt des Kindes nach den bindenden Feststellungen des LSG 1958,93 Euro betrug. Nach § 2 Abs 2 S 2 BEEG ist in diesem Fall für die Höhe des Elterngeldes nicht mehr der Bemessungssatz von 67 %, sondern derjenige von 65 % maßgeblich. Dies führt zu einer geringeren Höhe des Elterngeldes. Nach den nunmehr vorliegenden rechtlichen Verhältnissen hätten der Bewilligungsbescheid vom 6./7.12.2010 und der Bescheid vom 8./10.12.2010 über die Auszahlung in halben Monatsbeträgen der Höhe nach nicht mehr ergehen dürfen (vgl Waschull in LPK-SGB X, 2. Aufl 2007, § 48 RdNr 31 mwN).

33

bb) Die Klägerin ist nicht bereits deshalb von der Anwendung des neuen Rechts ausgenommen, weil dieses erst nach Ablauf ihres Elterngeldbezuges in Kraft getreten wäre (vgl dazu zB BSG Urteil vom 21.2.2013 - B 10 EG 12/12 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 19 RdNr 23 mwN). Denn sie stand am 1.1.2011 noch im Leistungsbezug.

34

cc) Die Neuregelung würde sich ohne Weiteres ab dem fünften Lebensmonat des Kindes (also ab dem 24.1.2011) auf den Elterngeldanspruch der Klägerin auswirken, wenn die Leistung Monat für Monat jeweils neu bewilligt worden wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr umfasst die Neufeststellung des Elterngeldes vom 8./10.12.2010 einen Zeitraum von 15 Lebensmonaten. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 4 Abs 2 S 1 BEEG, wonach das Elterngeld in Monatsbeträgen für Lebensmonate des Kindes gezahlt wird. Diese Vorschrift regelt zwar auch die Entstehung monatlicher Zahlungsansprüche (vgl BSG Urteil vom 30.9.2010 - B 10 EG 9/09 R - BSGE 107, 1 = SozR 4-7837 § 1 Nr 2, RdNr 38); daraus folgt jedoch keine Notwendigkeit einer gesonderten Bewilligung für jeden einzelnen Lebensmonat.

35

dd) Der Elterngeldanspruch der Klägerin wird vom zeitlichen Geltungsbereich des HBeglG 2011 erfasst. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

36

aaa) Dem Wortlaut des HBeglG 2011 ist nicht zu entnehmen, ob § 2 Abs 2 S 2 BEEG auf laufende Leistungsfälle anzuwenden ist. Art 24 Abs 2 HBeglG 2011 regelt lediglich den Zeitpunkt des Inkrafttretens. Eine Übergangsregelung fehlt.

37

bbb) Deutliche Auslegungshinweise sind den Gesetzesmaterialien zu entnehmen.

38

Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens forderte der Bundesrat, das Inkrafttreten der Änderungen zum BEEG im Interesse der Eltern und der mit dem Vollzug befassten Länder mit einer Stichtagsregelung für Neufälle zu verbinden. Mit einer solchen Stichtags-regelung - abhängig von dem Geburtstag des Kindes - solle eine Übergangsregelung geschaffen werden, die den Eingriff in laufende Fälle vermeide. Dadurch werde den Belangen der Vollzugsstellen und der Akzeptanz der anstehenden Rechtsänderungen bei den Eltern Rechnung getragen und gewährleistet, dass das Elterngeld weiterhin als eine erfolgreiche, bürgernahe Familienleistung in der Öffentlichkeit wahrgenommen werde. Bei einem unmittelbaren Inkrafttreten zum 1.1.2011 müssten hingegen die betroffenen Fälle mit hohem Aufwand ermittelt und Änderungsbescheide erlassen werden. In einer Vielzahl von Fällen werde es zu Überzahlungen und entsprechenden Rückforderungen kommen. Es sei mit einer großen Anzahl von Widerspruchsfällen, ggf anschließenden Klageverfahren sowie mit erheblichem Unverständnis für die komplexe Konstellation in der Öffentlichkeit zu rechnen (BR-Drucks 532/10 S 6 f).

39

Die Bundesregierung, die den ursprünglichen Gesetzentwurf eingebracht hatte (BT-Drucks 17/3030), lehnte den Vorschlag einer solchen Stichtagsregelung ab. Eine derartige Regelung stünde ua nicht im Einklang mit den Haushaltserfordernissen, die sich insbesondere aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Neuverschuldung ergäben. Das Anliegen, eine Übergangsregelung für die Änderungen zum BEEG zu schaffen, hätten die Länder bereits im Rahmen der Anhörung zum HBeglG 2011 vorgebracht. Die von den gesetzlichen Änderungen Betroffenen seien durch den Kabinettsbeschluss bereits grundsätzlich informiert. Die Bundesregierung werde sich bemühen, mit den Ländern eine Umsetzung mit möglichst geringem Verwaltungsaufwand herbeizuführen (BT-Drucks 17/3361 S 4). Auf dieser Basis nahm der Bundestag den Entwurf des HBeglG 2011 mit Bezug auf die Änderung des § 2 Abs 2 BEEG am 28.10.2010 unverändert an (BR-Drucks 680/10 S 19). Da der Bundesrat in seiner Sitzung am 26.11.2010 weder den Vermittlungsausschuss anrief noch die Zustimmungsbedürftigkeit des HBeglG 2011 feststellte (Plenarprotokoll 877 S 456 A und B; BR-Drucks 680/10 ), wurde dieses Gesetz am 9.12.2010 ausgefertigt und am 14.12.2010 verkündet (BGBl I 1885).

40

Dieser Ablauf lässt deutlich erkennen, dass sich die Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren mit ihren Vorstellungen durchgesetzt hat. Die Bundesregierung hat in ihrer zitierten Stellungnahme auf den Vorschlag des Bundesrates zur Schaffung einer Stichtagsregelung Bezug genommen und diesen abgelehnt. Die Frage des zeitlichen Anwendungsbereiches der Änderung des § 2 Abs 2 BEEG war damit Gegenstand des Gesetzgebungsverfahrens; sie ist in der Weise beantwortet worden, dass die Gesetzesänderung ab ihrem Inkrafttreten auch laufende Leistungsfälle erfassen solle. Diesem gesetzgeberischen Willen steht der Wortlaut von Art 14 Nr 2 Buchst b, Art 24 Abs 2 HBeglG 2011 nicht entgegen, zumal er zum zeitlichen Anwendungsbereich des § 2 Abs 2 S 2 BEEG keine Regelung enthält. Unter diesen Umständen liegt auch keine planwidrige Regelungs- bzw Gesetzeslücke (vgl zum Vorliegen einer Gesetzeslücke iS einer planwidrigen Unvollständigkeit BSG Urteil vom 21.10.1998 - B 9 V 7/98 R - BSGE 83, 68, 70 f = SozR 3-1500 § 84 Nr 2 S 4, jeweils mwN) vor, die Voraussetzung für eine analoge Anwendung einer mit der Vorschrift des § 27 BEEG vergleichbaren Stichtagsregelung wäre.

41

ccc) Eine Heranziehung der Grundsätze des intertemporalen Rechts führt zu keiner anderen Beurteilung.

42

Werden materielle Anspruchsvoraussetzungen eines sozialrechtlichen Leistungsgesetzes geändert, gilt grundsätzlich das so genannte Versicherungs- bzw Leistungsfallprinzip. Hiernach ist ein Rechtssatz nur auf solche Sachverhalte anwendbar, die nach seinem Inkrafttreten verwirklicht werden. Spätere Änderungen eines Rechtssatzes sind danach für die Beurteilung von vor seinem Inkrafttreten entstandenen Lebensverhältnissen unerheblich, es sei denn, dass das Gesetz seine zeitliche Geltung auf solche Verhältnisse erstreckt. Dementsprechend geht das BSG in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass sich die Entstehung und der Fortbestand sozialrechtlicher Ansprüche bzw Rechtsverhältnisse grundsätzlich nach dem Recht beurteilen, das zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände gegolten hat (vgl BSG Urteil vom 26.11.1991 - 1/3 RK 25/90 - BSGE 70, 31, 34 = SozR 3-2500 § 48 Nr 1 S 3 f, jeweils mwN; Urteil vom 29.10.1992 - 9b RAr 7/92 - BSGE 71, 202, 208 = SozR 3-4100 § 45 Nr 3 S 14, jeweils mwN; Urteil vom 23.1.2008 - B 10 EG 5/07 R - BSGE 99, 293 = SozR 4-7837 § 27 Nr 1, jeweils RdNr 20; Urteil vom 27.8.2008 - B 11 AL 11/07 R - SozR 4-4300 § 335 Nr 1 RdNr 13 mwN; Urteil vom 24.3.2009 - B 8 SO 34/07 R - SozR 4-5910 § 111 Nr 1 RdNr 9; Urteil vom 22.6.2010 - B 1 KR 29/09 R - SozR 4-2500 § 275 Nr 4 RdNr 14; ebenso Kopp, SGb 1993, 593, 595 f: Grundsatz der Sofortwirkung und Nicht-Rückwirkung des neuen Rechts sowie Grundsatz des tempus regit actum).

43

Das Leistungsfall- bzw Versicherungsfallprinzip ist nicht anzuwenden, soweit später in Kraft gesetztes Recht ausdrücklich oder sinngemäß etwas anderes bestimmt. Dann kommt der Grundsatz der sofortigen Anwendung des neuen Rechts auch auf nach altem Recht entstandene Rechte und Rechtsverhältnisse zum Tragen (vgl BSG Urteil vom 27.8.1998 - B 10 AL 7/97 R - SozR 3-4100 § 141e Nr 3 S 11; ebenso eine sofortige Anwendung neuen Rechts bejahend Urteil vom 17.6.2008 - B 8/9b AY 1/07 R - BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2, jeweils RdNr 27; Kopp, SGb 1993, 593, 597). Im Bereich des SGB III wendet das BSG unter Berufung auf das einschlägige Übergangsrecht und die Gesetzesbegründung (vgl BSG Urteil vom 29.1.2001 - B 7 AL 16/00 R - BSGE 87, 262, 263 = SozR 3-4300 § 196 Nr 1 S 3; Urteil vom 17.10.2002 - B 7 AL 136/01 R - SozR 3-4300 § 144 Nr 12 S 32 mwN)das so genannte Geltungszeitraumprinzip an, wonach neues Recht immer schon (aber auch noch) einen Sachverhalt erfasst, wenn die maßgeblichen Rechtsfolgen in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts fallen (vgl BSG Urteil vom 6.2.2003 - B 7 AL 72/01 R - SozR 4-4100 § 119 Nr 1 RdNr 7 mwN; Urteil vom 27.8.2008 - B 11 AL 11/07 R - SozR 4-4300 § 335 Nr 1 RdNr 13; Urteil vom 18.12.2008 - B 11 AL 48/07 R - SozR 4-4300 § 158 Nr 4 RdNr 13; Urteil vom 6.5.2009 - B 11 AL 10/08 R - SozR 4-4300 § 144 Nr 19 RdNr 14; vgl zu diesem Grundsatz Eicher in Eicher/Schlegel, SGB III, Stand März 2010, vor §§ 422 ff RdNr 2 ff; Brandts in Brand, SGB III, 6. Aufl 2012, vor §§ 422 ff RdNr 6 f).

44

Welcher der genannten Grundsätze des intertemporalen Rechts zur Anwendung gelangt, richtet sich letztlich danach, wie das einschlägige Recht auszulegen ist (vgl BSG Urteil vom 28.4.2004 - B 2 U 12/03 R - SozR 4-2700 § 70 Nr 1 RdNr 13). Dementsprechend sind diese Grundsätze nicht geeignet, ein eindeutiges Auslegungsergebnis - wie im vorliegenden Fall - umzukehren.

45

ddd) Schließlich spricht auch der Sinn und Zweck des HBeglG 2011 für eine Anwendung des § 2 Abs 2 S 2 BEEG auf laufende Leistungsfälle. Dieser bestand darin, zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte - sowohl im Hinblick auf die Defizitgrenze des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes als auch die "Schuldenbremse" der Art 109 Abs 3, Art 115 Abs 2 GG - Staatsausgaben einzusparen (vgl BT-Drucks 17/3030 S 1). Hierbei könne - so die Begründung zum Gesetzentwurf - auch der Bereich der Familienleistungen nicht ausgespart werden (BT-Drucks 17/3030 S 47). Dieser Gesetzeszweck legt es nahe, die Herabsetzung des Bemessungssatzes für das Elterngeld ab dem Inkrafttreten des § 2 Abs 2 S 2 BEEG auch auf laufende Leistungsfälle anzuwenden(ebenso Dau, jurisPR-SozR 24/2011, Anm 4). Denn nur so konnte das beabsichtigte Sparziel erreicht werden (vgl dazu BT-Drucks 17/3030 S 27).

46

d) Damit sind im Falle der Klägerin die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 S 1 SGB X für eine teilweise Aufhebung der Elterngeldbewilligung mit Wirkung für die Zukunft gegeben gewesen. Diese Zukunftswirkung bezieht sich auf die Zeit ab Beginn des Lebensmonats des Kindes, der auf die Bekanntgabe des angefochtenen Verwaltungsakts folgt (vgl dazu BSG Urteil vom 24.4.1997 - 13 RJ 23/96 - BSGE 80, 186, 196 = SozR 3-7140 § 1 Nr 1 S 12 f; BSG Urteil vom 30.9.2010 - B 10 EG 9/09 R - BSGE 107, 1 = SozR 4-7837 § 1 Nr 2, RdNr 38). Da der Aufhebungsbescheid am 24.1.2011 ergangen und der Klägerin durch Post übermittelt worden ist, gilt er gemäß § 37 Abs 2 SGB X - abhängig von dem berufungsgerichtlich nicht festgestellten Zeitpunkt der Aufgabe zur Post - frühestens als am 27.1.2011 bekannt gegeben. Eine Zukunftswirkung hat er mithin erst ab dem sechsten Lebensmonat des Kindes entfalten können, der am 24.2.2011 begann.

47

3. Auf dieser rechtlichen Grundlage hat der Beklagte die Höhe des der Klägerin zustehenden Elterngeldes ab dem sechsten Lebensmonat des Kindes zutreffend festgestellt. Er ist hierbei von dem von ihm ermittelten monatlichen Bemessungseinkommen von 1958,93 Euro ausgegangen und hat mit dem Bemessungssatz von 65 % eine Leistung in Höhe von 636,65 Euro errechnet.

48

4. Der erkennende Senat ist nicht davon überzeugt (vgl Art 100 Abs 1 GG), dass die Anwendung des § 2 Abs 2 S 2 BEEG im vorliegenden Fall Grundrechte der Klägerin verletzt.

49

a) Nach Art 14 Abs 1 GG geschützte Eigentumsrechte sind durch die Herabsetzung des Bemessungssatzes nicht betroffen. Der Anspruch auf Elterngeld begründet für den Berechtigten keine Eigentums- oder eigentumsähnlichen Rechte, da er nicht auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Berechtigten beruht (vgl zu dieser Voraussetzung BVerfG Urteil vom 16.7.1985 - 1 BvL 5/80 ua - BVerfGE 69, 272, 301 ff = SozR 2200 § 165 Nr 81 S 126 f). Die Ausgaben für das Elterngeld trägt der Bund (§ 12 Abs 2 BEEG) aus allgemeinen Steuermitteln (vgl ebenso zur Abschaffung der Arbeitslosenhilfe BVerfG Beschluss vom 7.12.2010 - 1 BvR 2628/07 - BVerfGE 128, 90, 101 ff = SozR 4-1100 Art 14 Nr 23 RdNr 30 ff; vgl zum Kindergeld BSG Urteil vom 22.1.1986 - 10 RKg 20/84 - SozR 5870 § 10 Nr 8 S 12; ebenso zum Elterngeld Buchner/Becker, MuSchG/BEEG, 8. Aufl 2008, vor §§ 1-14 BEEG RdNr 12).

50

b) Ebenso wenig verstößt die Geltung der Absenkung des Bemessungssatzes auch für laufende Leistungsfälle gegen die rechtsstaatlichen Gebote der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (Art 20 Abs 3 GG iVm Art 2 Abs 1 GG).

51

Zunächst liegt hierin keine echte Rückwirkung bzw keine Rückbewirkung von Rechtsfolgen. Denn eine solche ist nur anzunehmen, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift oder wenn der Beginn seiner zeitlichen Anwendung auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm durch ihre Verkündung rechtlich existent, das heißt gültig geworden ist (vgl BVerfG Beschluss vom 7.12.2010 - 1 BvR 2628/07 - BVerfGE 128, 90, 106 = SozR 4-1100 Art 14 Nr 23 RdNr 45 mwN). Art 14 Nr 2 Buchst b HBeglG 2011, der am 14.12.2010 verkündet worden ist (BGBl I 1885), hat den Anspruch auf Elterngeld in früheren, bereits vollständig abgeschlossenen Zeiträumen unberührt gelassen. Diese Regelung wirkt sich lediglich auf Elterngeldansprüche für Lebensmonate nach seiner Verkündung aus (vgl Art 24 Abs 2 HBeglG 2011).

52

Die Änderung des BEEG hat allerdings eine unechte Rückwirkung bzw eine tatbestandliche Rückanknüpfung, soweit sie auch für laufende Leistungsfälle gilt. Eine solche liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet (vgl BVerfG Urteil vom 16.7.1985 - 1 BvL 5/80 ua - BVerfGE 69, 272, 309 = SozR 2200 § 165 Nr 81 S 132; Beschluss vom 13.5.1986 - 1 BvL 55/83 - BVerfGE 72, 141, 154 = SozR 2200 § 1265 Nr 78 S 260; Urteil vom 23.11.1999 - 1 BvF 1/94 - BVerfGE 101, 239, 263; Urteil vom 10.6.2009 - 1 BvR 706/08 ua - BVerfGE 123, 186, 257 = SozR 4-2500 § 6 Nr 8 RdNr 212) bzw wenn die Rechtsfolgen einer Norm zwar erst nach ihrer Verkündung eintreten, deren Tatbestand aber Sachverhalte erfasst, die bereits vor der Verkündung "ins Werk gesetzt" worden sind (vgl BVerfG Beschluss vom 14.5.1986 - 2 BvL 2/83 - BVerfGE 72, 200, 242; Beschluss vom 3.12.1997 - 2 BvR 882/97 - BVerfGE 97, 67, 78 f; Beschluss vom 5.2.2002 - 2 BvR 305/93, 2 BvR 348/93 - BVerfGE 105, 17, 37 f; Urteil vom 5.2.2004 - 2 BvR 2029/01 - BVerfGE 109, 133, 181). Der Klägerin ist zunächst Elterngeld für den Zeitraum vom 24.9.2010 bis 23.9.2011 bewilligt worden. In Abänderung dieser Entscheidung hat der Beklagte ihr für den fünften bis 20. Lebensmonat halbe Monatsbeträge gewährt. In diese Rechtsposition greift § 2 Abs 2 S 2 BEEG idF des HBeglG 2011 mit Wirkung vom 1.1.2011 und damit ab Beginn des nächsten Lebensmonats am 24.1.2011 ein.

53

Die unechte Rückwirkung eines Gesetzes ist grundsätzlich mit der Verfassung vereinbar. Verfassungsrechtliche Grenzen ergeben sich für sie allerdings aus dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Rechtssicherheit. Für den Bürger bedeutet Rechtssicherheit in erster Linie Vertrauensschutz. Daher ist ein Gesetz mit unechter Rückwirkung ausnahmsweise unzulässig, wenn es einen Eingriff vornimmt, mit dem der Betroffene nicht zu rechnen brauchte, den er also bei seinen Dispositionen nicht berücksichtigen konnte (BVerfG Beschluss vom 28.11.1984 - 1 BvR 1157/82 - BVerfGE 68, 287, 307). Darüber hinaus muss das Vertrauen des Betroffenen auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung schutzwürdiger sein als die mit dem Gesetz verfolgten Anliegen (vgl zu diesen beiden kumulativen Voraussetzungen Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl 2012, Art 20 RdNr 74 mwN). Dies ist anzunehmen, wenn bei der gebotenen Interessenabwägung das schutzwürdige Bestandsinteresse des Einzelnen die gesetzlich verfolgten Gemeinwohlinteressen überwiegt (BVerfG Beschluss vom 24.3.1998 - 1 BvL 6/92 - BVerfGE 97, 378, 389 = SozR 3-2500 § 48 Nr 7 S 34; Urteil vom 23.11.1999 - 1 BvF 1/94 - BVerfGE 101, 239, 263; Beschluss vom 14.3.2001 - 1 BvR 2402/97 - SozR 3-4100 § 242q Nr 2 S 11 - zur zeitlichen Anspruchsbegrenzung der originären Arbeitslosenhilfe; BSG Urteil vom 17.6.2008 - B 8/9b AY 1/07 R - BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2, jeweils RdNr 30). Eine Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit und dem Vertrauensschutz des Einzelnen hat der Gesetzgeber vor allem dann zu treffen, wenn die finanzielle Lage des Staates Einsparungen von Staatsausgaben notwendig macht. Er hat insoweit die Prioritäten zu setzen und eine politische Entscheidung zu treffen (BSG Urteil vom 22.1.1986 - 10 RKg 20/84 - SozR 5870 § 10 Nr 8 S 11). Dabei steht dem Gesetzgeber ein erheblicher Spielraum zur Verfügung (vgl BVerfG Beschluss vom 10.4.1984 - 2 BvL 19/82 - BVerfGE 67, 1, 15; Beschluss vom 30.9.1987 - 2 BvR 933/82 - BVerfGE 76, 256, 359 f). Danach wird der Grundsatz des Vertrauensschutzes durch die auf den Elterngeldanspruch der Klägerin anwendbare Änderung des § 2 Abs 2 BEEG nicht verletzt.

54

Die Zulässigkeit der Absenkung des Bemessungssatzes des Elterngeldes ergibt sich allerdings noch nicht daraus, dass die Klägerin bereits im Zeitpunkt der Geburt ihrer Tochter am 2010 mit dieser Änderung hätte sicher rechnen müssen. Zwar gibt es keinen generellen Schutz des Vertrauens auf den Fortbestand gesetzlicher Vorschriften (vgl BVerfG Urteil vom 3.4.2001 - 1 BvR 1681/94 ua - BVerfGE 103, 271, 287). Das Vertrauen des Bürgers in den Bestand des geltenden Rechts wird jedoch in der Regel solange geschützt, bis der Bundestag ein änderndes Gesetz beschließt (vgl BVerfG Beschluss vom 22.6.1971 - 2 BvL 6/70 - BVerfGE 31, 222, 227 mwN). Demnach ist ein Vertrauensschutz der Klägerin in den Fortbestand des alten Rechts frühestens am 28.10.2010 (Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 17/68, S 7279; Beschluss des Bundesrates vom 26.11.2010, BR-Drucks 680/10 ) entfallen.

55

Gegenüber dem Bestandsinteresse der Klägerin überwiegt jedoch das vom Gesetzgeber verfolgte Anliegen zum Wohl der Allgemeinheit.

56

Das Vertrauen der Klägerin in den Fortbestand der Regelung des § 2 Abs 2 BEEG ist nicht sehr hoch einzuschätzen. Allgemein ist ein Vertrauen in staatliches Handeln insoweit nicht geschützt, als es darauf gerichtet ist, dass insbesondere Leistungen der gewährenden Staatstätigkeit - also finanzielle Leistungen, denen keine finanziellen Leistungen des Bürgers an den Staat vorausgegangen sind - grundsätzlich und in gleicher Höhe weiter gewährt werden (vgl BSG Urteil vom 22.1.1986 - 10 RKg 20/84 - SozR 5870 § 10 Nr 8 S 11). Zunächst bestand die Rechtslage, die geändert wurde, erst seit dem 1.1.2007; es wurde also kein seit langer Zeit bestehendes Recht (vgl zu diesem Gesichtspunkt BVerfG Beschluss vom 14.3.2001 - 1 BvR 2402/97 - SozR 3-4100 § 242q Nr 2 S 11) geändert. Es geht hier demnach nicht um den unveränderten Fortbestand einer über viele Jahre gewährten Rechtsposition (vgl hierzu BVerfG Beschluss vom 24.3.1998 - 1 BvL 6/92 - BVerfGE 97, 378, 389 = SozR 3-2500 § 48 Nr 7 S 34). Darüber hinaus zeichnete sich die Absenkung der Leistungshöhe des Elterngeldes schon frühzeitig ab. Der Beschluss des so genannten Konsolidierungspakets, das die Änderung der Bemessung des Elterngeldes bereits umfasst hatte, ist im Rahmen der Kabinettsklausur der Bundesregierung am 6. und 7.6.2010 gefasst worden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist am 3.9.2010 an den Bundesrat (BR-Drucks 532/10) und am 27.9.2010 an den Bundestag (BT-Drucks 17/3030) übersandt worden.

57

Ferner kann ein Elternteil Elterngeld insgesamt nur für zwölf bzw in Ausnahmefällen für 14 Monate beziehen. Die Klägerin erhielt wegen der Anrechnung des Bezugs von Mutterschaftsgeld Elterngeld für elf Lebensmonate des Kindes, von denen acht von der Absenkung des Bemessungssatzes betroffen sind (wegen der Auszahlung von halben Monatsbeträgen wirkt sich dies auf 16 Monate aus). Überdies ist der monatliche Elterngeldanspruch der Klägerin lediglich um 19,59 Euro, also um ca 3 %, reduziert worden. Angesichts dieser geringen Höhe kann die im Gesetzgebungsverfahren getroffene Einschätzung, die Auswirkungen der Absenkung der Ersatzrate seien moderat (vgl BT-Drucks 17/3030 S 47), noch nachvollzogen werden (vgl LSG NRW Urteil vom 11.11.2011 - L 13 EG 41/11 - juris RdNr 31, vom 9.3.2012 - L 13 EG 52/11 - juris RdNr 19 sowie Urteil vom 6.5.2013 - L 13 EG 5/13 - juris RdNr 25; ebenso Jaritz in Roos/Bieresborn, MuSchG, Stand 9/2011, § 2 BEEG RdNr 35; grundsätzlich zustimmend, wenn auch mit Bedenken: Stellungnahme des Deutschen Vereins zum Gesetzentwurf des HBeglG 2011, NDV 2010, 477).

58

Auf der anderen Seite verfolgte der Gesetzgeber mit der Reduzierung der Sozialausgaben eine Konsolidierung des Haushalts und damit wichtige Gemeinwohlinteressen. Ihm stand dabei eine weite Gestaltungsfreiheit auch im Hinblick darauf zu, dass er mit Blick auf die erstmals für das Haushaltsjahr 2011 geltende so genannte Schuldenbremse (Art 109 Abs 3, Art 115 Abs 2 GG iVm Art 143d Abs 1 S 1 und 2 sowie S 6 GG idF des Gesetzes vom 29.7.2009 ) eine nach seiner Einschätzung unvertretbar hohe Neuverschuldung vermeiden wollte. Das Ziel der Sanierung der Staatsfinanzen durch Einsparungen auf der Ausgabenseite ist eine übergreifende und legitime Aufgabe des Gesetzgebers zu Gunsten des Staatsganzen (BVerfG Beschluss vom 14.3.2001 - 1 BvR 2402/97 - SozR 3-4100 § 242q Nr 2 S 10 f mwN). Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang auf die beabsichtigte Haushaltsentlastung für die kommunale Ebene in Höhe von jährlich 37 Mio bis 47 Mio Euro Bezug nimmt (vgl BT-Drucks 17/3361 S 1), sind diese Zahlen für die Änderung des BEEG nicht aussagekräftig. Denn die Ausgaben für das Elterngeld trägt nicht die kommunale Ebene, sondern der Bund (§ 12 Abs 2 BEEG). Die für den Bund erwartete Haushaltsentlastung beim Elterngeld allein durch die Absenkung der Ersatzquote sowie durch die Nichtberücksichtigung bestimmter Einnahmen (vgl die weiteren Änderungen in § 2 BEEG durch das HBeglG 2011) betrug nach den Gesetzesmaterialien in den Jahren 2011 bis 2014 jeweils 155 Mio Euro (vgl BT-Drucks 17/3030 S 27) und überstieg damit die von der Klägerin zugrunde gelegten Beträge um ein Vielfaches. Gerade um bereits im Haushaltsjahr 2011, in dem nach Art 143d Abs 1 S 6 GG mit dem Abbau des bestehenden Defizits begonnen werden sollte, eine hohe Haushaltsentlastung zu erreichen, war es erforderlich, die Änderung des § 2 Abs 2 BEEG ohne Übergangsregelung in Kraft treten und damit auch für laufende Leistungsfälle eingreifen zu lassen.

59

Vor dem Hintergrund der Bedeutung des vom Gesetzgeber mit dem HBeglG 2011 verfolgten Zieles sowie unter Abwägung dieses Anliegens mit der verhältnismäßig geringen Absenkung der Höhe des Elterngeldes um ca 3 % erachtet der Senat es für zumutbar, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der laufenden Leistungsfälle auf eine Übergangsregelung verzichtet hat.

60

c) Schließlich liegt kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG (iVm Art 6 Abs 1 GG) vor.

61

Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln; dies gilt sowohl für ungleiche Belastungen als auch für ungleiche Begünstigungen. Der allgemeine Gleichheitssatz untersagt dem Gesetzgeber jedoch nicht jede Differenzierung. Vielmehr bedürfen Differenzierungen stets einer Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Eine Verletzung des Gleichheitssatzes liegt immer dann vor, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (BVerfG Beschlüsse vom 21.7.2010 - 1 BvR 611/07, 1 BvR 2464/07 - BVerfGE 126, 400, 416 mwN; vom 6.6.2011 - 1 BvR 2712/09 - NJW 2011, 2869, 2870; vom 9.11.2011 - 1 BvR 1853/11 - NJW 2012, 214, 215 mwN und vom 7.2.2012 - 1 BvL 14/07 - BVerfGE 130, 240, 252 f mwN = SozR 4-7835 Art 1 Nr 1).

62

Bei der Überprüfung eines Gesetzes auf Übereinstimmung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz ist nicht zu untersuchen, ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste oder gerechteste Lösung gefunden hat, sondern nur, ob er die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit eingehalten hat (BVerfG Beschlüsse vom 8.10.1991 - 1 BvL 50/86 - BVerfGE 84, 348, 359 mwN; vom 8.6.2004 - 2 BvL 5/00 - BVerfGE 110, 412, 436; stRspr). Es bleibt grundsätzlich ihm überlassen, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, an die er dieselbe Rechtsfolge knüpfen, die er also im Rechtssinn als gleich ansehen will (BVerfG Urteile vom 20.12.1966 - 1 BvR 320/57, 1 BvR 70/63 - BVerfGE 21, 12, 26; Beschluss vom 7.5.1968 - 1 BvR 420/64 - BVerfGE 23, 242, 252). Allerdings muss er die Auswahl sachgerecht treffen (vgl BVerfG Beschlüsse vom 14.4.1964 - 2 BvR 69/62 - BVerfGE 17, 319, 330; vom 11.3.1980 - 1 BvL 20/76, 1 BvR 826/76 - BVerfGE 53, 313, 329 = SozR 4100 § 168 Nr 12; vom 15.5.1984 - 1 BvR 464/81 ua - BVerfGE 67, 70, 85 f; stRspr). Der normative Gehalt des Gleichheitssatzes erfährt seine Präzisierung jeweils im Hinblick auf die Eigenart des zu regelnden Sachbereichs (vgl BVerfG Beschlüsse vom 8.4.1987 - 2 BvR 909/82 ua - BVerfGE 75, 108, 157 = SozR 5425 § 1 Nr 1). Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz unterschiedliche Grenzen, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Dem Gesetzgeber werden dabei umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheiten auswirkt und je weniger der Einzelne nachteilige Folgen durch eigenes Verhalten vermeiden kann (zB BVerfG Beschlüsse vom 21.7.2010 - 1 BvR 611/07, 1 BvR 2464/07 - aaO, 418 mwN - BVerfGE 126, 400).

63

Im Bereich des Sozialrechts, wozu die Bestimmungen über das Elterngeld im ersten Abschnitt des BEEG gehören (§ 6, § 25 Abs 2 S 2, § 68 Nr 15a SGB I), hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum (vgl BVerfG Beschluss vom 6.6.2011 - 1 BvR 2712/09 - NJW 2011, 2869, 2870; BSG Urteil vom 18.8.2011 - B 10 EG 8/10 R - ZFSH/SGB 2012, 24, 26). Für die Beurteilung einer Ungleichbehandlung gilt insoweit ein Willkürmaßstab. Hinzu kommt, dass die Regelungen zur Höhe des Elterngeldanspruchs nicht an Persönlichkeitsmerkmalen anknüpfen, die dem Einzelnen nicht verfügbar sind (vgl BVerfG Beschluss vom 9.11.2011 - 1 BvR 1853/11 - NJW 2012, 214, 215). Im Bereich staatlicher Maßnahmen, welche die Familie betreffen, muss der Staat allerdings zusätzlich den Schutz beachten, den er dieser nach Art 6 Abs 1 GG schuldet (vgl BVerfG Beschluss vom 9.11.2004 - 1 BvR 684/98 - BVerfGE 112, 50, 67 = SozR 4-3800 § 1 Nr 7 RdNr 55).

64

Vor diesem Hintergrund kann der Senat einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG nicht feststellen. Soweit Berechtigte je nach dem Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes und der Lage der Bezugsmonate unterschiedlich hohe Elterngeldleistungen erhalten, beruht dies auf dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung am 1.1.2011. Dieser Termin orientiert sich sachgerecht an dem Beginn des Haushaltsjahres 2011. Auf Grund der Änderung des § 2 Abs 2 BEEG durch das HBeglG 2011 werden auch Elterngeldberechtigte mit einem durchschnittlichen monatlichen vorgeburtlichen Erwerbseinkommen bis einschließlich 1200 Euro anders behandelt als Berechtigte mit einem höheren Einkommen, da die Absenkung des Bemessungssatzes nur für die zuletzt genannte Gruppe gilt. Für Berechtigte mit einem niedrigeren Einkommen bleibt der Bemessungssatz unverändert bei mindestens 67 %, nach § 2 Abs 2 S 1 BEEG wird er sogar auf bis zu 100 % angehoben. Diese Ungleichbehandlung ist sachlich gerechtfertigt.

65

Die Rechtfertigung ergibt sich aus dem Zweck, den der Gesetzgeber bereits mit § 2 Abs 2 BEEG idF des Gesetzes vom 5.12.2006 (BGBl I 2748) - jetzt § 2 Abs 2 S 1 BEEG - verfolgt. Mit der darin vorgesehenen, stufenweisen Erhöhung des Bemessungssatzes sollten nach der Begründung des Gesetzentwurfes gezielt gering verdienende Eltern und insbesondere die Ausübung gering bezahlter Teilzeit- oder Kurzzeitbeschäftigungen unterstützt werden. Weil in diesen Fällen häufig auch das Partnereinkommen gering sei, sollten Familien mit kleinem Familieneinkommen mit dem Elterngeld eine Familienleistung erhalten, ohne dass eine aufwändige Ermittlung des gesamten Familieneinkommens erforderlich sei (BT-Drucks 16/1889 S 20). Diese Unterstützung gering verdienender Eltern hat der Gesetzgeber des HBeglG 2011 fortgeführt und nicht nur die Erhöhung des Bemessungssatzes unverändert beibehalten, sondern darüber hinaus die gestaffelte Absenkung des Bemessungssatzes erst bei einem Einkommen von mehr als 1200 Euro beginnen lassen. Die mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Berechtigten mit einem geringeren Einkommen ist ein ausreichender Sachgrund für deren Besserstellung gegenüber Berechtigten, die - wie die Klägerin - vor der Geburt des Kindes ein höheres Einkommen erzielt haben.

66

Im Rahmen der Prüfung einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes ist nicht darüber zu entscheiden, ob der Gesetzgeber die Grenze für die Absenkung des Bemessungssatzes mit einem Einkommen von mehr als 1200 Euro zutreffend gewählt hat oder ob nicht ein höheres Einkommen zweckmäßiger gewesen wäre. Diese Frage liegt innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen der Gestaltungsfreiheit. Ebenso wenig ist der Frage nachzugehen, ob statt der Absenkung der Ersatzquote die Reduzierung des Höchstbetrages des Elterngeldes von monatlich 1800 Euro zu einer sozial gerechteren Konturierung der Sparmaßnahme geführt hätte (vgl zu dieser Überlegung Stellungnahme des Deutschen Vereins zum Gesetzentwurf des HBeglG 2011, NDV 2010, 477 f).

67

An dieser Beurteilung ändert auch Art 6 Abs 1 GG nichts. Danach hat der Staat ua die Pflicht, die Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern (vgl BVerfG Beschlüsse vom 29.10.2002 - 1 BvL 16/95 ua - BVerfGE 106, 166, 177 f = SozR 3-5870 § 3 Nr 4 S 15; vom 8.6.2004 - 2 BvL 5/00 - BVerfGE 110, 412, 436; vom 6.7.2004 - 1 BvL 4/97 - BVerfGE 111, 160, 172 = SozR 4-5870 § 1 Nr 1 RdNr 53; BSG Urteil vom 13.10.2005 - B 10 EG 4/05 R - SozR 4-7833 § 6 Nr 3 RdNr 20; Urteil vom 23.1.2008 - B 10 EG 5/07 R - BSGE 99, 293 = SozR 4-7837 § 27 Nr 1, RdNr 28 f). Dieser Pflicht hat der Gesetzgeber mit dem BEEG Rechnung getragen. Aus Art 6 Abs 1 GG ergibt sich weder eine Verpflichtung, jegliche die Familie treffenden finanziellen Belastungen auszugleichen, noch erwachsen daraus konkrete Ansprüche auf staatliche Leistungen. Der Gesetzgeber konnte sich daher ohne Verstoß gegen seine Pflicht zur Familienförderung dafür entscheiden, den Bemessungssatz für die Bestimmung der Höhe des Elterngeldes ab einer bestimmten Höhe des Bemessungseinkommens geringfügig abzusenken. Er durfte auch davon ausgehen, dass diese Absenkung der Ersatzquote weder einen unmittelbaren noch einen mittelbaren Zwang auf die Eltern ausübt, auf die persönliche Betreuung des Kindes zu verzichten und stattdessen eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Das BEEG übt generell keinen durch Art 6 Abs 1 GG verbotenen Zwang auf Eltern aus, sondern setzt lediglich Anreize, die familienpolitischen Ziele, aber auch fiskalischen Interessen des Staates dienen (BSG Urteil vom 20.12.2012 - B 10 EG 19/11 R - SozR 4-7837 § 3 Nr 1 RdNr 39 mwN).

68

5. Soweit der Aufhebungsbescheid des Beklagten vom 24.1.2011 den Elterngeldanspruch der Klägerin für den fünften Lebensmonat des Kindes (24.1.2011 bis 23.2.2011) betrifft, wirkt er für die Vergangenheit. Gemäß § 48 Abs 1 S 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit
- die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt (Nr 1),
- der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesent-
 licher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht
 nach gekommen ist (Nr 2),
- nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt
 worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (Nr 3),
 oder
- der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwe-
 rem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft
Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (Nr 4).

69

Während die Nr 1 bis 3 offensichtlich nicht gegeben sind, kommt die Nr 4 hier in Betracht. Ob deren Voraussetzungen vorliegen, vermag der Senat nicht zu beurteilen, weil insoweit die erforderlichen Tatsachenfeststellungen - insbesondere zu einer groben Fahrlässigkeit der Klägerin - fehlen, die im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (vgl § 163 SGG). In diesem Umfang ist das Berufungsurteil daher aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 S 2 SGG).

70

6. Das LSG wird - soweit erforderlich - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Im Sinne dieses Gesetzes ist

1.
Krankheitserregerein vermehrungsfähiges Agens (Virus, Bakterium, Pilz, Parasit) oder ein sonstiges biologisches transmissibles Agens, das bei Menschen eine Infektion oder übertragbare Krankheit verursachen kann,
2.
Infektiondie Aufnahme eines Krankheitserregers und seine nachfolgende Entwicklung oder Vermehrung im menschlichen Organismus,
3.
übertragbare Krankheiteine durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden, verursachte Krankheit,
3a.
bedrohliche übertragbare Krankheiteine übertragbare Krankheit, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen kann,
4.
Krankereine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist,
5.
Krankheitsverdächtigereine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen,
6.
Ausscheidereine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein,
7.
Ansteckungsverdächtigereine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein,
8.
nosokomiale Infektioneine Infektion mit lokalen oder systemischen Infektionszeichen als Reaktion auf das Vorhandensein von Erregern oder ihrer Toxine, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme steht, soweit die Infektion nicht bereits vorher bestand,
9.
Schutzimpfungdie Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer übertragbaren Krankheit zu schützen,
10.
andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxedie Gabe von Antikörpern (passive Immunprophylaxe) oder die Gabe von Medikamenten (Chemoprophylaxe) zum Schutz vor Weiterverbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten,
11.
Impfschadendie gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung; ein Impfschaden liegt auch vor, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde,
12.
Gesundheitsschädlingein Tier, durch das Krankheitserreger auf Menschen übertragen werden können,
13.
Sentinel-Erhebungeine epidemiologische Methode zur stichprobenartigen Erfassung der Verbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten und der Immunität gegen bestimmte übertragbare Krankheiten in ausgewählten Bevölkerungsgruppen,
14.
Gesundheitsamtdie nach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzes bestimmte und mit einem Amtsarzt besetzte Behörde,
15.
Einrichtung oder Unternehmeneine juristische Person, eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person, in deren unmittelbarem Verantwortungsbereich natürliche Personen behandelt, betreut, gepflegt oder untergebracht werden,
15a.
Leitung der Einrichtung
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich einer Einrichtung durch diese mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern die Einrichtung von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
15b.
Leitung des Unternehmens
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich eines Unternehmens durch dieses mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern das Unternehmen von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
16.
personenbezogene AngabeName und Vorname, Geschlecht, Geburtsdatum, Anschrift der Hauptwohnung oder des gewöhnlichen Aufenthaltsortes und, falls abweichend, Anschrift des derzeitigen Aufenthaltsortes der betroffenen Person sowie, soweit vorliegend, Telefonnummer und E-Mail-Adresse,
17.
Risikogebietein Gebiet außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, für das vom Bundesministerium für Gesundheit im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit einer bestimmten bedrohlichen übertragbaren Krankheit festgestellt wurde; die Einstufung als Risikogebiet erfolgt erst mit Ablauf des ersten Tages nach Veröffentlichung der Feststellung durch das Robert Koch-Institut im Internet unter der Adresse https://www.rki.de/risikogebiete.

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

Im Sinne dieses Gesetzes ist

1.
Krankheitserregerein vermehrungsfähiges Agens (Virus, Bakterium, Pilz, Parasit) oder ein sonstiges biologisches transmissibles Agens, das bei Menschen eine Infektion oder übertragbare Krankheit verursachen kann,
2.
Infektiondie Aufnahme eines Krankheitserregers und seine nachfolgende Entwicklung oder Vermehrung im menschlichen Organismus,
3.
übertragbare Krankheiteine durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden, verursachte Krankheit,
3a.
bedrohliche übertragbare Krankheiteine übertragbare Krankheit, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen kann,
4.
Krankereine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist,
5.
Krankheitsverdächtigereine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen,
6.
Ausscheidereine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein,
7.
Ansteckungsverdächtigereine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein,
8.
nosokomiale Infektioneine Infektion mit lokalen oder systemischen Infektionszeichen als Reaktion auf das Vorhandensein von Erregern oder ihrer Toxine, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme steht, soweit die Infektion nicht bereits vorher bestand,
9.
Schutzimpfungdie Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer übertragbaren Krankheit zu schützen,
10.
andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxedie Gabe von Antikörpern (passive Immunprophylaxe) oder die Gabe von Medikamenten (Chemoprophylaxe) zum Schutz vor Weiterverbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten,
11.
Impfschadendie gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung; ein Impfschaden liegt auch vor, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde,
12.
Gesundheitsschädlingein Tier, durch das Krankheitserreger auf Menschen übertragen werden können,
13.
Sentinel-Erhebungeine epidemiologische Methode zur stichprobenartigen Erfassung der Verbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten und der Immunität gegen bestimmte übertragbare Krankheiten in ausgewählten Bevölkerungsgruppen,
14.
Gesundheitsamtdie nach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzes bestimmte und mit einem Amtsarzt besetzte Behörde,
15.
Einrichtung oder Unternehmeneine juristische Person, eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person, in deren unmittelbarem Verantwortungsbereich natürliche Personen behandelt, betreut, gepflegt oder untergebracht werden,
15a.
Leitung der Einrichtung
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich einer Einrichtung durch diese mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern die Einrichtung von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
15b.
Leitung des Unternehmens
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich eines Unternehmens durch dieses mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern das Unternehmen von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
16.
personenbezogene AngabeName und Vorname, Geschlecht, Geburtsdatum, Anschrift der Hauptwohnung oder des gewöhnlichen Aufenthaltsortes und, falls abweichend, Anschrift des derzeitigen Aufenthaltsortes der betroffenen Person sowie, soweit vorliegend, Telefonnummer und E-Mail-Adresse,
17.
Risikogebietein Gebiet außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, für das vom Bundesministerium für Gesundheit im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit einer bestimmten bedrohlichen übertragbaren Krankheit festgestellt wurde; die Einstufung als Risikogebiet erfolgt erst mit Ablauf des ersten Tages nach Veröffentlichung der Feststellung durch das Robert Koch-Institut im Internet unter der Adresse https://www.rki.de/risikogebiete.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger an einem entschädigungspflichtigen Impfschaden leidet.

2

Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche am 24.10.1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel und einer Säureüberladung (perinatale Asphyxie). Am 17.4.1986 erhielt der Kläger die im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfung gegen Diphtherie und Tetanus (Kombination) sowie gegen Poliomyelitis (oral). Zwei Wochen nach dieser Impfung sackte der Kläger im Arm seiner Mutter schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen; nach einigen Minuten setzte eine Erholung ein; Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Nach Angaben seiner Mutter hat sich das Kind nicht mehr vollständig erholt. Ende 1986 wurde beim Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis erhielt der Kläger am 12. und 30.4.1987.

3

Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von nunmehr 100 anerkannt.

4

Im März 2001 stellte der Kläger bei dem beklagten Land einen Antrag auf Leistungen wegen eines Impfschadens. Daraufhin holte dieses ein nervenärztliches Gutachten von Dr. D. ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5.9.2002 ab. Auf der Grundlage einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr. M. wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2003 zurück, weil ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der infantilen spastischen Cerebralparese zwar möglich aber nicht wahrscheinlich sei. Überwiegend wahrscheinlich sei, dass für die Erkrankung andere Faktoren, wie die Frühgeburt und Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, ausschlaggebend gewesen seien.

5

Der Kläger hat daraufhin beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Dieses hat verschiedene ärztliche Unterlagen sowie von Amts wegen ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 2.1.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.6.2005 eingeholt. Dieser ist - vorbehaltlich der Richtigkeit der Schilderung der Mutter des Klägers betreffend das Ereignis zwei Wochen nach der Impfung - zu dem Ergebnis gelangt, dass die perinatale Asphyxie (lediglich) zu einem leichten bis mäßigen Hirnschaden geführt habe. Die ab Mai 1986 ersichtlichen schweren neurologischen Störungen (Cerebralparese) seien überwiegend als Impfschadensfolge einzuordnen.

6

Der Beklagte hat demgegenüber ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S. Facharzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin - vom 21.2.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 27.2.2006 vorgelegt. Dieser hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale Sauerstoffmangelsituation zurückzuführen sei und eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung höchst unwahrscheinlich sei. Im Anschluss daran hat das SG die Mutter des Klägers als Zeugin über den Zwischenfall zwei Wochen nach dem 17.4.1986 vernommen und danach ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt und zwar von Prof. Dr. D. Unter dem 27.11.2006 ist dieser Sachverständige ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorliegende Cerebralparese mit bestimmten Störungen bzw Behinderungen überwiegend wahrscheinlich durch die perinatale Asphyxie verursacht worden sei, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Impfschädigung bestehe.

7

Durch Urteil vom 10.5.2007 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17.4.1986 unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 65 vH zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei am 13. oder 14. Tag nach der Impfung auf dem Arm der Mutter plötzlich schlaff geworden und mit halb geschlossenen Augen im Gesicht bleich gewesen, er habe sich danach zwar erholt, aber nicht mehr wie zuvor bewegt. Zur Frage der Verursachung sei der Auffassung von Prof. Dr. K. zu folgen. Die anders lautenden Beurteilungen der übrigen Sachverständigen seien nicht überzeugend. Die MdE von 65 vH ergebe sich daraus, dass der mit 100 vH zu bewertende dauerhafte Gesundheitsschaden des Klägers nach der Beurteilung von Prof. Dr. K. zu zwei Dritteln durch die Impfung am 17.4.1986 verursacht worden sei.

8

Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger hilfsweise beantragt, durch Anfrage bei der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Tatsache zu erweisen, dass die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen, sowie zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können, ein medizinisches Sachverständigengutachten eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes einzuholen, der über Erfahrungen auch zu Impfungen in den achtziger Jahren verfügt.

9

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Anspruchsvoraussetzungen nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorschriften des bis zum 31.12.2000 geltenden § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) und des am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nicht erfüllt. Danach sei der Nachweis einer schädigenden Einwirkung (der Impfung), einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und der Schädigungsfolgen (Dauerleiden) erforderlich. Für die jeweiligen Kausalzusammenhänge reiche eine Wahrscheinlichkeit aus.

10

Der dauerhafte Gesundheitsschaden in Form einer Cerebralparese sei hier nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen, weil sich ein Impfschaden als Primärschädigung nicht habe nachweisen lassen. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen seien, lasse sich den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung entnehmen. Bezogen auf den Anspruchszeitraum ab Antragstellung im April 2001 sei grundsätzlich die Nr 57 AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenze. Eine Änderung sei mit den AHP 2008 eingetreten, in welchen von einer Aufführung der spezifischen Impfschäden Abstand genommen worden sei. Vielmehr habe Nr 57 Satz 1 AHP 2008 auf die im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten STIKO verwiesen, die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelten. Nach Nr 57 Satz 2 AHP 2008 stellten diese Ergebnisse den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran habe sich auch mit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zum 1.1.2009 nichts geändert, denn die Nr 53 bis 143 AHP 2008 behielten auch nach Inkrafttreten der VersmedV weiterhin Gültigkeit als antizipiertes Sachverständigengutachten (BR-Drucks 767/07, S 4 zu § 2 VersMedV).

11

Die aktuellen Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 (EB Nr 25/2007, 209 ff), die zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen von Schutzimpfungen enthielten, seien gleichwohl zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen. Bei den einzelnen Impfstoffen würden jeweils in dem mit "Komplikationen" bezeichneten Abschnitt in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei.

12

Im Streit stehe der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne einer Verschlimmerung, nicht im Sinne der Entstehung. Nach Nr 42 Abs 1 Satz 3 AHP 2008 bzw nach Teil C Nr 7 Buchst a Satz 3 Anlage zur VersMedV komme, sofern zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch unbemerkt, vorhanden gewesen sei, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, falls die äußere Einwirkung den Zeitpunkt vorverlegt habe, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schädigungsbedingt in schwererer Form aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.

13

Bei dem Kläger liege nach Einschätzung aller Gutachter ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit bestehe auch darüber, dass derartige frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestierten. Kern des Rechtsstreits sei die Frage, ob ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese auf die Impfung zurückzuführen sei. Ein derartiger Zusammenhang sei indessen nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische Impfreaktion als Primärschädigung) fehle.

14

In den Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 seien für die Verwendung des Diphtherie-Impfstoffs sowie für die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs gegen Diphtherie und Tetanus spezifische Komplikationen aufgezählt, die sämtlich beim Kläger nicht aufgetreten seien. Insbesondere habe keiner der Sachverständigen eine Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.

15

Soweit der Kläger die Mitteilungen der STIKO für nicht maßgebend halte, weil sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen seien, komme es auf seinen entsprechenden Beweisantrag nicht an. Selbst wenn man unterstelle, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als den damals bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, sei der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich.

16

In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nr 57 Abs 12 und 13 AHP 2005 nenne für Diphtherie- und Tetanusschutzimpfungen spezifische Erscheinungen als Impfschäden, die bei dem Kläger nach Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K. nicht aufgetreten seien. Der von diesem als zentralnervöser Zwischenfall bezeichnete Vorgang zwei Wochen nach der Impfung sei keine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) gewesen. Die von Prof. Dr. S. genannten typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung fehlten beim Kläger. Selbst wenn man die vom Kläger unter Beweis gestellte Behauptung, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten könnten, als wahr unterstellte, ändere dies nichts daran, das vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems gerade nicht positiv festgestellt werden könne. Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge aber für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Der nach den AHP 2005 erforderliche Nachweis einer Antikörperbildung möge heute noch möglich sein, sei aber nicht zielführend, weil hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde und nicht mehr geklärt werden könne, welche der drei Impfungen des Klägers diesen Zustand herbeigeführt habe. Im Übrigen schieden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese allein auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen sei.

17

Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutzimpfung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei, sei - wovon auch die Beteiligten ausgingen - auf die AHP 2005 abzustellen. Die Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 enthielten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitisimpfstoffen weitere Impfstoffe insbesondere gegen Pertussis, Influenza und Hepatitis B, enthielten. Als Impfschäden nach einer Poliomyelitisschutzimpfung seien in Nr 57 Abs 2 AHP 2005 verschiedene Erkrankungen genannt, insbesondere poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer. In keinem der vorliegenden Gutachten sei erwähnt, dass der Kläger an einer derartigen Impfpoliomyelitis erkrankt gewesen sei. Ebenso wenig seien Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich seien beim Kläger auch weder eine Meningoenzephalitis noch die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert worden. Die von Prof. Dr. K. angenommene Encephalopathie sei nach den AHP 2005 nur nach Pertussis- und Pockenschutzimpfungen als Impfschaden genannt, die beim Kläger nicht vorgenommen worden seien.

18

Mit der vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe materielles und formelles Recht verletzt.

19

Verletzt sei § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG bzw § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG. Das LSG habe bei ihm das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung durch die Dreifachschutzimpfung, dh eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung und damit einen dauerhaften Impfschaden, zu Unrecht verneint, weil es verkannt habe, dass es für die Anerkennung einer unüblichen Impfreaktion und eines Impfschadens nach einer Dreifachimpfung im Jahre 1986 weiterhin auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unüblichen Impfreaktionen auf die 1986 verwendeten Impfstoffe ankomme. Stattdessen sei das LSG von den Hinweisen der STIKO von 2007 ausgegangen, die über unübliche Impfreaktionen auf die aktuell verwendeten Impfstoffe informierten, ohne aufgeklärt zu haben, ob es sich bei diesen Impfstoffen um die gleichen handele, die bei seiner Dreifachimpfung 1986 verwendet worden seien, oder ob sie sich unterschieden. Außerdem sei das LSG von einem unzutreffenden Verständnis der medizinischen Voraussetzungen, dh der Krankheitsbilder, ausgegangen.

20

Damit habe das LSG die Rechtstatsachen "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand" sowie die ebenfalls als Rechtstatsachen anzusehenden Krankheitsbegriffe "akut entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems" sowie "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf das Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R -) würden wissenschaftliche Erkenntnisse über medizinische Ursachen- und Wirkungszusammenhänge nicht mehr als Tatsachenfeststellungen iS von § 163 SGG gewertet, weil sie keine Tatsachen des Einzelfalles seien, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen (dort Berufskrankheiten-) Fälle von Bedeutung seien. Es gehe nicht nur um die Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt, sondern um sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt würden.

21

Aus den tatsächlichen Feststellungen zu seinem Zusammenbruch Ende April 1986 und zu seiner Entwicklung vor und nach der Impfung folge jedoch, dass es bei ihm zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen sei, nämlich zu einer Enzephalopathie (möglicher Diphtherieimpfschaden gemäß den AHP 1983) bzw zu einer nicht poliomyelitischen Erkrankung am ZNS (möglicher Impfschaden nach der Polio-Schluckimpfung gemäß den AHP 1983) bzw zu einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS (möglicher Impfschaden nach der Diphtherieschutzimpfung gemäß AHP 2005).

22

Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Bei den Rechtstatsachen "aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand", "akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems" und "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" handele es sich um allgemeine Erfahrungssätze, deren Verkennung eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung beinhalte.

23

Verstoßen habe das LSG gegen den Erfahrungssatz, dass die Impffolgen abhängig von den verwendeten Impfstoffen seien. Zudem habe das LSG bei der Deutung der Krankheitsbilder gegen medizinische Erfahrungssätze verstoßen. Das LSG habe weiter seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, insbesondere den Sachverhalt nicht vollständig erfasst bzw ermittelt. So habe es sich nicht veranlasst gesehen, seinem - des Klägers - Beweisantrag zum Fehlen einer Identität der 1986 und heute verwendeten Impfstoffe zu folgen. Diesen und den weiteren Beweisantrag zur Möglichkeit einer Erkrankung des ZNS bei immunologisch unreifen Kindern ohne Fieberausbrüche habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, dass eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS nicht festgestellt worden sei. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. K. durchaus eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS bejaht. Schließlich habe das LSG seine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (sich) widersprechenden Gutachten dadurch verletzt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. hinsichtlich des Nichtvorliegens einer akut entzündlichen ZNS-Erkrankung gefolgt sei, ohne sich mit den gegenteiligen Ausführungen des Prof. Dr. K. auseinander zu setzen und ohne darzulegen, aufgrund welcher Sachkunde es dem Gutachten von Prof. Dr. S. folge und worauf diese Sachkunde beruhe.

24

Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe die Entscheidung des LSG, dass ein Zusammenhang des Leidens der Tetraplegie mit der Dreifachimpfung nicht wahrscheinlich sei, weil es am Nachweis eines Impfschadens fehle und im Übrigen andere Ursachen der Erkrankung nicht ausschieden.

25

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2007 zurückzuweisen.

26

Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

27

Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.

28

Der Senat hat eine Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 mit einer Auflistung der seit 1979 zugelassenen Polio Oral-Impfstoffe sowie der Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus eingeholt und den Beteiligten ausgehändigt.

Entscheidungsgründe

29

1. Die Revision des Klägers ist zulässig.

30

a) Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, wenn er geltend macht, das LSG habe generelle "Rechtstatsachen" verkannt. Es spricht zunächst nichts dagegen, die in den AHP 1983 bis 2005 unter Nr 57 für Schutzimpfungen ausgeführten Erkenntnisse zu üblichen Impfreaktionen und "Impfschäden" als generelle Tatsachen anzusehen. Zutreffend hat der Kläger insoweit auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) zum Berufskrankheitenrecht hingewiesen. Auch der erkennende Senat ist bereits im Bereich des Schwerbehindertenrechts davon ausgegangen, dass generelle Tatsachen vorliegen, soweit es um allgemeine medizinische Erkenntnisse geht (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG führt die Annahme, dass ein bestimmter Umstand nicht (nur) einzelfallbezogene Tatsache ist, sondern eine generelle Tatsache darstellt, indes nur zur Durchbrechung der nach § 163 SGG angeordneten strikten Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des LSG verbunden mit der Befugnis bzw der Aufgabe für das Revisionsgericht, entsprechende generelle Tatsachen selbst zu ermitteln und festzustellen(BSG aaO). Die Nichtberücksichtigung genereller Tatsachen durch das Berufungsgericht bewirkt damit nicht unmittelbar eine Verletzung materiellen Rechts.

31

Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es um die unterlassene oder die fehlerhafte Berücksichtigung von generellen Rechtstatsachen geht, muss hier nicht entschieden werden. Zwar mag eine im og Sinne generelle Tatsache dann als Rechtstatsache anzusehen sein, wenn sie Gegenstand einer Rechtsnorm ist (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 7; noch nicht differenziert in BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4). Das BSG ist aber auch im Fall der Annahme einer generellen "Rechtstatsache" bisher ausdrücklich allein von der Durchbrechung der Bindung des § 163 SGG ausgegangen(BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24; BSGE 94, 90 = SozR 3-2500 § 18 Nr 6; s dazu Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 791, 796). Ob eine Erweiterung dieser Rechtsprechung in einem Fall angezeigt ist, in dem es um Inhalt und Reichweite der AHP geht, deren Änderung in der Rechtsprechung des BSG wegen der "rechtsnormähnlichen Qualität" der AHP als Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X angesehen worden ist(BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5 S 6), kann ebenfalls auf sich beruhen.

32

b) Jedenfalls reicht es zur Zulässigkeit einer Revision aus, wenn der Revisionsführer die berufungsgerichtliche Feststellung genereller Tatsachen mit zulässigen Verfahrensrügen angreift (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das ist hier geschehen. Der Kläger hat insbesondere schlüssig dargetan, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen aufzuklären, ob sich die vom LSG herangezogenen, in den Hinweisen der STIKO von 2007 und den AHP 2005 niedergelegten medizinischen Erkenntnisse auf die Impfstoffe beziehen, die im Jahre 1986 bei ihm (dem Kläger) verwendet worden sind. Dazu hat der Kläger auch hinreichend vorgetragen, dass es - ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG - auf diese Feststellungen ankam, weil nach den AHP 1983 andere Krankheitserscheinungen zur Bejahung eines über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschadens (dort als "Impfschaden" bezeichnet) ausreichten als nach den - insoweit gleichlautenden - AHP 1996 bis 2005. Sollten im vorliegenden Fall die AHP 1983 maßgebend sein, so wäre danach eine für den Kläger günstigere Entscheidung des LSG möglich gewesen. Diese Rüge erfasst den gesamten Gegenstand des Revisionsverfahrens. Sie führt mithin zur unbeschränkten Zulässigkeit der Revision.

33

2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.

34

a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente wegen eines Impfschadens nach einer MdE um 65 vH ab April 2001 (ab 21.12.2007: Grad der Schädigungsfolgen von 65). Mit Urteil vom 10.5.2007 hat das SG - entsprechend dem Klageantrag - den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der am 17.4.1986 erfolgten Impfung unter Anerkennung der Impfschadensfolge "Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung, leichte Sprachstörung" ab April 2001 Versorgung nach dem IfSG iVm dem BVG nach einer MdE von 65 vH zu gewähren. Dieses Urteil hatte der Kläger vor dem LSG erfolglos gegen die Berufung des Beklagten verteidigt. Im Revisionsverfahren erstrebt er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der - in der Revisionsverhandlung klargestellten - Maßgabe, dass er nicht allgemein Versorgung, sondern Beschädigtenrente begehrt (vgl dazu BSGE 89, 199, 200 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 92 f).

35

           

b) Der Anspruch des Klägers, der für die Zeit ab März 2001 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs 1 IfSG, der am 1.1.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin und auch schon zur Zeit der hier in Rede stehenden Impfung des Klägers im Jahre 1986 geltenden - weitgehend wortlautgleichen (BSGE 95, 66 = SozR 4-3851 § 20 Nr 1, RdNr 6; SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 12) - § 51 Abs 1 BSeuchG abgelöst hat. § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG bestimmt:

Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

3. gesetzlich vorgeschrieben war oder 

4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,

eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens iS des § 2 Nr 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

        

Nach § 2 Nr 11 Halbs 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

        
36

aa) Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG - ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde - erfolgteSchutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58, 59 = SozR 3850 § 51 Nr 9 S 46 und - 9a RVi 4/84 - SozR 3850 § 51 Nr 10 S 49; ebenso auch Nr 57 AHP 1983 bis 2005).

37

Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. (s Rohr/Sträßer/Dahm, BVG-Kommentar, Stand 1/11, § 1 Anm 10 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr 8 mwN).

38

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.

39

bb) Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales ) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.

40

           

Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl auch Nr 57 AHP 2008):

        

Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.

41

Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS , Einleitung zur VersMedV, S 5), sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.

42

cc) Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, dass alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im Sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht, und Schwerbehindertenrecht (s BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVi 1/95 - SozR 3-3850 § 52 Nr 1 S 3, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25) sowie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 V 1/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

43

Bei der Anwendung der neuesten medizinischen Erkenntnisse ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, ggf lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben.

44

c) Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Berufungsurteil nicht in vollem Umfang.

45

aa) Zunächst hat das LSG unangegriffen festgestellt, dass der Kläger am 17.4.1986 im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfungen, nämlich gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, erhalten hat. Sodann ist allerdings unklar, das Auftreten welcher genauen Gesundheitsstörungen das LSG in der Zeit nach diesen Impfungen als bewiesen angesehen hat. Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines "Impfschadens" im Sinne einer primären Schädigung (also einer Impfkomplikation) zu verneinen. Bei der insoweit erfolgten Kausalitätsbeurteilung hat es sich in erster Linie auf die Hinweise der STIKO von Juni 2007 (Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen/Stand: 2007, EB vom 22.6.2007/Nr 25 ) und hilfsweise auch auf die Nr 57 AHP 2005 gestützt, ohne - wie der Kläger zutreffend geltend macht - Feststellungen dazu getroffen zu haben, ob sich die darin zusammengefassten medizinischen Erkenntnisse auch auf die beim Kläger im Jahre 1986 verwendeten Impfstoffe beziehen.

46

Das LSG hat es bereits unterlassen, ausdrücklich festzustellen, welche Impfstoffe dem Kläger am 17.4.1986 verabreicht worden sind. Auch aus den vom LSG allgemein in Bezug genommenen Akten ergibt sich insofern nichts. Der in Kopie vorliegende Impfpass des Klägers enthält für den 17.4.1986 nur den allgemeinen Eintrag "Polio oral, Diphtherie, Tetanus". In der ebenfalls in Kopie vorliegenden Krankenkartei der behandelnden Kinderärztin findet sich unter dem 17.4.1986 die Angabe "DT-Polio".

47

Ermittlungen zu dem im Jahre 1986 beim Kläger verwendeten Impfstoff sowie zu dessen Einbeziehung in die Hinweise der STIKO (EB Nr 25/2007) und - hinsichtlich des oral verabreichten Poliolebendimpfstoffes - in die Nr 57 Abs 2 AHP 2005 hat das LSG offenbar für entbehrlich gehalten. Es hat den Umstand, dass die Impfstoffe im Laufe der Jahre verändert worden sind, hypothetisch als wahr unterstellt und anhand der AHP 2005 unter Auswertung der Sachverständigengutachten den Eintritt von Impfkomplikationen beim Kläger verneint. Dabei hat es jedoch nicht geklärt, ob die AHP 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der im Jahre 1986 vorgenommenen Impfungen auch wirklich uneingeschränkt maßgebend sind.

48

bb) Entsprechende Feststellungen wären sicher dann überflüssig, wenn die Angaben zu Impfkomplikationen nach Schutzimpfungen der beim Kläger vorgenommenen Art von den 1986 noch maßgebenden AHP 1983 bis zu den STIKO-Hinweisen von Juni 2007 gleich geblieben wären. Dann könnte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich weder die Auswirkungen der insoweit gebräuchlichen Impfstoffe noch diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben. Ebenso könnte auf nähere Feststellungen zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn feststünde, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis bei den STIKO-Hinweisen von 2007 oder den Angaben in Nr 57 AHP 2005 Berücksichtigung gefunden haben, sei es, weil die Impfstoffe (jedenfalls hinsichtlich der zu erwartenden Impfkomplikationen) im gesamten Zeitraum im Wesentlichen unverändert geblieben sind, sei es, weil etwaige Unterschiede differenziert behandelt worden sind. Von alledem kann nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht ausgegangen werden.

49

           

aaa) Zunächst lassen sich Unterschiede in den Ausführungen der Nr 57 AHP 1983 und 1996 (letztere sind in die AHP 2004 und 2005 übernommen worden) sowie in den STIKO-Hinweisen von 2007 feststellen:

So enthält die Nr 57 Abs 2 AHP (Poliomyelitis-Schutzimpfung) für die Impfung mit Lebendimpfstoff zwar hinsichtlich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 (2004/2005) im Wesentlichen die gleichen Formulierungen, der Text betreffend "Impfschäden" (im Sinne von Impfkomplikationen) weicht jedoch in beiden Fassungen voneinander ab. In den AHP 1983 heißt es insoweit:

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (21 bis 158 Tage beobachtet). Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.

50

           

Die Fassung der AHP 1996 nennt dagegen als "Impfschäden" (Komplikationen):

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.

51

In den EB 25/2007 finden sich zu einem Poliomyelitisimpfstoff mit Lebendviren, wie er dem Kläger (oral) verabreicht worden ist, keine Angaben. Dies beruht darauf, dass dieser Impfstoff seit 1998 nicht mehr zur Schutzimpfung bei Kleinkindern öffentlich empfohlen ist (vgl dazu BSG SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 16).

52

Für die Diphtherie-Schutzimpfung ist die Nr 57 Abs 12 AHP bezüglich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 im Wesentlichen wortlautgleich.

53

           

Die "Impfschäden" (im Sinne von Komplikationen) sind in der Fassung der AHP 1983 beschrieben mit:

        

Sterile Abszesse mit Narbenbildung. Selten in den ersten Wochen Enzephalopathie, Enzephalomyelitis oder Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit). Selten Thrombose, Nephritis.

54

           

Demgegenüber ist Abs 12 der Nr 57 AHP 1996 hinsichtlich der "Impfschäden" (Komplikationen) wie folgt gefasst:

        

Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.

55

           

Hinsichtlich der Tetanus-Schutzimpfung sind in Abs 13 der Nr 57 der hier relevanten Fassungen der AHP die "Impfschäden" wie folgt übereinstimmend umschrieben:

        

Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.

56

           

Demgegenüber differiert hier die Beschreibung der "üblichen Impfreaktionen" zwischen den Fassungen 1983 und 1996. Während 1983 als "übliche Impfreaktionen" beschrieben sind:

        

Geringe Lokalreaktion,

57

           

enthält die Fassung der AHP 1996 die Formulierung:

        

Lokalreaktion, verstärkt nach Hyperimmunisierung.

58

           

In den STIKO-Hinweisen von 2007 (EB 25/2007, 211) heißt es zum Diphtherie-Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff):

        

Lokal- und Allgemeinreaktion
Als Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es innerhalb von einem bis drei Tagen, selten länger anhaltend, sehr häufig (bei bis zu 20 % der Impflinge) an der Impfstelle zu Rötung, Schmerzhaftigkeit und Schwellung kommen, gelegentlich auch verbunden mit Beteiligung der zugehörigen Lymphknoten. Sehr selten bildet sich ein kleines Knötchen an der Injektionsstelle, ausnahmsweise im Einzelfall mit Neigung zu steriler Abszedierung.

Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) treten gelegentlich (1 % der Impflinge) und häufiger (bis 10 %) bei hyperimmunisierten (häufiger gegen Diphtherie und/oder Tetanus geimpften) Impflingen auf.

In der Regel sind diese genannten Lokal- und Allgemeinreaktionen vorübergehender Natur und klingen rasch und folgenlos wieder ab.

Komplikationen
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- oder Polyneuritiden, Neuropathie) kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben.

59

           

bb) Der erkennende Senat hat auch keine Veranlassung anzunehmen, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus (DT-Impfstoffe) von den STIKO-Hinweisen von 2007 erfasst worden sind. Dafür dass sich diese nur auf im Jahre 2007 gebräuchliche Impfstoffe beziehen, spricht schon der vom LSG selbst erkannte Umstand, dass es sich dabei ausdrücklich um "Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen Stand: 2007" handelt. Zudem wird in diesen Hinweisen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die nachfolgende Textfassung sowie das zugehörige Literaturverzeichnis auf alle gegenwärtig (Stand: Juni 2007) in Deutschland zugelassenen Impfstoffe beziehen (s EB Nr 25/2007 S 210 rechte Spalte). Weiter heißt es dort:

        

Auf dem deutschen Markt stehen Impfstoffe unterschiedlicher Hersteller mit zum Teil abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen zur Verfügung, die zur gleichen Anwendung zugelassen sind. Die Umsetzung von STIKO-Empfehlungen kann in der Regel mit allen verfügbaren und zugelassenen Impfstoffen erfolgen. Zu Unterschieden im Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist ggf auf die jeweiligen Fachinformationen zu verweisen. Die Aktualisierung der Fachinformationen erfolgt nach Maßgabe der Zulassungsbehörden entsprechend den Änderungsanträgen zur Zulassung. Diese aktualisierten Fachinformationen sind ggf ergänzend zu den Ausführungen in diesen Hinweisen zu beachten.

60

Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 waren im Juni 2007 noch drei DT-Impfstoffe zugelassen, deren Zulassung vor 1986 lag. Daneben waren im Juni 2007 und bis heute weitere neun DT-Impfstoffe zugelassen, deren zeitlich früheste Zulassung im Jahr 1997 datiert. Hinzu kommt, dass es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts nach Einführung der Zulassungspflicht im Jahre 1978 eine Übergangszeit von mehreren Jahren gab. In dieser Zeit erhielten Impfstoffe nach und nach eine Zulassung im heutigen Sinne. So können Impfstoffe, die erst nach 1986 offiziell zugelassen worden sind, bereits vorher in Deutschland gebräuchlich gewesen sein.

61

Diese Gegebenheiten schließen nach Auffassung des erkennenden Senats - jedenfalls auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnisse - eine undifferenzierte Anwendung der STIKO-Hinweise auf die 1986 beim Kläger erfolgten Impfungen aus. Es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass alle 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe zu den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen gehört haben, auf die sich diese Hinweise nach ihrem Inhalt beziehen. Darüber hinaus werden darin ausdrücklich Unterschiede im Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen angesprochen, die sich aus abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen ergeben können. Ohne nähere Feststellungen zu den Zusammensetzungen der 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe, insbesondere der beim Kläger verwendeten, lässt sich mithin nicht beurteilen, ob und inwieweit die STIKO-Hinweise von 2007 bei der hier erforderlichen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden können.

62

Entsprechend verhält es sich mit den AHP 2005, die das LSG in erster Linie bei der Poliomyelitisimpfung und hilfsweise auch bei der DT-Impfung zur Kausalitätsbeurteilung herangezogen hat. In Nr 56 und 57 AHP 2005, die insoweit mit den AHP 1996 und 2004 übereinstimmen, wird nicht genau angegeben, auf welche Impfstoffe sich die betreffenden Angaben beziehen. Insbesondere wird nicht deutlich, ob diese Angaben auch für die 1986 gebräuchlichen Impfstoffe Geltung beanspruchen. Da das LSG auch nicht festgestellt hat, dass die in Frage kommenden Impfstoffe in ihren Auswirkungen von 1986 bis 1996 gleich geblieben sind, können die AHP 1996/2004/2005 hier nicht ohne Weiteres angewendet werden. Denkbar wäre immerhin, dass für die im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe grundsätzlich noch die AHP 1983 maßgebend sind, ggf ergänzt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der betreffenden Impfstoffe.

63

d) Zwar könnte der erkennende Senat die danach erforderlichen Feststellungen, soweit sie sich auf allgemeine Tatsachen beziehen, nach entsprechenden Ermittlungen selbst treffen. Eine derartige Vorgehensweise hält er hier jedoch nicht für tunlich.

64

aa) Zur Klärung einer Anwendung der STIKO-Hinweise von 2007 müsste - ohne vorherige Ermittlung der konkret beim Kläger verwendeten Impfstoffe, die der Senat nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG) - allgemein, dh voraussichtlich mit erheblichem Aufwand, geprüft werden, ob alle im April 1986 gebräuchlichen Impfstoffe den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen derart entsprachen, dass mit denselben Impfkomplikationen zu rechnen war, wie sie in den STIKO-Hinweisen für DT-Impfstoffe aufgeführt werden. Sollte sich dabei kein einheitliches Bild ergeben, könnte auf die Feststellung der tatsächlich angewendeten Impfstoffe wahrscheinlich nicht verzichtet werden.

65

bb) Soweit sich feststellen ließe, dass die AHP 1996/2004/2005 - ggf mit allgemeinen Modifikationen - ohne Feststellung der konkreten Impfstoffe für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich sind, könnte das Berufungsurteil jedenfalls nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zumindest hinsichtlich der Verneinung einer durch die Diphtherieimpfung verursachten Impfkomplikation beruht die Entscheidung des LSG nämlich sowohl auf einer teilweise unzutreffenden Rechtsauffassung als auch auf Tatsachenfeststellungen, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind.

66

Nach der vom LSG (hilfsweise) als einschlägig angesehenen Nr 57 Abs 12 AHP 2005 kommt bei einer Diphtherieschutzimpfung als "Impfschaden" (Komplikation) ua eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.

67

aaa) Dementsprechend ist zunächst festzustellen, ob eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS im maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung eingetreten ist. Soweit das LSG bezogen auf den vorliegenden Fall angenommen hat, eine entsprechende Erkrankung des ZNS lasse sich nicht feststellen, beruht dies - wie der Kläger hinreichend dargetan hat - auf einem Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 SGG.

68

Zwischen den Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. S. bestand darüber Streit, ob beim Kläger zwei Wochen nach der ersten Impfung eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" aufgetreten ist. Das LSG hat sich für die Verneinung einer derartigen Erkrankung in erster Linie auf die Auffassung von Prof. Dr. S. gestützt, der als typische Merkmale einer "schweren" ZNS-Erkrankung Fieber, Krämpfe, Erbrechen und längere Bewusstseinstrübung genannt habe. Dagegen hatte der Kläger unter Beweis gestellt, dass Erkrankungen des ZNS gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können. Diese Behauptung hat das LSG hypothetisch als wahr unterstellt und dazu die Ansicht vertreten, dies ändere "nichts daran, dass vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS gerade nicht positiv festgestellt werden kann". Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge nicht.

69

Zwar trifft es zu, dass der Eintritt einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS beim Kläger für den relevanten Zeitraum von 28 Tagen nach Impfung bewiesen sein muss. Den Ausführungen des LSG lässt sich jedoch nicht entnehmen, auf welche medizinische Sachkunde es sich bei der Beurteilung gestützt hat, eine positive Feststellung sei im vorliegenden Fall unmöglich. Auf die Ausführungen von Prof. Dr. S. konnte sich das LSG dabei nicht beziehen, da es in diesem Zusammenhang gerade - abweichend von dessen Auffassung - die Möglichkeit einer ohne Fieberausbrüche auftretenden akut entzündlichen Erkrankung des ZNS unterstellt hat. Mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., auf die sich der Kläger berufen hatte, hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt. Folglich hätte das LSG entweder zunächst dem auf allgemeine medizinische Erkenntnisse gerichteten Beweisantrag des Klägers nachkommen oder sogleich mit sachkundiger Hilfe (unter Abklärung des medizinischen Erkenntnisstandes betreffend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS) konkret feststellen müssen, ob das (von Prof. Dr. K. als "zentralnervöser Zwischenfall" bezeichnete) Krankheitsgeschehen, das beim Kläger vierzehn Tage nach der Impfung ohne einen Fieberausbruch abgelaufen ist, als akut entzündliche Erkrankung des ZNS anzusehen ist.

70

bbb) Auch (allein) mit dem (bislang) fehlenden Nachweis einer Antikörperbildung hätte das LSG eine Impfkomplikation nicht verneinen dürfen. Seine Begründung, selbst wenn sich noch heute Antikörper feststellen ließen, könnten sie - wegen der im Jahre 1987 erfolgten weiteren Impfungen - nicht mit Sicherheit der am 17.4.1986 vorgenommenen ersten Impfung zugeordnet werden, ist aus Rechtsgründen nicht tragfähig. Der erkennende Senat hält es für unzulässig, eine Versorgung nach dem IfSG an Anforderungen scheitern zu lassen, die im Zeitpunkt der Impfung nicht erfüllt zu werden brauchten und im nachhinein nicht mehr erfüllt werden können (vgl dazu Thüringer LSG Urteil vom 20.3.2003 - L 5 VJ 624/01 - juris RdNr 32; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2006 - L 8 VJ 847/04 - juris RdNr 40). Der Nachweis der Antikörperbildung als Hinweis auf eine Verursachung der Erkrankung des ZNS durch die Impfung ist erstmals in der Nr 57 Abs 12 AHP 1996 enthalten. Die AHP 1983 nannten an entsprechender Stelle als "Impfschäden" (Komplikationen) noch nicht einmal die akut entzündliche Erkrankung des ZNS, sondern andere Erkrankungen, wie zB die Enzephalopathie, ohne einen Antikörpernachweis zu fordern. Nach der am 17.4.1986 erfolgten Impfung bestand somit grundsätzlich keine Veranlassung, die Bildung von Antikörpern zu prüfen. Wenn die Zuordnung von jetzt noch feststellbaren Antikörpern nach den weiteren Impfungen von 1987 aus heutiger Sicht medizinisch nicht möglich sein sollte, verlangte man rechtlich etwas Unmögliches vom Kläger. Demzufolge muss es zur Erfüllung der Merkmale der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 jedenfalls ausreichen, wenn sich heute noch entsprechende Antikörper beim Kläger nachweisen lassen.

71

ccc) Soweit das LSG schließlich im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 festgestellt hat, dass andere Ursachen der Krankheitszeichen, die beim Kläger zwei Wochen nach der Impfung vom 17.4.1986 aufgetreten sind, nicht ausscheiden, ist auch diese Feststellung - wie vom Kläger zutreffend gerügt - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat insoweit nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt. Denn es hat sich nicht hinreichend mit der abweichenden medizinischen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. auseinandergesetzt. Neben dem vom LSG erörterten verringerten Schädelwachstum des Klägers hat Prof. Dr. K. in diesem Zusammenhang auch auf einen Entwicklungsknick hingewiesen, der beim Kläger nach dem "zentralnervösen Zwischenfall" eingetreten sei. Es ist jedenfalls nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich ein solcher Vorgang mit der vom LSG - gestützt auf Prof. Dr. S. angenommenen "allmählichen Manifestation" der Symptome einer Cerebralparese vereinbaren lässt.

72

e) Nach alledem ist es geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

73

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Tenor

I.

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 30. Mai 2012 und der Bescheid des Beklagten vom 29. Januar 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2003 aufgehoben und der Beklagte verurteilt, das bei dem Kläger vorliegende Anfallsleiden mit Entwicklungsretardierung (Dravet-Syndrom) als Impfschaden infolge der am 07.03.2001 erfolgten Impfung anzuerkennen und dem Kläger auf der Grundlage einer Minderung der Erwerbsfähigkeit bzw. eines Grades der Schädigungsfolgen von 60 ab dem 10.03.2001 und von 100 ab dem 01.01.2002 Versorgung nach dem Infektionsschutzgesetz zu gewähren.

II.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.

III.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Impfschadensrecht gemäß §§ 60 ff. Infektionsschutzgesetz (IfSG).

Der nach weitgehend unauffälliger Schwangerschaft in der 39. Schwangerschaftswoche nach verlängertem Geburtsverlauf von 36 Stunden per Kaiserschnitt aus Schädellage entbundene Kläger mit den Apgar-Werten 9/10/10 erhielt 2001 von den damals behandelnden Kinderärzten Dres. B/S. eine 6-fach-Impfung gegen Tetanus, Diphterie, Pertussis, Hib, Hepatitis B und Polio mit dem heute nicht mehr im Handel befindlichen azellulären Impfstoff Hexavac mit der Chargennummer T0242-I.

Bei der am gleichen Tag durchgeführten Vorsorgeuntersuchung U4 fiel eine kaum mögliche Aufrichtung in Bauchlage auf, weshalb eine motorische Entwicklungsverzögerung diagnostiziert wurde, dabei aber auch festgestellt wurde, dass die Untersuchung keinen Anhalt für eine die Entwicklung gefährdende Gesundheitsstörung ergeben habe. Die Mutter gab im Rahmen dieser Untersuchung an, dass sie den Kläger nie auf den Bauch gelegt habe, da sie Angst vor dem plötzlichen Kindstod gehabt habe, so dass der Kläger nie die Möglichkeit gehabt habe, dies zu trainieren. In der Folgezeit trainierte die Mutter des Klägers - nach entsprechender Anleitung des untersuchenden Arztes - mit diesem das Aufrichten in Bauchlage, so dass bei der U5 ein insoweit normabweichender Befund nicht mehr erhoben wurde.

Ab dem Folgetag der Impfung (08.03.2001) fiel der Kläger dessen Mutter durch für diesen untypisches Quengeln, Weinen und durchgehende Unruhe auf.

Am 10.03.2001 kam es beim Kläger zum ersten cerebralen Krampfanfall von 10 Minuten Dauer, ohne Fieber, mit einer plötzlichen Bewusstseinstrübung, kurzer Bewusstlosigkeit, tonisch-klonischen Muskelzuckungen und einem anschließend auffällig schlaffen rechten Arm. Eine Lumbalpunktion vom 10.03.2001 ergab keinen Nachweis entzündlicher Veränderungen. Im EEG fanden sich keine pathologischen Auffälligkeiten. Vom 10.03.2001 bis 12.03.2001 befand sich der Kläger stationär im Klinikum für Kinder und Jugendliche B-Stadt.

Am 21.04.2001 trat beim Kläger ein zweiter cerebraler Krampfanfall von 10 Minuten Dauer mit myoklonischen Zuckungen und fehlender Ansprechbarkeit auf, wobei vor allem das rechte Bein betroffen war und der zur erneuten stationären Aufnahme im Klinikum B-Stadt vom 21.04.2001 bis 26.04.2001 führte.

Am 26.04.2001 wurde beim Kläger eine cranielle MRT-Diagnostik (Kernspintomographie) durchgeführt, wobei eine Volumenminderung des linken Temporalpols und ein geringes Myelinisierungsdefizit im Marklager des linken Temporalpols festgestellt wurde. Im EEG fanden sich keine Auffälligkeiten.

Bei der Kontrolle der Kernspintomographie am 29.01.2002 wurde weiterhin eine leichtgradige Atrophie des linken Temporallappens, im Verlauf diskret rückläufig, nun aber ohne Zeichen einer Myelinisierungsstörung festgestellt.

Es folgten weitere Krampfanfälle am:

* 28.05.2001 (um 19 Uhr, am ganzen Körper, sehr intensiver Anfall, 15 Minuten Dauer, Kläger ansprechbar)

* 13.06.2001 (um 7.30 Uhr, am ganzen Körper, 5 Minuten Dauer, Kläger ansprechbar)

* 12.07.2001 (um 22.30 Uhr, am ganzen Körper - vorwiegend linke Seite, 30 Minuten Dauer)

* 22.07.2001 (um 18.47 Uhr, vorwiegend rechte Seite, 38 Minuten Dauer)

* 14.08.2001 (um 16.45 Uhr, am ganzen Körper mit blauen Lippen und starkem Speichelfluss, 15 Minuten Dauer)

* 11.10.2001 (um 18.10 Uhr, am ganzen Körper mit blauen Lippen und starkem Speichelfluss, 5 Minuten Dauer)

* 26.11.2001 (um 19.03 Uhr, 4 Minuten Dauer, aufgeschrien, Kläger nicht ansprechbar)

* 15.12.2001 (um 17.20 Uhr, 4 Minuten Dauer, aufgeschrien, Kläger nicht ansprechbar)

* 25.12.2001 (um 20.30 Uhr, 10 Minuten Absencen, Kläger nicht ansprechbar)

* 28.12.2001 (um 13 Uhr, 5 Minuten Absencen, Kläger nicht ansprechbar)

* 16.01.2002 (um 18 Uhr)

* 28.01.2002 (um 15.30 Uhr)

* 05.02.2002 (um 14 Uhr, 10 Minuten Dauer)

* 08.02.2002 (um 13.45 Uhr, am ganzen Körper, 6 Minuten Dauer)

* 15.02.2002 (um 14 Uhr, 5 Minuten Dauer)

* 19.02.2002 (um 15 Uhr, 2 Minuten Dauer)

* 21.02.2002 (um 15 Uhr, 3 Minuten Dauer)

* 24.02.2002 (um 14.30 Uhr, 3 Minuten Dauer)

* 26.02.2002 (um 14.30 Uhr, 3 Minuten Dauer)

* 02.03.2002 (um 15.39 Uhr, 2 Minuten Dauer)

* 02.03.2002 (um 19.30 Uhr, 4 Minuten Dauer)

* 08.03.2002 (um 16 Uhr, 4 Minuten Dauer)

* 12.03.2002 (um 18 Uhr, 3 Minuten Dauer)

* 15.03.2002 (um 16.30 Uhr, 3 Minuten Dauer)

* 16.03.2002 (um 14.15 Uhr, 3 Minuten Dauer)

* 19.03.2002 (um 14 Uhr, 2 Minuten Dauer)

* 23.03.2002 (um 20 Uhr, 2 Minuten Dauer)

* 24.03.2002 (um 11.14 Uhr, 1 Minute Dauer)

* 25.03.2002 (um 14 Uhr, klonisch, stark blau angelaufen, 3 Minuten Dauer)

* 28.03.2002 (um 16 Uhr, 1 Minute Dauer)

* 29.03.2002 (um 18 Uhr, 1 Minute Dauer)

* 05.04.2002 (um 20.30 Uhr, 1 Minute Dauer)

* 06.04.2002 (um 15 Uhr, 1 Minute Dauer)

* 11.04.2002 (um 19.40 Uhr, 1 Minute Dauer)

* 13.04.2002 (um 16 Uhr, 2 Minuten Dauer, hohes Fieber)

* 14.04.2002 (8 nächtliche kurze große Anfälle mit Wesensveränderung beim Kläger, der seinen Vater und die Großeltern nicht mehr erkannte, sehr apathisch war, nicht mehr fixierte und kein Wort sprach)

* 15.04.2002 (um 17.15 Uhr, 2 Minuten Dauer)

* 29.04.2002 (um 18 Uhr, stark blau angelaufen, 2 Minuten Dauer)

* 30.04.2002 (um 18.30 Uhr)

* 08.05.2002 (um 18 Uhr)

* 09.05.2002 (um 10.02 Uhr)

* 12.05.2002 (um 16 Uhr)

* 18.05.2002 (um 19 Uhr)

* 19.05.2002 (um 20 Uhr)

* 20.05.2002 (um 11.30 Uhr)

* 28.05.2002 (um 20.45 Uhr)

* 29.05.2002 (um 21 Uhr)

* 01.06.2002 (um 20.40 Uhr, stark blau angelaufen, starker Speichelfluss, 1 Minute Dauer)

* 07.06.2002 (um 21 Uhr)

* 09.07.2002 (um 11.45 Uhr, 2 Minuten Dauer)

* 01.08.2002 (klonisch, Augen verdreht, blau angelaufen, keine krampfartigen Zuckungen, aufgeschrien)

mit zum Teil nachfolgenden stationären Aufenthalten in der Kinderklinik B-Stadt und der Uniklinik L-Stadt.

Am 20.10.2001 stellte der Kläger durch seine Mutter beim Amt für Versorgung und Familienförderung B-Stadt - Versorgungsamt (jetzt Zentrum Bayern Familie und Soziales) einen Antrag auf Feststellung einer Behinderung und eines Grades der Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz, wobei angegeben wurde, dass die Epilepsie voraussichtlich auf die Impfung zurückzuführen sei.

Ab dem 20.10.2001 (Antragstellung) wurden beim Kläger - nach versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 27.11.2001 durch Frau B. - wegen eines Anfallsleidens und einer psycho-motorischen Entwicklungsverzögerung ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt und die Merkzeichen B, G und H zuerkannt (Bescheid vom 28.11.2001).

Am 26.02.2002 meldete das Landratsamt B-Stadt eine Gesundheitsstörung nach Schutzimpfung.

Am 09.03.2002 diagnostizierte das Klinikum B-Stadt eine kryptogene fokale Epilepsie.

Das Versorgungsamt holte ein Gutachten von Dr. F. (Oberarzt der Kinderklinik am Klinikum B-Stadt) ein, der in seinem Gutachten vom 15.11.2002 zu dem Ergebnis kam, dass zwar ein zeitlicher, jedoch kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Impfung (v.a. der Pertussis-Komponente), der Entwicklungsverzögerung und der fokalen Epilepsie bestehe. Wegen der am 26.04.2001 und 29.01.2002 erhobenen Befunde im Rahmen der Kernspinuntersuchung, die als verdächtige indirekte Befunde auf eine kortikale Fehlbildung angesehen werden könnten, sei eine angeborene Migrationsstörung im Sinne einer kortikalen Dysplasie als Ursache des Anfallsleidens sehr viel wahrscheinlicher als die Impfung. Auch die am Impftag bereits bestehende beginnende motorische Entwicklungsstörung mache eine präexistente Störung wahrscheinlich. Die kortikalen Dysplasien im Kindesalter würden sich in der Kernspintomographie oft isodens zeigen, auch ohne Kontrastmittelaufnahme, und könnten teilweise nur durch eine hochauflösende Untersuchungstechnik aufgedeckt werden; allerdings seien die erhobenen Kernspinbefunde durchaus verdächtig auf eine derartige Störung.

In zwei eingeholten versorgungsärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage von Dr. K. vom 18.12.2002 und Dr. H. vom 20.01.2003 wurde das Krampfleiden mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf eine angeborene und nachgewiesene linkshirnige Fehlbildung zurückgeführt.

Mit Schreiben vom 31.01.2003 und im Rahmen eines persönlichen Gesprächs mit der Mutter des Klägers am 07.02.2003 hörte das Versorgungsamt den Kläger schriftlich zu der beabsichtigen Ablehnung der Anerkennung eines Impfschadens an.

Im Anschluss an eine erneute versorgungsärztliche Stellungnahmen nach Aktenlage von Dr. K. vom „12.02.2003“ lehnte das Versorgungsamt den Antrag auf Anerkennung eines Impfschadens mit Bescheid vom „29.01.2003“ mit der Begründung ab, dass ein ursächlicher Zusammenhang des cerebralen Krampfleidens nicht auf eine durch die Impfung verursachte Entzündung des Gehirns zurückzuführen sei, sondern vielmehr eine angeborene und durch objektivierbare Untersuchungsergebnisse (Lumbalpunktion, Kernspinuntersuchung) nachgewiesene linkshirnige Fehlbildung bestehe.

Dagegen legte der Kläger durch seine Eltern am 28.02.2003 Widerspruch ein. Zur Begründung wurde mit Schreiben vom 20.03.2003 die Stellungnahme des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. T. vom 14.03.2003 vorgelegt, der ausführte, dass die allgemeine Entwicklung, also Sprachentwicklung und motorische Entwicklung, im ersten Lebensjahr beim Kläger einen normalen Gang genommen habe. Der erste Krampfanfall sei am 10.03.2001 erfolgt. Nachdem man anfangs offensichtlich von einem singulären Ereignis ausgegangen sei, sei eine konvulsive Therapie erst ab Juni 2001 erfolgt. Gemäß den Aufzeichnungen der Mutter des Klägers sei es bis Dezember 2001 bei einer Anfallshäufigkeit von gut einmal pro Monat geblieben, wobei in dieser Zeit mehrmals eine Veränderung der antiepileptischen Behandlung vorgenommen worden sei. Ab 2002 habe sich die Anfallshäufigkeit in auffallender Weise enorm gesteigert, wo es dann in sehr kurzen Abständen (bis zu dreimal pro Woche) zu Anfällen gekommen sei. Erst gegen Ende des Jahres 2002 habe sich die Anfallshäufigkeit wieder deutlich reduziert. Die Zeit erhöhter Anfallshäufigkeit habe eine deutliche Retardierung mit sich gebracht, die erst seit Ende 2002 wieder ausgeglichen worden sei. Die Anfälle seien in ihrer Art in den Arztbriefen beschrieben, wobei sie eine Dauer von bis zu 45 Minuten gehabt hätten, mit teils myoklonischen Muskelzuckungen, teils Absencen, teils Erschlaffungszuständen. Die Zuckungen hätten den ganzen Körper betroffen, seien aber auch in auffallender Weise von einseitigem Befall wechselnder Seiten gekennzeichnet gewesen. Der Einschätzung von Dr. F. sei zu widersprechen. So verweise schon der Beipackzettel von Hexavac auf die Möglichkeit von Krämpfen mit oder ohne Fieber innerhalb von drei Tagen nach der Impfung. Zurückzuführen sei dies auf die Pertussiskomponente, was auch in der Publikation von Dr. B. bestätigt werde. Die motorische Unruhe des Klägers schon am Folgetag der Impfung sei in diesem Sinne zu sehen und verweise auf eine prompte anfängliche Schädigung. Der Verweis auf die kortikale Dysplasie sei eine unzulässige Ursachenbegründung, da die Befunde auch als minimale Hirnreifungsverzögerung gewertet werden könnten. Auch die Tatsache variierender Krampfzustände, insbesondere die Tatsache des Seitenwechsels der myoklonischen Anfälle, lasse einen fokalen Schaden neurologisch ausschließen, denn dieser sollte sich in konstanten Ausfällen in Zuordnung zur geschädigten Hirnregion manifestieren und nicht als diffuses, variierendes Anfallsmuster in Erscheinung treten. Das Fehlen von entzündlichen Veränderungen sei kein Gegenbeleg gegen eine Schädigung. Das Substrat impfbedingter Encephalopathien sei im Allgemeinen nicht bekannt, typischerweise jedoch nicht von nachweisbarer entzündlicher Natur. Der Gutachter sowie die Ärzte des Klinikums B-Stadt hätten offensichtlich unter dem vorherrschenden Impfdiktat geurteilt; so hätten die vorliegenden vier Arztbriefe des Klinikums B-Stadt die Möglichkeit eines Zusammenhangs des Anfallsleidens mit der kurz vorangegangenen Impfung mit keinem Wort erwähnt. An dem Vorliegen eines Impfschadens bestehe kein Zweifel.

Nach einer erneuten versorgungsärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage von Dr. K. vom 30.04.2003 wies das Bayerische Landesamt für Versorgung und Familienförderung - Landesversorgungsamt (jetzt Zentrum Bayern Familie und Soziales) den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 01.09.2003 zurück.

Dagegen hat der Kläger mit Schreiben vom 26.09.2003 (Eingang beim Sozialgericht - SG - Bayreuth am 29.09.2003) Klage erhoben.

Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt und Prof. Dr. R. (Leitender Arzt der Klinik für Kinder und Jugendliche des Klinikums B-Stadt) mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Dieser ist in seinem Gutachten vom 02.12.2009 nach persönlicher Untersuchung des Klägers und seinen zwei ergänzenden Stellungnahmen vom 26.02.2010 und 28.07.2010 zu dem Ergebnis gekommen, dass die Impfung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Auslöser und Verschlechterungsfaktor für die Erkrankung des Klägers auszuschließen sei. Bei dem Kläger bestehe zweifelsfrei ein schweres cerebrales Anfallsleiden. Die klinische Untersuchung am 16.11.2009 habe eine schwere geistige und motorische Retardierung ergeben. Die motorische Entwicklung entspreche bei einem biologischen Alter von neun Jahren einem circa 3-4-jährigen Kind. Die intellektuelle Entwicklung scheine um mindestens das gleiche Ausmaß verzögert zu sein. Somit sei von einer Schwerbehinderung des Klägers auszugehen. Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erscheine derzeit äußerst unwahrscheinlich. Nach Angaben der Eltern sei für den Kläger die Pflegestufe 2 zuerkannt. Nach Aktenlage sei nach den Angaben der Mutter nach der Impfung eine vermehrte Unruhe aufgetreten, wobei es auch zu einem vermehrten Schreien gekommen sei. Unter Zugrundelegung der Gebrauchsinformation des Impfstoffes Hexavac seien die Reaktionen nach der Impfung als im üblichen Maß nach einer Impfung auftretende Reaktionen zu werten. Es sei zu schlussfolgern, dass der im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung berichtete cerebrale Anfall und die vorbestehende Retardierung durch die Impfung nicht oder in nicht wesentlichem Maße bedingt seien. Die medizinische Fachliteratur sehe die Ursache einer idiopathisch generalisierten Epilepsie - wie sie hier vorliege - als in hohem Maße genetisch determiniert an. Für eine nicht impfassoziierte Ursache spreche auch das Vorbestehen einer doch eindeutigen Entwicklungsverzögerung. So sei der Befund der U4 als schwerwiegend einzustufen, da er für eine beginnende Entwicklungsverzögerung des Klägers sprechen könne, die der Impfung vorausgehe. Die durchgeführte Impfung sei daher mit hoher Wahrscheinlichkeit nur zufällig zeitgleich zur Erstmanifestation des Anfallsleidens zu sehen, nicht aber als auslösend oder verlaufsbeeinflussend.

Mit Beschluss vom 17.11.2010 hat das SG das Ruhen des Verfahrens bis Ende Juni 2011 angeordnet, um dem Kläger eine humangenetische Untersuchung zu ermöglichen.

Am 15.09.2010 sind der Kläger und seine Mutter genetisch untersucht worden.

In einem eingeholten molekulargenetischen Gutachten vom 05.11.2010 von Dres. K. und R. ist beim Kläger eine Mutation im SCN1A-Gen festgestellt und ein Dravet-Syndrom diagnostiziert worden.

Mit Schreiben vom 01.03.2012 hat das SG die Beteiligten zu der Absicht angehört, den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung per Gerichtsbescheid zu entscheiden, und hat ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 30.03.2012 eingeräumt.

Per Gerichtsbescheid vom 30.05.2012 hat das SG die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass es weder zu einer über das übliche Maß hinausgehenden Impfreaktion gekommen sei, noch dass die Krampfanfälle und das Einsetzen der Entwicklungsverzögerung mit der angeschuldigten Impfung in dem erforderlichen Zusammenhang stünden. Die Impfung sei insoweit nur als Gelegenheitsursache für den Krampfanfall zu sehen und nicht rechtlich relevant im Sinne der Kausalität der wesentlichen Bedingung. Die zufällige Inzidenz von Impfung und Manifestation des Dravet-Syndroms beruhe auf einer mit der Impfung einhergehenden Triggerwirkung. Bei dem Kläger liege mit dem Dravet-Syndrom eine angeborene Erkrankung vor, wobei es sich um eine Erkrankung handele, die durch Epilepsien manifestiert werde. Ätiologisch liege eine Mutation des SCN1A-Gens vor. Folge dieser Krankheit seien häufig therapieresistente Anfälle und Entwicklungsverzögerungen. Damit liege eine Alternativursache vor. Auch die Voraussetzungen für die sogenannte Kann-Versorgung seien nicht gegeben, da über das Dravet-Syndrom keine Ungewissheit bestehe. So handele es sich um eine angeborene Krankheit des Gehirns, die durch eine Mutation des SCN1A-Gens hervorgerufen werde. Das Dravet-Syndrom erkläre das Anfallsleiden des Klägers.

Gegen den ihm am 05.06.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger mit Schreiben vom 12.06.2012 (Eingang beim Bayerischen Landessozialgericht - LSG - am gleichen Tag) durch seinen damals Bevollmächtigten Berufung eingelegt.

Der Senat hat sodann auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Prof. Dr. F. gutachterlich gehört, der in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 25.11.2013 und ergänzenden Stellungnahmen vom 03.10.2014 und 14.10.2015 zu dem Ergebnis gekommen ist, dass zwischen der Impfung und dem Dravet-Syndrom mit an Sicherheit grenzender, jeden vernünftigen Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit eine ursächliche Beziehung bestehe. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Zusammenhangs sei bei weitem größer als die anderer denkbarer Zusammenhänge. Dabei sei die pathogenetische Mitwirkung der SCN1A-Mutation nicht in Frage gestellt. Sie sei indessen nicht wirksam im Sinne der alleinigen Ursache, sondern nur als pathogener Teilfaktor in einem komplexen pathogenetischen Bedingungsgefüge zu verstehen. Die Impfung spiele die entscheidende Rolle eines krankheitsauslösenden Faktors bei einer vorbestehenden entsprechenden Disposition. Es sei durch nichts bewiesen oder auch nur wahrscheinlich gemacht, dass der Kläger auch ohne Impfung erkrankt wäre. Anders lautende Annahmen könnten als Spekulationen nicht akzeptiert werden. Die durch die schwere Epilepsie bewirkte Retardierung/Regression der psychomentalen und motorischen Entwicklung sei ebenso mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch die Epilepsie, das heißt also mittelbar durch die Impfung verursacht.

Im Einzelnen hat der Sachverständige ausgeführt, dass der Kläger 55-60 Stunden nach der Pertussis-Impfung, und damit innerhalb der normierten Inkubationszeit von 72 Stunden, Misslaunigkeit, Schreiattacken und Unruhe gezeigt habe. Diese von ungewöhnlichen Verläufen der Pertussis-Impfung durchaus geläufigen Symptome müsse man als cerebrale Reiz- und Enthemmungssymptomatik (Encephalopathie) einordnen. Es bestünden keine Symptome einer entzündlichen cerebralen Affektion (Encephalitis). Wenig später sei dann ein etwa 10 Minuten dauernder generalisierter, rechtsbetonter epileptischer Anfall aufgetreten, der die Entwicklung einer schweren frühkindlichen myoklonischen Epilepsie - eines Dravet-Syndroms (= Severe Myoclonic Epilepsy of Infancy ) - eingeleitet habe. Diese schwere myoklonische Epilepsie und die in ihrem Gefolge auftretenden Schäden seien überwiegend wahrscheinlich Folge der Impfung vom 07.03.2001. Es sei nicht möglich, die Entstehung dieses Leidens auf die Wirkung nur eines pathogenen Faktors, zum Beispiel allein auf genetische oder organische Faktoren, zurückzuführen. Die Pathogenese sei vielmehr wie bei anderen Epilepsieformen multifaktorieller Natur, das heißt durch unterschiedliche exogene (zum Beispiel Impfung, Traumen etc.) und endogene Faktoren (erbliche Veranlagung unterschiedlichen Typs und andere) bestimmt. Das Dravet-Syndrom sei ein Prototyp einer Epilepsie auf multifaktorieller Basis. In der Familie vorkommende Epilepsien und/oder eine im EEG erkennbare Disposition und andererseits exogene Faktoren (zum Beispiel Impfung) würden in einem äußerst komplexen Bedingungsgefüge zusammen wirken, wobei die SCN1A-Mutation ein Teil dieses Systems sei, die aber nicht zwangsläufig zur Epilepsie führe. Eine Hirnentzündung (Encephalitis) liege bei der Pertussis-Impfkomplikation typischerweise nicht vor. Die sogenannte Encephalopathie sei dagegen eine Hirnfunktionsstörung nicht entzündlicher Natur (Traumen, Intoxikationen, Impfungen, Anfallsserien etc.). Für die Diagnose einer Pertussis-Impfkomplikation spreche das Fehlen entzündlicher Zeichen im EEG, Liquor etc. Der Befund bei der U4 („kaum Aufrichten aus Bauchlage“) sei nur vorübergehend nachweisbar gewesen. Die Vorgutachter würden insoweit zum Teil irreführend von einem „schwerwiegenden Befund“ sprechen und hätten insoweit vergessen, die Ausführungen der Mutter und die Rückbildung der Symptomatik schon bis zur U5 zu erwähnen. Der MRT-Befund sei im Krankheitsverlauf unterschiedlich beurteilt worden, wobei allerdings in den Vorgutachten wiederholt verschwiegen werde, dass das MRT im Verlauf Normalbefunde gezeigt habe. Eine Fehlentwicklung (Dysplasie) könne damit ausgeschlossen werden, so dass sich sogenannte Vorschäden oder Vorkrankheiten als unerheblich und nicht erwiesen dargestellt hätten. Beim Kläger finde sich das typische Bild einer durch die Pertussis-Impfung ausgelösten frühkindlichen Epilepsie vom Typ SEMEI/SEME-B. Das klinische Bild gebe - abgesehen von dem typischen Zusammenhang mit der Pertussis-Impfung - keine Hinweise auf andere ätiologische Faktoren. Wichtig sei dagegen die Erkenntnis, dass molekulargenetische Normabweichungen (Mutationen) ursächlich mitverantwortlich sein könnten. Beim Dravet-Syndrom kämen gehäuft SCN1A-Mutationen vor. Während B. et al. in der Mutation des SCN1A-Gens die einzige und entscheidende Ursache der Epilepsie des Typs SEMEI/SEME-B nach der Pertussis-Impfung sehen würde, sei es viel wahrscheinlicher, dass die Mutation und ihre Auswirkungen nur einen Teilfaktor der Pathogenese des Dravet-Syndroms darstellen. Der entscheidende Faktor sei unbezweifelbar die Impfung. Sie erst bringe die Disposition (Veranlagung) zur klinischen Manifestation. So würden auch nicht alle Merkmalsträger erkranken, manche würden gesund bleiben, andere seien nur sehr milde betroffen. Weiterhin sei hervorzuheben, dass beim Wechsel des Impfstoffes vom alten Ganzkeim-Impfstoff auf den azellulären Impfstoff die gefürchteten unerwünschten Wirkungen der Impfung drastisch zurückgegangen seien, die Mutation dagegen nicht. Die Erwartung von B. et al., die Häufigkeit der unerwünschten Wirkungen würde beim Wechsel des Impfstoffes gleich bleiben, habe sich daher gerade nicht erfüllt. Dass die DPT-Impfung alter Art das Auftreten von Fieberkrämpfen begünstigt habe, werde heute nicht mehr bezweifelt. Der durch den Wechsel des Impfstoffes erfolgte drastische Rückgang von postvakzinalen Krämpfen und Folgeepilepsien erlaube folgenden Schluss: In dem komplexen ätiopathogenetischen Bedingungsgefüge der konvulsiven Impfreaktion/Epilepsie sei allein durch eine Änderung nur eines Faktors (Wechsel des Impfstoffes) ein drastischer Wandel eingetreten. Dies sei zugleich ein unbezweifelbares Argument gegen die Erlanger Meinung, wonach es Pertussis-Impfkomplikationen nicht gebe. Es sei unübersehbar, dass es auch nach Impfung mit azellulärer Pertussis-Vakzine vereinzelt zu konvulsiven Reaktionen mit gleicher Symptomatik, mit normierter Inkubationszeit und mit ungünstiger Prognose kommen könne. So seien auch schon 1993 beim Paul-Ehrlich-Institut 34 Fälle gemeldet worden. Die Gesamtheit der Beobachtungen von konvulsiven Reaktionen nach der Pertussis-Impfung lasse darauf schließen, dass das für die schwere myoklonische Epilepsie verantwortliche pathogenetische Bedingungsgefüge besonders leicht (in fast spezifischer Weise) durch das Pertussis-Antigen oder -Toxin zur klinischen Manifestation gebracht werde.

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sei die Impfung Ursache der konvulsiven Reaktion und der sich in der Folge entwickelnden schweren myoklonischen Epilepsie. Der nicht-erblichen SCN1A-Mutation und den an bestimmten EEG-Mustern erkennbaren Veranlagungsfaktoren komme die Eigenschaft von Mitursachen zu. Ihre Bedeutung und Tragweite sei aber nicht im Sinne einer gleichwertigen Mitursache zu verstehen. Der entscheidende pathogenetische Schritt von der Veranlagung bis zur Manifestation der Epilepsie und ihren schwerwiegenden Folgen werde ohne vernünftigen Zweifel durch die Impfung bewirkt. Eine Gelegenheitsursache könne im vorliegenden Fall nicht angenommen werden, da es nicht als wahrscheinlich bezeichnet werden könne, dass der Gesundheitsschaden auch ohne das angeschuldigte Ereignis eingetreten wäre. Die Folgeschäden des impfbedingten Gesundheitsschadens (schwere geistige, das heißt psychomentale, und motorische Behinderung) seien als Auswirkung der Epilepsie zwanglos zu erklären und insbesondere auch typisch für das Dravet-Syndrom. Die durch die Impfung zur Manifestation gebrachte Gesundheitsstörung werde „schwere frühkindliche myoklonische Epilepsie (Dravet-Syndrom) mit demenziellem Verlauf und Therapieresistenz“ genannt. Dabei handele es sich nicht um Verschlimmerung einer vorbestehenden Krankheit, sondern um die Manifestation einer Krankheit auf dem Boden einer vorbestehenden Veranlagung. Die Schädigungsfolgen würden gemäß Versorgungmedizinverordnung als Epilepsie mit häufigen großen Krampfanfällen wöchentlich oder täglich, auch in Serien und Staten und besonders nachts sowie kleine Anfälle, anhaltende Therapieresistenz und ausgeprägte epilepsiebedingte Demenz insoweit einen GdS von 100 bedingen.

Zusammenfassend müsse festgestellt werden, dass nach der heute geltenden (nicht der Erlanger) Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und den danach aufgetretenen Krankheitserscheinungen spreche, wobei er für sich in Anspruch nehme, die geltende medizinische Lehrmeinung aufgrund wissenschaftlicher Studien zu vertreten, dabei aber auch betone, dass er sich damit im krassen Gegensatz zu der seit den neunziger Jahren in L-Stadt und auch heute noch gutachtlich vertretenen Auffassungen befände.

Zum Gutachten von Dr. F. sei zu sagen, dass man sich bei Lektüre dieses Gutachtens in die Neunzigerjahre zurückversetzt fühle, in denen die Erlanger Arbeitsgruppe für Pädiatrie und Neuropädiatrie geradezu einen „Parforce-Ritt“ gegen die Anerkennung cerebraler Anfälle beziehungsweise Epilepsie nach und infolge der Pertussis-Ganzkeim-Vakzine-Impfung inszeniert habe. Auch lasse Dr. F. jede auch nur entfernt wissenschaftliche Befassung mit der äußerst umfänglichen Literatur vermissen. Eine Befassung mit der umfänglichen Literatur lasse auch der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten vermissen. Zum Gutachten von Prof. Dr. R. sei dagegen zu sagen, dass dieser bei der Gewichtung des im Rahmen der U4 erhobenen Gesundheitszustandes, den er als „schwerwiegenden“ Entwicklungsrückstand einordne, verschweige beziehungsweise ignoriere, dass dieser Entwicklungsrückstand bei der U5 nicht mehr bestanden habe. Nicht berücksichtigt habe Herr Prof. Dr. R. auch den Bericht der Mutter, dass der Kläger am Tag nach der Impfung unruhig gewesen sei und vermehrt geschrien habe. Dass eben diese Symptome, insbesondere das „persisting screaming“ typische Zeichen eines ungewöhnlichen Impfverlaufs seien und zu besonderer Vorsicht mahnen würden, sei von Herrn Prof. Dr. R. nicht erwähnt worden.

Der Senat hat weiter Prof. Dr. E. nach § 106 SGG gutachterlich gehört, der in seinem nach Aktenlage erstellte Gutachten vom 15.02.2015 zu dem Ergebnis gekommen ist, dass eine Impfschadensanerkennung zumindest im Wege der Kann-Versorgung zu erfolgen habe. So leide der Kläger seit März 2001 an dem so genannten Dravet-Syndrom, das in typischer Weise eine multifaktorielle Ätiopathogenese aufweise. Einerseits würde eine genetische Determination (hier angezeigt durch ausgeprägte Theta-Rhythmen und Spikes-wave im EEG, Fotosensibilität, SCN1A-Mutation), andererseits die klinische Manifestation ohne jeden vernünftigen Zweifel im ursächlichen Gefolge der Impfung vom 07.03.2001 bestehen. Zur Gewichtung dieser beiden Faktoren sei zu sagen, dass nicht jede per EEG etc. markierte Determination und auch nicht jede SCN1A-Mutation zu einem Anfallsleiden führe. Infektionsbedingte Manifestationen seien auch etwas häufiger als impfbedingte; im Fall des Klägers sei die Manifestation aber konkret und ausschließlich durch die Impfung erfolgt. Die genetische Determination einerseits und die impfbedingte Manifestationsprovokation andererseits seien im Hier vorliegenden Fall als Teilursachen gleichgewichtig. Auch die hier vorliegende SCN1A-Mutation sei nicht die Ursache des klägerischen Leidens, sondern eine Teilursache. Beim Kläger gebe es zudem keinen ernsthaften Anhalt für Encephalitis bzw. Impfencephalitis im engeren Sinne. Ungewöhnlich schrilles Schreien, mehrere Stunden nach Impfung einsetzend und durchaus unstillbar über viele Stunden oder sogar Tage andauernd, sei neuropädiatrisch zweifelsfrei als Symptom einer passageren Impfencephalopathie einzuordnen. Am häufigsten (ein Prozent oder häufiger) werde es nach dem veralteten Keuchhusten-Ganzkeim-Impfstoff beobachtet. Für jeden Pädiater und Neuropädiater sei klar, dass, wenn innerhalb der ersten drei Tage nach einer Impfung mit Keuchhustenkomponente ein Krampfanfall auftrete (oder eine Encephalopathie), mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung bestehe. Für keine andere Impfung sei eine derart enge und hochgradig signifikante normierte postvakzinale Inkubationszeit bekannt. Wer dies nicht wisse oder möglicherweise nicht sehen wolle, greife zur Formulierung zeitlich zufälligen Zusammentreffens. Wenn vorgutachterlich eine postvakzinale Encephalopathie verneint werde, so sei dies ein Irrtum, sie sei vorhanden gewesen.

Was die U4 und die dort ärztlicherseits erhobenen Befunde betreffe, so sei anzumerken, dass nach den bekannten Denver-Entwicklungsskalen 90% (und nicht 100%) aller gesunden Säuglinge im vierten Lebensmonat in Bauchlage den Kopf um 90 Grad heben könnten. Nicht beachtet worden sei von den Vorgutachtern, dass die Mutter des Klägers 2002 angegeben habe, sie habe bis zur U4 Angst vor dem sogenannten plötzlichen Kindstod gehabt und ihr Kind daher nie in Bauchlage gebracht, und der Kläger diese Fertigkeit des Aufrichtens in Bauchlage nach Anleitung durch den Kinderarzt rasch nachgeholt habe und anschließend die weiteren Meilensteine der Entwicklung altersgerecht gewesen seien. Zum Kernspinbefund von April 2001 sei zu sagen, dass genau gesehen Seitendifferenzen (wie sie auch hier festgestellt worden seien) nicht die Ausnahme, sondern die Regel seien. Von den Vorgutachtern sei diese bedeutungslose MRT-Seitendifferenz hochstilisiert worden.

Während Prof. Dr. F., der für die hier vorliegende besondere Problematik als pädiatrischer Epileptologe maximal qualifiziert und international anerkannt sei, in der Impfung vom 07.03.2001 die überwiegende Ursache des Leidens sehe, seien hier - aus Sicht von Prof. Dr. E. - die genetische Determination und die Impfung gleichgewichtige Teilursachen. Andere Gutachten und Stellungnahmen (ohne die maximale Qualifikation von Prof. Dr. F.) würden dagegen die genetische Determination als wesentliche Ursache des vorliegenden Leidens sehen. Dieser Dissens fände sich seit Jahren mit kleinen Verschiebungen letztlich unverändert, geäußert von Personen unterschiedlicher Qualifikation bzw. anhand unterschiedlichen Materials. Insoweit handele es sich letztlich um unterschiedliche Interpretationen bzw. Schwerpunktsetzung bei immer noch vorhandenen grundsätzlichen Wissenslücken zu zentralen Punkten. Insofern könne im hier vorliegenden Fall zumindest die sogenannte Kann-Versorgung bemüht werden. Die dafür notwendige „gute Möglichkeit“ sei schon allein mit herausragender Qualifikation und fallbezogener Zuständigkeit von Prof. Dr. F. in seinem Gutachten erfüllt. Zu Prof. Dr. F. sei ergänzend zu sagen, dass dieser sich mit den Vorgutachten und ärztlichen Stellungnahmen ungemein eindeutig kritisch auseinander gesetzt habe, dies als einziger unter den Verfassern mit der für die Problematik gebotenen Qualifikation eines international ausgewiesenen pädiatrischen Epileptologen.

Abschließend hat der Sachverständige resümiert, dass der Kläger an einem Dravet-Syndrom (SME-B) leide und die klinische Manifestation hier aufgrund der Impfung erfolgt sei. Postvakzinale Krämpfe seien für den alten Keuchhusten-Ganzkeim-Impfstoff auch bekannt und anerkannt. Typisch im Sinne einer normierten postvakzinalen Inkubationszeit für Keuchhusten-Impfstoff sei, dass die Komplikation innerhalb der ersten drei Tage (hier erfolgt) eintrete, so dass der Anfall des Klägers am dritten Tag nach der Impfung ohne vernünftigen Zweifel impfbedingt sei; es handele sich insoweit um die Manifestation des oben genannten frühkindlichen Anfallsleiden SME-B. Es sei rein spekulativ, dass dieser Anfall und damit das definitive Anfallsleiden sich auch irgendwann später, beispielsweise im Gefolge einer Infektion, ereignet haben würde. Durchaus konkret handele es sich hier um Manifestation im Gefolge allein der erfolgten Impfung. Die polygene Determination einerseits und die Impfung andererseits seien als gleichgewichtige Teilursachen des Leidens des Klägers einzuordnen. Insoweit käme hier zumindest die sogenannte Kann-Versorgung zum Zuge.

Bezüglich der GdS-Einstufung für das Anfallsleiden hat der Sachverständige vorgeschlagen, aufgrund der vorliegenden Klinikberichte ab 2001 einen GdS von 60 und ab 2002 einen GdS von 100 anzuerkennen.

Der Beklagte hat dagegen versorgungsärztliche Stellungnahmen nach Aktenlage von Frau B. vom 29.01.2014 und 23.04.2014 und Dr. K. vom 24.11.2014, 04.08.2015 und 28.10.2015 sowie eine ärztliche Stellungnahme von PD Dr. Kl. vom 21.07.2015 vorgelegt.

Darin ist Frau B. zu dem Ergebnis gekommen, dass die Impfung nur als Gelegenheitsursache für die Manifestation des ersten Krampfanfalls bei genetisch determiniertem Anfallsleiden zu sehen sei. Viele andere Infekte oder Belastungen hätten ebenfalls zur Manifestation führen können. Auch an einer 2012 veröffentlichen aktuellen Literaturstelle zeige sich, dass sich im Rahmen der Fünffachimpfung zwar Fieberkrämpfe, nicht aber die Entwicklung einer dauerhaften Epilepsie gezeigt habe. Die Argumentation von Prof. Dr. F., aus den Nebenwirkungen von einem früheren (im Fall des Klägers nicht verwandten) Ganzkeim-Impfstoff auf den neuen azellulären Impfstoff rückzuschließen, sei nicht zulässig.

Auch Dr. Kl. hat die Impfung als bloße Gelegenheitsursache eingeordnet und dabei ausgeführt, dass der Nachweis eines genetisch bedingten Anfallsleidens bei den Vorgaben des Robert Koch Instituts, der derzeitigen Literatur und der Lehrmeinung anderer Neuropädiater gegen eine nachgewiesene Schädigung speziell durch die Impfung spreche. Bei der vorliegenden Erkrankung sei der angeborene Defekt des Natriumskanals der Zelle und nicht die Impfung als Hauptursache anzusehen.

Dr. K. ist in seiner Stellungnahme vom 21.07.2015 zu dem Ergebnis gekommen, dass aus seiner Sicht ein kausaler Zusammenhang zwischen der Impfung und der Manifestation eines Dravet-Syndroms nicht angenommen werden könne. Dazu hat Dr. K. im Einzelnen (ohne sich in der Lage gesehen zu haben, ein ausführliches Gutachten zu erstatten) ausgeführt, dass er sich mit der aktuellen Literatur kundig gemacht habe und seit der Arbeit von Tro-Baumann in der Zeitschrift Epilepsia 2011 weitere 13 Arbeiten erschienen seien. Von diesen 13 Arbeiten habe er (soweit verfügbar) zumindest die jeweiligen Abstracts gelesen, die aus seiner Sicht zur Beantwortung der Fragestellung wenig hilfreich seien. Im Wesentlichen werde in den Abstracts erwähnt, dass das Auftreten von Anfällen und nachfolgender Epilepsie nach Impfungen bei einem Patienten mit SCN1A-Mutation nicht als kausal anzunehmen sei. Der Kläger sei im Alter von drei Monaten geimpft worden, was aus seiner Sicht ein ganz typisches Alter für die Erstmanifestation eines Dravet-Syndroms nach Impfung sei. In ihm bekannten Fachkreisen werde in Einzelfällen überlegt, ob sich bei einem Kind mit einem Dravet-Syndrom und nachgewiesener pathogener SCN1A-Mutation die Epilepsie ohne eine Impfung vielleicht später manifestiert hätte und der Verlauf somit eventuell klinisch leichter gewesen wäre, einen eindeutigen wissenschaftlichen Beleg gebe es aus seiner Sicht dafür allerdings nicht. Er erinnere sich bezüglich dieser Fragestellung an eine kleine retrospektive Erhebung bezüglich dieser Fragestellung, wobei in dieser Erhebung das Langzeit-Outcome nicht anders gewesen sei, ob der erste Anfall im Rahmen von Impfung aufgetreten sei oder nicht. Herr Prof. Dr. F. halte in seinem Gutachten korrekterweise daran fest, dass eine SCN1A-Mutation nicht letztlich die alleinige Ursache eines Dravet-Syndroms sein könne, sondern noch andere Faktoren hinzukommen müssten. Trotzdem sei es aus seiner Sicht - so Dr. K. - so, dass ein kausaler Zusammenhang der Impfung mit der Manifestation eines Dravet-Syndroms nicht angenommen werden könne.

Dazu hat Prof. Dr. F. in seinen ergänzenden Stellungnahmen vom 03.10.2014 und 14.10.2015 ausgeführt, dass die Richtigkeit seiner in jahrzehntelangen Untersuchungen und Studien von epilepsiekranken Kindern und ihren Familien erlangten pathogenetischen Überlegungen durch die Feststellung einer drastischen Reduktion der Häufigkeit von konvulsiven Komplikationen nach Wechsel des Impfstoffs, d. h. nach Ersatz der Ganzkeimvakzine durch den - auch hier verwandten - azellulären Impfstoff belegt sei. Während die Aktivierung von Fieberkrämpfen durch die azelluläre Impfung in groß angelegten Studien in zum Teil statistisch signifikantem Ausmaß habe nachgewiesen werden können, sei die schwere postvakzinale myoklonische Epilepsie, die hier zur Rede stehe, zu einem außerordentlich seltenen postvakzinalen Krankheitsbild geworden. Die unübersehbare symptomatische Übereinstimmung der Komplikation von alter und heutiger Impfung lasse keinen vernünftigen Zweifel daran, dass ausnahmsweise auch die azelluläre Impfung die Epilepsie-Manifestation provozieren könne. Unumgänglich notwendig sei es, die alte DPT-Impfung und ihre weltweit akzeptierten Komplikationen in die Betrachtung einzubeziehen, da es nur so möglich sei, ein korrektes Bild von ihrer Symptomatik zu gewinnen und damit die Möglichkeit eines Vergleichs mit den sehr seltenen Komplikationen der heutigen azellulären Vakzine-Impfung zu schaffen. Dieser Vergleich zeige zweierlei. Erstens die drastische Reduktion der Häufigkeit cerebraler Komplikationen und zweitens die gleich bleibende Symptomatik dieser seltenen Ereignisse im Vergleich mit den Komplikationen der alten Impfung. Diese Entwicklung nach dem Wechsel des Impfstoffes bilde einen geradezu schlagenden Beweis gegen die in den neunziger Jahren grassierende Auffassung der Erlanger Arbeitsgruppe, Komplikationen der Pertussis-Impfung seien ein „Mythos“. Insoweit sei zu betonen, dass eine Diskussion von Pertussis-Impfkomplikationen heute nicht mehr möglich sei, ohne die pathologischen Reaktionen auf die alte DPT-Impfung, nämlich deren typische normierte Inkubationszeit und die charakteristische klinische Symptomatik, sowie den epidemiologischen Wandel bei Übergang auf die azelluläre Vakzine in die Betrachtung einzubeziehen. Die populationsbezogenen Untersuchungen aus Italien, Großbritannien, Schweden und USA würden dies deutlich machen. Dem aufmerksamen Leser dieser Berichte und seines Gutachtens könne nicht entgehen, dass im vorliegenden Fall Krankheitserscheinungen beschrieben worden seien, wie sie von den Komplikationen der Ganzkeimimpfung sattsam bekannt seien, wobei mit an erster Stelle das persisting screaming (unbeherrschbares Schreien) zu nennen sei. Es sei nicht erwiesen, dass die SCN1A-Mutation der letztlich entscheidende Faktor für die Manifestation des Krankheitsbildes sei. Die drastische Reduktion der Häufigkeit von Komplikationen nach Wechsel des Impfstoffes habe dies deutlich gezeigt. Jede andere Deutung der Ergebnisse habe eine bei weitem geringere Wahrscheinlichkeit als die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Art des Impfstoffes und den konvulsiven Reaktionen. Wäre die Mutation der entscheidende pathogene Faktor für die Manifestation der Krämpfe (Fieberkrämpfe und Epilepsie), müsste man heute bei azellulärer Impfung weitgehend unverändert konvulsive Reaktionen finden. Diese Erwartung habe sich in keiner Weise bestätigt. Die Semiologie des Krankheitsbildes zeige auch beim Kläger Besonderheiten, wie sie von den konvulsiven Reaktionen auf den Ganzkeim-Impfstoff geläufig seien: normierte Inkubationszeit, Aktivierung von Fieberkrämpfen und selten auch afebrile epileptische Anfälle, persisting screaming. Eine solche Übereinstimmung nicht mit der Impfung in Zusammenhang bringen zu wollen, sei unvertretbar. Eine Gelegenheitsursache stelle die Impfung gerade nicht dar. Wie die Beobachtungen beim Wechsel des Impfstoffes zeigen würden, sei die Art des Impfstoffes ein entscheidender Faktor bei der Epilepsie-Provokation. Jede andere Möglichkeit bleibe Spekulation. Hier sei nochmal erwähnt, dass die SCN1A-Mutation nicht zwangsläufig zur Epilepsie führe. Sonst müsste man, wie B. et al. fälschlich annehmen würden, im Gefolge des Impfstoffs-Wechsels ein Dravet-Syndrom in unveränderter Häufigkeit sehen, was aber gerade nicht der Fall sei. Auch habe er in seinem Gutachten ausgeführt, dass nach Einführen der azelluläre Vakzine konvulsive Reaktionen fast völlig, aber eben gerade nicht ganz, verschwunden seien. Darin sei ein entscheidendes Argument für die Annahme einer kausalen Beziehung zwischen Impfung (Impfstoff) und klinischem Bild zu sehen. Es sei gänzlich unwahrscheinlich, dass zwischen der Mutation und der Keuchhusten-Impfung eine Beziehung bestehe. Zur Stellungnahme von Dr. K. sei zu sagen, dass dieser sich mit den Inhalten der von ihm zitierten Literatur gerade nicht eingehend befasst habe. Insoweit könne man gerade nicht von einer Literaturrecherche sprechen. Im Übrigen habe Dr. K. selbst eingeräumt, dass die von ihm zitierten Abstracts zur Beantwortung der Fragestellung wenig hilfreich gewesen seien. Fragen lassen müsse sich Herr Dr. K. auch, wie er den Umstand erkläre, dass mit Austausch des Impfstoffes die schwerwiegenden Komplikationen äußerst selten geworden seien.

Auf Nachfrage des Senats zu Art und Schwere der beim Kläger seit dem 10.03.2001 bis dato erfolgten Krampfanfälle hat die Mutter des Klägers mit beim LSG am 01.12.2015 eingegangenen Schriftsatz weiter vorgetragen, dabei u. a. auch einen Anfallskalender über den abgefragten Zeitraum (bis 18.12.2014) vorgelegt. Danach sind in dem genannten Zeitraum Anfälle ab August 2002 bis Dezember 2002 ca. alle 2 Monate, ab Januar bis September 2003 ca. 2 bis 4 Mal pro Monat, ab Oktober 2003 bis Dezember 2004 durchschnittlich 6 bis 8 Anfälle pro Monat und ab Januar 2005 bis April 2005 ca. 5 bis 10 Anfälle pro Monat erfolgt. Ab Mai 2005 bis Dezember 2006 seien die Aufzeichnungen nicht mehr auffindbar; nach Angaben der Mutter des Klägers hätten in dem Zeitraum aber auch durchgehend Anfälle stattgefunden. Ab Januar 2007 bis April 2007 sind 4 bis 5 Anfälle pro Monat und ab Mai 2007 bis Dezember 2014 im Durchschnitt ca. 6 bis 10 Anfälle, vereinzelt auch bis zu 15 Anfälle pro Monat erfolgt. Ab Januar 2015 seien keine Anfälle mehr aufgezeichnet worden. Dabei sei der Kläger bei den Krampfanfällen nicht ansprechbar und apathisch gewesen. Zudem ist das klägerische Leiden - nach den Angaben der Mutter des Klägers - austherapiert bzw. therapieresistent. Darüber hinaus habe beim Kläger in dem genannten Zeitraum vom 10.03.2001 bis dato keine Anfallsfreiheit bestanden, die länger als ein paar Tage angedauert habe.

In der mündlichen Verhandlung vom 15.12.2015 hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt, für den Fall, dass das Gericht nicht davon überzeugt sein sollte, dass die Reaktion des Klägers über das normale Maß einer Impfreaktion hinausging, die Einvernahme der Mutter des Klägers als Zeugin zum Beweis, dass der Kläger extrem schrill geschrien habe, wie sie es von ihm noch nie zuvor gehört habe; der Beklagtenvertreter hat beantragt, für den Fall, dass das Gericht zur Überzeugung gelangen sollte, dass ein Impfschaden vorliege, zur Gewährung rechtlichen Gehörs Schriftsatznachlass zu gewähren, um zu den mit Schriftsatz vom 04.12.2015 sowie in der heutigen Sitzung übergebenen Unterlagen und zu den Schriftsätzen der Bevollmächtigten des Klägers vom 10.12.2015, 11.12.2015 und 14.12.2015 Stellung nehmen zu können.

Der Kläger beantragt,

1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 30.05.2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 29.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.09.2003 zu verurteilen, bei dem Kläger ein Anfallsleiden und eine Entwicklungsretardierung als Impfschaden im Sinne des IfSG anzuerkennen und ihm ab Antragstellung Versorgung nach dem IfSG zu gewähren,

2. hilfsweise und höchstvorsorglich die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die erstinstanzliche Akte des SG Bayreuth, die Impfschadens- sowie die Schwerbehindertenakte des Beklagten zum Verfahren beigezogen, auf deren Inhalt sowie auf den Inhalt der streitgegenständlichen Berufungsakte im Übrigen zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen wird. Sämtlicher Inhalt war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Gründe

Die zulässige Berufung ist begründet.

Der Gerichtsbescheid des SG vom 30.05.2012 und der Bescheid vom 29.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.09.2003 sind aufzuheben Der Bescheid vom 29.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.09.2003 ist materiell rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Dem Kläger ist Versorgung nach dem IfSG auf der Grundlage einer MdE (bis zum 20.12.2007) bzw. eines GdS (ab dem 21.12.2007) von 60 ab dem 10.03.2001 und von 100 ab dem 01.01.2002 zuzusprechen, weil das bei ihm vorliegende Anfallsleiden mit Entwicklungsretardierung (Dravet-Syndrom) kausal auf die am 07.03.2001 durchgeführte Pertussis-Impfung zurückzuführen ist.

Das Begehren des Klägers beurteilt sich dabei ausschließlich nach dem IfSG, weil der Antrag am 20.10.2001 und damit zu einem Zeitpunkt gestellt worden ist, als das - das BSeuchG ohne Übergangsvorschrift ablösende (siehe Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften vom 20.07.2000, BGBl. I, S. 1045) - IfSG (seit dem 01.01.2001) in Kraft war (siehe dazu auch BSG Urteil vom 20.07.2005 - B 9a/9 VJ 2/04 R - dokumentiert bei Juris).

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG (in den seit dem 10.03.2001 bis zum Tag der mündlichen Verhandlung vor dem LSG geltenden Fassungen, weil nach dem Grundsatz des intertemporalen Rechts BSG Urteil vom 04.09.2013 - B 10 EG 11/12 R - dokumentiert bei Juris Rn. 42 f. m. w. N.; Bayerisches LSG, Urteil vom 26.04.2012 - L 15 VS 2/06 - dokumentiert bei Juris Rn. 45, 50>, dass eine Rechtsänderung auch bereits begonnene, aber noch nicht vollendete Sachverhalte erfasst, soweit keine besondere Übergangsregelung vorhanden ist, der Fall zeitabschnittsbezogen anhand sämtlicher Gesetzesfassungen zu prüfen ist, die sich seit dem ersten Entstehen des Anspruchs auf Versorgung in Kraft befunden haben, so dass vorliegend sämtliche Gesetzesfassungen seit dem 10.03.2001 zu berücksichtigen sind) erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

3. gesetzlich vorgeschrieben war oder

4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,

eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

Nach § 61 Satz 1 IfSG genügt zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG anerkannt werden, wobei die Zustimmung allgemein erteilt werden kann (vgl. § 61 Sätze 2 und 3 IfSG).

Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung, wobei ein Impfschaden auch vorliegt, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde.

Neben einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen müssen (1. Glied), muss damit auch eine „gesundheitliche Schädigung“ (2. Glied) als Primärschädigung (d. h. Impfkomplikation) ebenso wie der „Impfschaden“ (3. Glied, d. h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also der Folgeschaden) im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen sein (vgl. BSG Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R - dokumentiert bei Juris Rn. 38; siehe dazu auch Urteil des erkennenden 15. Senats des BayLSG vom 31.07.2012 - L 15 VJ 9/09 - dokumentiert bei Juris Rn. 36, wonach es unschädlich ist, wenn die Primärschädigung, also das 2. Glied, nicht deutlich zu Tage tritt, sondern im Verborgenen erfolgt, weil der Zusammenhang zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen „Etappe“ beurteilt werden muss).

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen (BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R - dokumentiert bei Juris Rn. 34). Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen (vgl. BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R - dokumentiert bei Juris Rn. 34; BSG Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R - dokumentiert bei Juris). Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rn. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R - dokumentiert bei Juris Rn. 34 m. w. N.). Eine Tatsache ist damit bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R - dokumentiert bei Juris Rn. 34; vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rn. 3b m. w. N.).

Hier sind die drei Glieder der Kausalkette im Sinne des genannten Vollbeweises nachgewiesen.

Die beim Kläger am 07.03.2001 durchgeführte Impfung (6-fach-Impfung gegen Tetanus, Diphterie, Pertussis, Hib, Hepatitis B und Polio) ist durch den Eintrag im Impfausweis unter Nennung des Impfstoffes, der Chargen-Nummer, Unterschrift und Stempel des impfenden Arztes zweifelsfrei nachgewiesen. Die Impfung unterfällt als von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlene Impfung auch dem Schutzbereich des § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG.

Auch ist es - entgegen der Auffassung des SG - in der Folgezeit bei dem Kläger zu einer Impfkomplikation (Primärschädigung) dergestalt gekommen, dass der Kläger nach dem glaubhaften Vortrag seiner Mutter am Folgetag der Impfung (08.03.2001) durch für diesen untypisches Quengeln, Weinen und durchgehende Unruhe aufgefallen und es dann am 10.03.2001 unstreitig zum ersten cerebralen Krampfanfall gekommen ist. Nachdem der Senat davon überzeugt ist, dass die Reaktion des Klägers über das normale Maß einer Impfreaktion hinausging, bedurfte es der in der mündlichen Verhandlung vom 15.12.2015 beantragten Einvernahme der Mutter des Klägers nicht.

In der Folgezeit ist beim Kläger dann ein Dravet-Syndom (d. h. ein Anfallsleiden mit psycho-motorischer Entwicklungsverzögerung) diagnostiziert worden, d. h. eine dauerhafte gesundheitliche Schädigung eingetreten (Folgeschaden), was daneben auch zur Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft und Zuerkennung eines GdB von 100 durch den Beklagten auf der Grundlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 27.11.2001 durch Frau B. geführt hat.

Zwischen der am 07.03.2001 durchgeführten Impfung (speziell der Pertussis-Komponente) und der oben genannten Primärschädigung besteht dabei ebenso eine Ursächlichkeit (haftungsbegründende Kausalität) wie zwischen der Primärschädigung und dem o.g. Folgeschaden (haftungsausfüllende Kausalität). Der insoweit nach dem IfSG notwendige Kausalzusammenhang liegt zur Überzeugung des Senats nach den schlüssigen Ausführungen von Prof. Dr. F. in seinem Gutachten vom 25.11.2013 und ergänzenden Stellungnahmen vom 03.10.2014 und 14.10.2015 sowie den Ausführungen von Prof. Dr. E. in seinem Gutachten vom 15.02.2015 vor.

Für diese Kausalität gilt gegenüber dem Vollbeweis ein abgeschwächterer Beweismaßstab - nämlich der der Wahrscheinlichkeit im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. auch BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R - dokumentiert bei Juris Rn. 38; siehe zum Ganzen auch der erkennende Senat im Urteil vom 31.07.2012 - L 15 VJ 9/09 - dokumentiert bei Juris Rn. 33 ff.; dazu sogleich).

Wahrscheinlichkeit bedeutet dabei, dass mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spricht (vgl. BSG, Urteil vom 19.03.1986 - 9a RVi 2/84 - dokumentiert bei Juris; BSG, Urteil vom 26.06.1985 - 9a RVi 3/83 - dokumentiert bei Juris; BSG, Urteil vom 19.03.1986 - 9a RVi 4/84 - dokumentiert bei Juris; BSG, Urteil vom 19.08.1981 - 9 RVi 5/80 - dokumentiert bei Juris; BSG, Urteil vom 27.08.1998 - B 9 VJ 2/97 R - dokumentiert bei Juris; BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R - dokumentiert bei Juris Rn. 38). Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R - dokumentiert bei Juris Rn. 38).

Wie auch sonst im Versorgungsrecht gilt für beide Kausalverläufe zudem die Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. dazu BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R - dokumentiert bei Juris Rn. 37; siehe zum Ganzen auch das Urteil des erkennenden 15. Senats des BayLSG vom 31.07.2012 - L 15 VJ 9/09 - dokumentiert bei Juris Rn. 34 ff.; dazu, dass auch nach Ablösung der entsprechenden Regelungen des BSeuchG durch §§ 60, 61 IfSG für beide Komponenten der Kausalität der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit greift, siehe der erkennende Senat imUrteil vom 31.07.2012 - L 15 VJ 9/09 - dokumentiert bei Juris Rn. 34 ff.). Im Rahmen der Kausalität ist eine Ursache dann rechtlich wesentlich, wenn sie wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat.

Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie nach der versorgungsrechtlichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Urteil vom 08.08.1974 - 10 RV 209/73 - dokumentiert bei Juris) rechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs „annähernd gleichwertig“ sind. Während die ständige unfallversicherungsrechtliche Rechtsprechung (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - dokumentiert bei Juris; BSG, Urteil vom 30.01.2007 - B 2 U 8/06 R - dokumentiert bei Juris) demgegenüber den Begriff der „annähernden Gleichwertigkeit“ für nicht geeignet zur Abgrenzung hält, da er einen objektiven Maßstab vermissen lasse und missverständlich sei, und eine versicherte Ursache dann als rechtlich wesentlich ansieht, wenn nicht eine alternative unversicherte Ursache von „überragender Bedeutung“ ist, hat der für das Soziale Entschädigungsrecht - und damit auch das Impfschadensrecht - zuständige 9. Senat des BSG in einer neuen Entscheidung vom 16.12.2014 (B 9 V 6/13 R - dokumentiert bei Juris) zur annähernden Gleichwertigkeit Folgendes ausgeführt:

„Kommt einem der Umstände gegenüber anderen indessen eine überragende Bedeutung zu, so ist dieser Umstand allein Ursache im Rechtssinne. Bei mehr als zwei Teilursachen ist die annähernd gleichwertige Bedeutung des schädigenden Vorgangs für den Eintritt des Erfolgs entscheidend. Haben also neben einer Verfolgungsmaßnahme mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge beigetragen, ist die Verfolgungsmaßnahme versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge der Verfolgungsmaßnahme zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Verfolgungsmaßnahme in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen.“

Dem vorgenannten Urteil lag ein Rechtstreit aus dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz zugrunde. Einer „Verfolgungsmaßnahme“ im Sinne dieses Urteils entspricht daher, übertragen auf ein Verfahren aus dem Impfschadensrecht, eine durchgeführte Impfung.

Von einer annähernd gleichwertigen versorgungsrechtlich relevanten Ursache ist daher beim Vorliegen von mehr als einer Ursache (nur) dann auszugehen, wenn das Gewicht der versorgungsrechtlich relevanten Ursache mindestens so groß ist wie das der einen anderen versorgungsrechtlich nicht relevanten Ursache bzw. aller anderen versorgungsrechtlich nicht relevanten Ursachen zusammen.

Eine naturwissenschaftliche Ursache, die nicht als wesentlich anzusehen und damit keine Ursache im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung ist, kann als Gelegenheitsursache bezeichnet werden (BSG, Urteil vom 30.01.2007 - B 2 U 8/06 R - dokumentiert bei Juris Rn. 20; siehe auch BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 26/04 R und B 2 U 1/05 R - dokumentiert bei Juris m. w. N.; zur Gelegenheitsursache siehe auch speziell fürs soziale Entschädigungsrecht: BSG, Urteil vom 26.01.1994 - 9 RVg 3/93 - dokumentiert bei Juris Rn. 24 a.E., BSG Urteil vom 29.10.1980 - 9 RV 23/80 - dokumentiert bei Juris Rn. 20).

Gesichtspunkte für die Beurteilung der besonderen Beziehung einer versicherten Ursache zum Erfolg sind - nach dem für das Unfallversicherungsrecht zuständigen Senat des BSG (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - dokumentiert bei Juris Rn. 16) - neben der versicherten Ursache bzw. dem Ereignis als solchem, einschließlich der Art und des Ausmaßes der Einwirkung, die konkurrierende Ursache unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, der zeitliche Ablauf des Geschehens (aber eine Ursache ist nicht deswegen wesentlich, weil sie die letzte war), weiterhin Rückschlüsse aus dem Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, den Befunden und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie der gesamten Krankengeschichte; ergänzend kann der Schutzzweck der Norm heranzuziehen sein.

Dabei sind auch generelle und allgemeine Erkenntnisse über den Ursachenzusammenhang zu berücksichtigen; die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - dokumentiert bei Juris Rn. 17). Die Ursachenbeurteilung im Einzelfall hat „anhand“ des konkreten individuellen Versicherten (hier der geimpften Person) unter Berücksichtigung seiner Krankheiten und Vorschäden zu erfolgen, aber auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes (BSG Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - dokumentiert bei Juris Rn. 18); dabei ist auf das individuelle Ausmaß seiner Beeinträchtigungen abzustellen, wie es sich objektiv darstellt, nicht jedoch wie er es subjektiv bewertet (vgl. BSG a. a. O.).

Unter Anwendung dieser Grundsätze ist die beim Kläger am 07.03.2001 durchgeführte Impfung nicht nur eine Gelegenheitsursache für das Anfallsleiden mit Entwicklungsretardierung (Dravet-Syndrom), sondern gegenüber der genetischen Determination gleichwertige Mitursache im Sinne oben genannter Kriterien, d. h. das Gewicht der Impfung ist mindestens so groß wie das der genetischen Determination. Bzgl. der versorgungsrechtlich zu bejahenden Kausalität der Impfung für das beim Kläger vorhandene Anfallsleiden teilt der Senat die Auffassungen von Prof. Dr. F., Prof. Dr. E. und Dr. T.. Die ärztlichen Meinungen von Dr. F., Prof. Dr. R., Dr. K., Dr. K., Dr. H. und Dr. K. sind dagegen nicht überzeugend.

Seit März 2001 leidet der Kläger an dem so genannten Dravet-Syndrom, das in typischer Weise eine multifaktorielle Ätiopathogenese aufweist. Auch wenn die pathogenetische Mitwirkung der SCN1A-Mutation beim Kläger nicht in Frage zu stellen ist, ist diese nur als pathogener Teilfaktor in einem komplexen pathogenetischen Bedingungsgefüge zu verstehen, wobei die Impfung die entscheidende Rolle eines krankheitsauslösenden Faktors bei einer vorbestehenden entsprechenden Disposition spielt.

Zur Gewichtung dieser beiden Faktoren (genetische Determination und Impfung) ist zu sagen, dass nicht jede per EEG etc. markierte Determination und auch nicht jede SCN1A-Mutation zu einem Anfallsleiden führt. Infektionsbedingte Manifestationen sind auch etwas häufiger als impfbedingte; im Fall des Klägers ist die Manifestation aber konkret und ausschließlich durch die Impfung erfolgt. Die genetische Determination einerseits und die impfbedingte Manifestationsprovokation andererseits sind hier als Teilursachen gleichgewichtig. Die hier vorliegende SCN1A-Mutation ist nicht die Ursache des klägerischen Leidens, sondern nur eine Teilursache.

55-60 Stunden nach der Pertussis-Impfung, und damit innerhalb der normierten Inkubationszeit von 72 Stunden, hat der Kläger eine Impfreaktion in Form von Misslaunigkeit, Schreiattacken und Unruhe gezeigt. Wenig später ist dann ein etwa 10 Minuten dauernder generalisierter, rechtsbetonter epileptischer Anfall aufgetreten, der die Entwicklung einer schweren frühkindlichen myoklonischen Epilepsie - einem Dravet-Syndrom (= Severe Myoclonic Epilepsy of Infancy ) - eingeleitet hat. Von diesem impfnahen Verlauf ist der Senat aufgrund der sachlichen und in sich schlüssigen Angaben der Mutter des Klägers überzeugt; Zweifel an der Richtigkeit dieser Angaben bestehen für den Senat nicht.

Ungewöhnlich schrilles Schreien, mehrere Stunden nach Impfung einsetzend und durchaus unstillbar über viele Stunden oder sogar Tage andauernd, ist - so überzeugend Prof. Dr. E. - neuropädiatrisch zweifelsfrei als Symptom einer passageren Impfencephalopathie einzuordnen. Am häufigsten (ein Prozent oder häufiger) wird es nach dem veralteten Keuchhusten-Ganzkeim-Impfstoff beobachtet. Für jeden Pädiater und Neuropädiater ist daher - so überzeugend Prof. Dr. E. - klar, dass, wenn innerhalb der ersten drei Tage nach einer Impfung mit Keuchhustenkomponente ein Krampfanfall auftritt (oder eine Encephalopathie), mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung besteht. Für keine andere Impfung ist - worauf Prof. Dr. E. hinweist - eine derart enge und hochgradig signifikante normierte postvakzinale Inkubationszeit bekannt. Wenn von Dr. F., Prof. Dr. R., Dr. K., Dr. H. und Dr. K. eine postvakzinale Encephalopathie verneint wird, so ist dies somit ein Irrtum, sie ist vorhanden gewesen.

Die Entstehung des Dravet-Syndroms ist insoweit nicht auf die Wirkung nur eines pathogenen Faktors, zum Beispiel allein oder auch nur überwiegend auf genetische oder organische Faktoren zurückzuführen. Die Pathogenese ist vielmehr wie bei anderen Epilepsieformen multifaktorieller Natur, das heißt durch unterschiedliche exogene (zum Beispiel Impfung, Traumen etc.) und endogene Faktoren (erbliche Veranlagung unterschiedlichen Typs und andere) bestimmt. Das Dravet-Syndrom ist ein Prototyp einer Epilepsie auf multifaktorieller Basis. In der Familie vorkommende Epilepsien und/oder eine im EEG erkennbare Disposition und andererseits exogene Faktoren (zum Beispiel Impfung) wirken in einem äußerst komplexen Bedingungsgefüge zusammen, wobei die SCN1A-Mutation ein Teil dieses Systems ist, die aber nicht zwangsläufig zur Epilepsie führt. Erst die Impfung bringt die Disposition (Veranlagung) zur klinischen Manifestation. Dafür spricht auch, dass nicht alle Merkmalsträger erkranken, manche bleiben gesund, andere sind nur sehr milde betroffen. Weiterhin ist zu betonen, dass beim Wechsel des Impfstoffes vom alten Ganzkeim-Impfstoff auf den azellulären Impfstoff die gefürchteten unerwünschten Wirkungen der Impfung drastisch zurückgegangen sind, die Mutation dagegen nicht. Die Erwartung von B. et al., die Häufigkeit der unerwünschten Wirkungen würde beim Wechsel des Impfstoffes gleich bleiben, hat sich daher - wie Prof. Dr. F. in seinem Gutachten deutlich macht - gerade nicht erfüllt. Daher ist es - worauf Prof. Dr. F. zutreffend hingewiesen hat - unumgänglich notwendig, die alte DPT-Impfung und ihre weltweit akzeptierten Komplikationen in die Betrachtung einzubeziehen, da es nur so möglich ist, ein korrektes Bild von ihrer Symptomatik zu gewinnen und damit die Möglichkeit eines Vergleichs mit den sehr seltenen Komplikationen der heutigen azellulären Vakzine-Impfung zu schaffen. Dass die DPT-Impfung alter Art das Auftreten von Fieberkrämpfen begünstigt hat, wird heute nicht mehr bezweifelt. Es ist aber auch unübersehbar, dass es auch nach Impfung mit azellulärer Pertussis-Vakzine vereinzelt zu konvulsiven Reaktionen mit gleicher Symptomatik, mit normierter Inkubationszeit und mit ungünstiger Prognose, kommen kann. So sind auch schon 1993 beim Paul-Ehrlich-Institut 34 Fälle gemeldet worden. Die Semiologie des Krankheitsbildes zeigt auch beim Kläger Besonderheiten, wie sie von den konvulsiven Reaktionen auf den Ganzkeim-Impfstoff geläufig sind: normierte Inkubationszeit, Aktivierung von Fieberkrämpfen und selten auch afebrile epileptische Anfälle, persisting screaming.

Insoweit lässt die Gesamtheit der Beobachtungen von konvulsiven Reaktionen nach der Pertussis-Impfung darauf schließen, dass das für die schwere myoklonische Epilepsie verantwortliche pathogenetische Bedingungsgefüge besonders leicht (in fast spezifischer Weise) durch das Pertussis-Antigen oder -Toxin zur klinischen Manifestation gebracht wird.

Nicht erwiesen ist demgegenüber, dass die SCN1A-Mutation der letztlich entscheidende Faktor für die Manifestation des Krankheitsbildes ist. Die drastische Reduktion der Häufigkeit von Komplikationen nach Wechsel des Impfstoffes hat dies deutlich gezeigt. Wäre die Mutation der entscheidende pathogene Faktor für die Manifestation der Krämpfe (Fieberkrämpfe und Epilepsie), müsste man heute bei azellulärer Impfung weitgehend unverändert konvulsive Reaktionen finden. Diese Erwartung hat sich in keiner Weise bestätigt. Hier sei auch nochmal erwähnt, dass die SCN1A-Mutation nicht zwangsläufig zur Epilepsie führt; andernfalls müsste man, wie B. et al. fälschlich annehmen, im Gefolge des Impfstoff-Wechsels ein Dravet-Syndrom in unveränderter Häufigkeit sehen, was aber gerade nicht der Fall ist.

Der durch den Wechsel des Impfstoffs erfolgte drastische Rückgang von postvakzinalen Krämpfen und Folgeepilepsien erlaubt daher - worauf Prof. Dr. F. zutreffend hingewiesen hat - folgenden Schluss: In dem komplexen ätiopathogenetischen Bedingungsgefüge der konvulsiven Impfreaktion/Epilepsie ist allein durch eine Änderung nur eines Faktors (Wechsel des Impfstoffes) ein drastischer Wandel eingetreten. Dies ist zugleich ein unbezweifelbares Argument gegen die Erlanger Meinung, wonach es Pertussis-Impfkomplikationen nicht gebe.

Damit ist die Impfung gleichwertige Mitursache der konvulsiven Reaktion und der sich in der Folge entwickelnden schweren myoklonischen Epilepsie. Der nicht erblichen SCN1A-Mutation und den an bestimmten EEG-Mustern erkennbaren Veranlagungsfaktoren kommt die Eigenschaft von Mitursachen zu. Eine Gelegenheitsursache ist die Impfung nicht.

Der Befund bei der U4 („kaum Aufrichten aus Bauchlage“) ist nur vorübergehend nachweisbar gewesen. Prof. Dr. R. spricht insoweit in seinem Gutachten irreführend von einem „schwerwiegenden Befund“. Dabei hat er auch außer Acht gelassen, warum im Rahmen der U4 ein solcher Befund erhoben worden ist. Nach den glaubhaften Angaben der Mutter des Klägers hat sie bis zur U4 Angst vor dem so genannten plötzlichen Kindstod gehabt und ihr Kind daher nie in Bauchlage gebracht; deshalb hat der Kläger diese Fertigkeit (des Aufrichtens in Bauchlage) im Rahmen der U4 nicht vorweisen können. Nach Anleitung durch den Kinderarzt hat der Kläger dies in der Folgezeit aber rasch aufgeholt, so dass die weitere Entwicklung des Klägers altersgerecht gewesen ist, was sich auch an dem im Rahmen der U5 erhobenen Befund gezeigt hat. Zudem können nach den bekannten Denver-Entwicklungsskalen 90% (und eben nicht 100%) aller gesunden Säuglinge im vierten Lebensmonat in Bauchlage den Kopf um 90 Grad heben.

Zum Kernspinbefund (cranielle MRT-Diagnostik) am 26.04.2001 ist dagegen mit Herrn Prof. Dr. E. und Prof. Dr. F. zu sagen, dass genau gesehen Seitendifferenzen (wie sie auch hier festgestellt worden sind) nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind. Von den Gutachtern Dr. F., Dr. K., Dr. H. und Dr. K. ist diese bedeutungslose MRT-Seitendifferenz hochstilisiert worden. Eine Fehlentwicklung (Dysplasie) kann damit ausgeschlossen werden, so dass sich sogenannte Vorschäden oder Vorkrankheiten als nicht erwiesen dargestellt haben. Beim Kläger liegt damit gerade keine - wie von Dr. F., Dr. K. Dr. H. und Dr. K. behauptet - angeborene linkshirnige Fehlbildung vor.

Im Gegensatz zum Gutachten von Prof. Dr. F. lassen die Gutachten und Stellungnahmen von Dr. F., Prof. Dr. R., Dr. K., Dr. H. und Dr. K. auch eine ausreichende wissenschaftliche Befassung mit der Literatur vermissen. Die Stellungnahme von Dr. K. erschöpft sich insoweit - nach dessen eigenen Ausführungen - auch nur im Kundigmachen mit der aktuellen Literatur, wobei dieser (soweit verfügbar) auch nur die jeweiligen Abstracts gelesen hat, die er zudem als zur Beantwortung der Fragestellung wenig hilfreich bezeichnet hat; eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur stellt dies nicht dar.

Dem Kläger ist daher Versorgung gemäß § 60 IfSG i. V. m. § 31, § 60 Abs. 1 Satz 2 Bundesversorgungsgesetz - BVG (in den - nach dem Grundsatz des intertemporalen Rechts - seit dem 10.03.2001 bis zum Tag der mündlichen Verhandlung vor dem LSG geltenden Fassungen) auf der Grundlage einer MdE (bis zum 20.12.2007) bzw. eines GdS (ab dem 21.12.2007) von 60 ab dem 10.03.2001 und von 100 ab dem 01.01.2002 zu gewähren.

Dies ergibt sich für den Senat aufgrund der Schilderungen der Mutter des Klägers, den vorliegenden Klinikberichten und den Einschätzungen von Prof. Dr. E. und Dr. T.. Danach ist es beim Kläger bis Dezember 2001 bei einer Anfallshäufigkeit von gut einmal pro Monat geblieben, wobei in dieser Zeit mehrmals eine Veränderung der antiepileptischen Behandlung vorgenommen worden ist. Eine konvulsive Therapie ist erst ab Juni 2001 erfolgt. Ab 2002 hat sich die Anfallshäufigkeit dann in auffallender Weise enorm gesteigert, wo es dann in sehr kurzen Abständen (bis zu dreimal pro Woche) zu Anfällen gekommen ist.

Gemäß Teil A 26.3 B. der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996, 2004, 2005 bzw. 2008 bzw. Teil B 3.1.2 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 lagen beim Kläger danach ab dem 10.03.2001 epileptische Anfälle in mittlerer Häufigkeit (d. h. generalisierte [große] und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von Wochen; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von Tagen) mit einer MdE bzw. einem GdS von 60 und ab dem 01.01.2002 häufige Anfälle (generalisierte [große] oder komplex-fokale Anfälle wöchentlich oder Serien von generalisierten Krampfanfällen, von fokal betonten oder von multifokalen Anfällen; kleine und einfach-fokale Anfälle täglich) mit einer MdE bzw. einem GdS von 100 vor.

Dem in der mündlichen Verhandlung am 15.12.2015 gestellten Antrag des Beklagtenvertreters auf Gewährung von Schriftsatznachlass, um zu den mit Schriftsatz vom 04.12.2015 sowie in der Sitzung vom 15.12.2015 übergebenen Unterlagen und zu den Schriftsätzen der Bevollmächtigten des Klägers vom 10.12.2015, 11.12.2015 und 14.12.2015 Stellung nehmen zu können, war dagegen nach der Überzeugung des Senats nicht nachzukommen, weil außer des gerichtlichen Schreibens vom 04.12.2015, mit dem dem Beklagten der klägerische Schriftsatz vom 30.11.2015 nebst Anlagen zur Kenntnis gebracht wurde, die genannten Unterlagen und Schriftsätze nicht entscheidungsrelevant waren. Bzgl. des gerichtlichen Schreibens vom 04.12.2015 hatte der Beklagte dagegen - bis zur mündlichen Verhandlung am 15.12.2015 - ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, soweit sie die Gewährung von Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und Jugend der Klägerin betrifft.

Die zweitinstanzlich erhobene Klage betreffend Folgen körperlicher Misshandlung wird abgewiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

2

Die 1949 geborene Klägerin lebte bis 1962 bei ihrer Mutter und deren zweiten Ehemann H. Stiefvater). Der Vater der Klägerin hatte sich kurz nach der Geburt der Klägerin von deren Mutter getrennt. Gegen den Stiefvater wurde offenbar aufgrund des Verdachts, seine eigene Tochter sexuell missbraucht zu haben, ein Ermittlungsverfahren durchgeführt. Nach dem Tod des Stiefvaters im März 1962 wurde die Klägerin vom Jugendamt aus dem Haushalt der Mutter herausgenommen und ihrem Vater, der wieder geheiratet hatte, zugeführt.

3

Im Mai 1967 erstattete die Klägerin gegen ihren Vater eine Strafanzeige. Dieser habe sie im vergangenen halben Jahr immer wieder unzüchtig berührt. Der Vater wurde offenbar verhaftet und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Klägerin zunächst dem Jugendamt der Stadt K. und ab August 1967 der Evangelischen Jugendhilfe des Amtes für Diakonie K. übertragen. Bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres arbeitete die Klägerin in der Heimküche eines Altersheims, wo sie anscheinend auch wohnte. Nach dem späteren Erwerb des Hauptschulabschlusses und verschiedenen Erwerbstätigkeiten heiratete die Klägerin im Jahre 1976 und gebar zwischen 1977 und 1981 drei Kinder.

4

Anlässlich einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation in der P.-Klinik B. im Jahr 2000 wurde bei der Klägerin neben einer mittelgradigen depressiven Episode erstmals eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Im Anschluss an diese Maßnahme nahm die Klägerin eine ambulante Psychotherapie bei der psychologischen Psychotherapeutin S. auf. Diese äußerte den Verdacht einer dissoziativen Identitätsstörung die im Jahr 2002 durch die Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. bestätigt wurde.

5

Im Mai 2005 beantragte die Klägerin beim Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie die Gewährung von Gewaltopferentschädigung, weil sie in ihrer Kindheit von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht und von ihrem Vater sexuell belästigt worden sei. Zur Begründung legte sie das Ergebnis ihrer Recherchen sowie Unterlagen vor, die sie unter Mitwirkung ihrer Therapeutin zusammengetragen hatte. Von dort wurde die Angelegenheit im Juni 2005 wegen des angegebenen Tatorts in K. zuständigkeitshalber an das Versorgungsamt M. abgegeben. Dieses Amt holte einen Befundbericht der Psychotherapeutin S. sowie Berichte der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. ein. Zudem befragte das Amt schriftlich Frau C., die in der Zeit von 1969 bis 1972 als Sozialarbeiterin im Amt für Diakonie tätig und kurze Zeit mit der Pflegschaft der Klägerin befasst war. Ferner zog es die von der Evangelischen Jugend- und Familienhilfe K. eV archivierte Akte der Klägerin über die Pflegschaft der Klägerin sowie die Schwerbehindertenakte des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie bei, das mit Bescheid vom 30.8.2005 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 wegen einer psychischen Behinderung ab Mai 2005 festgestellt hatte.

6

Mit Bescheid vom 3.1.2006 des Versorgungsamts M. in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 17.7.2006 wurde der Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG abgelehnt. Es sei nicht nachgewiesen, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 OEG geworden sei. Weder der sexuelle Missbrauch durch den Stiefvater noch die sexuelle Belästigung durch den leiblichen Vater seien nachgewiesen. Selbst unter Heranziehung der Beweiserleichterung des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) sei ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf die Klägerin nicht anzunehmen.

7

Das von der Klägerin daraufhin angerufene Sozialgericht Lüneburg (SG) hat von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. F. ein im Juli 2007 erstattetes nervenärztliches Gutachten mit einem unter Mithilfe des psychologischen Psychotherapeuten Dr. B. erstellten testpsychologischen Zusatzgutachten eingeholt. Der Sachverständige diagnostizierte eine dissoziative Identitätsstörung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH. Er vertrat die Auffassung, dass aufgrund des eindeutigen Vorliegens einer dissoziativen Identitätsstörung nach herrschender wissenschaftlicher Lehre ein frühkindlicher sexueller Missbrauch als Ursache für die Störung anzunehmen sei.

8

Mit Urteil vom 8.11.2007 hat das SG die noch gegen das Land Nordrhein-Westfalen gerichtete Klage abgewiesen, weil nicht im Sinne des notwendigen Vollbeweises feststellbar sei, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Auch unter Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG sei nicht anzunehmen, dass ein derartiger Angriff auf die Klägerin in ihrer Kindheit stattgefunden habe, weil von einer Glaubhaftigkeit der Schilderungen der Klägerin nicht ausgegangen werden könne. Schließlich sei der vom Sachverständigen gezogene Rückschluss von der vorliegenden Erkrankung auf deren Ursache nicht zulässig.

9

Das von der Klägerin mit der Berufung angerufene Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat weitere medizinische Unterlagen eingeholt, ua den Rehabilitations-Entlassungsbericht der P.-Klinik B. vom 26.7.2000 sowie das für die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover in einem Rentenverfahren erstellte Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr. T. vom 18.1.2005. Außerdem hat sich das LSG von der Dipl. Psychologin D. ein Glaubhaftigkeitsgutachten vom 19.4.2011 über die Klägerin erstatten lassen. Danach ist die Aussage der Klägerin bezüglich des dargelegten Missbrauchs durch den Stiefvater (1961 bis 1962) und den Vater (1963 bis 1967) nicht glaubhaft. Zwar liege keine bewusste Falschaussage vor, es bestünden aber Hinweise, dass die Angaben der Klägerin sich erst unter suggestiven Bedingungen entwickelt hätten.

10

Mit Urteil vom 16.9.2011 hat das LSG die zuletzt gegen den beklagten Landschaftsverband gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Seine Entscheidung hat es auf folgende Erwägungen gestützt:

Das Gericht sehe sich nicht in der Lage, einen sexuellen Missbrauch der Klägerin durch deren Stiefvater und/oder eine sexuelle Belästigung durch deren leiblichen Vater und damit einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG anzunehmen. Der von der Klägerin behauptete sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung sei zur Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen. Unmittelbare Tatzeugen seien nicht vorhanden. Stiefvater, Mutter und Vater der Klägerin seien bereits verstorben. Urkunden, wie etwa staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten etc, seien nicht mehr vorhanden. Andere Beweismittel, die die Angaben der Klägerin bestätigen könnten, seien nicht ersichtlich. Der sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung könne auch nicht aus der medizinischen Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung gefolgert werden.
Schließlich lasse sich ein sexueller Missbrauch bzw eine sexuelle Belästigung auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung nach § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 KOVVfG annehmen. Zwar komme die Beweiserleichterung (Glaubhaftmachung) zugunsten der Klägerin zur Anwendung, weil es weder Zeugen noch sonstige zum Beweis geeignete Unterlagen zu den von der Klägerin behaupteten Taten gebe. Die entsprechenden Behauptungen der Klägerin seien jedoch nicht glaubhaft. Dies ergebe sich zum einen aus dem eingeholten Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. und zum anderen auch aus eigenen Erwägungen des Senats zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin. Ein Anspruch auf Opferentschädigung ergebe sich aus im Wesentlichen gleichen Überlegungen auch nicht aus der Behauptung der Klägerin, von ihrem Vater einmal krankenhausreif geschlagen worden zu sein.

11

Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass der Anspruch der Klägerin "wahrscheinlich" auch an den Voraussetzungen des § 10a OEG scheitern würde. Für Taten in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 könnten die Opfer nur dann Entschädigung nach dem OEG erhalten, wenn sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt seien, also ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 50 vorliege. Nach dem Schwerbehindertenrecht sei indes nur ein GdB von 30 anerkannt. Dem Gutachten des Dr. F. sei nicht zu folgen, weil er keinerlei Begründung dafür gegeben habe, dass die "MdE 50" betrage. Im Ergebnis könne dies jedoch dahinstehen.

12

Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Soweit das LSG davon ausgehe, dass keine Beweismittel mehr vorhanden seien, sei § 103 SGG verletzt. Sie, die Klägerin, habe dem LSG gegenüber die Vernehmung ihrer Halbschwester als Zeitzeugin angeboten. Soweit das LSG sage, dass aus der Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung nicht auf deren Ursache rückgeschlossen werden könne, stehe dies im Widerspruch zu der Aussage des erstinstanzlich eingeholten ärztlichen Gutachtens. Zudem sei nach der Entscheidung des BSG vom 18.10.1995 - 9/9a RVg 4/92 - ein derartiger Rückschluss durchaus ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn die herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft die geltend gemachte Belastung allgemein für geeignet halte, bestimmte Krankheiten hervorzurufen. Nach dem Gutachten des Dr. F. sei nach heute herrschender wissenschaftlicher Lehrmeinung ein entsprechender Rückschluss hier möglich.

13

Im Hinblick auf das zweitinstanzlich eingeholte aussagepsychologische Gutachten sei bisher ungeklärt, ob ein derartiges Gutachten überhaupt "die Entscheidung des Gerichts ersetzen darf". Bezüglich der vom LSG als eigene Erwägungen bezeichneten Gründe zur fehlenden Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen (fehlende Aussagekonstanz) habe das LSG nicht beachtet, dass sie an einer dissoziativen Identitätsstörung leide.

14

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 sowie des Sozialgerichts Lüneburg vom 8. November 2007 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 3. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2006 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter sowie einer schweren körperlichen Misshandlung Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz iVm dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.

15

Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

16

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

17

Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland auf deren Antrag hin beigeladen (Beschluss vom 29.1.2013). Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

18

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

19

Die Revision der Klägerin ist zulässig.

20

Sie ist vom BSG zugelassen worden und damit statthaft (§ 160 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat bei der Einlegung und Begründung der Revision Formen und Fristen eingehalten (§ 164 Abs 1 und 2 SGG). Die Revisionsbegründung genügt den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch nach dem OEG auf zahlreiche schädigende Vorgänge stützt. Demnach ist der Streitgegenstand derart teilbar, dass die Zulässigkeit und Begründetheit der Revision für jeden durch einen abgrenzbaren Sachverhalt bestimmten Teil gesondert zu prüfen ist (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9 V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3). Dabei bietet es sich hier an, die verschiedenen Vorgänge in zwei Gruppen zusammenzufassen, nämlich einen über Jahre andauernden sexuellen Missbrauch und eine körperliche Misshandlung.

21

Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs rügt die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) durch das LSG, weil das Gericht ihre Halbschwester nicht als Zeitzeugin vernommen habe. Als weitere Verletzung der Sachaufklärungspflicht betrachtet die Klägerin die Einholung und Verwertung eines aussagepsychologischen Gutachtens durch das LSG, und zwar auch in Bezug auf die behauptete einmalige schwere körperliche Misshandlung durch ihren Vater. Als Verletzung der Sachaufklärungspflicht und Überschreitung der Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung rügt die Klägerin, dass das LSG entgegen dem erstinstanzlich eingeholten psychiatrischen Gutachten nicht davon ausgegangen sei, dass aus der Art ihrer jetzigen Erkrankung auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit und Jugend rückgeschlossen werden könne. Die Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung habe das LSG auch im Rahmen von ihm so bezeichneter eigener Erwägungen überschritten. Insgesamt rügt die Klägerin zusätzlich eine Verletzung des materiellen Beweisrechts, weil sich das LSG bei Anwendung des § 15 KOVVfG nicht an die danach geltenden Grundsätze der Glaubhaftmachung gehalten habe.

22

Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter betrifft. Hinsichtlich geltend gemachter Folgen einer schweren körperlichen Misshandlung durch den Vater führt die Revision insoweit zu einer Änderung des Urteils des LSG, als die darauf bezogene zweitinstanzlich erhobene Klage abgewiesen wird.

23

Stillschweigend aber zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass bereits während des Berufungsverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiv legitimiert ist (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 20 mwN). Denn § 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung(= Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW 482) hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung sowie der Opferentschädigung auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG verstößt (vgl hierzu Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21, und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann, sodass sich die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGG)ab 1.1.2008 gemäß § 6 Abs 1 OEG gegen den für die Klägerin örtlich zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu richten hat.

24

Obwohl auch der Revisionsantrag der Klägerin auf die Bewilligung einer "Opferentschädigung" gerichtet ist, legt der Senat den erhobenen Anspruch im wohlverstandenen Interesse der Klägerin dahin aus, dass diese die Gewährung von Beschädigtenrente begehrt (vgl § 123 SGG). Der wörtlich gestellte Leistungsantrag wäre nämlich unzulässig. Zwar kann im sozialgerichtlichen Verfahren die Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG auf jede nach dem materiellen Recht vorgesehene Leistung gerichtet werden. Die beanspruchte Leistung muss indes genau bezeichnet werden (BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 5). Der Begriff Opferentschädigung betrifft aber keine bestimmte Leistung, sondern umfasst alle nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG zur Verfügung stehenden Leistungen (vgl § 1 Abs 1 OEG iVm § 9 BVG). Selbst wenn nach den Umständen des Falles als "Opferentschädigung" nur Geldleistungen in Betracht kämen, kann nach der Rechtsprechung des Senats ein dann immer noch zu unbestimmter Ausspruch nicht Gegenstand eines Grundurteils nach § 130 SGG sein(Urteil vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R - USK 99140 S 816 f; Urteil vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R - BSGE 88, 240, 246 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 S 90; Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12).

25

Soweit das LSG erstmals über einen Anspruch der Klägerin nach dem OEG/BVG wegen der Folgen einer einmaligen schweren körperlichen Misshandlung durch ihren Vater entschieden hat, handelt es sich um eine Entscheidung über eine erst im Laufe des Berufungsverfahrens erhobene Klage. Diese Klage ist schon deshalb unzulässig, weil über den Anspruch insoweit noch keine Verwaltungsentscheidung vorliegt. Das LSG hat sich mit diesem Streitpunkt nicht gesondert befasst. Insoweit ist das Urteil des LSG klarstellend dahin abzuändern, dass diese Klage abgewiesen wird.

26

Für einen Anspruch der Klägerin auf eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:

Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs 1 S 1 OEG gegeben sind(vgl hierzu BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.

27

In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

28

Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Dabei hat der erkennende Senat je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie des erkennenden Senats ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist er in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 36 mwN).

29

In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Für den Senat ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein(BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 8 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 23 f, und - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 28 f). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten. Eine Erstreckung dieses Begriffsverständnisses auf andere Fallgruppen hat das BSG bislang abgelehnt (vgl BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 RdNr 12).

30

Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iS des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs 1 S 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs 2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.

31

Zum "Mobbing" als einem sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes hat der erkennende Senat entschieden, dass bei einzelnen "Mobbing"-Aktivitäten die Schwelle zur strafbaren Handlung und somit zum kriminellen Unrecht überschritten sein kann; tätliche Angriffe liegen allerdings nur vor, wenn auf den Körper des Opfers gezielt eingewirkt wird, wie zB durch einen Fußtritt (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 278 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 72).

32

Auch in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, in denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, ist maßgeblich auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib und Leben des Opfers abzustellen. Die Grenze der Wortlautinterpretation hinsichtlich des Begriffs des tätlichen Angriffs sieht der Senat jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 44 mwN). So ist beim "Stalking" die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - erst überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen das Opfer begangen und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 69 mwN).

33

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang hier: tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

34

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN).

35

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit iS des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

36

Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).

37

Soweit die Klägerin Beschädigtenrente nach dem OEG wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter beansprucht, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung unmöglich. Entgegen der bisherigen Diktion auch des LSG ist nicht zwischen einem sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und einer sexuellen Belästigung durch den Vater zu unterscheiden, sondern einheitlich von einem sexuellen Missbrauch zu sprechen. Denn strafrechtlich wird so nicht differenziert. Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von Kindern (Personen unter vierzehn Jahren) setzt § 176 StGB "sexuelle Handlungen" voraus. Ebenso stellt § 177 StGB betreffend andere Personen "sexuelle Handlungen" unter Strafe. Als solche werden alle Einwirkungen auf ein Kind oder eine über vierzehn Jahre alte Person verstanden, die mit sexuell bezogenem Körperkontakt einhergehen (s nur Fischer, StGB, 59. Aufl 2012, § 177 RdNr 49), sodass darunter auch die bisher als sexuelle Belästigung bezeichneten Handlungen des Vaters der Klägerin fallen. Die von der Klägerin ihrem Stiefvater und ihrem Vater zur Last gelegten schädigenden Vorgänge werden zwar von § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst. Es fehlen jedoch hinreichende verwertbare Tatsachenfeststellungen.

38

Den behaupteten sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und später durch den Vater der Klägerin hat das LSG nicht als nachgewiesen erachtet. Diese Beurteilung vermag der Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu bestätigen. Denn sie beruht auf einer Auslegung des § 15 S 1 KOVVfG, die der Senat nicht teilt.

39

Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl bereits BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6).

40

Diesen Kriterien hat das LSG zwar Rechnung getragen, indem es eine Anwendbarkeit des § 15 S 1 KOVVfG angenommen hat. Der Anwendung dieser Vorschrift steht hier auch nicht der Umstand entgegen, dass das LSG verpflichtet war, die von der Klägerin benannte Zeugin R. zu vernehmen, denn diese ist nicht als Tatzeugin, sondern als Zeitzeugin benannt worden. Die Verpflichtung zu ihrer Vernehmung folgt indes aus § 103 SGG, denn ausgehend von seiner materiellen Rechtsansicht zur Anwendbarkeit des § 15 KOVVfG hätte sich das LSG zu deren Vernehmung gedrängt fühlen müssen. Die Angaben der Zeugin R. sind nämlich von erheblicher Relevanz im Rahmen der Prüfung einer Glaubhaftmachung des sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch ihren Stiefvater H. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG über ein Ermittlungsverfahren gegen H. wegen eines sexuellen Missbrauchs seiner eigenen Tochter könnte es sich bei der Zeugin um die Tochter des H. handeln, die möglicherweise selbst von diesem sexuell missbraucht worden ist. Ihren Angaben kann somit auch hinsichtlich des behaupteten sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch H. erhebliche Bedeutung zukommen.

41

Obwohl das LSG den § 15 S 1 KOVVfG herangezogen hat, lassen seine Ausführungen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es dabei den von dieser Vorschrift eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde gelegt hat. Aus der einschränkungslosen Bezugnahme auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 lässt sich eher der Schluss ziehen, dass das LSG insoweit einen unzutreffenden, nämlich zu strengen Beweismaßstab angewendet hat. Diese Sachlage gibt dem Senat Veranlassung, grundsätzlich auf die Verwendung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten in Verfahren betreffend Ansprüche nach dem OEG einzugehen.

42

Die Einholung und Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten zulässig.

43

Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 118 RdNr 11b). Dies gilt auch für die Einholung eines sog Glaubhaftigkeitsgutachtens. Dabei handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Da eine solche Beurteilung an sich zu den Aufgaben eines Tatrichters gehört, kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BGH aaO, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22). Ob eine derartige Beweiserhebung erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9 = Juris RdNr 22). Die Entscheidung, ob eine solche Fallgestaltung vorliegt und ob daher ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen ist, beurteilt und trifft das Tatsachengericht im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG. Fußt seine Entscheidung auf einem hinreichenden Grund, so ist deren Überprüfung dem Revisionsgericht entzogen (vgl BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9 = Juris RdNr 20, 23).

44

Von Seiten des Gerichts muss im Zusammenhang mit der Einholung, vor allem aber mit der anschließenden Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens stets beachtet werden, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49). In einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung trifft der Sachverständige erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt. Durch das Gutachten vermittelt er dem Gericht daher auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f). Die umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliegt sodann dem Gericht.

45

Aus den Ausführungen in dem Urteil des LSG NRW vom 28.11.2007 (- L 10 VG 13/06 - Juris RdNr 25) ergeben sich keine Hinweise auf die Unzulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialrechtlichen Verfahren. Vielmehr hat das LSG NRW hierbei lediglich die Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts gerügt, das anstelle der Vernehmung der durch die dortige Klägerin benannten Zeugen ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte (ua mit der Beweisfrage "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - dh es darf kein begründbarer Zweifel bestehen - fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs - in welchem Zeitraum, in welcher Weise - geworden ist?"; Juris RdNr 9). Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn das LSG NRW zum einen die Vernehmung der Zeugen gefordert und zum anderen festgestellt hat, dass die an die Sachverständigen gestellte Frage keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich sei, sondern dass das Gericht diese Tatsache selbst aufzuklären habe. Ausdrücklich zu aussagepsychologischen Gutachten hat das LSG NRW ferner zutreffend festgestellt, auch bei diesen dürfe dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden habe oder nicht. Vielmehr dürfe dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprächen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhten (LSG NRW, aaO, Juris RdNr 25 aE). Aus diesen Ausführungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, das LSG NRW gehe grundsätzlich davon aus, dass in sozialrechtlichen Verfahren keine Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt und berücksichtigt werden könnten.

46

Für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten gelten auch im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts zunächst die Grundsätze, die der BGH in der Entscheidung vom 30.7.1999 (1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellt hat. Mit dieser Entscheidung hat der BGH die wissenschaftlichen Standards und Methoden für die psychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zusammengefasst. Nicht das jeweilige Prozessrecht schafft diese Anforderungen (zum Straf- und Strafprozessrecht: Fabian/Greuel/Stadler, StV 1996, 347 f), vielmehr handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse der Aussagepsychologie (vgl Vogl, NJ 1999, 603), die Glaubhaftigkeitsgutachten allgemein zu beachten haben, damit diese überhaupt belastbar sind und verwertet werden können (so auch BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f; vgl grundlegend hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 48 ff; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 16 ff). Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten stellen sich wie folgt dar (vgl zum Folgenden BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167 ff mwN; basierend ua auf dem Gutachten von Steller/Volbert, wiedergegeben in Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46 ff):

Bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen besteht das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer bestimmten Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet (gedanklich) also zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese (Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46, 61; den Begriff der Nullhypothese sowie das Ausgehen von dieser kritisierend Stanislawski/Blumer, Streit 2000, 65, 67 f). Der Sachverständige bildet dazu neben der "Wirklichkeitshypothese" (die Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert) die Gegenhypothese, die Aussage sei unwahr. Bestehen mehrere Möglichkeiten, aus welchen Gründen eine Aussage keinen Erlebnishintergrund haben könnte, hat der Sachverständige bezogen auf den konkreten Einzelfall passende Null- bzw Alternativhypothesen zu bilden (vgl beispielhaft hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 52 f; ebenso, zudem mit den jeweiligen diagnostischen Bezügen Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 61 ff). Die Bildung relevanter, also auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmter Hypothesen ist von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. Im weiteren Verlauf hat der Sachverständige jede einzelne Alternativhypothese darauf zu untersuchen, ob diese mit den erhobenen Fakten in Übereinstimmung stehen kann; wird dies für sämtliche Null- bzw Alternativhypothesen verneint, gilt die Wirklichkeitshypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.

47

Die zentralen psychologischen Konstrukte, die den Begriff der Glaubhaftigkeit - aus psychologischer Sicht - ausfüllen und somit die Grundstruktur der psychodiagnostischen Informationsaufnahme und -verarbeitung vorgeben, sind Aussagetüchtigkeit (verfügt die Person über die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen zur Erstattung einer verwertbaren Aussage?), Aussagequalität (weist die Aussage Merkmale auf, die in erlebnisfundierten Schilderungen zu erwarten sind?) sowie Aussagevalidität (liegen potentielle Störfaktoren vor, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können?). Erst wenn die Aussagetüchtigkeit bejaht wird, kann der mögliche Erlebnisbezug der Aussage unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Validität untersucht werden (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49; zur eventuell erforderlichen Hinzuziehung eines Psychiaters zur Bewertung der Aussagetüchtigkeit Schumacher, StV 2003, 641 ff). Das abschließende gutachterliche Urteil über die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann niemals allein auf einer einzigen Konstruktebene (zB der Ebene der Aussagequalität) erfolgen, sondern erfordert immer eine integrative Betrachtung der Befunde in Bezug auf sämtliche Ebenen (Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 62).

48

Die wesentlichen methodischen Mittel, die der Sachverständige zur Überprüfung der gebildeten Hypothesen anzuwenden hat, sind die - die Aussagequalität überprüfende - Aussageanalyse (Inhalts- und Konstanzanalyse) und die - die Aussagevalidität betreffende - Fehlerquellen-, Motivations- sowie Kompetenzanalyse. Welche dieser Analyseschritte mit welcher Gewichtung durchzuführen sind, ergibt sich aus den zuvor gebildeten Null- bzw Alternativhypothesen; bei der Abgrenzung einer wahren Darstellung von einer absichtlichen Falschaussage sind andere Analysen erforderlich als bei deren Abgrenzung von einer subjektiv wahren, aber objektiv nicht zutreffenden, auf Scheinerinnerungen basierenden Darstellung (vgl hierzu Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 17 ff).

49

Diese Prüfungsschritte müssen nicht in einer bestimmten Prüfungsstrategie angewendet werden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau. Die einzelnen Elemente der Begutachtung müssen auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden (vgl BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f). Es ist vielmehr ausreichend, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung des Gutachtens ergibt, dass der Sachverständige das dargestellte methodische Grundprinzip angewandt hat. Vor allem muss überprüfbar sein, auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist.

50

Die aufgrund der dargestellten methodischen Vorgehensweise, insbesondere aufgrund des Ausgehens von der sog Nullhypothese, vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu SG Fulda Urteil vom 30.6.2008 - S 6 VG 16/06 - Juris RdNr 33 aE; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07 - Juris RdNr 36; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.6.2012 - L 4 VG 13/09 - Juris RdNr 44 ff; offenlassend, aber Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese äußernd LSG Baden-Württemberg Urteil vom 15.12.2011 - L 6 VG 584/11 - ZFSH/SGB 2012, 203, 206) überzeugen nicht.

51

Nach derzeitigen Erkenntnissen gibt es für einen psychologischen Sachverständigen keine Alternative zu dem beschriebenen Vorgehen. Der Erlebnisbezug einer Aussage ist nicht anders als durch systematischen Ausschluss von Alternativhypothesen zur Wahrannahme zu belegen (Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 20, 22). Nach dem gegenwärtigen psychologischen Kenntnisstand kann die Wirklichkeitshypothese selbst nicht überprüft werden, da eine erlebnisbasierte Aussage eine hohe, aber auch eine niedrige Aussagequalität haben kann. Die Prüfung hat daher an der Unwahrhypothese bzw ihren möglichen Alternativen anzusetzen. Erst wenn sämtliche Unwahrhypothesen ausgeschlossen werden können, ist die Wahrannahme belegt (vgl Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 22). Zudem hat diese Vorgehensweise zur Folge, dass sämtliche Unwahrhypothesen geprüft werden, womit ein ausgewogenes Analyseergebnis erzielt werden kann (Schoreit, StV 2004, 284, 286).

52

Es ist zutreffend, dass dieses methodische Vorgehen ein recht strenges Verfahren der Aussageprüfung darstellt (so auch Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 205), denn die Tatsache, dass eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet nicht zwingend, dass diese Hypothese tatsächlich zutrifft. Gleichwohl würde das Gutachten in einem solchen Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass eine wahre Aussage nicht belegt werden kann. Insoweit korrespondieren das methodische Grundprinzip der Aussagepsychologie und die rechtlichen Anforderungen in Strafverfahren besonders gut miteinander (vgl dazu Volbert, aaO S 20). Denn auch die Unschuldsvermutung hat zugunsten des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten. Durch beide Prinzipien soll auf jeden Fall vermieden werden, dass eine tatsächlich nicht zutreffende Aussage als glaubhaft klassifiziert wird. Zwar soll möglichst auch der andere Fehler unterbleiben, dass also eine wahre Aussage als nicht zutreffend bewertet wird. In Zweifelsfällen gilt aber eine klare Entscheidungspriorität (vgl Volbert, aaO): Bestehen noch Zweifel hinsichtlich einer Unwahrhypothese, kann diese also nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so gilt der Erlebnisbezug der Aussage als nicht bewiesen und die Aussage als nicht glaubhaft.

53

Diese Konsequenz führt nicht dazu, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialrechtlichen Entschädigungsverfahren nach dem OEG als Beweismittel schlichtweg ungeeignet sind. Soweit der Vollbeweis gilt, ist damit die Anwendung dieser methodischen Prinzipien der Aussagepsychologie ohne Weiteres zu vereinbaren. Denn dabei gilt eine Tatsache erst dann als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Bestehen in einem solchen Verfahren noch Zweifel daran, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist, weil eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, geht dies zu Lasten des Klägers bzw der Klägerin (von der Zulässigkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten ausgehend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08 - Juris RdNr 24 ff; LSG NRW Urteil vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05 - Juris RdNr 24; ebenso, jedoch bei Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG Bayerisches LSG Urteil vom 30.6.2005 - L 15 VG 13/02 - Juris RdNr 40; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05 - Juris RdNr 34 sowie Urteil vom 16.9.2011 - L 10 VG 26/07 - Juris RdNr 38 ff).

54

Die grundsätzliche Bejahung der Beweiseignung von Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialen Entschädigungsrecht wird auch dadurch gestützt, dass nach der dargestellten hypothesengeleiteten Methodik - unter Einschluss der sog Nullhypothese - erstattete Gutachten nicht nur in Strafverfahren Anwendung finden, sondern auch in Zivilverfahren (vgl BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527, 2528 f; Saarländisches OLG Urteil vom 13.7.2011 - 1 U 32/08 - Juris RdNr 50 ff) und in arbeitsrechtlichen Verfahren (vgl LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.7.2011 - 26 Sa 1269/10 - Juris RdNr 64 ff). In diesen Verfahren ist der Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw der Voraussetzungen für einen Kündigungsgrund (zumeist eine erhebliche Pflichtverletzung) ebenfalls erforderlich.

55

Soweit allerdings nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG eine Glaubhaftmachung ausreicht, ist ein nach der dargestellten Methodik erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ohne Weiteres geeignet, zur Entscheidungsfindung des Gerichts beizutragen. Das folgt schon daraus, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, während ein aussagepsychologischer Sachverständiger diese Angaben erst dann als glaubhaft ansieht, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen kann. Da ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten den Vollbeweis ermöglichen soll, muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines solchen Gutachtens nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können.

56

Will sich ein Gericht auch bei Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen, so hat es den Sachverständigen mithin auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten kann. Dabei sind auch die Beweisfragen entsprechend zu fassen. Im Falle von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen lautet die übergeordnete psychologische Untersuchungsfragestellung: "Können die Angaben aus aussagepsychologischer Sicht als mit (sehr) hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden?" (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/ Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49). Demgegenüber sollte dann, wenn eine Glaubhaftmachung ausreicht, darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können.

57

Damit das Gericht den rechtlichen Begriff der Glaubhaftmachung in eigener Beweiswürdigung ausfüllen kann und nicht durch die Feststellung einer Glaubhaftigkeit seitens des Sachverständigen festgelegt ist, könnte es insoweit hilfreich sein, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergibt (für eine solche Vorgehensweise im Asylverfahren vgl Lösel/Bender, Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd 7, 2001, S 175, 184). Denn dem Tatsachengericht ist am ehesten gedient, wenn der psychologische Sachverständige im Rahmen des Möglichen die Wahrscheinlichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgrade für die unterschiedlichen Hypothesen darstellt.

58

Diesen Maßgaben wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG ohne Weiteres auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 gestützt. Dieses Glaubhaftigkeitsgutachten ist vom LSG zu den Fragen eingeholt worden:

59

Ist die Aussage der Klägerin bezüglich der dargelegten schädigenden Ereignisse (Missbrauch durch den Stiefvater H. 1961 - 1962; Missbrauch durch den Vater 1963 - 1967) glaubhaft? Wenn ja, auf welchen aussagepsychologischen Kriterien beruht die Glaubhaftigkeit zu den unmittelbaren schädigenden Ereignissen? Wenn nein, nach welchen aussagepsychologischen Kriterien ist die Glaubhaftigkeit für die unmittelbaren schädigenden Ereignisse nicht erreicht oder auszuweisen?

60

Ein Hinweis auf den im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ist dabei nach Aktenlage nicht erfolgt. Dementsprechend lässt das Gutachten der Sachverständigen D. nicht erkennen, dass sich diese der daraus folgenden Besonderheiten bewusst gewesen ist. Vielmehr hat die Sachverständige in dem Abschnitt 3 ("Methodik der Begutachtung und Hypothesenbildung") festgestellt, dass es sich bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung um einen Hypothesen geleiteten Prüfprozess handele ("Wahrheits-Hypothese" und "Unwahr-Hypothese"). Dabei hat die Sachverständige auf Veröffentlichungen von Volbert (Beurteilung von Aussagen über Traumata. Erinnerungen und ihre psychologische Bewertung - Forensisch-psychologische Praxis 2004 und Volbert/Steller, Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit, 2004) hingewiesen (S 15 f des Gutachtens).

61

Da das Berufungsurteil mithin bei der Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG offenbar auf einer Tatsachenwürdigung beruht, der ein unzutreffender Beweismaßstab zugrunde liegt, vermag der erkennende Senat die Beurteilung des LSG zu diesem Punkt nicht zu bestätigen.

62

Auf dieser nicht tragfähigen Tatsachenwürdigung beruht die Entscheidung des LSG. Das gilt auch in Anbetracht des Umstandes, dass das LSG seine Auffassung von der fehlenden "Glaubhaftigkeit" der Behauptungen der Klägerin zusätzlich auf eigene Erwägungen gestützt hat. Denn diese Erwägungen tragen die Entscheidung des LSG nicht allein. Vielmehr hat das LSG diese Ausführungen nur ergänzend gemacht ("nicht nur auf das Glaubhaftigkeitsgutachten, sondern auch auf eigene Erwägungen"), sodass das Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. nach der Diktion des LSG für dessen Tatsachenwürdigung maßgebend ist.

63

Der erkennende Senat sieht sich zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG veranlasst (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), weil die jetzt nach zutreffenden Beweismaßstäben vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (§ 163 SGG).

64

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. November 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Feststellung von Schädigungsfolgen und die Gewährung einer Beschädigtenversorgung.

2

Der 1941 geborene Kläger war von November 1963 bis April 1968 als Zugschaffner und Zugfertigsteller bei der Deutschen Reichsbahn am Bahnhof G. beschäftigt. In den Jahren 1966 bis 1968 wurde er nach den Feststellungen des LSG durch Mitarbeiter der Staatssicherheit bedroht und unter Druck gesetzt und als inoffizieller Mitarbeiter geworben. Im April 1968 löste der Kläger sein Arbeitsverhältnis mit dem Bahnhof G. Danach war er als Reinigungsmüller bei den M., anschließend als Koch und Küchenleiter zunächst im R.-Heim und nach dortigen Verwerfungen ab 1976 im N. Krankenhaus in G. tätig.

3

Seit 1976 befand sich der Kläger nach seinen Angaben in nervenärztlicher Behandlung. In den Sozialversicherungsausweisen sind seit dieser Zeit Psychosen, Neurosen und paranoide Zustände dokumentiert. Seit 1980 bezog der Kläger eine Invalidenrente, seit 1992 als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Ab dem 1.1.1991 erkannte das Land Brandenburg - Landesversorgungsamt - bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von 80 wegen psychovegetativer Störungen an und stellte das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "B" fest (Bescheide vom 11.7.1995 und 7.9.1995). Das Ministerium des Innern des Landes Brandenburg hat nach dem Gesetz über die Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen im Beitrittsgebiet und die daran anknüpfenden Folgeansprüche (Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz - VwRehaG) später festgestellt, dass der Kläger durch Mitarbeiter der Staatssicherheit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt war, die mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar waren; diese Maßnahmen wurden nach § 1 Abs 1 und 5 VwRehaG für rechtsstaatswidrig erklärt. Des Weiteren wurde festgestellt, dass der Kläger Verfolgter iS des § 1 Abs 1 Nr 3 Berufliches Rehabilitierungsgesetz (BerRehaG) ist. Als berufliche Verfolgungszeit wurde der Zeitraum von 1968 bis 1990 angegeben (Bescheid vom 23.11.1999). Den Antrag des Klägers auf "Entschädigung aufgrund staatlicher Willkür aus der DDR-Zeit" nach dem VwRehaG lehnte das beklagte Land hingegen ua nach Einholung eines nervenärztlichen Kausalitätsgutachtens bei dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie und Sozialmediziner Dr. T. vom 29.5.2000 ab, nachdem dieser aufgrund einer ambulanten Untersuchung zu dem Ergebnis gekommen war, dass die bei dem Kläger vorliegende schwere Zwangsneurose nicht ursächlich auf Verfolgungsmaßnahmen in den Jahren 1966 bis 1968 zurückgeführt werden könne (Bescheid vom 22.6.2000). Das Widerspruchsverfahren wurde auf Wunsch des Klägers vorläufig eingestellt (Schreiben vom 25.8.2000). Im Februar 2005 beantragte der Kläger erfolglos die Überprüfung seiner Versorgungsleistungen nach dem VwRehaG (Bescheid vom 1.7.2005; Widerspruchsbescheid vom 28.9.2005).

4

Das SG hat im anschließenden Klageverfahren auf Antrag des Klägers ein Gutachten bei dem Diplom-Psychologen und Psychologischen Psychotherapeuten Tr. eingeholt. Dieser hat nach ambulanten Untersuchungen des Klägers eine gemischte Angst-Zwangsstörung diagnostiziert, die chronifiziert und mit Wahrscheinlichkeit durch Verfolgungsmaßnahmen der Mitarbeiter der Staatssicherheit in der - vom Sachverständigen angenommenen - Verfolgungszeit von 1968 bis 1990 hervorgerufen worden sei. Der Grad der schädigungsbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 70 vH. Das SG hat weiter Beweis erhoben ua durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. G. Dieser ist nach ambulanter Untersuchung zur Einschätzung gelangt, bei dem Kläger liege ua eine chronifizierte schwere Zwangsstörung mit Begleitphänomenen vor. Die Zwangsstörung weise entstehungsmäßig neben neurologisch relevanten Belastungsfaktoren insbesondere psychosoziale Belastungsfaktoren auf, nämlich Belastungen in Kindheit und Jugend (ua Vergewaltigung der Mutter im Krieg, Verachtung durch den Vater, Schläge durch den Bruder), die von April 1966 bis Juni 1968 erlittenen Verfolgungsmaßnahmen (ua mit der Drohung von Verfehlungen am Arbeitsplatz und Unterstellung von Straftaten) und die Vorkommnisse bei seinem späteren Arbeitgeber im R. Heim (ua Vorwurf der Gefährdung einer ordnungsgemäßen Essensversorgung der Heimbewohner). Diese psychosozial relevanten Belastungsfaktoren, die wesentlich für die Entstehung und Aufrechterhaltung der schweren Zwangsstörung des Klägers seien, seien von ihrer Bedeutung her etwa gleichwertig. Eine etwaig genauere und prozentuale Aussage sei nicht möglich. Wollte man die Kausalität bejahen, läge bei dem Kläger seit Oktober 1998 ein schädigungsbedingter Grad einer MdE von 70 vH vor. Das SG hat die Klage hierauf abgewiesen. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens stehe nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit fest, dass die von dem Kläger geltend gemachte Angst- und Zwangsstörung Folge der rechtsstaatswidrigen Verfolgungsmaßnahmen der Mitarbeiter der Staatssicherheit der ehemaligen DDR sei (Urteil vom 13.1.2009).

5

Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es bestehe kein Anspruch auf Feststellung einer Schädigungsfolge und Versorgungsleistungen, auch wenn ein schädigendes Ereignis iS von § 1 VwRehaG für die Zeit von März 1966 bis Juni 1968 vorliege. Die im Kern von allen Gutachtern gestellte Diagnose einer chronifizierten schweren Zwangsstörung sei nicht wesentlich ursächlich auf das schädigende Ereignis zurückzuführen. Das in Bezug auf den richtigen Verfolgungszeitraum allein nachvollziehbare Gutachten des Sachverständigen Dr. G.
komme zu dem Ergebnis, dass die Zwangsstörung des Klägers im Wesentlichen auf drei gleichwertigen Ursachen beruhe. Nach der Rechtsprechung des 9. Senats des BSG bedeute dies, dass die streitigen Verfolgungsmaßnahmen innerhalb des Ursachenkomplexes mit ca einem Drittel eine untergeordnete Rolle einnehmen. Die Rechtsprechung des 2. Senats des BSG, nach der auch eine rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache rechtlich wesentlich sein könne, komme im Versorgungsrecht nicht zum Tragen (Urteil vom 22.11.2012).

6

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung der Kausalitätsnorm der (Theorie der) wesentlichen Bedingung und der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV). Das Berufungsgericht habe gegen Denkgesetze verstoßen, indem es aus drei nebeneinander bestehenden Einzelursachen geschlossen habe, dass keine dieser Ursachen wesentlich sein könne. Das LSG habe zudem Beweisanträge übergangen und das Fragerecht aus § 116 S 2 SGG verletzt.

7

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. November 2012 und das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 13. Januar 2009 sowie die Bescheide des Beklagten vom 22. Juni 2000 sowie vom 1. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. September 2005 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger nach dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz eine Angst- und Zwangsstörung als Schädigungsfolge anzuerkennen und dem Kläger ab dem 1. Oktober 1998 eine Beschädigtenversorgung nach einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit/einem Grad der Schädigungsfolgen von 70 vH zu gewähren,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. November 2012 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

8

Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision des Klägers ist unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Die Klage ist zwar zulässig (dazu 1.) Der Kläger hat aber keinen Anspruch auf Anerkennung der geltend gemachten Schädigungsfolgen und Gewährung von Beschädigtenversorgung (dazu 2.). Insbesondere ist das LSG bei der Prüfung des Anspruchs von einem zutreffenden rechtlichen Prüfmaßstab der Kausalität ausgegangen (dazu 3.).

10

1. Statthafte Klage ist die zutreffend vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit (§ 16 Abs 2 VwRehaG) erhobene kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 5 SGG; vgl BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 31). Gegenstand des Rechtsstreits ist die Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide vom 22.6.2000, 1.7.2005 und 28.9.2005, die Anerkennung von Schädigungsfolgen sowie die Gewährung einer Beschädigtenversorgung. Zu Recht ist das LSG deshalb auch nicht von einem auf Rücknahme des Bescheides vom 22.6.2000 gerichteten Überprüfungsbegehren iS des § 44 SGB X ausgegangen, auch wenn der Bescheid vom 1.7.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.9.2005 diese Rechtsgrundlage benennt. Wenn Unanfechtbarkeit noch nicht eingetreten ist, wird das Verfahren nach § 44 SGB X im Regelfall nicht benötigt(BSG SozR 4-4300 § 330 Nr 2 Juris RdNr 17; BVerwGE 115, 302; hierzu Merten in Hauck/Noftz, SGB X, Stand Juni 2014, K § 44 RdNr 51). So verhält es sich hier. Denn in der Sache war der Widerspruchsbescheid vom 28.9.2005 auf den noch ausstehenden Abschluss des Verfahrens über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 22.6.2000 gerichtet (vgl § 78 SGG).

11

2. Die Voraussetzungen der für den geltend gemachten Anspruch auf Anerkennung einer Schädigungsfolge sowie auf Gewährung einer Versorgung allein in Betracht kommenden Rechtsgrundlage des § 3 VwRehaG liegen nicht vollständig vor. Nach § 3 Abs 1 S 1 VwRehaG erhält ein Betroffener, der infolge einer Maßnahme nach § 1 VwRehaG eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Dies gilt nicht, soweit er wegen desselben schädigenden Ereignisses bereits Versorgung auf Grund des BVG oder auf Grund von Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des BVG vorsehen, erhält (§ 3 Abs 1 S 2 VwRehaG). Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges (§ 3 Abs 5 S 1 RehaG).

12

a) Der Anspruch nach § 3 Abs 1 S 1 VwRehaG ist eine von mehreren Folgemaßnahmen im Rahmen der SED-Unrechtsbereinigung. Das VwRehaG ist zum 1.7.1994 zusammen mit dem BerRehaG als Art 1 und 2 des Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes vom 23.6.1994 (BGBl I 1311) mit dem Ziel eingeführt worden, neben der strafrechtlichen Rehabilitierung durch das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG), welches bereits Gegenstand des Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes vom 29.10.1992 (BGBl I 1814) war, eine Rehabilitierung durch Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen zu ermöglichen. Dementsprechend ist eine hoheitliche Maßnahme einer deutschen behördlichen Stelle zur Regelung eines Einzelfalls in dem in Art 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Beitrittsgebiet) aus der Zeit vom 8.5.1945 bis zum 2.10.1990 (Verwaltungsentscheidung), die zu einer gesundheitlichen Schädigung (§ 3), einem Eingriff in Vermögenswerte (§ 7) oder einer beruflichen Benachteiligung (§ 8) geführt hat, auf Antrag aufzuheben, soweit sie mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar ist und ihre Folgen noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken (§ 1 Abs 1 S 1 VwRehaG). Für eine hoheitliche Maßnahme, die nicht auf die Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet ist, gelten die Vorschriften dieses Gesetzes entsprechend. An die Stelle der Aufhebung der Maßnahme tritt die Feststellung ihrer Rechtsstaatswidrigkeit (§ 1 Abs 5 S 1 und 2 VwRehaG). Die Aufhebung oder die Feststellung der Rechtsstaatswidrigkeit einer Maßnahme nach § 1 begründet Ansprüche nach Maßgabe dieses Gesetzes(§ 2 Abs 1 VwRehaG). Die Rehabilitierungsentscheidung ist danach von der Entscheidung über die - hier streitgegenständlichen - Folgeansprüche zu unterscheiden. Die Entscheidung über die Rehabilitierung obliegt der Rehabilitierungsbehörde (§ 12 VwRehaG), diejenige über den Ausgleich fortwirkender Folgen (vgl § 2 Abs 1 VwRehaG) je nach der Art des Primärschadens - wie hier bei Gesundheitsschädigung - der Versorgungsverwaltung (§ 12 Abs 4 VwRehaG), der nach dem Vermögensgesetz zuständigen Behörde bei Eingriffen in Vermögenswerte (§ 7 VwRehaG iVm dem Vermögensgesetz) und verschiedenen Sozialleistungsträgern bei beruflicher Benachteiligung (§ 8 VwRehaG iVm § 1 Abs 1 Nr 3 BerRehaG).

13

b) Der Anspruch nach § 3 Abs 1 S 1 VwRehaG ist nicht wegen konkurrierender Sozialleistungen ausgeschlossen. Nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG)kann davon ausgegangen werden, dass anderweitige Versorgungsleistungen, die den Anspruch nach § 3 Abs 1 S 2 VwRehaG ausschließen, nicht bezogen werden.

14

c) Der Kläger ist Betroffener iS von § 3 Abs 1 S 1 VwRehaG. Er gehört zu dem nach § 1 VwRehaG berechtigten Personenkreis. Der Kläger war durch Mitarbeiter der Staatssicherheit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt, die mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar waren. Diese Maßnahmen wurden nach § 1 Abs 1 und 5 VwRehaG für rechtsstaatswidrig erklärt. Die entsprechenden Feststellungen der Rehabilitierungsbehörde im Bescheid vom 23.11.1999 sind für die nachgeschalteten Fachbehörden bindend (§ 12 Abs 1 S 3 VwRehaG; zur fehlenden Verbindlichkeit von Tatsachenfeststellungen der Behörden der ehemaligen DDR vgl BVerfG Beschluss vom 24.9.2014 - 2 BvR 2782/10). Dies betrifft zum einen die genaue Bezeichnung der hoheitlichen Maßnahme, die den Anknüpfungspunkt für mögliche Folgeansprüche bildet. Und es betrifft zum anderen die Qualifizierung dieser Maßnahme als rechtsstaatswidrig. Jedenfalls bei Eingriffen in das Rechtsgut Gesundheit hat die Rehabilitierungsbehörde sich jedoch im Übrigen auf eine bloße Schlüssigkeitsprüfung zu beschränken. Die gilt insoweit - anders als beim Rechtsgut Beruf - auch für die Bestimmung der Verfolgungszeit (BVerwGE 119, 102 Juris RdNr 10 ff). Nach dem beschriebenen zweistufigen Prüfsystem entfaltet der Rehabilitierungsbescheid deshalb lediglich eine auf die Verfügungssätze beschränkte Tatbestandswirkung (hierzu allgemein Roos in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, vor § 39 RdNr 4 ff). Hiervon hat sich das LSG in der Sache leiten lassen und die anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale im Übrigen einer eigenständigen Prüfung unterzogen. Nach den bindenden - mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen - Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) steht danach fest, dass sich die Dauer der Verfolgungszeit im Hinblick auf das Rechtsgut Gesundheit entgegen den berufsbezogenen Ausführungen im Rehabilitierungsbescheid auf die Zeit von März 1966 bis Juni 1968 beschränkte.

15

d) Der Kläger leidet auch an einer gesundheitlichen Störung. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme durch die Tatsacheninstanzen besteht kein Zweifel, dass der Kläger an einer chronifizierten schweren Zwangsstörung leidet, auch wenn das LSG insoweit von einer exakten Klassifizierung nach ICD 10 abgesehen hat (ggf F42; zur Notwendigkeit einer solchen Feststellung im Unfallversicherungsrecht vgl BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17). Das LSG hat auch keine klare Differenzierung nach Primär- und Folgeschaden getroffen, sondern insoweit einheitlich auf den Beginn der nervenärztlichen Behandlung des Klägers im Jahr 1976 abgestellt. Hierauf kommt es vorliegend jedoch nicht entscheidend an, da es jedenfalls am nötigen Zurechnungszusammenhang fehlt (dazu sogleich unter 3.).

16

3. Der Anspruch des Klägers scheitert daran, dass sich der erforderliche Zurechnungszusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis der Verfolgung und der gesundheitlichen Erstschädigung (haftungsbegründende Kausalität) bzw den daraus resultierenden gesundheitlichen Folgen (haftungsausfüllende Kausalität; § 3 Abs 5 S 1 VwRehaG) nicht herstellen lässt. Das LSG hat die haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität über den Bedingungszusammenhang im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne hinaus zutreffend an der Theorie der wesentlichen Bedingung orientiert und frei von Rechtsfehlern verneint. Wie sonst im sozialen Entschädigungsrecht (vgl zB parallel § 1 Abs 1 StrRehaG, § 4 Abs 1 S 1 HHG, § 1 Abs 1 S 1 OEG) gilt trotz des Verweises auf das BVG nur wegen der Folgen der Schädigung (§ 3 Abs 1 S 1 VwRehaG) gleichwohl die Kausalnorm der wesentlichen Bedingung (BT-Drucks 12/4994 S 32 zu § 3; vgl Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, VwRehaG, §§ 1 bis 18 RdNr 9; allgemein BSG Urteil vom 12.6.2001 - B 9 V 5/00 R - BSGE 88, 153 = SozR 3-3100 § 5 Nr 9).

17

a) Bei der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs hat das LSG der versorgungsrechtlich relevanten Teilursache der Verfolgungsmaßnahmen mit etwa einem Drittel rechtsfehlerfrei eine untergeordnete und für den Ursachenzusammenhang unwesentliche Bedeutung beigemessen, in dem es die Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung in der spezifisch versorgungsrechtlichen Ausprägung zugrunde gelegt hat wie sie im Anschluss an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes (RVA - AN 1912, 930) in ständiger Rechtsprechung seit BSGE 1, 72 und BSGE 1, 150 durch den 9. Senat vertreten wird (zuletzt BSG Urteil vom 12.6.2001 - B 9 V 5/00 R - BSGE 88, 153 = SozR 3-3100 § 5 Nr 9). Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" in ihrer am 1.10.1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend - seit Juli 2004 - den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)" in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1.1.2009 durch die Anlage zu § 2 VersMedV vom 10.12.2008 inhaltgleich ersetzt worden ist (Teil C Nr 1 b der Anl zu § 2 VersMedV; vgl BR-Drucks 767/1/08 S 3, 4).

18

Danach gilt als Ursache im Rechtssinn nicht jede Bedingung, gleichgültig mit welcher Intensität sie zum Erfolg beigetragen hat und in welchem Zusammenhang sie dazu steht. Als Ursachen sind vielmehr nur diejenigen Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Das ist der Fall, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges als annähernd gleichwertig anzusehen sind. Kommt einem der Umstände gegenüber anderen indessen eine überragende Bedeutung zu, so ist dieser Umstand allein Ursache im Rechtssinne. Bei mehr als zwei Teilursachen ist die annähernd gleichwertige Bedeutung des schädigenden Vorgangs für den Eintritt des Erfolgs entscheidend. Haben also neben einer Verfolgungsmaßnahme mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge beigetragen, ist die Verfolgungsmaßnahme versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge der Verfolgungsmaßnahme zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Verfolgungsmaßnahme in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen (vgl zB BSG SozR Nr 23 zu § 30 BVG Juris RdNr 10; BSG Urteil vom 20.7.2005 - B 9a V 1/05 R RdNr 38). Im Einzelnen bedarf es dazu der wertenden Abwägung der in Betracht kommenden Bedingungen (vgl in diesem Zusammenhang insbesondere BSGE 16, 216, 218 = SozR Nr 58 zu § 1 BVG). Im Einzelfall muss die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinne als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (BSGE 1, 72 = SozR BVG § 1 Nr 1; BSG Urteil vom 12.6.2001 - B 9 V 5/00 R - BSGE 88, 153 = SozR 3-3100 § 5 Nr 9 Juris RdNr 32).

19

b) Das LSG hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im Anschluss an das Gutachten des medizinischen Sachverständigen Dr. G. unangegriffen und verbindlich festgestellt, dass - ohne abgrenzbare Vorschäden oder Verschlimmerungsanteile - für die Entstehung wie Aufrechterhaltung der Zwangsstörung des Klägers im Wesentlichen drei Ursachen gleichermaßen in Betracht kommen: Belastungen in Kindheit und Jugend, die streitgegenständlichen Verfolgungsmaßnahmen zwischen 1966 und 1968 und die Vorkommnisse im R.-Heim. Durchgreifende Verfahrensrügen hat der Kläger hiergegen nicht erhoben. Die Rüge der unterlassenen Aufklärung (§ 103 SGG) geht fehl. Der beantragten weiteren Beweiserhebung durch Befragung des Sachverständigen Dr. G. zu den Kausalfaktoren aus der Zeit vor der Verfolgung musste das LSG nicht nachkommen, nachdem der Sachverständige die Frage nach dem Ursachenanteil von Kindheit und Jugend bereits eindeutig beantwortet hat. Insbesondere besagen die Ursachen nichts über den Zeitpunkt der Entstehung der streitbefangenen Erkrankung und steht deshalb die Aussage des Gutachters Dr. T. zur Fixierung von Neurosen an unbewusste Konfliktsituationen der Kindheit in keinem noch aufzulösenden Widerspruch zur Aussage des Gutachters Dr. G., dass die Zwangsstörung des Klägers mangels entsprechender Symptomatik vor der Verfolgungszeit nicht bestanden habe (Revisionsbegründung S 18). Objektiv sachdienliche Fragen, deren Beantwortung das LSG entgegen § 116 S 2 SGG unterbunden haben könnte, macht die Revision nicht geltend(vgl BSG Beschluss vom 27.11.2007 - B 5a/5 R 60/07 B - SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 7 ff im Anschluss an BVerfG NJW 1998, 2273). Hiervon ausgehend hat das LSG frei von Rechtsfehlern im Wege wertender Betrachtung nach der Formel der "annähernden Gleichwertigkeit" eine untergeordnete Bedeutung des schädigenden Ereignisses für die geltend gemachten Schädigungsfolgen angenommen. Die schädigungsunabhängigen Faktoren einer belasteten Kindheit und Jugend sowie die Arbeitssituation im R.-Heim haben danach auch in rechtlicher Hinsicht den überwiegenden Anteil am Eintritt und der Aufrechterhaltung der jetzt festgestellten Angststörung oder anders formuliert letztlich rechtlich überragende Bedeutung. Ein von der Revision behaupteter logisch ungültiger Schluss liegt nicht vor (vgl im Übrigen AHP Nr 70, wonach Erkrankungen mit neurotischen Anteilen - wie hier sachverständigerseits angenommen und vom LSG unangegriffen festgestellt - nur dann mit schädigenden Ereignissen in ursächlichem Zusammenhang stehen, wenn diese in früher Kindheit über längere Zeit und in erheblichem Umfang wirksam waren; zur fortdauernden Gültigkeit der AHP als antizipierte Sachverständigengutachten, auch wenn die Kausalitätsbeurteilungen zu einzelnen Krankheitsbildern in der VersMedV nicht mehr enthalten sind, BR-Drucks 767/1/08 S 4; Rundschreiben des BMAS vom 15.12.2008 - IVc 3-48021 - 6).

20

c) Die Revision verweist allerdings mit Recht darauf, dass der im Unfallversicherungsrecht zuständige 2. Senat des BSG für die wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache "wesentlich" nicht gleichsetzt mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann danach für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben) (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 15). Diese Rechtsprechung, die ihren Ausgangspunkt ebenfalls in der Rechtsprechung des RVA (AN 1912, 930) und den frühen Entscheidungen des BSG in BSGE 1, 72 und BSGE 1, 150 nimmt, schließt die Wesentlichkeit einer von drei ungefähr gleichwertigen Teilursachen nicht bereits deshalb aus, weil die allein maßgebliche Teilursache nur zu einem Drittel Berücksichtigung finden kann (vgl BSG SozR Nr 6 zu § 589 RVO im Anschluss an BSGE 13, 175 = SozR Nr 32 zu § 542 RVO). In die Bewertung einfließen muss vielmehr auch, ob den verbleibenden sozialrechtlich nicht maßgeblichen Teilursachen überragende Bedeutung zukommt. Erst wenn angenommen werden kann, dass diesen eine überragende Bedeutung beizumessen ist, folgt daraus, dass die nicht annähernd gleichwertige sozialrechtlich relevante Teilursache unwesentlich ist. Es werden insoweit wohl etwas niedrigere Anforderungen an die Stärke der Mitwirkung angelegt (vgl Krasney in Becker/ Burchardt/Krasney/Kruschinsky, Gesetzliche Unfallversicherung, Bd 1, Stand Oktober 2013, § 8 RdNr 314; vgl auch Knickrehm, SGb 2010, 381, 384). Der erkennende Senat lässt offen, ob diese etwas andere Ausrichtung im Ansatz bei der nötigen Abwägung im Einzelfall die von der Revision gewünschten Ergebnisse ergäbe. Selbst wenn die behaupteten Unterschiede bestünden, sähe sich der Senat weder veranlasst, mit Blick auf eine etwaig besondere Ausrichtung der Theorie der wesentlichen Bedingung im Unfallversicherungsrecht seine langjährige Rechtsprechung zur "annähernden Gleichwertigkeit" im sozialen Entschädigungsrecht aufzugeben (dazu d) noch bestünde Anlass zu einer Anfrage bei dem mit Unfallversicherungsrecht befassten 2. Senat des BSG (dazu e).

21

d) Der 9. Senat hält an seiner bisherigen Rechtsprechung zur Theorie der wesentlichen Bedingung unter Beibehaltung des Merkmals der "annähernden Gleichwertigkeit" fest. Die Rechtsprechung des 2. Senats mag Besonderheiten der gesetzlichen Unfallversicherung Rechnung tragen, die im sozialen Entschädigungsrecht grundsätzlich nicht von Bedeutung sind. In Betracht kommt insoweit insbesondere der Gesichtspunkt, dass im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung seit jeher eine Ersetzung der zivilrechtlichen Haftung durch die Ansprüche der Unfallversicherung stattfindet (vgl §§ 104 f SGB VII; ferner die Vorläufervorschrift in § 636 Abs 1 RVO; vgl auch schon § 95 des UVG vom 6.7.1884, RGBl 69; §§ 898 f RVO vom 19.7.1911, RGBl 509; grundlegend Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, 1969, S 51 ff). Diese Regelung gehört zum Kernbestand der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl BSG Urteil vom 26.6.2007 - B 2 U 17/06 R - BSGE 98, 285 = SozR 4-2700 § 105 Nr 2, RdNr 16)und legt damit auch wesentliche Umfangmerkmale des Schadensausgleichs fest (BSGE 73, 1 = SozR 3-2200 § 571 Nr 2 Juris RdNr 17). Strukturen dieser Art kennzeichnen das soziale Entschädigungsrecht nicht. Im sozialen Entschädigungsrecht, wo in der Regel die Folgen einer einmaligen schädigenden Einwirkung zu beurteilen sind, hat sich die Bestimmung der Wesentlichkeit nach der "annähernden Gleichwertigkeit" bewährt. Dies gilt unabhängig davon, dass in Einzelfällen auch im sozialen Entschädigungsrecht auf Wertungen etwa der gesetzlichen Unfallversicherung zurückgegriffen wird (vgl im Bereich des SVG bei der Bestimmung unfallunabhängiger Krankheiten BSG Beschluss vom 11.10.1994 - 9 BV 55/94 - HVBG-INFO 1995, 970; hierzu Keller, SGb 2007, 248, 249).

22

e) Eine Abweichung iS des § 41 Abs 2 SGG als Voraussetzung einer Anfrage beim 2. Senat bzw Vorlage an den Großen Senat kommt nur dann in Betracht, wenn es sich um die unterschiedliche Beantwortung derselben Rechtsfrage handelt, auf der die frühere Entscheidung eines anderen Senats beruht, wenn also eine Identität der Rechtsfrage in der zu entscheidenden Sache und der früheren Entscheidung des anderen Senats besteht (vgl BSGE 94, 133 = SozR 4-3200 § 81 Nr 2 Juris RdNr 29, 30 mwN). Insoweit entfiele die Vorlage auch nicht für den Fall der vorangehenden Missachtung der Vorlagepflicht durch einen anderen Senat (Roos in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 41 RdNr 14 mwN). Die genannte Entscheidung des 2. Senats (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 15)ist auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 8 Abs 1 SGB VII) ergangen, während hier die Auslegung des § 3 Abs 1 S 1 VwRehaG Gegenstand der Entscheidung ist. Soweit der erkennende Senat in der Entscheidung vom 11.10.1994 (BSGE 75, 180, 182 mwN = SozR 3-3200 § 81 Nr 12) ausgeführt hat, die Grundentscheidungen des sozialen Unfallversicherungsrechts seien auch im Entschädigungsrecht zu beachten, würde damit die Rechtsfrage gleichwohl nicht zu einer solchen auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung, sondern beträfe weiterhin die Auslegung von Normen des sozialen Entschädigungsrechts, für die lediglich bestimmte Grundentscheidungen des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung herangezogen werden (vgl BSGE 94, 133 = SozR 4-3200 § 81 Nr 2 Juris RdNr 29, 30 mwN). Der Senat nimmt die Abgrenzung nach Wertungen vor, die sich von den Wertungen des SGB VII unterscheiden. Diese Unterscheidung ist durch das Gesetz und seine unterschiedliche Aufgabenstellung angelegt. Daran ändert sich selbst dann nichts, wenn sich der erkennende wie auch Senate anderer Rechtsgebiete für die Ursachenbewertung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung im Ansatz maßgeblich auf die Rechtsprechung des 2. Senats beziehen (vgl BSG SozR 4-3200 § 81 Nr 5 RdNr 21 mwN; BSG SozR 4-2400 § 7 Nr 15 RdNr 25; BSG SozR 4-4200 § 21 Nr 17 RdNr 21, 22).

23

f) Das LSG brauchte deshalb den weiteren Beweisanträgen des Klägers zur bisher noch offengelassenen Brückensymptomatik (Revisionsbegründung S 19, 20; vgl zu Fällen einer möglichen Entbehrlichkeit der Brückensymptomatik BSG Beschluss vom 16.2.2012 - B 9 V 17/11 B - Juris RdNr 10) nicht nachgehen, da es auf die unter Beweis gestellten Tatsachen nicht mehr ankam (BSG Beschluss vom 31.1.2008 - B 13 R 53/07 B). Auch im Falle der Existenz der behaupteten Brückensymptome würde sich an der Zurechnung nach Maßgabe der aufgezeigten Theorie der wesentlichen Bedingung nichts ändern. Einen hinreichend klaren Beweisantrag zu einem Primärschaden vor 1976 hat der Kläger im Übrigen nicht gestellt.

24

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, sind auf die Beweisaufnahme die §§ 358 bis 363, 365 bis 378, 380 bis 386, 387 Abs. 1 und 2, §§ 388 bis 390, 392 bis 406 Absatz 1 bis 4, die §§ 407 bis 444, 478 bis 484 der Zivilprozeßordnung entsprechend anzuwenden. Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Weigerung nach § 387 der Zivilprozeßordnung ergeht durch Beschluß.

(2) Zeugen und Sachverständige werden nur beeidigt, wenn das Gericht dies im Hinblick auf die Bedeutung des Zeugnisses oder Gutachtens für die Entscheidung des Rechtsstreits für notwendig erachtet.

(3) Der Vorsitzende kann das Auftreten eines Prozeßbevollmächtigten untersagen, solange die Partei trotz Anordnung ihres persönlichen Erscheinens unbegründet ausgeblieben ist und hierdurch der Zweck der Anordnung vereitelt wird.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten.

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.